Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/29/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. - Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchte ich die anwesenden 350 amerikanischen Stipendiaten des Parlamentarischen Patenschafts-Programms auf den Tribünen im Plenarsaal herzlich begrüßen. ({0}) Diese jungen Amerikanerinnen und Amerikaner bilden bereits den 25. Jahrgang des Parlamentarischen Patenschafts-Programms und besuchen anlässlich dieses Jubiläums heute den Deutschen Bundestag. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Parlamentarische Patenschafts-Programm wurde 1983 vom Bundestag und dem amerikanischen Kongress vereinbart, und seit nunmehr 25 Jahren reisen die jungen Stipendiaten jeweils für ein Jahr in das Partnerland. Dieser Austausch fördert das gegenseitige Verständnis und trägt wirkungsvoll dazu bei, neben der Kenntnis des Landes auch die persönlichen, die menschlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Amerika dauerhaft zu stärken. Sie, liebe Stipendiatinnen und Stipendiaten, vertreten heute gewissermaßen die 18 500 Amerikaner und Deutschen, die an diesem Programm inzwischen erfolgreich teilgenommen haben und so etwas wie junge Botschafter ihres Landes auf der jeweils anderen Seite des Atlantiks gewesen sind. Ich möchte Ihnen weiterhin einen interessanten Aufenthalt in Deutschland wünschen. Ich nutze die Gelegenheit gerne, um nicht nur den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen für ihren Einsatz als Pate in den Wahlkreisen zu danken, sondern ausdrücklich auch den ehrenamtlichen Gastfamilien, den engagierten Austauschorganisationen sowie der Bundestagsverwaltung. ({1}) Ich rufe nun unsere Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({2}) - Drucksache 16/12410 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 16/13221 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Dr. Volker Wissing Jerzy Montag b) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform - Drucksache 16/12400 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache 16/13222 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Dr. Volker Wissing Jerzy Montag - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/13223 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Otto Fricke Roland Claus Alexander Bonde Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Über den Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes werden wir später, also nach Abschluss dieser Beratungen, namentlich abstimmen. Ich mache darauf aufmerksam, dass zur Annahme dieses Gesetzentwurfs die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich ist. Zu diesem Gesetzentwurf liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Peter Struck für die SPD-Fraktion. ({6})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, das Thema, über das wir heute sprechen, ist für die amerikanischen Freunde auf der Tribüne nicht ganz so prickelnd. ({0}) Trotzdem ist es für unsere Verfassung und für Deutschland wichtig. Ich will nicht auf die Einzelheiten der Föderalismusreform eingehen, sondern einige Kritikpunkte aufgreifen, über die in den vergangenen Tagen nicht nur in meiner Fraktion, sondern auch in anderen Fraktionen diskutiert worden ist. Der erste Kritikpunkt war: Die Regelungen, die wir beschließen wollen, gehörten, weil sie zu sehr ins Detail gehen, nicht ins Grundgesetz. Ich empfehle einen Blick auf Art. 106 im aktuellen Grundgesetz. Dieser eine Artikel umfasst ungefähr drei Seiten. Meine Damen und Herren, die Aufgabe, die Finanzverfassung zwischen Bund und Ländern zu regeln, ist natürlich etwas komplizierter als die Formulierung eines Grundrechts. Ein Konzern, der ein ähnliches Problem der Zusammenarbeit zu lösen hätte, müsste Verträge aufsetzen, die zig Seiten umfassen würden. Ein Grund, warum es zu dieser Regelung kam, besteht darin, dass die Länder bestimmte Regelungen verfassungsfest festlegen wollten. Das kann ich nachvollziehen. Denn eine verfassungsfeste Regelung ist die Garantie, dass der Bund bereit ist, bestimmte Leistungen für die Länder zu erbringen. Ein zweites Argument, das gegen die Entscheidung, die die Föderalismuskommission getroffen hat, vorgebracht wird, lautet, die Schuldenbegrenzung für den Bund sei zu eng gefasst. Es wird die Befürchtung geäußert, der Bundestag bzw. der Bundesgesetzgeber sei aufgrund der Schuldenbegrenzung irgendwann gezwungen, Sozialleistungen zu kürzen, weil die Schuldengrenze dies erfordere. Diese Befürchtung ist wirklich unbegründet, meine Damen und Herren; Finanzminister Steinbrück wird sich dazu noch äußern. Es geht um einen Schuldenpfad, der im Jahre 2011 beginnt und im Jahre 2016 bei den berühmten 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts endet. Wie jeder weiß, können auch Sondersituationen berücksichtigt werden. Es gibt insgesamt drei Ausnahmen, in denen die Aufnahme zusätzlicher Schulden erlaubt ist: die konjunkturelle Verschuldung, die strukturelle Verschuldung und die Verschuldung in Ausnahmesituationen. Es ist absurd, anzunehmen, die Schuldengrenze würde den Staat knebeln. Beim dritten Kritikpunkt an den getroffenen Regelungen geht es um die Frage: Erlegen wir den Ländern nicht zu viele Pflichten auf? Natürlich weiß jeder, der an den Sitzungen der Föderalismuskommission teilgenommen hat, dass der Vorschlag, den Herr Oettinger und ich - wir waren die Vorsitzenden der Kommission - gemacht haben, zum Inhalt hatte, den Ländern die Möglichkeit einzuräumen, ihre Schulden auf 0,15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen, und zwar auch im Jahre 2020; nach aktuellen Zahlen wären das ungefähr 4 Milliarden Euro. Diese Vereinbarung ist übrigens auch im Koalitionsausschuss getroffen worden. Die Länder haben in der Föderalismuskommission allerdings gesagt: Wir wollen im Jahre 2020 die Nullgrenze erreichen. Natürlich akzeptiere ich diese Meinung der Länder, stelle für meine Fraktion aber ausdrücklich fest: Wenn der Bundesrat, der an dieser Stelle zuständig ist, zu dem Ergebnis kommt, dass diese Schuldengrenze nicht einzuhalten ist, und mit Zweidrittelmehrheit eine andere Entscheidung trifft, dann werden wir diese Entscheidung mittragen. Das ist gar keine Frage. ({1}) Ich weiß, dass über dieses Thema in der Koalition noch eine Debatte zu führen ist. Daher stelle ich zunächst einmal nur für mich und meine Fraktion fest: Wir würden einer solchen Entscheidung nicht im Wege stehen. Warten wir erst einmal ab, ob die Länder überhaupt eine Zweidrittelmehrheit erreichen. Um es deutlich zu sagen: Nach den Gesprächen, die bisher geführt worden sind, sehe ich das nicht. ({2}) Der vierte Kritikpunkt betrifft das sogenannte Kooperationsverbot, also die Regelung zu Art. 104 b Grundgesetz. Diese Regelung hat nur mittelbar mit den Finanzbeziehungen zu tun. Ich stelle fest, auch als Vorsitzender der SPD-Fraktion: Die Regelungen, die wir zu Beginn dieser Wahlperiode, als es um die Föderalismusreform I ging, getroffen haben, übrigens auch auf Wunsch der Länder, sind unpraktikabel. Die Entscheidung, fast keine Möglichkeit der Zusammenarbeit im Bildungsbereich vorzusehen, war falsch. Das ist eindeutig. ({3}) Ich stelle aber auch fest: Im Bundesrat gibt es keine verfassungsändernde Mehrheit für eine Änderung. ({4}) - Ganz langsam. Man sollte keine Zwischenrufe machen, wenn man keine Ahnung hat, Frau Enkelmann. Das empfehle ich Ihnen. ({5}) Die jetzige Regelung zur Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ist eine Regelung, die die Länder wollten. Die Länder wollten nicht, dass ihnen der Bund Geld für solche Bereiche zur Verfügung stellen kann, in denen er keine Gesetzgebungsbefugnisse hat. Das war eine Forderung der Länder. Diesen Beschluss haben wir im Rahmen der ersten Föderalismusreform gefasst. Schließlich mussten wir eine Einigung erzielen. Jetzt haben wir folgende Situation: Fast unmittelbar nach der Verabschiedung der ersten Föderalismusreform hat der Bund erstens entschieden, den Ausbau der Krippenplätze für Kinder bis zu einem Jahr in einer Größenordnung von 4 Milliarden Euro bis zum Jahre 2013 zu fördern. Das ist eine Aufgabe, deren Erledigung eigentlich den Ländern bzw. den Kommunen obliegt. Zweitens hat der Bund im Anschluss an die Föderalismusreform I beschlossen, die Hochschulpolitik zu fördern, Stichwort: Hochschulpakt. Auch hierfür stellt er vernünftigerweise viel Geld zur Verfügung. ({6}) Das Dritte und Gravierendste in der letzten Zeit war das Konjunkturprogramm II. Wir haben eine Menge Geld dafür bereitgestellt - 13 Milliarden Euro -, dass die Kommunen Infrastrukturmaßnahmen finanzieren können. Wegen der jetzigen Verfassungslage mussten wir eine Menge Verrenkungen vornehmen, durch die es uns ermöglicht wird, den Kommunen Geld für die energetische Sanierung ihrer Schulgebäude zu geben. Das ist eigentlich absurd, weil mir manche Kommunen gesagt haben: Eine energetische Sanierung müssen wir nicht durchführen, wir bauen eine neue Turnhalle nach den entsprechenden Gesichtspunkten. - Das durften sie aber nicht. Hier haben wir auch eingegriffen - Sie wissen das - und das einigermaßen korrigiert. Durch diese drei Beispiele zeigt sich, dass die jetzige Verfassungslage falsch ist. ({7}) Wir haben in der Föderalismuskommission II versucht, das zu korrigieren. Wir haben das leicht korrigiert, aber nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe und wie meine Fraktion das in der Föderalismuskommission II leider ohne Erfolg beantragt hat. Ich sage ausdrücklich „ohne Erfolg“ auch deshalb, weil die Länder nicht mitgemacht haben. Man muss hier feststellen - das will ich noch einmal sagen -, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern im Bildungsbereich absolut unbefriedigend ist. Hier muss korrigiert werden. Vielleicht geschieht das ja im Laufe der nächsten Wahlperiode. ({8}) Das letzte Argument, das auch häufig vorgebracht worden ist, lautet, dass die Bestimmung, die wir eingeführt haben, wonach die Länder ab dem Jahre 2020 keine Schulden mehr machen dürfen, verfassungswidrig ist. Wenn es um ein Gesetz ging, habe ich in den fast 30 Jahren, in denen ich hier im Bundestag bin, oft genug das Argument gehört, das Gesetz sei verfassungswidrig. Für mich ist ein Gesetz erst dann verfassungswidrig, wenn das vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe festgestellt worden ist. ({9}) Das ist eine logische Überlegung. Das sage ich auch als Jurist. Wenn jemand meint, es sei verfassungswidrig, dann soll er klagen. Ich habe gehört, dass vier Fraktionen des Landtages Schleswig-Holstein gegen diese Regelung, die wir festgelegt haben, klagen wollen. Sollen sie klagen! ({10}) Wenn das Ergebnis lautet, die Regelung ist verfassungswidrig, dann werden wir das natürlich korrigieren. Ich halte eine Klage für aussichtslos, aber ich weiß, dass vor Gericht und auf hoher See alles in Gottes Hand ist. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ich weiß, dass sich die Kolleginnen und Kollegen der FDP in dieser Debatte nicht nur aus taktischen, sondern auch aus politischen Gründen enthalten - ich würde das ganz genauso machen -, um zu klären, ob es mit der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag gibt. Ich hoffe, Herr Kollege Westerwelle, dass sich diese Haltung bei der Bundesratsentscheidung nicht auch niederschlägt, sondern dass Sie dafür sorgen werden, dass auch im Bundesrat die nötige Zweidrittelmehrheit für diese Verfassungsänderung gewährleistet ist, wenn ihr denn hier im Deutschen Bundestag zugestimmt wird. ({11}) Darum appelliere ich an Sie. Ich bin mir aber ganz sicher, dass ich mich darauf verlassen kann. Die Föderalismusreform ist ein ganz schwieriges Thema. Ich bin mir auch sicher, dass sie noch nicht beendet ist. Der nächste Bundestag wird sicher wieder eine Kommission zum Thema Bildung und zur Neugliederung unserer Bundesrepublik bzw. zur Länderneugliederung einzusetzen haben. Das ist gar keine Frage. ({12}) Trotzdem appelliere ich an Sie alle - auch an diejenigen, die noch überlegen, ob sie dem zustimmen können -: Stimmen Sie bitte zu. Das ist ein Fortschritt für unser Land. Es lohnt sich, für diese Föderalismusreform mit Ja zu stimmen und für sie einzutreten. Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in dieser Föderalismuskommission II erlebt, wie schwer sich einige - insbesondere der SPD - damit getan haben, die Frage, ob wir die Verschuldung begrenzen wollen, eindeutig mit Ja zu beantworten. Deswegen will ich hier einmal damit anfangen, über Zinsen zu reden, die der Staat in Milliardenhöhe Jahr für Jahr zahlt, und die Frage stellen, wie sozial diese Zinszahlungen eigentlich sind. Es gibt hier ja einige, die meinen, es sei besser, das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler an Banken statt zur Bewältigung sozialer Aufgaben auszugeben. ({0}) Nichts anderes als das ist die Konsequenz Ihres Widerstandes gegen eine effektive Verschuldungsbegrenzung, den Sie in den Kommissionen geleistet haben und den Sie auch nach der Kompromissfindung wieder haben aufleben lassen. Wenn Sie einen Blick in den Bundeshaushalt werfen, werden Sie feststellen, dass die Zinslasten bedrohlich sind. Das bleibt nicht ohne Folgen. Es schränkt die politische Gestaltungsfähigkeit ein. Jeder Euro, den wir für Zinsen ausgeben, fehlt an anderer Stelle für Investitionen in Forschung und Entwicklung, für soziale Aufgaben ebenso wie für Investitionen in Bildung und Kultur. Deshalb ist es unverantwortlich, immer wieder zu behaupten, die Schuldenpolitik des Staates hätte irgendetwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Das Gegenteil ist der Fall. ({1}) Wer wie Teile der Sozialdemokraten oder wie die Linke geschlossen gegen die effektive Schuldenbremse eintritt, der sollte den Menschen in unserem Land auch sagen, warum er das Geld der Bürgerinnen und Bürger lieber an Banken überweist, statt in Bildung, Forschung und Entwicklung oder in moderne Infrastruktur zu investieren. Die FDP hat sich aus diesem Grund entschlossen, für eine effektive Verschuldungsbegrenzung zu kämpfen. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, wie der BundLänder-Finanzausgleich neu geregelt, die Verschuldung begrenzt und - was zwingend erforderlich ist gleichzeitig eine größere Finanzautonomie der Länder geschaffen werden kann. Denn es ist nicht sinnvoll, auf der einen Seite den Gestaltungsspielraum einzuschränken, ohne auf der anderen Seite neue Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Dass das letzten Endes nicht möglich war, geht auf eine Entscheidung der Großen Koalition zurück. Sie haben sich entschlossen, bei der Reform die Themen Bund-Länder-Finanzausgleich und Finanzautonomie auszuklammern, und sich nur noch mit der Verschuldungsfrage beschäftigt. Ohne eine Neuregelung des Finanzausgleichs und ohne ein Mehr an Finanzautonomie wird aber nie ein großer Wurf in dieser Frage zu erreichen sein. ({2}) Insofern war der Kompromiss, der in der Föderalismuskommission gefunden wurde, ein kleiner gemeinsamer Nenner. Es war zwar weit weniger als das, was die FDP vorgeschlagen hat - wir hatten konkrete Gesetzentwürfe für alle Bereiche vorgelegt, mit denen wir alles abgearbeitet haben, was zum Auftrag der Kommission gehörte -, aber der Kompromiss, den wir gefunden haben, war trotz allem mehr als nichts. Es war ein Schritt in die richtige Richtung, und es war eine Chance. Deswegen haben wir das in der Kommission auch mitgetragen. Herr Kollege Struck, wenn es bei diesem Kompromiss bleiben sollte, dann wird die FDP weiterhin den Weg aus dem Schuldenstaat mitgehen. Ich glaube, das dürfte völlig außer Frage stehen. Dazu haben wir eine glasklare Position. ({3}) Es ist aber unverständlich, dass das SPD-Präsidium mit der jüngsten Erklärung den Kompromiss quasi zum Zwischenschritt degradiert hat und die heutige Bundestagsentscheidung als eine Art Diskussionsgrundlage für weitere Beratungen im Bundesrat sieht. Das hatten wir in der Föderalismuskommission nicht miteinander vereinbart. ({4}) Herr Kollege Struck, dass ausgerechnet Sie sich für diesen Weg offen zeigen, ist mir ehrlich gesagt unverständlich. Es ist für mich nicht vorstellbar, dass der Bund den Ländern Konsolidierungshilfen zahlt, der nivellierende Finanzausgleich erhalten bleibt und die Länder weiterhin frei Schulden machen können. Wer soll eine solche Lösung dann noch als Erfolg bezeichnen? ({5}) Wir waren und sind uns sicherlich einig, dass der Kompromiss in der Föderalismuskommission niemals zustande gekommen wäre, wenn die Länder vorgeschlagen hätten, die Frage der eigenen strukturellen Neuverschuldung offen zu lassen, um sie später in einem Bundesratsverfahren zu klären. Wir hätten uns gewünscht, dass es in der parlamentarischen Beratung gelingen würde, die nicht sehr gelungene Formulierung des Gesetzestextes zu verbessern. Auch in der Sachverständigenanhörung wurde einiges an Kritik vorgetragen. Aber das wurde mit Hinweis auf den Kompromiss abgelehnt: An den Texten, die verbesserungswürdig wären, durfte nichts geändert werden. Dagegen sind Sie für eine Änderung in einer fundamentalen Frage, die für uns quasi die Bedingung war, das Vorhaben mitzutragen. An dieser zentralen Schraube wollen Sie jetzt drehen. Diesen Weg gehen wir heute nicht mit. ({6}) Weil Teile Ihrer Fraktion den Ausstieg aus dem Schuldenstaat nicht mitgehen, wollen Sie den Gesetzentwurf über den Bundesrat entschärfen. Für uns ist dieser Kompromiss - ich betone es noch einmal - kein Zwischenschritt. Wir sind nicht bereit, Ihnen heute einen wackeligen Weg in den Bundesrat zu ebnen, weil Sie in Wahrheit in den eigenen Reihen keine einheitliche Position gegen die Staatsverschuldung zustande bringen konnten. Die FDP steht weiterhin zu ihrer Forderung nach einem Paradigmenwechsel in der Haushaltspolitik. Wir wollen endlich hin zu einer Politik der Generationengerechtigkeit. Aber dann müssen Fehlanreize im System effizient beseitigt werden. Eine dauerhafte strukturelle Neuverschuldung der Länder kommt für uns - das sage ich in aller Deutlichkeit - nicht in Betracht. ({7}) In der Finanz- und Haushaltspolitik sind mittlerweile alle Dämme gebrochen. Der Bundeshaushalt ist ein einziges „Wünsch dir was“. Wenn Sie das Geld wenigstens für Strukturreformen ausgäben und mehr Nachhaltigkeit und neue Chancen für unsere Gesellschaft erreichten, wäre etwas geschaffen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Es gibt einen weiteren Grund, daran zu zweifeln, dass die Verfassungsänderung, über die wir heute abschließend beraten, von den Ländern überhaupt ernst genommen wird. Es genügt ein Blick auf die Bundesratsbank. ({8}) Dann wird allen, glaube ich, deutlich, dass das, über was heute entschieden werden soll, nicht die eigentliche Entscheidung sein soll, sondern dass alle darauf setzen, das Kompromisspaket wieder zu öffnen, und zwar hin zu neuer Staatsverschuldung. Das lehnen wir ganz klar ab. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Feierlichkeiten zum 60-jährigen Geburtstag unserer Republik sind noch nicht lange her. Viele Menschen haben die Gelegenheit genutzt, sich noch einmal mit den Texten unserer Verfassung zu befassen. Auch wir Abgeordnete haben in zahlreichen Veranstaltungen die Verfassungstexte noch einmal auf uns wirken lassen und dabei erneut festgestellt, dass die Grundrechtsartikel auch in ihrer Formulierung eingängig und überzeugend sind. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mit diesen einfach anmutenden Worten in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes stellt es klar: Nicht der Staat, nicht politisches Gezänk und nicht bestimmte gesellschaftliche Gruppen sind das Maß der Dinge. Es ist der Mensch, der im Mittelpunkt unserer Verfassung steht. In den folgenden Artikeln geht es ebenfalls um den Menschen, Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit. Ja, ich teile die Auffassung, dass auch die Klarheit der Worte und die Ästhetik in der Formulierung einen Wert unserer Verfassung ausmachen. Ja, es ist ebenfalls richtig, dass es uns nicht mit jedem Satz in der Finanzverfassung gelungen ist, diese Ästhetik in den Teil des Grundgesetzes hinüberzuretten, der die Finanzbeziehungen darstellt. Das ist übrigens den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes in dem damaligen Teil der Finanzverfassung ebenfalls nicht gelungen. Aber der Geist der ersten Artikel unserer Verfassung ist ganz eindeutig auch Grundlage der Finanzverfassung. Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit, darum geht es, wenn wir heute eine Schuldenbegrenzung einführen und die entsprechenden Artikel ändern. Es geht um Gerechtigkeit, weil Schuldenbegrenzung Generationengerechtigkeit bedeutet. Das derzeitige Ausmaß der Verschuldung - auch ohne die Schulden aus der aktuellen Wirtschaftskrise - stellt eine schwere Last für zukünftige Generationen dar. Der geltende Art. 115 des Grundgesetzes, der eine Kreditaufnahme für Investitionen und zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorsieht, hat nicht die erforderlichen Grenzen gesetzt. Es wurden eben nicht nur Schulden aufgenommen, die einen gleichen Gegenwert in Investitionen hatten, wie es die Verfassung eigentlich vorsieht. Dadurch sind die Zinslasten der öffentlichen Haushalte - Bund, Länder und Gemeinden - auf circa 70 Milliarden Euro pro Jahr angestiegen. Ständig steigende Zinslasten sind aber eine schwere Hypothek für unsere Kinder, insbesondere deshalb, weil wir aufgrund des demografischen Wandels und der damit zusammenhängenden zusätzlichen Kosten für Renten, Pensionen und Gesundheitsleistungen eigentlich sogar Rückstellungen bilden müssten. Zinszahlungen statt Zukunftsinvestitionen sind die Folge. Die Zinszahlungen belasten uns zurzeit noch mehr als die Schuldenstandsquote. Auch diejenigen, die sich zurzeit Sorgen um Bildung und Kultur machen, werden wohl zugeben, dass es hundert Prozent sinnvoller wäre, diese Zinsmilliarden in Köpfe und Kulturgüter zu investieren, als sie ohne Gegenleistung hinauszuwerfen. Lieber Kollege Wissing, ich habe Ihrer Rede zugehört und kann viele Punkte unterschreiben. Ich finde es aber schwierig, Ihre Reaktion nachzuvollziehen, der geplanten Änderung der Verfassung zur Begrenzung der Verschuldung nicht zuzustimmen. Es war von Anfang an nicht geplant, den Länderfinanzausgleich zu öffnen, sondern die Schuldensituation zu verbessern. Das tun wir mit dem heutigen Gesetz. Deshalb wundere ich mich, dass Sie heute, obwohl Sie das in der Föderalismusreform noch mitgetragen haben, dem nicht zustimmen wollen. Schuldenbegrenzung ist kein Selbstzweck. Wir wollen dadurch Spielräume für wichtige Zukunftsinvestitionen zum Beispiel in Bildung, Familie und Kultur und vielleicht auch für künftige Wirtschaftskrisen schaffen. Das sind wir unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig, insbesondere in einer Zeit, in der die Neuverschuldung ein unvorstellbares Ausmaß hat. Wir müssen den Men24860 schen heute sagen, wie wir diese Schulden in Zukunft tilgen wollen. ({0}) In den letzten Tagen wurden viele Briefe verschickt. Viele haben uns aufgerufen, der Schuldenbegrenzung nicht zuzustimmen. Diesen Skeptikern stehen aber Sachverständige gegenüber, die seit Jahren mit uns an der Schuldenbremse gearbeitet haben. Der Bundesrechnungshof wie auch der Sachverständigenrat halten es für geboten, dass sich Bund und Länder auf stringente Regeln einigen, um die Staatsverschuldung nachhaltig zu begrenzen und stabilitätskonforme Haushalte aufzustellen. Auch die überwiegende Mehrzahl der Sachverständigen in der Anhörung teilte im Grundsatz die Meinung, eine Schuldenbegrenzung sei zwingend erforderlich. Es handelt sich dabei aber um eine Begrenzung, die uns eben nicht handlungsunfähig macht. Auch der derzeitigen wirtschaftlichen Situation hätten wir mit der nun zu beschließenden Schuldenbremse begegnen können. Wir werden auch künftig in konjunkturell schlechten Zeiten Spielräume behalten, allerdings müssen wir in wirtschaftlich besseren Zeiten mehr als bisher gegensteuern und zusätzliche Steuereinnahmen zur Tilgung der in der Krise aufgenommenen Schulden aufwenden. Neben der Gerechtigkeit spielt auch Solidarität eine noch größere Rolle in unserer Finanzverfassung als bisher. Hilfen in einer Gesamtsumme von 800 Millionen Euro jährlich im Zeitraum 2011 bis 2019 zusätzlich zum Länderfinanzausgleich zur Verfügung zu stellen, ist Bund und Geberländern nicht leichtgefallen. Diese Mittel sind aber notwendig, um alle Länder mit ins Boot zu holen. Es war uns wichtig, niemanden mit seinen Schuldenproblemen alleine zu lassen. Die Bereitschaft zur Zahlung war aber ganz eng an eine strenge Schuldenbegrenzung gebunden, weil die Geberländer ihren Bürgerinnen und Bürgern natürlich erklären müssen, warum sie sich freiwillig bereit erklären, über den Länderfinanzausgleich hinaus zusätzliche Mittel aus eigenen Steuergeldern anderen zur Verfügung zu stellen. Machen wir es diesen Ländern nicht noch schwerer. Wer jetzt bestrebt ist, diese Begrenzung aufzuweichen, muss wissen, dass damit auch andere Vereinbarungen hinfällig würden. Der dritte Bereich umfasst die Chancengleichheit. Die Regeln werden zu unterschiedlichen Zeiten in Kraft treten. Wir wissen natürlich, dass nicht alle in diesem Land zur gleichen Zeit den neuen Regeln Rechnung tragen können. Einige halten die Schuldenbegrenzung für zu ambitioniert, andere wiederum behaupten, das Inkrafttreten der Schuldenbegrenzung wäre zu spät. Beides stimmt nicht. Die neuen Schuldenbegrenzungsregeln sind grundsätzlich erstmals für das Jahr 2011 anzuwenden, und zwar für den Bundeshaushalt mit der Maßgabe, dass das strukturelle Defizit - nur darum geht es bei diesem Punkt - ab dem Jahr 2011 in gleichmäßigen Schritten zurückgeführt werden soll, und ab dem Jahr 2016 nur noch Schulden in Höhe von 0,35 Prozent des BIP gemacht werden dürfen. Es ist einfach falsch, zu behaupten, dass Generationen von Politikern Schulden gemacht hätten und wir nun eine Generation zwingen würden, diese Situation auszubaden. ({1}) Es geht - leider - noch gar nicht um Schuldenrückführung, es geht ganz im Gegenteil nur darum, dass wir künftig nicht weiter den Weg der Neuverschuldung gehen und dass wir die künftigen Generationen nicht zusätzlich mit neuen Schulden belasten. ({2}) Die Länder, die Unterstützung erhalten, müssen ebenfalls 2011 anfangen zu konsolidieren. Die Gewährung der Hilfen setzt einen vollständigen Abbau des Defizits voraus. Die Abbauschritte, die Hilfen, die Finanzierungsdefizite und die Überwachung durch den Stabilitätsrat haben wir im Begleitgesetz geregelt. Mit der letzten Gruppe, den Geberländern, haben wir das Ziel der gemeinsamen Schuldenbegrenzung festgeschrieben, aber wir haben nicht zu stark in die Haushaltskompetenzen eingegriffen. Wir haben nämlich zugelassen, dass die Geberländer bis 2019 von der Schuldenbegrenzung abweichen, aber im Haushalt 2020 sicherstellen müssen, dass kein strukturelles Defizit mehr vorhanden ist. Wir alle wissen, dass einige Länder das schneller schaffen werden. Sie haben in ihre Landesverfassungen schon ambitioniertere Regelungen aufgenommen. Wir wissen aber auch, dass andere Länder diese Zeit brauchen werden. Das ist aus unserer Sicht nicht schlimm, weil wir wichtig finden, dass wir den Weg weg von immer weiterer Verschuldung einschlagen. Das werden wir, so hoffe ich, heute tun. ({3}) Was die Solidarität betrifft, so haben wir die Kommunen nicht vergessen. Mit den neuen Schuldenregeln lassen wir es bei einem grundsätzlichen Neuverschuldungsverbot zu, dass in Notlagen mit Krediten gegengesteuert werden darf. Diese Möglichkeit wird es künftig über den Art. 104 b Grundgesetz auch in den Bereichen geben, in denen der Bund keine Gesetzgebungskompetenz hat. Der Bund darf also in der Krise Ländern und Kommunen mit Finanzhilfen zur Seite stehen. So gibt es jetzt zusätzliche Sicherheit für die 10 Milliarden Euro aus dem kommunalen Investitionsprogramm. Diskussionen über die Frage: „Dürfen Schultoiletten oder müssen Schuldächer saniert werden?“ gehören damit der Vergangenheit an. Auch bei den Verwaltungsthemen spielen Menschenwürde und Gerechtigkeit eine große Rolle. Hätten die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes die Möglichkeiten der IT gekannt, sie hätten es als ein Grundrecht in unsere Verfassung geschrieben, dass IT-Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten ist. Wir holen das jetzt nach, indem wir den Bund für die Sicherheit in diesen Systemen verantwortlich machen. Wir werden das in der Verfassung verankern. Auch die Steigerung der Effizienz und der Effektivität des Steuervollzugs dient der Gerechtigkeit. Denn nur wenn die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass alle gerecht zur Finanzierung des Staates herangezogen werden, stehen sie dem System wohlwollend gegenüber. Ich gebe zu, an dem Punkt werden wir auch nach FöKo II noch etwas zu tun haben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen in unserem Land sind wegen der zusätzlichen Kredite, die wir in dieser Krise aufnehmen, unsicher. Erstmals ist die Verschuldung für die Bürgerinnen und Bürger ein Thema. Laut einer Forsa-Umfrage sind 68 Prozent der Bundesbürger dagegen, dass der Staat weitere Schulden macht. Deshalb sind wir es den Menschen nicht nur schuldig, die aktuelle Krise zu meistern, sondern auch, langfristige Lösungen anzubieten. Wir haben heute die Chance, Verantwortung für die Folgen unseres Tuns in der Krise auch über den aktuellen Tag hinaus zu übernehmen und die Schuldenbegrenzung in unserer Verfassung zu verankern. Ich bitte Sie, das mit uns gemeinsam zu tun. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bodo Ramelow ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Bodo Ramelow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003824, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Abgeordnete! Das wird unter normalen Umständen meine letzte Rede als Bundestagsabgeordneter hier im Hohen Haus sein. ({0}) - Klatschen Sie nicht zu früh, ich beabsichtige, von dieser Seite auf die Bundesratsseite zu wechseln. ({1}) Ich befürchte, dass ich dann das auslöffeln muss, was Sie heute anrichten. ({2}) Ich teile die Auffassung, dass es eigentlich schon ein Skandal ist, dass die Ministerpräsidenten der Länder hier heute nicht anwesend sind ({3}) und nicht mit uns debattieren. ({4}) Lieber Peter Struck, ({5}) in der FöKo I hatten wir zum Beispiel Beschlüsse zum Strafvollzug gefasst, und dann war es der Kollege Otto Schily, der aus der Mitte des Saals mehrfach intervenierte, und ich erinnere mich an Sitzungen des Rechtsausschusses, dass sogar Kollegen von der CDU/CSU interveniert und gesagt haben: Es ist falsch, dass wir die Ausführung des Strafvollzugs auf die Länder übertragen. Ich erinnere mich, dass SPD-Bundestagsabgeordnete aus den neuen Bundesländern einen Brief an ihre Partei geschrieben und darin gesagt haben: Das, was ihr mit der Bildung vorhabt, ist ein großer Fehler. Lasst es uns nicht tun. Damit will ich in Erinnerung rufen, dass schon die FöKo I gescheitert war, dass diese Themen erst mit der Großen Koalition hier im Schweinsgalopp wieder durchgejagt wurden und dass hinterher die SPD das Gegenteil von dem gemacht hat, was sie vorher als politisch richtig festgestellt hat. In Bezug auf die FöKo II entwickelt sich etwas Ähnliches. Sie wissen genau, dass Sie heute Weichen stellen, die in einigen Jahren bewirken werden, dass einige Bundesländer finanziell nicht mehr handlungsfähig sind. In der rot-grünen Bundesregierung haben Sie ja die Agenda 2010 auf den Weg gebracht; das war ein großer Fehler, den man den Menschen angetan hat. Nun haben Sie die Agenda 2020. Das bedeutet, dass der ausgleichende Föderalstaat zerstört wird und der Wettbewerbsföderalismus, wie ihn sich die FDP wünscht, endlich durch die Hintertür eingeführt wird. Die wirtschaftlich stärkeren Länder werden in diesem Land das Kommando übernehmen, und sie werden die wirtschaftlich schwächeren Länder an die Wand spielen. Ich halte das für eine Katastrophe für unser Land. ({6}) Kollege Struck, Sie haben die Frage der Verfassungswidrigkeit angesprochen und gesagt: Lasst das Karlsruhe entscheiden! - Ja, natürlich, Karlsruhe wird am Schluss eine Entscheidung treffen. Aber was ist das für ein Zustand, wenn frei gewählte Bundestagsabgeordnete wider besseres Wissen Entscheidungen treffen, die falsch sind, und anschließend sagen, das Gericht solle es korrigieren? ({7}) Die politische Korrektur geschieht dann nicht mehr auf dem Parteitag, nicht mehr über das Wahlversprechen, nicht mehr über das, was man mit den Wählerinnen und Wählern erörtert, sondern die Korrektur soll Karlsruhe übernehmen. ({8}) Ich halte das für ein politisches Armutszeugnis und für einen Irrweg. ({9}) Richtig ist allerdings, dass das Verhalten der Bundesländer seltsam ist. Es waren in der Tat Bill Bo und seine Bande, also Koch und die Südstaaten - Kollege Struck, da gebe ich Ihnen recht -, die in der Föderalismuskommission I das Kooperationsverbot in Sachen Bildung gegen die SPD durchgesetzt haben. Die SPD hat es dann mitgemacht. Das halte ich für den eigentlichen Fehler. ({10}) Der Bundestag beschließt heute grundgesetzmäßig eine Schuldenbremse von 0,35 Prozent vom BIP für den Bund - das ist etwas, was Bürger ohnehin nicht verstehen -, ({11}) nach Art eines Katalogs wird das über mehrere Seiten ins Grundgesetz hineingeschrieben. Das bedeutet, dass der Bund sich anders verschulden darf, als man es den Ländern sozusagen als nachgeordnete Dienststellen zugesteht. Das halte ich für einen groben Fehler. So geht es nicht. Wir können doch nicht den Ländern in die Tasche greifen! ({12}) Dann kann man sich überlegen, ob die Rechtsauffassung von Professor Schneider richtig ist, dass man damit das Haushaltsrecht der Länderparlamente zerstört, oder ob man den Fachleuten folgt, die für die Schuldenbremse waren, dann aber gesagt haben: Wenn die Länder am Schluss, 2019, nicht mehr finanziell handlungsfähig sind, muss der Bund ohnehin nachfinanzieren. Es ist klar gesagt worden, dass am Schluss der Bund bezahlen muss. Wenn man also sehenden Auges ein Verfassungsrecht schafft, das die Länder zu Bittstellern des Bundes macht, dann gibt es den ausgleichenden Föderalstaat nicht mehr, sondern dann degradiert man die Länder zu nachgeordneten Dienststellen, und das ist einfach unverschämt. ({13}) Herr Präsident, ich will mit Ihrer Erlaubnis etwas zitieren, was ich gelesen habe: Ich finde es fragwürdig, wenn die jetzige Politikergeneration Regeln ins Grundgesetz aufnehmen will, die ab 2011 Handlungsspielräume zukünftiger Generationen in einer Weise einschränken, die die Generation Struck und Oettinger für sich nie akzeptiert hätte. ({14}) Sie können ja einmal überlegen, wer diesen Satz gesagt hat, ob es die Linken waren, ob es die Grünen waren oder ob das jemand Prominentes aus der SPD-Fraktion war. Wir können ja einen Wettbewerb veranstalten. - Es war Andrea Nahles, die damit angekündigt hat, dass die SPD das so nicht mit sich machen lässt. Heute, nachdem sie das gesagt hat, werden wir nach der Abstimmung feststellen: Sie machen das Gegenteil von dem, was Andrea Nahles angekündigt hat. - Ich könnte weitere Zitate bringen; Kollege Böhning hat sich ähnlich geäußert. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über Schulden reden, dann bestehe ich auf der Feststellung, dass Geldausgeben kein Selbstzweck ist, ({16}) auch für die öffentliche Hand nicht. Das erkennt man aber nicht, wenn man die Bundesregierung erlebt. Da hat man das Gefühl, dass gar nicht genug Geld ausgegeben werden kann; die Frage ist nur, wofür. ({17}) - Das kann ich Ihnen sagen, ganz konkret. Die Frage ist, ob man den Wettbewerbsföderalismus will, wie ihn die FDP sich vorgenommen hat. Das hielte ich für eine Katastrophe für dieses Land, weil die Länder dann je nach finanzieller Ausstattung mit ihren Mitarbeitern und ihren Angeboten der Daseinsfürsorge für die Menschen sehr unterschiedlich umgehen müssten. Wenn man dem Weg von Herrn Wissing folgt und den Ländern die Möglichkeit gibt, die Steuererhebung frei zu gestalten, um Schulden abzubauen, bedeutet das für die wirtschaftlich schwächeren Länder die Notwendigkeit, einen Einkommensteuerzuschlag von bis zu 40 Prozent zu erheben. ({18}) Das heißt, derjenige, der in einem wirtschaftlich schwächeren Bundesland wohnt, in dem ein solcher Einkommensteuerzuschlag erhoben wird, hat dann eben Pech gehabt. Das Ergebnis ist, dass wir überhaupt keinen Ausgleich mehr haben. Deswegen halte ich es für einen völlig falschen Weg, den Ländern Steuergestaltungsmöglichkeiten zu geben. ({19}) Wenn Sie die Frage aufwerfen wollten, wie die Schulden zu bezahlen sind, Kollege Wissing: Allein eine Vermögensteuer, wie sie in England erhoben wird - England wird nun wahrlich nicht von der Linken regiert -, bedeutete eine Einnahmeverbesserung um 90 Milliarden Euro. Eine Börsenumsatzsteuer in Höhe von nur 1 Prozent würde zusätzliche Einnahmen von 70 Milliarden Euro für den Bundeshaushalt bedeuten. ({20}) Eine Optimierung der Verfahren bei der Steuererhebung ({21}) zum Beispiel durch mehr Steueraußenprüfungen, Kollegin Tillmann, brächte ein Plus von 10 Milliarden Euro; das jedenfalls geht aus der Kienbaum-Studie hervor, und zwar nur bezogen auf das mittlere Segment. Das heißt, zusammen genommen hätten wir Mehreinnahmen von 170 Milliarden Euro. Ich weiß, Sie wollen Steuern senken, um den Staat immer handlungsunfähiger zu machen. Wir haben ein völlig anderes Staatsverständnis: Wir wollen Steuern erheben, ({22}) und zwar Steuern, die in den Nachbarstaaten normal und gang und gäbe sind. Ich wiederhole: Allein durch eine gerechte Steuererhebung ergäbe sich ein Plus von 10 Milliarden Euro; das jedenfalls geht aus der Kienbaum-Studie hervor, und zwar bezogen nur auf das mittlere Segment. Diese 10 Milliarden Euro hätten wir auch dringend nötig. ({23}) Wenn man diese Einnahmerechnung weiterführt, ergibt sich ein finanzieller Spielraum für Zinszahlungen in Höhe von 70 Milliarden Euro. Damit wäre zumindest die Schuldenbewirtschaftung aus den Mehreinnahmen zu bewerkstelligen. Wir hätten 57 Milliarden Euro, um die Verschuldung jährlich herunterzufahren. Schließlich hätten wir noch 43 Milliarden Euro für die notwendigen Bildungsinvestitionen übrig. Damit würden die Bildungsausgaben insgesamt 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmachen, ein Ziel, das ja auch Frau Merkel öffentlich verkündet hat. ({24}) Wenn man das will, muss man aber auch dafür sorgen, dass das entsprechende Geld eingenommen bzw. so umgerubelt wird, dass es auch bei der Bildung ankommt. Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, verstehe ich nicht, warum man heute die Länder zu einer 0,0-Prozent-Verschuldung verpflichten will, ihnen also vorschreiben will, dass sie gar nicht mehr investieren dürfen. Ab 2011 wird es so sein, dass keine Investments mehr auf den Weg gebracht werden können. ({25}) - Entschuldigung, Sie wissen offenkundig nicht, was Sie tun. - 2019 wird es endgültig dazu kommen; 2019 wird neu über den Länderfinanzausgleich verhandelt. Das heißt, Sie beschließen heute etwas, das Sie nie wieder zurücknehmen können. Sie beteiligen sich sehenden Auges an einer Grundgesetzänderung und hoffen, dass Sie das anschließend über Karlsruhe oder den Heiligen Geist korrigiert bekommen. Das ist ein Irrweg. Hören Sie auf damit! Zeigen Sie Mut, und stoppen Sie diese Fehlentwicklung! ({26}) Es lohnt sich tatsächlich, einmal nachzulesen, was Bofinger und weitere 70 Wissenschaftler geschrieben haben. Sie sagen eindeutig, dass das Thema Schulden auch etwas mit Investitionen zu tun hat, dass Schuldenpolitik nicht einfach nur mit Zinsbewirtschaftung gleichzusetzen ist und dass die Beschränkung für die Haushalte, auf die man sich verständigt bzw., besser ausgedrückt, die man sich jetzt auferlegt, dazu führt, dass Politik handlungsunfähig wird. Es gibt drei Bundesländer - ich ärgere mich ganz besonders, dass Vertreter dieser Länder heute nicht in den Bundestag gekommen sind -, nämlich Bremen, das Saarland und Schleswig-Holstein, für die die Zinshilfen nicht ausreichend sind. Es ist aktive Sterbehilfe für diese drei Bundesländer, die heute hier praktiziert wird, und die Herren kommen nicht einmal her und stellen sich der Debatte. Ich halte das einfach für einen Skandal. ({27}) Ich halte fest: Jeder, der eine sogenannte Schuldenbremse einführt, ohne gleichzeitig für eine wirkliche strukturelle Entschuldung der Landeshaushalte zu sorgen, der öffnet den Weg zu einem Wettbewerbsföderalismus, wie ihn die FDP will. Diesen Weg halte ich für völlig falsch. ({28})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Feiern zum Jubiläum „60 Jahre Grundgesetz“ sind jetzt verklungen. Ganz am Rande möchte ich festhalten: Ich habe zwar sehr viele allgemeine Reden gehört, aber die beste Debatte darüber gab es hier im Bundestag. Auch ich fand es richtig, dass die Fraktionen hier diese Debatte geführt haben. ({0}) Nun stellt sich die spannende Frage, ob dies, jenseits all der Jubiläumsreden, ein guter Tag für unser Land werden wird, also für unsere Gemeinden, unsere Länder und den Bund und auch für unser Grundgesetz. Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind der Überzeugung, dass dies heute kein guter Tag wird. Unter der Überschrift „Schuldenbremse“ wird heute ein komplexer Satz von Instrumentarien und Regeln verabschiedet. Nach unserer Überzeugung wird damit das Ziel, die Verschuldung der öffentlichen Hand zu begrenzen, jedoch nicht erreicht. Deswegen, lieber Herr Kollege Wissing, waren wir in der Kommission dagegen und werden auch heute dagegen stimmen, obwohl wir Grünen für eine vernünftige Schuldenbremse natürlich zu haben sind; wir haben ja Vorschläge gemacht, wie so etwas aussehen könnte. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum sage ich, dass mit diesen Instrumentarien das Ziel nicht erreicht wird? Der Hauptgrund liegt darin, dass die Regeln zur Beschränkung der Schuldenaufnahme durch die Länder, aber auch die Art, wie der Bund langsam eine Begrenzung der Neuverschuldung vornehmen will, nicht realitätstauglich sind. Bei den Ländern - dies sage ich voraus - wird sich alles auf das Jahr 2019 kaprizieren. Länder, die keine Konsolidierungshilfen bekommen, sind bis 2019 sehr frei in der Gestaltung ihrer Haushalte. Bis 2019 schließlich - losgehen wird es schon 2017 - werden alle sagen, dass sie die Ziele wegen des Länderfinanzausgleichs nicht erreichen können. Die Geberländer werden sagen: Wir müssen zu viel in den Länderfinanzausgleich einzahlen; die Nehmerländer werden sagen: Wir bekommen zu wenig, und deswegen können wir das Konsolidierungsziel nicht erreichen. Wer sich mit dem Föderalismus und insbesondere mit den Verhandlungen über den Länderfinanzausgleich auskennt - es sitzen ja einige da, die dies tun -, wird verstehen, dass das kein Schwarzseherszenario ist, sondern Realität sein wird. ({2}) Wer wie Frau Tillmann sagt: „Wir müssen angesichts der großen Neuverschuldung den Leuten sagen, wie wir tilgen wollen“, macht sich etwas vor. Interesse an der Schuldenbremse hat auch die Kanzlerin erst gezeigt, als die Bankenkrise kam und man ein Gegengewicht - jedenfalls ein symbolisches - brauchte. Funktionieren wird dies nach unserer Überzeugung nicht. ({3}) Da hilft auch der Vorschlag von Herrn Platzeck nicht. Ich will einmal sagen: Herrn Platzeck haben wir in der Föderalismuskommission überhaupt nicht gesehen, er hat nicht agiert für das Land Brandenburg. Sich dann zum Sprecher zu machen für Veränderungen im Nachhinein, das ist eine ganz billige Nummer, die wir ihm so nicht durchgehen lassen können. ({4}) Ich will die größeren Strukturfehler der Reform, die Sie heute beschließen lassen wollen, aufführen. Verlierer dieser Reform werden eindeutig die Gemeinden sein. ({5}) Der Mechanismus ist ganz einfach. Im Prinzip haben Länder, die Konsolidierungshilfen bekommen und schon jetzt auf einen Konsolidierungspfad gehen müssen, nur zwei Möglichkeiten: Sie können entweder bei der Bildung sparen - da wünschen wir gute Verrichtung; das steht keine Landesregierung durch -, oder sie müssen zulasten ihrer Gemeinden sparen und die Sätze des kommunalen Finanzausgleichs noch restriktiver handhaben als ohnehin. Nur wenn durch Grundgesetzänderung auch an die Gemeinden Konsolidierungshilfen gegangen wären, nur wenn man das Konnexitätsprinzip im Grundgesetz neu definiert hätte, nur wenn man sich über eine minimale Finanzausstattung der Gemeinden, die grundgesetzlich garantiert sein müsste, Gedanken gemacht hätte, hätte man dieses Problem lösen können. ({6}) Ich frage Sie als Föderalisten, als Leute, die aus der Kommunalpolitik kommen: Was ist das für eine Schuldenbremse, die systematisch zulasten der Gemeinden gehen muss? Gemeinden sind doch der Ort, wo die Bevölkerung, wie Erhard Eppler immer gesagt hat, die Politik am direktesten, am unmittelbarsten und die Demokratie am eigentlichsten erfährt. Eine Entschuldungspolitik zulasten der Gemeinden muss aus diesem Grund der falsche Weg sein. ({7}) - Herr Poß, jetzt hören Sie doch einmal zu! Das kann Ihnen nur guttun. ({8}) Das nächste Argument ist die Bildung. Sie wollen sich mit den falschen Ergebnissen der Föderalismuskommission I nicht wieder befassen. Es gibt hier keine Reform in dem Sinne, dass mit den heutigen Vorlagen die Fehler der Föderalismusreform I korrigiert werden könnten, obwohl sich alle auf den Bildungsgipfeln wie in einem ewig gleichklingenden Singsang einschwören, dass man mehr für Bildung tun müsse und dass dies eine gesamtstaatliche Aufgabe sei. Das, was hier gemacht wird, ist absurd. Sie haben überhaupt nicht den Mut, das entscheidende Zukunftsthema Bildung anzugehen. ({9}) Das Problem des Kooperationsverbots in Bezug auf die Kommunen - aber auch im Bereich der Bildung - ist unzulänglich gelöst. Ich will es zuspitzen: Wer etwas für die Gemeinden tun will - das ist die absurde Logik dessen, was Sie heute beschließen -, der muss schon auf eine Flut oder eine Finanzkrise hoffen, um helfen zu dürfen. ({10}) Was ist denn das für ein Staat, der nur über eine solche Definition Hilfe ermöglicht? Ich halte es für völlig falsch, dass Sie da nicht mehr Mut bewiesen haben. Jetzt komme ich zu einem Punkt, den wir in Bezug auf die Entschuldungs- und Verschuldungsdiskussion für elementar halten. Viele Finanzpolitiker - der Finanzminister gehört dazu - sagen einfach: Schulden sind Schulden. - Sie können nicht zwischen guten und schlechten Schulden differenzieren. Angesichts des Zahlenwerks im Haushalt muss ich sagen: So ist es ja auch; Schulden sind Schulden. Aber es macht nach unserer Überzeugung einen elementaren Unterschied, warum und zu welchem Zweck sich die öffentliche Hand in einer bestimmten Situation verschuldet. Ich will es an einem Beispiel verdeutlichen: Wir geben die Kosten zur Finanzierung der Abwrackprämie von 5 Milliarden Euro als Verschuldung an künftige Generationen weiter, es wird aber für künftige Generationen nichts, aber auch gar nichts an Zukunftsrendite übrig bleiben. ({11}) Wenn wir diese 5 Milliarden Euro in den Klimaschutz oder in das Bildungssystem investieren, dann gibt es für die künftigen Generationen logischerweise eine Zukunftsrendite, ({12}) weil trotz Abschreibung nicht alles von dem vervespert sein kann. Unter diesem Gesichtspunkt ist es schon eine wesentliche Frage, für was sich die öffentliche Hand verschuldet. Im privaten Bereich ist es genauso: Wenn ich in der Spielbank 1 Million Euro verzocke, dann ist das Geld weg. Wenn ich dafür Schulden mache, dann bringt mir das überhaupt nichts. ({13}) Wenn ich mit dem Geld etwas Vernünftiges baue oder ein Haus saniere, dann bleibt ein Wert zurück. Diesen Unterschied haben Sie finanztechnisch nicht berücksichtigt, weil Sie sich nicht auf ein Verschuldungskriterium auf der Grundlage des Nettoinvestitionsbegriffs einlassen wollten. Das bedeutet, dass Nettoinvestitionen, das heißt Investitionen minus Abschreibungen, ein Kriterium für die Frage sein können, wie hoch man sich zusätzlich verschulden kann. Deswegen haben wir zu der Verschuldungsgrenze von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für den Bund und 0,15 Prozent für die Länder gesagt: Nur bei Nettoinvestitionen, also bei solchen Investitionen, durch die sich der Kapitalstock des Landes vergrößert, sind Abweichungen von dieser Grenze zulässig, sonst nicht. ({14}) Die pauschale 0,35-Prozent-Regelung schützt uns nicht vor so einem Unsinn, wie Sie ihn mit der Abwrackprämie gemacht haben. Der Sachverständigenrat hat im März 2007 den Begriff der Nettoinvestition als mögliche Grundlage vorgeschlagen. Jetzt weiß ich - Herr Finanzminister, das werden Sie gleich sagen -, dass es hier Abgrenzungsprobleme gibt. Das ist logisch. Aber man kann auch Probleme angehen und lösen. Sie haben sich verweigert, weil Sie sich in der Debatte „Was erhöht den Vermögensstock eines Landes oder das Produktionspotenzial?“ - das sind die entscheidenden Fragen - drücken wollten. ({15}) Ich sage noch einmal: An dieser Stelle gibt es bei dem, was Sie heute vorschlagen, einen Konstruktionsfehler. Herr Ramelow, vieles von dem, was Sie gesagt haben, war richtig. Aber aus dem, was Sie gesagt haben, folgt nicht - das ist der wichtige Unterschied zu uns -, dass man keine Schuldenbremse einführen sollte. Vielmehr folgt daraus, dass man eine richtige, vernünftige und ökonomisch begründete Schuldenbremse einführen soll. Ihre Verweigerungshaltung in Bezug auf das Verschuldungsproblem ist nicht zukunftsweisend. ({16}) Noch eine Bemerkung. Das Ausspielen von solidarischem Föderalismus gegen Wettbewerbsföderalismus, das Sie gerade vorgeführt haben, gehört für mich der Vergangenheit an. Die Kunst besteht doch darin, dass wir die richtigen Elemente der Solidarität zwischen den Ländern, zwischen dem Bund und den Ländern und den Gemeinden praktizieren und neu festschreiben, ({17}) andererseits aber einen produktiven Wettbewerb zwischen den Ländern zulassen. Es ist doch nicht schlecht, wenn zwei Bundesländer die Frage stellen: Wer kann eine bestimmte Aufgabenstellung am besten erfüllen? Nur das eine oder das andere anzustreben, funktioniert nicht. Beides muss ein kluger Gesetzgeber machen. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden ab 2015 in Deutschland neue Verhandlungen über den Föderalismus führen; denn die jetzige Grundgesetzänderung leistet einfach nicht das, was Sie vorgegeben haben. Wir werden dann auch über den Länderfinanzausgleich und die Neugliederung der Bundesländer reden müssen. Wir haben heute keine große Lösung erreicht, Herr Röttgen. Große Koalition ist gleich große Lösung, das hat nicht funktioniert. Das Gegenteil ist eingetreten. Sie haben einen etwas kleinkarierten Kompromiss gefunden. Aber den Föderalismus haben Sie weder durch die Stärkung der Gemeinden noch durch die Stärkung der Länder oder die Stärkung der Beziehungen zwischen dem Bund und den Ländern vorangebracht. ({18}) Deswegen werden wir dagegenstimmen, obwohl wir für eine Begrenzung der Schuldenaufnahme durch die öffentliche Hand sind. Ich danke Ihnen. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung erhält nun das Wort der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück. ({0})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kuhn, Sie haben vorhin richtig gesagt, dass es in Ihrer Rede einen Punkt geben könnte, auf den ich eingehen könnte. Aber Sie haben sich den falschen Punkt ausgesucht. ({0}) Ich habe schon in der Föderalismuskommission versucht, Ihnen eine, wie ich hoffe, einigermaßen verständliche Erklärung dafür zu geben, dass das Nettoinvestitionskonzept die entscheidende Fehlkonstruktion nicht auflöst. ({1}) Das jetzige Grundgesetz enthält einen falschen Investitionsbegriff. Wir haben im Augenblick die Situation, dass jeder Euro in Beton als Investition und jeder Euro in die Köpfe der Menschen als konsumtiv definiert ist. ({2}) Ihr Nettoinvestitionskonzept löst dieses Problem nicht, da die jetzige Schuldenregelung dieses Problem umgeht. Deshalb ist Ihre diesbezügliche Argumentation leider Gottes nicht erkenntnisfördernd. ({3}) Ich will auf die Einzelheiten der Ergebnisse der Föderalismuskommission gar nicht eingehen, insbesondere nicht auf die Ausgestaltung der Schuldenregelung. Frau Tillmann hat diesen Punkt sehr zutreffend dargestellt. Ich möchte zwei grundsätzliche Bemerkungen machen und vier zentrale Missverständnisse aufgreifen: Erstens. Mit der Verankerung einer neuen Schuldenbremse im Grundgesetz hat es diese zweite Große Koalition exakt 40 Jahre nach der ersten Großen Koalition in der Tat in der Hand, eine finanzverfassungsrechtliche und finanzpolitische Entscheidung von historischer Tragweite zu treffen, eine Entscheidung - das ist der Unterschied zu Ihnen, Herr Ramelow -, die die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit sichern und nicht einschränken soll. ({4}) Die absurde Quintessenz Ihrer Rede, Herr Ramelow, ist, dass zusätzliche Schulden die Handlungsfähigkeit des Staates erweitern. ({5}) Das ist eine absurde Zusammenfassung. ({6}) Jetzt hören Sie mal einen Moment zu; auch ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Wenn Sie sich anschauen, wie sich die Schuldenstandquote in Deutschland, das heißt das Verhältnis der Schulden zu unserer Wirtschaftsleistung - und damit automatisch die Zinslastquote; will sagen: der Anteil der Zinsausgaben am Bundeshaushalt -, entwickelt hat, dann werden Sie feststellen, dass wir der gefährlichen Tendenz unterworfen sind, dass der Bundeshaushalt immer weiter verkarstet und versteinert und Ihre politischen Handlungsspielräume, vor allen Dingen die der nachfolgenden Generationen von Bundestagsabgeordneten, immer geringer werden. Das ist das Problem. ({7}) Ich will auf Ihre nicht minder aberwitzigen Vorstellungen zu einer prohibitiven Besteuerung in Deutschland gar nicht weiter eingehen. Aber Ihre Rede ist ein Plädoyer dafür gewesen, in Deutschland eine Substanzbesteuerung von 80 bis 90 Milliarden Euro einzuführen. ({8}) - Das war doch der Kern dessen, was gesagt wurde. Vor diesem Hintergrund habe ich eine gewisse Hoffnung, dass Sie im Deutschen Bundestag weiter auf den jetzigen Stühlen sitzen und niemals auf der Bundesratsbank. Das wäre schlecht. ({9}) Vor 40 Jahren hat die erste Große Koalition eine Finanzverfassung verabschiedet, die auf der Höhe der Zeit war. Aber wir werden kritisch eingestehen müssen, dass die Finanzverfassung, die vor 40 Jahren auf der Höhe der Zeit gewesen ist, heute nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Insbesondere der jetzige Art. 115 des Grundgesetzes hat uns nicht vor einer Fehlentwicklung bewahrt. ({10}) Er hat Konstruktionsfehler; einen habe ich erwähnt: den falschen Investitionsbegriff. Zweitens werden wir zugeben müssen, dass die Ausnahmemöglichkeiten dieses Art. 115 uns alle, die wir in den letzten 40 Jahren Regierungsverantwortung hatten, sehr leichtfüßig in eine Verschuldung hineingetrieben haben. Wir haben uns dieser Ausnahmemöglichkeiten sehr häufig bedient. Drittens. Wir haben das, was damals jedenfalls konzeptionell angelegt war, letztlich nie erfüllt: Wir haben in schlechten Zeiten Schulden gemacht, diese aber in guten Zeiten nicht zurückgezahlt. ({11}) Deshalb ist es richtig, diesen Art. 115 abzuschaffen und eine bessere, zeitgemäße Finanzverfassung einzuführen. Ich gebe Ihnen noch einmal wenige Zahlen an die Hand, die das eben Ausgeführte belegen. 1969 beliefen sich die Zinszahlungen des Bundes auf 3,2 Prozent des Bundeshaushalts; im Jahre 2008 haben sich die Zinsausgaben auf 15 Prozent belaufen, Tendenz steigend. Natürlich tragen wir dazu auch aktuell bei, weil wir in dieser Wirtschaftskrise mit enormen kreditfinanzierten Programmen, die der sehr schwierigen, krisenhaften Situation geschuldet sind, in den nächsten Jahren wahrscheinlich in eine weitere Erhöhung dieses Prozentsatzes hineinkommen werden. Deshalb sind wir es nach meiner Auffassung den Bürgerinnen und Bürgern schuldig, ihnen zu signalisieren, dass wir es mit der Konsolidierung wieder ernst meinen, sobald wir aus der Wirtschaftskrise heraus sein werden. Wir müssen auch den Finanzmärkten ein Signal geben, dass in Deutschland eine solide Haushaltspolitik betrieben wird. ({12}) Wir müssen als Deutsche dazu beitragen, dass die Stabilität des Euro durch unser Haushaltsgebaren nicht infrage gestellt wird. Außerdem haben wir ein massives Interesse daran, dass die Glaubwürdigkeit des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes auch durch unseren Beitrag gewährleistet wird. ({13}) Meine Damen und Herren, dies bringt mich zu einer zweiten Grundsatzbemerkung: Ein Resultat der von mir erwähnten weltweiten Finanzkrise ist es, dass plötzlich die Kreditwürdigkeit ganzer Staaten infrage gestellt ist. Diese Entwicklung erleben wir gegenwärtig; sie betrifft selbst die Kreditwürdigkeit von Staaten, die bisher quasi als unantastbar angesehen wurden. Wenn sich inzwischen selbst die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich vergegenwärtigen müssen, dass sie heruntergerated werden können, was fatale Folgen für ihre Finanzmarktkonditionen hätte, dann liefert dies eine Vorstellung davon, wie wichtig es gerade in dieser Situation ist, dass Deutschland seine Bonität auf den Finanzmärkten nicht verliert. ({14}) Dabei ist unsere Nettokreditaufnahme gar nicht entscheidend. Sie ist, wie ich zugebe, schlimm genug, was der Situation geschuldet ist. Aber ich möchte Ihnen eine andere Zahl vortragen, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, was dies heißt: Die jährliche Bruttokreditaufnahme ist entscheidend. Sie beträgt inzwischen allein für den Bund wahrscheinlich 330 Milliarden Euro. Das heißt, wenn wir auf den Finanzmärkten Bonität, Ansehen und Ratings verlören und allein um einen Prozentpunkt - die Fachleute sprechen von 100 Basispunkten heruntergestuft würden, hätten wir es mit zusätzlichen Zinsausgaben in Höhe von 7 bis 8 Milliarden Euro zu tun. Dies bitte ich bei Ihren Entscheidungen mit zu bedenken, wenn es um eine neue Schuldenregelung geht. Hier kommt es auf die Signalwirkung auf die Finanzmärkte an, die unmittelbar - kurzfristig, schon im nächsten Jahr - die Kapitalmarktkonditionen beeinflussen, die wir als großer Schuldner auf den Märkten zugestanden bekommen. ({15}) Es gibt ein erstes Missverständnis: Die Schuldenbremse behindert angeblich Investitionen in die Zukunft unseres Landes. Dies ist falsch. Ich habe versucht, darauf hinzuweisen, dass allein die strukturelle Verschuldung, die wir in Zukunft noch eingehen können, uns des falschen Investitionsbegriffes enthebt. Ich will Sie jetzt nicht länger damit konfrontieren, dass neben dieser Strukturkomponente auch eine Konjunkturkomponente in dieser Schuldenregelung enthalten ist, die uns wie auch in der jetzigen Zeit auf der Basis der alten Schuldenregelung reagieren lässt und es uns erlaubt, antizyklisch das zu tun, was notwendig ist, um eine schwierige Wirtschaftslage einigermaßen zu stabilisieren. Das zweite Missverständnis: Die Schuldenbremse nimmt der Politik Gestaltungsspielräume. Ich bin bereits darauf eingegangen - ich will dies jetzt nicht im Einzelnen wiederholen -, dass es um das Gegenteil geht. Wir stecken in einem Schraubstock der Verschuldung. Der steigende Schuldenstand und die steigende Zinslastquote verkarsten den Bundeshaushalt zusammen mit anderen Komponenten immer mehr. Anders ausgedrückt: Wir haben nicht nur ein Niveauproblem in unserer Ausgabenpolitik, sondern wir haben ein Strukturproblem in unserem Bundeshaushalt. Vier Komponenten legen 80 bis 85 Prozent des Bundeshaushaltes fest: ({16}) die Schulden, die Zahlungen an die Rentenversicherung, die gesetzlichen Leistungen und die Betriebsausgaben des Bundes. In Wirklichkeit entscheiden Sie als Souverän des Landes frei nur noch über 15 Prozent des Bundeshaushaltes, mehr nicht. ({17}) - Bin ich so unverständlich, dass Sie mich ständig unterbrechen müssen? Oder warum machen Sie ständig Zwischenrufe? ({18}) Das dritte Missverständnis: Gäbe es die Schuldenbremse in dieser Krise schon, hätte die Politik keine Konjunkturprogramme auflegen können. Ich habe versucht, Ihnen im Telegrammstil zu belegen, dass diese Programme auf Basis der alten Schuldenregelung möglich sind - mit den Risiken, die ich beschrieben habe -, aber auch auf Basis der neuen Schuldenregelung. Es ist ein Irrtum, der ständig weitergegeben wird, dass wir 2010/2011 nicht antizyklisch reagieren können. Wir können das auf Basis dieser Schuldenregelung. Ich will aus Zeitgründen ein letztes Missverständnis aufgreifen: Die Schuldenbremse entmachte angeblich die Länder und höhle den Föderalismus aus. Fakt ist: Die Schuldenbremse schafft weder das Budgetrecht der Landesparlamente ab, noch widerspricht sie dem föderalen Staatsaufbau. Wenn andere anderer Auffassung sind, sollen sie den dafür vorgesehenen Weg zum Bundesverfassungsgericht gehen. Im Übrigen war es der Vorschlag des Bundes, und zwar sowohl der Vertreter der Exekutive als auch der Parlamentarier, auf Basis des Maastricht-Kriteriums von 0,5 Prozent den Ländern 0,15 Prozent anzubieten. ({19}) Die Länderfürsten haben sich eine Denkpause genommen. Als Sie wieder hereingekommen sind, haben sie zum Erstaunen der Bundesvertreter, zumindest vieler, die hier sitzen, die Strukturkomponente von 0,15 Prozent nicht angenommen. ({20}) Ich sage etwas flapsig: Das ist doch deren Problem und nicht mein Problem. Dann sollen sie es regeln. ({21}) Ich habe nichts dagegen, wenn sie diese Position im Bundesrat verändern. Wer zukünftig einen handlungsfähigen Staat will, wer die Gestaltungsfähigkeit der Politik und nachfolgender Parlamentariergenerationen erhöhen will, der muss dafür sorgen, dass Schuldenstand und Zinslast reduziert werden. Ein handlungsfähiger Staat braucht langfristig tragfähige öffentliche Finanzen. Langfristig tragfähige Finanzen sind nur dann gewährleistet, wenn die Verschuldung dauerhaft langsamer wächst als das Bruttoinlandsprodukt. Genau das ist Kern dieser Schuldenregelung. Das ist die Basis der neuen Regelung. In meinen Augen ist das auch die Basis einer verantwortungsvollen, generationsgerechten Politik. Deshalb müssen wir mit unserer heutigen Entscheidung endlich die Konsequenz ziehen aus den vielen Reden, in denen wir auf die Belastung nachfolgender Generationen, unserer Kinder und Enkelkinder, hinweisen. Sie entscheiden heute, bezogen auf diese Schuldenregelung, ob das wichtige Ziel der Generationengerechtigkeit verfassungsrechtlich ausgefüllt, belegt und unterstützt wird oder nicht. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesfinanzminister, wir stimmen Ihnen zu, ({0}) aber nur in einem Punkt. Auslöser der ganzen Problematik war sicherlich die Reform der ersten Großen Koalition von 1969, als Art. 115 ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Art. 115 bildete das Einfallstor für immer neue Schulden. Bis 1969 war der Staat weitgehend schuldenfrei; heute erdrückt uns die Schuldenlast. Kollege Wissing hat das hier deutlich gemacht. ({1}) Hier wird immer wieder die Mär geschürt, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise die bisherige Konsolidierungspolitik unmöglich macht und dazu führt, dass man mehr Schulden auftürmen muss. Das stimmt nicht. Herr Finanzminister, ich erinnere daran, dass Sie in Ihrer Regierungszeit 19 Steuer- und Abgabenerhöhungen durchgeführt haben. Sie haben viel mehr Steuereinnahmen. Trotzdem haben Sie alle Haushalte - auch vor der Krise mit einer Neuverschuldung vorgelegt. ({2}) Man muss dies noch einmal deutlich machen: 2007 waren es 14 Milliarden Euro, 2008 12 Milliarden Euro und 2009 10,5 Milliarden Euro. Das hat mit Konsolidierung nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({3}) Dass heute ein historischer Tag ist, würde ich nicht sagen. Wir haben zusammen versucht - Herr Kollege Struck, ich bin wirklich dankbar für Ihre sachlichen Äußerungen hier -, etwas hinzubekommen. ({4}) Wir haben versucht, ein gemeinsames Konzept zu finden. Wir sind allerdings - das war immer unser Vorwurf weit hinter der Zielsetzung des Einsetzungsbeschlusses zurückgeblieben. Im Einsetzungsbeschluss haben wir zum Beispiel die Länderneugliederung angesprochen. Dieses Thema wurde in der Kommission überhaupt nicht mehr diskutiert, obwohl es vonseiten der FDP konkrete Vorschläge für eine Änderung von Art. 29 gab, um zumindest eine gewünschte Länderneugliederung zu erleichtern. Fehlanzeige! Im Einsetzungsbeschluss war auch das Thema Steuerautonomie enthalten. Wir haben es auch einige Wochen diskutiert, aber am Schluss: Fehlanzeige! Jetzt haben wir ein Problem bei den Ländern. Wir verpflichten sie, keine Schulden mehr zu machen, andererseits geben wir ihnen bei den Einnahmen so gut wie keine Gestaltungsspielräume. Das kann eigentlich nicht sein. Die Zahlen, die Herr Ramelow - er ist nicht mehr da vorgetragen hat, ({5}) waren schon abenteuerlich. Vielleicht kann man Herrn Ramelow einmal sagen, dass das gesamte ErbschaftsteuErnst Burgbacher eraufkommen in Thüringen 7 Millionen Euro im Jahr beträgt. Nur damit man weiß, worüber man redet. Einer unserer großen Vorwürfe ist, dass Sie das Thema Länderfinanzausgleich völlig ausgeklammert haben. Auch hier einige Zahlen, damit man weiß, worüber man redet. Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP ergibt sich, dass dem Saarland von 1 Million Euro zusätzlicher Erbschaftsteuer unter dem Strich gerade einmal 18 000 Euro blieben. Der Rest wird im Rahmen des Länderfinanzausgleichs abgezogen. Der Länderfinanzausgleich ist ein dermaßen anreizfeindliches System, dass eine Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ohne Reform des Länderfinanzausgleichs überhaupt nicht möglich ist. Das war der Fehler im Ansatz. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man sollte heute noch über einige andere Dinge reden. Es wird so manches in das Begleitgesetz geschrieben, was völlig unbeachtet bleibt. Es wundert mich zum Beispiel, dass in Art. 4 des Begleitgesetzes das Gesetz über die Verbindung der informationstechnischen Netze des Bundes und der Länder eingeführt wird. Das bedeutet, dass die Netze dann voll in Regierungshand, in der Hand irgendwelcher Kommissionen sind und die Parlamente überhaupt keine Eingriffsmöglichkeit mehr haben. Hier geht es aber um Grundlagen des Datenschutzes. Dies ist deshalb äußerst kritisch und stößt bei der FDP-Fraktion auf allergrößte Skepsis. ({7}) Wir haben in der Kommission versucht, eine große Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen hinzubekommen. Ich erinnere noch einmal daran, dass diese Kommission auf Druck der FDP zustande gekommen ist. Ich finde es schade, dass die Große Koalition so wenig Mut hatte. Man muss noch einmal deutlich sagen, dass sich wieder zeigt: Eine Große Koalition steht für kleine Lösungen; denn kleiner könnte die Lösung fast nicht sein. ({8}) Wir hatten trotzdem erwogen, dem Gesetzentwurf zuzustimmen; aber dann hat sich die SPD vier Tage vor der Entscheidung von diesem Kompromiss, der gemeinsam getroffen wurde, wieder verabschiedet ({9}) und plötzlich eine andere Lösung für die Länder beschlossen. Es war ein Kompromiss der gesamten Kommission. Sie werden verstehen, dass wir daher nicht zustimmen können. Ich sage aber ganz klar - ich wiederhole, was mein Kollege Wissing gesagt hat -: Sollte dieser Entwurf unverändert durch den Bundesrat gehen, dann wird er an der FDP nicht scheitern; dann werden wir ihm zustimmen. Aber wir werden Ihnen heute keinen Blankoscheck dafür ausstellen, dass Sie nachher wieder das tun können, was Sie am liebsten tun, nämlich Schulden machen. Das wird mit der FDP nicht möglich sein. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wir stehen heute vor einer historischen Entscheidung. Wir haben die Chance - der Bundesfinanzminister hat darauf hingewiesen -, 40 Jahre nachdem die erste Große Koalition die Schleusen für den Schuldenstaat geöffnet hat, diese Schleusen wieder zu schließen. Dies ist ein bedeutender Kraftakt. Erforderlich sind eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag und eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat. Wenn in einer Situation, in der die Interessen vielgestaltig und die Interessenkonflikte häufig sind, ein solcher Kraftakt gemeistert, eine solche gemeinsame Leistung auf den Weg gebracht werden kann, verdient das Anerkennung und Respekt. Ich halte es für eine politische Sensation, dass wir dazu heute in der Lage sind. Noch vor einigen Jahren galt die allgemeine Meinung, es gebe keine ausgeglichenen Haushalte; in den öffentlichen Haushalten müsse es immer Schulden geben. Als Abgeordneter der CSU sage ich mit einigem Stolz, dass es Edmund Stoiber, langjähriger Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender in Bayern, war, der vor über zehn Jahren gesagt hat: Ich will einen ausgeglichenen Haushalt erreichen. ({0}) Er wurde belächelt; aber er hat bewiesen, dass es geht. Er hat die Stabilitätspolitik hoffähig gemacht. Es war Theo Waigel - lassen Sie mich auch das mit Stolz anmerken -, der über die Maastricht-Kriterien die Stabilität zum Maßstab in Europa gemacht hat. Ich denke, das ist aller Ehren wert. Mein Kompliment gilt auch den Ministerpräsidenten, die leider heute nicht hier sind. Sie sind über ihren Schatten gesprungen. Professor Fuest, Sachverständiger in der Anhörung und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Finanzministeriums, hat festgestellt: Politik hat sich parteiübergreifend zu einem beeindruckenden Schritt entschlossen. ({1}) Ich habe - das gebe ich zu - eine Schuldenbremse für die Länder nicht für möglich gehalten, weil mir die Vielgestaltigkeit der Interessen zu groß erschien. Ich habe immer vorgeschlagen, Kollege Kröning: Lasst uns zumindest eine Schuldenbremse für den Bund einziehen; dann haben wir wenigstens etwas erreicht. - Dass die Ministerpräsidenten sich zusammengesetzt haben und alle über ihren Schatten gesprungen sind, in Verantwor24870 Dr. Hans-Peter Friedrich ({2}) tung für eine nachhaltige Finanzpolitik und für den gesamten Bundesstaat, ist aller Ehren wert. Dafür hat auch Günther Oettinger ein Kompliment verdient, der die vielgestaltigen Interessen vereint hat. ({3}) Mein Kompliment gilt aber auch den Ministerpräsidenten, deren Länder zu den Geberländern gehören und die weiteren Konsolidierungshilfen, also neuen Leistungen an die strukturschwachen Länder, zustimmen müssen. Auch das ist nicht einfach. Sie haben das zum einen in Verantwortung für den Gesamtstaat getan, zum anderen aber auch, weil Sie wissen, dass solide Staatsfinanzen langfristig in den Ländern dazu führen, dass Geld nicht mehr für Zinsen ausgegeben werden muss, sondern für politische Gestaltung zur Verfügung steht. Das kommt dann allen zugute und wirkt sich letzten Endes auch beim Länderfinanzausgleich positiv aus. Es ist Kritik geäußert worden an der Tatsache, dass wir Jahreszahlen und konkrete Beträge in die Verfassung schreiben. Aber ich weise darauf hin, dass für einige der Ministerpräsidenten die Schuldenbremse nur dann ein Thema war, wenn sie Konsolidierungshilfen bekommen, und für andere die Zustimmung zu Konsolidierungshilfen nur dann ein Thema war, wenn eine Schuldenbremse eingezogen wird. ({4}) Beide Seiten haben gleichermaßen auf Rechtssicherheit in Bezug auf die Befriedigung ihres Anspruches gedrängt. Deswegen ist es richtig, dass wir das beiden Seiten verfassungsfest garantieren. Das bringen wir jetzt auf den Weg. Detailregelungen hat Peter Huber, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, in der Anhörung angesprochen. Er hat gesagt, als Verfassungsjurist habe er sehr viel Sympathie für die napoleonische Idee der Verfassung; eine Verfassung müsse kurz und unklar sein. Aber er hat darauf hingewiesen, dass wir seit 1990 schon einige sehr ausführliche Artikel in die Verfassung geschrieben haben: Art. 13, Art. 16 a, Art. 23, Art. 143 a und b. Der Sündenfall liegt also schon 20 Jahre zurück. ({5}) Man muss aber eines wissen: Die Schuldenbremse funktioniert nur, wenn wir minutiös festschreiben, dass das Geld zurückzuzahlen ist. Sie wissen, wie es mit allgemeinen und wertungsoffenen Begriffen ist. Wenn in der Verfassung steht, dass Schulden erst dann gemacht werden dürfen, wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört ist, fragt sich jeder, was das bedeutet. Die Antwort ist ganz einfach: wenn der Bundestag es beschließt. So können wir keine Schuldenbremse machen. Wir müssen eine Regelung in die Verfassung schreiben, die nicht manipulierbar bzw., wie Professor Huber sagt, die justiziabel ist. Wir haben eine Schuldenbremse geschaffen, die justiziabel ist und dazu führen wird, dass die Schulden in angemessener Form zurückgeführt werden. ({6}) Die Staatlichkeit der Länder wird durch die Schuldenbremse nicht berührt. Auch das war Thema vieler Erörterungen in den letzten Wochen. Professor Lange hat in der Anhörung zu Recht darauf hingewiesen, dass es Solidarität des Gesamtstaates nicht nur beim Ausgeben von Geld geben darf, sondern auch beim Sparen und beim Erbringen von Opfern für die finanzielle Stabilität des Landes geben muss. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt. Lieber Herr Kuhn, Sie haben gesagt, die Länder seien in den nächsten Jahren völlig frei in der Entscheidung, ob sie Schulden machen oder nicht. Das ist nicht richtig. ({7}) Wir schreiben im neuen Art. 143 d des Grundgesetzes ich bitte, das nachzulesen - vor, dass sich diejenigen, die Konsolidierungshilfen haben möchten, bestimmten Auflagen unterwerfen müssen. ({8}) Sie müssen sich der Nullverschuldung in Schritten nähern. Das beginnt im übernächsten Jahr und wird schrittweise bis zum Jahr 2019/2020 vollendet sein. Darum geht es. ({9}) Professor Fuest, ebenfalls Sachverständiger in der Anhörung, hat darauf hingewiesen, dass es in den meisten OECD-Ländern in den letzten drei Jahrzehnten Versuche gab, Schuldenbremsen einzuführen. Es gibt eine ausführliche Forschung zu diesem Thema. Das Ergebnis dieser Forschung ist: Dort, wo Schuldengrenzen eingeführt wurden, werden tatsächlich weniger Schulden gemacht. ({10}) Ich denke, das sollte uns optimistisch stimmen. Wir haben im Verwaltungsteil die Möglichkeit eines Leistungsvergleichs zwischen den Ländern eingeführt. Wie soll dieser Leistungsvergleich aussehen? Wir wollen, dass in diesem föderalistischen Staat auf allen Ebenen ständig um die besten und effizientesten Lösungen gerungen wird. Das ist eine Aufgabe, die sich jedem von uns jeden Tag stellt. Der Föderalismus ist ein Gestaltungswettbewerb, in dem um die besten Lösungen gerungen wird. Dies wird offensichtlich auf der linken Seite des Hauses nicht verstanden. Lieber Herr Ramelow, zu dem, was Sie hier offensichtlich im Namen aller Sozialisten aller Fraktionen zum Thema Steuern erklärt haben, fällt mir Folgendes ein: Das Einzige, so sagte Winston Churchill, was Sozialisten von Geld verstehen, ist, dass sie es von anderen haben wollen. Dr. Hans-Peter Friedrich ({11}) ({12}) Das habe ich inzwischen begriffen. Aber es ist unmoralisch, ({13}) das Geld von künftigen Generationen zu nehmen, ({14}) die sich heute nicht wehren können, und sie somit ihrer Chancen, Möglichkeiten und Spielräume zu berauben, die sie brauchen, um ihren Herausforderungen gerecht zu werden. ({15}) Wir stoppen heute den Weg in den Verschuldungsstaat. Das ist verantwortungsvoll gegenüber der Zukunft, gegenüber der jungen Generation. Ich bitte Sie deswegen um Zustimmung. Vielen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Volker Kröning ist der nächste Redner für die SPDFraktion.

Volker Kröning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002707, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der ersten Lesung dieses Gesetzespakets sind die Ergebnisse der Föderalismuskommission II gewürdigt worden. Heute sind wir in der zweiten und dritten Lesung. Die Anhörung zu dem Gesetzespaket hat ergeben, dass unter den Ökonomen, Juristen und Politikwissenschaftlern, die wir gehört haben, überwiegend Zustimmung besteht. Der Rechtsausschuss und die mitberatenden Ausschüsse sind diesem Ergebnis gefolgt. Sie empfehlen allesamt die Annahme des Pakets mit Zweidrittelmehrheit. Es tut mir leid, dass die FDP nicht dabei ist; aber das muss sie mit sich selbst ausmachen. Die Abwägungen, die uns zu der heutigen Empfehlung geführt haben, hat der Fraktionsvorsitzende der SPD und vom Bund gestellte Kommissionsvorsitzende vorgetragen. Das lässt keine Zweifel, verehrter Herr Kauder, dass wir - auch bezüglich der Vereinbarungen, die den Entscheidungen zugrunde gelegen haben - koalitionstreu geblieben sind. Es freut mich, dass das auch nicht angezweifelt wird. Dies unterstützt die Einmütigkeit der Koalition. Den Kernpunkt des Gesetzespakets haben die Kollegin Tillmann und der Bundesfinanzminister hinreichend und eindrucksvoll zusammengefasst, nämlich die Neufassung der verfassungsrechtlichen Kreditgrenzen. Ich brauche das nicht zu wiederholen. Ich kann mich dem voll anschließen, sowohl unter rechtspolitischer als auch unter ökonomischer Betrachtung. Es wird deutlich, dass der Finanzpakt zwischen Bund und Ländern, der Ihnen vorliegt, ein für die Finanzverfassung typischer Interessen- und Machtkompromiss ist. Es kommt allerdings vor allem auf die Innovationen hinter dieser Technik an. Als Haushälter möchte ich namens der SPD-Fraktion drei Punkte ansprechen. Erstens. Leitprinzip der gesamtstaatlichen Haushaltswirtschaft soll werden, was für die Bürgerinnen und Bürger selbstverständlich ist, nämlich nicht mehr auszugeben, als man einnimmt. In konjunkturell schlechten Zeiten dürfen Kredite aufgenommen werden, in konjunkturell guten Zeiten sind sie zurückzuzahlen. In einer Extremsituation können die Obergrenzen, die für Bund und Länder gelten, überschritten werden. Dieser Beschluss, der nur mit Kanzlermehrheit gefasst werden kann, ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden. Das heißt, die neue Richtschnur lautet: Kredite sind zulässig, aber zurückzuzahlen. Kredit und Tilgung gehören zusammen. Das ist eine Lehre, die gerade aus der aktuellen Finanzkrise zu ziehen ist. ({0}) Zweitens. Die Bewältigung der Krise, in der wir uns befinden und über deren Ursachen und Folgen wir noch nicht genug wissen - das enthebt uns übrigens nicht unserer politischen Entscheidung, sondern fordert die Politik in einem ungewöhnlichen und neuartigen Sinne -, folgt in den Jahren 2009 und 2010 noch dem alten Recht, ab dem Jahre 2011 dann dem neuen Recht. Für den Bund gilt eine Anpassungsstrecke bis 2015, für die Länder bis 2019. Leise, aber deutlich füge ich hinzu: Die Beseitigung der Folgen der Aufnahme außerordentlicher Kredite wird in den nächsten Jahren eine Höchstanforderung an die Politik sein, nicht nur mit Blick auf den Bundeshaushalt, sondern auch mit Blick auf die Nebenhaushalte. Dies gilt nicht nur für die Ausgabenseite, sondern auch für die Einnahmeseite der Haushalte, kurz: für den Steuerzahler, der für jede Leistung eine Gegenleistung erwartet, so für die Leistung der Krisenbewältigung die Gegenleistung der Rücksichtnahme auf seine Steuerzahlung. Das schulden wir den Bürgerinnen und Bürgern; das muss heute deutlich gesagt werden. Deshalb entscheiden wir heute über dieses Regelwerk. Die Bürgerinnen und Bürger wissen viel besser, als wir manchmal glauben, worum es geht, nämlich darum, die Krisenbewältigung nicht zum Vorwand für eine neue Schuldeneskalation werden zu lassen. Drittens. Im Kern geht es nicht um die Haushaltsumfänge, sondern um die Haushaltsstrukturen. Dabei sind neben der Ausgaben- und der Einnahmeseite besonders die Investitionen in Sach- und Humanwerte ins Auge zu fassen. Dieser Bereich wird in den nächsten Jahren die größte Bewährungsprobe für die gesamtstaatliche Bildungspolitik sein. Das ist ein Kernanspruch der Bürgerinnen und Bürger, aber auch ein Kerninteresse unseres Landes im internationalen Umfeld. Es ist bereits deutlich gemacht worden: Nur so lässt sich eine sowohl konjunkturgerechte als auch zukunftsorientierte Finanzpolitik betreiben. Ein weiterer Schwerpunkt der Reform ist die Weiterentwicklung der kooperativen Umgangsformen der Gebietskörperschaften: beim Steuervollzug auf der Basis des geltenden Art. 108 Grundgesetz, bei den öffentlichen Informations- und Kommunikationssystemen, bei einem kontinuierlichen Leistungsvergleich zwischen den Verwaltungen von Bund und Ländern und insbesondere mit der Errichtung des Stabilitätsrates zur Überwachung der gesamtstaatlichen Haushaltswirtschaft. Wer den Umgang von Bund und Ländern, zum Beispiel im Rahmen der Finanzministerkonferenz, viele Jahre miterlebt hat, der weiß, welch wichtige Innovation das ist. Ich freue mich, dass Sie, Herr Kollege Dr. Friedrich, gerade den kooperativen Gedanken betont haben, und zwar nicht in einem versteinerten, sondern in einem dynamischen Sinne. Ich wiederhole, was ich schon angedeutet habe: Eine besondere Bewährungsprobe steht der Bildungs- und Wissenschaftsverfassung der Bundesrepublik bevor. Es wird von großer Bedeutung sein, wie sie sich nach den zwei Schritten der Bundesstaatsreform, die in diesem Jahrzehnt durchgeführt worden sind, entwickelt. Wir haben nicht nur eine striktere Trennung und somit eine bessere Zurechenbarkeit der Verantwortung, sondern auch mehr Zusammenwirken erreicht, sowohl bei der Forschung - das darf man nicht verkennen - als auch bei der Bildungsberichterstattung. Sie ist allemal besser als die frühere, völlig funktionslos gewesene Bildungsplanung. Jetzt geht es um die Frage: Werden die Vereinbarungen des Bildungsgipfels 2008, die die Bundeskanzlerin und 16 Ministerpräsidenten getroffen haben, umgesetzt? Werden sie, wie das die Bürgerinnen und Bürger erwarten, nicht nur parlamentarisch vom Bundestag, sondern auch föderal, nicht nur vom Bund und den Ländern, umgesetzt? Werden sie so umgesetzt, dass in unserer Gesellschaft mehr Integration und Chancengleichheit erreicht werden? Werden sie so umgesetzt, dass sie auch ökonomisch wirksam werden? Dies geht, so sage ich ganz klar, mit der Verfassung ({1}) und setzt keine weitere Änderung der Verfassung voraus. Bundesstaat für die Menschen - um einmal ein Leitbild deutlich zu machen - heißt, dass Familien in allen Ländern und Gemeinden die bestmögliche Bildung unabhängig von Grenzen in Anspruch nehmen können. Ich drücke es mit dem Preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und dem Bremer Bürgermeister Martin Donandt so aus: zusammenarbeiten, als ob es Grenzen nicht gäbe. - Das sage ich als überzeugter Föderalist. Die Fragen, um die es nach diesem Jahrzehnt im nächsten Jahrzehnt gehen wird, sind angedeutet worden: die Tauglichkeit der Steuerverteilung, ihrer Maßstäbe, aber auch ihrer Berechnung, und eine aufgabenadäquate Finanzausstattung - auch dieses Thema wird über den einen Bund und die 16 Länder hinaus auch für die über 12 000 Gemeinden von Bedeutung bleiben. Kurz gesagt - so, wie wir es im Koalitionsvertrag gesagt haben; wir brauchten nicht die FDP, um uns auf diesen Weg zu machen -: Eigenverantwortung der Gebietskörperschaften, die den Namen verdient. Dabei darf keine Politik, die sich dem Gesamtstaat verpflichtet fühlt, sei es nun die Bundespolitik oder die Politik der Ländergesamtheit, aus den Augen verlieren, dass noch immer 60 Prozent der Schulden - in Kürze sogar deutlich mehr - auf den Schultern des Bundes lasten, der Bund aber nur 40 Prozent der Einnahmen - ohne Kredit - erhält. Ich möchte hier heute noch einmal deutlich sagen: Das kann mit Blick auf die nächste Dekade so nicht bleiben. ({2}) Zum Schluss will ich danken: den langjährigen Weggefährten in meiner Fraktion und Partei, die sehr mitgeholfen haben, die Ergebnisse der Föderalismusreformen I und II zu erreichen, den Partnern in der Union, auf die Verlass ist, den Mitarbeitern der Verwaltungen und auch der Arbeitsgruppen, auf deren Gewissenhaftigkeit - das darf man Beamten konzedieren - wir bauen konnten, und stellvertretend für alle Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich als Obmann zusammengearbeitet habe - auch auf den anderen Politikfeldern -, Dr. Peter Struck. Vielen Dank. Ich bitte um Annahme des Pakets. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich darf zunächst einmal im Anschluss an die Worte von Herrn Kollegen Kröning dieses Lob zurückgeben. Es hat Spaß gemacht, in den beiden Föderalismuskommissionen mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Das war eine gute Zeit hier im Parlament und war eine gute Arbeit für den Deutschen Bundestag und das Land insgesamt. ({0}) Wenn man in diesen Tage einerseits auf der Zielgeraden zur Schuldenbremse im Rahmen der Föderalismusreform steht und andererseits sieht, dass wir durch die Finanzmarktkrise gezwungen sind, eine Rekordneuverschuldung zu akzeptieren, dann kann einem schon einmal ein Satz von Mark Twain nachdenklich machen: Als sie das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten sie ihre Anstrengungen. Im Unterschied zu Twains Romanhelden Huckleberry Finn, der aussichtslos einem Mississippi-Dampfer hinterherpaddelte, haben aber wir ein klares Ziel vor Augen, und wir werden mit der Föderalismusreform gleich hofDr. Günter Krings fentlich auch einen klaren Kurs abstecken, auf dem wir dieses Ziel - runter mit der Neuverschuldung, Neuverschuldung möglichst bei null - erreichen können. Dies ist deshalb wichtig, weil sich die Politik auch in der Demokratie immer einem Dilemma ausgesetzt sieht. Schulden sind heute immer ein relativ bequemer Ausweg, um möglichst vielen Interessen Rechnung tragen zu können. Diejenigen, die durch Schulden belastet werden können - eben künftige Generationen -, haben heute im politischen Prozess noch gar keine Stimme, egal wie tief man das Wahlalter ansetzt. Diejenigen, die Opfer dieser Schuldenpolitik sein werden, sind heute noch gar nicht geboren. ({1}) Aus dem Grunde ist im Verfassungsstaat die einzige Möglichkeit, dieses Dilemma wenigstens ein Stück weit aufzulösen, eine verfassungsrechtliche Selbstbeschränkung. Genau das versuchen wir mit dieser Föderalismuskommission: eine Selbstbindung von Regierung und Parlament, eine Selbstbindung von Bund und Ländern. Die Schuldenbremse - darauf haben die Redner der FDP gerade hingewiesen - mag nicht perfekt sein. Sie ist aber ein realistischer und konsequenter Ansatz, der deutlich über das hinausgeht und besser ist als das, was vor knapp 40 Jahren im Deutschen Bundestag beschlossen worden ist. Wir gehen ab von dem Prinzip, so viele Schulden machen zu dürfen, wie wir investieren, weil es nicht funktioniert hat. Die bestehende Schuldenregelung im Grundgesetz hat fast 40 Jahre Zeit gehabt, eindrucksvoll ihre Untauglichkeit zu beweisen. Wir haben jetzt die Wahl, das einfach weiter hinzunehmen oder zumindest einen wichtigen Schritt in Richtung weniger Neuverschuldung zu machen. ({2}) Das ist deutlich besser als gar nichts. Mir ist ein halbes Brot allemal lieber, als gar kein Brot zu bekommen. ({3}) Jetzt ist also die Zeit für einen neuen Anfang. Ich finde es gut, Herr Kuhn, dass wir uns im Grundsatz auch mit den Grünen einig sind. Aber in den sieben Jahren Rot-Grün habe ich Ihr Engagement für weniger Schulden vermissen müssen. Wer sieben Jahre Zeit hatte, etwas zu tun, aber nichts getan hat, sodass in jedem Haushalt eine deutliche Neuverschuldung notwendig wurde - ohne eine Finanzmarktkrise -, der sollte zumindest die Chance ergreifen, dass diese Selbstbeschränkung eine Besserung herbeiführt. ({4}) Ich will noch auf einige Kritikpunkte eingehen. Ein wesentlicher Kritikpunkt, der auch von einigen Ländern vorgetragen wurde, war, wir würden ungebührlich in die Haushaltsautonomie der Länder eingreifen. Dieser Kritikpunkt relativiert sich schon ein ganzes Stück, wenn man einen Blick in den jetzigen Text der Finanzverfassung wirft. Dieser Text beinhaltet ebenfalls eine Reihe von Einschränkungen für die Länder. Darauf gehe ich gleich ein. Insgesamt gebietet es der solidarische Verbund zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern untereinander auch, dass das Grundgesetz Regelungen vorsieht, die auch die Länder binden. Das Grundgesetz ist voll mit solchen Bindungen für die Länder, angefangen bei den Grundrechten bis zu dem Homogenitätsgebot nach Art. 28 Abs. 1 und speziell dem Sozialstaatsprinzip, das übrigens immense Kostenfolgen für die Länder hat. Es ist für die Länder eben nicht zum Nulltarif zu haben. Wir geben klare Vorgaben, die die Länder einhalten müssen. Das ist auch nicht erstmalig in der neuen Finanzverfassung der Fall. In der geltenden Finanzverfassung gibt es bereits sehr starke Eingriffsmöglichkeiten. Im Falle der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts kann der Bundesgesetzgeber heute schon sogar Kreditobergrenzen für die Länder vorschreiben, ja er kann die Länder sogar verpflichten, Rücklagen bei der Bundesbank zu bilden. Das ist geltendes Verfassungsrecht, das bislang von niemandem in Karlsruhe angegriffen wurde. Auf einen Punkt muss ich in diesem Zusammenhang noch hinweisen. Ich habe mich etwas geärgert, dass die Landtagsvertreter, die in die Föderalismuskommission miteingebunden waren, jetzt - zum großen Teil jedenfalls - kritisieren, dass sie in ihrer Autonomie zum Schuldenmachen eingedämmt werden, aber den Ländern, die eine Steuerautonomie für sich gefordert haben, nicht beigesprungen sind. ({5}) Haushaltsautonomie kann nicht erst dann beginnen, wenn man Schulden machen will; sie muss - wenn ich sie richtig verstehe - umfassend gemeint sein. Das gilt dann für Einnahmen und Ausgaben. ({6}) Ein zweiter Kreditpunkt, der von vielen Stellen in diesem Hause vorgetragen worden ist, betrifft den Text der Verfassungsänderung: Er sei zu lang und zu detailreich. Nach 60 Jahren Grundgesetz mag ein wenig Nostalgie mitschwingen, dass man schaut: Wie war es damals, wie ist es heute? Die Verfassungsänderung heute findet aber unter völlig anderen Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen statt als die Verfassungsgebung vor 60 Jahren. 1949 war Deutschland zwar ökonomisch eine Trümmerwüste, aber juristisch war es eine echte Stunde null. Um mit John Rawls zu sprechen: Es lag ein Schleier des Nichtwissens über dieser Verfassungsgebung. Es war eben nicht klar, welches Land besonders stark und welches besonders schwach herauskommen würde und wie die einzelnen Rollen - auch in ökonomischer Hinsicht - im Bundesstaat verteilt werden würden. Es gab eine gewisse Bereitschaft, ein Wagnis einzugehen. Das ermöglichte damals, nach der Maxime Napoleons zu handeln, der einmal gesagt haben soll: Verfassungen müssen kurz und unklar sein. 2009, 60 Jahre später, sind die Bedingungen vollkommen anders. Nach 60 Jahren Bundesstaatspraxis ist diese konsensfördernde Unkenntnis verschwunden. Jeder weiß genau, wo er steht. Bildlich gesprochen: Bei einer Föderalismusreform sitzt jeder Verhandlungspartner schon mit dem Taschenrechner auf den Knien am Tisch und rechnet auf Punkt und Komma aus, was das für ihn in Euro und Cent bedeutet, was er verliert und was er gewinnen kann. Das macht es schwer bzw. unmöglich, wolkige und allgemeine Formulierungen hineinzuschreiben. Das verlangt nach sehr konkreten und präzisen Regelungen. Das kann man kritisieren, aber das ist die Realität. Wer das nicht erträgt, muss bereit sein, auf Verfassungsänderungen, die notwendig sind und die Lücken schließen, generell zu verzichten. Er würde den Verfassungsstaat zu Untätigkeit und Unveränderbarkeit verurteilen. Genau das wäre sicherlich nicht im Sinne der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes. Es gab auch manchen gut gemeinten Vorschlag im Rahmen der Beratungen im Deutschen Bundestag. Ich gebe gern zu, dass das Ziel vieler Vorschläge eine Verschlankung und vielleicht eine bessere Lesbarkeit der Texte war. Aber diejenigen, die solche Vorschläge unterbreitet haben, haben verkannt, dass selbst scheinbar wenig bedeutende Nebensätze eine klare normative Wirkung bei dieser Reform haben. Ich nenne als Beispiel, das in starkem Maße auch die Kommunen betrifft, Art. 104 b des Grundgesetzes. Hier gab es den Vorschlag, der Bund solle Finanzhilfen für alle außergewöhnlichen Notsituationen auch außerhalb seiner Gesetzgebungskompetenz geben können und nicht nur für diejenigen, die dem staatlichen Einfluss entzogen sind. Das hätte die Tore viel weiter geöffnet, als wir von der Union das wollten. Das, was wir mit der letzten Föderalismusreform geschafft haben, wäre dann in der Tat weitgehend zurückgedreht worden. Wir nehmen nun eine sachgerechte Öffnung vor, gehen aber nicht weiter, als es in der Sache geboten ist. Die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt, dass diese Öffnung richtig ist. Wer hier die reine Lehre vertritt und sagt, gemäß der Trennung von Bund und Ländern und im Sinne eines echten Gestaltungs- oder Wettbewerbsföderalismus müssten die Finanzhilfen ganz zurückgefahren werden, der hätte in der aktuellen Wirtschaftskrise konsequenterweise nur vorschlagen dürfen: Die Länder bekommen befristet Einnahmen aus zwei oder drei Mehrwertsteuerpunkten, und der Bund legt kein Konjunkturprogramm auf. Er hält sich aus allen Maßnahmen heraus und überlässt alles den Ländern. - Einen solchen ernst gemeinten Vorschlag gab es von keiner Seite dieses Hauses. Das ist auch nachvollziehbar. Aus diesem Grund ist die Öffnung, die wir in Art. 104 b des Grundgesetzes vornehmen, richtig und notwendig. Diese Öffnung ist dringend notwendig; denn viele Kommunen in Deutschland sind nach wie vor verunsichert, ob ihre Projekte, die mit Mitteln aus dem Konjunkturpaket II finanziert werden sollen, verfassungskonform sind. Wenn wir aber Stimulanz durch diese Konjunkturpakete wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass das Geld tatsächlich ausgegeben werden kann. Viele Kommunen schauen uns heute zu und warten ab, ob die geplante Verfassungsänderung Realität wird. An die Adresse derjenigen, die diese Verfassungsänderung ablehnen, sich enthalten oder das Ganze im Bundesrat stoppen wollen, sage ich: Es herrscht Zeitdruck. Wer dieses Projekt auch nur für einige Wochen aufhält, verhindert, dass Städte, Gemeinden und Kreise in Deutschland zeitnah dieses Geld ausgeben können. ({7}) Ich finde, die nun zu beschließende Föderalismusreform bietet eine historische Chance für mehr Generationengerechtigkeit. Diese Chance zu verspielen, wäre unklug und leichtfertig, weil wir angesichts der Finanzmarktkrise und der Notwendigkeit neuer Schulden die Verschuldungsschleusen in diesen Tagen ein Stück weit wieder öffnen müssen. Wenn wir aber nicht gleichzeitig einen Schließmechanismus in das Grundgesetz einbauen, dann wird eine ganze politische Generation in Deutschland - so befürchte ich - daran verzweifeln, die Schleusentore wieder zu schließen. Wir müssen beides, Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit auf der einen Seite sowie die Notwendigkeit, in dieser Krise zu reagieren, auf der anderen Seite, miteinander verbinden. ({8}) Wir als Union und die Große Koalition nehmen diese Herausforderung - ich hoffe, möglichst einstimmig - an. Wir handeln verantwortlich, weil wir gerade in der Krise diese Schuldenbremse verabschieden wollen. Ich hoffe, dass möglichst viele Mitglieder aller Fraktionen in diesem Hause dem zustimmen können. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ge- setzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes. Der Rechts- ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13221, den Gesetzentwurf der Fraktio- nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12410 in der Ausschussfassung anzunehmen. Mir liegen per- sönliche Erklärungen zur Abstimmung aus fast allen Fraktionen des Hauses zu diesem Gesetzentwurf vor, die wir nach dem üblichen Verfahren dem Protokoll beifü- gen.1) ({0}) - Darf ich einen Augenblick um Aufmerksamkeit bitten? - Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass zur Annahme dieses Gesetzentwurfs die Mehrheit von zwei 1) Anlagen 2 bis 11 Präsident Dr. Norbert Lammert Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich ist. Das sind mindestens 408 Stimmen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich eröffne die Abstimmung. Gibt es noch einen Kollegen oder eine Kollegin, die ihre Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Da die Begleitgesetze in einem logischen Zusammenhang mit den gerade zur Abstimmung stehenden Grundgesetzänderungen stehen, schlage ich im Einvernehmen mit den Geschäftsführern vor, dass ich bis zur Vorlage des Auszählungsergebnisses dieses Abstimmungsvorganges die Sitzung kurz unterbreche. Das wird voraussichtlich nur wenige Minuten dauern. Deswegen möchte ich Sie bitten, hierzubleiben, weil wir unmittelbar danach über die Begleitgesetze zur Föderalismusreform abstimmen. Die Sitzung ist für diesen kurzen Augenblick unterbrochen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Drucksachen 16/12410 und 16/13221 - bekannt: abgegebene Stimmen 575. Mit Ja haben gestimmt 418, ({0}) mit Nein haben gestimmt 109, enthalten haben sich 48 Kolleginnen und Kollegen. Der Gesetzentwurf hat die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit erreicht und ist damit beschlossen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 575; davon ja: 418 nein: 109 enthalten: 48 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({1}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert ({2}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Cajus Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Dr. Stephan Eisel Anke Eymer ({3}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({4}) Dirk Fischer ({5}) Axel E. Fischer ({6}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser ({7}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke-Witt Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({8}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({9}) Volker Kauder Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Dr. Kristina Köhler ({10}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({11}) Andreas G. Lämmel Helmut Lamp Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Patricia Lips Dr. Michael Luther Thomas Mahlberg Stephan Mayer ({12}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({13}) Dr. h. c. Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Carsten Müller ({14}) Stefan Müller ({15}) Dr. Gerd Müller Bernd Neumann ({16}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Präsident Dr. Norbert Lammert Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({17}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Albert Rupprecht ({18}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({19}) Hermann-Josef Scharf Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({20}) Andreas Schmidt ({21}) Ingo Schmitt ({22}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Marion Seib Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({23}) Lena Strothmann Michael Stübgen Hans Peter Thul Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({24}) Gerald Weiß ({25}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({26}) Elisabeth WinkelmeierBecker Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Dr. Lale Akgün Gregor Amann Dr. h. c. Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr ({27}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({28}) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens Bollen Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({29}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Karl Diller Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Peter Friedrich Sigmar Gabriel Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Angelika Graf ({30}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach ({31}) Nina Hauer Hubertus Heil Dr. Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Petra Hinz ({32}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({33}) Frank Hofmann ({34}) Dr. Eva Högl Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({35}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Christian Kleiminger Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({36}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Markus Meckel Petra Merkel ({37}) Ulrike Merten Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({38}) Michael Müller ({39}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Steffen Reiche ({40}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({41}) Michael Roth ({42}) Marlene Rupprecht ({43}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({44}) Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Otto Schily Ulla Schmidt ({45}) Silvia Schmidt ({46}) Renate Schmidt ({47}) Heinz Schmitt ({48}) Carsten Schneider ({49}) Olaf Scholz Reinhard Schultz ({50}) Ewald Schurer Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dieter Steinecke Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Joachim Stünker Jörg Tauss Jella Teuchner Jörn Thießen Franz Thönnes Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Präsident Dr. Norbert Lammert Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({51}) Hildegard Wester Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Heidi Wright Uta Zapf Brigitte Zypries FDP Florian Toncar fraktionsloser Abgeordneter Henry Nitzsche Nein CDU/CSU SPD Niels Annen Klaus Barthel Marco Bülow Renate Gradistanac Wolfgang Gunkel Helga Lopez Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Mechthild Rawert Sönke Rix René Röspel Ortwin Runde Swen Schulz ({52}) Frank Schwabe Andreas Steppuhn Dr. Rainer Tabillion Rüdiger Veit Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({53}) FDP Uwe Barth Dr. Werner Hoyer Dr. h. c. Jürgen Koppelin DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Diana Golze Dr. Gregor Gysi Heike Hänsel Lutz Heilmann Cornelia Hirsch Inge Höger Dr. Barbara Höll Dr. Hakki Keskin Katja Kipping Monika Knoche Katrin Kunert Oskar Lafontaine Ulla Lötzer Ulrich Maurer Dorothée Menzner Dr. Norman Paech Bodo Ramelow Elke Reinke Paul Schäfer ({54}) Volker Schneider ({55}) Dr. Herbert Schui Dr. Petra Sitte Frank Spieth Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Cornelia Behm Birgitt Bender Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz ({56}) Dr. Anton Hofreiter Thilo Hoppe Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Undine Kurth ({57}) Markus Kurth Monika Lazar Anna Lührmann Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller ({58}) Brigitte Pothmer Krista Sager Manuel Sarrazin Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Gerhard Schick Grietje Staffelt Rainder Steenblock Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Josef Philip Winkler Enthalten FDP Jens Ackermann Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({59}) Angelika Brunkhorst Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({60}) Dr. Edmund Peter Geisen Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({61}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Elke Hoff Birgit Homburger Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Markus Löning Dr. Erwin Lotter Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel ({62}) Detlef Parr Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({63}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({64}) Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschlie- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache 16/13232? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ent- schließungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion Die Linke auf der Drucksache 16/13231? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Ent- schließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13230? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Ent- schließungsantrag ist abgelehnt. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 36 b. Es geht um die Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform. Der Rechtsauschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13222, den Gesetzentwurf der Frak- tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12400 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- Präsident Dr. Norbert Lammert stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da- gegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich darf diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitten, sich zu erhe- ben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist auch dieser Gesetzentwurf mit der notwendigen Mehrheit angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a und 37 b so- wie die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf: 37 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck ({65}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundrecht auf Datenschutz im öffentlichen und privaten Bereich stärken - Drucksache 16/13170 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({66}) Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Renate Künast, Silke Stokar von Neuforn, Jerzy Montag, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({67}) - Drucksache 16/9607 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({68}) - Drucksache 16/13218 - Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp Gisela Piltz Silke Stokar von Neuforn ZP 7 a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes - Drucksachen 16/10529, 16/10581 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes - Drucksache 16/31 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({69}) - Drucksache 16/13219 - Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp Gisela Piltz Silke Stokar von Neuforn b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({70}) zu dem Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Bärbel Höhn, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr Datenschutz beim so genannten Scoring - Drucksachen 16/683, 16/13219 Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp Gisela Piltz Silke Stokar von Neuforn Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über den von den Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes, aber auch über einen von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum sogenannten Scoring. Datenschutz ist zum zentralen Anliegen unserer Gesellschaft geworden, einer Gesellschaft im Informationszeitalter. In einer Zeit, die von einer Automatisierung der Datenverarbeitung geprägt ist und in der uns das Internet mit Daten aller Art zuschüttet, erleben wir eine Datenflut. Das muss natürlich zur Folge haben, dass der Schutz der Daten im Rahmen dieser Datenflut neu organisiert wird. Wir als Koalition haben uns dem Thema Datenschutz gestellt und uns monatelang in Verhandlungen zwischen SPD und Union sowie mit den betroffenen Verbänden und den Datenschützern mit diesem Thema befasst. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem beachtenswerten Urteil aus dem Jahre 1983, wie Sie wissen, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sozusagen eingeführt. Eine weitere wichtige Entscheidung im Bereich Datenschutz ist im Februar vergangenen Jahres zur Onlinedurchsuchung ergangen. Hier wurde das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität bei Nutzung informationstechnischer Systeme begründet - ein weiterer Baustein für eiDr. Hans-Peter Uhl nen effizienten Datenschutz. Wer diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes jetzt in Grundgesetzartikeln normieren will, macht etwas, was nicht zwingend nötig ist; denn es handelt sich bereits um materiell geltendes Verfassungsrecht, wie Juristen schon im ersten Semester in Staatsrechtsvorlesungen lernen. ({0}) - Sinnvoll kann es dann sein, wenn man sich mit den einfachgesetzlichen Fragen befasst. Das will ich hier heute tun. ({1}) Es ist zunächst einmal eine Verlagerung des Problems festzustellen. Es geht nicht mehr in erster Linie um die Festlegung von Abwehrrechten des Bürgers gegenüber dem Staat. In diesem Bereich liegen erkennbar nicht die Hauptprobleme, die zu regeln sind. ({2}) Es geht nämlich nicht um den öffentlichen Bereich, sondern um den privaten Sektor, also den Datenschutz in diesem Bereich. Der Staat - das hat, wie ich meine, die Diskussion zur Onlinedurchsuchung durchaus auch ergeben - muss verantwortungsbewusst mit den Daten, die er sammelt, umgehen, und der Bürger muss vor einer unverhältnismäßigen Datensammelwut des Staates geschützt werden. Der Staat - all das haben wir über eine Vielzahl von Sicherheitselementen in das Gesetz zur Onlinedurchsuchung eingebaut - kann nicht willkürlich im Wege der Onlinedurchsuchung Daten erheben und auf die Festplatten der Bürger zugreifen. Wir haben einen Richtervorbehalt eingebaut; all das geht also nur, wenn ein Richter zustimmt. Wir haben entsprechende Befugnisse nur dem Präsidenten gegeben und nicht einfachen, kleinen Mitarbeitern. Wir haben die Verwertung geregelt, also wie mit erkennbar privaten Daten, auf die man dabei stößt, umzugehen ist. All dies haben wir in einem sehr komplizierten Gesetzeswerk minutiös geregelt. Das Verhältnis zwischen Bürger und Staat im Umgang mit entsprechenden Daten und der Schutz dieser Daten sind also sehr sensibel geregelt worden. Die Datenskandale, die uns im vergangenen Jahr und auch schon in diesem Jahr bewegten - es wird wahrscheinlich in den kommenden Monaten noch weitere geben -, waren völlig anderer Natur. Mit diesen Skandalen verbindet man die Namen Lidl, Telekom, Post und Deutsche Bahn, um nur einige zu nennen. Die Liste mit den Namen von privaten oder privatisierten Firmen, die im Umgang mit den schützenswerten, intimen Daten ihrer Mitarbeiter bzw. von deren Angehörigen jede Sensibilität vermissen lassen, wird sich - davon bin ich zutiefst überzeugt - fortsetzen. Das ist der Punkt, um den es geht: Wie können wir verhindern, dass im privaten Sektor Ausspähung durch den Arbeitgeber erfolgt? Wir führen in der Koalition seit langem Gespräche darüber, ob wir das noch in dieser Legislaturperiode leisten können. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen: Wir sollten diesem Thema Aufmerksamkeit schenken und werden in einem neu geschaffenen § 32 BDSG die für den Arbeitnehmerdatenschutz geltenden Rechtsgrundlagen, ohne sie zu verändern, noch einmal aufzeigen, wissend, dass wir in der nächsten Legislaturperiode, wer auch immer dann die Mehrheit haben wird, das Thema Arbeitnehmerdatenschutz sehr sorgfältig und grundsätzlich in einem eigenen Gesetz behandeln müssen. ({3}) Ich bitte deswegen, diesen § 32 BDSG, der hoffentlich in der nächsten Sitzungswoche behandelt wird, nicht als abschließende Behandlung dieses Themas, sondern als Einstieg in eine grundsätzliche Diskussion zu verstehen. Was heute schon behandelt werden kann, ist das Scoring. Auf dieses Thema wird meine Kollegin Frau Philipp nachher ausführlich eingehen. Unsere Vorschläge bringen deutliche Verbesserungen für die Betroffenen. Man soll erfahren können, was Auskunfteien über einen an Daten sammeln, wie der Score-Wert für einen berechnet wird und was er bewirken kann. Dadurch wird im Bereich des Scoring Transparenz geschaffen. Deswegen sind wir mit dem Gesetzentwurf, den wir Ihnen heute vorlegen können, sehr zufrieden. Wir, die Unionsfraktion, genauso aber die SPD, haben, auch gemeinsam, in einer Anhörung mit der Wirtschaft, mit Verbraucherschutzverbänden, mit Datenschützern, eine Unzahl von Gesprächen geführt, um Verbesserungen beim privatwirtschaftlichen Datenschutz herbeizuführen. Wir haben es hier mit einem Zielkonflikt zu tun, der uns allen bewusst sein muss: Einerseits gibt es das Recht des Bürgers auf informationelle Selbstbestimmung, andererseits gibt es berechtigte Interessen der gewerblichen Wirtschaft an der Nutzung von bestimmten Daten zu Werbezwekken. Die Wirtschaft muss wirksam werben können. Dazu gehört auch adressierte Werbung, die wir nicht verurteilen, sondern zulassen wollen. Die Frage ist nur: Wie kommt die Wirtschaft an diese Daten, und wie kann sich der Bürger, der solchermaßen beworben wird, dagegen wehren? Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass intime Verbraucherdaten gesammelt und zur Bildung eines Profils genutzt werden, um auf diese Weise den Bürger gezielt zu bewerben. Der Bürger muss sich gegen solche Werbung wehren können. Er muss das letzte Wort haben, wenn es darum geht, seine persönlichen Daten zu nutzen, um ihn gezielt zu bewerben; denn er hat das Recht, über die Verwendung seiner Daten zu bestimmen. Deswegen sind wir dabei, eine Wende einzuleiten: dass künftig der Grundsatz gilt, dass die Weitergabe und die Nutzung von Daten zu Zwecken des Adresshandels und zu Werbezwecken nur nach Einwilligung des Betroffenen - eine solche Regelung wird heutzutage Opt-inRegelung genannt - erfolgen darf. Wer meint, all dies könne man durch Artikel im Grundgesetz lösen, der irrt - oder er macht Symbolpolitik. Diese Themen sind kompliziert. Wenn Sie unsere Entwürfe in den Händen halten, werden Sie sehen, wie detailliert und ausgewogen wir diesen Zielkonflikt lösen. Die Einführung eines neuen Grundgesetzartikels als Lösung darzustellen, macht überhaupt keinen Sinn. Ich habe bereits gesagt: Materiell-rechtlich, verfassungsrechtlich sind die Probleme durch das Bundesverfassungsgericht mit seinen beiden Grundsatzurteilen bereits gelöst. Da besteht kein Handlungsbedarf. Jetzt geht es darum, detailliert und mit einfachgesetzlichen Regelungen diesen Zielkonflikt vernünftig auszutragen: einerseits der Wirtschaft das Werben möglich machen, andererseits dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden, wann seine Daten benutzt werden, ob und von wem er beworben werden will. Das ist die sehr komplizierte Aufgabenstellung, mit der wir uns auch noch in diesen Stunden - das gebe ich gerne zu - beschäftigen. Wir verhandeln auch heute noch darüber, wie wir zu einem guten Datenschutzgesetz kommen können. Herr Bürsch, der in der nächsten Legislaturperiode, wenn ich das richtig sehe, nicht mehr dabei sein wird, ist guter Hoffnung, dass er dieses Kind noch auf die Welt bringen wird. ({4}) Ich meine, wir sollten hier alle an einem Strang ziehen und vernünftige Regelungen erarbeiten: zum Wohle der Betroffenen und des Datenschutzes, aber ohne die Wirtschaft mit ihren legitimen Interessen außer Acht zu lassen. Wer die Diskussionen über Opel, Karstadt und andere in größte Not geratene Firmen verfolgt, der kann nicht zur gleichen Zeit sagen: Die Wirtschaft darf nicht mehr wirksam werben. - Das passt nun weiß Gott nicht in die Landschaft. ({5}) Wer sich mit dem Thema einmal näher befasst, der weiß, was daran für eine Industrie hängt. Damit sind Umsätze in Milliardenhöhe und sehr viele Arbeitsplätze verbunden. Deswegen hat es gar keinen Sinn, diese Form der Werbung zu verteufeln. Wir müssen einen vernünftigen Mittelweg finden. Das werden wir tun. Gehen wir es an! Wir müssen uns um einfachgesetzliche Regelungen bemühen, statt plakativ die Einführung irgendwelcher Grundgesetzartikel zu fordern, die die Welt nicht verändern werden und können; denn diese Rechtsgedanken sind durch höchstrichterliche Rechtsprechung bereits normiert. Um diesen Punkt geht es uns heute. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch ein Versehen ist eine falsche Reihenfolge bei der Rednerliste entstanden. ({0}) - Nein. Dies ist ein Antrag der Fraktion der Grünen, die damit eigentlich das Recht haben, die Debatte zu eröffnen. Deswegen erteile ich jetzt als zweiter Rednerin der Kollegin Stokar das Wort. ({1})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Uhl hatte hier sichtlich Probleme, seine lange Redezeit mit irgendwelchen Inhalten zu füllen. ({0}) Wir haben jetzt erfahren, dass sich die Große Koalition beim Thema Datenschutz in einem Zielkonflikt befindet. Es wäre allerdings Ihre Aufgabe, diesen Zielkonflikt zu lösen und hier tatsächlich Inhalte, über die Sie dann reden könnten, vorzulegen. ({1}) Wir haben jetzt 60 Jahre Grundgesetz gebührend gefeiert. Es ist an der Zeit, sich wieder verstärkt der Verfassungswirklichkeit zu widmen. Diese sieht eher traurig aus. Eindrucksvoll hat der Grundrechte-Report 2009 dokumentiert, in welcher Gefahr sich die Bürgerrechte in unserem Land befinden. Im Zusammenhang mit dem Datenschutz wird im Grundrechte-Report von einem „toten Grundrecht“ gesprochen. Lassen Sie uns dieses Grundrecht gemeinsam wiederbeleben! Richtig ist: Sowohl der Staat als auch Private haben in der Vergangenheit das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gröblich missachtet. Die Datenschutzverstöße gehen munter weiter. So werden - das ist nur ein Beispiel - hochsensible personenbezogene Daten des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration, des GASIM, zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten munter hin- und hergeschoben, ohne dass es dafür eine hinreichende Rechtsgrundlage gibt. Es ist ganz gleich, ob beim Staat oder in der Privatwirtschaft: Da, wo hingeschaut und kontrolliert wird, finden wir Datenschutzverstöße und Datenschutzskandale. Auch die mangelnde Kontrolle und die fehlenden harten Sanktionen haben dazu geführt, dass das Grundrecht auf Datenschutz unter die Räder gekommen ist. Es ist nun einmal so: Da, wo Regeln außer Kraft gesetzt werden, herrscht die blanke Anarchie. Wir müssen uns heute damit auseinandersetzen, dass sich die Sicherheitszentralen der großen Konzerne offensichtlich vom Rechtsstaat und von der Bindung an die Verfassung abSilke Stokar von Neuforn gekoppelt haben. Ganz gleich, ob Lidl, Telekom, Deutsche Bahn oder der große Autokonzern Daimler - diese Aufzählung ist keineswegs vollständig -: Die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wurden völlig ignoriert. Im vermeintlichen Interesse der Konzernsicherheit wurden ganze Belegschaften heimlich gescreent. Die Kommunikation von Aufsichtsräten, Gewerkschaftern und Journalisten wurde ausgeforscht. Es wurden Krankheitsdossiers angelegt. Die Videoüberwachung am Arbeitsplatz ging bis in den intimsten Privatbereich. Ich begrüße es durchaus, dass diese groben Verstöße gegen den Datenschutz in unserer Gesellschaft nicht mehr klaglos hingenommen werden. Es ist richtig, dass diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die diese ungeheuren Überwachungs- und Bespitzelungsskandale zugelassen haben. Ich finde es richtig, dass sie ihre Vorstandsjobs verlieren und sich heute vor Gericht verantworten müssen. ({2}) Erschüttert und erschreckt hat mich das fehlende Unrechtsbewusstsein. Dass wir Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit haben, das wissen heute die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Wir wollen, dass Datenschutz gleichermaßen als unveräußerliches Grundrecht in die Köpfe der Bevölkerung eingeht. Wir halten es für richtig, den Datenschutz als eigenständiges Grundrecht in die Verfassung aufzunehmen. ({3}) Für mich gilt der Grundsatz: Ein einfacher Blick in die Verfassung muss ausreichen, damit Grundrechte für jedermann klar definiert erkennbar sind. Ich möchte den Bürgerinnen und Bürgern nicht zumuten, Urteile des Bundesverfassungsgerichts hervorholen und eine Ableitung aus den Grundrechtsartikeln 1 und 2, die die Persönlichkeitsrechte definieren, herstellen zu müssen. Die Argumentation, in den Art. 1 und 2 sei alles ablesbar, ließe auch den Schluss zu, auf die restlichen Grundrechte in unserer Verfassung verzichten zu können. Aber niemand kommt auf die Idee, zu sagen, dass eines dieser Grundrechte überflüssig ist oder nicht in die Verfassung gehört. Im 21. Jahrhundert, im Jahrhundert der Informationsgesellschaft, gehört der Datenschutz als eigenständiges Grundrecht in unsere Verfassung. ({4}) Unsere Verfassung ist nichts Totes. Unsere Verfassung ist etwas Lebendiges. Der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer bezeichnet das Grundgesetz gern als eine Baustelle. Er nannte im Zusammenhang mit der Vorstellung des Grundrechte-Reports 2009 das Grundgesetz ein Gesetz, das nahe am Leben ist, das auf den sozialen Wandel reagiert, das beweglich und lernfähig ist. Im Bereich des Datenschutzes müssen wir auf den rasanten Technologiewandel reagieren. Im Bereich des Datenschutzes haben wir eine Veränderung, die sich eben nicht in unserer Verfassung widerspiegelt. Deswegen sagen wir: Datenschutz gehört in die Verfassung. ({5}) Wir waren durchaus bereit, über einzelne Formulierungen unseres Gesetzentwurfes zu diskutieren. Aber von Ihrer Seite kam nur die Ablehnung. In einem einzigen Punkt dieser groß angelegten Datenschutzdebatte können Sie von der Großen Koalition sich heute loben: Die Koalitionsvereinbarung haben Sie voll umgesetzt. Darin steht nämlich zum Thema Datenschutz nichts. Zum Thema Datenschutz haben Sie bis heute nichts Vernünftiges vollbracht. Für mich ist es ein trauriges Kapitel der Parlamentsgeschichte, dass es die Abgeordneten der CDU, der CSU und der SPD sind, die seit Monaten jeden Fortschritt beim Thema Datenschutz blockieren. Bundesinnenminister Schäuble hat bereits im Herbst des letzten Jahres einen Gesetzentwurf vorgelegt, der durchaus bemerkenswerte Verbesserungen enthielt. Im Dezember des letzten Jahres ging dieser Gesetzentwurf einstimmig durch das Kabinett. Dann kam in der ersten Lesung des Bundestages der Totalverriss durch die Abgeordneten der CDU, begleitet von massiven Bedenken aus den Reihen der SPD. Ich habe dies früher anders erlebt: Der Innenminister hat blockiert, und das Parlament war bemüht, Datenschutz zu stärken. Bei Ihnen in der Großen Koalition ist es umgekehrt. ({6}) Das halte ich für einen Skandal und für peinlich. ({7}) Bundesinnenminister Schäuble verkündete nach dem Datenschutzgipfel im vergangenen Herbst großspurig das Ende des Listenprivilegs, Horst Seehofer wollte dem Adresshandel ein Ende setzen, und Bundeskanzlerin Merkel versprach noch auf dem Verbrauchertag am 12. Mai, Adressdaten dürften nur noch mit der Einwilligung der Betroffenen weitergegeben werden. Alles Schall und Rauch, Ankündigungen, die nicht umgesetzt werden. Ich kann nur sagen: Über allen Gipfeln ist Ruh’. Seit Monaten warten wir auf die Abschaffung des Listenprivilegs und die Einführung einer klaren Opt-in-Regelung für die Weitergabe von persönlichen Daten. Aber SPD und CDU waren schon immer die Datenschutzmuffel. Ich erinnere mich noch gut an die Zeiten, als Datenschutz hier als Täterschutz diffamiert wurde. So tragen Sie eine Mitverantwortung für die Datenschutzskandale, mit denen wir uns in den letzten Monaten auseinanderzusetzen hatten. ({8}) Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die SPD sich in den Jahren der rot-grünen Regierungszeit schlicht und ergreifend weigerte, die Koalitionsvereinbarungen zum Datenschutz umzusetzen. Ganz gleich, ob unter Arbeitsminister Müntefering oder jetzt Arbeitsminister Scholz, das Thema Arbeitnehmerdatenschutz fiel einer sozialdemokratischen Arbeitsverweigerung zum Opfer. Sie haben vom verfassungsrechtlich geschützten Streikrecht an der falschen Stelle Gebrauch gemacht. In den vergangenen zehn Jahren wurde trotz vielfacher Parlamentsbeschlüsse jede Forderung nach einem Arbeitnehmer24882 datenschutzgesetz ignoriert und ausgesessen. Eine Presseerklärung von Andrea Nahles vom heutigen Tag ist nichts weiter als eine weitere Ankündigung; sie schafft kein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz. Die realen Chancen, hier etwas zu machen, haben Sie vertan. Auch zu diesem Thema haben wir bereits seit über einem Jahr umfangreiche Vorschläge vorgelegt. ({9}) Das Einzige, was Sie hier heute zur Datenschutzdebatte beitragen können, ist ein Gesetz zum Scoring. Nur bleibt auch in diesem Gesetz der Datenschutz auf der Strecke. In weiten Bereichen hat sich die Lobby der Auskunfteien durchgesetzt. Sie begrenzen das Scoring nicht, sondern dehnen es weiter aus. Scoring macht Sinn, wenn es darum geht, die Bonität im Bereich von Kreditgeschäften zu bewerten. Zu dieser Einschränkung kommt auch der Bundesrat. Sie aber lassen Scoring für alle weiteren Lebensbereiche zu. Ihre Ausweitung des Scoring wird in wenigen Jahren dazu führen, dass wir eine massive soziale Ausgrenzung über Scorewerte haben werden. Sie lassen die Bewertung der Bonität nach Wohnort ausdrücklich zu. Es reicht einfach nicht aus, wenn eine Entscheidung nicht ausschließlich von Geodaten abhängig gemacht werden darf. Dies wird zu einer massiven Verschärfung der sozialen Diskriminierung von Menschen führen, die in sozialen Brennpunkten leben. Sie werden höhere Zinsen für Kredite zahlen müssen, wenn sie überhaupt einen bekommen, sie können vom Versandhandel und vom Internetshopping weitgehend ausgeschlossen werden, und sie bekommen Schwierigkeiten beim Abschluss von Mobilfunkverträgen und Internetanschlüssen. Hiermit stärken Sie die Auskunfteien, die die Bonität von Kunden nicht nach dem tatsächlichen Verhalten, sondern nach der Wohnanschrift bewerten, und Sie schwächen die Schufa, die zumindest bemüht ist, Datenschutzregeln einzuhalten. Bislang verzichtet die Schufa auf die Verwendung von Geodaten. So viel zu Ihrem Argument, es sei nicht praxistauglich. Außerdem stärken Sie diejenigen Auskunfteien, die „Auskunft light“ machen und damit massiv in die soziale Vertragsgestaltung von Menschen eingreifen. ({10}) Wir fordern darüber hinaus die Einrichtung eines Internet-Bürgerportals. Auch das haben Sie im Innenausschuss abgelehnt. Wir haben im Innenausschuss drei konkrete Änderungsanträge vorgelegt. Diese hätten die gröbsten Mängel dieses Gesetzes bereinigt. Dazu gab es aus Ihren Reihen keine Zustimmung. Wir können heute Ihrem Gesetz zum Scoring nicht zustimmen. Für Datenschutzplacebopolitik gibt es von uns keine Unterstützung. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat niemand die Absicht, im Privatleben harmloser Bürger herumzuschnüffeln. Der eine oder andere wird mir nicht glauben, wenn ich Ihnen jetzt sage, von wem das Zitat ist. Es ist von Bundesinnenminister Schäuble und stammt aus dem Tagungsband Terrorismusbekämpfung in Europa - Herausforderungen für die Nachrichtendienste. Es geht weiter: Und jeder, der das behauptet und dem Staat einen Überwachungswahn unterstellt, untergräbt das Vertrauen in unsere rechtsstaatliche Ordnung. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht das Gerede vom Überwachungsstaat, sondern die Sorge vor dem Überwachungsstaat untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat. ({0}) Wer sich nicht mehr sicher sein kann, ob er sich unbeobachtet im Rahmen seiner Freiheitsrechte frei entfalten kann, ist nicht mehr frei, kann nicht mehr auf seine Freiheit vertrauen. Genau das ist es, was das Bundesverfassungsgericht unter mittelbarer Beeinträchtigung der Grundrechte versteht. ({1}) Die Verletzung des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung hat in der laufenden Legislaturperiode ein solches Ausmaß angenommen, dass man sich fragen muss, ob von diesem Grundrecht seitens der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen überhaupt noch Kenntnis genommen wird. Herr Uhl, interessanterweise haben Sie fünf Minuten lang nur über das BKA-Gesetz gesprochen. Nur für diejenigen, die zugeschaut haben: Das ist schon längst verabschiedet; das ist nicht aktuell; das ist nicht das Thema dieses Tages. ({2}) Das BKA-Gesetz, das immer noch kritisch zu sehende BSI-Gesetz - man kann nur hoffen, dass die Notbremse noch gezogen wird - und die Vorratsdatenspeicherung, gegen die die größte Klage läuft, die dieses Land je gesehen hat - von über 30 000 Menschen -, sind nur drei Beispiele von vielen für die schleichende Entwertung der Bürgerrechte, für das, was Sie in diesem Parlament beschlossen haben. ({3}) Soweit es allerdings um die Verbesserung der datenschutzrechtlichen Belange des einzelnen Bürgers geht, agieren Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Großen Koalition, nicht einmal im Schneckentempo. Etablierung eines Einwilligungsvorbehalts bei der Weitergabe von personenbezogenen Daten? Bisher Fehlanzeige. Ich bin einmal gespannt, ob Sie Ihr Spitzenpersonal, Ihren Innenminister und Ihre Kanzlerin, im Regen stehen lassen. Wir werden das sehr interessiert verfolgen. Die Kollegin Stokar hat ja schon viel dazu gesagt. ({4}) Novellierung des Arbeitnehmerdatenschutzes? Auch da Fehlanzeige. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie stellen seit elf Jahren einen Minister, der sich - bei unterschiedlichen Titeln - Minister für Arbeit nennt. Dass es in elf Jahren kein Arbeitsminister in Deutschland geschafft hat, die Datenschutzinteressen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wahrzunehmen und den Schutz durchzusetzen, ist wirklich ein Armutszeugnis für eine Partei, die sich Arbeiterpartei nennt. Das muss ich Ihnen wirklich einmal sagen. ({5}) - Wissen Sie, Sie können sich nicht immer damit rausreden, dass jemand anders das auch nicht gemacht hat. Sie regieren seit elf Jahren. Bekennen Sie sich dazu. Bekennen Sie sich zu Ihren Fehlern, und schieben Sie Ihre Fehler nicht immer auf andere ab. ({6}) In der Sache sind wir von der FDP-Bundestagsfraktion absolut bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Ich weiß, dass Sie das überrascht. Der Datenschutz gehört auch nach unserer Auffassung 60 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, 25 Jahre nach dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts und erst recht mit Blick auf das Urteil Karlsruhes zur Onlinedurchsuchung ins Grundgesetz. Hiermit würde die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch den Verfassungsgesetzgeber anerkannt. ({7}) Der Verfassungsgesetzgeber - also wir - würde zudem auch landespolitischen und europarechtlichen Entwicklungen Rechnung tragen. Herr Uhl, Sie müssen das nicht wissen, aber bereits zehn Länder haben ein Datenschutzgrundrecht explizit in ihre Verfassung aufgenommen. Sie müssen auch nicht wissen, dass das Gleiche für die europäische Grundrechtscharta gilt. So gesehen ist es gar nicht so abwegig, darüber einmal nachzudenken. ({8}) Obgleich wir in der Zielsetzung durchaus beieinander sind, haben wir von der FDP-Fraktion doch erhebliche Zweifel an der rechtlichen Umsetzung Ihres Gesetzentwurfes. Ich will Ihnen auch sagen, warum das so ist. Bereits in der wegweisenden Entscheidung zur Volkszählung im Jahr 1983 führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass „Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig sind“. Die Formulierung in Ihrem Gesetzentwurf wird dieser Vorgabe leider nicht gerecht. ({9}) Ich will Ihnen gar nicht unterstellen, dass Sie die Voraussetzungen für Eingriffe in den Schutzbereich der informationellen Selbstbestimmung absenken wollen. Es könnte mit Ihrer Formulierung aber passieren. Wir von der FDP sind nur dann an Ihrer Seite, wenn klar ist, dass das im Grundgesetz formulierte Grundrecht nicht hinter den Vorgaben des Verfassungsgerichtes zurückbleibt. ({10}) Sonst spielen wir nur denen in die Hände, die immer und immer wieder in die Grundrechte eingreifen, und erreichen eben gerade nicht das, was wir erreichen wollen. Aus unserer Sicht hat Ihr Gesetzentwurf an dieser Stelle leider handwerkliche Fehler. ({11}) - Och, Herr Bürsch! Ich muss jetzt wirklich nicht die Grünen verteidigen. ({12}) Ich könnte als Beispiele für handwerkliche Fehler auch manche Gesetzentwürfe der CDU/CSU nennen. Als Studentin an der Uni habe ich mir das Agieren eines Gesetzgebers anders vorgestellt. ({13}) - Das gilt für Sie also auch. - Damit können Sie sich leider nicht herausreden. ({14}) Wir können dem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustimmen. Vielleicht tut sich ja noch etwas. Dasselbe gilt aus unserer Sicht auch für den quasi in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aufgesetzten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes. Der abenteuerliche Umgang der sogenannten Großen Koalition mit den beiden Datenschutznovellen ist wirklich zu einer Farce geworden. Wie hoch Sie die Bedeutung des Datenschutzes in diesem Haus einschätzen, zeigt sich daran, dass Sie sieben Monate gebraucht haben, um diesen Gesetzentwurf ins Parlament einzubringen. Sie haben nicht einmal einen eigenen Tagesordnungspunkt dafür bekommen, sondern mussten den Tagesordnungspunkt der Grünen quasi hijacken. ({15}) Das wundert einen aber nicht. Wer Tag und Nacht um Kleinigkeiten feilscht, hat für die großen Dinge, nämlich wichtige Gesetze auch im Plenum zu verabschieden, vielleicht keinen Blick mehr. Ich bin sicher, das hört bald auf, und ich hoffe, es wird besser. ({16}) Wir begrüßen es jedenfalls, dass wenigstens dieser Teil jetzt zum Abschluss kommt, auch wenn man nicht sagen kann: Ende gut, alles gut. Diese Änderungen des Bundesdatenschutzgesetzes sind aus unserer Sicht wichtig und richtig. Wichtiger wäre aus unserer Sicht jedoch gewesen, das gesamte Bundesdatenschutzgesetz zu novellieren. Der eine oder andere weiß es vielleicht nicht: Das Bundesdatenschutzgesetz stammt aus dem Jahr 1978. Es ist zum 1. Januar 1978 in Kraft getreten. Zu der Zeit hatte mein Telefon noch eine Wählscheibe, und von den vielfältigen Möglichkeiten mobiler Kommunikation, von Handy oder Laptop hatten wir gar keine Ahnung. ({17}) Wir wussten auch noch nicht, was man alles speichern kann, wie leicht und wie schnell man etwas speichern und wie schnell man Millionen von Daten übertragen kann. Wir Liberale haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, dass Betroffene und Verbraucher bessere Auskunfts- und Informationsrechte gegenüber den Auskunfteien erhalten. Der ursprünglich vorgelegte Gesetzentwurf war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist - sicherlich auch durch den öffentlichen Druck und durch die ganzen Skandale -, noch erhebliche Verbesserungen vorzunehmen. Das muss man konzedieren. Der uns heute vorliegende Gesetzentwurf ist immer noch nicht gut, aber er ist besser als der ursprüngliche Entwurf. ({18}) So ist es nach unserer Auffassung gut, dass die verantwortliche Stelle nunmehr verpflichtet sein soll, den Betroffenen auf Verlangen die wesentlichen Gründe für eine Entscheidung des Vertragspartners mitzuteilen. Ein Fortschritt ist auch, dass künftig die Bedeutung des sogenannten Scorewertes einzelfallbezogen und nachvollziehbar beauskunftet - das heißt wirklich so; es ist ein schreckliches Wort - werden muss und insbesondere das unsägliche Gewichten von Adressdaten nur noch eine untergeordnete Rolle spielen darf. Es ist doch nicht mit sozialer Politik vereinbar, dass ich eine Leistung oder eine Ware nicht bekomme oder nicht Vertragspartner werden kann, nur weil ich eine falsche Adresse habe. Das war bisher Praxis, und das darf einfach nicht sein. ({19}) - Frau Philipp, Sie haben gleich 15 Minuten Redezeit. Dann können Sie ganz viel erzählen, keine Sorge. ({20}) Einige aus unserer Sicht entscheidende Punkte haben indes leider nicht Einzug in den Gesetzentwurf gehalten. Diese möchte ich kurz darstellen. Da ist zum einen die fehlende Begrenzung des Scorings auf Rechtsgeschäfte mit zumindest weitgehend kreditorischen Risiken. Der Anwendungsbereich des Scorings wird auch nach der Verabschiedung der Novelle zu breit gefasst sein. Nach unserer Einschätzung kann das Scoringverfahren jedoch nur dort seine Berechtigung finden, wo bei dem abfragenden Unternehmen besondere finanzielle Ausfallrisiken bestehen. Ich möchte nicht, dass demnächst auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gescort werden. ({21}) Das könnte hier theoretisch der Fall sein. Der Entwurf setzt der derzeit zu vernehmenden Ausweitung des Scoringverfahrens indes nichts entgegen. Das wäre aus unserer Sicht aber dringend notwendig gewesen. Als Zweites möchte ich eine kritische Bemerkung zu Art und Umfang der Informationspflicht der Auskunfteien machen. Im Aufriss des Problems im Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10529 heißt es, dass Verbraucher aufgrund der intransparenten Verfahrensweisen der Auskunfteien die Entscheidungen ihrer potenziellen Geschäftspartner nur schwer oder gar nicht nachvollziehen könnten. Dieser zweifelsohne richtigen Problemanalyse soll eine Stärkung der Informations- und Auskunftsrechte der Betroffenen entgegengesetzt werden. Leider hapert es wie so oft an der Umsetzung dieses Lösungsansatzes. Warum, frage ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Großen Koalition, haben Sie sich bis zum Ende der Beratungen gegen die Einführung einer Pflicht zur Offenlegung der Gewichtung der Daten gesperrt? Das an dieser Stelle gegen ein Mehr an Transparenz oft ins Feld geführte Argument des Schutzes von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen kann dabei nicht überzeugen. Genauso wenig nützt die einseitige Argumentation, es könne zu Manipulationsversuchen durch den Bürger kommen. Es wird völlig übersehen, dass Transparenz immer etwas Positives ist. Sie hätten durchaus auch dem alternativen Vorschlag des Bundesdatenschutzbeauftragten folgen können, der die Beauskunftung von persönlichen Daten in absteigender Reihenfolge ihrer Bedeutung nach vorgeschlagen hat. Der Gesetzentwurf kann also leider keine größere Begeisterung hervorrufen, weder bei uns noch bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Noch viel weniger ist mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes der lange Weg zu mehr Datenschutz zu Ende. Insoweit appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD: Versuchen Sie, eine Einigung auch bei den anderen Gesetzentwürfen zu erzielen! Es ist an der Zeit, dass Sie Ihre Scheingefechte bei der Datenschutznovelle aufgeben und endlich Politik für die Verbraucherinnen und Verbraucher machen. Herzlichen Dank. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal herzlichen Dank an die grüne Fraktion für die Gelegenheit, über das Thema Datenschutz einmal etwas grundsätzlicher zu reden. Das ist in dem vorliegenden Antrag angelegt. Eine Debatte über das Grundrecht Datenschutz bietet, wie ich finde, eine gute Gelegenheit, sich - über den heutigen Tag und einige aktuelle Anlässe hinaus - über den Datenschutz im 21. Jahrhundert im Allgemeinen ein paar Gedanken zu machen. Bevor ich dazu komme, möchte ich zwei kleine Vorbemerkungen machen. Herr Uhl hat darauf hingewiesen, dass die Datenschutznovelle noch in Arbeit ist. Wir nehmen unsere Arbeit so ernst, dass wir auch den heutigen Tag nutzen. Wir streben an, die sogenannte Datenschutznovelle - zu der das Thema Einwilligung statt Widerruf und Ähnliches gehört - in der nächsten Sitzungswoche wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Kollegin Anette Kramme wird zum Arbeitnehmerdatenschutz etwas sagen, der Kollege Zöllmer zum Scoring. ({0}) Zur Kollegin Stokar ein etwas ironisches Wort: Datenschutz fängt, meine ich, bei den Mitgliedern des Bundestages an. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Sollte Datenschutz nicht auch die Geheimhaltung bezüglich der Stimmabgabe bei geheimen Abstimmungen umfassen? ({1}) Das kann man aufgrund Ihrer Einlassung durchaus überlegen. ({2}) Im Übrigen sind Sie ja seit letztem Sonnabend Hospitantin der CDU/CSU-Fraktion. Vielleicht liegt es sogar nahe, Frau Kollegin Stokar, dass Sie sich mit den politischen Ansichten der CDU/CSU-Fraktion ein bisschen befreunden. Dann könnte die nächste Rede, die Sie halten, etwas freundlicher ausfallen. ({3}) Genug der Vorrede. Zum Datenschutz im 21. Jahrhundert möchte ich ein paar Bemerkungen machen und auch ein paar Grundsätze nennen, an denen sich das orientieren sollte, was uns aus meiner Sicht in der nächsten Legislaturperiode beschäftigen sollte. Es ist darauf hingewiesen worden, dass das Datenschutzrecht aus den 70er-Jahren, aus 1978, stammt. Am 13. März 1989 - das ist im Grunde der Beginn des neuen Zeitalters, der digitalen Revolution - legte der Brite Tim Berners-Lee in Genf den Grundstein für das Datennetz. Eigentlich wollte er nur die Zusammenarbeit der Forscher in einem Großforschungsinstitut verbessern, doch heraus kam der sogenannte Hypertext, ({4}) der Informationen auf eine völlig neue Art miteinander vernetzt. Der erste Browser des Amerikaners Marc Andreessen öffnete dann die Tür zum Massenmarkt. Heute nutzen über 1 Milliarde Menschen das Internet. Wofür andere Branchen Jahrzehnte brauchen, vollzieht sich im Internet im Zeitraffer. Umwälzende Techniken wie Breitbandverbindungen oder mobile Geräte wie das iPhone lassen das Leben im Netz pulsieren. Bald werden alle Telefongespräche über das Internet geführt; auch das Fernsehen verlagert sich mehr und mehr ins Netz. Nach den Pionieren sind nun Unternehmen wie Facebook und Twitter die neuen Stars im Web 2.0, das für viele das wahre Internet darstellt. Nun kommunizieren Millionen Menschen über das Netz miteinander. Der große Trend ist zurzeit die Offenheit. Internetunternehmen öffnen ihre Software, Millionen Entwickler entwickeln Zusatzprogramme usw. Was ist mit dem ursprünglichen Erfinder Berners-Lee? ({5}) Berners-Lee ist heute Sir Berners-Lee; er ist mit vielen Orden dekoriert. Er arbeitet an der dritten Generation des Netzes, dem sogenannten semantischen Internet. ({6}) Das zur Beschreibung, wohin sich das Ganze entwickelt hat. Nun sage ich etwas zu dem, was Sie thematisiert haben, nämlich die Frage der Grundrechte beim Datenschutz und die Frage, was wir, wenn wir das ernst nehmen, berücksichtigen müssen. Ich werde am Ende auch etwas zu Ihrem Vorschlag sagen, ähnlich wie die Kollegin Piltz es getan hat. Worauf kommt es beim Datenschutz im 21. Jahrhundert an? Es wird immer wieder gesagt, Datensparsamkeit müsse das oberste Ziel sein, so stehe es auch im Bundesdatenschutzgesetz. Aber, ich fürchte, das wird jedenfalls auf Dauer ein frommer Wunsch. Mit Datenflut werden wir leben müssen. Der Technologietrend, den wir schon jetzt beobachten, ist, dass immer mehr Informationen elektronisch gespeichert und ausgetauscht werden. Das umfasst Zahlen, die wir - wir haben die vier Grundrechenarten gelernt - überhaupt nicht nachempfinden können. Im Jahr 2001 wurden 1015 Bytes und im Jahr 2006 wurden 1018 Bytes bewegt. Für das Jahr 2010 sagen die Experten voraus, dass 1021 Bytes bewegt werden. ({7}) Inzwischen sind so viele Menschen online - es kommen täglich neue hinzu -, dass wir uns, wenn wir Datenschutz ernst nehmen und eine Interessensabwägung vornehmen wollen, darauf einstellen müssen. Wenn wir über Datenschutz im 21. Jahrhundert sprechen, merken wir, dass es einen eklatanten Widerspruch in der Einstellung der Bürger gibt. Einerseits wünschen sich 95 Prozent der Deutschen, dass ihre Daten nur mit ihrer Zustimmung wiedergegeben werden dürfen; das besagt eine Umfrage von Infratest dimap. Andererseits gehen sie sehr freigiebig mit ihren Daten um, wenn sie zum Beispiel in sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ aktiv sind. Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ist klar. Es heißt in dem Verfassungsgerichtsurteil zur Volkszählung: Der Einzelne muss das Recht haben, selbstbestimmt zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. - Aber selbst in diesem Verfassungsgerichtsurteil den Zusatz muss man dazu lesen - heißt es: Das gilt nicht uneingeschränkt. - Das heißt, auch das Verfassungsgericht hat erkannt, dass das, was in § 1 des Bundesdatenschutzgesetzes steht, nicht dem entspricht, was die Grünen in der Kurzfassung daraus machen, nämlich: Jeder Bürger hat das Recht auf seine Daten, und niemand anders soll da reinpfuschen. Das ist so leider nicht durchzuhalten. Datenschutz - darauf will ich hinweisen - ist, glaube ich, kein Selbstzweck mehr. Es wird immer eine Interessensabwägung geben müssen, so wie wir das jetzt bei den Überlegungen zur Datenschutznovelle machen. Wir müssen auf der einen Seite das informationelle Selbstbestimmungsrecht schützen und den Verbraucherschutz berücksichtigen. Auf der anderen Seite gibt es wirtschaftliche Interessen. Was uns vorgetragen wurde, war zum Teil abenteuerlich. Das haben wir auch so gekennzeichnet. Ich war überrascht, mit welcher Frechheit zum Teil der Untergang des Abendlandes an die Wand gemalt wurde, der stattfinden würde, wenn wir den Zugang zu Daten nicht zuließen und nicht die Möglichkeit eines ungehinderten und uneingeschränkten Datenhandels schafften. In den 35 oder 40 Gesprächen, die Herr Uhl für die CDU/CSU und ich für die SPD im letzten halben Jahr geführt haben, sind allerdings auch sehr vernünftige Vorschläge gemacht und Geschäftsmodelle vorgestellt worden, mit denen man sich wirklich beschäftigen muss: vom ADAC, von der Post und von verschiedenen Zeitungen. Wir Abgeordnete sind keine Datenschützer mit Tunnelblick. Wir sind auch nicht nur Verbraucherschützer. Wir müssen vielmehr eine Gesamtabwägung vornehmen. Frau Stokar, das war immer mein Selbstverständnis als Abgeordneter. Allerdings - auch darauf will ich hinweisen - hat die Politik durchaus eine Gewährleistungsverantwortung. Der Schutz der Daten der Bürger gegen Missbrauch ist Sache der Politik und Sache des Staates. Hierfür brauchen wir Schutzmechanismen; das ist mir bei der Beschäftigung mit diesem Thema im letzten halben Jahr immer klarer geworden. Wir brauchen Schutzmechanismen für den Einzelnen, damit er das Selbstbestimmungsrecht besser ausüben kann. ({8}) Wir sollten auch viel mehr als bisher die Techniken der Verschlüsselung berücksichtigen. Die Weitergabe von Daten kann nämlich in vielen Fällen, anders als es bisher der Fall war, in verschlüsselter bzw., wie die Fachleute sagen, in pseudonymisierter Form durchgeführt werden. All die Fluggastdaten, die von uns Europäern an die Amerikaner in offener Form weitergegeben werden - einzelne Passagierdaten werden in genau der Form weitergegeben, in der sie aufgenommen worden sind -, könnte man verschlüsselt weitergeben, sodass die Sicherheit trotz Datenweitergabe gewährleistet ist und die Möglichkeit besteht, potenzielle Straftäter und Terroristen zu entdecken. Die Möglichkeiten, die es in diesem Bereich gibt, werden aber noch nicht ausgeschöpft. Ich werbe dafür, diese Möglichkeiten, die technisch immer weiter entwickelt werden, ins Visier zu nehmen. Dadurch können den Bürgern nämlich technische Möglichkeiten an die Hand gegeben werden, die missbräuchliche Nutzung von Daten selbst zu verhindern. Mein Fazit: Die klassischen Methoden des Datenschutzes wie Datensparsamkeit, Löschung und Nichterhebung im Falle sensibler Daten werden sicherlich nach wie vor ihre Berechtigung behalten. In unserer immer stärker vernetzten Welt reichen sie aber weder aus, noch sind sie die Lösung des Problems; das habe ich versucht darzustellen. Die Ergebnisse von Untersuchungen zu Datenverlusten und Datenmissbrauch - zu solchen Vorfällen ist es im letzten Jahr einige Male gekommen - belegen, dass bis zu 80 Prozent der Verletzungen des Datenschutzes nicht durch externe Hacker, sondern durch das eigene Personal, durch Vertragspartner der Verwaltung und andere Unternehmen begangen werden. Sowohl im Rahmen der prozessübergreifenden als auch im Rahmen der internationalen Vernetzung müssen insofern neue organisationsumfassende Datenschutzmethoden, -prozesse und -technologien eingesetzt werden. ({9}) Frau Stokar, das hat auch mit dem Thema des Antrags der Grünen, der Forderung nach einem Grundrecht auf Datenschutz, zu tun. ({10}) Was bedeutet das im Hinblick auf die zukünftige Gestaltung des Datenschutzes in einem umfassenden Sinne, die übrigens auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme gefordert hat? Ich bin der Meinung, dass wir den Datenschutz in dem geschilderten umfassenden Sinne nicht, wie es im Datenschutzrecht gegenwärtig der Fall ist, allein vom Staat her, aber auch nicht allein von der Wirtschaft her definieren dürfen, sondern dass wir den Datenschutz vom Bürger her definieren sollten. Das ist Sache des Parlaments und, wie ich meine, auch Sache der Sozialdemokratie. Auf die Frage, wie sich das Datenschutzrecht auch mit Blick auf den Grundrechteschutz in den nächsten fünf bis zehn Jahren entwickeln sollte, würde ich fünf Prinzipien nennen, die auch als Antwort auf die technologische Entwicklung verstanden werden können. Das erste Prinzip lautet Transparenz. Das heißt, die Bürger müssen jederzeit erkennen können, wer wann und aus welchem Grund auf ihre personenbezogenen Daten zugegriffen hat. Das zweite Prinzip lautet Beteiligung. Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger haben umfassende und gesicherte Rechte, über die Nutzung ihrer Daten mitzubestimmen, und sie wissen auch, was sie damit tatsächlich tun. Wenn man sich vor Augen hält, welch eine Fülle von Daten in sozialen Netzwerken heutzutage preisgegeben werden, muss man feststellen: Dies ist offensichtlich eine Frage der Aufklärung. Das dritte Prinzip hat mit der informationellen Selbstbestimmung zu tun, allerdings in einer etwas anderen Form als in der, in der sie bis jetzt betrachtet wird. Es geht um informationelle Selbstbestimmung als Selbstdatenschutz. Es gibt ein sehr interessantes Projekt der EU, das sich PRIME nennt. Mit diesem Projekt wird das Ziel verfolgt, die Bürger zu ermächtigen, private Daten selber effektiv zu verwalten und zu schützen. Im Moment wird ein Feldversuch hinsichtlich des zukünftigen, vielleicht in einigen Jahren zu verwendenden, Personalausweises unternommen. Die Bürger werden also in die Lage versetzt, selber darüber zu entscheiden, welche Daten oder Teildaten bzw. Eigenschaften beim Datenverkehr preisgegeben werden. Den Daten, die mit ihrer Person zusammenhängen, wird als Schutzvorrichtung praktisch etwas angehängt, das mit diesen Daten, wo immer sie auftreten, verbunden ist. Jemand Unbefugtes kann diese Schutzvorrichtung nicht einfach beseitigen. Insofern ist der Selbstdatenschutz die Antwort auf die Herausforderungen und die technologischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts. ({11}) Das vierte Prinzip ist, dass wir aus meiner Sicht einen intelligenten Mix brauchen. Wir müssen den Datenschutz so ernst nehmen, dass sich diesem Thema hier nicht nur 20 oder 25 Kollegen mit voller Leidenschaft und großer Zuneigung widmen, sondern dass von den über 600 Abgeordneten irgendwann vielleicht einmal die Hälfte das Thema so ernst nimmt, wie es das verdient. Aus den geschilderten Gründen brauchen wir einerseits eine technologische Entwicklung, die wir unterstützen, indem wir die Möglichkeiten des Selbstdatenschutzes entsprechend fördern, andererseits müssen wir die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass man diesen Selbstdatenschutz betreibt. Das fünfte Prinzip, das ich nennen will, hat mit etwas zu tun, was ich an anderer Stelle einen neuen Gesellschaftsvertrag genannt habe. Ich meine, in der Zeit, in der wir uns im Moment befinden, stehen wir vor enormen Herausforderungen. Das ist nicht nur die Wirtschafts- und Finanzkrise, sondern das sind auch die Themen Bildung, demografische Entwicklung, Gesundheit und Integration. Sie können viele Themen nennen, bei denen der Staat allein die Probleme nicht lösen kann und bei denen wir in intelligenter Weise eine Mitwirkung - keine Übernahme - der Wirtschaft und auch eine zielgerichtete Mitwirkung der Zivilgesellschaft brauchen. Wie gesagt: Sie sollen keine Lückenbüßer für den Staat sein; das muss vielmehr ein intelligenter Mix aus den drei Akteuren werden. Genau das stelle ich mir auch für den Datenschutz vor. Wir müssen sagen: Der Datenschutz mit all den Elementen, die ich genannt habe, ist in Zukunft nicht etwas, das allein der Staat sicherstellen kann. Hinsichtlich der technologischen Entwicklung brauchen wir auch die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft. Zu dem Vorschlag der Grünen sage ich: Ich kann mich mit dem Gedanken anfreunden; aber ich habe die Entwicklung im 21. Jahrhundert deshalb so deutlich vorgetragen, um klarzumachen, dass wir, wenn es ein Grundrecht auf Datenschutz in der Verfassung geben soll, dabei aus meiner Sicht eben auch die technologische Entwicklung und die dazugehörigen rechtlichen Rahmenbedingungen im Auge haben müssen. Unter diesem Gesichtspunkt kann ich mich mit dem Vorschlag anfreunden. Ein bekannter Journalist - der berühmte Heribert Prantl - hat vor einiger Zeit einmal geschrieben, dass der Datenschutz über 20 Jahre lang beschimpft und verächtlich gemacht wurde. Er sagt: Vor allem aber ist die Aktivierung des Gesetzgebers notwendig: Datenschutz ist der Schutz der Menschen in der digitalen Welt. Er ist das zentrale Grundrecht, das Ur-Grundrecht der Informationsgesellschaft. Er schützt nicht abstrakte Daten, sondern konkrete Bürger. Dem schließe ich mich vollinhaltlich an. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Auch wir anerkennen erst einmal, dass es wirklich gut ist, eine gesetzliche Grundlage für das Scoring zu haben. Das muss man hier einfach einmal sagen, wenn man differenziert Politik betreibt. ({0}) Wir kritisieren aber zum einen, dass es keine Beschränkung auf rein kreditrelevante Vorgänge gibt. Zum anderen kritisieren wir - das ist in der Tat ein Problem -, dass das Geoscoring zwar beschränkt - das ist richtig -, aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Grundsätzlich muss ausgeschlossen sein, dass zum Beispiel der Wohnort in einem sozialen Brennpunkt darüber entscheidet, dass man nicht kreditwürdig ist. Das ist in diesem Gesetzentwurf leider nicht vorgesehen. ({1}) Es ist eine gute Debatte heute, in der wir dies thematisieren. Der Datenschutz als Grundrecht ist von einem Randthema nun wirklich zu einem massenkompatiblen Thema geworden. Er bewegt immer mehr Menschen. Besonders erfreulich ist, dass sich immer mehr Menschen organisieren und dagegen protestieren, wie mit dem Datenschutz umgegangen wird. Auf den Antrag der Grünen, den Datenschutz ins Grundgesetz aufzunehmen, werde ich später eingehen. Ich glaube, dass eine solche Frage eher am Ende einer Debatte behandelt werden muss. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund der ganzen Datenschutzskandale der letzten Zeit. Vieles ist auch schon gesagt worden. Festzustellen ist, dass insbesondere die großen Unternehmen in diesem Land Datenschutzskandale von der Ausnahme zur Regel gemacht haben. Ein genauerer Blick zeigt, dass das System hat. Es hat System, um die abhängig Beschäftigten an die Kandare zu nehmen. Ich will vier Beispiele nennen: Erstens Lidl. Man muss sich klarmachen, was dort geschehen ist. Dort wurde mit Videokameras allen Ernstes bis in die Umkleidekabinen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hineingefilmt und alles minutiös dokumentiert. Zweitens die Telekom. Das ist sozusagen der Dauerbrenner. Bei allen Sauereien, die man sich im Datenschutz vorstellen kann, liegt die Telekom gefolgt von der Deutschen Bahn ganz weit vorne. Weil ich nicht alles aufzählen kann, was dort passiert ist, will ich nur ein Beispiel nennen: Sie haben auf einmal 17 Millionen Daten verloren. 17 Millionen Daten verschwinden einfach. Es ist nicht ganz normal, was dort läuft. Drittes Beispiel ist die Deutsche Bahn. 170 000 und damit alle Mitarbeiter ({2}) werden durch eine private Firma ausgespitzelt, die in keiner Weise kontrollierbar ist. Der Hammer bei dem Ganzen ist, dass die Konzernführung während eines Streiks angeordnet hat, die E-Mails der GDL-Gewerkschafter zu überwachen. Man muss sich einmal vorstellen, was das für Zustände sind. Viertens will ich einige weitere Beispiele nennen, die heute schon angesprochen wurden. Dazu gehören Daimler, Airbus, die Drogeriekette Müller und viele andere. Das Ganze hat System, wie man sieht. Es sind keine Ausnahmen. Deswegen haben sich alle Fraktionen im Bundestag - ich bin erst seit dieser Legislaturperiode im Bundestag, weiß aber, dass das selten vorkommt - auf eine gemeinsame Beschlussempfehlung für den Arbeitnehmerdatenschutz verständigt. Das Grundproblem in diesem Hause besteht offensichtlich darin, dass die Bundesregierung trotz der gemeinsamen Beschlussempfehlung nicht handelt. Das muss man sich einmal vorstellen: Von den Linken bis zur CDU/CSU waren sich alle einig. Geschehen ist aber nichts. Das ist kein angemessener Umgang mit diesem wichtigen Thema. ({3}) Deswegen fordern wir, dass noch in dieser Legislaturperiode etwas zu diesem Thema vorgelegt wird. Denn eines muss klar sein - das muss der Deutsche Bundestag deutlich machen, und der Gesetzgeber muss es umsetzen -: Der Datenschutz, die Menschenwürde und die Grundrechte enden nicht am Werkstor und erst recht nicht in den Umkleidekabinen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Supermärkten. Das muss deutlich gemacht werden. Es darf nicht gepennt werden, sondern man muss handeln. Das müsste heute auf der Tagesordnung stehen. ({4}) Ich will auch begründen, warum ich gerade den Arbeitnehmerdatenschutz für wichtig halte. Wir reden in der Krise über alles Mögliche. Entscheidend ist aber, dass der Arbeitnehmerdatenschutz Bestandteil der Mitbestimmung in den Betrieben und Teil einer grundsätzliJan Korte chen Demokratisierung unserer Wirtschaft ist, für die es höchste Eisenbahn ist. Das ist eine grundsätzliche demokratische Frage. Nun will ich einige Anmerkungen zum Staat machen. Einiges ist bereits angesprochen worden wie die Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchungen, immer neue Dateien, Fluggastdatenabkommen mit den USA usw. usf. Selbst eine so üppige Redezeit wie heute reicht nicht, um das alles aufzuführen. Ich glaube, dass der Datenschutz in den letzten vier Jahren eine verheerende Niederlage nach der anderen einkassiert hat, obwohl sich immer mehr Menschen gegen Missbrauch wehren. Eines ist von zentraler Bedeutung: Die ersten Opfer eines nicht vorhandenen Datenschutzes sind die sozial Schwachen in diesem Land, nämlich die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger, die sich vor den Argen nackig machen müssen, und die Migrantinnen und Migranten. Das müssen wir viel stärker in den Fokus der Politik rücken. ({5}) Vielleicht kann ich - denn darauf ist der Antrag durchaus angelegt - noch einige grundsätzliche Überlegungen zum Datenschutz anschließen. Erstens. Wenn das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger immer lückenloser überwacht und registriert wird, dann stirbt das spontane Handeln. Die praktische Folge davon ist, dass immer mehr Menschen anfangen, sich so zu verhalten, wie sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Ich glaube, das ist schlecht für die Demokratie. Denn abweichendes Verhalten, Dissidenten und Anderssein sind Triebkraft einer gesunden Demokratie. Zweitens. Ich glaube, dass ohne Datenschutz Menschen schleichend - nicht über Nacht - ihre Grundrechte nicht mehr so stark wahrnehmen werden wie bisher. Man stellt sich zum Beispiel die Frage, ob es einem schadet, wenn man in einem Betriebsrat mitarbeitet. Was wird dann gespeichert? Wird etwa eine Gewerkschaftsmitgliedschaft an US-Stellen übermittelt? Das Thema stand gestern zu späterer Stunde auf der Tagesordnung; die Reden wurden zu Protokoll gegeben. Drittens. Datenschutz heißt übersetzt: Schutz meiner ganz persönlichen Privatsphäre. Übersetzt bedeutet das den Schutz der eigenen Lebensplanung und Lebensführung sowie die Möglichkeit, sein Leben anders zu gestalten, als es die Normen vielleicht vorgeben. Zusammengefasst bedeutet Datenschutz dementsprechend die Unterstützung und Ermöglichung des aufrechten und selbstbewussten Gangs in einer Gesellschaft. Deswegen ist diese Debatte richtig. Der Soziologe Wolfgang Sofsky hat etwas ganz Kluges geschrieben. Er hat den Datenschutz analysiert und gesagt, dass er so wichtig ist, weil „Menschen nur in einem garantierten Schutzraum ihre intimen Verhältnisse so gestalten, wie sie es wollen, ohne Einmischung durch Sittenwächter, ohne den wachsamen Blick der Nachbarn oder einer Behörde“. Das ist der Kern, um den es beim Datenschutz geht. Aber der Datenschutz wird in diesem Land mit Füßen getreten. Hier brauchen wir eine Umkehr. Deswegen ist die heutige Debatte wichtig. ({6}) Der Kollege Uhl und der Kollege Bürsch haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bürger darüber nachdenken müssen, was sie selber im privaten Bereich tun können, um sich vor Datenmissbrauch zu schützen, und welche Daten sie zum Beispiel in StudiVZ und Facebook preisgeben wollen. Darüber gibt es auch in meinem Freundeskreis heftige Debatten. Ich finde, dass man dort bedeutend vorsichtiger sein sollte und darüber nachdenken muss, was man von sich preisgibt. Es gibt aber einen Unterschied zu dem, was die Bundesregierung und insbesondere Herr Schäuble machen: Man kann zum Beispiel bei Facebook selber entscheiden, was man von sich preisgeben will und was nicht. Vierte Anmerkung. Zum Antrag der Grünen auf Aufnahme des Datenschutzes in das Grundgesetz: Es ist gut, dass wir heute darüber diskutieren. Gleichwohl finde ich die Politik, die darauf abzielt, ständig irgendetwas in das Grundgesetz neu aufzunehmen, fragwürdig. In meiner Fraktion gibt es unterschiedliche Meinungen dazu. Deswegen mache ich heute zum ersten Mal eine Sowohl-als-auch-Aussage. Es spricht einiges dafür. Anderes wiederum kann man kritisch sehen. Es ist aber gut, dass darüber heute umfangreich diskutiert wird. Ich fasse zusammen: Wir brauchen ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz und müssen der Datensammelwut Einhalt gebieten. Danach kann man sich darüber Gedanken machen, ob der Datenschutz in das Grundgesetz aufgenommen werden soll. Man muss sich aber noch über etwas anderes im Klaren sein - das kommt im Antrag der Grünen zu kurz -: Analog zum Abriss des Sozialstaates in diesem Land ist die Datensammelwut exorbitant gewachsen. Wir möchten, dass der Bedeutung dieses Zusammenhangs in der Debatte mehr Beachtung geschenkt wird. Letzte Anmerkung. Es ist richtig beschrieben, dass der Datenschutz ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat und unkontrollierter Wirtschaftsmacht darstellt. Ich möchte aber noch ein Stück weitergehen und sage, dass der Datenschutz ein offensives Bürgerrecht ist, das zur Gestaltung in der sogenannten Informationsgesellschaft genutzt werden kann und immer wieder sozusagen nach vorne verteidigt werden sollte. Ich glaube, dieses offensive Bürgerrecht sollte viel offensiver verteidigt werden. ({7}) Schauen wir uns § 3 a des Bundesdatenschutzgesetzes an, der das Gebot der Datenvermeidung und der Datensparsamkeit zum Inhalt hat. Die Realität ist leider völlig anders. Das ist die Bilanz der Großen Koalition genauso wie der rot-grünen Vorgängerregierung. Wir brauchen eine grundlegende Umkehr. Darüber, ob der Datenschutz in das Grundgesetz aufgenommen werden soll, kann man trefflich streiten. Wichtig ist das reale Er24890 kämpfen von neuen Datenschutzstandards in diesem Land, und zwar hier und auf der Straße. Schönen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Anette Kramme für die SPD-Fraktion.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie fordern eine Änderung des Grundgesetzes. Sie möchten ein Grundrecht auf Datenschutz in das Grund- gesetz aufnehmen. Das ist mit Sicherheit ein sehr beden- kenswerter Antrag, obwohl das Bundesverfassungsge- richt schon vor Jahren das Recht auf informationelle Selbstbestimmung festgelegt hat, hergeleitet aus dem Persönlichkeitsrecht. Trotzdem ist es legitim, zwischen einer Überfrachtung des Grundgesetzes einerseits und neuen Schutzrechten, die möglicherweise aus dem Grundgesetz hervorgehen, und einer Bewusstseinsbil- dung im Zusammenhang mit dem Datenschutz anderer- seits abzuwägen. Dringender als die Verankerung des Datenschutz- rechts im Grundgesetz ist jedoch eine gesetzliche Rege- lung des Arbeitnehmerdatenschutzes; darüber werden wir mit Sicherheit nicht streiten. Wir haben in den letz- ten Wochen und Monaten, im letzten Jahr eine Vielzahl von Skandalen erlebt, die ihrer Art nach einzigartig wa- ren. Es ist etwas eingetreten, womit keiner von uns ge- rechnet hätte; wir hätten nie mit diesem Ausmaß und nie mit dieser Eingriffsintensität gerechnet. Lidl überwachte per Videokamera die Umkleideka- binen; Lidl hat in über 500 Filialen Privatdetektive ein- gesetzt, die die intimsten Details aus dem Leben der Mitarbeiter aufzeichneten. Es ging um Liebeskummer, Scheidungen, Alkoholprobleme, sonstige Krankheiten, arbeitslose Verwandte, Schweißprobleme. Ein großer Schlachtbetrieb schaute sogar auf die Toiletten. Burger King filmte heimlich Betriebsratssitzungen. Die Deutsche Bahn jongliert mit den Personaldaten von Hunderttausenden von Mitarbeitern. Eine Baumarktkette verlangt in ihren Arbeitsverträgen, dass die Mitarbeiter die Ärzte von der ärztlichen Schweigepflicht befreien. Täglich werden neue Skandale aufgedeckt. Der Bundes- beauftragte für den Datenschutz Schaar sagt - die Ein- schätzung ist sicher berechtigt -, dass das nur die Spitze des Eisberges ist. Sie alle kennen die Fiktion von George Orwell „Big Brother is watching You“. Manchmal denkt man in der aktuellen Situation, dass wir zwar nicht die Situation „Big Brother is watching You“ haben, aber die Situation „Big Boss is watching You“. Was wir dringend brauchen, ist also eine Reform des Arbeitnehmerdatenschutzes. Die Rechtsgrundlagen für den Arbeitnehmerdatenschutz sind nicht ausreichend: a) Es gibt keine einheitliche Rechtsgrundlage - Regelun- gen finden sich in mehreren Gesetzen -; b) die vorhan- denen Rechtsgrundlagen sind lückenhaft. Häufig ist ein Rückgriff auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht erfor- derlich. c) Die Rechtsprechung ist unübersichtlich und vor allen Dingen nicht einheitlich. d) Ich denke, das Rechtsstaatsprinzip gebietet auch, dass essenzielle Dinge in einem Gesetz für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nachlesbar sind. ({0}) - Wir sind dabei. Wichtig ist, bei der Gesetzgebung zu berücksichtigen, dass eine Einwilligung keine geeignete Grundlage für Eingriffe in das Arbeitnehmerdatenschutzgesetz sein kann. Ich will das an einem einfachen Beispiel zeigen, nämlich am Beispiel der Einstellungsuntersuchung. Wir wissen, dass laut Verdi bei über 50 Prozent aller Einstellungen Einstellungsuntersuchungen durchgeführt werden. Wird solch eine Einstellungsuntersuchung abgelehnt, dann ist der Arbeitsplatz mit Sicherheit futsch. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vorlegen. Es sind allerdings schwierige Abwägungen zu treffen. Natürlich hat ein Arbeitgeber Interesse an Informationen über Mitarbeiter, deren Leistungsfähigkeit und deren Qualifikation. Natürlich will ein Arbeitgeber auch sein Eigentum schützen und Dritte vor Schäden bewahren, wenn von seinem Betrieb Gefahren ausgehen. Andererseits ist es das legitime Recht von Arbeitnehmern, die Totalüberwachung am Arbeitsplatz auszuschließen, weil das Arbeiten im Betrieb sonst unerträglich ist. In einer sozial verantwortlichen Gesellschaft muss auch derjenige Arbeitnehmer eine Chance haben, der weniger leistungsfähig ist. Auch dieser Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf einen Arbeitsplatz. Letztlich geht es ganz viel um Würde. ({1}) Daraus ergeben sich viele Fragen. Wie viele medizinische Untersuchungen brauchen wir? Obwohl Untersuchungen nur in wenigen Fällen gesetzlich vorgeschrieben sind, finden in der Realität sehr viele medizinische Untersuchungen statt. Dabei ist der Arbeitgeber durch die Probezeit, durch die Regelungen zur personenbedingten Kündigung und letztlich auch durch das Krankengeld geschützt. Wie soll man mit psychologischen Einstellungstests umgehen? Hat der Arbeitgeber wirklich ein Recht darauf, etwas über Wesensmerkmale eines Arbeitnehmers zu erfahren? Wann dürfen Telefonate von Arbeitnehmern aufgezeichnet werden? Rechtfertigt die Leistungskontrolle wirklich derart tiefe Eingriffe in die Rechte der Arbeitnehmer? Jeder von Ihnen hier im Hause nutzt wahrscheinlich regelmäßig die Lufthansa. Sie alle kennen die Ansage auf dem Anrufbeantworter: Zu Zwecken der Qualitätskontrolle hören wir regelmäßig bei Gesprächen mit. Ist Videoüberwachung auch in Pausenräumen und Umkleidekabinen, zum Beispiel wegen schwerwiegender Sicherheitsbedenken, zulässig? Dieser Fragenkatalog kann unendlich verlängert werden. Ich habe mir die Entwürfe, die hier von den verschiedenen Fraktionen als Eckpunktepapiere vorgelegt worden sind, gründlich angeschaut. ({2}) Viele Aspekte sind darin unklar geblieben. Ich denke, wir brauchen ein wenig mehr Abwägung. Wir werden jedoch noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf vorlegen. ({3}) Hans-Günther Sohl, der Ehrenpräsident des BDI, hat gesagt: Was wir brauchen, ist Mut zum Vertrauen. Deshalb, liebe Arbeitgeber, liebe Arbeitgeberinnen, vertrauen Sie Ihren Mitarbeitern, statt sie auf Schritt und Tritt zu überwachen! In diesem Sinne: Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Beatrix Philipp für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kramme, die Beschreibung der Probleme, die gelöst werden müssen, ist korrekt gewesen. Das müssten Sie jetzt nur noch Herrn Scholz sagen. ({0}) Wir agieren seit elf Jahren in diesem Sinne. Ich bitte um Nachsicht; ich gebe Ihnen ja nur einen guten Rat. In der Entschließung, die wir gemeinsam verabschiedet haben - ich bin schon ein bisschen länger als Sie dabei -, ist der Wunsch nach Vorlage eines Arbeitnehmerdatenschutzgesetzes immer enthalten gewesen. ({1}) Ich werde darauf gleich noch einmal zu sprechen kommen. Frau Stokar hat ihre besonderen Erfahrungen mit Anliegen, die in einer Koalition nicht durchgesetzt werden können. Herr Bürsch, ich kann es mir nicht verkneifen, etwas zu Ihrem Einstieg in Ihre Rede zu sagen. Sie haben gesagt - darüber müsste man vielleicht noch einmal reden -, der Datenschutz beginne bei den Abgeordneten. Sie haben sich dann darauf bezogen, dass jemand darüber gesprochen hat, wie er gedacht bzw. abgestimmt hat. ({2}) Jetzt muss ich Ihnen einmal ganz ehrlich sagen: Die Zeiten, in denen man nicht sagen konnte oder durfte, was man dachte oder wie man abgestimmt hat, sind vorbei. ({3}) Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, was ich denke und wie ich abgestimmt habe. ({4}) - Herr Bürsch, manchmal braucht man dazu Bekennermut; das gebe ich zu. Datenschutz wäre da allerdings völlig fehl am Platz; aber das mag meine persönliche Meinung sein. ({5}) Herr Bürsch, natürlich brauchen wir mehr Schutzmechanismen - das ist unbestritten -; aber wir müssen die Menschen nur dann schützen, wenn sie es selbst nicht können. ({6}) Das ist etwas, was meine Fraktion und mich von der SPD immer erheblich unterschieden hat: Wir haben nie behauptet, wir wüssten, wie die Menschen glücklich werden. Deswegen haben wir immer gesagt: Es gibt den mündigen Bürger. Da ist noch ein erheblicher Nachholbedarf. Aber das, was dazu geführt hat, dass wir heute eben nicht über den gesamten Bereich Datenschutz sprechen können - Sie wissen ja, worüber wir im Augenblick reden -, hat auch etwas mit dem jeweiligen Menschenbild zu tun. Da, wo jemand selbst initiativ werden kann und wo es zumutbar ist, da sollte er es auch tun; wir sollten es ihm nicht abnehmen. Frau Piltz, in diesem Punkt sind wir uns völlig einig. Ich finde es schon bemerkenswert - das hat vielleicht mit dem Ende der Legislaturperiode zu tun -, dass meine Fraktion von Ihnen im Hinblick auf unsere Haltung zum Datenschutz gelobt wird. Auch wenn ich weiß, dass unsere Haltung Ihnen eigentlich noch nicht weit genug geht, sage ich für Ihr Lob ausdrücklich: Herzlichen Dank! Wie gesagt, hätten wir heute gern über den gesamten Bereich Datenschutz gesprochen. Dass wir das nun nicht tun, hat im Übrigen auch dazu geführt - das sage ich für die Unkundigen -, dass den Rednern relativ viel Redezeit zur Verfügung steht. Wir haben bis zum letzten Augenblick gedacht: Wir sprechen über Datenschutz insgesamt und auch über die Novelle zum Bundesdatenschutzgesetz. ({7}) - Frau Piltz, Sie wussten Bescheid, weil Sie Mitglied des Innenausschusses sind; aber den anderen ist es vielleicht nicht so ganz klar gewesen. Dass wir die Hoffnung auf eine gemeinsame Lösung immer noch nicht aufgegeben haben, das hat auch Herr Dr. Uhl gesagt. Vielleicht wirkt hier der Heilige Geist am Wochenende ein bisschen. ({8}) Also, ich glaube an eine gemeinsame Lösung. Das unterscheidet mich wesentlich von manchem in der SPD. ({9}) Wenn wir eine gemeinsame Lösung hätten, dann hätten wir den Menschen im Land wieder einmal an einem sehr schwierigen Beispiel zeigen können, dass es in der Großen Koalition - über Fraktionsgrenzen hinweg nicht um Verlierer oder Sieger geht, sondern um einen gemeinsamen, schwer erarbeiteten Erfolg. ({10}) Ein solcher Erfolg hätte uns gut angestanden. Wie gesagt, wir sind noch auf der Suche. Ich wiederhole: Wir hätten einen solchen Erfolg gern vorgewiesen - Herr Bürsch, das wissen auch Sie -; aber irgendjemand hat auf der Zielgeraden noch einmal Sand ins Getriebe gestreut und neue Bedingungen aufgestellt. Deswegen war das nicht möglich. Ich will die Debatte über die Novelle nicht vorwegnehmen - wie Frau Stokar das getan hat -, muss aber sagen: Sie hat die Situation fast richtig beschrieben. Frau Stokar, in meiner Fraktion wird nicht nur genickt, wenn etwas aus dem Kabinett herüberkommt, sondern es wird heftig diskutiert und um Mehrheiten gerungen. Das ist hier explizit der Fall gewesen und ist es eigentlich auch noch. ({11}) Dass die Erfahrungen der Grünen mit Ministern in Koalitionsregierungen offensichtlich völlig andere sind, ({12}) könnte der Grund dafür sein, dass Herr Scholz und vor ihm Herr Müntefering beim Arbeitnehmerdatenschutz nicht zu Potte gekommen sind. Bei dieser Ausgangslage ist das vorliegende Ergebnis zu Scoring und Auskunfteien umso erfreulicher. Wir sollten nicht kleinreden, was gelungen ist. Was heute vorliegt, ist das Ergebnis von mehr als einem Jahr konsequent geführter Verhandlungen in der Koalition. Sie wissen, dass die Missbrauchsfälle der vergangenen Jahre - Herr Korte hat noch einmal darauf hingewiesen - ausschlaggebend dafür gewesen sind, dass man sich diesem Bereich mit besonderer Intensität gewidmet hat. Frau Stokar, es stand nicht im Koalitionsvertrag; das ist schon wahr. Aber auch darüber, ob man sehr viel oder sehr wenig in einen Koalitionsvertrag hineinschreiben sollte, haben wir schon gesprochen. Dazu gibt es zwei unterschiedliche Auffassungen. Wenn man möglichst wenig hineinschreibt, ist der Bereich, in dem man sich noch bewegen kann, größer, als wenn man sehr viel hineinschreibt und am Schluss vielleicht feststellen muss, was man alles nicht geschafft hat. Der vorliegende Gesetzentwurf hat inhaltlich im Wesentlichen zwei Schwerpunkte: Transparenz für die Verbraucher und Rechtssicherheit für die Unternehmen. Dass man diese Aspekte in ein ausgewogenes Verhältnis bringen will, macht die Sache besonders schwierig. Der zweifellos vermehrte Einsatz von Scoringverfahren hat nicht zuletzt mit Veränderungen im Verbraucherverhalten zu tun. Zu konstatieren sind technologische Entwicklungen und die damit verbundene zunehmende Anonymität bei Vertragsabschlüssen. Der gesamte bargeldlose Handel über das Internet ist nur ein Beispiel dafür. Es galt also, Transparenz und Rechtssicherheit, diese unterschiedlichen Interessen der Vertragspartner, in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Ich meine, das ist uns gelungen. Grundlage beim Scoring sind - das sage ich noch einmal für diejenigen, die sich in dieser Materie nicht so auskennen - Daten der zu bewertenden Person, die beim jeweiligen Unternehmen aufgrund bereits bestehender Vertragsbeziehungen vorliegen. Gibt es noch keine Vertragsbeziehung und kann man die Bonität des potenziellen neuen Kunden noch nicht einschätzen, dann werden entsprechende Daten in Form von Scores hinzuerworben. In den Scoringwert gehen viele Variablen ein. Deswegen ist der Hinweis darauf, dass Wohnortdaten bei der Beurteilung der Bonität eines Kunden nicht ausschlaggebend sein dürfen, zu relativieren. Wenn dieses Merkmal ein kleines Merkmal unter 150 oder mehr kleinen Merkmalen ist, sollte das zulässig sein. Das haben uns die Auskunfteien - bis auf eine - sehr ans Herz gelegt. ({13}) Wir waren der Meinung, dass man lieber den vielen folgen soll als der einen, die sagt: Wir brauchen dieses Datum nicht. ({14}) Der Scoringwert ist aufgrund der vielen Variablen, die in ihn einfließen, nicht gleichbleibend; er variiert mit jedem Vertragsabschluss und mit jeder Veränderung, die bekannt wird. Das Verfahren ist auch nicht neu, sondern ein im Wirtschaftsleben seit Jahrzehnten verbreitetes, anerkanntes Verfahren zur Einschätzung zum Beispiel der Bonität eines potenziellen Vertragspartners. Es geht um die Berechnung der Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Vertragsbedingungen erfüllt werden. Es ist also ein Instrument der Risikominimierung. Würde man es nicht anwenden, müssten alle eine sogenannte finanzielle Risikozulage zahlen, zum Beispiel bei Krediten, weil die Gefahr besteht, dass diese nicht zurückgezahlt werden, aber auch bei Abschluss von Verträgen aller Art, etwa bei Abschluss eines Handyvertrages. Wir haben innerhalb der Koalition in vielen Einzelfragen unterschiedliche Standpunkte vertreten, uns aber nach unzähligen Gesprächen - Herr Bürsch hat darauf hingewiesen - auf den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf verständigt. Meine Damen und Herren, eine der Grundvoraussetzungen dafür, auf Scoringverfahren zurückgreifen zu dürfen, wird zukünftig der Nachweis eines wirtschaftlichen Interesses sein. Wir haben uns bewusst gegen den Nachweis bzw. die Beschränkung auf kreditorische Risiken gewandt, um die Interessen von Versicherungen, aber auch von Wohnungsvermietern einzubeziehen. Zur Frage der Verwendbarkeit von Geodaten habe ich eben schon etwas gesagt. Es muss doch eigentlich jedem klar sein, dass die Wirtschaft ein Interesse daran hat, neue Kunden zu gewinnen. Also wird die Ablehnung eines Vertragsabschlusses nur dann erfolgen, wenn es erhebliche Zweifel an der Bonität eines Kunden gibt. ({15}) Es ist also richtig, dass man dieses Mittel den Unternehmen an die Hand gibt. Wie gesagt, handelt es sich bei dem, was vorgelegt worden ist, um einen Kompromiss. Weiterhin dürfen - auch das ist wichtig - keine automatisierten Entscheidungen getroffen werden; das heißt, die endgültige Entscheidung muss von einer natürlichen Person getroffen werden. Das bedeutet, dass weitere Kriterien berücksichtigt werden können. Diesen Grundsatz verstärken wir mit der in § 6 a des Bundesdatenschutzgesetzes verankerten Regelung; sie enthält eine klare Definition. ({16}) Vor allem wollten wir zugunsten der Bürgerinnen und Bürger die Transparenz stärken. Dabei kommt dem Recht auf Auskunft auf der einen Seite und der Auskunftspflicht auf der anderen Seite besondere Bedeutung zu. Die Ergänzung der Auskunftspflicht um Einzelfallbezogenheit und Nachvollziehbarkeit dürfte den Interessen der Verbraucher ein großes Stück entgegenkommen, ohne jedoch - auch das ist wichtig - das Geschäftsgeheimnis der Auskunfteien, die sogenannte Berechnungsformel, durch absurde Offenlegungspflichten zu gefährden. Wir dürfen die Augen davor nicht verschließen. Es hat mich schon gewundert, dass das eben noch einmal kritisch beleuchtet wurde. Man denke daran, dass es in Amerika Score-Doctors gibt - ich habe das dazwischengerufen -, die nichts anderes tun, als mit der dort herrschenden noch größeren Transparenz Missbrauch zu betreiben und Tricks zu verraten, wie Scorewerte manipuliert werden können. ({17}) Das war sicherlich nicht ausschlaggebend für die Krise; aber dass das bei der Entstehung der Krise ganz sicher eine Rolle gespielt hat, bestreitet eigentlich niemand. Hierzu hat es, Frau Piltz, ganz interessante Diskussionsveranstaltungen gegeben. Ich meine, dass man nicht einfach vom Tisch wischen darf, was in Amerika in diesem Bereich geschehen ist. Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass die Menschen die Daten in Erfahrung bringen können, die für sie eine Rolle spielen, und auch die Möglichkeit haben, sie zu korrigieren; aber zugleich haben wir eine klare Grenze gezogen, indem wir gesagt haben: Wie diese Werte gewichtet werden, ist einzig und allein Sache der einzelnen Auskunfteien. Für diejenigen, die sich mit der Sache beschäftigen, ist es ganz klar, dass es nicht für eine Person nur einen ganz bestimmten Scorewert gibt. Wir haben darüber mehrfach gesprochen. So ist natürlich auch nur der Scorewert interessant, den man im konkreten Fall hat, und nicht der durchschnittliche. Es wird sicherlich ein anderer Scorewert als mein durchschnittlicher zugrunde gelegt, wenn ich mich um einen Immobilienkredit für einen Hauskauf bemühe. Dass dieser mich mehr als der durchschnittliche interessiert, ist völlig klar. Aber auch darüber haben wir im Innenausschuss schon ausführlich gesprochen. Es geht also nicht darum, einen „gläsernen Menschen“ zu schaffen, wie immer wieder behauptet wird. Es geht auch nicht darum, jedem eine konstante Größe zuzuweisen, die er dann ein Leben lang mit sich herumträgt, wie einige vermutet haben, sondern es geht um die Anpassung der Rechtsgrundlagen an die veränderten Bedingungen, unter denen heute Verträge geschlossen werden. Irgendjemand hat im Laufe der Gesetzesberatungen einmal gesagt: Im Tante-Emma-Laden wurde ich früher auch gescored, also eingeschätzt, allerdings nicht auf Basis eines statistisch-mathematischen Verfahrens, sondern allein aufgrund der Tatsache, ob dem Inhaber des Ladens meine Nase passte oder nicht. Das Verfahren, das wir jetzt auf den Weg bringen, ist ein statistisch-mathematisches, also ein objektives. Deswegen sollten wir diesem Gesetz und dem darin verankerten Verfahren zustimmen. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion das Wort.

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Philipp, noch vor einem Jahr hätte es viel Mut gebraucht, vorherzusagen, dass Datenschutz in dieser Legislaturperiode noch einmal eine große Rolle spielen wird. ({0}) Eine Reihe von Ereignissen hat dazu geführt, dass wir uns intensiv mit diesem Thema beschäftigen. Das ist gut so. Liebe Frau Philipp, vielleicht gelingt es auch ohne den Heiligen Geist, ein weiteres Gesetz auf den Weg zu bringen. ({1}) Die politische Vernunft allein sollte ausreichen. ({2}) Die Diskussionen um den Datenschutz und ein Teil der aktuellen Novellierungen sind, wie wir gehört haben, noch nicht beendet. Heute steht im Mittelpunkt der Antrag der Grünen, ein Grundrecht auf Datenschutz in das Grundgesetz aufzunehmen, und wir unterhalten uns über die Gesetzgebung zum Scoring. Datenschutz als Grundrecht soll, wie die Grünen in ihrem Antrag formulieren, „die verbindliche Aufforderung an den Gesetzgeber“ sein, „die notwendige Überarbeitung der Datenschutzgesetze endlich anzugehen“. Liebe Frau Stokar, ich muss - bei allem Engagement der Grünen für einen modernen Datenschutz; das konzediere ich Ihnen - schon sagen: Das Grundgesetz ändern und es verwenden zu wollen, um Arbeitsaufträge an die Regierung zu richten, das ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung. Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder und zum Teil hitzig darüber debattiert, ob noch dieses oder jenes in unserer Verfassung verankert werden sollte. Wir haben manches in diesem Bereich spezifiziert und modifiziert. Das war auch richtig so. Wir werden unsere Verfassung sicherlich auch zukünftig sachgerecht weiterentwickeln. Ich bin aber entschieden dagegen, permanent an diesem Erfolgsmodell Verfassung herumzudoktern und für jede gesellschaftliche Entwicklung, auch wenn sie wichtig ist, gleich ein Grundrecht zu verankern. Dies wäre nach meiner Überzeugung ein inflationärer Ruf nach Grundgesetzänderungen. Das von den Grünen geforderte Grundrecht auf Datenschutz käme darüber hinaus einem Placebo gleich. Es braucht doch nicht einer Grundgesetzergänzung, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass das Bundesdatenschutzgesetz und die Datenschutzrechte insgesamt weiterentwickelt werden müssen. Sie sehen, wir arbeiten in dieser Koalition bis zur letzten Sekunde an diesem Thema. ({3}) Richtig ist, dass sich im Bereich Datenschutz viel verändert hat. Wenn wir heute über Datenschutz reden, diskutieren wir nicht nur über ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat, sondern müssen auch den kommerziellen Gebrauch von privaten Daten berücksichtigen. Unsere Diskussion ist geprägt von gravierenden Datenskandalen in großen Unternehmen; die Kollegin Kramme und die anderen Kollegen haben das eben deutlich gemacht. Flächendeckende Überwachung und Ausspähung von Arbeitnehmern ist ein Thema, und es geht um Datenklau im Internet mit der Absicht, ein Profil von Bürgerinnen und Bürgern zu erstellen. Überall im Alltag hinterlässt der moderne Mensch Datenspuren, die Begehrlichkeiten wecken. Längst sind Daten zur Handelsware geworden. Viele Bürgerinnen und Bürger verbreiten ihre Daten aber auch äußerst sorglos. Dies gilt - das ist gesagt worden - für das Web 2.0, aber nicht nur dafür. Es gilt in besonderem Maße für die Abermillionen Kundenkarten, die in Deutschland in Umlauf sind. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen Transparenz. Sie müssen heutzutage in Erfahrung bringen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Nur dann können sie die datenschutzspezifischen Auskunfts-, Löschungs-, Berichtigungs- und Sperrungsansprüche und ihre Widerspruchsrechte tatsächlich in Anspruch nehmen. Dies ist die Zielsetzung, die wir mit den aktuellen Gesetzesnovellierungen verfolgen. So ist es gut, dass wir im Bereich der Bonitätsprüfung durch mathematisch-statistische Verfahren, beim sogenannten Scoring, zu erheblichen Verbesserungen im Bereich des Datenschutzes und damit auch zu mehr Verbraucherschutz kommen. Verbraucherinnen und Verbraucher werden zukünftig die wesentlichen Gründe einer vertraglichen Entscheidung aufgrund der Bonitätsprüfung erhalten. Sie werden ihnen nicht nur genannt, sondern auch erläutert. Damit ist Scoring nicht mehr wie in der Vergangenheit eine Blackbox für den Konsumenten. Zukünftig wird die Bonitätsprüfung transparent und nachvollziehbar sein. Verbraucherinnen und Verbraucher erhalten somit die Möglichkeit, vertragliche Entscheidungen zu verstehen. Sie erhalten die Chance, durch eigenes Verhalten Einfluss auf ihre Bonität und damit auf die Kreditkosten zu nehmen. Dazu brauchen sie keinen Scoringdoktor. Ich glaube, es ist das gute Recht der Verbraucher in unserem Land, dies zu tun. Wir haben in den Gesetzesverhandlungen auch erreicht, dass es eine Nachberichtspflicht für den Fall der nachträglichen Änderungen ganz bestimmter Fakten gibt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Zulässigkeit der Verwendung von Georeferenzdaten wird im Scoringverfahren zukünftig eingeschränkt. Unzulässig werden damit solche Verfahren, die ausschließlich oder fast ausschließlich geodatenbasiert sind. Damit verhindern wir eine Benachteiligung von Verbraucherinnen und Verbraucher, denen ein Vertragsabschluss allein deshalb verweigert wird, weil sie im falschen Stadtteil wohnen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir in Bezug auf das Scoring insgesamt eine Beschränkung auf kreditrelevante Sachverhalte im Gesetzentwurf hätten verankern können. Das war mit unserem Koalitionspartner leider nicht möglich. Ich glaube aber, dass der Gesetzentwurf zum Scoring insgesamt ein gutes Beispiel für die Verbesserung des Datenschutzes in dieser Legislaturperiode ist. Ich hoffe, dass wir das auch in der noch anstehenden weiteren Novelle erreichen. Datenschutz ist auch Verbraucherschutz. Dies muss gesetzlich berücksichtigt werden. Dies wird auch ohne eine Grundgesetzänderung unsere dauernde Aufgabe bleiben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/13170 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei- nes Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 2 a, 5 a, 13 a, 19. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/13218, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9607 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion der Grünen bei Stimmenthaltung der FDP und der Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- tere Beratung. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes. Der Innen- ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/13219, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/10529 und 16/10581 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Stimmenthaltung der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- sache 16/13233. Wer stimmt für diesen Entschließungs- antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP bei Stimmenthaltung der Fraktionen der Linken und der Grünen abgelehnt. Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesra- tes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/13219, den Gesetzent- wurf des Bundesrates auf Drucksache 16/31 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig abgelehnt. Damit entfällt nach un- serer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti- tel „Mehr Datenschutz beim so genannten Scoring“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 16/13219, den Antrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/683 ab- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Stimmenthaltung der FDP angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 38 a und 38 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen, Bernd Schmidbauer, Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Thomas Oppermann, Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 16/12412 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen, Bernd Schmidbauer, Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Thomas Oppermann, Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes - Drucksache 16/12411 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kontrollgremiumgesetzes - Drucksache 16/1163 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({1}), Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver24896 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse besserung der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste sowie eines Informationszugangsrechts - Drucksache 16/12189 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Nešković, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Norman Paech, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Kontrollgremiumgesetzes - Drucksache 16/12374 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 16/13220 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Peter Uhl Michael Hartmann ({3}) Wolfgang Nešković b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Bodo Ramelow, Ulla Jelpke, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überwachung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz beenden - Drucksachen 16/5455, 16/13220 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Peter Uhl Michael Hartmann ({5}) Wolfgang Nešković Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP zur Änderung des Grundgesetzes, über den wir später namentlich abstimmen werden, liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste erfordert zunächst eine Beschäftigung mit den Nachrichtendiensten selbst und ihrer Bedeutung in der heutigen Zeit. Nach dem 11. September 2001 haben wir alle gelernt, dass die Nachrichtendienste für die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit eine eminent wichtige Bedeutung - sie wurde sehr viel wichtiger, als es bis dahin der Fall war - erhalten haben. Deswegen war es richtig, dass wir und andere Nationen gesagt haben: Wir müssen die Nachrichtendienstler mit mehr Ressourcen für Sachmittel und Personal und auch mit mehr rechtlichen Befugnissen ausstatten. Wir haben gewissermaßen ihre gesetzlichen Aufgaben erweitert. Wer das tut, muss sich unverzüglich Gedanken über die Kontrolle solchermaßen ausgeweiteter Zuständigkeiten der Nachrichtendienste machen. Das haben wir getan. ({0}) FDP, SPD und die Union haben sich dies nicht leicht gemacht; denn wir wissen um die fast riskante Vorgehensweise, einerseits die Nachrichtendienste zu schützen, zu stützen und auszubauen und sie andererseits zu kontrollieren. Man kann durch eine unsachgemäße Kontrolle und die Veröffentlichung bestimmter Ergebnisse die Arbeit der Nachrichtendienste nachhaltig stören und dies zum Schaden Deutschlands. Das ist uns immer bewusst gewesen. Das will keiner von uns. Wer die Rechte des zuständigen Gremiums stärkt - das wollen wir -, muss sich den Spielregeln der Dienste, die kontrolliert werden, unterwerfen. Das heißt, das Gremium muss genauso geheim arbeiten wie die Dienste selbst. Die Dienste arbeiten geheim und müssen dies auch immer tun können. Das birgt natürlich insoweit eine Gefahr in sich, als eine Ermittlungstätigkeit zu erheblichen Grundrechtseinschränkungen führen kann. Deswegen ist es so wichtig, diese Tätigkeit zu kontrollieren. Sie erinnern sich an folgenden Fall: Nachdem bekannt wurde, dass eine Spiegel-Redakteurin in ihrem E-Mail-Verkehr mit einem afghanischen Minister in einer Art und Weise abgehört wurde, die man nicht billigen kann, haben wir erfahren, dass dies dem Präsidenten des Dienstes zum richtigen Zeitpunkt nicht bekannt war, sondern erst später bekannt wurde, weswegen er im Kanzleramt keine Meldung erstatten konnte und uns das Kanzleramt auch nicht unterrichten konnte. ({1}) - Nein, Herr Oppermann, keine Sorge. Ich kapriziere mich nicht auf die Person, deren Schutz Sie im Auge haben, sondern mir geht es um die Sache, nämlich die Kontrolle dieses Dienstes. ({2}) Lassen Sie mich Folgendes herausarbeiten: Es geht uns darum, dass dieses Gremium kein Ausschuss üblicher Art ist, sondern ein Gremium sui generis, das seine Mitgliederzahl und Arbeitsweise selbst definiert. Dieses Gremium ist eminent wichtig geworden, weil die Dienste wichtig geworden sind. Deswegen sollte dieses Gremium im Grundgesetz in der Weise Erwähnung finden, dass das Parlament sich dieses Gremium schaffen muss. Das Parlament bringt damit zum Ausdruck, dass es keine exekutive Gewalt geben darf, die sich außerhalb der parlamentarischen Kontrolle bewegt. Das ist der Kern, um den es geht. ({3}) Nur so können wir das Vertrauen herstellen, das auch die Dienste brauchen. Die Dienste müssen darauf vertrauen können, dass das Parlament zu ihnen steht. Die Bevölkerung muss darauf vertrauen können, dass wir im Gremium die Dienste kontrollieren. Wir, die neun Mitglieder dieses Gremiums, sind gleichsam die legitimatorische Verknüpfung zwischen Bevölkerung und Nachrichtendienst. Ich komme jetzt zu einigen Veränderungen, die uns wichtig sind: Wir brauchen einen Fraktionsmitarbeiter, der uns zuarbeiten und helfen kann, Dokumente zu lesen, der uns darauf hinweist, was passiert ist, und der Sachverhalte zusammenfasst, damit wir die richtigen Fragen im Rahmen unserer Kontrolltätigkeit stellen können. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wir können natürlich auch Eingaben aus dem Dienst heraus bearbeiten. Das ist aber nicht so neu; das gab es bisher schon. ({4}) Aber wir müssen natürlich den richtigen Umgang finden. Wenn Eingaben aus dem Dienst bei uns eingehen, sei es namentlich oder anonym, müssen wir uns mit den Dingen befassen, allerdings nicht ohne die Dienstvorgesetzten vorher befragt zu haben. Wir dürfen nicht in den Dienst hineinregieren; wir kontrollieren den Dienst. Die Sorge, dass wir uns in laufende Verfahren - zum Beispiel Verfahren anlässlich einer Entführung, einer Piraterie - einmischen, ist völlig unbegründet; denn wir lassen solche Verfahren immer zum Abschluss kommen, um uns danach berichten zu lassen. Wir wollen nicht exekutiv tätig werden, wir wollen kontrollieren und nichts anderes. ({5}) Die Sorge, dass der Dienst dadurch geschwächt werden könnte, dass wir kontrollieren und der Dienst deshalb von befreundeten Diensten abgekoppelt werden könnte und von ihnen keine Informationen mehr bekäme, ist völlig unbegründet. Die Nachrichtendienste können nicht alles wissen, auch unsere nicht; sie leben vom Austausch von Informationen mit den amerikanischen, französischen, englischen und anderen Diensten. Das heißt, hier muss ein vertrauensvoller Austausch von Informationen möglich sein. Dieses Vertrauen müssen wir mittragen und dürfen es keineswegs stören. Dies ist uns allen bewusst, und niemand will sich dagegen verwehren, dieses Vertrauen zu unterstützen. Austausch ist wichtig. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Erhöhung der Legitimität der Nachrichtendienste durch Aufnahme unseres Gremiums in das Grundgesetz ist ein eminent wichtiges Signal. Wir brauchen unsere Nachrichtendienste mehr denn je. Ein Terroranschlag kann nur durch nachrichtendienstliche Tätigkeit verhindert werden. Sobald Terroristen mit einer Bombe losmarschiert sind, ist für den Staat jede Chance vertan, den Anschlag verhindern zu können. Nur Nachrichtendienste können im Vorfeld, bei der Planung eines Anschlages, zum Schutz der Bevölkerung wirksam tätig werden. Weil wir dies wissen, werden wir diese Arbeit niemals stören. Wir werden unsere Rechte und unsere Pflichten gewissenhaft wahrnehmen. Sollte es tatsächlich einmal zum Streit mit der Bundesregierung kommen, können wir - diese Möglichkeit haben wir geschaffen - das Bundesverfassungsgericht anrufen, allerdings nur mit Zweitdrittelmehrheit der Mitglieder des Gremiums. Auch dies ist eine Einrichtung, die ich für sinnvoll und sachgemäß halte. Unterstützen Sie uns bitte bei diesem Vorhaben. Ich glaube, es ist verantwortungsbewusst, systemgerecht, ohne Bruch und sehr durchdacht. Das ist zum Wohle der Dienste, zum Wohle der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Kollege Max Stadler für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach den Anschlägen in den USA am 11. September 2001 haben die Nachrichtendienste auch in der Bundesrepublik Deutschland so viele Befugnisse erhalten wie nie zuvor. Für die FDP war immer klar: Je mehr Befugnisse Geheimdienste haben, umso besser muss die parlamentarische Kontrolle ausgestaltet werden. ({0}) Daran hat es bisher aber gemangelt. Diese Kontrolldefizite werden mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz verringert. Erinnern wir uns: Einsatz von BND-Agenten während des Irak-Kriegs in Bagdad trotz gegenteiliger Selbstdarstellung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, rechtswidrige Bespitzelung von Journalisten, fragwürdige Amtshilfe des Nachrichtendienstes gegenüber Polizeibehörden. All diese Vorgänge sind in der Vergangenheit am dafür berufenen Parlamentarischen Kontrollgremium vorbeigegangen. Das war nicht länger akzeptabel. Das wissen alle in diesem Hohen Haus zwar seit Jahren. ({1}) Aber nur die FDP-Fraktion hat schon am 6. April 2006 einen Reformentwurf in den Bundestag eingebracht. ({2}) - Ja, weil wir daraus jetzt ein Gesetz machen. Das ist genau der Gedankengang, den ich vortragen wollte, lieber Herr Kollege Ströbele. - Wir sind sehr zufrieden, dass es jetzt nach dreijähriger Debatte gelungen ist, obwohl die Koalition das Thema jahrelang nicht angepackt hat, die Regierung „not amused“ war und nichts voranzugehen schien, zu einem gemeinsamen Gesetzentwurf von CDU/CSU, SPD und FDP zu kommen. Es passiert nicht jeden Tag, dass man aus der Opposition heraus gemeinsam mit den Regierungsfraktionen einen Gesetzentwurf initiieren kann. ({3}) Das wäre auch in diesem Fall nicht möglich gewesen, wenn sich nicht einzelne Abgeordnete der Koalitionsfraktionen des Themas besonders angenommen hätten. Das sind Kollege Uhl, der gerade gesprochen hat, Kollege Röttgen und Kollege Oppermann. Ich will in aller Deutlichkeit sagen, dass auch die Diskussionsbeiträge des Kollegen Ströbele von den Grünen und des Kollegen Nešković von der Linkspartei die Reformdebatte befruchtet haben. Dagegen lesen wir in seriösen Zeitungen, dass offenbar mehrere Minister der amtierenden Bundesregierung hinhaltenden Widerstand gegen diesen ohnehin moderaten Gesetzentwurf geleistet haben. ({4}) Es ist nicht dementiert worden, dass die Minister Schäuble, Steinmeier und Jung wieder einmal das Argument benutzt haben, dass eine stärkere parlamentarische Kontrolle die Arbeit der Geheimdienste erschweren und unsere Sicherheit gefährden würde. ({5}) Das ist völliger Unsinn. Wir sagen dazu: Für die FDP kam es überhaupt nicht infrage, diesem Druck, der offenbar von der Regierung auf das Parlament ausgeübt werden sollte, in irgendeiner Weise nachzugeben. ({6}) Im Gegenteil: Der Gesetzentwurf ist nach einer Sachverständigenanhörung, die am Montag stattgefunden hat, im Ausschuss noch deutlich verbessert worden. Ich nenne folgende Punkte: Mit diesem Gesetzentwurf wird erstmals in den Fällen, in denen das Gremium Vorgänge öffentlich bewertet - das ist allerdings die Ausnahme, weil es weiterhin prinzipiell nicht öffentlich tagt -, das Recht der Opposition auf ein Sondervotum bei diesen Bewertungen festgeschrieben. Das ist ein erheblicher Fortschritt. Allerdings findet sich im Gesetzentwurf eine wirklich unpassende Formulierung, nach der solche Sondervoten der Opposition dem Gremium vorher vorzulegen sind. Wir haben nicht das Bedürfnis, diejenigen, die wir kontrollieren wollen und nach dem gesetzlichen Auftrag kontrollieren müssen, vorher um Erlaubnis zu bitten. Es ist klargestellt, dass diese Passage, die ohnehin nicht im Gesetz stand, sondern nur in der Begründung, keine Bedeutung hat. ({7}) Ich nenne einen zweiten Punkt: Wir haben in den letzten Beratungen in dieser Woche erreicht, dass die Mitarbeiter, die uns neu zuarbeiten können, weil vier Augen nun einmal mehr sehen als zwei Augen, auf Beschluss des Gremiums auch Zugang zu den Sitzungen und damit zu der mündlichen Unterrichtung der Abgeordneten haben. ({8}) Das wird ebenfalls die Kontrollmöglichkeiten deutlich verbessern und ist ein Fortschritt gegenüber dem, was zu Beginn unserer Beratungen im Gesetzentwurf vorgesehen war. Nun ist mir eines noch besonders wichtig, meine Damen und Herren; auch dies hat die FDP mit Unterstützung von CDU/CSU und SPD im Innenausschuss klargestellt: Erstmals wird das Parlamentarische Kontrollgremium auch in der Verfassung selbst verankert. Mit dieser besonderen Hervorhebung des Gremiums werden aber die Rechte einzelner Abgeordneter oder sonstiger Parlamentsausschüsse wie etwa Innenausschuss oder Rechtsausschuss in keiner Weise beeinträchtigt. Das Parlamentarische Kontrollgremium ist in besonderem Maße zur Kontrolle befugt, aber andere Ausschüsse haben ebenfalls ihre Rechte, etwa wenn Polizeien wie das Bundeskriminalamt gemeinsam, womöglich unter Verletzung des Trennungsgebotes, mit Geheimdiensten tätig sind. ({9}) Für uns ist klar, dass die Rechte des Parlaments unberührt bleiben. Es kommt im Gegenteil insgesamt zu einer verbesserten Kontrolle. Auch die FDP sagt: Wir brauchen die Dienste, aber die Dienste brauchen auch uns Kontrolleure; denn eine Tätigkeit, die sich im Geheimen abspielt, kann nur Vertrauen beanspruchen, wenn es eine ausreichende Kontrolle gibt. Da könnte man sich immer noch mehr vorstellen - das weiß jeder -; trotzdem sage ich in der Gesamtabwägung: Mit diesem Gesetz, das wir heute beschließen, wird die notwendige Kontrolle ein gutes Stück vorangebracht. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Mit dem neuen Gesetz über die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste erreichen wir das gute Ende eines langen verfassungspolitischen Prozesses, der seinen Ausgang in der jungen Bundesrepublik hatte. Über die geheimdienstlichen Aktivitäten in der Adenauer-Zeit wurde das Parlament nicht regelmäßig unterrichtet. Es hing von der Gunst Konrad Adenauers ab, ob und was das Parlament darüber erfuhr. Es gab aber Fortschritte. Ende der 70er-Jahre gab es eine gesetzliche Grundlage, das Parlamentarische Kontrollgremium wurde eingeführt, und heute schaffen wir die verfassungsrechtliche Verankerung der parlamentarischen Kontrolle. Das ist ein großer verfassungspolitischer Fortschritt. Regierung und Parlament handeln jetzt auf gleicher Augenhöhe. ({0}) Diese verfassungsrechtliche Verankerung der parlamentarischen Kontrolle darf natürlich nicht zu der Fehlvorstellung verleiten, Regierung und Parlament hätten in diesem Bereich die gleichen Aufgaben. Aufgabe der Regierung ist es, funktionierende Geheimdienste bereitzustellen, die wir brauchen, um die Sicherheit der Menschen, die Sicherheit wichtiger Rechtsgüter und auch die Sicherheit des Staates und der demokratischen Institutionen in diesem Lande zu gewährleisten. Wir brauchen nachrichtendienstliche Informationen, um präventiv handeln und uns gegen solche Gefahren schützen zu können. Also brauchen wir funktionierende Dienste. Aber wir brauchen eben auch eine effektive Kontrolle. Effektive Kontrolle darf man jedoch nicht verwechseln mit der Dauerskandalisierung der verdammt schwierigen und nicht selten gefährlichen Arbeit der Geheimdienstmitarbeiter. Das will ich an dieser Stelle einmal feststellen. ({1}) Die Dienste haben einen Anspruch auf eine kritische, aber faire Bewertung ihrer wahrhaftig nicht einfachen Arbeit. Aber es gibt auch Grenzen der Kontrolle, und es war die Sorge der von Ihnen genannten Minister, Herr Stadler - es sind aber nicht nur die Minister Jung, Steinmeier und Schäuble; dazu gehört auch mein Kollege Otto Schily -, ob wir die Dienste durch effektive Kontrolle nicht zu sehr schwächen. Nun hat das Gremium ohnehin Grenzen. Eine Grenze besteht durch das Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung. Das bedeutet, dass das Gremium nicht das Recht und die Zuständigkeit hat, sich in laufende geheimdienstliche Operationen einzumischen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens sitzen in dem Gremium keine professionellen Geheimdienstleute - vielleicht mit Ausnahme von Herrn Ströbele, der schon so lange dabei ist, dass eine gewisse Professionalisierung erfolgt ist. ({2}) - Herr Nešković auch, ja. - Der Sachverstand wäre nicht vorhanden; es fehlte an professionellem Können. Zweitens entspräche es aber auch nicht dem Verantwortlichkeitsprinzip. Wenn Parlamentarier sich in laufende Operationen einmischen, dann kann der Präsident des Dienstes oder auch die Bundesregierung dafür nicht mehr die Verantwortung übernehmen. ({3}) Damit gerieten wir in einen Zustand geteilter Verantwortung, und einen solchen Zustand wollen wir nicht. Gegenstand der parlamentarischen Kontrolle sind deshalb im Prinzip nur abgeschlossene oder zum Teil abgeschlossene Vorgänge, was nicht ausschließt, dass die Regierung manchmal über laufende Vorgänge berichtet; das liegt dann in ihrem Ermessen. Es gibt eine zweite Grenze der Kontrolle, und zwar sowohl im alten Gesetz als auch im neuen Gesetz. Sie ist in § 6 Abs. 1 des Kontrollgremiumgesetzes festgelegt. Dort heißt es: Die Pflicht, das Gremium zu unterrichten, „erstreckt sich nur auf Informationen, die der Verfügungsberechtigung der Dienste unterliegen“. - Mit anderen Worten: Brisante Informationen, die der BND von wichtigen Partnerdiensten mit der Einschränkung bekommt, dass sie nicht weitergegeben werden dürfen, dürfen natürlich auch nicht Gegenstand politischer Erörterungen in dem Gremium sein. Das ist unabänderlich, wenn wir weiter leistungsfähige und partnerschaftsfähige Dienste haben wollen. Ich fasse zusammen: Mit den neuen Zutritts-, Akteneinsichts- und Befragungsrechten schaffen wir eine angemessene Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Um Sicherheit durch Prävention zu erreichen, brauchen wir die Arbeit der Dienste, die sich naturgemäß im Geheimen bewegt. Wir brauchen leistungsfähige Dienste. Um die Freiheit zu gewährleisten, brauchen wir eine besondere Kontrolle, die die Freiheitsrechte der Bürger im Auge hat und die das Vertrauen der Bürger in die Lauterkeit und Gesetzmäßigkeit des Handelns der Dienste begründet und rechtfertigt. Das alles wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erreicht. Ich freue mich darüber, Herr Stadler, dass hier Regierungs- und Oppositionsparteien gemeinsam handeln, um eine verfassungsgemäße und dauerhaft tragfähige Grundlage für die parlamentarische Kontrolle unserer Nachrichtendienste zu schaffen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Nešković für die Fraktion Die Linke. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als die deutsche Demokratie noch in der Wiege lag, hatte Wilhelm II. den deutschen Reichstag als Quasselbude bezeichnet. Dem Monarch missfiel die in Gang kommende Machtbegrenzung, die das ganze Gequassel für ihn bedeutete. Denn der Reichstag verstand sich in seiner Gesamtheit als Gegengewicht zur monarchischen Regierung. Hier lag damals das natürliche politische Spannungsverhältnis. In einer parlamentarischen Demokratie hingegen liegen die Dinge ganz anders. Ich zitiere aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Das ursprüngliche Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung, wie es in der konstitutionellen Monarchie bestand, hat sich in der parlamentarischen Demokratie, deren Parlamentsmehrheit regelmäßig die Regierung trägt, gewandelt. Es wird nun vornehmlich geprägt durch das politische Spannungsverhältnis zwischen der Regierung und den sie tragenden Parlamentsfraktionen einerseits und der Opposition andererseits. Im parlamentarischen Regierungssystem überwacht daher in erster Linie nicht die Mehrheit die Regierung, sondern diese Aufgabe wird vorwiegend von der Opposition - und damit in der Regel von einer Minderheit wahrgenommen. ({0}) Der Kaiser ist tot. Ihr Entwurf entspricht dennoch der Logik der konstitutionellen Monarchie. Er enthält nämlich keine ausreichenden Minderheitenrechte. Nach ihm sind es allein die Mitglieder der Regierungsfraktionen, die über das Ausmaß und den Umfang der Kontrolle bestimmen. Sämtliche Kontrollbefugnisse des Gremiums sind von Mehrheitsbeschlüssen abhängig. Damit sind es allein die Mitglieder der Regierungsfraktionen, die mit einfacher oder sogar Zweidrittelmehrheit über Folgendes entscheiden: Besuchsrechte bei den Diensten, Akteneinsichtsrechte, Anhörungen von Mitarbeitern der Geheimdienste, die Inanspruchnahme von Amtshilfe, die Einschaltung eines Sachverständigen, die Anwesenheit von Fraktionsmitgliedern im Gremium und öffentliche Kritik an der Regierung. Wenn also ein Mitglied einer Oppositionsfraktion die Regierung kontrollieren möchte, zum Beispiel durch Akteneinsicht, muss er oder sie die Regierungsfraktionen vorher untertänigst um Erlaubnis bitten. ({1}) Die Regierungsfraktionen haben es also in der Hand, ob die Regierung in Bedrängnis gerät oder nicht. Dazu werden die Regierungsfraktionen naturgemäß wenig Neigung verspüren. ({2}) Naturgemäß bringt allein die Opposition den notwendigen Biss auf, um die Regierung wirkungsvoll zu kontrollieren. ({3}) Das, meine sehr verehrten Damen und Herren und meine liebe Öffentlichkeit, entspricht gesicherter parlamentarischer Erfahrung. ({4}) Deswegen sind die Minderheitenrechte für eine effiziente Kontrolle unentbehrlich. Der Mangel an Minderheitenrechten ist nicht der einzige schwerwiegende Mangel dieses Entwurfes. Ich nenne drei Beispiele. Erstens. Laut dem Entwurf kann die Regierung die Herausgabe von Informationen - Herr Oppermann sagte das schon - an das Kontrollgremium verweigern, wenn dadurch die Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten betroffen wäre. ({5}) Das bedeutet nichts anderes, als dass sich die Nachrichtendienste des Bundes und die ausländischen Nachrichtendienste darüber einigen können, welche Informationen dem Gremium vorenthalten werden. Das wäre ein verfassungsrechtlich unzulässiger Vertrag zulasten der parlamentarischen Kontrolle und damit unserer Demokratie. ({6}) Zweitens. Noch immer liegt es - im Ergebnis - im Belieben der Regierung, über welche Vorgänge sie im Gremium informiert. Das ist absurd: Derjenige, der kontrolliert werden soll, entscheidet über den Umfang der Kontrolle. Ebenso gut könnte der Angeklagte in einem Strafprozess über den Umfang der Beweisaufnahme entscheiden. Der Freispruch wäre garantiert. Drittens. Besonders feierlich geben sich die Verfasser des Entwurfs aufgrund der neuen Befugnis des Gremiums, mit einer Zweitdrittelmehrheit das Bundesverfassungsgericht anrufen zu können. Das ist überhaupt nicht feierlich, sondern absolut lächerlich. Man benötigt schon eine gehörige Abneigung gegen die Wirklichkeit, um sich eine Situation vorzustellen, in der die Abgeordneten der Regierungsfraktionen mit ihrer Stimmenmehrheit vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um dort die eigene Regierung zu verklagen. So viel Fantasie habe ich nicht; aber Sie haben sie offensichtlich. Wer von diesem Gesetzentwurf eine wirkungsvolle parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste erwartet, ist naiv. Wer dies dennoch behauptet und nicht naiv ist, darf sich nicht ärgern, wenn das Gremium in der öffentlichen Wahrnehmung, um in der Sprache des Kaisers zu bleiben, in den Ruf einer Quasselbude gerät. ({7}) Ich fasse zusammen: Auch nach diesen Gesetzesänderungen bleibt das Gremium ein blinder Wächter ohne Schwert. Ich danke Ihnen. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Kollege Uhl hat ja recht, ({0}) nach dem 11. September 2001 haben wir neue Erfahrungen gemacht, und unsere Nachrichtendienste, unsere Sicherheitsdienste haben - darauf hat Kollege Stadler hingewiesen - umfassende neue Befugnisse, Manpower und Möglichkeiten bekommen. Wir haben nach dem 11. September aber auch ganz schlimme Erfahrungen gemacht, Herr Uhl. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass selbst in etablierten alten parlamentarischen Demokratien vieles außer Kontrolle geraten ist und offizielle Nachrichtendienste einiger Länder, nicht zuletzt der USA, so außer Kontrolle geraten sind, dass sie weltweit mit der Verschleppung von Menschen, mit Folter und mit schweren Verstößen gegen rechtsstaatliche und völkerrechtliche Prinzipien die Menschenrechte im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten haben. Diese ganz schlimme Erfahrung haben wir gemacht. Nicht ohne Grund beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages seit inzwischen mehr als drei Jahren mit der Frage: Inwieweit waren deutsche Nachrichtendienste, deutsche Politik, deutsche Politiker und deutsche Bundesregierungen mit dieser schlimmen weltweiten Praxis in irgendeiner Weise verbandelt und daran beteiligt? ({1}) Das ist aber ein anderes Thema. Jetzt fragt man sich: Welche Schlussfolgerungen zieht man daraus? Man kann nur zu einer einzigen Schlussfolgerung kommen: Das darf nie wieder passieren, weder weltweit noch in Deutschland. ({2}) Wie können wir das verhindern? Ich sage Ihnen - das ist der Grund, warum wir gegen die Grundgesetzänderung stimmen -: Wir wollen nicht das gesamte Parlament, also alle zuständigen Ausschüsse - den Innenausschuss, den Auswärtigen Ausschuss, den Verteidigungsausschuss und mögliche Untersuchungsausschüsse - und jeden einzelnen Abgeordneten aus der Verantwortung für die Kontrolle der Nachrichtendienste entlassen. ({3}) Wir wollen, dass auch einzelne Abgeordnete, die beispielsweise erfahren, dass zwei Agenten des Bundesnachrichtendienstes während des Irak-Krieges in Bagdad waren, die Bundesregierung fragen können: Liebe Bundesregierung, stimmt das? Was haben die da gemacht? Haben die den Krieg unterstützt? - Wir wollen, dass sie in diesem Fall von der Bundesregierung nicht die Antwort bekommen: Das wollen wir Ihnen in der Öffentlichkeit nicht beantworten. Das beantworten wir nur im zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremium. - Das darf nicht sein. ({4}) Wir sind dagegen, dass ins Grundgesetz die Vorschrift aufgenommen wird: Der Bundestag bestellt ein Gremium zur Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes. Gemeint ist damit die gesamte nachrichtendienstliche Tätigkeit des Bundes. Diese Formulierung bezieht sich darauf, dass Sie diesem Gremium ursprünglich auch die Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des BKA und des Bundespolizeiamtes übertragen wollten. Diese Vorschrift konterkariert die Verantwortung des gesamten Deutschen Bundestages. Wir halten sie für falsch und gefährlich, weil sich die Bundesregierung dann möglicherweise noch öfter auf sie beruft. ({5}) In einem anderen Punkt sind wir grundsätzlich derselben Auffassung wie Sie. Auch wir sind der Auffassung, dass die Möglichkeiten des Parlamentarischen Kontrollgremiums erheblich ausgeweitet werden müssen. ({6}) Wir freuen uns darüber, dass dieses Thema im Plenum des Deutschen Bundestages aufgegriffen wird und wir über entsprechende Gesetzentwürfe diskutieren können. Ihren Gesetzentwurf halten wir allerdings für unzulänglich und nicht ausreichend. Sie bleiben auf halbem Wege stehen und geben Steine statt Brot. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stadler?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Jetzt darf der Kollege Stadler eine Zwischenfrage stellen. Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ströbele, zum Verhältnis zwischen dem Parlamentarischen Kontrollgremium und den Rechten einzelner Parlamentarier und der Ausschüsse habe ich in meinem Redebeitrag bereits Ausführungen gemacht, um klarzustellen, dass es nicht angeht, dass die Bundesregierung unter Verweis auf das Kontrollgremium Auskünfte verweigert, beispielsweise dann, wenn das Bundeskriminalamt tätig gewesen ist. Meine Frage an Sie lautet, ob Sie bereit sind, zuzugestehen, dass in dem heute zu beschließenden Gesetzentwurf ein § 1 Abs. 2 zu finden ist - ursprünglich was es § 1 Abs. 3; um Klarheit zu schaffen, haben wir eine vielleicht etwas verwirrende Vorschrift aus § 1 Abs. 2 gestrichen -, der lautet: Die Rechte des Deutschen Bundestages, seiner Ausschüsse und der Kommission nach dem Artikel-10Gesetz bleiben unberührt. ({0}) Sind Sie bereit, auch zuzugestehen, dass diese Aussage durch die Rechtsänderungen, die heute zur Debatte stehen, um kein Jota verändert wird, sodass die Sorge, die Sie zu Recht geäußert haben, im Ergebnis unbegründet ist? ({1})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, Herr Kollege Stadler; dagegen spricht die von mir bereits angesprochene Erfahrung mit der Praxis der Bundesregierung. ({0}) Es ist sogar ein Rechtsstreit beim Bundesverfassungsgericht anhängig, in dessen Rahmen wir versuchen, die Rechte der einzelnen Abgeordneten auf Auskunftserteilung durch die Bundesregierung in diesem Bereich durchzusetzen. ({1}) Heute ist es doch so, dass eine solche Auskunft generell verweigert wird. Berechtigt wäre eine Auskunftsverweigerung allenfalls dann, wenn die Nachrichtendienste nachrichtendienstlich tätig sind und geheimhaltungsbedürftige Sachverhalte vorliegen. Dann wäre der Verweis auf das Parlamentarische Kontrollgremium richtig. Die zu treffende Regelung darf aber nicht die gesamte nachrichtendienstliche Tätigkeit umfassen. ({2}) Das ist der Fehler. Sie kommen nicht daran vorbei, dass in dem Grundgesetzartikel, den Sie in den Gesetzentwurf aufnehmen wollen, ganz allgemein von der „nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes“ die Rede ist. Darunter könnte man auch die entsprechende Tätigkeit des Bundeskriminalamtes oder des Zollamtes verstehen. Das beruhigt mich also gar nicht, Herr Kollege Stadler. Mich beruhigt auch überhaupt nicht, dass Sie auf diesen Gesetzentwurf umgeschwenkt sind und dass Sie von Ihrer berechtigten Forderung, die in Ihrem Gesetzentwurf stand und wonach ich als Abgeordneter etwas Selbstverständliches tun können muss, nämlich meine Fraktionsvorsitzenden zu unterrichten, wenn ich im Gremium von einem Skandal des Bundesnachrichtendienstes erfahre, Abstand genommen haben. Das haben Sie in Ihren Gesetzentwurf ja zutreffend hineingeschrieben. In dem Gesetzentwurf, den Sie jetzt unterstreichen und dem Sie jetzt zustimmen wollen, steht das nicht mehr. Das gilt auch für einige andere wichtige Bereiche. Ich komme zu der Konklusion: Zu dem wichtigen Bereich, dass die Bundesregierung gezwungen wird, über besondere Vorkommnisse von besonderer Relevanz zeitnah zu berichten, findet sich in Ihrem Gesetzentwurf nichts. Es gibt keinerlei Vorschrift und keinerlei Hinweis. Sie haben sich nicht einmal dazu durchgerungen, hineinzuschreiben, dass die Bundesregierung zeitnah informieren soll, sodass nun die Praxis der Vergangenheit fortgeführt werden kann. Danach wurden wir im Gremium immer erst dann mit allen Skandalen des Bundesnachrichtendienstes, die uns in den letzten Jahren beschäftigt haben, befasst, nachdem sie groß und breit im Spiegel, in der Süddeutschen Zeitung oder in der Berliner Zeitung gestanden haben. Allein das ist ein Skandal, gegen den Sie nicht angehen. Sie tun überhaupt nichts dagegen, außer dass Sie schreiben, dass das in den später - nach einem Jahr - zu erstellenden Bericht des Gremiums aufgenommen werden soll. Das ist völlig unzureichend. Auch in den anderen Vorschriften, die Sie formuliert haben, geben Sie uns Steine statt Brot, zum Beispiel, indem Sie sagen, dass der Abgeordnete Ströbele und der Abgeordnete Röttgen in Zukunft einen Mitarbeiter mit der Unterstützung der Arbeit beauftragen können.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn er nicht auch mit mir in dem Gremium sitzen darf und an den Sitzungen teilnehmen kann, dann ist eine unterstützende Tätigkeit so gut wie überhaupt nicht möglich. Deshalb ist das, was Sie vorgeschlagen haben, unzureichend.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie haben die Redezeit überschritten.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Ich werde von der Frage umgetrieben - seit ein paar Jahren beschäftige ich mich damit -, wie wir es in Zukunft verhindern können, dass das, was wir jetzt im Untersuchungsausschuss wieder festgestellt haben, auf der Welt und in Deutschland noch einmal passiert. Auf diesem Wege wird uns mit Ihrem Gesetzentwurf leider nicht geholfen. Sie haben über unseren nicht ernsthaft diskutiert, und wir sind deshalb gegen Ihren Gesetzentwurf. Wir werden dagegen stimmen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Gesetzentwürfe zur Stärkung und Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes und der Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes, in denen eine verfassungsrechtliche Anerkennung und Aufwertung der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste vorgesehen ist, sind Gesetzentwürfe aus der Mitte des Parlamentes, aus der Mitte des Bundestages. ({0}) Das ist auch richtig so, weil es darum geht, die Instrumente und Regeln der parlamentarischen Kontrolle, denen wir die Bundesregierung unterwerfen wollen, selber festzulegen. Man kann nicht erwarten, dass die Regierung ihre Kontrolle selber regelt. ({1}) Ich glaube, das wäre noch nicht einmal wünschenswert. Darum entspricht es unserem Selbstverständnis, diese Regeln zu machen. ({2}) An diesem Punkt bin ich dann auch bei der Kritik an den Kollegen Ströbele und Nešković. Sie kritisieren, das sei viel zu wenig. Es geht hier nicht um wenig oder mehr, sondern es geht um das richtige Verhältnis zwischen den Gewalten. Sie leiden - das gilt für beide - bei Ihrer Kritik, das sei zu wenig, an einem persönlichen Glaubwürdigkeitsmangel. Herr Ströbele und die gesamte Fraktion der Grünen, Sie müssen sich vorhalten lassen, dass Sie, als Sie über sieben Jahre hinweg in der Regierungsmehrheit waren, nichts von dem umgesetzt haben, was Sie heute fordern. ({3}) Darum sind Sie ein Maulheld, Herr Kollege Ströbele. Sie haben gegen Steinmeier, Fischer und Schily nichts vom dem realisiert, was Sie heute beanstanden und verlangen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Röttgen, es geht jetzt nicht um Maulhelden. Wir wollen uns den Tatsachen stellen und die Wahrheit darin suchen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass nach 16 Jahren Regierung Kohl ({0}) die damalige neue rot-grüne Koalition zum ersten Mal überhaupt ein Gesetz für das parlamentarische Gremium zur Kontrolle der Geheimdienste - das damals seinen Namen bekommen hat - geschaffen hat und dass in diesem damals sehr fortschrittlichen Gesetz unter anderem erstmals geregelt war, dass mit Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit von der Geheimhaltung abgewichen werden darf? Eine kleinere Mehrheit war nicht durchzusetzen. Das war damals ein riesiger Fortschritt. Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir vieles von dem, was wir heute über Menschenrechtsverletzungen nach dem 11. September wissen, durch die Tätigkeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums, aber auch durch den Untersuchungsausschuss erfahren haben? Heute wissen wir vieles, was wir damals nicht gewusst haben. ({1}) Deswegen war es uns 2004 oder 2005 nicht möglich, ein tolles Gesetz zu machen, so wie Sie es jetzt auch nicht hinbekommen haben. ({2})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, Ihre Frage verdeutlicht den Unterschied, den es zwischen uns gibt. Sie sagen, 1999 sei einmalig ein Gesetz erarbeitet worden, und dann sei auf Jahre alles gut gewesen. Wir sind der Auffassung, dass es gar nicht gut gewesen ist. Das Gesetz ist unzulänglich, und darum verbessern wir es jetzt. ({0}) Das ist der Unterschied zwischen uns. Sie sind sehr selbstzufrieden. Wir hingegen sind nicht zufrieden mit dem, was Sie angerichtet haben. Sie wissen selbst, was die Wahrheit ist. Sie haben sich nicht durchsetzen können. ({1}) Denn bei diesem Gesetzentwurf geht es um das Selbstverständnis des Parlamentes auch gegenüber - nicht etwa gegen sie - der Exekutive. Die Wahrheit der rot-grünen Koalition ist, dass die Grünen in dieser Koalition nicht viel zu sagen hatten. Das mag Sie heute noch schmerzen, aber es ist ein Teil der Wahrheit. ({2}) Ähnlich ist es, wenn ich mich dem Kollegen Nešković zuwende, der auch kritisiert, dass hier viel zu wenig geschehe. Der Kollege Nešković hat vor einem Jahr einen 30-seitigen Gesetzentwurf vorgestellt. ({3}) Er hat seitenlange Vorschläge gemacht und sich an die Presse gewandt. Die Reaktion seiner Fraktionsführung auf Ihre Vorschläge war - ich zitiere den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Ramelow aus der taz -: „Nešković war wohl zu lange in der Sonne.“ ({4}) Das ist bis auf den heutigen Tag offensichtlich nicht völlig falsch, Herr Ramelow. Der entscheidende Punkt ist aber, dass sich Herr Ramelow durchgesetzt hat. Denn Sie bringen heute nichts ein. ({5}) Sie bringen einen kleinen Gesetzentwurf mit einem kleinen Paragrafen ein, der sich um die Beobachtung von Abgeordneten kümmert. Sie sind schon in Ihrer eigenen Fraktion auf der ganzen Linie gescheitert, Herr Kollege Neškovi_, und werfen jetzt uns vor, wir würden zu wenig machen. Vielleicht liegt das daran, dass in Ihrer Fraktion viel zu viele leider viel zu viel von Geheimdiensten verstehen, aber zu wenig von Geheimdiensten in einem demokratischen Rechtsstaat. Das mag der Grund dafür sein, warum Sie als Maulheld vorgeschickt werden, aber in der eigenen Fraktion nichts erreichen. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Röttgen, jetzt haben Sie den Herrn Nešković provoziert. Er - nein, Herr Ramelow möchte dazu gerne eine Zwischenbemerkung machen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Bodo Ramelow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003824, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Röttgen, ich stelle mich demonstrativ neben meinen Kollegen Nešković. Sie tun sich sehr leicht, Herr Röttgen. Ich bin derjenige, der seit mehreren Jahren von all den Geheimdiensten belästigt wird, über die hier geredet wird. ({0}) - Sie können alle darüber lachen. Da Sie ja an den Rechtsstaat glauben, darf ich darauf hinweisen, dass ich bisher alle Prozesse gewonnen habe und rechtsstaatswidrig von den Geheimdiensten beobachtet und belästigt worden bin. ({1}) Es ist nicht zulässig, so mit Abgeordneten umzugehen. Ihr Zitat, Herr Kollege Röttgen - bevor Sie sich jetzt zehn Minuten darüber freuen -, bezog sich auf etwas völlig anderes. ({2}) Es hatte mit den Geheimdiensten und der Geheimdienstkontrolle nichts zu tun. Da standen Sie jetzt wohl zu lange in der Sonne, Herr Kollege Röttgen. Der Kollege Nešković hat mein volles Vertrauen. Ich glaube, die Geheimdienste in Deutschland müssen besser kontrolliert werden. ({3})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ramelow, Sie bestreiten nicht, dass Sie bezüglich Ihres Fraktionskollegen die Diagnose gestellt haben, er sei zu lange in der Sonne gewesen. Wenn man zu lange in der Sonne war, dann wirken sich die Schäden nicht nur partiell auf die Gehirnfunktionen aus, sondern generell auf die geistige Leistungsfähigkeit. ({0}) Darum können Sie das leider nicht nur partiell betrachten. Der entscheidende Punkt ist aber, dass die Vorschläge, die Herr Nešković gemacht hat, in Ihrer Fraktion komplett abgelehnt worden sind. Das ist hier dokumentiert. Ich finde, politische Kritik hat immer eine Sachdimension und eine Dimension persönlicher Glaubwürdigkeit. Diese fehlt beiden Kritikern. Das wollte ich sagen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ramelow?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt ist es genug. Ich möchte auf zwei weitere Gesichtspunkte der Gesetzentwürfe eingehen. Es gibt einen Grundkonflikt, auf den die Gesetzentwürfe abstellen und der einen Dissens in der Debatte darstellt. Es gibt drei Meinungen. Eine davon hat sich durchgesetzt; wir haben sie heute zum Teil gehört. Die eine Meinung über das Verhältnis von Parlament zu Nachrichtendiensten ist, dass parlamentarische Kontrolle eigentlich eine Sache der Minderheit ist. Ihr demokratisches Verständnis, da die Mehrheit gar nicht kontrollbereit sei, sei Kontrolle eine Aufgabe der Minderheit des Parlamentes, teilen wir nicht. Auch die Mehrheit ist Teil des Parlaments und stellt eine Kontrollinstanz gegenüber der Exekutive dar. Ihr Demokratieverständnis entspricht ganz sicher nicht unserem Parlamentsverständnis. ({0}) Die zweite Haltung, die in dieser Debatte eine Rolle spielt - sie ist der Grund, warum Sie in Ihrer Regierungszeit nichts bewirkt haben, meine Damen und Herren von den Grünen -, ist: Je mehr sich Geheimdienste - auch gegenüber dem Parlament - abschotten, desto wirksamer sind sie. Auch diese Haltung existiert. An dieser Haltung sind Sie, Herr Ströbele, sieben Jahre gescheitert. Diese Haltung ist ebenfalls falsch. Auch in einem demokratischen Rechtsstaat brauchen wir Geheimdienste. ({1}) Geheimdienste sind legitimer Teil des demokratischen Rechtsstaates. Aber sie bedürfen der parlamentarischen Kontrolle und üben keine kontrollfreie exekutivfreie Tätigkeit aus. Das ist unser Verständnis der Nachrichtendienste. ({2}) Nachrichtendienste, die sich kontrollfrei abschotteten, würden über kurz oder lang die Legitimation und Akzeptanz in der Gesellschaft verlieren. Deshalb sind die Kontrolleure keine Gegner der Nachrichtendienste. Vielmehr können sie die Nachrichtendienste unterstützen. Sie sind die Bedingung für Akzeptanz und Legitimation der Nachrichtendienste im demokratischen Rechtsstaat. ({3}) Ich möchte auf die Verfassungsänderung eingehen, die wir beschließen. Der neue Art. 45 d Abs. 1 des Grundgesetzes lautet: Der Bundestag bestellt einen Ausschuss zur Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes. Ich stelle fest, dass diese Regelung erfreulicherweise schon in sprachlicher Hinsicht dem puristischen Duktus des Grundgesetzes entspricht. Kurz und knapp wird eine Aufgabe des Parlamentes definiert. Diese Regelung stellt aber auch einen verfassungspolitischen Fortschritt dar; denn die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste stellt einen Sonderfall im Gesamtsystem der parlamentarischen Kontrolle der Exekutive dar. Sie weist zwei Besonderheiten auf, die man ausgleichen muss. Eine Besonderheit ist: Wer Nachrichtendienste will, muss Geheimhaltung und Geheimschutz akzeptieren. Das gehört wesenhaft zu Nachrichtendiensten. ({4}) Das zu bestreiten, heißt, dass man gegen Nachrichtendienste ist. Aus dieser Besonderheit der parlamentarischen Kontrolle, die nicht so erfolgen kann wie die übliche Kontrolle, die auf Öffentlichkeit abzielt, ziehen wir aber nicht die Konsequenz, dass es keine Kontrolle des Parlaments geben darf. Vielmehr gibt es ein besonderes Gremium, das stellvertretend die Kontrollrechte - nicht einer Minderheit, sondern des gesamten Parlamentes wahrnimmt. In diesem Gremium sitzen nur einige wenige Abgeordnete, die das Vertrauen des gesamten Parlamentes genießen. Darauf ist dieses Gremium angewiesen. Dafür bedarf es der verfassungsrechtlichen Anerkennung der Besonderheit dieser parlamentarischen Kontrolle und wirksamer Instrumente, damit das Versprechen, dass diese Abgeordneten stellvertretend parlamentarische Kontrolle der Exekutive ausüben, wirklich eingelöst wird. Ich komme zum Schluss. Der Gesetzentwurf zu den Nachrichtendiensten und der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, die wir vorlegen, beinhalten eine Stärkung des Parlaments, eine Stärkung der Instrumente zur Kontrolle der Regierung, eine verfassungsrechtliche Absicherung und damit die Legitimation der parlamentarischen Tätigkeit. Darum sind beide Gesetzentwürfe im Hinblick auf das Selbstverständnis des Parlaments, aber auch im Hinblick auf die Gewährleistung seiner Funktion, die Regierung zu kontrollieren, gute Gesetzentwürfe. Wir bitten um Zustimmung und freuen uns darüber - das will ich noch einmal abschließend bekunden -, dass eine der Oppositionsfraktionen, nämlich die FDP-Fraktion, erklärt hat, dass dieses Thema das institutionelle Selbstverständnis betreffe und sie daher keine oppositionelle Haltung einnehme, sondern konstruktiv und kooperativ mitarbeite. Sie hat ihre Vorstellungen eingebracht und umgesetzt. Wir werden die Gesetzentwürfe mit breiter Mehrheit beschließen, wofür wir uns bedanken. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, will ich darauf hinweisen, dass während der Rede des Kollegen Röttgen aus den Reihen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen - wenn ich es richtig lokalisiere, war es der Kollege Hofreiter - der Begriff „Oberheuchler der CDU“ gefallen ist. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ein solcher Ausdruck hat in der parlamentarischen Auseinandersetzung in unserem Haus keinen Platz. ({0}) Ich erteile Ihnen, Herr Kollege, eine Rüge. ({1}) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt - Wie dieses bewertet wird, ist meine Angelegenheit. ({2}) Nun erteile ich zur weiteren Beratung dem Kollegen Michael Hartmann für die SPD-Fraktion das Wort. ({3})

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist immer ein Privileg, wenn man am Ende einer Sitzungswoche an einem Freitagnachmittag, wenn alle berechtigterweise in ihre Wahlkreise oder nach Hause wollen, der Schlussredner vor einer namentlichen Abstimmung sein darf. Der Saal ist immerhin voll, die Zuhörerschaft aber woanders. Ich will dennoch den Versuch machen, einige Punkte zu ergänzen, die mir in der bisherigen Debatte entweder zu kurz gekommen sind oder die ganz fehlten. Erstens. Wir haben viel über unsere geheimen Nachrichtendienste geredet, und wir haben viel darüber gesprochen, wie relevant, wichtig und notwendig es doch ist, diese zu kontrollieren. Wohl wahr. So richtig, wie diese Feststellung ist, ist aber auch die Feststellung richtig, die mir bisher gänzlich fehlt, nämlich dass wir mit unseren geheimen Nachrichtendiensten in diesem Rechtsstaat ein großes Pfund haben, mit dem wir wuchern können, um unsere innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Die Menschen, die dort ihre Arbeit - nicht hoch bezahlt - tun, haben ein Dankeschön verdient. ({0}) Ihnen ist während der letzten Jahre nicht wenig zugemutet worden, nicht nur durch Skandalisierungen, die zum Teil von den Diensten selbst zu verantworten waren, ihnen zum Teil aber auch von außen zugeschrieben wurden, sondern auch durch notwendige und unvermeidliche Reformen und organisatorische Umstellungen. Ich glaube, dass man all das im Auge haben muss, wenn man über unsere Dienste immer nur so diskutiert, als seien diese ein einziger Verein, der bloß Skandale produziert, aber keine Ergebnisse. Wir brauchen in Wirklichkeit diese gut funktionierenden Dienste, insbesondere unseren geheimen Auslandsnachrichtendienst, den BND, zum Beispiel um in Situationen, wie sie mittlerweile gang und gäbe sind, den Schutz von Soldatinnen und Soldaten unserer Bundeswehr zu ermöglichen, Herr Verteidigungsminister. Das alles soll nicht vergessen werden, auch nicht in der heutigen Debatte. Ich schicke das ausdrücklich vorweg; denn ich glaube, dass das genauso wichtig ist wie die Tatsache, dass das Fehlverhalten, das es dort gab und das schon angesprochen worden ist, angeprangert wird. Allerdings muss man sich ungerechtfertigte Kritik nicht gefallen lassen. Nicht jeder Beitrag aus der Politik hat nur stabilisierend in den Dienst hineingewirkt. Es ist deshalb gut, dass wir mit dem neuen Gesetz durch mehr Transparenz und Kontrolle für das Parlamentarische Kontrollgremium zur Versachlichung mancher Debatten beitragen, indem beispielsweise durch mehr Mitarbeiter als bisher, durch eine erweiterte Aktenvorlage, durch Zutrittsrechte, durch Veröffentlichungsrechte und durch die sogenannte Whistleblower-Regelung diese Kontrolle vernünftig ausgeweitet wird. Insofern verstehe ich nicht, warum Sie, Herr Ströbele, der Sie ja vorhin ausgeführt haben, dass wir unter RotGrün einen guten Weg begonnen haben, jetzt nicht sagen können - so sieht die FDP das ja -, dass dieser gute Weg nun weiter beschritten wird und die Kontrolle der Nachrichtendienste in unserem demokratischen Verfassungsstaat weiter verbessert wird. Eigentlich müssten Sie von der Logik Ihrer eigenen Argumentation her diesem Gesetz bedingungslos zustimmen, Herr Ströbele. ({1}) Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen, der ja in der Debatte eine Rolle gespielt hat. Herr Nešković, Sie haben unter anderem bemängelt, dass die vorgesehene Zwei-Drittel-Hürde so sehr binden und die Möglichkeiten einschränken würde, dass es der faktisch allein kontrollierenden Opposition gar nicht möglich sei, eine Kontrolle auszuüben und Rechte gegenüber der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Ich bitte Sie, darüber noch einmal einen Moment nachzudenken. Denn zum einen hat der Kollege Röttgen sehr richtig ausgeführt, dass auch Regierungsabgeordnete kontrollierende Abgeordnete sind, und wer die Debatten gerade über dieses Gesetz vor und hinter den Kulissen mitbekommen hat, weiß nur zu gut, dass hier ein selbstbewusstes Parlament bis in die letzte Sekunde einer ebenfalls selbstbewussten Regierung gegenüberstand. Schon das ist ein Beleg dafür, dass eine Kontrolle möglich ist. Ich will aber noch ein anderes Argument anfügen, das Sie vielleicht weniger nachvollziehen können, von dem ich aber überzeugt bin. Das Parlamentarische Kontrollgremium ist nicht vergleichbar mit jedem beliebigen anderen Ausschuss - nicht nur wegen der Sachverhalte, die da notwendigerweise geheim behandelt werden müssen, sondern noch aus einem ganz anderen Grund. Die Fragen, die im Kern berührt werden, das Staatswohl, der Schutz von Leib und Leben, verlangen, dass man einen eigenen Komment in diesem Gremium herausbildet und feststellt, was geht und was nicht geht. Das ist ja nun wahrhaftig gerade in dieser Wahlperiode geschehen. Der Untersuchungsausschuss ist an die Öffentlichkeit getreten. Es gab Minderheitenvoten, und es gab auch Rügen, die so deutlich wie nie zuvor in der Parlamentsgeschichte auch offenkundig und ruchbar wurden. Das alles, Herr Nešković, ist eben Zeugnis dafür, dass man sich bewusst ist, dass es zwar um die Kontrolle der Dienste geht, aber nicht etwa um eine Dauerskandalisierung aller möglichen Sachverhalte oder eine permanente Begleitkontrolle der geheim arbeitenden Nachrichtendienste. ({2}) Das kann, darf und wird nicht sein. Michael Hartmann ({3}) Achten Sie doch darauf, dass bei der Kontrolltätigkeit dieser gute Komment weiterhin gewahrt wird - Sie haben ja alle Chancen dazu -, aber achten Sie auch darauf, dass nicht jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf gejagt wird, was es unmöglich macht, dass unsere Dienste überhaupt noch arbeiten können. ({4}) - Herr Ströbele, Sie haben vorhin ja schon dunkle Andeutungen zum Thema Untersuchungsausschuss gemacht. Das Parlamentarische Kontrollgremium hatte zu allen Sachverhalten, mit denen sich der Untersuchungsausschuss befasst hat, Feststellungen getroffen. ({5}) Wissen Sie was? - Der Untersuchungsausschuss hat mit seinen weiterreichenden Mitteln keinen Deut mehr herausgearbeitet als das Parlamentarische Kontrollgremium. ({6}) Was ist eigentlich Ziel Ihrer Kritik? - Das Parlamentarische Kontrollgremium, weil es so gut war, oder der Untersuchungsausschuss, weil er nicht gut genug war? Vielleicht liegt die Wahrheit darin: Es ist nichts dran an all diesen Skandalen, die Sie permanent unterstellen. ({7}) Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. Der müssen Sie sich wohl oder übel stellen. Ich würde mir wünschen, dass die Regierung keine Angst vor dem Parlament hat, das jetzt und in Zukunft souverän, aber auch staatsbewusst kontrollieren wird, und ich würde mir wünschen, dass manche Seite des Hauses keine Angst vor Nachrichtendiensten hat, die in einem demokratischen Rechtsstaat ihre Pflicht tun, und vor allem, meine Damen und Herren von den Grünen und noch mehr den Linken, dass in einem demokratischen Rechsstaat manche Seite keine Angst vor Worten wie „Staatswohl“ und „Staatsräson“ hat. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes; Art. 45 d. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13220, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 16/12412 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/13234? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan- trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetzentwurfs die Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages er- forderlich ist. Das sind mindestens 408 Stimmen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlan- gen der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP na- mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- führer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstim- mung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- führer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen, damit die Lage für mich übersichtli- cher wird; wir haben noch eine Reihe von Abstimmun- gen durchzuführen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortentwicklung der parlamentari- schen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/13220, den Gesetzent- wurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 16/12411 in der Ausschussfassung anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Lesung angenommen. 1) Ergebnis Seite 24910 C Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Abstimmung über die Beschlussempfehlung des In- nenausschusses zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Kontrollgremiumgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/13220, den Gesetzent- wurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1163 für erledigt zu erklären. Auch über diese Beschlussempfeh- lung müssen wir abstimmen. Wer also dieser Beschluss- empfehlung zustimmen will, den bitte ich um das Hand- zeichen. - Ist jemand dagegen? - Enthält sich jemand? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmi g ange- nommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Verbesse- rung der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste sowie eines Informationszugangsrechts. Der Innenaus- schuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13220, den Gesetzentwurf der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12189 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dage- gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der FDP gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Kontrollgremiumgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 5 seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/13220, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12374 abzu- lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dage- gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen abgelehnt. Damit entfällt auch hier die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 38 b. Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel: „Überwachung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz beenden“. Der Ausschuss emp- fiehlt unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13220, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5455 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 39 a und 39 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föderalismusreform - Drucksache 16/12409 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föderalismusreform - Drucksache 16/12882 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 16/13209 Berichterstattung: Abgeordnete Markus Grübel Angelika Graf ({1}) Sibylle Laurischk Elke Reinke Britta Haßelmann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Britta Haßelmann, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Betreutes Wohnen für ältere Menschen - Qualitätskriterium Nutzerorientierung - Drucksachen 16/12309, 16/13209 Berichterstattung: Abgeordnete Markus Grübel Angelika Graf ({3}) Sibylle Laurischk Elke Reinke Britta Haßelmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Markus Grübel für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({4})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Föderalismusreform I, in Kraft getreten am 1. September 2006, sind die öffentlich-rechtlichen Zuständigkeiten des Heimrechts, Stichwort „Heimaufsicht“, auf die Länder übergegangen. BadenWürttemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen haben inzwischen Landes-Heimgesetze erlassen. Dass die Zuständigkeit auf die Länder übergeht, war nicht unstreitig. Auch ich hätte es lieber gesehen, wenn das Heimrecht in Bundesverantwortung geblieben und so einer Rechtszersplitterung vorgebeugt worden wäre. Aber das war Teil eines Kompromisses, wie ihn jeder verantwortungsvolle Politiker gelegentlich eingehen muss, um eine insgesamt gute Sache wie die Föderalismusreform I auf den Weg zu bringen. Beim Bund verblieb die Zuständigkeit für den zivilrechtlichen Teil des Heimrechts. Hier sind insbesondere die §§ 5 bis 9 und § 14 des jetzigen Heimgesetzes des Bundes betroffen. Es ist gut und sachgerecht, dass das Bürgerliche Recht und Nebengesetze beim Bund verbleiben - da sind Zuständigkeiten des Bundes gegeben und zumindest in diesem Bereich keine Rechtszersplitterung vorliegt. Auch im Hinblick auf den Verbleib dieser Zuständigkeit gab es unterschiedliche Meinungen. So haben zwei Bundesländer im Bundesrat eine andere Meinung vertreten. Ich denke aber, diese Diskussion ist ausgestanden. Ziel unseres Gesetzes ist mehr Verbraucherschutz für ältere Menschen, für Menschen mit Behinderung und für pflegebedürftige Menschen; diese Personengruppen sind besonders schutzwürdig. Es geht aber auch um die Menschen, die um die älteren, behinderten und pflegebedürftigen Menschen herum ihr Leben organisieren müssen. Darum ist es nötig, ein besonderes Gesetz dafür zu machen. Betroffen sind in Deutschland mehr als 700 000 Menschen in rund 10 000 Heimen, aber auch Menschen, die in anderen Wohnformen, in sogenannten betreuten Wohnformen leben. Auf den ersten Blick sind die zivilrechtlichen Vorschriften des Heimrechts eine trockene Materie, eine Materie für Rechtspolitiker. Tatsächlich ist dies ein spannendes Politikfeld, ein seniorenpolitisches, aber auch gesellschaftspolitisches Arbeitsfeld, weil es letztendlich darum geht, das Wohnen im Alter bzw. Betreuung und Pflege zu regeln. Es ist gut, dass die Zuständigkeit beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und damit beim Familienausschuss liegt, weil wir uns mit solchen Themen intensiv befassen. Ziel dieses Gesetzes ist es, das Heimrecht zu einem modernen Verbraucherschutzrecht weiterzuentwickeln. Sie merken schon: Die Begrifflichkeiten haben sich geändert. Aus dem „Bewohner“ ist der „Verbraucher“ geworden. Auf der anderen Seite steht der Unternehmer. Das klingt kalt, wird aber dem Anliegen des Verbraucherschutzes von der Sprache her besser gerecht. Sektorales Denken wie „Hier das Heim, dort die anderen Betreuungs- und Wohnformen“ wird aufgehoben. Dadurch, dass wir nicht mehr am Begriff „Heim“ bzw. an der Institution Heim anknüpfen, bedarf es künftig keiner Experimentierklausel mehr. So werden neue Wohnformen möglich und können in der Praxis weiterentwickelt werden, ohne dass das Gesetz angepasst werden muss. Das Gesetz gilt für volljährige ältere Menschen, für Menschen mit Behinderung und für pflegebedürftige Menschen. Das Gesetz gilt dann, wenn Wohnraum überlassen wird in Verbindung mit Pflege und Betreuung. Es gilt nicht, wenn bei Wohnraumüberlassung nur allgemeine Unterstützungsleistungen erbracht werden, zum Beispiel Hausmeisterdienste, Vermittlungsdienste und Ähnliches. Spaßeshalber habe ich beim ersten Entwurf gesagt: Wenn wir nicht aufpassen, sind auch die Kollegen, die in der Bundesschlange wohnen, betroffen und müssen künftig nach dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz einen Vertrag abschließen; denn in der Bundesschlange werden ja auch gewisse Dienstleistungen - Hausmeisterdienste, Conciergendienste usw. - mitgebucht. ({0}) Viele Formen des sogenannten betreuten Wohnens oder Servicewohnens fallen also nicht unter dieses Gesetz. Das ist gewollt. Entscheidend ist, dass der Verbraucher, der Mieter frei ist, die Anbieter zu wählen. Der Verbraucherschutz wird insbesondere dadurch gewährleistet, dass vorvertragliche Informationspflichten bestehen. Die Informationen müssen - bezogen auf die Zielgruppe ist das besonders wichtig - leicht verständlich sein, sie müssen Einzelheiten zur Ausstattung und Lage der Räume und des Gebäudes umfassen. Die Leistungen und Entgelte müssen beschrieben werden, es muss angegeben werden, wie sich Entgelterhöhungen begründen, und das Ergebnis der Qualitätsprüfung nach SGB XI muss enthalten sein. Diskutiert haben wir auch, ob wir die Tages- und Nachtpflege und die Kurzzeitpflege in den Anwendungsbereich aufnehmen. Dagegen spricht, dass die Menschen bei der Tages- und Nachtpflege und der Kurzzeitpflege in ihre alte vertraute Umgebung entweder täglich oder nach gewisser Zeit wieder zurückkehren. Dafür sprechen Gründe des Verbraucherschutzes. Wir haben uns im Ausschuss dafür entschieden, auch diese Gruppe in den Schutzbereich aufzunehmen. Aber wir merken uns das für den Fall, dass wir das Gesetz reformieren. Dann werden wir sehen, ob sich diese Regelung in der Praxis tatsächlich bewährt hat und nötig ist. Wir stimmen nicht nur über das Gesetz, sondern auch über einen Antrag der Grünen ab, auf den ich nun kurz eingehen möchte. Durch das moderne Verbraucherschutzgesetz, also das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz, hat sich der Antrag der Grünen weitgehend erledigt. ({1}) Die anderen gestellten Forderungen beziehen sich auf ordnungsrechtliche Maßnahmen. Die diesbezüglichen öffentlich-rechtlichen Bestimmungen sind aber nicht mehr in der Zuständigkeit des Bundes. Von daher ist die Umsetzung dieses Antrags gar nicht möglich; es sei denn, die Grünen würden gleichzeitig eine Verfassungsänderung beantragen und dann diese Regelungen als Folge der Verfassungsänderung wieder in die Zuständigkeit des Bundes übertragen. Daher erfolgt hier die Ablehnung. ({2}) Ich möchte noch einen kurzen Ausblick geben. Beim Heimvertragsrecht haben wir nun nach der Föderalismusreform I unsere Hausaufgaben gemacht. Wichtige Aufgaben bleiben aber im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung in Deutschland und dem Älterwerden der Gesellschaft. Wir werden im Schnitt jedes Jahr um rund drei Monate älter. Das stellt Herausforderungen an die Gesellschaft, weil ältere Menschen stärker pflegebedürftig und in der Beweglichkeit eingeschränkt sind. Wir brauchen zukünftig mehr barrierearmen Wohnraum in Deutschland, insbesondere dann, wenn die geburtenstarken Jahrgänge das betreffende Alter erreicht haben. Wir müssen die Wohnformen weiterentwickeln, die es älteren und behinderten Menschen ermöglichen, in ihrem angestammten Wohnquartier leben und wohnen zu bleiben, am besten in ihren eigenen vier Wänden. ({3}) Zum Schluss möchte ich mich bei allen Berichterstattern, insbesondere bei den Berichterstattern unseres Koalitionspartners, Frau Graf und Herrn Spanier, ganz herzlich bedanken. Der Gesetzentwurf ist in sehr sachlicher Atmosphäre beraten worden. Mein Dank geht auch an unsere Mitarbeiter, die sehr geholfen haben, und an das Familienministerium. Herr Staatssekretär, mit Ihnen und Ihren Mitarbeitern war es wirklich eine sehr angenehme und konstruktive Zusammenarbeit. An den Beratungen zu diesem Gesetzentwurf hat man auch gesehen, dass das Arbeitsklima in der Großen Koalition zum Wohle der älteren Menschen sehr gut und sehr konstruktiv sein kann. Gestern hat man bei so einem kleinen Foul vermuten können, dass es in der Großen Koalition Streit gibt. Dieser Gesetzentwurf belegt: Wir können gut miteinander arbeiten, wenn es um das Wohl der Menschen geht. Herzlichen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, komme ich auf den Tagesordnungspunkt 38 a zurück und gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 45 d - das sind die Drucksachen 16/12412 und 16/13220 -, bekannt: abgegebene Stimmen 528. Mit Ja haben gestimmt 445, mit Nein 54. Es gab 29 Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist mit der erforderlichen Mehrheit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 528; davon ja: 445 nein: 54 enthalten: 29 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Jochen Borchert ({1}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Cajus Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Dr. Stephan Eisel Anke Eymer ({2}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser ({5}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke-Witt Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({6}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Dr. Kristina Köhler ({8}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({9}) Andreas G. Lämmel Helmut Lamp Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Dr. Michael Luther Thomas Mahlberg Stephan Mayer ({10}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Laurenz Meyer ({11}) Dr. h. c. Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Carsten Müller ({12}) Stefan Müller ({13}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({14}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht ({15}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({16}) Hermann-Josef Scharf Hartmut Schauerte Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({17}) Andreas Schmidt ({18}) Ingo Schmitt ({19}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Marion Seib Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({20}) Lena Strothmann Michael Stübgen Hans Peter Thul Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({21}) Gerald Weiß ({22}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({23}) Elisabeth WinkelmeierBecker Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Dr. Lale Akgün Gregor Amann Dr. h. c. Gerd Andres Rainer Arnold Ernst Bahr ({24}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({25}) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({26}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Martin Burkert Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Karl Diller Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Renate Gradistanac Angelika Graf ({27}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach ({28}) Nina Hauer Dr. Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Petra Hinz ({29}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({30}) Frank Hofmann ({31}) Dr. Eva Högl Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({32}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Christian Kleiminger Astrid Klug Walter Kolbow Karin Kortmann Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({33}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({34}) Ulrike Merten Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({35}) Michael Müller ({36}) Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dr. Erika Ober Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Christoph Pries Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Steffen Reiche ({37}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({38}) Michael Roth ({39}) Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({40}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({41}) Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Ulla Schmidt ({42}) Silvia Schmidt ({43}) Renate Schmidt ({44}) Heinz Schmitt ({45}) Carsten Schneider ({46}) Olaf Scholz Reinhard Schultz ({47}) Swen Schulz ({48}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dieter Steinecke Andreas Steppuhn Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Dr. Rainer Tabillion Jella Teuchner Jörn Thießen Franz Thönnes Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({49}) Hildegard Wester Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({50}) Heidi Wright Uta Zapf Brigitte Zypries FDP Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({51}) Uwe Barth Angelika Brunkhorst Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({52}) Dr. Edmund Peter Geisen Hans-Michael Goldmann Elke Hoff Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Ina Lenke Markus Löning Dr. Erwin Lotter Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel ({53}) Detlef Parr Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Florian Toncar Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({54}) Nein DIE LINKE Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Heike Hänsel Lutz Heilmann Cornelia Hirsch Inge Höger Dr. Barbara Höll Ulla Jelpke Dr. Gesine Lötzsch Dorothée Menzner Elke Reinke Dr. Petra Sitte Dr. Kirsten Tackmann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({55}) Cornelia Behm Birgitt Bender Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz ({56}) Dr. Anton Hofreiter Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Markus Kurth Undine Kurth ({57}) Monika Lazar Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({58}) Brigitte Pothmer Krista Sager Manuel Sarrazin Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Gerhard Schick Rainder Steenblock Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Dr. Harald Terpe Josef Philip Winkler Enthalten SPD Markus Meckel Otto Schily DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Dr. Martina Bunge Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Diana Golze Dr. Gregor Gysi Dr. Hakki Keskin Katja Kipping Monika Knoche Oskar Lafontaine Ulla Lötzer Ulrich Maurer Dr. Norman Paech Paul Schäfer ({59}) Volker Schneider ({60}) Dr. Herbert Schui Frank Spieth Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann Wir kommen zurück zur Debatte. Die Kollegin Sibylle Laurischk hat ihre Rede zu Protokoll gegeben1), sodass ich nun der Kollegin Angelika Graf für die SPDFraktion das Wort erteile.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Grübel hat es eben schon dargestellt: Die Verlagerung des Heimrechts auf die Länder im Jahre 2006 war sehr umstritten, nicht nur innerhalb der SPD-Fraktion, sondern auch - das denke ich - bei der CDU/CSU-Fraktion. ({0}) Wir gleichen nun die beim Bund verbliebenen zivil- rechtlichen Regelungen des ehemaligen Heimrechts der neuen Rechtslage und den modernen Wohnformen an, die veränderte Bedürfnisse bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern auch bezüglich der rechtlichen Rege- lungen hervorgerufen haben. 1) Anlage 19 Die neuen rechtlichen Regelungen betreffen also - ich möchte das ausdrücklich sagen - nicht das Ordnungsrecht mit seinen Vorgaben zur Qualität der Unterbringung, zu Heimbeiräten etc., sondern allein die vertraglichen Rahmenbedingungen. Obwohl der Bund immer die Kompetenz für das Heimvertragsrecht beansprucht hat, haben einige Bundesländer - das hat wohl auch damit etwas zu tun, dass dieses Thema lange im Ministerium liegen geblieben ist - inzwischen eigene Heimgesetze beschlossen, welche zum Teil auch zivilrechtliche Regelungen enthalten. Andere Länder basteln gerade daran herum. Wenn wir weiter zugeschaut hätten, dann würde es wohl nicht nur einen heimrechtlichen Flickenteppich für die Verbraucherinnen und Verbraucher geben. Vielmehr wäre aus diesem heimrechtlichen Flickenteppich ein undurchschaubares Gestrüpp bezüglich aller vertraglichen Regelungen entstanden. Es war überfällig, dass die Bundesseite Verbrauchern und Unternehmern einheitliche zivilrechtliche Regelungen vorlegt. In den letzten Wochen haben wir diesen Entwurf in vielen Gesprächsrunden und auch im Rahmen einer Ausschussanhörung trotz des Zeitdrucks intensiv auf seine Praktikabilität und seine Schwachpunkte abgeklopft. Wir haben wenige Schwachpunkte gefunden. Angelika Graf ({1}) ({2}) Diejenigen, die wir gefunden haben, haben wir zu verändern versucht. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Sachverständigen, den Verbänden, den Verbraucherschützern, den Vertretern von Einrichtungen, die an der Anhörung teilgenommen haben, sowie insbesondere beim Koalitionspartner und den Mitarbeitern der beteiligten Ministerien für die gute Kooperation. ({3}) Das Ergebnis der Mühen ist ein Verbraucherschutzgesetz - Herr Grübel hat es schon dargestellt -, das älteren Menschen, pflege- und betreuungsdürftigen Personen sowie behinderten Volljährigen einen besonderen Verbraucherschutz - auch bei den neuen betreuten Wohnformen - einräumt. Durch das WBVG erhalten diese Personengruppen und die jeweiligen Anbieter eine bundeseinheitliche vertragliche Grundlage. Ziel unseres Gesetzes ist es, die Selbstständigkeit und die Selbstbestimmung auch bei besonderem Hilfebedarf zu sichern und dazu beizutragen, dass diese Personengruppe selbstständig den Alltag meistern und selbstbestimmt Entscheidungen bezüglich ihrer Unterbringung und der benötigten Leistungen treffen kann. Das wird nicht in allen Fällen möglich sein; aber der Gesetzentwurf ist zumindest ein Beitrag für mehr selbstständige Teilhabe, da er durch die Festlegung der rechtlichen Rahmenbedingungen Rechtssicherheit gewährt. Ich bin froh, dass wir in den parlamentarischen Beratungen die Formulierungen hinsichtlich des Anwendungsbereiches weiter konkretisiert haben. Herr Grübel hat schon darauf hingewiesen: Die Bereitstellung eines Hausmeisters fällt nicht unter die vertragsrechtlichen Regelungen. Auch die Einrichtung eines Notrufknopfes in der Wohnung verpflichtet nicht zur Unterzeichnung eines solchen Vertrages. Wer allerdings in einer Einrichtung wohnt und auf Pflegedienste zurückgreift - und wenn diese miteinander verbunden sind -, muss rechtlich über einen entsprechend transparenten Vertrag abgesichert sein. Herr Grübel, wenn Sie in der „Bundesschlange“ solche Dienstleistungen anmieten und eine solche Kombination gegeben ist, dann, denke ich, findet das Heimvertragsrecht auch im Falle der „Bundesschlange“ Anwendung. ({4}) Die SPD hat sich zudem dafür eingesetzt, dass die Einrichtungen nicht holterdiepolter über die Sommerferien neue Verträge vorlegen müssen, und hat deswegen das Inkrafttreten nach hinten verschieben können. Wir werden das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz weiterhin begleiten und haben aufgrund der Schnittstellen mit dem SGB XI und dem SGB XII Anregungen aus der Anhörung zu möglichen Veränderungen, zum Beispiel zu Ausnahmen für die Tag- und Nachtpflege, die Kurzzeitpflege oder für suchtkranke Personen, auf der Agenda, die in der Kürze der Zeit nicht durchgesetzt werden konnten. Doch heute freue ich mich, dass wir nun ein bundeseinheitliches Heimvertragsrecht verabschieden können und der Bundesgesetzgeber im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher seine Rechte wahrt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wer von Ihnen möchte denn gern im Heim leben? - Das ist übersichtlich: offensichtlich niemand. Das kann ich auch verstehen. Aber wieso denn eigentlich nicht nach diesem tollen Gesetz? - Immer noch nicht? Das kann ich immer noch verstehen. Denn wenn die wichtigste Veränderung darin besteht, dass man künftig nicht mehr Bewohner oder Bewohnerin ist, sondern Verbraucher, dann ist das wirklich ein bisschen schwach. ({0}) Die wirklichen Probleme von Menschen, die auf Pflege, Hilfe und Assistenz angewiesen sind, ob im Alter oder wegen Behinderung, werden mit diesem Gesetz bedauerlicherweise nicht gelöst. Unabhängig davon verkenne ich nicht, dass es notwendig ist, bestimmte Regelungen zu treffen. Das liegt aber daran, dass Sie vor drei Jahren das Heimrecht weitgehend in die Länderhoheit gegeben haben und sich heute wundern, dass Sie nichts mehr zu sagen haben. ({1}) Wir haben damals schon davor gewarnt und gesagt, dass dies falsch sei. Nun hat Herr Struck zumindest in einem anderen Zusammenhang einmal gesagt, dass bei der Föderalismusreform I einige Fehler begangen worden seien. Hier ist ein weiterer. Jetzt müssen wir retten, was zu retten ist. Wie gesagt, die Föderalismusreform war vor drei Jahren. Daher finde ich es erstaunlich, dass die SPD-Fraktion jetzt sagt, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Beratungszeit hätten die erforderlichen Veränderungen nicht mehr ausgearbeitet werden können. Drei Jahre sind reichlich Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen; wir müssen schon einmal die Kirche im Dorf lassen. Sie wissen so lange wie ich, welche Probleme auf der Tagesordnung stehen, und Sie hätten so lange wie wir die Zeit gehabt, die Beamten im Ministerium damit zu beauftragen, entsprechende Texte auszuarbeiten. Diese Ausrede hilft den Betroffenen wirklich nicht. ({2}) Der Maßstab auch für dieses Gesetz muss die UNKonvention über die Rechte für Menschen mit Behinderungen sein, die inzwischen innerstaatlich geltendes Recht ist. Dort steht zum Beispiel in Art. 19, dass nie24914 mand gezwungen werden darf, gegen seinen Willen mit jemandem, den er nicht kennt oder nicht mag, ein Zimmer zu teilen. Was haben wir denn jetzt wirklich erreicht? Was haben die Verbraucherinnen und Verbraucher künftig für tolle Rechte? Sie haben immer noch keinen eigenen Schlüssel. Angesichts dessen braucht man nicht mehr von Selbstbestimmung zu reden. ({3}) Sie haben immer noch nicht das ausdrückliche Recht auf geschlechtergleiche Assistenz und Pflege. Sie haben immer noch keine vernünftige Regelung, aufgrund derer sie selbst bestimmen könnten, welches Haustier sie haben möchten. Bitte schön, wenn wir von Selbstbestimmung und von den Bedürfnissen der Menschen reden, dann ist dies etwas, was man niemandem verwehren sollte. Es gibt noch nicht einmal ein uneingeschränktes Besuchsrecht. Wenn ich irgendwo wohne und mir nicht aussuchen kann, wer mich wann und wie lange besucht, dann hat dies mit Selbstbestimmung nicht viel zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich sage ausdrücklich, dass Regelungen sein müssen. Der jetzige Zustand ist unhaltbar. Insofern werden wir nicht gegen Ihr Gesetz stimmen, obwohl wir so viele Kritikpunkte haben, sondern wir werden uns der Stimme enthalten. Damit bringen wir ganz klar zum Ausdruck, dass wir nicht den Weg verwehren, bestimmte notwendige Regelungen zu schaffen. Aber ein Beitrag zu dem in Ihrem eigenen Koalitionsvertrag versprochenen Paradigmenwechsel ist dieses Gesetz nicht. ({4}) Insofern gehört es zum Ende der Legislaturperiode nicht auf die Haben-, sondern auf die Negativseite Ihrer Bilanz. Es tut mir leid, dass man das so sagen muss. Ich hoffe, dass die Menschen eines Tages auf die Frage „Möchten Sie in einer Wohnung oder in einem Zimmer wohnen, das unter das Heimgesetz fällt?“ sagen: Ja, davor habe ich keine Angst mehr. Momentan wollen dies weder Sie noch ich noch vermutlich irgendjemand auf der Tribüne. Das müssen wir wirklich ändern. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass Sie diese Dinge demnächst wirklich einmal berücksichtigen werden. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Heimgesetzes verspricht uns ein wahres Reformfeuerwerk. Es verspricht uns ein Umdenken gegenüber der alten Regelung. Je genauer wir hinschauen, desto klarer wird uns aber, dass das ein Scheinriese ist; denn es ist beim Versuch geblieben, den Verbraucherschutz in die alte Systematik einfließen zu lassen. Die Koalition versäumt somit einen wichtigen Schritt hinsichtlich der umfassenden Schutzstellung von Verbraucherinnen und Verbrauchern in ähnlichen Wohn- und Betreuungsformen, im sogenannten betreuten Wohnen. ({0}) Versäumt hat die Große Koalition auch den richtigen Zeitpunkt; das wurde eben erwähnt. Viele Bundesländer haben ihre Hausaufgaben schon lange gemacht. ({1}) Sie haben die ihnen zugeteilte ordnungsrechtliche Regelungsrolle nach der Föderalismusreform wesentlich schneller umgesetzt als die Bundesregierung. Dadurch kam es hier zu unschönen Überschneidungen, zu Überregulierungen und zu Unstimmigkeiten. Wir haben dieses Dilemma bei der Föderalisierung des Heimgesetzes prophezeit und - leider - recht behalten. ({2}) Die Große Koalition hat zudem die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Das Gesetz ist von seiner Denkweise nichts weiter als ein lauwarmer Aufguss des alten Heimgesetzes. ({3}) Das ist uns Grünen nicht genug. Wir fordern die stärkere Durchlässigkeit und die Verschränkung der unterschiedlichen Bereiche. Wir müssen für die Zukunft in neuen Dimensionen denken. Das ist gerade im Hinblick auf den sich verändernden Bedarf und das neue Selbstverständnis von Älteren und von Menschen mit Behinderung ganz besonders wichtig. Es ist doch klar: Wir wollen keine Überregulierung von alternativen und sich neu entwickelnden Wohnformen. Was wir wollen, ist Verbraucherschutz für all diejenigen, die einen erhöhten Hilfe- und Betreuungsbedarf haben. Das trifft auch auf die Klientel des sogenannten betreuten Wohnens zu. ({4}) Wir alle hier wissen doch: Die Inhalte der Angebote, zum Beispiel beim betreuten Wohnen, sind häufig völlig unklar. Warum schaffen Sie als Große Koalition nicht die notwendige Klarheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher? Wir sollten die Drohgebärde der Unternehmer vom Ausstieg aus dem Segment „Betreutes Wohnen“ ignorieren. Glauben Sie mir, dieser Bereich ist äußerst attraktiv und verspricht in den nächsten Jahren ein deutliches Wachstum. An Ausstieg denkt hier im Unternehmerbereich wirklich kein Mensch. ({5}) Uns sollte es um die Menschen gehen, die in die Irre geführt werden. Oft genug versprechen Angebote eine Betreuung, halten dieses Versprechen aber nicht. ({6}) Stellen Sie sich doch einmal vor: Sie sind 79 Jahre alt. Sie wohnen alleine. Sie bemerken, es ist keiner für Sie da, ansprechbar, wenn Sie im Krankheitsfall Unterstützung brauchen. Sie treffen den Entschluss zum Umzug in eine geeignete, altengerechte Wohnform. Sie stellen sich vor, dass das der letzte Umzug in Ihrem Leben ist. Damit stellt sich für Sie die Frage: Wohin? Betreutes Wohnen klingt gut. Da scheint es Wohnen mit Betreuung zu geben, und genau das suchen Sie doch eigentlich. Der Vertrag ist schnell unterzeichnet. Fragen stellen Sie vielleicht einige, aber es waren, wie sich nach dem Umzug zeigt, nicht die richtigen oder zu wenige Fragen. Die vermeintliche Betreuung gibt es gar nicht, und wenn doch, dann nur gegen Zahlung einer meist teuren Zusatzpauschale. Aber nun sind Sie einmal umgezogen und können nicht mehr zurück. Noch dazu bemerken Sie bei Eintritt der Pflegebedürftigkeit, dass Sie hier nicht bleiben können und dürfen. Ein erneuter Umzug steht an. Gesagt hat Ihnen das vor Einzug niemand, aber vielleicht stand das ja im unverständlichen Kleingedruckten. Sie sehen die Problematik, und das ist kein Einzelfall. Das war für uns Veranlassung, unseren Antrag zu stellen. ({7}) Anbieter und Verbraucherinnen und Verbraucher assoziieren etwas völlig Unterschiedliches mit der Wohnform „betreutes Wohnen“. Das Einzugsalter liegt derzeit zwischen 75 und 79 Jahren, Tendenz steigend. Die gesundheitliche Einschränkungen in dieser Gruppe sind deutlich erhöht: 70 Prozent der Menschen, die betreutes Wohnen in Anspruch nehmen, gelten als chronisch krank und 70 Prozent als eingeschränkt mobil. Das zeigt uns doch ganz klar, dass hier ein erhöhter Hilfe- und Schutzbedarf vorhanden ist. Der Markt ist vollkommen undurchsichtig. Wegen mangelnder Mindeststandards können Angebote kaum miteinander verglichen werden. Das schwächt die Rolle der Verbraucherinnen und Verbraucher. Die älteren Menschen müssen selbst zusehen, wie sie an verfügbare Informationen kommen, sofern ein Zugriff darauf überhaupt möglich ist. Die Verbraucher haben einen Anspruch auf Information vor Vertragsabschluss; das ist übrigens ein Zitat der CDU/CSU. ({8}) Aber leider gilt dieser Anspruch bei der Großen Koalition nur begrenzt. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Das ist durch die Anhörung, durch Äußerungen von Vertretern des Verbraucherschutzes nur noch deutlicher geworden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit?

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Ende. Wir Grünen fordern einen Verbraucherschutz, der auf den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher - und nicht auf den der Unternehmer - abzielt. Die diesbezügliche Änderung des Referentenentwurfs war das falsche Zeichen. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut und richtig, dass wir heute diese Debatte führen, aber noch wichtiger ist, dass wir die Debatte zu den richtigen Themen führen. Bei allem Verständnis für vieles von dem, was Sie hier gesagt haben, Herr Dr. Seifert: In Ihren Ausführungen ging es um etwas ganz anderes, nämlich um Standards und Qualitätsanforderungen, und die werden nun einmal im ordnungsrechtlichen Bereich geregelt, für den der Bund nicht zuständig ist. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen. ({0}) Viele Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker aus mehreren Fraktionen haben damals Einsprüche gegen die Übertragung dieses Verantwortungsbereichs eingelegt, aber alle 16 Bundesländer waren sich einig, ganz unabhängig von den jeweiligen Koalitionen in den Bundesländern. Auch Nordrhein-Westfalen, Frau Scharfenberg, Frau Haßelmann, das damals noch eine rot-grüne Regierung hatte, war dafür. Das muss man noch einmal erklären, damit hier nicht Legenden gesponnen und überflüssige und falsche Schuldzuweisungen ausgesprochen werden. ({1}) Wir müssen mit diesem Faktum umgehen. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass wir den schmalen Bereich, in dem es nur um die zivilrechtliche Regelung des Vertragsrechts geht, inhaltlich ausfüllen. Das haben übrigens, Frau Scharfenberg, die Verbraucherschutzverbände durchaus bestätigt. Selbstverständlich gab es kritische Anmerkungen zu dem einen oder anderen Detail. Um auf das von Ihnen angeführte Beispiel „betreutes Wohnen“ zu kommen: Wenn es um die Überlassung von Wohnraum plus Pflege- und Betreuungsleistungen geht, dann gelten die Grundsätze für die Vertragsregelung, die wir jetzt gleich beschließen werden. Das ist damit abgedeckt, und das ist auch gut so. Natürlich gibt es Wohnformen - die Begriffe sind häufig unklar: betreutes Wohnen, Service-Wohnen -, bei denen nur unterstützende Haushaltsdienstleistungen angeboten werden, zum Beispiel Putzhilfe, wo von Pflege und Betreuung im eigent24916 lichen Sinne überhaupt nicht die Rede ist. Dass auch in solchen Fällen, in denen es nur um reine Haushaltsdienstleistungen geht, diese heimvertraglichen Regelungen gelten müssen, halten wir für überflüssig. Die Bereiche sind manchmal schwierig abzugrenzen - das will ich gerne einräumen -, ({2}) aber in dem entscheidenden Bereich, wo beides zusammenkommt, die Überlassung von Wohnraum plus Pflege- und Betreuungsleistungen, und die Gefahr einer doppelten Abhängigkeit besteht, greift diese Regelung, die wir heute beschließen. Alle Sachverständigen und einschlägigen Verbände und Organisationen haben uns ausdrücklich bestätigt, dass hier ein vernünftiger Gesetzentwurf zustande gekommen ist. Das entscheidende Ziel war, mehr Information und mehr Transparenz zu erreichen. Dieses Ziel wird durchaus erreicht. Dies geht auch einher mit der grundsätzlichen Anforderung der Selbstbestimmung, Herr Dr. Seifert, aber nur in diesem schmalen Bereich. Es gibt andere - ich gebe gerne zu: viel wichtigere - Bereiche, in denen wir das noch durchsetzen müssen. Aber das ist doch kein Grund, gegen dieses Gesetz, das nur diesen schmalen Bereich regelt, zu argumentieren und ihm möglicherweise sogar nicht zuzustimmen. Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar. ({3}) Meine Damen und Herren, auch wenn wir es heute in parlamentarischer Routine abhandeln, ist es schon ein bedeutsames Gesetz. Es betrifft - Herr Grübel hat die Zahl vorhin genannt - etwa 700 000 Menschen, und diese Zahl wird wachsen. Es ist wahrscheinlich nicht nur in unserem heimischen Ostwestfalen so, dass die Zahl der Hochbetagten, der über 80-Jährigen, bis 2020 um 20 Prozent steigen wird. Das heißt, immer mehr Menschen kommen in die Situation „Wohnen plus Pflegeund Betreuungsleistungen“. Deshalb ist es ganz wichtig, dass hier endlich die Informationspflichten verstärkt werden, der Status als Verbraucher betont wird und der Verbraucherschutz ein deutlich höheres Gewicht bekommt. Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Ganz wichtig ist, dass dieses Gesetz die Vielfalt der Wohnformen im Alter - ich weiß, wovon ich rede - nicht behindert, sondern stärkt. Ich bin aber ganz sicher: Auch dieses Gesetz ist nicht für die Ewigkeit gemacht. Auch hier wird man die rasante Entwicklung der nächsten Jahre beobachten müssen. Ich hoffe, dass dieses Gesetz dann wieder auf den Prüfstand kommt und an die gesellschaftliche Wirklichkeit angepasst wird. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst im Rahmen des Tagesordnungspunktes 39 a über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föderalismusreform. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13209, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12409 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der zweiten Beratung angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föderalismusreform. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13209, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12882 für erledigt zu erklären. Gleichwohl müssen wir über diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer ist dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 39 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Betreutes Wohnen für ältere Menschen - Qualitätskriterium Nutzerorientierung“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13209, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12309 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 40 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph Waitz, Hans-Joachim Otto ({1}), Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Inoffizielle Stasi-Mitarbeiter in Bundesministerien, Bundesbehörden und Bundestag enttarnen - Aufarbeitung des Stasi-Unrechts stärken - Drucksachen 16/9803, 16/12982 Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk Christoph Waitz Katrin Göring-Eckardt Für die Beratung ist interfraktionell eine halbe Stunde vereinbart. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({2})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor fast einem Jahr, am 25. Juni 2008, hat die FDP den Antrag gestellt, der die Überschrift trägt: „Inoffizielle Stasi-Mitarbeiter in Bundesministerien, Bundesbehörden und Bundestag enttarnen - Aufarbeitung des Stasi-Unrechts stärken“. In der ersten Lesung zu diesem Antrag, am 17. Oktober letzten Jahres, habe ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklärt, dass das in der Überschrift des Antrages erklärte Ziel richtig ist und von uns voll unterstützt wird. ({0}) Das gilt nach wie vor und bleibt ein Auftrag für die Zukunft. Die Überschrift ist in Ordnung. Sie ist quasi ein Motto, das Sie auch überall in unseren Programmen finden. ({1}) Im Rahmen der Diskussion über die Forschreibung des Gedenkstättenkonzeptes des Bundes haben wir, die Koalition, Erfolge, aber auch Defizite erkannt, aufgenommen und festgeschrieben. Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Da sind alle gefragt: Politik auf allen Ebenen, Medien, Schulen, Zeitzeugen und die Wissenschaft. Besser wäre auch, die Täter sagten selbst, was war, und ließen sich nicht immer von Gerichten oder der Öffentlichkeit die notwendigen Informationen aus der Nase ziehen. ({2}) Aber das wird wohl eine Hoffnung bleiben. ({3}) Dass die Aufarbeitung intensiver werden muss und eine Zukunftsaufgabe bleibt, die wir ernsthaft betreiben, wird zum Beispiel durch die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes verdeutlicht. Die Pflicht zur Überprüfung herausgehobener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist weiterhin gesetzlich geregelt. Wir werden in der nächsten Wahlperiode sicherlich die Frage zu beantworten haben, was nach dem Jahr 2011 passieren soll. Wenn es die FDP mit ihrer in Punkt 5 erhobenen Forderung hinsichtlich einer flexibleren Regelung zur Überprüfung der Stasimitarbeit von Beamten und Angestellten der Bundesministerien und nachgeordneten Bundesbehörden im Sinne einer Verdachtsprüfung ernst meint, dann bin ich auf den konkreten Vorschlag der FDP zur Ausgestaltung dieser Regelung gespannt. Es ist ja nur eine Absicht. Aus den vergegangenen sieben Novellen zum Stasi-Unterlagen-Gesetz ist mir keine einzige Initiative der FDP in dieser Richtung in Erinnerung, eher umgekehrt. ({4}) Die Ernsthaftigkeit der Aufarbeitung in der CDU/ CSU-Fraktion wird unter anderem durch unsere Hartnäckigkeit bei der gesetzlichen Gestaltung der Opferrente verdeutlicht. Wir waren es, die Täter und Opfer immer wieder in Relation gesetzt haben. ({5}) Ein Schlussstrich unter die Aufarbeitungsdebatte kommt für uns also nicht infrage. ({6}) Das lassen wir uns auch von niemandem unterstellen. ({7}) Dafür setzen sich unsere Vertreter in den entsprechenden Gremien ein, zum Beispiel im Beirat der Birthler-Behörde und bei der Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur. Gerade ist der neue Bildungskatalog erschienen. Die Materialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit werden immer besser und vollständiger; sie müssen aber auch genutzt werden. Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch die Regelung zur Überprüfung von uns Bundestagsabgeordneten, die auf der Grundlage einer persönlichen Einwilligung erfolgt. In einer für jedermann zugänglichen Drucksache des Deutschen Bundestages wird das Ergebnis veröffentlicht. Wir sorgen für Transparenz. Ich empfehle allen, einen Blick in die veröffentlichten Ergebnisse der Überprüfung der Abgeordneten der letzten beiden Legislaturperioden zu werfen. Will man die Überprüfung aller ehemaligen Abgeordneten erreichen, wie es vorgeschlagen ist, muss die persönliche Einwilligung eingeholt werden. Auch die FDP kann sich in dieser Frage nicht über die Grundsätze des Bundesverwaltungsgerichtes hinwegsetzen. Heute blicken wir auf beinahe 19 Jahre Aufarbeitungsgeschichte zurück. Vieles ist gut gelungen; dies zeigt zum Beispiel der jüngst vorgestellte Neunte Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten. Nach wie vor gibt es ein intensives Interesse, persönlich Akteneinsicht zu nehmen. Ich will hier offen meinen Wunsch aussprechen, dass die Menschen in unserem Land den Mut finden, in ihre Akte zu schauen, weil manchmal nur durch Querverbindungen und das eigene Erinnern und Wissen über eine konkrete Situation etwas zum Vorschein kommt. So werden Verstrickungen aufgedeckt, von denen wir sonst vielleicht nie erfahren würden. Jeder Einzelne sollte einen Beitrag zur Aufarbeitung leisten. Das gilt auch für Abgeordnete, und zwar aus Ost und West; dafür brauchen wir ihre Einwilligung zur Überprüfung. Über den FDP-Antrag wurde im Ausschuss diskutiert. Die Hoffnung, dass jetzt noch ein Sonderkündigungsrecht für die Bediensteten der obersten Behörden durchsetzbar ist, hat die FDP offensichtlich selbst nicht. Dies aber wäre die Voraussetzung, um nach einer Prüfung eventuelle Konsequenzen arbeitsrechtlicher Art ziehen zu können. ({8}) Was bleibt, ist das bekannte Dienstrecht, das auch genutzt wird. Insofern bezeichne ich die Forderung der FDP als etwas populistisch. ({9}) Richtig ist die Forderung, die Aktenaufbewahrung, die Aktenaufarbeitung und die unabhängige wissenschaftliche Arbeit zu verstärken. Hätten wir als CDU/ CSU kein Interesse daran, würden wir zum Beispiel nicht so vehement das Aktenrekonstruktionsverfahren, im Volksmund „Schnipselmaschine“ genannt, vorantreiben. ({10}) Es ist schade, dass in der Öffentlichkeit aktuell eine für meine Begriffe irreführende Debatte geführt wird, in der suggeriert wird, dass der Fall Kurras, wenn alle Forderungen des FDP-Antrags erfüllt wären, viel eher aufgedeckt worden wäre. ({11}) Die Überprüfungsanforderungen der FDP beziehen sich auf Mitarbeiter der Bundesbehörden. Kurras aber war ein Berliner Polizist. ({12}) Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Vielmehr hätte man eher auf die Idee kommen können, den Tod von Benno Ohnesorg näher auf Stasiverstrickungen zu untersuchen. Mit den bereits vorhandenen Regelungen wäre dies nämlich möglich gewesen. Das Positive an dieser Debatte könnte sein - das hoffen wir jedenfalls -, dass sich in Zukunft vielleicht mehr Wissenschaftler diesem speziellen Thema widmen, weil sie durch die Enthüllung stärker für Spezialfragen sensibilisiert sind. Die Politik formuliert keine Forschungsaufträge für die freie Wissenschaft. Sie organisiert lediglich die dafür erforderlichen Instrumente. In diesem Fall sind sie vorhanden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, im zwanzigsten Jahr nach dem Mauerfall gibt es Gott sei Dank überall in unserem Land Projekte, Veranstaltungen und Angebote, sich zu erinnern, was damals war, wie es war und welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Ich will ein Beispiel nennen: In Kooperation mit der Gedenkstätte Bautzen führt das Deutsch-Sorbische Volkstheater im dortigen ehemaligen Stasigefängnis, also an einem authentischen Ort, eine Inszenierung auf, die ich bemerkenswert finde und die das aufgreift, worüber wir heute diskutieren. Auf der Grundlage der Aussagen von Schülern, wie sie den Begriff „Freiheit“ definieren, und dem historischen Sophokles-Stück Antigone wird quasi von außen ein Blick auf die Erinnerungskultur der Deutschen gerichtet. Eine Chinesin formuliert: Freiheit ist, wenn man sich nicht verstellen muss. Sie stellt fest: In Deutschland erinnert man sich an alles und nicht, wie offiziell in China, nur an die Gewalttaten feindlicher Nationen. Sie wiederholt immer wieder den Satz: Die Deutschen sind sich nicht einig beim Erinnern; denn jeder hat seine eigene Version von der Vergangenheit. Vielleicht ist es gerade das, was diese Debatte oftmals so schwer für uns macht. Dennoch sollten wir auf der Basis rechtsstaatlicher und wissenschaftlicher Kriterien und mit menschlichem Anstand auch in Zukunft vehement vorgehen. Diesem Ziel trägt Ihr vorliegender Antrag leider nicht Rechnung. Deshalb werden wir ihn ablehnen. Ich danke Ihnen. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Waitz für die FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen in diesem sehr überschaubaren Plenum am Freitagnachmittag! ({0}) Ich habe mich sehr über die Äußerungen unseres Kollegen Ströbele gefreut, der gestern in einem Interview bei Radio Eins gesagt hat, dass seine Fraktion unseren Antrag unterstützt und dass ihn heute hoffentlich auch der Deutsche Bundestag annehmen wird. ({1}) Ich hoffe inständig, dass es zu diesem Ergebnis kommt, und bin auf die Rede des Kollegen Wieland sehr gespannt. Worum geht es der FDP? Wir wollen das Wirken des Staatssicherheitsdienstes in der Bundesrepublik Deutschland bis 1990 aufarbeiten. Wir wollen nichts anderes als die fundierte und wissenschaftliche Klärung, in welchem Ausmaß politische Entscheidungen hier im Bundestag beeinflusst wurden. Ganz besonders wollen wir die Gleichbehandlung von Ost und West bei der Aufarbeitung des Stasiunrechts. ({2}) Es ist nicht ausreichend, Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung immer nur von anderen zu fordern. Der Deutsche Bundestag hat eine Vorbildfunktion. ({3}) Deshalb müssen wir uns unserer eigenen Vergangenheit stellen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Kollege Waitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolfgang Börnsen?

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber gerne, Wolfgang.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Christoph Waitz! - Er schon etwas gesagt, er hat nämlich gesagt, wir müssen uns der Vorbildfunktion stellen. Das ist richtig. Viele Kollegen haben das in der Vergangenheit getan und sich freiwillig einer Untersuchung unterzogen. Der Kollege Otto zum Beispiel in dieser und der letzten Wahlperiode. ({0}) Ich würde gerne fragen, wie es dem Kollegen Waitz bei seiner Untersuchung ergangen ist. Er will ja, dass der Bundestag und auch die jetzt aktiven Abgeordneten eine Vorbildfunktion haben. Hier möchte ich gerne nachfragen: Warum hat sich ein Drittel der FDP-Abgeordneten dieser freiwilligen Untersuchung bisher nicht unterzogen? ({1}) Wenn man schon Vorbild sein will, lieber Christoph, dann wäre es doch hilfreich, dass man sich selbst an die Spitze der Bewegung stellen und uns das nicht zum Vorwurf machen würde; denn wir alle wollen ohne Frage eine Aufklärung und Aufarbeitung. Ich glaube schon, dass wir auf diese persönliche Einschätzung eingehen sollten. ({2})

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Wolfgang Börnsen, ich weiß nicht, woher deine Erkenntnisse stammen, die du jetzt aus dem Hut gezaubert hast, ich weiß nur, dass die FDP-Fraktion allen Bundestagsabgeordneten empfiehlt, nicht nur sich selbst überprüfen zu lassen, sondern auch sämtliche Mitarbeiter in den Abgeordnetenbüros. Nach meinem Kenntnisstand haben das auch alle getan. ({0}) Darüber hinaus wird in vielen Fällen ja auch nicht nur das Amt des Bundestagsabgeordneten ausgeübt, sondern wir sind unter Umständen auch im Beirat der Stasi-Unterlagen-Behörde oder kommunalpolitisch tätig. Zumindest diejenigen, die in Ostdeutschland kommunalpolitisch tätig sind, werden regelmäßig überprüft. Wenn es dich besonders interessiert, bin ich gerne bereit, dir die entsprechenden Auskünfte bei Gelegenheit einmal zu zeigen. ({1}) Jetzt will ich aber mit dem eigentlichen Thema weitermachen, nämlich der Vergangenheit bis 1989. Über die gegenwärtige Situation müssen wir zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal vertieft sprechen. Frau Birthler wiederholt seit Monaten formelhaft, dass die Aufarbeitung der Stasitätigkeit in den Bundestagen von 1949 bis 1990 - um diesen Zeitraum geht es uns in unserem Antrag - keine wesentlichen neuen Erkenntnisse bringen würde und dass die Westaktivitäten der Staatssicherheit besonders gründlich untersucht worden seien. Tatsächlich sind von den 50 Kilometern Stasiakten, die die Staatssicherheit selbst archiviert hat, nach meinem Kenntnisstand bislang erst wenige Prozent aufgearbeitet und erschlossen worden. Aus diesen Beständen - das wird Sie nicht überraschen - stammt auch die Akte Kurras, über die wir in den letzten Tagen so viel gehört haben. Ich denke, der Fall Kurras zeigt uns ganz deutlich, welche Brisanz noch in diesen Archiven schlummert. Eine systematische Untersuchung dieser Bestände hat noch nicht stattgefunden, und wir dürfen uns vor dieser Aufgabe, dieser Recherche, nicht einfach wegducken. ({2}) Die Staatssicherheit wollte dauerhaft und zuverlässig wissen, was in der Bundesregierung, den Parteien und den Fraktionsvorständen gedacht und geplant wurde und welche Konflikte dort die Debatten beherrschten. Wir wissen, dass die DDR-Führung ein vitales Interesse daran hatte, bestimmte politische Kräfte im Bundestag zu fördern. Inzwischen gilt es als sicher, dass Bundeskanzler Willy Brandt das konstruktive Misstrauensvotum gegen den CDU-Herausforderer Rainer Barzel nicht ohne die Hilfe der Staatssicherheit überstanden hätte. Frau Birthler geht davon aus, dass fünf Abgeordnete der 6. Legislaturperiode als IM für die Staatssicherheit gearbeitet haben. Wissenschaftler ihrer eigenen Behörde nennen zehn bis elf Abgeordnete. ({3}) In Anbetracht dieses Ergebnisses, also der Verdoppelung der Anzahl - wir reden gegenwärtig über zehn bis elf IM -, halten wir es für geboten, dass die Birthler-Behörde den Einfluss der Stasi auf den Bundestag insgesamt klären muss. Jetzt höre ich aus vielen Richtungen, unser Antrag sei abzulehnen. Herrn Wiefelspütz geht unser Antrag nicht weit genug. Herrn Thierse geht unser Antrag zu weit. Für den Kollegen Kauder ist unser vor einem Jahr in den Bundestag eingebrachte Antrag ein Reflex auf den Fall Kurras. ({4}) Wenn Sie bessere Vorschläge haben als wir, dann hätten Sie sie bei unzähligen Gelegenheiten in das parlamentarische Verfahren einbringen können. Bis zum heutigen Tag liegen diese Anträge nicht vor. Das macht Ihr Bekenntnis zur Vergangenheitsbewältigung des Bundestages in meinen Augen nicht glaubwürdiger. Lesen Sie unseren Antrag doch einmal richtig! ({5}) Er verstößt weder gegen das Rechtsstaatsprinzip noch gegen allgemeine Persönlichkeitsrechte, und niemand will wieder eine verdachtsunabhängige Regelüberprüfung einführen. Aber um konkret zu werden: Es muss doch möglich sein, heute einen verbeamteten Stasispitzel bei einem konkreten Verdacht zu überprüfen. ({6}) Niemand kann ernsthaft wollen, dass heute diese ehemaligen West-IM an sensiblen Stellen eines Bundesministeriums arbeiten. ({7}) Wir Abgeordneten haben mit § 44 c des Abgeordnetengesetzes eine Regelung gefunden, die auch auf Mitarbeiter in Bundesministerien und Bundesbehörden übertragen werden kann. Zwingend ist nach dieser Vorschrift das Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für den Verdacht einer Stasitätigkeit. Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, was an dieser extrem engen Regelung unangemessen sein sollte. ({8}) Heute gilt es, Farbe zu bekennen. Die Menschen verstehen nicht, warum mit Stasi-IM im Westen anders umgegangen werden sollte als im Osten. ({9}) Ich appelliere an alle, die für die Aufklärung der Stasiverstrickungen sind: Stimmen Sie heute unserem Antrag zu! Die Menschen in unserem Land erkennen sehr genau, für wen die Aufarbeitung ein Thema von Sonntagsreden ist, oder wer es damit ernst meint und bei sich selbst beginnt. Vielen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Thierse für die Fraktion der SPD. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eigentümlich, Herr Kollege Waitz: Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie über Ihren Antrag gesprochen haben. ({0}) Sie wollen alle Bundesbehörden und alle Bundestagsabgeordneten untersuchen lassen, unabhängig von Verdacht und konkretem Anlass. ({1}) Heute haben Sie etwas anderes gesagt. Ich bitte Sie sehr, Ihren eigenen Antrag ernst zu nehmen. Darin steht etwas anderes. Genau deshalb lehnen wir ihn ab. Mit Blick auf die Aufregung um den IM Kurras hat der FDP-Antrag vermeintlich an Aktualität gewonnen. Die jetzige Diskussion macht Ihren Antrag gleichwohl nicht besser, Herr Waitz. Sie ändert nichts an den Argumenten, die wir im Kulturausschuss ausgetauscht haben. In der Sitzung am 25. März hat die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Frau Birthler, zu Ihrem Antrag ausführlich Stellung bezogen. Einige Punkte aus der Debatte im Ausschuss möchte ich herausgreifen. Doch zuvor empfehle ich Ihnen die Lektüre der Tätigkeitsberichte der Stasi-Unterlagen-Behörde. In Ihrem Antrag heben Sie darauf ab, dass die Westarbeit des MfS bisher zu wenig erforscht sei. Im Achten Tätigkeitsbericht zum Beispiel können wir lesen, dass der Forschungsschwerpunkt Westarbeit des MfS dort ausführlich dargestellt und auf entsprechende - und zwar nicht wenige - Publikationen der Behörde verwiesen wird. In der genannten Sitzung des Kulturausschusses hat Frau Birthler die Erforschung der Westarbeit des MfS sogar als eines der am besten erforschten Fachgebiete der Behörde bezeichnet. Nun zu Ihrem Antrag: Sie fordern eine umfassende Untersuchung, wie viele ehemalige Stasimitarbeiter heute noch in den Bundesministerien und nachgeordneten Bundesbehörden arbeiten. Dies ist nach geltendem Stasi-Unterlagen-Gesetz, das vor drei Jahren auch mit Ihren Stimmen - mit den Stimmen der FDP - novelliert wurde, gar nicht mehr möglich. Wir sollten nichts rechtsstaatlich Problematisches versuchen, lieber Kollege Waitz. Darin vor allem besteht unsere Vorbildfunktion. Außerdem fordern Sie eine Überprüfung aller Bundestagsabgeordneten bis 1989. Dem möchte ich drei Argumente entgegenhalten. Erstens ist Ihr Antrag selbst das beste Argument gegen diese Forderung. Sie sprechen von 43 Bundestagsabgeordneten der 6. Legislaturperiode, die als Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi registriert gewesen seien. Frau Birthler hat in der Kulturausschusssitzung erneut klargestellt, dass es sich bei dem größten Teil dieser Abgeordneten nicht um IMs im Sinne des Stasi-Unterlagen-Gesetzes handelt, sondern um Registrierungen auf IM-Vorgänge, was etwas ganz anderes ist. Die Unkultur der Verdächtigung sollte von uns nicht neuerlich angeheizt werden; denn sie schadet der ehrlichen und kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. ({2}) Zweitens hat Frau Birthler mehrfach vor allzu großen Erwartungen an eine solche Studie gewarnt. Ihre Sachkenntnis sollte man ernst nehmen. Der Erkenntnisgewinn wäre außerordentlich gering, sagt sie. Die Unterlagen der BStU inklusive der Rosenholz-Dateien wurden bereits Anfang der 90er-Jahre von Ermittlungsbehörden genutzt und waren Grundlage für mehr als 5 000 Ermittlungsverfahren. Drittens warnt Frau Birthler, dass der zu erwartende Erkenntnisgewinn in keinem Verhältnis zum erforderlichen Aufwand stehe. Sie hat am Dienstag dieser Woche bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Neunten Tätigkeitsberichts auf Nachfragen eines Journalisten gesagt, dass dann alle anderen Forschungsprojekte zurückgestellt werden müssten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Waitz?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber natürlich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Thierse, um den inhaltlichen Zusammenhang nicht vollkommen abreißen zu lassen: Sie haben im Wesentlichen Argumente von Frau Birthler aus der improvisierten Anhörung zu unserem Antrag referiert. Diese kenne ich natürlich sehr gut. Mich hätten eigentlich mehr Ihre Argumente zu unserem Antrag interessiert. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die fünf IM - diese Zahl nennt Frau Birthler immer wieder öffentlich - nicht der tatsächlichen Zahl entsprechen? Mittlerweile hat sich insbesondere durch die Recherchen des verdienstvollen Historikers MüllerEnsberg in der Birthler-Behörde herausgestellt, dass es insgesamt zehn oder elf Inoffizielle Mitarbeiter waren, die in dieser Legislaturperiode tätig gewesen sind. Diese Angaben sind auch in Veröffentlichungen der BirthlerBehörde nachzulesen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich selber habe eben gar keine Zahl genannt. Ich war vorsichtig und habe gesagt, dass die Mehrzahl keine IM war. Sie behaupten, dass es sich um 43 Stasi-IM handelt. So steht es in Ihrem Antrag. Das halte ich für nicht verantwortlich. Nun rudern Sie zurück. Ich rede gar nicht über die Zahl. Aber die Behauptung, es seien 43 IM, ist nachweislich falsch. Nach den Kriterien des Stasi-Unterlagen-Gesetzes waren es keine IM. Wir sollten das Spiel der Verdächtigungen nicht fortsetzen. ({0}) Frau Birthler weist, wie gesagt, auf die Unverhältnismäßigkeit von Aufwand und Nutzen hin. Wenn das auf die Untersuchung von Bundestagsabgeordneten zutrifft, gilt das erst recht für die Forderung der FDP, alle Fälle und die Auswirkung von Stasispionage in Bundesministerien und nachgeordneten Bundesbehörden in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik aufzuklären. Was soll ein Wissenschaftler mit einer solchen Fragestellung anfangen? Vielmehr müsste präzise formuliert werden, was genau das Ziel einer Untersuchung sein soll. ({1}) Ich kann mir solche Untersuchungen vorstellen. Zum Beispiel könnten Wissenschaftler untersuchen, ob die Stasi versucht hat, Einfluss auf die Abstimmung über den NATO-Doppelbeschluss zu nehmen, oder ob es bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer Versuche der Stasi gab, Einfluss auf die von den Entführern geforderte Freilassung von RAF-Häftlingen zu nehmen. Solche präzisen Untersuchungen kann ich mir vorstellen. Solche Fragestellungen müssten übrigens nicht zwingend von den Forschern der BStU untersucht werden. Sie könnten genauso von behördenexternen Wissenschaftlern bearbeitet werden. An dieser Stelle sei - wiederum Bezug nehmend auf die aktuelle Diskussion - angemerkt, dass nach Aus24922 kunft von Frau Birthler kein einziger Wissenschaftler oder Journalist die Akte von Kurras angefordert hat, obwohl es mehrere Publikationen und Untersuchungen zur Studentenbewegung und zum Tode von Benno Ohnesorg gegeben hat. Deshalb ist es unredlich, allein der BStU den Schwarzen Peter für die späte Entdeckung des Faktums zuzuschreiben. Die behördeninternen Wissenschaftler konzentrieren sich richtigerweise auf die Fragestellungen, die den privilegierten Zugang zu den Akten, die sie haben, erfordern. Davon profitieren auch andere Wissenschaftler und Journalisten. Im Übrigen - auch das wissen Sie - ist die Forschungsarbeit nur ein Bereich der Aufgaben der Behörde. Sie wurde vor allem gegründet, um in erster Linie den Betroffenen, den Verfolgten und den Opfern der Stasi den Aktenzugang zu ermöglichen. Jeder sollte das Recht haben, zu erfahren, welche Information die Stasi über ihn gesammelt hat. Davon wird nach wie vor rege Gebrauch gemacht, wie der neue Tätigkeitsbericht der Behörde zeigt. Seit 1991 sind 2,6 Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt worden. Im letzten Jahr gingen 87 000 Anträge ein, in den ersten drei Monaten dieses Jahres bereits fast 29 000. Zwei Drittel der Anträge sind Erstanträge. Das sind beeindruckende Zahlen, die belegen, wie gut die Behörde arbeitet und wie notwendig sie weiterhin ist. Weitere Aufgaben der Behörde sind die Bearbeitung von Anfragen anderer Behörden, zum Beispiel zu den Opferrenten, aber auch Bildungsarbeit und Aufklärung der Öffentlichkeit über die Tätigkeit des MfS sowie natürlich die Erschließung der Akten. Bei 114 Kilometern Akten ist das eine wahnsinnige Aufgabe, wie wir wissen. Ich vermute übrigens, mit einem wirklich neuen Erkenntnisgewinn ist erst zu rechnen, wenn die mehr als 15 000 Säcke mit zerstörten Akten rekonstruiert sind. Das wird leider noch einige Zeit dauern; denn das Pilotprojekt zur Rekonstruktion der Schnipsel verzögert sich. Immerhin sind, wie Frau Birthler am Dienstag gegenüber den Medien versichert hat, die für die Aufklärung der Westarbeit relevanten zerstörten Akten der HVA komplett in das Pilotprojekt einbezogen. Bis zum Vorliegen der Ergebnisse sollten wir deshalb etwas gelassener und zugleich sicher sein, dass es noch manche spektakuläre Entdeckung geben wird, über die wir uns miteinander aufregen können. Die SPD-Bundestagsfraktion bleibt dabei: DDR-Unrecht muss vorbehaltlos aufgeklärt werden. Deshalb hat sich die SPD-Bundestagsfraktion dafür eingesetzt, der Stasi-Unterlagen-Behörde eine verlässliche Perspektive zu geben, wie sie jetzt im Gedenkstättenkonzept des Bundes verankert ist. Deshalb hat sich die SPD-Bundestagsfraktion bei der Novellierung des Stasi-UnterlagenGesetzes dafür stark gemacht, dass auch weiterhin eine Überprüfung von Personen in herausgehobenen Positionen möglich ist und der Zugang für Forschung und Medien zu den Stasiunterlagen erleichtert wurde. Meine Damen und Herren, die Aufarbeitung der Vergangenheit kann nicht gelingen, wenn sie auf Aktionismus und Verdächtigungen beruht. Eine differenzierte gesamtdeutsche Debatte bleibt dafür notwendig. Dann können und sollten wir uns am Beginn der kommenden Legislaturperiode über einen klar definierten, präzise umrissenen Forschungsauftrag verständigen, der Bundestag und Bundesbehörden betrifft und der realistischerweise auch eingelöst werden kann und deshalb mehr und anderes sein muss als eine allgemeine Verdächtigung. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, will ich dem Kollegen Ströbele die Gelegenheit geben, auf das vorhin zitierte Radiointerview mit ihm einzugehen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Waitz, ich hatte mich schon bemüht, einen Zwischenruf zu machen, aber ich glaube, er ist nicht angekommen, weil ich weiter hinten sitze. Ich gebe zu, dass 8 Uhr morgens ein früher Zeitpunkt ist, jedenfalls für mich, aber Sie müssen da etwas missverstanden haben. Ich habe in diesem Radiointerview gesagt, dass ich es für richtig halte - ob man dem Antrag zustimmen oder ihn ablehnen soll, dazu habe ich gar nichts gesagt -, dass nicht nur die Abgeordneten des Deutschen Bundestags nach der Wende, sondern auch die Abgeordneten vor der Wende, also von 1949 bis 1989, die auch Ihnen am Herzen liegen, „gegauckt“ oder „gebirthlert“, also überprüft werden. Ich habe aber auch hinzugefügt, dass sie dem selbstverständlich zustimmen müssen. Darauf haben auch Sie vorhin schon hingewiesen. Das heißt, ich habe nicht gesagt, aus den vielen Gründen, die hier schon dargelegt worden sind, dass ich dafür bin, Ihrem Antrag zuzustimmen; denn er hat erhebliche Schwächen, in einigen Punkten ist er viel zu weitgehend, und er enthält Behauptungen, die ich nicht mittragen möchte. Ich habe mich inhaltlich dafür eingesetzt, dass man auch die Abgeordneten aus diesen soeben genannten Jahren überprüft.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Waitz, wollen Sie erwidern? - Bitte sehr.

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Ströbele, es enttäuscht mich natürlich maßlos, dass ich das jetzt in dieser Form von Ihnen gesagt bekomme. Ich muss das akzeptieren. Ich habe den Beitrag mehrfach gehört. Daran sieht man, wie missverständlich das ist, was wir ab und zu im Radio sagen. ({0}) Ich glaube, dabei sollten wir es bewenden lassen. Vielen Dank.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat die Kollegin Lukrezia Jochimsen für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Grundsätzliche vorweg. Die Fraktion Die Linke war stets und ist auch noch heute für eine Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen. ({0}) Wir sind für eine schnellere, für eine bessere, vor allem übrigens aber weniger zufällige, also wissenschaftliche Aufklärung. Deswegen fordern wir seit langem, dass der Aktenbestand aus der undurchschaubaren Behörde ins Bundesarchiv in die Hände professioneller Archivare und Wissenschaftler überführt wird. ({1}) Aufklärung nach wissenschaftlichen, nicht nach denunziatorischen Kriterien wollen wir erreichen. Das war unsere Position 2006 bei der Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, und das ist sie auch heute. Deswegen lehnen wir den FDP-Antrag ab. Denn was wird da gefordert? Nachdem es ja wohl eine Unsicherheit gibt, was darin eigentlich steht, erlaube ich mir, ganz kurz Ihren Originaltext zu zitieren. Sie wollen eine flexiblere Regelung zur Überprüfung der StasiMitarbeit von Beamten und Angestellten der Bundesministerien und nachgeordneten Bundesbehörden im Sinne einer Verdachtsüberprüfung nach § 44 c des Abgeordnetengesetzes … Also Nachforschungen im Sinne einer Verdachtsüberprüfung. Da frage ich Sie: Was heißt das denn anderes als das Setzen auf Denunziation, auf Gerüchte, auf Andeutungen, auf Informationen von Dritten und über Dritte, um dann bei einem so erbrachten Nachweis - ich zitiere wieder aus Ihrem Antrag alle dienstrechtlichen Möglichkeiten zu prüfen und [für] Entfernung aus dem Dienstverhältnis oder … Versetzung … zu sorgen … Ich frage Sie also - das fordern Sie -: Wo sind wir da wieder angelangt? Der Kollege Thierse hat Ihnen schon gesagt, dass das nach unserem heutigen geltenden Recht gar nicht möglich ist. Also: Wohin wollen Sie denn zurück? Zyniker könnten sagen: Zurück in den Stasistaat. Da werden Sie jetzt wieder höhnen, aber ich sage Ihnen trotzdem: Gerade die Linke macht so etwas nicht mit. ({2}) Generalverdacht per Gesetz: Nein. Wissenschaftliche Aufarbeitung: Ja, und zwar hoffentlich bald dort, wo sie 20 Jahre nach der Vereinigung besser geleistet werden kann als bisher in der Behörde mit ihren Arbeitsmethoden nach dem Zufallsprinzip und der politischen Opportunität und in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Die einen sagen, die Behörde ist eine Bürgerauskunftsbehörde, die anderen sagen, sie ist ein Forschungsapparat, die Dritten sagen, ein großer Teil der 160 Kilometer Papier wurde bis heute kein einziges Mal angeschaut. Ja, was ist denn das nun eigentlich für eine Behörde und für ein Aufarbeitungsapparat? Was nun die Forderung im Antrag betrifft, alle Bundestagsabgeordneten von 1949 bis 1990 umfassend zu überprüfen, in welchem Umfang sie willentlich und wissentlich für die Staatssicherheit der ehemaligen DDR tätig waren, das soll nun ausgerechnet auch wieder von der Birthler-Behörde untersucht werden. Ich finde, da hat Marianne Birthler vorgestern schon ziemlich Richtungweisendes erklärt: Bei einer seriösen Erforschung - Achtung, „seriösen Erforschung“! - müsse man sehr, sehr große Kreise ziehen und auch die zweite und dritte Reihe des Parlamentsbetriebes untersuchen. Das wird sozusagen ein Auftrag für die Ewigkeit. 2 073 Bundestagsabgeordnete gab es in der Zeit von 1949 bis 1990, 1 416 davon sind verstorben. Die zweite und dritte Reihe aber machte mindestens das Zehnfache aus, also weit über 20 000 Fälle. Nehmen wir die Lebendigen und die Toten. Das wird ein großer Auftrag. Ehrlich gesagt: Die Stasiverstrickung von Konrad Adenauer würde mich schon interessieren, obwohl wesentliche Erkenntnisse wahrscheinlich kaum zu erwarten sind. Danke. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Debatten habe ich immer die gleichen zwei Probleme: Erstens. Ich habe vier Minuten Redezeit. Zweitens. Ich muss nach der Linksfraktion reden. ({0}) Ja, Frau Jochimsen, es ist schrecklich, diese Süffisanz von Ihnen als Vertreterin der Fraktion, die diese Akten angelegt hat - das wollen wir nicht vergessen -, zu hören. ({1}) - Sie können sich umbenennen, wie Sie wollen. Ihre Partei ist es gewesen, die dies alles angerichtet hat. Ihre Kolleginnen und Kollegen im Bundestag und in den Landesparlamenten sind es, die aus ihrer Enttarnung als Spitzel keine Konsequenzen gezogen haben. ({2}) Ihr Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi hat sich noch in dieser Woche in der Bild-Zeitung echauffiert und gefragt: Was leistet denn diese Behörde eigentlich? Er macht sich angeblich Sorgen um die Effizienz einer Behörde. Aber sobald deren Ergebnisse ihn betreffen, lässt er sie jedes Mal von seiner Pressekammer in Hamburg sperren und hängt den Journalistinnen und Journalisten Maulkörbe um. ({3}) Ich darf hier den Begriff „Oberheuchler“ nicht verwenden, wie ich heute gelernt habe, aber mir fällt zu Ihnen kein anderer Begriff ein. ({4}) - Es sind immer die Getroffenen, die bellen. Das nehme ich bei Ihnen zur Kenntnis. ({5}) - Ich rege mich über Sie auf, weil Sie hier so einfach sagen, diese Behörde versage, und von Bergen unaufgeklärter Akten reden. Die Hauptfunktion der Behörde ist, den Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR Akteneinsicht zu gewähren, und die leistet sie hervorragend. Immer mehr wollen auch nach vielen Jahren noch Informationen, weil es ihnen ein Bedürfnis ist. Ich habe von niemandem gehört, dass er sich dort nicht gut betreut und begleitet sieht; das muss man zunächst einmal anerkennend zu der Behörde sagen. ({6}) Man kann darüber reden - das tun wir auch -, ob die Forschungsarbeit nicht verstärkt werden muss. Das sehen auch wir so. Wir teilen sogar die Intention der FDP, das zu tun, müssen aber aus den gleichen rechtlichen Gründen, die Vizepräsident Thierse hier genannt hat, leider sagen: So geht es nicht. ({7}) Lieber Herr Waitz, wenn Sie nicht mehr wissen, was Sie zu Papier gebracht haben, dann lese ich Ihnen diese beiden Sätze vor - das ist offenbar notwendig: Die BStU hatte zuvor festgestellt, dass über 49 Bundestagsabgeordnete der 6. Legislaturperiode von 1969 bis 1972 Informationen bei der BStU vorlagen. 43 Bundestagsabgeordnete waren als Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes registriert worden. Es waren sogenannte IMA, Inoffizielle Mitarbeiter mit Arbeitsakte, die eben nicht alle zugearbeitet haben, die im Wesentlichen abgeschöpft wurden. Wer so etwas, wie in Ihrem Antrag steht, einfach hinschreibt und in der Boulevardpresse auch noch den Eindruck verstärkt, da habe es eine ganze Stasifraktion gegeben, muss sich diese Kritik gefallen lassen; sie ist leider notwendig. ({8}) Eigentlich wollte ich als jemand, der als Student vor der Deutschen Oper dabei war, etwas über Karl-Heinz Kurras sagen. In der BZ kann man unter der Überschrift „Warum zeigt Kurras keine Reue?“ lesen: Wenn Kurras doch wenigstens Reue und einen Hauch von Selbstkritik zeigen könnte. Stattdessen bestreitet er alles, obwohl die Belege erdrückend sind. Genau darum fällt es uns so schwer, zu verstehen und zu vergeben. Das ist dieselbe Zeitung, die damals den Polizisten empfahl, den Gummiknüppel einzusetzen, um „etwa vorhandenes Resthirn bei den Studenten locker zu machen“. Angesichts dessen vermissen wir zunächst einmal Reue über den Tod von Benno Ohnesorg; die steht bis heute aus. ({9}) Erst wenn sie ausgesprochen wird, können wir gegenüber dieser Art von Journalismus an Vergeben denken. Hier ist für uns eine Menge aufzuarbeiten, auch konkret am Fall Kurras. Wir wollen wissen: Was hat die Stasi sonst noch gewusst? Wenn sie Kurras entgegenhält: „Das kann nicht stimmen, was Sie uns sagen; da haben wir andere Aussagen“, dann wollen wir wissen, von wem und welche. Hier bleibt eine Menge Aufarbeitungsbedarf. Dass in den alten Fronten die Birthler-Behörde schlechtgemacht wird und man von interessierter Seite immer wieder die Gleichen sagen lässt, dass sie versagt, hängt uns zum Halse heraus. Wir erwarten, dass der Deutsche Bundestag tätig wird. Ich spreche damit alle an, die sich hier zu Wort gemeldet haben. Volker Kauder, ich weiß, wie emotional Sie das in Ihrer Fraktionssitzung diskutiert haben - zu Recht. Daraus muss auch etwas folgen. Dieses dem Westen zugewandte Gesicht müssen wir wissenschaftlich noch genauer untersuchen. Dann brauchen wir Geschichte nicht umzuschreiben. Vielmehr können wir sie dann erstmals präzise schreiben. Das ist auch notwendig. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Otto.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zunächst einmal, Herr Kollege Wieland, ist zu sagen: Das war eine gute Rede. ({0}) Nach dieser in all ihren Teilen sehr guten Rede und all dem, was Sie hier zu Recht gesagt haben, verstehe ich Hans-Joachim Otto ({1}) aber nicht, warum Sie dem Antrag der FDP nicht zustimmen wollen. Das ist schwer verständlich. ({2}) Diese Frage richtet sich auch an die übrigen Redner, die hier gesprochen haben. Es war ja eine bemerkenswerte Debatte. Jeder der Redner, inklusive der Rednerin der Linksfraktion, sagte: Der FDP-Antrag verfolgt ein sehr unterstützenswertes Anliegen. Auch wir wollen nicht, dass es eine Ungleichbehandlung zwischen West und Ost gibt. ({3}) Auch wir wollen Transparenz und Forschung. Meine Güte, warum stellen Sie nun aber, 20 Jahre nach dem Ende der DDR, nicht selber einen Antrag, in dem Sie darlegen, was Sie wollen?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, darf ich Sie darauf hinweisen, dass eine Kurzintervention nicht dazu dient, die Redezeit Ihrer Fraktion zu verlängern.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, aber ich erwidere auf die Bemerkungen des Kollegen Wieland und auch auf Bemerkungen anderer und stelle die Frage - das ist zulässig -, warum die anderen Fraktionen diesem Antrag nicht zustimmen wollen. Frau Präsidentin, ich glaube, dass ich das darf, und denke, dass ich das auch innerhalb der Zeit schaffen werde. ({0}) Letzte Bemerkung. Ich bringe es noch einmal auf den Punkt: Wenn sich erstaunlicherweise alle fünf Fraktionen über die Intention einig sind, dann wäre es doch nur konsequent, wenn alle fünf zusammen oder wenigstens vier von den fünf einen Antrag erarbeiten, der dann auch von allen mitgetragen wird. Einfach den Antrag der FDP abzulehnen, ist, wie ich finde, ein bisschen zu wenig, meine Damen und Herren Kollegen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Wieland.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Otto, ich hatte Ihnen doch gesagt: Wir enthalten uns heute ebenso, wie wir uns auch in den Ausschüssen enthalten haben. Wir müssen nämlich leider feststellen, dass Ihre an sich richtige Intention dadurch, dass Sie so über das Ziel hinausschießen und begrifflich leider nicht scharf zwischen wissenschaftlicher Forschung und sozusagen einer nachträglichen „Gauckung“ großer Teile des öffentlichen Dienstes trennen, in den Hintergrund tritt und dieser Antrag damit auf eine falsche Schiene gesetzt wird, von der wir ihn auch nicht wieder herunterbekommen. ({0}) Das, was wir wollen, ist auf der Grundlage des geltenden Stasi-Unterlagengesetzes ohne Frage möglich. Es muss nur gemacht werden. Das Land Berlin hat seinerzeit über 2 000 Polizisten überprüfen lassen. Es ist ja nicht nichts geschehen. Pensionäre wie Herrn Kurras hat man seinerzeit tatsächlich nicht überprüft. Das hat aber auch niemand, nicht einmal die FDP, gefordert. Es kann jetzt nicht darum gehen, noch einmal eine Massenüberprüfung durchzuführen. Wir wollen das aus rechtsstaatlichen Gründen nicht und auch deswegen nicht, weil wir meinen, dass man 20 Jahre nach dem Fall der Mauer nicht so tun kann, als sei das gestern gewesen. Seitdem ist nämlich viel Zeit vergangen. Die weitere Forschung und die zwangsläufig damit verbundene Enttarnung von weiteren IMs wollen wir jedoch forcieren. Um das zu schaffen, müssen wir uns fragen, wie man das umsetzen kann und welche Kapazitäten dafür bereitgestellt werden, brauchen aber keine Gesetzesänderung vorzunehmen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel: „Inoffizielle Stasi-Mitarbeiter in Bundesministerien, Bundesbehörden und Bundestag enttarnen - Aufarbeitung des Stasi-Unrechts stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12982, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9803 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. ({0}) - Entschuldigung, ich werde gerade darauf aufmerksam gemacht, dass zwei Kollegen aus der SPD-Fraktion und ein Kollege aus der CDU/CSU-Fraktion gegen die Beschlussempfehlung gestimmt haben. Dann haben wir das jetzt gemeinschaftlich festgestellt; ich bedanke mich. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Anpassung des Einsatzgebietes für die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias - Drucksache 16/13187 24926

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Auswärtiger Ausschuss ({0}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Staatsminister Gernot Erler.

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal in weniger als einem halben Jahr debattieren wir heute über Piraten, die vor der somalischen Küste ihr Unwesen treiben. Im Dezember hat der Bundestag mit großer Mehrheit den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der europäischen Mission „Atalanta“ beschlossen. Seither hat Deutschland einen beachtlichen Beitrag zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika geleistet. Die gerade für die Exportnation Deutschland wichtigen Seerouten sind dadurch sicherer geworden. Zwar kann niemand behaupten, dass das Problem gelöst sei; aber die Operation „Atalanta“ ist schon jetzt ein Erfolg. So hat „Atalanta“ - dies ist besonders wichtig seit dem Beginn der Operation alle Schiffe des Welternährungsprogramms sicher nach Somalia geleitet. Dies ist eine der Hauptaufgaben der Operation, und diese Aufgabe erfüllt sie zuverlässig. Weit über 1 Million notleidende Menschen konnten auf diese Weise mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Gemeinsam mit den internationalen Streitkräften vor Ort haben die europäischen Marinekräfte zudem die Durchfahrt durch den Golf von Aden sicherer gemacht. Für Piraten ist es heute deutlich schwieriger und gefährlicher, Handelsschiffe zu kapern, die sich den angebotenen Konvois anschließen. Der Erfolg von „Atalanta“ im Golf von Aden hat allerdings dazu geführt, dass die Piraten zunehmend in Gegenden ausweichen, in denen sie mit weniger Risiko auf Kaperfahrt gehen können. Nach mehreren Überfällen in den Gewässern um die Seychellen hat sich der Inselstaat mit der Bitte um Hilfe an die Europäische Union gewandt. Die EU war sich einig, dass „Atalanta“ reagieren muss. Das Operationsgebiet der Mission wurde daraufhin an das Operationsgebiet der Piraten angepasst. Insgesamt stehen heute auch mehr Einsatzkräfte im Operationsgebiet zur Verfügung als bisher. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe auf Ihre Unterstützung für den Antrag der Bundesregierung auf eine entsprechende Erweiterung des Einsatzgebietes der Bundeswehr. Die ersten Monate von „Atalanta“ haben uns vor Augen geführt, dass es nicht nur darauf ankommt, Akte der Piraterie zu verhindern. Ganz wesentlich ist, dass den Piraten der Prozess gemacht wird. Nach dem Briefwechsel zwischen der Europäischen Union und Kenia ist es uns erlaubt, Piraten zur Strafverfolgung den kenianischen Behörden zu übergeben. Wir haben uns davon überzeugt - und tun das weiterhin -, dass die Verfahren ordnungsgemäß ablaufen. Wir sind Kenia für seinen Beitrag zur Bekämpfung der Piraterie dankbar. Die Strafverfolgung somalischer Piraten ist für Kenia natürlich auch eine Belastung. Daher unterstützen die Europäische Union und Deutschland das Land und seinen Justizsektor bei der Bewältigung dieser zusätzlichen Aufgaben. Unabhängig davon ist uns klar, dass wir nicht dauerhaft alle Piraten zur Strafverfolgung nach Kenia bringen können. Wir setzen uns daher für eine internationale Pirateriegerichtsbarkeit ein, die am besten in der Region angesiedelt werden sollte. Wir sind damit bei einigen unserer Partner auf Skepsis gestoßen, auch weil dieses Vorhaben nicht kurzfristig realisierbar und weil es teuer sei. Bei anderen findet unsere Idee aber Unterstützung. So sprach sich vor wenigen Wochen der russische Präsident Medwedew dafür aus. Wir werden weiterhin aktiv für diese bessere Alternative werben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben stets betont, dass eine grundsätzliche Lösung des Piraterieproblems nicht auf See liegt. In Mogadischu ist im Winter eine neue somalische Regierung angetreten, ({0}) mit der viele Menschen vor Ort große Hoffnungen verbinden. Diese Regierung unter Sheikh Sharif hat unsere Unterstützung. Wir sehen mit großer Sorge, dass der militante Widerstand in Süd- und Zentralsomalia mit allen Mitteln zu verhindern sucht, dass Frieden und Sicherheit zurückkehren. Frieden und Sicherheit in Somalia brauchen funktionierende Sicherheitskräfte. Deshalb hat auch die internationale Geberkonferenz in Brüssel dem Wiederaufbau des somalischen Sicherheitssektors erste Priorität eingeräumt. Wir unterstützen diese Zielrichtung ausdrücklich und werden uns dabei mit unseren Partnern eng abstimmen. Wir haben mit Sympathie und Interesse den französischen Vorschlag für eine europäische Initiative zur Ausbildung somalischen Militärs in Dschibuti aufgenommen. Wir werden gemeinsam mit unseren europäischen Partnern prüfen, ob und wie eine solche Initiative umgesetzt werden kann. ({1}) Die internationale Gemeinschaft hat auf das Piratenproblem rasch und entschlossen reagiert. Deutschland leistet dabei einen wichtigen Beitrag. ({2}) Die Zusammenarbeit auf See funktioniert auch dank der internationalen Kontaktgruppe zur Pirateriebekämpfung vor Somalia gut, an der wir uns aktiv beteiligen. Wir werden uns im europäischen und internationalen Rahmen dafür einsetzen, dass auch an Land Frieden und Sicherheit zurückkehren. ({3}) Dies ist nicht nur ein Zeichen der Solidarität mit Somalia. Es liegt auch in unserem eigenen Interesse. Vielen Dank fürs Zuhören. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Rainer Stinner das Wort. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir werden heute diesem Antrag zur Erweiterung des Mandats zustimmen. Wir möchten aber sehr deutlich sagen, dass die Ausweitung des Operationsgebietes vor allem deshalb notwendig ist, weil die Bundesregierung das bisherige Mandat einfach nicht richtig ausgeschöpft und ausgenutzt hat; denn nur dadurch konnten die Piraten ihre Operationsgebiete ausdehnen. Wir sind der Meinung, dass die an diesem Mandat „Atalanta“ beteiligten deutschen Soldaten der deutschen Marine ihre Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen tatkräftig erfüllen. Dafür möchten wir ihnen Dank und Anerkennung spenden. ({0}) Allerdings, sehr geehrter Herr Staatsminister, das, was Sie hier vorgetragen haben, war eine Beschönigungsrede allerersten Grades. Diese könnte man vergolden, wenn es einen Wettstreit für Beschönigungsreden gäbe. Dass die Bundesregierung dieses Mandat als Erfolg wertet, kann ich nur als Hohn bezeichnen. Die Diskussion, die wir seit über einem Jahr führen, ist der schlagende Beweis für die eindeutige Handlungsunfähigkeit und Handlungsunwilligkeit der Bundesregierung in diesem Falle. Wir erinnern uns alle an die geradezu bizarre Diskussion vor einem Jahr, ob wir denn überhaupt gegen Piraten vorgehen dürften. In den heute vorliegenden Antrag zur Erweiterung des Mandats hat die Regierung erstmals das Völkergewohnheitsrecht als Rechtsgrundlage aufgenommen. Wir waren von Anfang an dieser Meinung. Innenministerium und Verteidigungsministerium waren anderer Meinung. Heute steht genau das im Antrag; das ist gut so. Wir erinnern uns daran, dass die Bundesregierung monatelang nicht in der Lage war, ein Konzept vorzulegen, wie denn mit gefangen genommenen Piraten umgegangen werden soll. Wir erinnern uns an das Abstimmungschaos in der Bundesregierung, als es um die angedachte Befreiung der „Hansa Stavanger“ ging. Wir kritisieren nachdrücklich, und zwar vom ersten Tage an bis heute, dass die Bundesregierung die Ermächtigung, die wir, der Bundestag, ihr gegeben haben, nicht ausnutzt. Die Regierung - das hat auch der Staatsminister getan klopft sich dafür auf die Schulter, dass sie 24 Schiffe des World Food Programme begleitet hat. Das ist richtig; das ist gut. Aber das ist circa 1 Promille der jährlichen Schiffsbewegungen am Horn von Afrika. Es als Erfolg zu bezeichnen, dass wir 1 Promille geschützt haben, kann man doch nur als Schönfärberei kennzeichnen. ({1}) Die Piraterie geht munter weiter. Dutzende von Schiffen sind in den Händen von Piraten. Am 12. Mai 2009 meldete das Internationale Marinebüro - eine sehr verlässliche Quelle -, dass bereits jetzt, am 12. Mai, die Zahl der Piratenüberfälle die für das Gesamtjahr 2008 überschritten hat. Und da redet unsere Regierung von einem Erfolg. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Dabei bestand die Bundesregierung in dem Antrag für das Mandat, dem wir zugestimmt haben, ausdrücklich auf der Ermächtigung, aktiv gegen Piraten vorzugehen, Piratenschiffe aktiv zu bekämpfen, diese Schiffe zu beschlagnahmen und die Piraten festzunehmen. Das steht alles deutlich im Mandat. Wir haben dem zugestimmt. Aber die Bundesregierung nimmt diese durch das Mandat erfolgte Ermächtigung bis heute nicht wahr. ({2}) Im Mandat wird wörtlich von der „Beschlagnahme von Seeräuberschiffen“ gesprochen. Die Piratenakte, sehr geehrter Herr von Klaeden, finden, wie wir alle wissen, über 500 Seemeilen von der Küste entfernt statt. Wir alle wissen, dass es völlig unmöglich ist, dass die Schlauchboote von Land aus bis dahin fahren. Die haben natürlich Mutterschiffe. Wir alle wissen, wo diese liegen - wir wissen das nicht von allen, aber von einigen -, spätestens dann, wenn wir das machen würden, was geboten wäre, nämlich die Boote bei abgewehrten Piratenangriffen zu verfolgen und zu beobachten, wohin sie fahren. Sie fahren nämlich nicht an die Küste, sondern zu ihren Mutterschiffen. Wenn wir so vorgehen würden, dann wüssten wir, wo die Mutterschiffe liegen. Andere Nationen machen das. Wir tun das bisher nicht. Als verantwortliche Politiker müssen und können wir doch hoffentlich davon ausgehen, dass die Ermächtigung, die wir der Bundesregierung erteilt haben, von dieser auch genutzt wird; ansonsten bräuchten wir keine Mandatsanträge zu verabschieden. Die Bundesregierung nutzt diese bisher eindeutig nicht. Ich sage hier ausdrücklich: Wie die Bundesregierung dieses Mandat erfüllt, darüber zu entscheiden, ist nicht unsere Aufgabe. Wir stehen nicht auf dem Feldherrenhügel. Wie Sie das umsetzen, das zu entscheiden, ist Ihre Aufgabe. Dazu haben Sie gut ausgerüstete und ausgebildete Soldaten und andere Kräfte, die das tun. Dies ist Ihre Obliegenheit. Bei 24 000 Schiffsbewegungen pro Jahr ist es eben nicht ausreichend, sich auf die Begleitung von Schiffen im Rahmen des World Food Programme zu beschränken. Begleitung ist zwar gut und richtig. Aber angesichts der Größe des Seegebietes und angesichts des Einsatzes von circa 30 Schiffen weltweit - davon 8 im Rahmen von „Atalanta“ - ist es völlig undenkbar, alle Schiffe begleiten zu wollen. Deshalb müssen wir aktiv gegen Piraterie vorgehen. Daher sagen wir: Die Ausweitung des Mandatsgebietes ist geboten. Wenn wir aber in der Vergangenheit aktiv gegen Piraterie vorgegangen wären, hätten wir die Operationsbasis der Piraten eindeutig einschränken können. Deshalb verknüpfen wir - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss - unsere heute Zustimmung mit der eindeutigen Erwartung an die Bundesregierung, dass sie jetzt endlich das tut, was geboten ist, nämlich aktiv gegen Piraterie vorzugehen. Piraten auf hoher See sind Schwerstkriminelle. So müssen sie auch behandelt werden. Wir fordern Sie auf, endlich zu agieren. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Stinner, ich will zunächst die Kritik, die Sie am Einsatz der deutschen Marine am Horn von Afrika im Rahmen des Mandats „EU-Atalanta“ geübt haben, mit Nachdruck zurückweisen. ({0}) Ich halte dies für eine Diskreditierung unserer Soldatinnen und Soldaten ({1}) - Kollege Stadler, ich begründe das: Der Einsatz im Rahmen von „Atalanta“ ist erfolgreich. Denn was ist die Aufgabe, die dieses Parlament beschlossen hat? Erstens die Begleitung der Schiffe im Rahmen des World Food Programme, zweitens die Begleitung der Handelsschiffe unter EU-Flagge und drittens die Verfolgung, die hier teilweise dargestellt worden ist. Man muss schon zur Kenntnis nehmen, dass mittlerweile 180 000 Tonnen Lebensmittel und 150 Handelsschiffe, die sich ordentlich angemeldet haben, sicher in die Häfen begleitet worden sind, dass 27 Piratenangriffe abgewehrt worden sind und 68 Piraten festgenommen und vor Gericht gebracht worden sind. Lieber Herr Kollege Stinner, ich finde schon, dass diese Bilanz deutlich macht, dass unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag gut erfüllen. Deshalb bin ich ihnen für das Engagement im Rahmen des Mandats „EU-Atalanta“ dankbar. ({2}) Es geht hier um den Einsatz der deutschen Marine; Kollege Stinner, daran können Sie nicht vorbeireden. ({3}) Ich will Folgendes hinzufügen: Sie haben natürlich recht, wenn Sie sagen, dass das Seegebiet neunmal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland. Aber unser Problem ist doch zurzeit, dass Schiffe unangemeldet in dieses Seegebiet fahren und man sich dann wundert, dass man Piratenangriffen ausgesetzt ist, oder dass Segelregatten in diesem Seegebiet durchgeführt werden und man sich wundert, dass man Opfer von Piratenangriffen und auch von terroristischen Aktivitäten wird. Ein solches Verhalten hat aus meiner Sicht in diesem Seegebiet derzeit nichts verloren. Deshalb kann ich jedem Reeder nur raten, dass er sich entsprechend dem Konzept zur vernetzten Sicherheit anmeldet und entsprechend begleitet wird. ({4}) Meine Damen und Herren, warum beschließen wir denn heute die Erweiterung des Mandats? - Weil die Piraten darauf reagiert haben. Da wir im Golf von Aden und vor der Küste Somalias im Rahmen dieses Mandats effektiv sind, sind sie in ein weiteres Gebiet im Indischen Ozean bis hin zu den Seychellen ausgewichen. Kollege Stinner, was das Argument der Mutterschiffe angeht, so fahren sie dort nicht mit Piratenflagge. Vielmehr hat man private Transportschiffe gekapert. Sie wissen doch ganz genau, was unseren indischen Kameraden passiert ist: Sie haben ein derartiges Schiff versenkt, und dann hat sich herausgestellt, dass thailändische Fischer an Bord waren. So etwas ist doch nicht Sinn und Zweck der Übung. Deshalb muss man hier schon sehr differenziert vorgehen und verhältnismäßig reagieren, das heißt, einerseits den Auftrag erfüllen und andererseits keine Unbeteiligten in Gefahr bringen, die auf privaten Schiffen unterwegs sind. ({5}) „EU-Atalanta“ ist jetzt mit etwa 13 Schiffen in diesem Mandat, von denen wir drei stellen. Wir leisten mit dem Seefernaufklärer „Orion“ einen wichtigen Beitrag. Insgesamt sind jetzt 40 Schiffe im Seegebiet, und es ist eine Kontaktgruppe eingerichtet worden, um eine entsprechende Koordinierung vorzunehmen. Es ist nämlich auch sinnvoll, dass nicht jede Nation nur auf ihren eigenen Bereich schaut, sondern dass wir hier gemeinsam operieren, um Seesicherheit und freien Seehandel herzustellen. Wenn in dieser Debatte gesagt wird, dass es sich bei den Piraten um arme Fischer aus Somalia handele, muss ich dem mit Nachdruck widersprechen. Dort findet organisierte Kriminalität statt. Sie müssen einmal sehen, in welcher Art und Weise dort vorgegangen wird: Nachdem wir Piraten festgenommen und vor ein Gericht in Kenia gebracht hatten, wurde die Bundesregierung mit Klagen wegen Freiheitsberaubung der Piraten überzogen. Dies zeigt doch, wie absurd hier zum Teil agiert wird. Deshalb müssen wir unseren Auftrag, gegen die Piraterie vorzugehen, wirkungsvoll erfüllen. ({6}) Ich bin dankbar, dass wir - Kollege Erler hat es hier vorgetragen -, die Piraten in Kenia vor Gericht bringen können. Ich halte es auch für richtig, dass wir uns weiterhin darum bemühen und Russland es auch unterstützt, dass ein internationaler Gerichtshof zur Pirateriebekämpfung in der Region errichtet werden kann. Unsere niederländischen Kollegen haben gerade Folgendes erlebt: Als sie die Piraten vor ein niederländisches Gericht gestellt haben, haben diese die Bitte ausgesprochen, möglichst lange in den Niederlanden bleiben zu dürfen, und haben im Grunde schon um Asyl gebeten. Dies ist auch nicht Sinn und Zweck einer solchen Bestrafung, die letztlich eine Bekämpfung der Piraterie darstellen soll. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es schon für richtig, dass wir auch in diesem Bereich unser Konzept der vernetzten Sicherheit umsetzen. Ich habe gesagt: Schiffe anmelden, damit begleitet werden kann, aber auch eine Entwicklung in Somalia unterstützen, die möglichst wieder zu stabileren Verhältnissen führt. Die internationale Gemeinschaft hat jetzt ein Programm von 200 Millionen Euro beschlossen, damit auch von Land her wirkungsvoller gegen Piraterie vorgegangen und gewissermaßen parallel ein gemeinsamer Erfolg erzielt werden kann. Aus der Tatsache, dass wir effektiv handeln, folgte, dass sich die Piraterie in den Indischen Ozean ausgedehnt hat. Deswegen ist vom Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee der Europäischen Union am 19. Mai der Beschluss gefasst worden, den Operationsplan zu verändern. Damit wird das Seegebiet von 3,5 Millionen Quadratkilometern auf 5 Millionen Quadratkilometer ausgedehnt, wie gesagt, bis zu den Seychellen. Das Bundeskabinett hat dieser Erweiterung am 27. Mai zugestimmt. Es ist richtig und notwendig, dass der Deutsche Bundestag dieser Erweiterung des Operationsgebiets seine Zustimmung gibt, worum ich ausdrücklich bitte. Dann werden wir auch weiterhin mit der deutschen Marine unseren Beitrag im Rahmen der Operation „EU-Atalanta“ leisten und in möglichst großem Umfang Seesicherheit herstellen und freien Seehandel gewährleisten können; denn bis zu 90 Prozent unserer Produkte werden teilweise auf See transportiert. Daher liegt es auch im Interesse Deutschlands, dass unsere Soldatinnen und Soldaten einen Beitrag zur Bekämpfung der Piraterie und zur Herstellung eines freien Seehandels leisten. Ich bitte Sie um Unterstützung für dieses Mandat, damit wir einen wirkungsvollen und effektiven Beitrag leisten können, um die Geißel der Piraterie in diesem Seegebiet zu bekämpfen. Recht schönen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Stinner das Wort.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Auch wenn ich von der Regierungsbank „Herrje!“ höre, nachdem Sie mich ausdrücklich angesprochen haben, Herr Minister, möchte ich mein parlamentarisches Recht wahrnehmen und erwidern. Ich habe den Äußerungen entnehmen können, dass das der Regierungsbank nicht gefällt. Herr Minister, zunächst einmal Folgendes: Ich habe sehr deutlich gesagt, dass ich den Einsatz der Soldaten wertschätze, ich den Soldaten meine Anerkennung ausspreche und sie nicht kritisiere. Ich finde es den Soldaten gegenüber nicht fair, dass Sie die Kritik, die ich an Ihnen, Herr Minister, und an der Bundesregierung geäußert habe, auf die Soldaten umlenken. Das haben unsere Soldaten nicht verdient. ({0}) Zweitens. Sie haben wieder einmal auf die 150 und die 24 Schiffe hingewiesen. Ich wiederhole es: Das entspricht 1 Promille. Bei 1 Promille Sicherheit können wir nicht von einem Erfolg der Pirateriebekämpfungsaktion reden. Drittens: Mutterschiffe. Ich war im maritimen NATOHauptquartier in Neapel. Dieselben Informationen sind mir vom Flottenkommando gegeben worden. Wir wussten und wissen, wo die Mutterschiffe liegen. Sie sind bis auf 100 Meter genau identifiziert und mir gezeigt worden. Ich weise noch einmal auf den Vorschlag hin: Wenn Sie die Schlauchboote verfolgen würden, wüssten Sie, wo die Mutterschiffe sind. Sie sind eindeutig gekennzeichnet. Mein letzter Punkt: Eine Ausweitung ist richtig. Wenn Sie aber nichts gegen die Piraterie tun, werden Sie das Gebiet alle sechs Monate ausweiten müssen, bis zum Ende der Welt. Sie müssen gegen Piraterie aktiv vorgehen, sonst nützt die Ausweitung überhaupt nichts. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Möchten Sie erwidern, Herr Minister?

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Herr Kollege Stinner, ich will meine Argumente nicht wiederholen. Ich will Sie aber darauf hinweisen, dass die Bundesregierung diese Operation gemeinsam mit den militärisch Verantwortlichen durchführt. Dadurch, dass Sie die Operation kritisieren, kritisieren Sie letztlich natürlich auch unsere Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen unter einem europäischen Mandat. Wir haben einen europäischen Kommandeur in Northwood, wie Sie wissen. Wir haben ein Force Headquarter vor Ort. Das ist ein Einsatz, der europäisch geleitet wird. Ich finde - das entspricht übrigens auch der Beurteilung meiner europäischen Kollegen -, dass das Mandat „EU-Atalanta“ bisher erfolgreich umgesetzt wurde. Ich sage Ihnen noch einmal: 180 000 Tonnen Lebensmittel und 150 Handelsschiffe sind kein Pappenstiel. Wenn die Schiffe angemeldet werden, kommen sie si24930 cher in die Häfen. Dass wir das Mandat heute ausdehnen müssen, zeigt aus meiner Sicht die Effektivität der Umsetzung des Mandats. Deshalb wollen wir unseren Auftrag weiterhin in dieser Art und Weise erfüllen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Norman Paech für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Erler und Herr Jung, ich kann ja verstehen, dass Sie optimistisch sein und sich ein schönes Bild malen müssen. Ich bin aber sehr viel mehr bei Herrn Stinner, der realistisch aufgezeigt hat, was dort wirklich geschehen ist. Ich will nur zwei Zahlen nennen. Sie können es im Augenblick vielleicht als Erfolg werten, dass 2008 nur 42 Schiffe erfolgreich gekapert worden sind und 2009 bis jetzt nur 29. Warten Sie aber die kommenden Monate ab. Die Rechnung wird am Schluss gemacht. Sie werden sehen, dass in 2009 sehr viel mehr Schiffe gekapert werden. ({0}) Im Grunde ist Ihnen allen doch klar, dass diese Art der Piratenjagd gar keinen Erfolg haben kann. Jetzt wollen Sie das Einsatzgebiet von 3,5 Millionen Quadratkilometern auf 5 Millionen Quadratkilometer ausweiten. Das ist ungefähr 14-mal so groß wie die Bundesrepublik. Sie wissen ganz genau, dass diese paar Dutzend Schiffe auf diesem Gebiet noch weniger ausrichten können als bisher. Schon kommen der Verband Deutscher Reeder, aber auch die FDP - das war vorauszusehen - mit der Forderung nach mehr Schiffen. 150 Schiffe bringt Frau Homburger schon ins Spiel. Der „Atalanta“-Kommandeur Philipp Jones spricht von Hunderten Schiffen, die notwendig wären. Jetzt haben Sie erst einmal die Seychellen im Visier, und dann kommt natürlich irgendwann Madagaskar hinzu. Das hat doch alles keinen Sinn. Sie kaschieren Ihre Hilflosigkeit durch militärische Muskeln. Das erinnert mich historisch ein wenig an Wilhelm II., der einmal vor Marokko aufkreuzte. ({1}) Im neuesten Friedensgutachten der fünf größten Forschungsinstitute stehen zu unserem Thema zwei bemerkenswerte Aussagen, die ich zitieren möchte: Eine fast kriminell zu bezeichnende Untätigkeit der entwickelten Länder hat mit dazu beigetragen, dass sich ein zunächst unbedeutendes lokales Ärgernis zu einer internationalen wirtschaftlichen Bedrohung auswirken konnte. Und: Piraterie ist ein ständiges Phänomen, sie reagiert vor allem auf fehlende Regierungsführung, extreme Einkommensunterschiede und auf politische Missstände. ({2}) Das ist der Kern des Problems und auch der Schlüssel für eine nachhaltige Lösung. Es gibt im Grunde drei Arten internationaler Kriminalität vor Somalia, die von dem Zerfall dieses Staates profitiert haben und profitieren. Das sind der illegale Fischfang durch industrielle Fangflotten, die Verklappung von Giftmüll und die Piraterie. Alle drei sind sehr eng miteinander verbunden, und für alle drei Probleme sind die großen Industrieländer hauptverantwortlich. ({3}) Wessen Schiffe waren es denn, die den Fisch aus dem Meer geholt und stattdessen Unmengen von Giftmüll dort verklappt und versenkt haben? Erst die Angriffe auf die Schiffe der großen Industrienationen haben für öffentliche Empörung gesorgt und das Militär auf den Plan gebracht. In der Debatte vor ungefähr 14 Tagen wollten Sie nichts von dem illegalen Fischraub hören. Deshalb hier noch einmal zwei Zahlen: Schon 2005 belief sich der jährliche Verlust für die somalische Wirtschaft auf 94 Millionen Dollar, und 2008 haben Europäer und Asiaten Fisch im Wert von 300 Millionen Dollar aus den Gewässern vor Somalia geholt. Was blieb den armen Küstenbewohnern eigentlich noch übrig? Sie konnten entweder flüchten und auf dem Meer sterben oder angreifen. Um nicht missverstanden zu werden: Piraterie darf die Seeschifffahrt nicht gefährden und muss bekämpft werden. Aber solange Sie nicht mit zivilen Mitteln an die Wurzeln herangehen, ist jede militärische Aktion sinnlos und destabilisiert die gesamte Region. Deswegen lehnt die Linksfraktion dieses ganze unsinnige Unternehmen ab. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der UN-Sicherheitsrat hat unverändert recht: Die Piraterie vor Somalia ist eine Bedrohung internationaler Sicherheit. Diese Bedrohung betrifft übrigens zum großen Teil Seeleute aus der sogenannten Dritten Welt, zumindest was die Schiffsbesatzungen angeht. Die Staaten sind deshalb aufgerufen, die Piraterie mit einem Bündel von kurzfristig, mittelfristig und langfristig wirkenden Maßnahmen zu bekämpfen und einzudämmen. Es wäre ein sicherheitspolitischer Albtraum, würde die heutige organisierte Kriminalität der Piraterie sich mit transnationalem Terrorismus verbinden. Ausgehend vom Beschluss des Europäischen Rates legt die Bundesregierung mit ihrem heutigen Antrag eine Klarstellung und Präzisierung zum Einsatzgebiet vor. Es ist gesagt worden, dass das reale Einsatzgebiet von 3,5 Millionen auf 5 Millionen Quadratkilometer erweitert wird. Das ist eine unvorstellbar große Fläche. Angesichts der realen Verlagerung der Piratenaktionen ist diese Ausweitung zunächst einmal plausibel. Aber ist diese Maßnahme auch geeignet, zu einer wirksameren Piratenbekämpfung beizutragen? Kurze Zwischenbilanz: Alle Transporte - die Zahlen sind schon genannt worden - des World Food Programme mit über 150 000 Tonnen Hilfsgütern sind sicher nach Somalia gekommen. 24 Group-Transits sind sicher durch den Golf von Aden geleitet worden. Die Befürchtung, die nicht wenige hatten, nämlich dass es auch zu Militäroperationen an Land kommt und dadurch eine unberechenbare Eskalation in Gang gesetzt wird, hat sich nicht bewahrheitet. So weit ist ein Teilerfolg zu verzeichnen. Aber zu der Bilanz gehören auch andere Zahlen, die ebenfalls schon genannt worden sind. Im vorigen Jahr hat es insgesamt 111 Piratenüberfälle und 42 Kaperungen gegeben. In diesem Jahr waren es bis Anfang Mai insgesamt 114 Überfälle und 29 Kaperungen. Man muss sehen, dass in diesem Raum Abertausende von Schiffen unterwegs sind. Von einer wirksamen Eindämmung der Piraterie ist die Staatengemeinschaft noch sehr weit entfernt. Vor Ort sind im Rahmen von drei Operationen mehr als 40 Kriegsschiffe im Einsatz, darüber hinaus etliche unter nationalem Kommando. Hier kann man nicht von einem effektiven Multilateralismus sprechen, sondern nur von einem ausdrücklich ungeordneten Multilateralismus. Die wichtigste Aufgabe ist, dass wenigstens die vorhandenen Kräfte viel besser organisiert werden und - der Vorschlag ist nicht neu - alles unter ein UN-Kommando gebracht wird. Dadurch würde die Effektivität sicher steigen. ({0}) Zum Schluss möchte ich Maßnahmen ansprechen, die ausschlaggebend sind - dazu gehört die Militäroperation nicht -, aber fast gar nicht berücksichtigt werden. Erstens. Was geschieht international gegen die Hintermänner, Planer und Finanziers? ({1}) Zweitens. Der Dreh- und Angelpunkt ist die kaputte Staatlichkeit an Land, vor allem in Somalia. Hier sind in den letzten Monaten erste Schritte gemacht worden: Eine Kontaktgruppe hat sich gebildet. Die äthiopischen Truppen sind abgezogen, was sehr wichtig war, um die Chancen für eine politische Konfliktlösung zu erhöhen. Außerdem hat im April dieses Jahres eine Geberkonferenz in Brüssel stattgefunden. Die sehr schwache Übergangsregierung in Mogadischu und die sogenannten Behörden in Puntland und Somaliland im Norden haben jeweils als Drängendstes von der Staatengemeinschaft gefordert: Bitte helft uns beim Aufbau von Sicherheitsstrukturen und von ein wenig Staatlichkeit! - Dafür soll ein Großteil der Gelder der Geberkonferenz, die 213 Millionen Euro zugesagt hat, verwandt werden. Hier stehen wir wieder vor einem Problem: Das Geld steht zur Verfügung. Alle sagen, der Aufbau von solchen Strukturen und von zumindest ein wenig funktionierender Staatlichkeit sei elementar. Aber dafür braucht man auch die entsprechenden Personalkapazitäten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Nachtwei, achten Sie bitte auf die Zeit.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Es darf nicht wieder so ablaufen wie zum Beispiel im Kongo bei den Missionen EUSEC und EUPOL, wo es von deutscher Seite hieß: Wir haben nicht genügend Soldaten und Polizisten, die Französisch sprechen. - Jetzt kann man diese Leute aus Sicherheitsgründen noch nicht dort hinschicken. Aber wenn die politische Konfliktlösung etwas weiter vorangeschritten ist, dann muss man auch Ausbilder, Berater usw. - keine Soldaten - hinschicken können. Dafür müssen jetzt die Kapazitäten aufgebaut werden, damit man in einem halben Jahr oder in einigen Monaten wirklich entsprechend helfen kann. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/13187 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage abweichend von der Tagesordnung nicht gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwie- sen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 40. Dazu liegen mir zahlreiche Erklärungen gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Wie vereinbart, nehmen wir diese Erklärungen zu Protokoll.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf: Beratung des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts- ordnung zu dem von den Abgeordneten Jan Korte, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiteren Ab- 1) Anlagen 12 bis 15 Vizepräsidentin Petra Pau geordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege ({1}) - Drucksachen 16/3139, 16/13032 Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt ({2}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({3})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Grund, aus dem wir heute hier diskutieren, ist der, dass bereits vor drei Jahren ein Gesetzentwurf zur Rehabilitierung sogenannter Kriegsverräter von uns in den Bundestag eingebracht wurde. Dies ist eine Opfergruppe, die bis heute nicht rehabilitiert wurde und die Hunderte, wenn nicht gar Tausende Opfer der Nazijustiz umfasst. Wir wollen sie rehabilitieren. Grund für diese Debatte ist, dass wir seit drei Jahren keine Beschlussempfehlung des federführenden Rechtsausschusses bekommen, und das, obwohl wir eine Anhörung des Rechtsausschusses durchgeführt haben, der Wissenschaftliche Dienst ein Gutachten vorgelegt hat, es diverse Gutachten und Stellungnahmen von Wissenschaftlern gegeben hat und wir zuletzt sogar ein, wie ich finde, sehr aufschlussreiches Gutachten von Hans Hugo Klein, Mitglied der CDU und Bundesverfassungsrichter a. D., das vom BMJ in Auftrag gegeben wurde, bekommen haben. Wir wollen uns heute damit beschäftigen, warum die Rehabilitierung in diesem Hause nicht zustande kommt. Denn - das ist entscheidend - es gibt bis in die Reihen der CDU eine übergroße Mehrheit für diese Rehabilitierung. In diesem Jahr jährt sich zum siebzigsten Mal der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Wir von der Linken sagen: Die Rehabilitierung muss noch in dieser Legislaturperiode geschehen. Wir sind weiter zu aller Kooperation bereit, die dazu führt, dass wir das erreichen. ({0}) Hans Hugo Klein hat in seinem Gutachten Folgendes zu den Kriegsverratsbestimmungen geschrieben: Sie verstießen fundamental „gegen das rechtsstaatliche Bestimmtheitsprinzip“ und waren Grundlage für „in die äußere Form von Gerichtsurteilen gekleideten Tötungsverbrechen“. Sie hatten nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun. Der Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung schreibt dazu: In diesem Fall stehen die bislang vorgebrachten Sachargumente einer entsprechenden Gesetzesänderung nicht entgegen, sodass es von hier aus keine Vorbehalte dagegen gibt. Dies habe ich dem Kollegen Geis mit Schreiben vom 17. März 2009 mitgeteilt. Ebenso dafür sind - das konnte man heute nachlesen Joachim Gauck, Bischof Huber, die EKD, Pax Christi, Richtervereinigungen, vor allem Opfergruppen und nun auch - das ist sehr erfreulich - die Sozialdemokratische Partei Deutschlands; denn besonders viele Opfer unter den Kriegsverrätern waren Sozialdemokraten, die unter den Fallbeilen der Nazijustiz zu Tode gekommen sind. Ich glaube, dass es bis in die CDU hinein - Franz Josef Jung ist Mitglied der CDU - Unterstützung dafür gibt. Allerdings müssten Sie, Herr Gehb, einmal erklären, wie Sie zu den Aussagen Ihres Kollegen Geis stehen. In der FR wird zitiert: Darüber hinaus sei eine solche pauschale Aufhebung unerträglich für ihn, - also Geis weil damit die Arbeit von Juristen in der NS-Zeit pauschal verunglimpft würde. Weiter lässt er sich zitieren: „Alle Urteile würden damit zu Unrechtsurteilen.“ Wenn irgendetwas Unrecht gewesen ist, dann doch das. Darüber gibt es in der Wissenschaft, der Publizistik und, ich glaube, auch hier im Bundestag nach so vielen Jahren und Jahrzehnten des Kampfes keinen Dissens mehr. ({1}) Ich frage mich, wie lange solche Positionen hier noch vorgetragen werden dürfen und wie lange der Versuch gemacht werden soll, die Nazijustiz vom Nationalsozialismus abzutrennen. Es kann hier keine Trennung geben. Die Nazijustiz und in besonderer Weise die Nazimilitärjustiz waren substanzieller Bestandteil des nationalsozialistischen Terror- und Willkürregimes. ({2}) Es gibt keine Anhaltspunkte, die dagegensprechen. In diesem Sinne erinnern wir uns daran, dass auch die Rehabilitierung der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 bitter erkämpft werden musste. Wir erinnern uns an den Sozialdemokraten Fritz Bauer, den hessischen Generalstaatsanwalt, der im Remer-Prozess maßgeblich dafür gesorgt hat. Er endete damals sein Schlussplädoyer, indem er mit Blick auf den 20. Juli sagte: „Unrecht kennt keinen Verrat.“ Was, bitte schön, soll daran Unrecht sein, wenn man einen der barbarischsten Vernichtungs- und Angriffskriege in der Geschichte der Menschheit verrät? Das müssen Sie erklären. Es wäre schön, wenn wir heute, fast 70 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, diese letzte Opfergruppe rehabilitieren würden. Damit würden wir deutlich machen, dass diese Personen in unserem Sinne gehandelt haben. Denn jeder Verrat trug dazu bei, dass Auschwitz, die industrielle Massenvernichtung nicht länger laufen konnten. Jeder Verrat führte dazu, dass die Dauer dieses Krieges, der jeden Tag Tausende oder teilweise sogar Millionen von Opfern gefordert hat, verkürzt wurde. Ich würde mich sehr freuen, wenn in dieser Legislaturperiode endlich die erforderliche parlamentarische Mehrheit, die es in diesem Hause gibt, zustandekommen würde, damit wir den Angehörigen der Opfer das Zeichen geben könnten, dass ihre Väter und Großväter nicht vorbestraft sind, sondern unseren Respekt haben. Schönen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die Unionsfraktion.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute nicht die Aufhebung von NS-Urteilen wegen Kriegsverrats. ({0}) Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes ist vielmehr der Bericht des Rechtsausschusses nach § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu der Frage, warum sich der Rechtsausschuss zehn Sitzungswochen nach der Überweisung in der Sache immer noch nicht abschließend geäußert hat. Der Deutsche Bundestag hat sich bereits zweimal, nämlich 1998 und 2002, sehr umfangreich mit der Frage der pauschalen Aufhebung der NS-Urteile wegen Kriegsverrats beschäftigt. Er hat die pauschale Aufhebung jeweils mit großer Mehrheit abgelehnt. ({1}) Offenbar hält auch die Bundesregierung an dieser Auffassung fest. Jedenfalls hat das Bundesministerium der Justiz, geführt von der der SPD angehörenden Bundesministerin Brigitte Zypries, auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke auf Bundestagsdrucksache 16/1849, ({2}) in der es um die Frage geht, ob der Kriegsverrat im Nationalsozialismus verurteilenswert sei, mit Schreiben vom 15. Juni 2006 wie folgt geantwortet - ich zitiere -: Die Frage lässt sich nur im konkreten Einzelfall beantworten. Dabei kommt es darauf an, ob infolge des Verrats zusätzliche Opfer unter der Zivilbevölkerung und/oder deutschen Soldaten zu beklagen waren oder ob infolge des Verrats derartige Opfer gerade vermieden wurden. Der Gesetzgeber hat sich deshalb nach Auffassung der Bundesregierung zu Recht dafür entschieden, bei der Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege … für diese Fälle eine pauschale Aufhebung abzulehnen und es bei der Einzelfallprüfung zu belassen. ({3}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht keinerlei Anhaltspunkte, weder im Hinblick auf den Sachverhalt - er ist ja abgeschlossen - noch in rechtlicher Hinsicht, die an dieser Bewertung irgendetwas ändern könnten; ({4}) bei unserem Koalitionspartner scheint das offenbar nicht der Fall zu sein. Sowohl der Koalitionsvertrag als auch die Kooperationsvereinbarung der Koalitionsfraktionen verlangen ein einheitliches Abstimmungsverhalten. ({5}) Da ein einheitliches Abstimmungsverhalten bisher nicht zu erzielen war, hat der Rechtsausschuss von einer Beschlussempfehlung, wie sie in § 62 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vorgesehen ist, abgesehen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Rede des Kollegen Jörg van Essen für FDP-Frak- tion nehmen wir zu Protokoll.1) Das Wort hat der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carl Christian Dressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003750, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, über diesen Tagesordnungspunkt kann man nicht reden, ohne sich auch über die materielle Frage, die Rehabilitierung der wegen sogenannten Kriegsverrats Verurteilten, zu unterhalten. Die Zahl der während des Naziterrors in Deutschland begangenen Verbrechen ist Legion. Wenn man sich die Bewusstwerdung und die Reflexion des in Deutschland seit 1945 Geschehenen vor Augen hält, stellt man fest: Es gibt unterschiedliche Phasen, und es gibt unterschiedliche Lernprozesse. ({0}) 1) Anlage 16 Das hat sich auch in diesem Hohen Hause, wenngleich nicht an dieser Stelle, sondern noch in Bonn, bei den Verjährungsdebatten in den Jahren 1965, 1969 und 1979 deutlich gezeigt. Wir haben diesen Lernprozess allerdings noch nicht abgeschlossen. Wir brauchen eine langfristige Reflexion dieses dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte. Aber diese Langfristigkeit und dieses Tempo sind aus der Sicht der Opfer nur schwer erträglich; denn die Opfer mussten noch lange nach dem Ende des Naziregimes den Makel verurteilter Straftäter tragen. ({1}) Mit Recht werden wir auch in diesen Tagen wiederholt darauf hingewiesen. Durch das Gesetz zur Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen aus dem Jahre 1998 in der Fassung seiner Ergänzung im Jahre 2002 wurde viel für viele Opfer erreicht und ihre Ehre wiederhergestellt. Dabei ging es auch um Tatbestände des Militärstrafgesetzbuches. Die Bestimmungen zum Kriegsverrat wurden hiervon allerdings ausgenommen. Sie wurden bewusst nicht in die Liste aufgenommen, da damals zumindest theoretisch noch davon ausgegangen wurde, dass die sogenannten Kriegsverräter im Einzelfall auch eigene Kameraden gefährdet haben. Daher gilt immer noch die Regelung, dass eine Einzelfallprüfung nötig ist. Grundlage hierfür war das, was man unter Historikern und Juristen eine gefestigte herrschende Meinung nennt. Durch die Untersuchungen wurde aber gezeigt, dass die gefestigte herrschende Meinung nicht nur infrage zu stellen, sondern widerlegt ist. ({2}) Seit nunmehr zwei Jahren liegen mit dem Buch Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat von Wolfram Wette neue, gefestigte, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über diese Thematik vor. An dieser Studie haben renommierte Militärhistoriker wie Manfred Messerschmidt und Detlef Vogel mitgewirkt. Dadurch wurden wir veranlasst, zu prüfen, ob es geboten ist, nun auch diese Ausnahme zu beseitigen und diese Verurteilungen wegen Kriegsverrats ebenfalls pauschal aufzuheben. Nach dieser Prüfung haben wir Veranlassung, zu sagen, dass diese Ausnahme keinerlei Rechtfertigung mehr hat. ({3}) Kollege Gehb hat etwas sehr Richtiges getan, er hat nämlich Bundesministerin Zypries zitiert, allerdings aus dem Jahre 2006. Ich zitiere Brigitte Zypries mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, vom 21. Juni 2007 mit den Worten: Ich meine, diese Studie gibt dem Gesetzgeber Anlass, neu darüber zu diskutieren, ob man nicht auch die Verurteilungen wegen Kriegsverrats pauschal aufheben sollte. ({4}) Ich zitiere abermals Brigitte Zypries, und zwar vom 16. Juni 2008: Ich meine, es wäre konsequent, auch Kriegsverrat in die lange Liste der Delikte aufzunehmen, bei denen NS-Urteile nicht mehr im Einzelfall auf ihren Unrechtscharakter geprüft werden müssen, sondern pauschal aufgehoben sind. ({5}) Auf Antrag meiner Fraktion wurde am 5. Mai 2008 eine Anhörung durchgeführt. Die von meiner Fraktion benannten Sachverständigen Professor Wette und Professor Messerschmidt haben ihre Positionen überzeugend dargestellt. Wir konnten uns von der Belastbarkeit der aktuellen Forschungsergebnisse überzeugen. Alle abweichenden Expertenmeinungen sehen wir damit als widerlegt an. Damit liegt uns sowohl auf historischer als auch auf juristischer Seite durch das Gutachten von Professor Hans Hugo Klein eine klare wissenschaftliche Stellungnahme zum Thema Kriegsverrat vor, der man aus meiner Überzeugung nicht mehr widersprechen kann. Das ist das Novum in dieser Auseinandersetzung. ({6}) Hans Hugo Klein führt mit Recht aus, dass dieser Straftatbestand mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar war, und zwar von Anfang an, seit seiner Einführung im Jahre 1934. Dies ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen der Weite der Tatbestandsvoraussetzungen - ganz klares NS-Recht - einerseits und der absoluten Androhung nur einer Strafe, nämlich der Todesstrafe, andererseits, wodurch die Richter nach den überzeugenden Ausführungen von Professor Klein gezwungen waren, die Todesstrafe zu verhängen, selbst wenn ihnen diese zu hart war. Es bedarf keiner großartigen intellektuellen Anstrengung, festzustellen: Wenn das Gesetz rechtsstaatswidrig war, dann kann auch die auf diesem Gesetz basierende Urteilspraxis nichts anderes sein als rechtsstaatswidrig, mithin Unrecht. ({7}) Mit den Worten von Professor Klein, der den BGH zitiert: Die Grausamkeit, die das Bild der Justiz in der NSZeit prägt, gipfelte in einem beispiellosen Missbrauch der Todesstrafe. § 57 des Militärstrafgesetzbuches hat nach Tatbestand und Rechtsfolge die Weichen für diesen Missbrauch gestellt. Er bot die Grundlage für eine Vielzahl von in die äußere Form von Gerichtsurteilen gekleideten Tötungsverbrechen. ({8}) Aus diesen Gründen - historisch-politisch wie auch juristisch - ist die Beendigung der Ausnahme aus Sicht meiner Fraktion und dankenswerterweise, Herr Staatssekretär Hartenbach, auch aus Sicht des Bundesministeriums der Justiz geboten. Ich nutze die Gelegenheit, Ihnen und Frau Bundesministerin Zypries für Ihre Unterstützung in dieser Sache zu danken. ({9}) Wir würden sehr gerne einen entsprechenden Koalitionsgesetzentwurf einbringen. Damit sind wir beim von Jürgen Gehb zu Recht zitierten Koalitionsvertrag. Aber leider konnten wir die Fraktion der CDU/CSU noch nicht vollends überzeugen. Ich finde leider keinen nachvollziehbaren Grund. Das, was zum Beispiel am Mittwoch in der taz vom Kollegen Geis zu lesen war, stößt auf mein Unverständnis. Denn es gibt keinen einzigen nachgewiesenen Fall, demzufolge als Kriegsverräter Verurteilte eigennützig ihre Kameraden verraten haben. Die Fakten sprechen für das Gegenteil. Ich bedaure, dass Bundesminister Jung nicht mehr hier ist. Denn laut Presseberichten hält auch er eine pauschale Aufhebung der Urteile für möglich und widersetzt sich nicht mehr. Das Schreiben ist heute schon angeführt worden. Ich würde mich freuen, wenn wir in diesem Sinne eine Lösung erreichen. Verurteilungen wegen Kriegsdienstverweigerung, Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung kommt nach bestehender Gesetzeslage keine Rechtswirksamkeit zu, weil diese Verurteilungen von Anfang an Unrecht waren und von Richtern gefällt wurden, die nicht unabhängig waren. Der sogenannte Kriegsverrat bildet meiner Ansicht nach in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Ich wäre Ihnen sehr verpflichtet, meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn Sie Ihre Position nochmals überdenken könnten, um den von Jürgen Gehb gestern mit Recht zitierten Erfolgsbilanzen der Großen Koalition in der Rechtspolitik der 16. Wahlperiode noch einen Punkt hinzuzufügen. Lassen Sie uns gemeinsam die Ehre der NS-Opfer wiederherstellen, in dem Sinne, in dem sich Joachim Gauck heute in der taz geäußert hat: Man muss darauf hoffen, dass auch Konservative die Arbeiten von Wette zur Kenntnis nehmen. Nur so können die unbegründeten Vorurteile gegen Kriegsverräter ausgeräumt werden. Den Worten von Joachim Gauck habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Ich hoffe, dass wir in der 16. Wahlperiode doch noch zu einer Regelung kommen. Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Film Die weiße Rose, in dessen Nachspann steht, dass die Verurteilung der Geschwister Scholl und ihrer Mitstreiter noch heute gültig ist, hat dazu geführt, dass hier im Bundestag debattiert wurde und dass schließlich die Urteile des Volksgerichtshofes in toto als nationalsozialistisches Unrecht aufgehoben wurden. Dies geschah spät, aber es geschah immerhin. ({0}) Herr Kollege Gehb, ich höre Ihnen sonst gerne zu - weniger weil ich mit Ihnen übereinstimme -: Von Ihrem „Caligulas Pferd“ bis hin zu Ihren lateinischen Sentenzen argumentieren Sie in der Regel in der Sache. Heute gab es allerdings kein einziges Argument in der Sache. Sie haben lediglich rein formal argumentiert, auf den Koalitionsvertrag verwiesen und gesagt, der Bundestag habe seinerzeit Kriegsverräter ausgenommen basta! Nun will ich, vorpfingstlich milde gestimmt, positiv bewerten, dass Norbert Geis uns hier nicht wieder erzählt hat, so etwas sei unglaublicher Verrat an den Kameraden gewesen - sodass man den Eindruck gewinnt, dass man noch heute bestrebt sein müsste, den Weltkrieg auf deutscher Seite zu gewinnen - und die Wehrmacht sei im Kern sauber gewesen. Das alles ist uns heute erspart geblieben. ({1}) Ich erwarte aber, dass jetzt noch etwas kommt. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Militärjustiz in der NSZeit hat sich von den Mördern in Richterrobe am Volksgerichtshof durch gar nichts unterschieden; beide Seiten waren Mordmaschinen. Die Militärjustiz hat zum Ende hin sogar noch schlimmer gewütet. Es gab dann sogenannte Fliegende Standgerichte; der Strick hing schon am Baum, bevor das sogenannte Gericht überhaupt zusammengetreten war. Das war nur noch eine Farce von Justizförmigkeit. 17- und 18-Jährige sind dabei auf der Strecke geblieben. Ich empfehle Ihnen allen, sich das Wehrmachtsgefängnis in Anklam anzusehen, wo junge Leute - genauso wie an vielen anderen Orten - auf ihre Hinrichtung warten mussten. Als ich die Sachverständigen gehört habe, fühlte ich mich zum Teil wie in einer Zeitmaschine. So wurde beispielsweise gesagt - das ist eine gespenstische Argumentation -, ein von Kriegsgefangenen verratener Torpedo habe nicht etwa den Krieg verkürzt, sondern sei ein sogenannter Verteidigungstorpedo gewesen, weswegen es schändlich gewesen sei, so etwas zu tun. Diese Logik lässt außer Acht, dass unsere damaligen Berufskollegen in Militärrichterrobe dazu beigetragen haben, dass der Wahnsinn bis in den Mai 1945 fortgesetzt werden konnte und alliierten Befreiern sowie ganz jungen deutschen Soldaten das Leben gekostet hat. Das ist eine Schande für unseren Berufsstand, die endlich benannt werden müsste und aus der endlich Konsequenzen gezogen werden müssten, Herr Kollege Gehb. ({2}) Ich freue mich, dass sich die SPD-Fraktion im Verlauf dieser Debatte immer entschiedener hinter das Anliegen der Linksfraktion gestellt hat. ({3}) - Ich sage es einfach so. - Noch in der Anhörung hat der Kollege Stünker gemeint, alle nationalsozialistischen Unrechtsurteile seien schon aufgehoben und hätten keinen Bestand mehr, sodass man offene Türen einrenne. Es ziert Sie, wenn Sie dazulernen. Das gilt auch für die Bundesjustizministerin. Ich sage das wirklich ohne Häme. Das Gleiche erwarte ich aber auch von konservativer Seite. Es war seinerzeit falsch, die sogenannten Kriegsverräter auszunehmen. In der Anhörung wurde - sogar mit gefälschten Beispielen - versucht, irgendein Urteil zu finden, das sich heute materiell verteidigen ließe. Man hat aber kein einziges Kriegsverratsurteil gefunden. Es ist nun überfällig, den letzten Schritt zu tun. In letzter Zeit gab es hier sehr oft Gewissensentscheidungen, zum Beispiel bei der Abstimmung über die Heroinabgabe an Schwerstabhängige. Meines Erachtens ist die Beantwortung der Frage, ob wir uns endlich zur Klarheit darüber durchringen wollen, welches die gerechte und welches die ungerechte Seite in diesem Krieg war, längst überfällig. Auch hier handelt es sich um eine Gewissensentscheidung. Diese Entscheidung zu treffen, kann nicht über das Ende dieser Legislaturperiode hinaus vertagt werden. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und 41 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert Liebing, Ulrich Adam, Peter Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Kurt Bodewig, Franz Thönnes, Dr. h. c. Gerd Andres, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD Ostseestrategie voranbringen und unterstüt- zen - Drucksache 16/13171 - b) Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Ostseeparlamentarierkonferenz 17. Jahrestagung der Ostseeparlamentarierkonferenz vom 31. August bis 2. September 2008 in Visby, Schweden - Drucksache 16/12399 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden zu Pro- tokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Ingbert Liebing von der Unionsfraktion, Franz Thönnes und Kurt Bodewig von der SPD-Frak- tion, Markus Löning von der FDP-Fraktion, Lutz Heilmann von der Fraktion Die Linke und Rainder Steenblock von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/13171 mit dem Titel „Ostseestrategie voranbringen und unterstützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 41 b. Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 16/12399 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf: Vereinbarte Debatte 25 Jahre Parlamentarisches Patenschafts-Pro- gramm Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Wolfgang Börnsen von der Unionsfraktion, Dagmar Freitag und Bernd Scheelen von der SPD-Fraktion, Ernst Burgbacher von der FDP-Fraktion, Volker Schneider von der Fraktion Die Linke und Anna Lührmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.2) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich auf Mittwoch, den 17. Juni 2009, ein. An diesem Tag findet um 12 Uhr hier im Plenarsaal die Gedenkveranstaltung „17. Juni 1953“ statt. Aus diesem Grund beginnt die Plenarsitzung erst um 13.30 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen frohe Pfingsten.