Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt für die heutige Plenarsitzung eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Kompetenzstreit der Bundesregierung bei der
Sicherung des Schiffsverkehrs vor Somalia
({0})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Christian Ahrendt, Daniel Bahr ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Anti-Rezessionsprogramm auflegen
- Drucksache 16/10867 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Energieforschung neu ausrichten - Deutschland, Energieland der Zukunft
- Drucksache 16/10329 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Nachteile für den Forschungsstandort
Deutschland aufheben - Für ein innovationsfreundliches Steuersystem
- Drucksache 16/12474 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero
Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas
Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas
Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Punkte-Systematik des Verkehrszentralregis-
ters in Flensburg einfacher und verständlicher
gestalten
- Drucksache 16/12993 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria
Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn,
Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Situation von Frauenhäusern verbessern
- Drucksache 16/12992 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erinnerungsprojekt „Zug der Erinnerung“
unterstützen
- Drucksache 16/12991 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({8})
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({9})
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Marieluise Beck ({10}), Volker Beck ({11}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Landrechte stärken - „land grabbing“ in Entwicklungsländern verhindern
- Drucksachen 16/12735, 16/13023 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf Bauer
Dr. Sascha Raabe
Dr. Karl Addicks
Dr. Norman Paech
Thilo Hoppe
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({12}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui,
Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sozialisierung der Verluste verhindern - Sicherungsfonds für privaten Finanzsektor
schaffen
- Drucksachen 16/8888, 16/10610 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger
Dr. Axel Troost
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({13}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbesserung des Verbraucherschutzes beim
Erwerb von Kapitalanlagen
- Drucksachen 16/11185, 16/12354 Berichterstattung:
Abgeordnete Ortwin Runde
Dr. Barbara Höll
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnung 17 wird abgesetzt.
Nach den Ohne-Debatte-Punkten sollen jetzt die Tagesordnungspunkte 20 und 22 aufgerufen werden. Der
Tagesordnungspunkt 24 wird nach dem Tagesordnungspunkt 19 aufgerufen und der Tagesordnungspunkt 18
nach dem Tagesordnungspunkt 21. Außerdem rücken
die Tagesordnungspunkte 26, 28, 30 und 32 jeweils um
einen Platz vor.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 205. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({14}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der
Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen
- Drucksache 16/10120 überwiesen:
Rechtsausschuss ({15})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 217. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss ({16}) zur Mitberatung und gemäß § 96 GO überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 16/12596 überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Vereinbarte Debatte
60 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/CSUFraktion.
({18})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ein neues geschichtliches Standardwerk beschreibt in diesen Tagen 60 Jahre Bundesrepublik
Deutschland als eine geglückte Demokratie. Wer hätte
nach unserer Geschichte, nach der Schoah, nach der
furchtbaren, verbrecherischen Diktatur des Dritten Reiches, nach dem von Deutschland verursachten Zweiten
Weltkrieg, der ganz Europa in Schutt und Asche gelegt
hat - mit Millionen Toten -, jemals daran gedacht, dass
wir wieder geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft
und des europäischen Integrationsprozesses werden würden?
Und die Deutschen selbst? Nach Jahrzehnten von
Selbstzweifeln - sagt uns die Meinungsforschung - blicken sie zufrieden auf die vergangenen 60 Jahre. Ja, sie
sind stolz auf das Erreichte. Sie nehmen für sich zu
Recht in Anspruch, dass sie, die Bürgerinnen und Bürger, den entscheidenden Anteil daran hatten. Und sie formulieren völlig unverkrampft: Wir Deutsche sind stolz
auf unser Vaterland.
({0})
Aber ein abschließendes Urteil über eine glückliche
Entwicklung der vergangenen 60 Jahre, der ersten
60 Jahre der Bundesrepublik Deutschland, war erst möglich mit der deutschen Einheit. Mit der deutschen Einheit wurde die Teilung unseres Vaterlandes überwunden,
und der Prozess der europäischen Einigung machte einen gewaltigen Schritt voran. Für uns waren Einheit in
Freiheit und gemeinsames Europa immer zwei Seiten ein
und derselben Medaille. Dass dies heute erreicht ist,
macht uns froh und glücklich.
({1})
Einen beachtlichen Anteil an dieser erfolgreichen
Entwicklung der ersten 60 Jahre hatte unser Grundgesetz. Die 65 Männer und Frauen des Parlamentarischen
Rates unter Führung von Konrad Adenauer, 32 davon
aus der Union, hatten alle ihre eigene persönliche Erfahrung aus der Weimarer Republik und mit der Diktatur
des Dritten Reiches. Sie haben etwas erlebt, was wir
uns gar nicht vorstellen können: Sie haben erlebt, wie
sich in dieser Diktatur Menschen über Menschen erhoben haben. Sie haben erlebt, wie in dieser Diktatur
menschliches Leben zu unwertem Leben verurteilt und
ermordet wurde. Ja, zusammenfassend kann man sagen:
Sie haben erlebt, wie in dieser Diktatur die Menschenwürde mit Füßen getreten wurde.
Deshalb war es aus dieser Erfahrung heraus nur konsequent, dass vom Parlamentarischen Rat als Eingangsstatement, als Leitsatz für die neue Verfassung geschrieben wurde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Das war die Erfahrung aus dieser furchtbaren Zeit.
Aber zur gleichen Zeit war im Parlamentarischen Rat
ebenso präsent, dass die Verfassung die Menschenwürde
nicht schafft, nicht neu erfindet, sondern dass die Menschenwürde vor der Verfassung, vor jedem menschlichen Recht steht. Deshalb wurde in der Präambel des
Grundgesetzes folgerichtig formuliert, in Verantwortung vor Gott werde das Folgende als Verfassung niedergelegt.
Zur gleichen Zeit kam eine weitere Erfahrung hinzu,
die wir uns auch in unserer politischen Arbeit immer
wieder vor Augen führen sollten - bei allem, was nun
geregelt und gemacht wird -, nämlich die Erfahrung
- wie Dietrich Bonhoeffer einmal schön formuliert hat -,
hier auf dieser Welt würden nur die vorletzten, nicht die
letzten Dinge geregelt. Aus dieser Erkenntnis heraus
konnte auch die Kraft zur Beschränkung formuliert werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben diesem zentralen Wert, neben dieser zentralen Aussage zur
Menschenwürde, sind die ersten 19 bzw. 20 Artikel des
Grundgesetzes jedoch von einem weiteren zentralen
Wert geprägt, der ebenfalls aus der Erfahrung unserer
Geschichte begründet ist, dem der Freiheit. In wesentlichen Artikeln des Grundgesetzes wurde die Freiheit des
Einzelnen formuliert - die Religionsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit -, und resultierend aus Menschenwürde und Freiheit wurde dann in
Art. 2 der Schutz des Lebens formuliert. Dies alles ergibt
ein Wertesystem, das von einem Menschenbild des mündigen und selbstständigen Bürgers ausgeht.
({2})
Menschenwürde und Schutz des Lebens gehören untrennbar zusammen. Deswegen bin ich froh, dass wir
gestern hier im Deutschen Bundestag eine bemerkenswerte Entscheidung zum Schutz des Lebens bei den
Spätabtreibungen getroffen haben.
({3})
Die Freiheit des Einzelnen ist immer begrenzt - dies
geht klar aus dem System des Grundgesetzes hervor; so
steht es nämlich in einigen Artikeln - durch die Freiheit
des anderen, durch die Würde des anderen. Insofern zielt
der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes auf verantwortete
Freiheit. Er verlangt immer wieder aufs Neue, die Freiheit zu verteidigen sowie sich zu wehren und da zu widersprechen, wo Freiheit in Gefahr ist. Aber es ist gerade
nicht durch den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes gedeckt, Polizisten mit Steinen zu bewerfen und Autos
anzuzünden. Das entspricht nicht dem Begriff verantwortungsbewusster Freiheit, wie er im Grundgesetz formuliert ist.
({4})
Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren
sich aber auch der Gefährdungen der Verfassung bewusst. Auch die Weimarer Republik hat Bürgerrechte,
hat Freiheiten formuliert, aber es konnte durch die Verfassung und den Verfassungsvollzug nicht verhindert
werden, dass diese Freiheit von den Feinden der Verfassung und von den Feinden der Freiheit missbraucht
wurde. Deshalb wurde im Grundgesetz ein ausgefeiltes,
wesentlich robusteres System gegenseitiger Kontrollen
und Machtbegrenzungen formuliert.
Entscheidend aber ist die Bestimmung im Grundgesetz, dass Parteien zwar an der Willensbildung in unserer
Demokratie mitwirken, dass aber Parteien verboten werden können, wenn sie unsere demokratische Rechtsordnung verbiegen oder abschaffen wollen. All das wird unter dem Begriff der wehrhaften Demokratie
zusammengefasst. Unsere Demokratie ist nicht wehrlos
gegen ihre Feinde, sondern ist eine wehrhafte Demokratie. Ich sage deshalb auch ganz klar: Für mich ist die
NPD eine verfassungswidrige Partei, die unser System
überwinden bzw. abschaffen will.
({5})
Aber
({6})
die oberste Tugend ist die Klugheit. Das Bundesverfassungsgericht hat uns klar vorgeschrieben, wann und unter welchen Voraussetzungen ein Verbotsantrag zum Erfolg führen kann. Ich kann nur sagen: Ich fordere die
Landesregierungen und die Bundesregierung auf, intensiv zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.
Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, dann sind wir sofort dafür, einen Verbotsantrag zu stellen und zum Erfolg
zu führen. Aber ein zweites Mal einen Verbotsantrag zu
stellen und wiederum keinen Erfolg zu haben, würde die
wehrhafte Demokratie nicht stärken. Die Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um zum Erfolg zu kommen.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
davon gesprochen, dass die Verfassung das robuste System einer repräsentativen Demokratie geschaffen hat,
um Macht zu kontrollieren und Macht auszubalancieren.
Ein Beweis dafür ist auch die Schaffung des Bundesverfassungsgerichts. Nicht die Legislative, nicht die
Exekutive entscheiden abschließend über das, was verfassungsgemäß ist oder nicht, sondern das Bundesverfassungsgericht. Die hohe Akzeptanz der Verfassung
hängt auch damit zusammen, dass unser Grundgesetz
Bürgerrechte und Abwehrrechte gegenüber dem Staat,
aber auch Teilhaberechte gegenüber dem Staat als direkte Rechtsansprüche formuliert hat, die letztlich vor
dem Bundesverfassungsgericht einklagbar sind.
Die hohe Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts
mit seinen Entscheidungen in den letzten 60 Jahren beruht ganz maßgeblich auf seiner beispielhaften Rechtsprechung zu unseren Grundrechten,
({8})
einer konkreten Ausformulierung des Rechtsanspruchs
des Bürgers gegenüber Eingriffsmöglichkeiten des Staates. Ich wünsche mir, dass diese hohe Akzeptanz des
Bundesverfassungsgerichts, die es sich durch seine
Rechtsprechung erworben hat, auch in Zukunft erhalten
bleibt. Sie bleibt aber nur durch die Rechtsprechung und
weniger durch viele Interviews und Einmischung in tagesaktuelle Politik erhalten.
({9})
Das Grundgesetz appelliert mit seinen Grundrechten
und vor allem mit seinen Freiheitsrechten aber auch an
den Gesetzgeber, die Freiheit des Einzelnen zu achten
und zu schützen. Deshalb müssen wir uns, die wir Gesetze machen, immer dessen bewusst sein, dass eine Abwägung zwischen staatlicher Regulierung, staatlicher
Gängelung und Bewahrung der Freiheitsrechte erforderlich ist. Nirgendwo wird dieses Problem so eklatant und
deutlich wie bei einer zentralen Aufgabe des demokratischen Rechtsstaats, nämlich Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger zu schaffen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist als Sozialstaat,
als Rechtsstaat ausgestaltet. Die sozialen Rechte sind
von elementarer, existenzieller Bedeutung. Aber diese
ganzen Rechte sind dann nicht lebbar, wenn der Staat
nicht die Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger
gewährleistet. Da bringen neue Herausforderungen neue
Fragen. Nicht umsonst machen wir es uns hier im Deutschen Bundestag so schwer, darüber zu entscheiden, wo
der Staat intensiv hinschauen und hinhören muss, um
Unheil und Terrorismus abzuwenden, und wo er freiheitliche Bürgerrechte nicht verletzen darf. Dies ist nicht
pauschal in einer einzigen Sentenz zu klären, sondern jedes Mal, in jedem Einzelfall muss im Lichte dieser Abwägung darum gerungen werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Freiheit zu
sichern, geschieht nicht mehr ausschließlich in unserem
Land, in Deutschland. Die Freiheit ist von Außen gefährdet, nicht mehr im Sinne des Kalten Krieges, als wir in
erster Linie Landesverteidigung ausgeübt haben, sondern, wie der damalige Verteidigungsminister Peter
Struck gesagt hat, auch am Hindukusch. Deshalb ist im
Grundgesetz folgerichtig - unter Annahme dieser neuen
Herausforderung - formuliert, unter welchen Bedingungen die Bundeswehr eingesetzt werden kann, um Freiheit für unser Land und die Menschen dieses Landes zu
erreichen. Auch da ist wieder deutlich geworden, dass
der Verfassungsgeber der Neuzeit ganz konsequent das
fortgeschrieben hat, was bei den Gründungsvätern und
Gründungsmüttern angelegt war, nämlich den Vorbehalt
des Parlaments. Wir haben im Grundgesetz einen starken Parlamentarismus angelegt, stärker als in vielen anderen Ländern Europas. Das mag bei der Umsetzung
manchmal etwas hinderlich und beschwerlich sein. Aber
es zeigt eine ausbalancierte Kontrolle und Begrenzung
von Macht. Darüber hinaus macht es deutlich, was das
Grundgesetz in dieser repräsentativen Demokratie verVolker Kauder
langt, nämlich ein hohes Maß an Transparenz. Was hier
im Deutschen Bundestag beraten, diskutiert und entschieden wird, ist aufgrund der Medien, die über unsere
Arbeit berichten, transparent.
Das Grundgesetz hat aber auch deshalb eine so erfolgreiche Geschichte, weil es puristisch ist. Wer das
Grundgesetz liest, ist elektrisiert von den wie in Stein
gemeißelten Sätzen: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
„Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ - Diese klare Sprache ist für jeden nachvollziehbar
und verständlich.
Nur in sehr wenigen Fällen hat das Grundgesetz unbestimmte Zielaufträge formuliert. Das Grundgesetz hat
sich ganz bewusst aus tagesaktuellen Zielbestimmungen
herausgehalten. In der Verfassungsgeschichte wurde
häufig die Frage gestellt: Was hätte es in der Zeit des
schwierigen Wiederaufbaus, der Trümmerfrauen in West
und Ost, bedeutet, wenn wir Staatsziele über das hinaus,
was 1949 im Grundgesetz festgeschrieben wurde, beschlossen hätten? Indem das Grundgesetz dies nicht getan hat, hat es einen Beitrag geleistet zu dem, was der
Verfassungsrechtler Konrad Hesse einmal formuliert hat:
In einer Demokratie, die sich auch durch Meinungsstreit
auszeichnet und in der der Wettbewerb um die besseren
Ideen zum Parlamentarismus gehört, muss eine Verfassung, muss ein Grundgesetz Voraussetzungen für Einheit
schaffen. Dies hat das Grundgesetz mit seinen puristischen Formulierungen getan. Deswegen sind wir sicher
gut beraten, wenn wir diesen Purismus im Grundgesetz
auch für die Zukunft bewahren.
({10})
Das Grundgesetz hat, ganz im Kontext der parlamentarischen Demokratie, einen offenen politischen Prozess,
einen Wettbewerb um die besseren Ideen ermöglicht,
den es mit seinen Wertentscheidungen aber prägt.
Ein Beispiel, das gerade in der aktuellen Diskussion
von großer Bedeutung ist: Das Grundgesetz formuliert
keine Wirtschaftsverfassung, keine Wirtschaftsordnung.
Es gibt aber hierzu einige wesentliche, existenzielle
Aussagen in diesem Grundgesetz. Da ist zum einen die
Aussage des Grundgesetzes, dass die Bundesrepublik
ein sozialer Staat ist. Daraus entsteht die Verpflichtung,
für sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft zu sorgen
und für diejenigen da zu sein, die es schwerer haben und,
zumindest zeitweise, ihr Leben nicht aus eigener Kraft
gestalten können. Zu den existenziellen Aussagen gehören zum anderen aber auch jene zu Erbrecht, Eigentum
und Berufsfreiheit. Aus diesen Eckpfeilern ergibt sich
für uns heute fast folgerichtig das Modell der sozialen
Marktwirtschaft, das in dieser Verfassung zwar nicht
festgeschrieben, aber doch angelegt ist.
Es gab damals einen heftigen Streit um die soziale
Marktwirtschaft, und es waren nicht nur Sozialdemokraten, die an mehr staatliche Ordnung dachten.
({11})
- Ich hoffe, Sie sind auch heute nicht die Einzigen. Vielmehr wurde auch in unserer Union um eine Antwort
auf die Frage gerungen, ob die freiheitlich-soziale
Marktwirtschaft das richtige Modell ist oder nicht. Aber
mit Ludwig Erhard hatte die Union einen Vertreter, der
auf den richtigen Kurs geführt hat.
Bei allen aktuellen Problemen ist eines deutlich: Die
soziale Marktwirtschaft hat unserem Land zu Wohlstand
verholfen, und sie wird uns auch wieder aus dieser Krise
herausführen.
({12})
Im Grundgesetz wurde eine dritte elementare Festlegung getroffen. Es wurde in einer Zeit erarbeitet, als
Deutschland geteilt war und von der Einheit noch meilenweit entfernt schien. Dieses Grundgesetz hat sich an
alle Deutschen gerichtet, und es hat vor allem die deutsche Politik mit dem Auftrag versehen, die Wiedervereinigung immer als Ziel zu haben.
Wir haben das Ziel der Wiedervereinigung nie aufgegeben. Wir haben immer daran festgehalten, dass es nur
eine deutsche Staatsbürgerschaft gibt - nicht eine
westdeutsche und eine ostdeutsche. Dies war unsere
Umsetzung des Wiedervereinigungsgebots. Weil wir an
der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten haben - dies haben alle Kanzler der Union getan -, konnten die Menschen aus der Botschaft in Prag und aus Ungarn als Deutsche ohne Probleme nach Deutschland
einreisen.
({13})
Wir wurden von manchen als Gestrige bezeichnet,
weil wir aufgrund unserer Überzeugung mit Hartnäckigkeit an der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten haben. Aber Wiedervereinigungsgebot und das Festhalten an der deutschen Staatsbürgerschaft hätten nicht
zum Ziel geführt, wenn nicht die Menschen in Ostdeutschland selber diese Entwicklung erfolgreich herbeigeführt hätten.
({14})
Das Grundgesetz mit seinen klaren Aussagen und wir
mit unserer Position mögen die Menschen in Ostdeutschland ermutigt haben. Aber der Mut, auf die
Straße zu gehen und ein persönliches Risiko einzugehen
- 1989 zum zweiten Mal nach dem 17. Juni 1953 -, nötigt mir unglaublichen Respekt und Dankbarkeit ab.
({15})
Ich komme noch einmal auf meine Eingangssätze zurück. Ausschließlich wegen des Ereignisses, das sich in
diesem Jahr zum neunzehnten Mal jährt, können wir von
60 Jahren geglückter Demokratie und glücklicher geschichtlicher Entwicklung in unserem Land sprechen.
Gerade deshalb haben die Menschen in den neuen Bun24316
desländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR einen
so unschätzbar großen Anteil an unserer gemeinsamen
Erfolgsgeschichte.
({16})
Ich höre heute wie damals die Rufe auf der Straße:
„Wir sind das Volk!“ Mit diesem Ruf „Wir sind das
Volk!“ haben die Menschen in der ehemaligen DDR das
ausformuliert und gesagt, was in unserer Verfassung
steht, nämlich dass alle Gewalt vom Volke ausgeht.
Sehr bald - das muss man sich heute immer wieder vor
Augen führen, wenn man über bestimmte Entwicklungen spricht - wurde aus dem Ruf „Wir sind das Volk!“
der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Mancher wollte das damals nicht hören. Mancher wollte die deutsche Einheit
so nicht verwirklicht sehen. Mancher von denen, die hier
sitzen, hatte keine Emotionen und kein Herz für das, was
die Menschen damals in ihren Rufen ausgedrückt haben.
({17})
Diejenigen, die ich meine, sollten jetzt lieber ruhig sein,
um mich nicht noch mehr herauszufordern.
({18})
Umso dankbarer sind wir dafür, dass damals die richtigen Weichen gestellt und die richtigen Entscheidungen
getroffen wurden. Umso dankbarer sind wir für das, was
Helmut Kohl in dieser Zeit geleistet hat. Er ist deshalb
zu Recht der Kanzler der Einheit.
({19})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Grundgesetz, die Verfassung unseres Landes, ist, so schreibt
das Bundesverfassungsgericht in zwei denkwürdigen
Entscheidungen, weltanschaulich neutral, aber es ist
nicht werteneutral. Deshalb ist unsere Verfassung geradezu dazu prädestiniert, in unserem Land Integration zu
ermöglichen. Sie ist weltanschaulich neutral und kulturell offen, aber nicht werteneutral.
Mit dieser Aussage stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Grundgesetz für unsere Gesellschaft
einen Wertekanon festlegt, an den sich jeder zu halten
hat. Das wird auch an einer weiteren bemerkenswerten
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich.
Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich schon sehr
früh formuliert: Die Grundrechte als zentrale Wertentscheidungen gelten nicht nur im Verhältnis des Bürgers
zum Staat, sondern sie entfalten auch eine Drittwirkung
in unser gesamtes gesellschaftliches Leben, vor allem
natürlich dort, wo sich Starke gegen Schwächere durchsetzen könnten. Die Drittwirkungsfunktion der Grundrechte hat selbst in das liberale Bürgerliche Gesetzbuch
Eingang gefunden. Es ist für uns selbstverständlich geworden, dass Grundrechte nicht nur im staatlichen Bereich eine Rolle spielen, sondern dass diese Wertentscheidungen auch unser gesamtes gesellschaftliches und
privates Leben prägen.
Weil das so ist, gelten die Wertentscheidungen des
Grundgesetzes für jeden, der in diesem Land leben will.
Wenn wir wollen, dass die Wertentscheidungen des
Grundgesetzes auch in Zukunft Bestand haben und - um
noch einmal meinen Verfassungslehrer Konrad Hesse zu
zitieren - zur Bildung von Einheit in unserer Gesellschaft beitragen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass es
in unserem Land Parallelgesellschaften und grundwertefreie Zonen gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({20})
Diesem Verfassungsgebot ist natürlich auch die Integrationspolitik unterworfen. Ich bin dafür dankbar, dass
sich Menschen, die in diesem Land leben und hier
zusätzlich zu ihrer alten Heimat im Herzen eine neue
Heimat gefunden haben, nach genauer Prüfung bereit erklären, als Abschluss eines gelungenen Integrationsprozesses die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen.
Frau Bundeskanzlerin, für den Einbürgerungsakt, der
in dieser Woche stattgefunden hat und durch den die
Würde dessen, was hier geschieht, in besonderer Weise
betont wurde, bin ich dankbar.
({21})
Heute sitzen einige Bürgerinnen und Bürger, die in
den vergangenen Tagen Deutsche geworden sind, auf der
Tribüne. Ich sage Ihnen: Sie alle, jede und jeder von Ihnen, sind herzlich willkommen.
({22})
Wir freuen uns, dass Sie in unserem Land leben.
({23})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, 60 Jahre
Bundesrepublik Deutschland, 60 Jahre einer Erfolgsgeschichte, 60 Jahre, auf die die Deutschen zum ersten Mal
in ihrer Geschichte mit Recht stolz sind und mit denen
sie zufrieden sind. Wir alle haben in diesen 60 Jahren
miteinander etwas erreicht: eine moderne, geachtete Demokratie, Voraussetzungen für den Wohlstand, auch jetzt
in schwieriger Zeit. Wir alle haben dies erreicht, die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Einsatz, der Deutsche
Bundestag und die Regierungen mit ihrer Arbeit.
Es ist nicht immer einfach in einer repräsentativen
Demokratie. Wir haben da nicht die Möglichkeit, uns
vor Entscheidungen zu drücken und zu sagen, das soll
eben mal das Volk entscheiden. Damals hat man sich mit
klarer Mehrheit aus SPD-Vertretern, aus CDU/CSU und
FDP für diese repräsentative Demokratie entschieden,
weil der Impetus des Grundgesetzes heißt, Einheit zu
schaffen. Auch dies ist eine Besonderheit unseres Systems: immer darum zu ringen und sich zu bemühen, in
wichtigen, zentralen Fragen unserer Gesellschaft - wie
gestern im Deutschen Bundestag beim Lebensschutz nicht bloß mit Ja oder Nein zu stimmen, sondern KomVolker Kauder
promisse zu finden. Diese Kompromisse zu finden, ist
Wesenselement der repräsentativen Demokratie, die wir
uns deshalb auch so erhalten sollten, weil sie erfolgreich
war.
({24})
Diese 60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre Demokratie
sind für uns kein Anlass, einfach zufrieden zurückzublicken und uns auszuruhen, sondern sie sind für uns Ansporn weiterzumachen. Aber lassen Sie es mich etwas
leicht pathetisch formulieren: Sie sind für uns auch
Kraftquelle aus den gemachten Erfahrungen, dass wir
mit den Grundlagen, die das Grundgesetz geschaffen
hat, auch schwierige Aufgaben mit Mut und Zuversicht
bewältigen können. Genau dies ist jetzt in der konkreten
Situation von uns auch gefordert, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
Wir haben in 60 Jahren etwas errungen, was wir uns
für die Zukunft bewahren müssen und sollten: Einigkeit
und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.
({25})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Wolfgang
Gerhardt für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Auf die Frage nach der entscheidenden
Bedeutung des Grundgesetzes hat Theodor Heuss einmal geantwortet, dass sie für ihn in der Versöhnung der
deutschen politischen Eliten mit den parlamentarischen
Systemen des Westens liege. Ganz ähnlich hat sich im
Übrigen nach meiner Erinnerung auch Carlo Schmid
eingelassen - so, als wäre das ein Schlusskapitel in dem
Buch des großen Historikers Heinrich August Winkler
„Der lange Weg nach Westen“.
Theodor Heuss hat das aus tiefer Erfahrung aus der
Weimarer Republik und ihrem Scheitern gesagt, in der
eine Gesellschaft weder willens noch in der Lage war,
eine Reichsverfassung zu verteidigen, und schließlich
diesem totalitären Angebot unterlag, das Ralf
Dahrendorf so prägnant beschrieben hat: auf der Seite
der Nazis mit Bindung und Führung und auf der Seite
der Stalinisten - so drückte er sich aus - mit Bindung
und Hoffnung. Die Gesellschaft hat das totalitäre Potenzial überhaupt nicht erkannt und ist am Ende trotz einer
freiheitlichen Verfassung gescheitert.
Das, was mit dem Grundgesetz nach dem einmaligen
deutschen Abweichen vom Pfad jeglicher Zivilisation
versucht worden ist, war im Kern der Versuch einer notwendigen neuen Selbstvergewisserung, die man dokumentieren musste und mit der man erneut um Anerkennung in der Welt nachgesucht hat, dieses Mal endlich
zivil und human und nicht totalitär und imperial. Das ist
im Kern die Bedeutung dieses Werkes.
({0})
Das war eine gute Lösung. Das Grundgesetz ist die beste
Visitenkarte nach innen und nach außen. Es gibt keine
bessere.
Das Grundgesetz gibt uns die nötige - der Kollege
Kauder hat das gesagt - kraftspendende Identität,
wenn wir sie annehmen wollen. Es erwartet den Bürger
und nicht den bequemen Untertan. Im Grundgesetz sind
die unveräußerlichen Rechte niedergelegt, die wir seit
Immanuel Kant unter dem Begriff der Menschenwürde
kennen. Es hat eine freiheitliche Gesellschaft grundgelegt, die Joachim Fest als eine Gesellschaft beschreibt,
die sich auf Voraussetzungen gründen muss, die manchmal gegen die menschliche Natur sind, wenn sie frei
bleiben will. Das Grundgesetz - das gilt für jede Verfassung - muss auch Mechanismen enthalten, die eine Gesellschaft zügeln. Dass eine Mehrheit nicht alles darf
und alles kann, gehört zu den Voraussetzungen, die im
Grundgesetz normiert sind.
({1})
Deshalb weiß das Grundgesetz bei allen Freiheitsrechten auch, dass mit Freiheit sorgfältig umgegangen
werden muss. Sie kann nicht zügellos genutzt werden,
und das muss eine Gesellschaft begreifen. In diesen
Punkten liegt, so schreibt der leider schon verstorbene
Joachim Fest, das eigentümliche Pathos einer freiheitlichen Ordnung.
Das Grundgesetz hat ein Gespür dafür, dass Demokratie zerbrechlich ist und dass Toleranz nicht mit
Gleichgültigkeit verwechselt werden darf.
({2})
Es sichert nach den Katastrophen in unserer Geschichte
eine Art zivilisatorischer Bestände und sagt uns: Ihr
dürft sie nicht dem Amüsierbetrieb freigeben.
({3})
Das ist eine wichtige Aufforderung, die sich an alle politischen Gruppierungen richtet.
Das Grundgesetz hat sich ohne jeden Zweifel bewährt. Es hat sich durchgesetzt, und zwar auch - auch
das sage ich an dieser Stelle - durch die kluge und überzeugende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das der Parlamentarische Rat zu Recht an die
Spitze der dritten Gewalt gesetzt hat.
({4})
Wir sollten immer sehen, dass neben dem Grundgesetz
die dritte Gewalt in Gestalt des Bundesverfassungsge24318
richts in der politischen Geschichte unseres Landes
Maßstäbe gesetzt hat.
Das Grundgesetz hat nahezu vorausschauend für all
das, was sich später ereignet hat, eine kluge Grundlage
gegeben: Es hat uns eine Verfassung für die notwendige
Integration in Europa gegeben; es hat uns eine Verfassung für die Zusammenarbeit im Transatlantischen
Bündnis, für den Eintritt in die NATO, gegeben; es hat
uns eine Verfassung für die Verträge mit den ost- und
mittelosteuropäischen Nachbarn der Bundesrepublik
Deutschland gegeben, und es war auch gegen den Versuch der Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit gewappnet, die in einem bestimmten Abschnitt unser Land heimgesucht hat; wir wissen alle, wovon ich
spreche.
Das Grundgesetz war weitsichtig und hat den Weg
zur Wiedervereinigung Deutschlands immer offen gehalten. Der Brief Walter Scheels zum Moskauer Vertrag,
der diese Option nach langen Verhandlungen, auch mit
Egon Bahr, ausdrücklich zum Gegenstand des Vertragswerks machte, hat gezeigt, dass das nicht nur ein Lippenbekenntnis war.
Das Grundgesetz war immer eine Einladung an
18 Millionen Deutsche. Es war immer eine ausgestreckte
Hand. Diese 18 Millionen können stolz darauf sein, dass
sie durch eigene Aktivität die Mauer vom Osten aus eingedrückt haben, um diese ausgestreckte Hand zu ergreifen. Schon deshalb sage ich: Das Grundgesetz ist niemandem übergestülpt worden. Es war eine Hoffnung für
Millionen in der Geschichte unseres Landes.
({5})
Als der bedeutende Historiker Fritz Stern in der
Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam und sich in einer Dankesrede
äußerte, hat er einen ganz einfachen Satz gesagt. Er berichtete von Schwierigkeiten aus seiner persönlichen
Biografie, aufgrund derer er sich mit Deutschland erst
spät versöhnt hatte. Er sagte ganz einfach: Ein bisschen
mehr Freude über das Erreichte täte uns gut. - Mehr ist
dazu gar nicht zu sagen.
({6})
Es gibt Verfassungen, die mehr soziale Grundrechte
niedergelegt haben, manche im besten Willen, manche
aber auch in bewusster Verachtung der bürgerlichen
Freiheitsrechte. Die Verfassungen, die im besten Willen
soziale Grundrechte niedergelegt haben, sind irgendwann in schwierige Situationen gekommen, weil Staaten
- bei allem guten Willen - nie mehr für die Menschen
tun können, als die Menschen für sich selbst tun könnten
und sollten.
Manche Staaten haben versucht, soziale Grundrechte
in einer Art und Weise zu verwirklichen, durch die persönliche Freiheitsrechte nahezu zerstört und erdrückt
wurden. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es ist und
bleibt Unrecht - und es muss auch so genannt werden
dürfen -, wenn man sich im Namen von Gerechtigkeit
und Solidarität derart zum Herren über das Schicksal
von Menschen macht, wie es das politische System der
DDR getan hat.
({7})
Es tut fast körperlich weh, wenn man hört, mit welchen Argumenten in der letzten Zeit die Grenzen zwischen Freiheit und Unfreiheit in der Bundesrepublik
Deutschland durch Diskussionsteilnehmer verwischt
worden sind. Es mag der jeweiligen politischen Bewertung überlassen bleiben, zu entscheiden, ob an dem einen oder anderen Punkt im Lauf der Geschichte Ergänzungen des Grundgesetzes notwendig bleiben und ob sie
notwendig waren. Allerdings gilt es, ein Erfordernis an
alle Wünsche des Hinzufügens zu stellen: Sie sollten
sich am Maßstab der Schlichtheit und Klarheit des
Grundgesetzes orientieren.
({8})
Deshalb scheint mir das durchaus diskussionswürdige
Vorhaben der Schuldenbremse jedenfalls stilistisch noch
kein Gesamtkunstwerk zu sein, das sich nahtlos einpassen wird.
({9})
Mit Renaissance und Humanismus haben sich in
einem Teil der Welt freiheitliche Lebensweisen und freiheitliche Verfassungen durchgesetzt. Aber moderne
Setzungen, so sagt Udo Di Fabio, der Bundesverfassungsrichter, sind auch gefährdet. Es ist wahr: Unser
Menschen- und Weltbild ist kulturell und religiös womöglich voraussetzungsreicher, als wir rationalen Menschen es uns selbst immer versichern. Es gibt alte
Gegengewichte zum Neuen - das stellen wir fest -, die
wir in ihrer Heftigkeit nach dem Zusammenbruch der alten bipolaren Weltordnung so gar nicht erwartet hatten.
Sie sind aber da. Es gibt Menschen, die mit solch einer
Gewissheit ihre Positionen vertreten, dass diejenigen,
die ihnen die Wahrheit sagen wollen, so sagt ein altes
chinesisches Sprichwort, ein schnelles Pferd brauchen.
Die freie Entfaltung von Menschen braucht einen
Staat, der Frieden und Sicherheit, Meinungsfreiheit und
Versammlungsfreiheit, all diese unersetzlichen Voraussetzungen für menschliches Zusammenleben sichern
muss. Sicherheit und soziale Sicherheit sind die Voraussetzungen für Teilhabe an der Freiheit. Unser Grundgesetz macht uns gegen Feinde der Freiheit nicht wehrlos.
Vertretern einer konfrontativen Weltsicht müssen wir
noch längst nicht die Bühne überlassen, in welchen Kostümen sie auch daherkommen.
({10})
Eines gilt aber: Ein Rechtsstaat wird niemals in der
Auseinandersetzung mit seinen Gegnern seine eigene
ethische Überlegenheit aufs Spiel setzen dürfen. Das
war der Fehler, den die Führungsmacht Vereinigte Staaten von Nordamerika im politischen Programm des Westens gemacht hat und der ihrem Ansehen weltweit geschadet hat. Wir haben ein massives Interesse, dass der
44. amerikanische Präsident die Chance ergreift, dieses
Programm zu ändern, weil wir als Westen nicht eine Art
politische Geografie sein wollen, sondern der Welt eine
Art politisches Programm anbieten und beispielgebend
sein wollen.
({11})
Es gibt keinen besseren Satz als den, den die Harvard
Law School ihren Graduierten in die Diplome schreibt:
„to think of law as wise restraint that makes man free.“
Es geht um die Selbstdisziplinierung - nicht mehr und
nicht weniger - freiheitlicher Gesellschaften.
Unser weltanschaulich neutraler Staat - Herr Kollege
Kauder hat das angesprochen - schützt sich selbst vor
Überhöhung durch eine Religion und schützt die Religionen im wohlverstandenen Interesse durch eigene
Überhöhung vor Übernahme des Staates. Er ist in seiner
weltanschaulichen Neutralität niemals Gegner von religiösen Bekenntnissen. Er ist auf viele religiöse Aktivitäten - nehmen wir die Kirchen - in der Gesellschaft angewiesen. Er hat aber das legitime Recht, die Authentizität
religiöser Bekenntnisse auf ihre Übereinstimmung mit
Menschenrechten zu hinterfragen, an die er auch selbst
gebunden ist.
({12})
Ich sage das deshalb, weil man in unserer Gesellschaft manchmal eine irritierende Unsicherheit spürt,
wie man damit umgeht. Es ist für uns völlig klar, dass
niemand hinter einem religiösen Bekenntnis mit Anspruch auf eine Authentizität die Verletzung von Menschenrechten verstecken kann.
({13})
Es muss klar sein, dass Menschenrechte nicht umgangen
werden dürfen.
Der frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus hat
das mit Blick auf die eigene Kirchengeschichte selbstkritisch festgestellt: Wir sollten nicht überheblich sein.
Auch die katholische Kirche habe im Grunde bis zum
Zweiten Vatikanischen Konzil gebraucht, bis sie das begriffen hätte, so sagt er. Deshalb müssten wir etwas Geduld mit anderen haben. Er hat einen Satz geprägt, der
fantastisch genau die Sachlage beschreibt: Religionen
sollen Gott verehren, aber sie sollen nicht selbst Gott
spielen. - Mehr ist dazu überhaupt nicht zu sagen.
({14})
Wenn eine Gesellschaft sich selbst nicht mag, dann
kann sie niemanden integrieren. Deshalb sind ein normales Selbstbewusstsein und ein Stolzsein auf das, was in
der Bundesrepublik Deutschland erreicht worden ist,
richtig. Wir müssen immer wissen, wie viel Verbindlichkeiten wir uns leisten können, zu verlieren, und wie viel
Gemeinsamkeiten wir immer neu schaffen müssen. Deshalb ist die Verfassung auf eine reife Mentalität der Gesellschaft angewiesen. Wenn die Verfassung nur geschrieben wäre und wir uns nicht danach richten würden,
bekämen wir Probleme.
Ich komme zum Schluss. In einer Zeit, in der mehr als
eine Generation den Nationalsozialismus gar nicht mehr
erlebt hat und die den Stalinismus nur aus Geschichtsbüchern kennt, müssen wir immer wieder an die nächste
Generation weitergeben, wo die Kernpunkte, der Kompass einer freiheitlichen Gesellschaft liegen. Manche
machen Europa zu einer nebensächlichen Angelegenheit. Sie wissen gar nicht mehr, warum diese europäische Politik entstanden ist. Für viele ist sie zu kompliziert. Das ist verständlich. Die ältere Generation hat zwei
Hyperinflationen erlebt. Der Abschied von der D-Mark
war schon eine gewaltige Anstrengung, die niemand unterschätzen sollte.
Kritik und Einwände sollten eines berücksichtigen
- ich sage das mit Blick auf die Wahl, die vor uns steht,
ohne parteipolitisch zu werden -: In keinem Abschnitt
der deutschen Geschichte hat es eine solche Leistung des
Poolens von Souveränität, des Verzichtens auf nationale
Souveränität in manchen Bereichen gegeben, um nicht
wieder einen Rückfall in alte imperative Politiken, in
Politik gegeneinander, zu bekommen. Wir haben jetzt
60 Jahre des Friedens, eine unglaublich lange Periode,
wie sie in den letzten zwei Jahrhunderten kaum eine Generation in Deutschland erlebt hat. Selbst wenn Europa
nicht mehr gebracht hätte als das, müsste man sagen:
Schon das hätte gereicht.
({15})
Die Zusammenarbeit in Europa ist nicht mehr eine
reine Option, sie ist eine unmittelbare und zwingende
Notwendigkeit, es gibt zu ihr keine Alternative. Wir sollten jedenfalls dabeibleiben, mit Kooperation und Integration als Charakterzüge unserer Verfassung und auch
als Charakterzüge der deutschen Außenpolitik.
Das Grundgesetz bleibt, was es war und ist: ein Kompass für die Zukunft einer freiheitlichen Gesellschaft. Es
liegt an uns, diesen Kompass zu nutzen. Wir, die Freien
Demokraten, wollen das tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Die Kollegin Dr. Däubler-Gmelin ist nächste Rednerin für die SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
alle sind uns, glaube ich, bewusst, dass die heutige Debatte keine unserer normalen, tagespolitischen Debatten
ist. Das haben schon die Reden meiner Vorredner gezeigt. Ich möchte hinzufügen, dass der Rückblick auf
60 Jahre Grundgesetz und auf 60 Jahre Bundesrepublik
Deutschland - was ja eine lange Zeit ist - für unsere
Kinder und Enkel einen Blick in die Geschichte bedeutet, für die Angehörigen meiner Generation aber einen
Blick auf unser ganzes Leben. Das beeinflusst natürlich
das, was wir heraussuchen und hier herausstellen, so
auch meine Rede.
Ich bin im Gründungsjahr der Bundesrepublik
Deutschland in die Schule gekommen. Ich erinnere mich
noch genau an das sehnlichst erwartete Carepaket, dem
ich eine Schiefertafel und eine Tafel Schokolade - was
mir immer in Erinnerung bleiben wird - verdanke, und
auch an die Schulspeisung. Und ich habe noch gut in Erinnerung, wie das damals war, wenn eine ausgebombte
Mutter mit vier Kindern in die Wohnung anderer Leute
eingewiesen wurde, und was es bedeutete, die Kinder
sattzumachen, wenn der Vater nicht da war, gefallen
oder, wie meiner, in Gefangenschaft war.
Seit dieser Zeit - lassen Sie mich das sagen - habe ich
unglaublichen Respekt vor der Leistung der Generation meiner Mutter. Die Frauen haben ja nicht nur als
Trümmerfrauen gearbeitet, sie haben auch die Familie
zusammengehalten und damit die Grundlage für den
Wiederaufbau, übrigens in ganz Deutschland, gelegt.
({0})
In der Schule haben wir dann vieles über die Eckpfeiler der neuen Gesellschaftsordnung, des neuen Staates
gelernt. Wir haben gelernt - der Kollege Kauder hat es
ausgeführt -, was Demokratie ist, was Rechtsstaatlichkeit ist, warum Menschenrechte so wichtig sind und warum es so wichtig ist, dass alle staatliche Gewalt, ohne
Lücke, an sie gebunden ist.
Ich hatte, in Tübingen aufgewachsen, das Glück, relativ frühzeitig Persönlichkeiten kennenzulernen, die natürlich unser Denken und unser Leben geprägt haben. Da
war Carlo Schmid, der so viele Beiträge zu unserem
Grundgesetz geleistet hat, und da war Theodor Heuss,
der nie müde wurde, es zu leben und es zu erläutern, und
der durch seine Sprache - auch er sprach Schwäbisch
mit deutschem Akzent ({1})
zusätzlich Identifikation geschaffen hat.
In jener Zeit traf man aber nicht nur solche Persönlichkeiten, man traf auch viele, die in der neuen Zeit
noch nicht angekommen waren. Das will ich an einem
Beispiel deutlich machen: Ich habe mich schon immer
dafür interessiert, was das Auswärtige Amt so tut.
({2})
Als ich anfing, zu studieren, ging ich deshalb in eine
Vorlesung, in der ein damals schon ältlicher Vortragender Legationsrat Erster Klasse die Tätigkeiten und die
Berufsmöglichkeiten im Auswärtigen Amt vorstellte.
Selbstverständlich habe ich hinterher gefragt, wie das eigentlich mit den Chancen für Frauen sei, und bekam die
Antwort: Frauen nehmen wir nicht, sie gehören da nicht
hin. Werden Sie lieber Erzieherin!
({3})
Da war sie wieder: die alte Rolle. Sie können sich vorstellen, wie „gut“ mir das gefallen hat, übrigens nicht
nur, weil ich fand, dass der Mann in der neuen Zeit noch
nicht angekommen war, sondern schlichtweg auch deshalb, weil mich auch diese Missachtung der Erziehungsleistung unheimlich geärgert hat.
({4})
Geärgert hat mich auch, dass die Auseinandersetzung
um die Gleichberechtigung von Männern und
Frauen, die ja wirklich erkämpft werden musste - auch
im Parlamentarischen Rat - und bitter erkämpft wurde,
ganz offensichtlich völlig an ihm vorbeigegangen war.
Elisabeth Selber und ihre Mitstreiterinnen wollten eben
nicht mehr die alte, unverbindliche Formulierung der
Weimarer Reichsverfassung, und sie setzten sich damit
schließlich durch, obwohl sie nur vier Frauen waren,
weil eben die Frauen aus der Generation meiner Mutter
damals trotz ihrer Belastung gesagt haben: „Das wollen
wir jetzt endlich einmal wissen, und gleiche Rechte wollen wir haben“, und das mit massenhaften Postkartenaktionen auch durchsetzten.
({5})
Mich persönlich hat das natürlich eher angespornt;
das ist völlig richtig. Ich glaube, hier ist das Wort, das
Wolfgang Gerhardt mit völligem Recht gesagt hat:
„Freude über das Erreichte“, wirklich angebracht. Wir
können sehen, dass Frauen heute weitgehend den Platz
haben, der ihnen zukommt, auch wenn dort noch eine
Menge zu tun ist.
({6})
Die Gewöhnung an die Werte und Maßstäbe des
Grundgesetzes hat insgesamt aber schon noch ein bisschen länger gedauert. Ende der 60er-Jahre war ich zur
Ausbildung beim Oberlandesgericht, und ich musste
dort natürlich Revisionsfälle bearbeiten. Dafür zog ich
die Maßstäbe und Grundwerte des Grundgesetzes heran.
Was hörte ich von meinem Ausbilder? - Mir wurde gesagt: Lassen wir doch dieses neumodische Zeug, wir halten uns lieber an das bewährte BGB.
Wenn man sich anschaut, wie die Gerichtsurteile in
den 50er- und 60er-Jahren manchmal aussahen, dann
geht einem heute der Hut hoch. Ich will nur an Folgendes erinnern:
Da passte Eltern der Umgang ihrer Tochter mit einem
Jungen nicht; sie bestraften die Tochter mit Essensentzug; sie banden sie ans Bett und an einen Stuhl fest; sie
schnitten ihr die Haare so unregelmäßig kurz, dass es sie
entstellte. Und zu alledem sagte der BGH: Das sei vom
elterlichen Züchtigungsrecht umfasst. Warum war das
so? Das Gericht sagte: Mit 16 Jahren sei man der Strafe
der Eltern unterworfen, und wenn man entgegen dem
Willen der Eltern mit einem Jungen Kontakt pflegen
wolle, dann sei man sittlich verdorben.
Dieses Züchtigungsrecht gibt es heute nicht mehr,
sondern heute gibt es die elterliche Verantwortung. Die
Stellung der Kinder hat sich grundlegend verändert, und
ich denke, wir sollten das auch durch Kinderrechte im
Grundgesetz dokumentieren.
({7})
Lassen Sie mich auch an den schrecklichen
§ 175 StGB erinnern, der damals für verfassungsgemäß
gehalten wurde. Dieser Paragraf war eine Quelle von
Ungerechtigkeit, von Diskriminierung, von menschlichem Leid und von ständiger Erpressbarkeit. Gott sei
Dank haben wir auch den abgeschafft. Auch deswegen
können wir Freude über das Erreichte empfinden.
({8})
Schauen Sie sich auch einmal an, in wie vielen Gerichtsprozessen gerade in den 50er-Jahren Nazitäter geschont und Opfer zum zweiten Male diskriminiert wurden. Auch das gehört in die Kette der Erinnerung, die
wir bewahren müssen, um Gefahren zu erkennen, die
jetzt nicht drohen, die aber auch nie wieder drohen dürfen.
({9})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den skandalösen Umgang mit den Mördern von Dietrich Bonhoeffer.
({10})
Eindrucksvolle Persönlichkeiten wie Richard Schmid
oder auch der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
hatten es schwer. Die Rebellion in diesem Bereich begann eigentlich erst so richtig, als es das Kammergericht
Berlin Mitte der 60er-Jahre übertrieben hatte und auch
noch Freislers Volksgerichtshof den Charakter eines demokratischen, rechtsstaatlichen, unabhängigen Gerichtes
zubilligen wollte. Das war dann wirklich zu viel. Damals
kam es zur Kritik durch die Öffentlichkeit und auch zu
den Demonstrationen.
Allerdings wissen wir auch, dass der Bundesgerichtshof bis ins Jahr 1995 brauchte, um das „folgenschwere
Versagen“, wie er es nannte, der bundesdeutschen Strafjustiz bei der Auseinandersetzung mit der NS-Justiz zu
kritisieren. Dann allerdings hat er das mit klaren und eindrucksvollen Worten getan, wenn auch möglicherweise
von manchem Leser der bittere Unterton bemerkt wird,
dass er das aus Anlass der Verurteilung eines DDR-Richters getan hat.
({11})
Das war korrekt, aber die Entscheidung zur Nazi-Justiz
war spektakulär und bemerkenswert.
Liebe Kollegen, heute wissen wir alle, dass das
Grundgesetz anerkannt ist, wir teilen die Einschätzung
Gustav Heinemanns, dass das Inkrafttreten des Grundgesetzes eine Sternstunde der Geschichte oder auch, wie
andere es nennen, ein Glücksfall war. Dies wurde aber
nicht immer so gesehen: Was Ernst Friedländer am
19. Mai 1949 in der Zeit geschrieben hat, macht deutlich, unter welch unglaublich beißender Kritik das
Grundgesetz 1949 in Kraft gesetzt wurde. Er zitierte
nicht nur die Kritik von „Grundgesetz gleich Schundgesetz“, vom Parlamentarischen Rat als einer Versammlung von Langweilern, das Grundgesetz sei langatmig,
und der Mann auf der Straße habe andere Sorgen, sondern auch von Kautschukbegriffen - von wegen
Schlichtheit und Klarheit -, und es wurde der Vorwurf
erhoben, das Grundgesetz sei „keine Kreation schöpferischer Fantasie“. Die Verfassungsexperten seien sowieso
nicht die Repräsentanten der Bevölkerung gewesen.
In der Sache selber hat man auch die Unabänderlichkeit der Grundsatzentscheidung für die Menschenrechte und den Staatscharakter kritisiert, weil die
Mehrheit ganz bewusst nicht daran rütteln können
sollte. Friedländers Folgerung war: „Papier ist geduldig“, aber auch: Geben wir dem Grundgesetz und denen,
die es anwenden müssen, eine Chance zur Bewährung!
Diese Bewährung hat bis heute stattgefunden, auch
wenn viele das am Anfang noch nicht erkannt haben.
Das gilt für das Grundgesetz, aber auch für die Bewährung durch die Ausfüllenden und Handelnden.
Zehn Jahre später - ich habe die Festveranstaltung
1959 vor Augen - gab es immer noch große Zweifel.
Damals hat Bundeskanzler Adenauer es geradezu entschuldigt, dass es Mängel gebe, und so das Grundgesetz
verteidigt. Ich will Ihnen zusätzlich ein Zitat des damaligen Festredners Jahrreiß nicht vorenthalten. Er stellte
fest, der Parlamentarische Rat sei „von seinem eigentlichen Auftrag abgewichen“. Er habe sich nämlich davon
„gelöst, ein bloßes Organisationsstatut zu schaffen“, und
„wie in einem Rausch“ sei er „darüber hinausgegangen,
um sich dann doch vor der größeren, der weiteren Aufgabe des Vollverfassungsgebens als zu schwach zu erweisen“.
Das ist ein bisschen kompliziert ausgedrückt, aber
eindeutig ein Verriss.
({12})
Was hat sich bis 1969 geändert, dem Jahr, ab dem
dann das Grundgesetz als Sternstunde und Glücksfall bezeichnet wurde? Ich glaube, dass wir nicht vergessen
dürfen, dass in den 60er-Jahren ein erheblicher und
signifikanter Aufbruch stattgefunden hat.
({13})
Das mag manchem heute nicht passen. Mancher mag die
Verirrungen und Verbrechen sehen wollen, die einige begangen haben. Mancher mag nur sehen, was es an Illusionen oder Fehleinschätzungen gegeben hat. Richtig ist
aber, dass in den 60er-Jahren durch eine neue, in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erzogene Generation ein
Aufbruch angestoßen wurde, dass es einen Aufbruch in
der Gesellschaftsordnung gegeben hat und dass man die
Maßstäbe des Grundgesetzes sehr viel ernster nahm.
({14})
Mich, die ich damals auch demonstrierte, hat damals
Gustav Heinemann unglaublich beeindruckt, mit einem
Bild, das er damals gezeichnet hat. Es war die Zeit der
Osterunruhen 1968. Sie erinnern sich sicherlich: Martin
Luther King war umgebracht worden, und auf Dutschke
war geschossen worden. Es gab gewalttätige Krawalle
und Zerstörungen in Berlin, die selbstverständlich heftig
kritisiert wurden, zum Teil auch sehr einseitig. Gustav
Heinemann hat gegenüber denjenigen, die kritisiert haben, ein Bild geprägt, das aber gleichzeitig auch an die
Demonstrierenden gerichtet war. Er hat gesagt, wer in
allgemeinen Vorwürfen „mit dem Zeigefinger auf den
oder die vermeintlich verantwortlichen Anstifter oder
auch politisch Verantwortlichen“ zeige, der solle bedenken, dass „dabei drei Finger seiner Hand auf ihn selber“
zeigten. Ich glaube, besser kann man nicht ausdrücken,
was im neuen Grundgesetz mit Demokratie gemeint war.
({15})
Dazu gehört immer die Verantwortlichkeit der Handelnden. Dazu gehört aber genauso die Verantwortlichkeit derjenigen, die mitgestalten sollen, die wählen. Die
Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht nur zuschauen und
hinterher maulen, sondern müssen sich engagieren und
einbringen. Nicht umsonst hat Gustav Heinemann immer davon gesprochen, dass unser „Grundgesetz ein großes Angebot“ für Meinungsfreiheit sowie unterschiedliche Auffassungen und Religionen - das wurde hier
schon dargelegt; das ist völlig richtig - darstellt. Er hat
auch darauf hingewiesen, dass der einzelne Bürger und
die einzelne Bürgerin Instrumente in der Hand haben,
die sie befähigen, eigene Rechte durch Demonstrationen
und Partizipation in Parteien, aber auch durch Petitionen
und auf juristisch-gerichtlichem Weg durchzusetzen.
Über die segensreiche Rolle des Bundesverfassungsgerichts ist heute schon gesprochen worden. Wenn man
das fortführt, Herr Gerhardt, und schaut, wie viele gute
Ideen und Maßstäbe des Grundgesetzes durch Verfassungsbeschwerden der Bürger entstanden sind und in unsere Lebenswirklichkeit eingebracht wurden, dann zeigt
dies die unglaublich wichtige Bedeutung des Instruments der Verfassungsbeschwerde. Beispiele hierfür reichen von der Stellung der Frau über die Stellung der
Kinder bis in die jüngste Zeit, in der es um Fragen betreffend den Persönlichkeitsschutz und den Datenschutz
geht.
({16})
Das dokumentiert aber auch: Im Grundgesetz wird politische Macht als Vollmacht, wie wir Juristen das ausdrücken, verstanden, und zwar als inhaltlich und zeitlich
gebundene Macht. Das Grundgesetz meint eben nicht
politische Macht, die Bürgerinnen und Bürger gegenüber
„denen da oben“ ohnmächtig werden lässt, mit dem
Empfinden: Wir können sowieso nichts machen. Das ist,
glaube ich, eine ganz wichtige Feststellung, die wir in
Zukunft besonders berücksichtigen müssen. Neben der
Partizipation ist es die Machtbegrenzung, die als Element unserer Verfassung und damit unserer Gesellschaftsordnung für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft und unserer Rechtsordnung ganz besonders
wichtig ist.
({17})
Lassen Sie mich mit Blick auf das, was von Herrn
Gerhardt schon angesprochen wurde und mir unter einem etwas anderen Blickwinkel besonders wichtig zu
sein scheint, schließen. Eine der wirklich genialen
Grundentscheidungen von 1949 war - diese Entscheidung hat sich nicht nur bewährt, sondern muss auch
Maßstäbe für die Zukunft setzen; es war eine großartige
Leistung -, die Gesellschaftsordnung und die Politik,
aber auch die Rechtsordnung der neuen Bundesrepublik
Deutschland in die der zivilisierten Völkergemeinschaft
einzuordnen. Das war in der Tat eine richtig gute, eine
unglaublich wichtige Grundentscheidung; dazu gehört
auch das Verbot des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges; ich hoffe, dass Deutschland helfen kann, die Antiaggressionskonvention im Rahmen des Internationalen
Strafgerichtshofs durchzusetzen.
({18})
Wichtig ist die Entscheidung, dass internationales
Recht auch unser Recht ist und dass internationales
Recht und internationale Gerichtsbarkeit sowohl in Europa als auch beim Internationalen Strafgerichtshof nicht
nur für andere, sondern auch für uns gelten. Internationales Recht darf nie nur Recht für andere sein, genauso wenig wie die internationale Gerichtsbarkeit. Für diesen
Gedanken müssen wir bei Freunden werben; denn erst
mit einer solchen Einordnung, einer wertegebundenen
Macht, der Einhaltung der Menschenrechte und vor allen
Dingen mit der Förderung von Partizipation lässt sich
eine menschenwürdige Gesellschaft erreichen. Etwas
weniger vollmundig ausgedrückt: So können wir einer
menschenwürdigen Gesellschaft einen Schritt näherkommen, die wir auch auf globaler Ebene wollen. Da
müssen wir hin. Da wollen wir hin.
({19})
Ernst Bloch, dessen Vorlesungen ich in Tübingen besuchen konnte und der lange in der damaligen DDR gewirkt hat, bevor er gehen musste, hat einmal gesagt: Erinnerung taugt eigentlich nur, wenn wir uns gleichzeitig
daran erinnern, was noch zu tun ist. - Ich glaube, das ist
völlig richtig.
({20})
Sie werden es mir nachsehen, dass ich mit sehr viel kürzeren, aber das Gleiche ausdrückende Wort von Herbert
Wehner ende, der meinte, nein, er hat es eigentlich geknurrt: „Nicht nur Gedenken, sondern Gedanken“ sind
auch gefragt.
Herzlichen Dank.
({21})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich eine Parlamentarierdelegation aus Gabun
unter Vorsitz des Vizepräsidenten Daniel Ona Ondo
auf unserer Ehrentribüne begrüßen, die sich auf Einladung der deutsch-afrikanischen Parlamentariergruppe
hier in der Bundesrepublik aufhält.
({0})
Wir freuen uns über Ihren Besuch, und wir freuen uns
ganz besonders, dass Sie an dieser Debatte im Deutschen
Bundestag heute teilnehmen. Herzlich willkommen!
Das Wort hat nun der Kollege Oskar Lafontaine für
die Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 vom Parlamentarischen Rat zur Grundlage des gesellschaftlichen und politischen Lebens in
Westdeutschland gemacht. Nach der untergegangenen
Weimarer Republik und der Nazibarbarei hat es in seinem Geltungsbereich Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat und parlamentarische Demokratie begründet. In Ostdeutschland ist das Vorhaben, nach dem
Zweiten Weltkrieg eine sozialistische Demokratie zu errichten, gescheitert, weil, so der mittlerweile verstorbene
Politiker der PDS Michael Benjamin - ich erwähne ihn
bewusst wegen seines Namens -, die DDR keine Demokratie und kein Rechtsstaat war und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine Mitbestimmung hatten. An
dem 60. Geburtstag des Grundgesetzes ist die Versuchung groß, mit Stolz auf das Erreichte zurückzublicken
und es dabei zu belassen. Da wir aber das Grundgesetz
als ständige Aufgabe begreifen, Frieden, Freiheit,
Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat und Demokratie zu verwirklichen, wollen wir heute einen kritischen Blick auf
die Gegenwart werfen und unsere Hoffnung für die Zukunft formulieren.
Es fällt auf, dass es Demokratien gibt, die keine geschriebene Verfassung kennen. Das bekannteste Beispiel
ist Großbritannien. Dort gibt es folglich auch keinen
Verfassungsschutz, und das Wort „Verfassungsfeind“ ist
dort ebenso wenig Bestandteil der politischen Alltagssprache wie in den Vereinigten Staaten. Offensichtlich
haben die angelsächsischen Länder eine andere Verfassungstradition. Dazu gehört auch das Hinterfragen der
eigenen Verfassung. So schrieb 1913 in den USA der
renommierte Historiker Charles Beard ein aufsehenerregendes Buch. Darin kam er zu dem Ergebnis, dass die
amerikanische Verfassung die ökonomischen Interessen derer widerspiegelt, die sie geschrieben hatten. Ob
es einen Verfassungstext gibt oder nicht, in jedem Falle
braucht eine Gesellschaft eine allgemein anerkannte
Wertorientierung, die das Fundament des täglichen Lebens ist. Diese Wertorientierung ist auch Grundlage der
jeweiligen Verfassung der Staaten der Welt. Wie aber ist
es zu erklären, dass Beard zu dem Schluss kommt, die
Verfassung der Vereinigten Staaten spiegele die persönlichen ökonomischen Interessen ihrer Schöpfer wider?
Eine Antwort finden wir bereits bei Goethe, ebenso wie
bei Marx und Engels. In seinem Faust sagt Goethe:
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Marx und Engels schreiben in der Deutschen Ideologie:
Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, das heißt,
die Klasse, welche die herrschende materielle
Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.
({0})
Unsere Sprache formt unsere Wahrnehmung. Wie
schwer es ist, der überlieferten Begriffswelt zu entkommen, beschrieben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung. Ich zitiere:
Es gehört zum heillosen Zustand, dass auch der ehrlichste Reformer, der in abgegriffener Sprache die
Neuerung empfiehlt, durch Übernahme des eingeschliffenen Kategorieapparates und der dahinter
stehenden schlechten Philosophie die Macht des
Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte.
In unsere Zeit übersetzt heißt das: Der Reformer des
Finanzmarktes verstärkt die Macht der Spekulanten,
wenn er sich ihrer abgegriffenen Sprache und ihrer Begriffe bedient.
({1})
Das Problem aller Verfassungstexte ist, dass die dort
verwandten Begriffe nicht definiert sind. Ich nehme beispielhaft aus Zeitgründen den Begriff des Eigentums in
seinem Spannungsverhältnis zu Freiheit und Demokratie. Was ist eigentlich Eigentum? Im Grundgesetz finden
wir auf diese Frage keine konkrete Antwort. Aber in
§ 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches steht:
Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder
mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache …
({2})
Würden wir diese Bestimmungen ernst nehmen, dann
müssten wir unsere Wirtschaftsordnung vom Grunde her
neu gestalten.
({3})
Niemand hat so wie der Aufklärer Rousseau die Bedeutung des Eigentums für die bürgerliche Gesellschaft
hervorgehoben:
Derjenige, der als Erster ein Stück Erde mit einem
Zaun umgab und es als Eigentum bezeichnete und
Leute fand, die ihm das glaubten, war der Begründer der bürgerlichen Ordnung. Er hat unzählige
Kriege und den Tod von Millionen Menschen auf
dem Gewissen. Er hat gegen elementares Menschenrecht verstoßen: Der Boden gehört niemandem, die Früchte allen.
({4})
Rousseau hat keinen Zweifel daran gelassen, wie dem
abzuhelfen sei:
Die Menschenrechte müssen ergänzt werden durch
einschränkende Bestimmungen über das Eigentum;
sonst sind sie nur für die Reichen da, für die Schieber und Börsenwucherer.
Klingt dieser Satz nicht erstaunlich aktuell?
({5})
Nun gibt es im Geltungsbereich unseres Grundgesetzes Eingriffe in das Eigentum. Ich denke an Steuern,
Enteignungen zum Zwecke des Ausbaus der Infrastruktur oder auch an Subventionen. Aber warum wird die
Vermögensverteilung immer ungerechter? Ist es deshalb, weil das Eigentum in unserer Gesellschaft in vielen
Fällen nicht dem zugesprochen wird, dem es von Rechts
wegen eigentlich zustünde?
Die dem § 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches zugrunde liegende Auffassung vom Eigentum ist keineswegs neu. Schon Wilhelm von Humboldt schrieb:
Nun aber hält der Mensch das nie so sehr für sein,
was er besitzt, als was er tut, und der Arbeiter, welcher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem
wahreren Sinne Eigentümer als der müßige Schwelger, der ihn genießt.
({6})
Abraham Lincoln sagte schon 1847:
Die meisten schönen Dinge sind durch Arbeit entstanden, woraus von Rechts wegen folgen sollte,
dass diese Dinge jenen gehören, die sie hergestellt
haben. Aber es hat sich zu allen Zeiten so ergeben,
dass die einen gearbeitet haben, und die anderen,
ohne zu arbeiten, genossen den größten Teil der
Früchte. Das ist falsch und sollte nicht fortgesetzt
werden.
({7})
In allen Gesellschaften wurde die ungleiche Eigentumsverteilung zum Problem, insbesondere wenn sie
von jüdisch-christlichen Ideen geprägt waren. Vor Gott
sind alle Menschen gleich, und das muss sich auf das
Zusammenleben der Menschen auswirken. Darum - so
können wir schon im Alten Testament nachlesen - erfand Israel das Sabbatjahr. Nach einer Anzahl von Jahren mussten in Israel den Schuldnern die Schulden erlassen werden, und die Verteilung des Ackerlandes wurde
neu verlost, um wieder Gleichstand herzustellen. Danach
konnte der Wettbewerb der Menschen von Neuem beginnen. Aber nach einigen Jahren erhielt der Verarmte
zurück, was er an den Reichen verloren hatte. Dieses
Beispiel zeigt, dass es einen tiefen Grund gibt, die Werte
Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit als Einheit aufzufassen.
({8})
Solange unsere Wirtschaftsordnung systemimmanent zu
wachsender Ungleichheit führt, wird es Freiheit und
Brüderlichkeit nicht geben und letztendlich auch keinen
Frieden.
({9})
Das Privateigentum gilt in bürgerlichen Gesellschaften als Garant einer freien Gesellschaft und persönlicher
Freiheit. Nur das Privateigentum führe zu wirtschaftlichem Fortschritt, wecke die Eigeninitiative, stärke die
Selbstverantwortung und gewährleiste die persönliche
Entfaltung. Doch nach wie vor hat diese Art von Selbstverantwortung einen Schönheitsfehler: Sie gilt nur für
wenige und wird der Mehrheit nicht zugebilligt.
In einer Gesellschaft, in der die übergroße Mehrheit
kein Vermögen und keine Produktionsmittel besitzt, lassen sich die Privilegien einer besitzenden Minderheit
durch das Argument, sie wirkten persönlichkeitsbildend
und garantierten die Freiheit, nicht als gesellschaftlich
nützlich legitimieren.
({10})
In der frühen liberalen Gesellschaftstheorie ergab
diese Eigentumsauffassung noch einen Sinn. Das private, weder durch obrigkeitsstaatliche noch durch traditionelle oder religiöse Vorschriften beschränkte Eigentum war ein Instrument des wirtschaftlichen Fortschritts,
ein Ferment der Auflösung der feudalen Ordnung und
der Herstellung der staatsbürgerlichen politischen Freiheit. Für die Väter des Liberalismus war das Privateigentum wegen dieser für die ganze Gesellschaft nützlichen
Konsequenz legitim. Aber heute sind derartige Legitimationskriterien fragwürdig und von der Geschichte
außer Kraft gesetzt worden. Wäre das wirtschaftliche
Privateigentum auch dann der Garant einer freien Persönlichkeit in einer freien Gesellschaft, wenn es nicht
breit gestreut ist, dann hätte es das nationalsozialistische
Deutschland nicht gegeben.
({11})
Ein Teil der deutschen Großindustriellen verhalf Hitler
zur Macht, um seine aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln herrührenden Privilegien durch den Nazistaat abzusichern. In Deutschland bildete also das ungleich verteilte Privateigentum zu jener Zeit auch die
Grundlage für die Zerstörung der gesellschaftlichen
Freiheit.
({12})
Ähnliches ließ und lässt sich weltweit in vielen Militärdiktaturen beobachten.
In der liberalen Gesellschaftstheorie legitimierte sich
das wirtschaftliche Privateigentum nur durch den von
ihm erzeugten gesellschaftlichen Nutzen. Heute kann
diese liberale Gesellschaftstheorie auch dazu herangezogen werden, die Neuverteilung des Eigentums am Vermögen und am Produktivvermögen zu begründen. So
wie die Neuverteilung des Eigentums ein Ferment der
Auflösung der feudalen Ordnung und der Herstellung
der bürgerlichen Freiheit war, so ist heute die gerechtere
Verteilung des Vermögens und des Produktivvermögens
das Ferment zur Auflösung des Absolutismus in der
Wirtschaft und zur Herstellung einer demokratischen
Gesellschaft.
({13})
Die Beteiligung der Belegschaften an ihren Betrieben
eröffnet den Weg zu einer freieren und einer demokratischeren Gesellschaft. Wie kein anderer hat dies der leider viel zu früh verstorbene Liberale Karl-Hermann
Flach formuliert - ich zitiere -:
Heute sehen wir noch viel klarer, dass Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktfreiheit zu einer immer größeren Ungleichheit führen, welche
die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Freiheit
kleinerer Gruppen unerträglich einschränkt. Die
Vermögenskonzentration in den westlichen Industriestaaten führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigender sozialer Sicherung der lohnabhängigen Massen zu einer Disparität, welche der
Begründung der Besitzverhältnisse mit dem Begriff
der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht.
So äußerte sich ein führender Liberaler vor drei Jahrzehnten.
({14})
Ich zitiere weiter:
Das Problem des Kapitalismus besteht nicht darin,
dass Unternehmen Gewinne erwirtschaften, sondern darin, dass die ständig notwendige Reinvestition des größten Teiles der Gewinne nicht nur
moderne Produktionsanlagen und Arbeitsplätze
schafft, sondern eine ständige Vermögensvermehrung in der Hand der Vorbesitzer der Produktionsmittel.
So Karl-Hermann Flach.
Nun wird es spannend: Daher laste der Kapitalismus
als vermeintlich logische Folge des Liberalismus auf
ihm wie eine Hypothek. Die Befreiung des Liberalismus
aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapitalismus - „Befreiung vom Kapitalismus“ ist vielleicht
eine bessere Formulierung als „Überwindung des Kapitalismus“ - sei daher die Voraussetzung seiner Zukunft.
Im Finanzkapitalismus heutiger Prägung wird der
größte Teil der Gewinne nicht mehr in moderne Produktionsanlagen reinvestiert; vielmehr wird er im weltweiten Spielkasino verzockt, mit verheerenden Folgen für
die Menschen, vor allem für die Hungernden und die
Kranken dieser Welt. Der Finanzkapitalismus enteignet
die Beschäftigten nicht nur dadurch, dass er ihnen den
Zuwachs des Produktivvermögens vorenthält; er verschärft Jahr für Jahr die ohnehin bestehende soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit durch fallende Löhne,
Renten und soziale Leistungen bei gleichzeitigen spekulationsbedingten Preissteigerungen.
({15})
Meine Damen und Herren, Art. 14 des Grundgesetzes
muss neu und zeitgemäß interpretiert werden. Während
die in Abs. 2 geforderte Verpflichtung, der Gebrauch des
Eigentums solle auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen, in einer Gesellschaftsordnung mit einer anderen
Verteilung des Vermögens und des Eigentums an Produktionsmitteln ebenso seine Gültigkeit behält, ist der
Abs. 3 neu zu interpretieren. Wenn eine Enteignung nur
zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist, dann ist die in
unserem Wirtschaftsalltag Praxis gewordene ständige
Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die zum Nachteil der Allgemeinheit führt, schlicht
grundgesetzwidrig.
({16})
Warum ist die ständige Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Nachteil der Allgemeinheit? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das höhere Haftungsrisiko
tragen - sie haften mit ihrem eigenen Arbeitsplatz, also
mit ihrer gesamten Existenz -, würden sie verantwortlicher mit dem Firmenkapital umgehen als Anteilseigner,
die es in der Vergangenheit oft leichtfertig verzockt haben. Beispiele gibt es wahrlich genug.
({17})
Eine durch die Beteiligung der Belegschaften an den
Unternehmen geprägte Wirtschaftsordnung dient auch
der Erhaltung unserer Umwelt. Echte solidarische gesellschaftliche Verantwortlichkeit kann der Mensch bei
seiner Arbeit nur entwickeln, wenn er im Arbeitsprozess
nicht entmündigt wird. Produktive Arbeit ist Umformung der Natur zu Gebrauchsgütern. Wer im Arbeitsprozess von jeglicher Verantwortlichkeit enteignet worden ist, der wird auch gegenüber dem Gegenstand seiner
Arbeit, der Natur, nicht die notwendige Verantwortung
empfinden. Daher müssten diejenigen, die für einen verantwortlichen Umgang des Menschen mit der Natur plädieren, dafür eintreten, dass solidarische Verantwortlich24326
keit im Arbeitsprozess entstehen kann. Es würde nicht
viel nützen, wenn es hin und wieder gelänge, ein Atomkraftwerk stillzulegen oder eine Chemiefabrik zu schließen, der Mensch in anderen Gebieten aber genauso unverantwortlich weiterproduzierte, genauso ausbeuterisch
mit der Natur umginge wie bisher.
({18})
Aus dem bisher Gesagten folgt: Das Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland verpflichtet uns zu einer
anderen, zu einer neuen Wirtschaftsordnung. Es verpflichtet uns, mehr Freiheit und mehr Demokratie zu wagen.
({19})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 60 Jahre
Grundgesetz und damit auch 60 Jahre Freiheit und Demokratie in Deutschland - das ist beides keine Selbstverständlichkeit. Als Grüne kann ich sagen: Ich bin stolz
auf diese Verfassung. Manche sagen, sie seien stolz auf
ihr Land. Ich sage: Wir sind stolz auf diese Verfassung.
Ich weiß, weltweit werden wir darum beneidet. Wir haben eine Verfassung, die Gewaltenteilung, die demokratische Prozesse regelt, und wir haben Grundrechte. Im
Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich das Land diese Verfassung wirklich angeeignet und in die Realität umgesetzt.
Ich sehe heute vor allem zwei Gründe dafür, dass unser Grundgesetz eine solche Erfolgsgeschichte ist. Der
erste Grund ist, dass dieses Grundgesetz Deutschland
seine Würde wiedergegeben hat,
({0})
weil es die Menschenwürde ganz konsequent an den
Anfang und damit quasi in den Mittelpunkt gesetzt hat.
Unser Grundgesetz ist deshalb eine Verfassung, die
wirklich vom Menschen her denkt und nicht aus dem
Blickwinkel des Staates:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das ist sozusagen die Botschaft des Humanismus. Der
Entwurf aus Herrenchiemsee hatte es auf eine etwas andere Formel gebracht. Da hieß es:
Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der
Mensch um des Staates willen.
Das ist sozusagen das Versprechen: Nie wieder
Auschwitz! - So fängt unser Grundgesetz an.
({1})
Der zweite Grund für die Erfolgsgeschichte des
Grundgesetzes ist sicherlich die Tatsache, dass unser
Grundgesetz in Theorie und Praxis eine lernende Verfassung ist. Es wurde immer wieder versucht, dafür zu
sorgen, dass die Verfassung mit der gesellschaftlichen
Entwicklung Schritt hält. Denken Sie an die Rechte der
Frauen und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen oder auch an die Entwicklung bei den Möglichkeiten
demokratischer Meinungsäußerung bis hin zur Ausbildung einer Protestkultur in diesem Land. Zu all dem
haben wir, in der Verfassung verankert, gesagt: Ja, das
gehört zu uns. Das ist normale moderne Verfassungswirklichkeit.
Damit ist aber eines klar: Das sollte hier und heute
nicht eine Feierstunde sein, in der man einfach in Zufriedenheit zurückschaut. Herta Däubler-Gmelin hat ja bereits gesagt, dass es nicht nur um das Erinnern geht, sondern auch darum, in der Zukunft tätig zu werden. Die
Verfassung muss auch heute die Kraft der Erneuerung
aufbringen, weil eine Verfassung so etwas wie ein
Gesellschaftsvertrag ist, ein Grundkonsens, der ausdrückt: Nach diesen Regeln, mit diesen Werten, in dieser
Ausgestaltung wollen wir miteinander leben, unseren
Alltag gestalten; das sind die Rechte, die wir haben.
„60 Jahre Grundgesetz“ ist ein guter Anlass für den Gesetzgeber, sich zu fragen, ob die Versprechen, die Zusagen des Grundgesetzes den Fragestellungen und Sorgen
der Gegenwart gerecht werden.
({2})
Das Grundgesetz ist nicht nur Ausdruck dessen, was
gestern gemeinsamer Wert war und auch heute noch ist,
sondern auch dessen, wie wir in Zukunft leben wollen,
wie Freiheit und Gerechtigkeit morgen aussehen. Es ist
zu fragen, ob das, was 1949 im Grundgesetz theoretisch
formuliert wurde, was wir nach und nach in der Praxis,
zum Teil hart umkämpft - auch dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die uns über
manche Hürden geholfen hat -, realisiert haben, hinsichtlich Würde, Freiheit und Gleichheit hinreichend
verwirklicht wird. Die Freiheit des Grundgesetzes - das
wissen wir - ist nicht die Freiheit von selbstsüchtigen
Ichlingen, sondern Menschenwürde, Freiheit und
Gleichheit gelten immer für alle. Es ist die Freiheit zur
gesellschaftlichen Teilhabe, zur Selbstverwirklichung
für alle.
({3})
Schauen wir uns einmal an, in welcher Verfassung unser Land heute ist. Wir stehen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Wir erleben technologische und gesellschaftliche Veränderungen, eine globale Wirtschaft, einen globalen Wettbewerb, Dinge, die sich die Mütter und Väter
unseres Grundgesetzes nicht einmal im Ansatz vorstellen konnten. All diese Veränderungen berühren die FreiRenate Künast
heit, die Gleichheit, die Demokratie, die Gesellschaft. Es
wundert uns nicht, wenn gerade in diesen Tagen viele sagen: Diese Gesellschaft ist blockiert. Die Versprechen
des Grundgesetzes werden nicht eingehalten.
Ich möchte an einigen Punkten aufzeigen, wo wir in
unserer Verfassung aufgrund der Entwicklungen der
letzten Jahrzehnte im 21. Jahrhundert eine Mangelsituation haben.
Ich beginne mit dem Begriff der Freiheit. Die Freiheit
des Grundgesetzes wird heute von zwei Seiten bedroht:
erstens durch einen falsch verstandenen Freiheitsbegriff
und zweitens durch die Entwicklung des Präventionsstaates in der Sicherheitspolitik. Der Begriff der Freiheit
war immer hart umkämpft, von 1848 über 1918, 1949
bis 1989, jetzt vielleicht wieder. In den letzten Jahrzehnten drohte die Freiheit in erster Linie eine Freiheit der
Wirtschaft zu werden - eine Freiheit der Wirtschaft von
Verpflichtungen für das Gemeinwohl. Da hebe ich mahnend die Hand und sage: An der Stelle müssen wir aufpassen, dass unser Grundgesetz die Freiheit heute so gewährleistet, wie es 1949 versprochen wurde.
({4})
Es droht eine Freiheit der Wirtschaft von Verpflichtungen für das Gemeinwohl, obwohl in Art. 14 des
Grundgesetzes anderes gesagt wird. Der Profit wird einbehalten. Die sozialen und ökologischen Folgen werden
externalisiert; die Schulden werden auf die Zukunft verlagert. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise
ist so verursacht worden. Nach diesem Prinzip löst sie
ihre Probleme. Aber das entspricht nicht dem Freiheitsbegriff des Grundgesetzes. Freiheit ist die Freiheit für
alle, zur vollen Teilhabe, sich entwickeln zu können und
auch in Zukunft über die Grundlagen des Lebens entscheiden zu können.
({5})
Wie sieht es aus für ein Kind, das in diesem Jahr geboren wurde? Es hat qua Geburt Schulden in Höhe von
mehr als 19 000 Euro. Wie viel sind das eigentlich mit
Zinsen, wenn das Kind 18 Jahre alt ist? Das Kind wächst
auf mit uns, die wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, die wir die natürlichen Lebensgrundlagen, wie es in
der Verfassung heißt, nicht hinreichend geschützt haben.
Es wächst auf mit Klimawandel, Hunger und weltweiter
Ressourcenknappheit. Welche Freiheit hat dieses Kind
als Erwachsener, wenn dieser in vielleicht 25 Jahren im
Deutschen Bundestag sitzt, um Politik zu machen? Welche Entscheidungsspielräume hat er dann noch, seine
Zukunft und die der anderen Bürger zu organisieren?
Ich glaube, dass unsere Wirtschaftsweise nicht durch
den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes gedeckt ist. Wir
müssen darauf achten, dass wir in der Verfassungsrealität dem Postulat der Verfassung entsprechen, und zwar
bei jedem Gesetzentwurf, den wir in Zukunft hier vorliegen haben.
({6})
Vielleicht ist der Gesetzentwurf zu den Bad Banks der
nächste Anlass dazu.
Unsere Freiheit wird aber nicht nur durch den wirtschaftlich verengten Freiheitsbegriff bedroht. Der Angriff auf die Twin Towers in New York war zweifellos
ein Angriff auf unsere Art zu leben, auf unsere Werte.
Aber im Kampf gegen den Terror hat der Staat den, wie
ich meine, verfassungswidrigen und gefährlichen Weg
zum Präventions- und Überwachungsstaat eingeschlagen. Indem ihm jedes Mittel recht scheint, verteidigt der Staat jetzt nicht etwa die Rechte seiner Bürger,
sondern bedroht ihre Freiheit im Kern. Es gibt in diesem
Land eine unzulässige Verschiebung der Gewichte zwischen Sicherheit und Freiheit zulasten der Freiheit. Das
müssen wir ändern.
({7})
Man könnte auch sagen: Der Gesetzgeber testet die Verfassung aus, obwohl er an sie gebunden ist. Das ist eine
Art ziviler Ungehorsam von oben. Das aktuellste Beispiel dafür ist das neue BKA-Gesetz. Dieses Gesetz, zu
dem wir jetzt wieder das Bundesverfassungsgericht angerufen haben, bringt Risse in die Freiheit. Alle Bürger
werden verdächtig, auch derjenige, der einen kennt, der
verdächtig sein könnte, weil er wiederum einen solchen
kennt. Das ist die Umkehrung der Idee, dass der Staat für
die Bürger da sei. Auch in diesem Sinne müssen wir die
Freiheit, wie sie 1949 im Grundgesetz festgeschrieben
worden ist, verteidigen.
({8})
Wenn wir uns jetzt aus Anlass von 60 Jahren Grundgesetz Gedanken über die Gefahren für das Grundgesetz
in der Realität machen, stellen wir fest, dass in drei Bereichen Veränderungsbedarf besteht. Einen Bereich habe
ich schon angesprochen: Diese Gesellschaft muss sich
den Begriff der Freiheit zurückerobern. Die Freiheit, die
ich meine, ist die Freiheit, die in der Französischen Revolution mit ihrem Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ihren Ausgangspunkt genommen hat.
Die Freiheit, die ich meine, ist die, die in der friedlichen Revolution 1989 mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“
aufblitzte und durch die das Volk wieder mehr entscheidet, statt dass die globale Wirtschaft Freiheit vorgibt,
Zwänge schafft, Entscheidungsmöglichkeiten des Volkes
reduziert und ihre Kosten und Lasten der Allgemeinheit
aufbürdet.
Das ist aber nicht alles. Des Weiteren müssen wir in
dieser Gesellschaft neu überlegen: Wofür sind wir eigentlich im Kern verantwortlich? Seit Bestehen des
Grundgesetzes 1949 hat die gesellschaftliche Entwicklung eine Pluralisierung von Lebensstilen erlebt. Was damals mit dem Begriff des Sozialstaats und mit Art. 6,
„Schutz von Ehe und Familie“, geschützt wurde, existiert heute nicht mehr in der Form wie 1949. Ich kann
hier nicht in 15 Minuten alle Bereiche des Sozialstaats
ansprechen. Man könnte im Zusammenhang mit Solidarität und Verantwortung über die sozialen Sicherungssysteme, den Umgang mit alten und kranken Menschen
und Pflege oder den Umgang mit der demografischen
Entwicklung im 21. Jahrhundert reden.
Ich will mich aber im Folgenden darauf konzentrieren, was in Zukunft im Zentrum des staatlichen Schutzes
stehen sollte, und auf die Kinder schauen. Wir müssen
erkennen: Das Grundgesetz hinkt an dieser Stelle der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher.
({9})
An anderen Stellen, beispielsweise beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und beim Tierschutz, wurde
das Grundgesetz aktualisiert. Eine solche Aktualisierung
muss auch im Bereich „Familie und Kinder“ stattfinden.
Die Familie, wie man sie sich im Jahr 1949 vorgestellt hat, existiert in dieser Form nicht mehr. Im
21. Jahrhundert gibt es alle möglichen Formen von Familie. Es gibt Familien mit Trauschein und ohne Trauschein, es gibt Patchworkfamilien. Es gibt homo- und
heterosexuelle Eltern; es gibt biologische und soziale Elternschaft. Die Frauen nehmen sich ihr Recht auf
Gleichstellung. Drei von zehn Kindern in diesem Land
werden von alleinerziehenden Müttern oder Vätern und
von Eltern ohne Trauschein erzogen. Die Antwort darauf
darf nicht sein, dass man im Grundgesetz weiter an Leitbildern vergangener Zeiten festhält.
({10})
60 Jahre Grundgesetz und Gleichheitsanspruch - und
doch erfahren Kinder in dieser Gesellschaft immer mehr
eine Blockade. Der Grund liegt nicht nur in der Fokussierung auf die Familie im engeren Sinne, sondern auch
in den mangelhaften Bildungschancen. 83 Prozent der
Studierenden in Deutschland - in einer der führenden Industrienationen mit einer Verfassung, die stark auf Gerechtigkeit und Freiheit abzielt - stammen aus höheren
Schichten. 8 Prozent der Kinder verlassen die Schule
ohne Abschluss. Knapp ein Viertel der 15-Jährigen ist
auf Grundschulniveau. Das ist eine blockierte Gesellschaft. So haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes das nicht vorgestellt.
({11})
Auch angesichts von Vernachlässigung, Gewalt und
Missbrauch, denen manche Kinder ausgesetzt sind, muss
die Antwort des Grundgesetzes lauten: Die Sorge gilt
den Kindern und nicht dem Trauschein. Statt Art. 6 in
seiner jetzigen Form zu belassen, müssen Kinder endlich
zum Subjekt der Verfassung werden; sie dürfen nicht
weiter Objekt in der Beziehung zu ihren Eltern bleiben.
({12})
Wir brauchen das eigenständige Recht der Kinder auf
eine gesunde und gewaltfreie Entwicklung, auf Förderung und Bildung sowie auf eine gesunde Umwelt.
Mein letzter Aspekt behandelt das Thema Demokratie. Ja, wir haben die Demokratie in diesem Land ganz
wunderbar aufgebaut: mit Checks and Balances, mit Gewaltenteilung und mit Gerichten, die man anrufen kann.
Aber im 21. Jahrhundert sehen wir, dass Demokratie Dynamik entwickeln kann. Damit meine ich nicht nur den
Ruf „Wir sind das Volk!“. Wir konnten von 1968 bis
jetzt erleben, wie stark sich Bürgerinnen und Bürger engagieren wollen. Mittlerweile ist es sogar so, dass jeder
internationale Regierungsgipfel einen Gegengipfel auslöst. Auch das ist eine Möglichkeit zur Meinungsäußerung.
({13})
Heute ist die Erweiterung der Instrumente politischer
Willensbildung fällig. Das Angebot kann nicht nur sein,
sich auf einen langen Weg durch die Parteien zu machen.
Demokratie heißt auch nicht, turnusgemäß alle vier
Jahre zur Wahlurne zu schreiten. Ich meine, dass wir
zwei Verbesserungen brauchen: Wir brauchen in der
Verfassung vorgesehene Volksinitiativen, Volksbegehren
und Volksentscheide sowie das aktive Wahlrecht ab
16 Jahre.
({14})
Frau Bundeskanzlerin, es ist schön, wenn Sie Migrantinnen und Migranten ihre Einbürgerungsurkunden überreichen, obwohl dies rechtlich gesehen ein irrelevanter
Akt ist, weil die Einbürgerung Ländersache ist. Besser
wäre es aber, wenn in dieser Gesellschaft nicht mehr aufgrund ethnischer Herkunft oder Religion ausgegrenzt
würde - das ist nämlich Gift für unsere Kultur -, wenn
wir also dafür sorgen würden, dass sich Migrantinnen
und Migranten hier einbringen können, zum Beispiel indem wir ein kommunales Wahlrecht für sie einführen.
({15})
Frau Kollegin, Sie denken bitte an die Redezeit.
Ich habe drei Bereiche genannt, die in der Verfassung
an das 21. Jahrhundert angepasst werden müssen. Ich
möchte Ihnen aber eines sagen: Diese Aufgabe betrifft
nicht nur uns selbst. Wir haben auch eine Vorbildfunktion für Europa. Europa ist als Friedensprojekt gestartet
und wurde als Wirtschaftsprojekt weitergeführt. Nun
muss es endlich ein soziales und ökologisches Europa
werden. Unsere Verfassung kann die Standards dafür setzen. Sie kann begeistern und zeigen, wie man eine moderne Verfassung schreibt, in der sich alle entwickeln
und ihre Lebensgrundlage halten können. Das ist unser
Auftrag.
({0})
Dr. Peter Ramsauer ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! 60 Jahre
Grundgesetz, das ist für uns alle ein Grund zur Freude.
Der Deutsche Bundestag hat - man kann sagen: parteiund fraktionsübergreifend - Grund zu dieser Freude. Wir
sollten diesen Tag in Einigkeit und Dankbarkeit begehen.
({0})
Wir alle stehen mit unserer politischen Arbeit und mit
unserer Politik insgesamt auf einem stabilen Fundament,
das unser Land und unseren Staat 60 Jahre sicher getragen hat. Noch nie zuvor in der deutschen Geschichte
konnten die Menschen unseres Landes eine so lange Periode der Stabilität und des Friedens genießen, wie sie
unserer und der Generation unserer Eltern zuteil geworden ist. Die Männer und Frauen, die 1948 im Parlamentarischen Rat in Bonn mit ihrer Arbeit an einer Verfassung für einen damals noch nicht einmal in Umrissen
erkennbaren neuen deutschen Staat begannen, hätten
sich in ihren kühnsten Visionen gewiss nicht träumen
lassen, welch ein Werk von Dauer und politischer Nachhaltigkeit sie schaffen würden.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist
für das deutsche Volk zu einem Dokument des Glücks
geworden. Auch wenn es in den sechs Jahrzehnten seiner Gültigkeit mancherlei Ergänzungen und Veränderungen erfahren hat, blieben sein Kern und seine Substanz
immer unangetastet. Ich glaube, wir alle sind gut beraten, mit demokratischer Leidenschaft dafür zu sorgen,
dass dies auch in Zukunft so bleibt.
({1})
Meine Fraktion erteilt allen Überlegungen, die dahin gehen, mit diffusen Begründungen grundsätzliche Veränderungen am Grundgesetz vorzunehmen und es sozusagen mit überflüssigen Zutaten zu befrachten, klipp und
klar eine Absage. Nicht die Quantität, sondern die Qualität zeichnet unsere Verfassung aus.
({2})
Das Grundgesetz zog die Lehren aus den Schwächen
der Weimarer Republik und stellte ein starkes und glaubwürdiges Kontrastprogramm zu jenen zwölf Jahren deutscher Geschichte und deutscher Politik dar, die aufgrund
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, des Krieges und des Massenmordes an den Juden in Deutschland
und in Europa im bittersten Sinne des Wortes Jahre des
Unheils waren. Franz Josef Strauß hat die Wurzeln allen
Übels dieser teuflischen Jahre im verhängnisvollen Abfall vom christlichen Sittengesetz und dessen Normen
gesehen.
({3})
Der Aufbau eines neuen und demokratischen deutschen
Staates, der mit unserem Grundgesetz seinen Anfang genommen hat, fand in einer Haltung und Gesinnung statt,
die politisches Handeln anderen als nur menschlichen
Maßstäben verantwortlich weiß.
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und
den Menschen, …
So beginnt die Präambel unseres Grundgesetzes. Damit
wird eine Orientierung jenseits von politischem Angebot
und politischer Nachfrage markiert, die wir alle brauchen und uns allen guttut.
Die Präambel der bayerischen Verfassung ist von einem Sozialdemokraten, dem unvergessenen Wilhelm
Hoegner, im gleichen Geiste geschrieben worden:
Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staatsund Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges
geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen
des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes
dauernd zu sichern …
Ich glaube, man kann den Irrwegen, auf die sich die
deutsche Politik in den zwölf Jahren zwischen 1933 und
1945 begeben hat, keine feierlichere und beschwörendere Absage erteilen als die von Hoegner verfasste.
({4})
Das Grundgesetz hat der Politik klare Handlungsaufträge gegeben. Einen Auftrag, vielleicht den wichtigsten,
haben wir erfüllt: die Einheit unseres Vaterlandes zu
erreichen. Der Appell, der hierzu in der ursprünglichen
Präambel stand, wurde durch den Einigungsvertrag vom
3. Oktober 1990 hinfällig. Er wurde nicht hinfällig, weil
etwa das Grundgesetz, wie Sie, Herr Müntefering, neulich meinten, den Menschen in der ehemaligen DDR
übergestülpt worden wäre. Herr Müntefering, nichts
wurde übergestülpt. Vielmehr hat die letzte, frei gewählte Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland und damit die Übernahme des
Grundgesetzes für das ganze Deutschland in Freiheit beschlossen.
({5})
Ihr Parteifreund Richard Schröder hat Ihnen zu Recht
entgegengehalten, dass den Menschen in der DDR dieser
Beitritt damals gar nicht schnell genug gehen konnte.
Hände weg vom Namen der Bundesrepublik Deutschland und von einem überflüssigen Herumbasteln an unserem Grundgesetz!
({6})
Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass Ergänzungen
und Veränderungen nicht dort vorgenommen werden
können oder auch müssen, wo dies zwingend erforderlich ist. Die Ergebnisse der Föderalismuskommission II
sind ein Beispiel dafür. Auch hier sollte es mehr auf die
Substanz als auf die Länge des zu ergänzenden Textes
ankommen.
({7})
Natürlich darf ich einen persönlichen, gewissermaßen
heimatlichen Bezug zum Anlass und Thema der heutigen Debatte nicht vergessen. Zu meinem Wahlkreis
- Traunstein und das Berchtesgadener Land - gehört bekanntlich der Chiemsee. Auf einer Insel im Chiemsee
wurde Verfassungsgeschichte geschrieben. Liebe Frau
Kollegin Künast, es freut und erstaunt mich, dass ausgerechnet Sie auf den Geist von Herrenchiemsee hingewiesen haben.
({8})
Auf Einladung der auch damals schon CSU-geführten
Bayerischen Staatsregierung trat im Alten Schloss auf
der Herreninsel ein Ausschuss von Bevollmächtigten der
damals bestehenden elf deutschen Länder in den westlichen Besatzungszonen und des Magistrats von Berlin
zusammen. Dieser Verfassungskonvent tagte vom
10. bis zum 23. August 1948. Er erstellte einen Bericht,
der auch den Entwurf eines Grundgesetzes enthielt, der
Grundlage der Arbeit des Parlamentarischen Rates
wurde. So gesehen hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland durchaus auch bayerische Wurzeln.
({9})
Eine Verfassung lebt vom Geist, von dem sie erfüllt
ist, und wird lebendig durch die Politik, die auf ihrer
Grundlage gemacht wird. Hier hat meine Partei in sechs
Jahrzehnten des Bestehens des Grundgesetzes ihre politische Pflicht für das ganze Deutschland erfüllt. Wir haben - auch im Wechselspiel zwischen Regierungsverantwortung und Opposition - Verantwortung getragen,
haben nicht nach Bequemlichkeit, sondern nach der
Richtigkeit des zu beschreitenden Weges gefragt, in allen wichtigen, weichenstellenden Fragen unseres Landes.
Die politische Kompetenz einer Partei, die Richtigkeit
ihres Kompasses und ihr Mut erweisen sich nicht nur in
der Regierung, sondern natürlich auch in der Opposition.
Die von Franz Josef Strauß durchgesetzte Klage des
Freistaates Bayern zum Grundlagenvertrag zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im
Jahr 1973 war - das müssen wir auch und gerade am
heutigen Tag im Rückblick sagen - ein deutschlandpolitischer Meilenstein.
({10})
Das Verfassungsgericht schob damals allen offenen
und schleichenden Bestrebungen zur Anerkennung einer
deutschen Zweistaatlichkeit oder einer eigenen DDRStaatsbürgerschaft entschlossen einen Riegel vor. Meine
Partei hat sich mit dieser Klage gegen den damaligen
Zeitgeist gestellt. Sie hat den zum Sturm gewordenen
Gegenwind der öffentlichen Meinung nicht gefürchtet.
Sie hat es ausgehalten, dass die damalige Bundesregierung die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in
dieser Frage regelrecht als Anschlag auf die Entspannungspolitik bezeichnete. Wir haben uns davon nicht beirren lassen. Durch die Verfassungsklage meiner Partei
wurde die deutsche Frage und damit das Tor zur deutschen Einheit offengehalten.
({11})
60 Jahre Grundgesetz unseres Landes - dieses Jubiläum fällt in eine wirtschaftlich äußerst schwierige Zeit.
Jammern hilft uns aber nicht weiter. Vielleicht hilft ein
Blick zurück in jene Zeit, in der das Grundgesetz entstand und das politische Leben wieder begann. Halten
wir uns die damalige Lage und die Lebensumstände der
Menschen vor Augen - die Not und das Elend, den
Trümmerhaufen, den Deutschland damals darstellte -, so
können wir nur den Mut und die Tapferkeit sowie den
Fleiß und den Willen unserer Eltern und Großeltern bewundern, anzupacken, aufzubauen und die Dinge zum
Besseren zu wenden. Aus dieser Haltung, fernab von Resignation und Wehleidigkeit, gilt es auch heute zu lernen.
({12})
An dieser Stelle ist es angebracht - eine solche Bemerkung habe ich in dieser Debatte noch nicht gehört -,
Dank zu sagen, Respekt zu zollen und Anerkennung zu
leisten für die großartige Integrationsleistung und Aufbauarbeit, die Heimatvertriebene und Flüchtlinge in den
Nachkriegsjahrzehnten geleistet haben.
({13})
Ohne diese großartige Aufbauleistung wäre Deutschland
heute nicht das, was es ist. Ohne die Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahre 1950, diesen Verzicht
auf Rache und Vergeltung, was eine großartige, friedensstiftende Leistung war und womit ein Zeichen gesetzt
wurde, wäre auch Deutschland nicht das, was es heute
ist.
({14})
Die Probleme sind groß, aber auch unsere Chancen
sind groß. Besinnen wir uns auf unsere Stärken. Geben
wir ihnen im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft
Raum und Entfaltungsmöglichkeiten. Nur mit der bewährten Ordnung dieser sozialen Marktwirtschaft werden wir die gegenwärtige Wirtschaftskrise überwinden.
Es sind falsche Propheten, die den Menschen jetzt Konzepte der Staats- und Zwangswirtschaft - ob sie nun Sozialismus oder Kommunismus heißen - als Ausweg einreden möchten; denn all diese Konzepte sind krachend
gescheitert.
Ich glaube, ein lebendiger und selbstbewusster
Patriotismus, wie er anderen Ländern der Welt immer
schon ganz selbstverständlich zu eigen war, steht auch
uns Deutschen, steht auch unserem Volk zu.
({15})
Gerade in diesen Krisenmonaten muss gelten: Wir stehen zusammen. Wir wollen unserem Land, unseren Bürgerinnen und Bürgern dienen. Linke Klassenkampfrhetorik ist von gestern. Die Bereitschaft zur Verantwortung
für das Große und Ganze ist das Gebot der Stunde.
({16})
Wir Deutschen stehen zu unserem Land. Umfragen
aus den letzten Tagen unterstreichen das. Wir Deutsche
vertrauen auf unsere Leistungsbereitschaft, wir vertrauen auf unser Pflichtbewusstsein, und wir vertrauen
auf unsere Weltoffenheit. Ich finde, das alles sind exzellente Grundlagen, um die gegenwärtige Krise zu überwinden.
Das gemeinsame Vaterland verbindet zu gemeinsamer Anstrengung. Ich bin überzeugt: Das Grundgesetz
hat unserem Patriotismus ein verlässliches und solides
Fundament gegeben.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Toncar von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Geschichte unseres Grundgesetzes ist eine
einzigartige Erfolgsgeschichte. Es gibt keine einzige historisch bedeutsame Frage in der Geschichte der Bundesrepublik, in der es nicht seine Rolle gespielt hätte. Es ist
aus einer historischen Katastrophe heraus entstanden
und wurde von Menschen erarbeitet, die von dem, was
sie erlebt hatten, gezeichnet waren. Auch die Nachkriegsgeneration, die die schlimmste Zeit in unserer Geschichte nicht mehr selbst erlebt hat, war immerhin noch
stark geprägt durch die Bewältigung der Folgen von
Krieg und Diktatur.
Die Menschen in Ostdeutschland haben erst 1989/90
ihre Freiheit erkämpft, sodass die meisten von ihnen
noch sehr unmittelbar wissen, wie es ist, in einem Unrechtsstaat zu leben. Doch wenn in diesem Jahr der
17. Deutsche Bundestag gewählt wird, wird es in ganz
Deutschland keinen einzigen Erstwähler mehr geben,
der sich noch selbst an die deutsche Teilung wird erinnern können. Unsere Gesellschaft wird immer stärker
geprägt werden von Menschen, die das Glück und das
Privileg hatten, in Frieden in einem geeinten Europa und
in einer freiheitlichen Demokratie groß zu werden.
({0})
So stellt sich an diesem 60. Jahrestag die Frage, wie
es mit dem großartigen Erbe des Grundgesetzes weitergeht. Ich bin davon überzeugt, dass die jungen Deutschen die Werte unserer Verfassung tief verinnerlicht haben. Meine Generation ist in ihrer großen Mehrheit
tolerant, verantwortungsbewusst und skeptisch gegenüber Extremen aller Art.
({1})
Sie ist stolz auf ihr Land, ohne sich dabei über andere zu
erheben. Ihr fehlt allerdings das Erlebnis der existenziellen Bedrohung ihrer Freiheit. Freiheit und Demokratie
erscheinen ihr selbstverständlich. Werner Finck sagte
einmal:
Es geht uns mit der Freiheit wie mit der Gesundheit: Erst wenn man sie nicht mehr hat, weiß man,
was man an ihr hatte.
({2})
Diese Gefahr der Gewöhnung rechtzeitig zu erkennen und diesen Ausspruch zu widerlegen, müssen unser
Ziel und unsere Aufgabe in den nächsten Jahren sein.
Garantiert uns das Grundgesetz, dass die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik weitergeht? Das kann es
nicht, und das war auch nicht die Absicht seiner Väter
und Mütter. Der Staatsrechtler Rudolf Smend hat den
Sinn und Zweck des Grundgesetzes als Integration bezeichnet und damit einen Prozess ständiger Erneuerung, dauernden Neu-erlebt-Werdens gemeint. So ist
das Grundgesetz nicht statisch, sondern lebend. Der
Kern seiner Werte, wie zum Beispiel die Menschenwürde, der überragende Wert des einzelnen Menschen,
ist zeitlos. Aber er ist in die Zukunft offen. Er kann für
zukünftige, heute noch gar nicht bekannte Herausforderungen Antworten bieten.
Gegenwart und Zukunft stellen uns schon heute vor
schwierige Entscheidungen. Es geht zum Beispiel um
die Möglichkeiten der modernen Medizin und Fragen
des Schutzes der Privatsphäre angesichts ganz neuer
technischer Möglichkeiten. Es ist ohne großen Aufwand
möglich, eine DNA-Analyse jedes Menschen zu erstellen und auszuwerten. Solche Entscheidungen können
mit dem Grundgesetz bewältigt werden. Sie sind nicht
leicht. Sie werden sicherlich auch in Zukunft nicht leichter. Aber das, was eine Verfassung leisten kann, um sie
zu beantworten, liefert das Grundgesetz. Eine Restverantwortung der Gesellschaft, die Wertungen des Grundgesetzes, die Menschenwürde immer wieder neu zu definieren und auszubuchstabieren, bleibt. Das kann uns
keine Verfassung dieser Welt abnehmen.
({3})
Deswegen möchte ich bezüglich aller Debatten über
die Frage, ob wir eine neue Verfassung brauchen, sagen: Ich kann nicht erkennen, dass wir das, was vor uns
liegt, mithilfe des Grundgesetzes nicht bewältigen können. Diejenigen, die laufend neue Vorschläge machen,
was noch hineingeschrieben werden könnte oder möglicherweise fehlt, müssen sich die Frage stellen lassen, ob
man die Autorität des Grundgesetzes nicht eher dadurch
beschädigt, dass man ständig den Eindruck erweckt, es
sei unvollständig, lückenhaft und verbesserungsbedürftig. Das ist nicht so, und das sollte man auch nicht ständig so darstellen.
({4})
Ich will aber auch auf Entwicklungen eingehen, von
denen ich glaube, dass wir in Zukunft auf sie achten und
vorsichtig sein müssen. Ich meine damit zum einen un24332
seren Umgang mit den Grundrechten und zum anderen
die Frage der Lebendigkeit unserer Demokratie. Die
Grundrechte sind der Teil des Grundgesetzes, der unsere Bürgerinnen und Bürger selber in ihrem Alltag unmittelbar betrifft. Sie stellen den Menschen in den Mittelpunkt und verpflichten den Staat, den Menschen zu
dienen.
Aber wie wird im politischen Alltag mit den Grundrechten umgegangen? Ich habe das Gefühl, dass Grundrechte oder zumindest das Bundesverfassungsgericht,
das sie anwendet, zunehmend als lästiges Hindernis
empfunden werden. Ich möchte fragen, ob es sich eine
freiheitliche Gesellschaft eigentlich erlauben kann, dauernd und immer wieder das Bundesverfassungsgericht
zu strapazieren, um eigentlich elementare Grundentscheidungen unserer Verfassung durchzusetzen.
({5})
So lange es so ist, dass in Parlamenten Mehrheiten
immer wieder bereit sind, Grundrechte, oft aufgrund von
Extremsituationen, unverhältnismäßig einzuschränken,
so lange - das muss man sagen - ist das Immunsystem
unserer Gesellschaft gestört. Diese Kontrolle kann nicht
auf Dauer von einem Gericht wahrgenommen werden.
({6})
Entlarvend ist im Übrigen die Formulierung, die in
unserer politischen Alltagssprache sehr oft auftaucht:
Das Parlament müsse Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Das wird bei dem BKA-Gesetz, beim
Lauschangriff und bei vielem anderen gesagt. Das Bundesverfassungsgericht macht uns überhaupt keine Vorgabe. Es definiert lediglich rote Linien, die wir nicht
überschreiten dürfen. Wenn wir immer so tun, als ob die
rote Linie - die letzte Möglichkeit, die das Verfassungsgericht lässt - eine Vorgabe des Gerichts sei, dann gehen
wir immer wieder an die Grenzen unserer Verfassung,
strapazieren sie und verschieben so die Achse unserer
Grundrechte nach außen.
({7})
Ich möchte auch noch auf den Zustand unserer
Demokratie eingehen. Es gibt zum Glück heute in
Deutschland nur noch sehr wenige Unverbesserliche, die
sich prinzipiell gegen die Idee der Demokratie wenden.
Für diese brauchen wir das Konzept der wehrhaften Demokratie. Aber auch an einem Feiertag wie heute soll
nicht verschwiegen werden, dass unsere Demokratie lebhafter sein könnte und dass die Lebendigkeit unserer Demokratie aus der Mitte der Gesellschaft bedroht ist, weil
es Ermüdungs- und Gewöhnungserscheinungen gibt.
Man kann das im Rahmen einer solchen Rede nicht
abschließend analysieren, aber ich möchte einfach einige
Fragen aufwerfen: Ist es einem Bürger heute eigentlich
noch möglich, einen für eine Maßnahme politisch Verantwortlichen auszumachen? Haben wir nicht weiterhin
ein großes Durcheinander an Zuständigkeiten von
Europa über Bund und Länder bis hin zu den Kommunen, das Verantwortung systematisch verschleiert und es
jeder Ebene ermöglicht, den Schwarzen Peter bei einer
anderen Ebene abzuladen, und schlussendlich den Bürger ratlos zurücklässt?
({8})
Gehen wir eigentlich immer fair mit unseren Kommunen um, die an immer umfangreichere Regeln gebunden werden, dabei immer größere Finanzierungsprobleme haben und schlussendlich über den goldenen
Zügel von Zuschüssen gesteuert und alimentiert werden?
Ich glaube, dass man sich nicht wundern muss, dass es in
vielen Kommunen immer schwerer wird, Menschen zu
finden, die sich für kommunales politisches Engagement
begeistern.
({9})
Teilhabe findet jedenfalls nicht ausschließlich auf parlamentarischen Abenden statt, sondern beginnt in unseren
Kommunen.
Ich vermisse auch eine Debatte über die Rolle und das
Selbstverständnis dieses Parlaments. Wer sollte sie eigentlich anführen, wenn nicht die Abgeordneten des
Bundestages selbst? Womöglich wird sie auch deshalb
vermieden, weil wir uns mit dem zu erwartenden Ergebnis nicht zufriedengeben können. Ich meine, dass der
Bundestag seinen Einfluss gegenüber der Exekutive
dringend stärken müsste. Ich habe nichts gegen Ministerialbeamte. Die meisten von ihnen machen gute Arbeit.
Aber wenn ein Ministerialbeamter Gesetzgeber sein
möchte, dann möge er sich für eine Wahl bewerben, wie
wir das alle auch tun müssen; er muss sich mit seinen
Argumenten stellen und dann wählen und bestätigen lassen. Aber Gesetzgeber ohne vorherige Wahlen kann man
nicht sein.
({10})
Wir sehen, dass EU-Rechtsakte im Ministerrat der EU
von Beamten ausgehandelt werden und dass der Bundesrat in der Praxis weitgehend eine Beamtenveranstaltung ist und dass die Ministerialbürokratie leider auch
auf unsere Parlamentsarbeit einen erheblichen Einfluss
ausübt,
({11})
wobei das Vorbereiten von Sprechzetteln für Abgeordnete in der Regierungskoalition noch eine möglicherweise harmlose Peinlichkeit darstellt. Nicht mehr harmlos wird es dann, wenn Anträge, die im Parlament eine
Mehrheit hätten, durch das Veto eines Ministeriums gestoppt werden. Ein Parlament, das so mit sich umspringen lässt, setzt sein Ansehen und seine Autorität aufs
Spiel. Ich vermisse auch in diesem Hause hierfür das nötige Problembewusstsein.
({12})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das Grundgesetz stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Es stellt
in unserer Demokratie das Parlament als die direkte Vertretung dieser Menschen in den Mittelpunkt. Meine Generation hat das Glück, diese Errungenschaft zu erben.
Damit fängt unsere Verantwortung aber erst an. Ich freue
mich auf die Zukunft.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Franz Müntefering von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Mai 1949, als das Grundgesetz entstand, war zum Feiern
niemand zumute in Deutschland. Das Land lag in Trümmern, es gab Not, es gab Elend, Witwen und Waisen,
Vertriebene.
Da entstand das Grundgesetz. Das Grundgesetz war
ein Fanal, es war eine Botschaft. Die Tage waren dominiert von den Sorgen des Alltags. Aber wir haben Schritt
für Schritt begriffen: Wir haben hier ein robustes Grundgesetz für die Verfasstheit unseres Staates. In diesem
Grundgesetz standen und stehen Werte, die unverzichtbar sind für ein menschliches Miteinander. Diese Werte
gelten auch heute. Die Frage ist: Werden wir dem gerecht in unserer Zeit? Denn Werte müssen mit dem, was
die Zeit von uns verlangt, immer wieder abgeglichen
werden. Das Gerüst unseres Grundgesetzes, was die
Verfasstheit des Staates angeht, steht. Die Frage ist aber:
Werden wir dem gerecht, was diese Werte uns abverlangen?
Etwas, was mir an der Rede des Kollegen Toncar gut
gefallen hat, war der Hinweis - so habe ich ihn verstanden -, dass unsere permanente Debatte darüber, was im
Grundgesetz verändert, korrigiert oder erweitert werden
müsste, nicht dazu führen darf, dass wir in die Gefahr
kommen, das Grundgesetz gleich um eine Gebrauchsanweisung zu erweitern. Bei all dem, was wir machen,
müssen wir immer die Frage stellen: Ist das nötig, ist das
unabdingbar? Das Grundgesetz muss mehr sein - und etwas anders - als das, was in Gebrauchsanweisungen üblicherweise steht.
({0})
Wenn man in Deutschland keine grundwertefreien
Zonen haben will, sollte man von dem Gedanken ablassen, Leitkulturen neben das Grundgesetz zu stellen.
({1})
Alle Menschen, die in Deutschland leben, sind dem
Grundgesetz verpflichtet. Wer sich an das hält, was an
Werten im Grundgesetz steht, wird dem gerecht, was wir
in dieser Gesellschaft von unserem Miteinander erwarten. Deshalb muss man nichts daneben oder gar darüber
stellen, sondern versuchen, dem Grundgesetz gerecht zu
werden.
Vier Jahre nach Ende von Nazideutschland schrieben
die Väter und Mütter des Grundgesetzes in die Präambel, dass sie es beschließen, „von dem Willen beseelt, als
gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen“. Das war ein Zeichen von
Demut, von „Wir haben verstanden und wollen es besser
machen“.
Das eigentlich Entscheidende war aber, dass 1952 mit
der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und
1957 mit den Römischen Verträgen die europäischen
Länder auf uns zukamen, Deutschland eingeladen haben.
Ich habe das, ich weiß, erst sehr spät begriffen - und
viele von uns hatten es damals noch nicht begriffen -,
dass uns Frankreich und Italien, die Niederlande - durch
die wir dreimal mit Stiefeln gezogen waren -, Belgien
und Luxemburg damals, Mitte der 50er-Jahre, die Hand
gegeben haben, als sie gesagt haben: Lasst uns Europa
machen!
Das muss für uns alle ein Ansporn sein, Ländern, die
heute den Kontakt suchen zu uns, zur Demokratie, zu
Europa überhaupt, nicht zu sagen: Ihr seid noch weit jenseits von Demokratie! Auch Deutschland hatte damals
keine große demokratische Tradition. Man hat uns eine
Chance gegeben. Nun müssen wir mit unserer Demokratie dazu beitragen, anderen Völkern in Europa und darüber hinaus die Chance zu geben, in die Demokratie hineinzuwachsen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.
({2})
Art. 1 - „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ ist angesprochen worden. Als Johannes Rau Bundespräsident wurde, hat er gesagt: Da steht „Die Würde des
Menschen ist unantastbar“, da steht nicht „Die Würde
des deutschen Menschen ist unantastbar“. Das gab damals eine größere Diskussion. Aber das ist der Kern dessen, was im Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
({3})
Das heißt: Alle Menschen, die in diesem Lande wohnen,
welche Hautfarbe sie haben, welchen Namen sie haben,
welche Religion sie haben - oder auch nicht haben -, gehören im Sinne unseres Grundgesetzes dazu, gleichwertig, unveränderlich. Das ist die Aussage dieses Grundgesetzes und die Voraussetzung dafür, dass wir die
Probleme der Integration in den nächsten Jahren in
Deutschland lösen können.
({4})
In den Art. 10 und 13 des Grundgesetzes steht etwas
über das Briefgeheimnis und die Unverletzlichkeit der
Wohnung. Damals kannte man noch nicht die neuen
Kommunikationstechnologien, die es heute gibt. Ich bin
mir aber sicher: Wenn Carlo Schmid, Theodor Heuss,
Konrad Adenauer und die anderen das, was wir heute
haben, gekannt hätten, dann hätten sie einen kurzen, präzisen Satz auch dazu gefunden, der deutlich gemacht
hätte: Die Arroganz der totalen Kontrolle kann die Sache
nicht sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Privatsphäre und die Daten des Einzelnen geschützt sind, zum
Beispiel auch dann, wenn es um die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. - Es kann
nicht sein, dass das so läuft, wie das im Augenblick in
Deutschland der Fall ist.
({5})
„Eigentum verpflichtet“ - Art. 14 Abs. 2 -: Schöner
kann man es nicht sagen. Das gilt nicht nur für die Produktionsmittel, sondern auch für das Geld; das ist überhaupt keine Frage. Darüber werden wir hier noch manches Mal zu diskutieren haben. Ich sage hier aber ganz
klar: Wer im Jahre 2009 25 Prozent Gewinn auf sein
Eigenkapital fordert, während Hunderttausende in
Deutschland Angst um ihren Arbeitsplatz und ihr Gespartes haben, der geht mit dem Eigentum nicht vertrauenswürdig und nicht vertrauensbildend um, sondern der
zerstört das Vertrauen.
({6})
Der Art. 14 Abs. 1 soll nicht vergessen sein. Danach
wird Eigentum gewährleistet. Ich meine hier das geistige
Eigentum. Die totale Digitalisierung bringt Gefahren
für die Kunst und für die Kultur in diesem Land mit sich.
Wir kennen die Debatte, und wir sind gut beraten, sie
nicht einfach beiseitezuschieben.
Die Freiheit der Kultur ist die Voraussetzung für die
Kultur der Freiheit. Dass es Vermögen mit der Erwartung eines jährlichen Gewinns von 25 Prozent gibt, während es gleichzeitig für normal erklärt wird, dass Kulturgüter und Kunst - geistiges Eigentum - geklaut werden
dürfen, ist nicht normal und nicht im Sinne unseres
Grundgesetzes. Hier müssen wir ansetzen, und dagegen
müssen wir etwas tun.
({7})
In den Art. 1 bis 16 stehen die Grundrechte. Es geht
unter anderem um die Freiheit des Einzelnen, die Rechte
und die Pflichten des Individuums, die individuellen Lebensentwürfe, in die Staat und Gesellschaft sich nicht
einzumischen haben, die Freiheit, in der die soziale Gerechtigkeit gesucht wird und die in Solidarität mündet,
um die Freiheit als dem ersten Wert.
1969, als Willy Brandt Kanzler wurde, hat er davon
gesprochen, dass wir mehr Demokratie wagen müssen.
Herta Däubler-Gmelin hat beschrieben, wie es in den
60er-Jahren gewesen ist. Beim Blick zurück tun wir im
Westen manchmal so, als ob das alles schön, gut, offen,
liberal und tolerant gewesen sei. Es gab aber eine ganze
Menge aufzuarbeiten. Ich schaue dabei keine Fraktion
besonders an, aber das ist die Wahrheit, die Erfahrung
meiner Generation.
Ich hatte noch Lehrer - 1946 bin ich in die Schule gekommen -, von denen in der Geschichte keiner weiter
als bis zum Kaiserreich kam, weil sie alle ihre eigenen
Befangenheiten hatten. Wir haben Mitte der 60er-Jahre
damit angefangen, die Eltern und die anderen zu fragen,
wie das eigentlich war und was geworden ist. Deshalb ist
mit „mehr Demokratie wagen“ viel aufgebrochen worden. Man könnte vieles aufzählen; ich lasse das beiseite.
Es war aber eine wichtige Entscheidung.
Dieser Willy Brandt hat, als er als Parteivorsitzender
meiner Partei ging, gesagt: Wenn ihr mich fragt, was das
Wichtigste ist, dann sage ich euch: neben dem Frieden
die Freiheit.
({8})
Wie immer wir das alles wenden und wie immer wir die
soziale Gerechtigkeit und die Solidarität beschreiben
und definieren: Es fängt bei der Freiheit des Einzelnen
an, die ihre Grenze an der Freiheit des anderen findet.
Das ist die Grundbedingung für alles, was in dieser Gesellschaft geschieht.
Weil das so ist, sind Bildung und Erziehung so unendlich wichtig. Wenn wir wollen, dass die Menschen,
die hier aufwachsen, die Kinder, Demokratinnen und
Demokraten werden und nach dem Grundgesetz leben
können und wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass
sie Bescheid wissen und nicht für dumm verkauft werden. Es war die große Idee auch der Arbeiterbewegung,
dafür zu sorgen, dass die Menschen Informationen haben und Bescheid wissen. Deshalb ist Bildung keine abgeleitete ökonomische Größe, sondern ein Grundrecht
und Menschenrecht, das wir in dieser Gesellschaft umsetzen müssen.
({9})
Das führt mich zu den Art. 20 und 21. Wir sind ein
demokratischer und sozialer Bundesstaat. Wir haben das
gelernt mit dem Bundesstaat und dem Föderalismus, der
seine großen Vorteile, aber auch seine Schwierigkeiten
hat. Ich glaube, dass wir auf der langen Strecke nicht darum herumgekommen, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir die Aufgaben von Bildung und Integration und die Kombination von beidem - das ist eine
dringende Aufgabe für die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte - lösen können, wenn wir uns in der Politik in
unterschiedliche Zuständigkeiten verlieren.
Alle Menschen, die in diesem Lande leben, haben das
Recht, als Individuum im Ganzen wahrgenommen und
geachtet zu werden, und sie haben das Recht, dass wir
uns nicht auf unsere Zuständigkeiten berufen und sagen,
dass eine andere Ebene zuständig ist. Denen ist es ziemFranz Müntefering
lich egal, ob die Bundeskanzlerin, der Ministerpräsident
oder der Oberbürgermeister es bezahlen. Sie wollen anständige Kitas, Krippen und hochqualifizierte Schulen.
Das müssen wir miteinander hinbekommen und nötigenfalls auch intensiver darüber sprechen, als wir es bisher
tun.
({10})
Wir dürfen nicht an dem Gefühl der Menschen vorbeigehen. Es gibt keine Versammlungen, in denen wir
nicht auf diese Zusammenhänge und die Schwierigkeiten, um die es dabei geht, angesprochen werden. Wir
dürfen die Kommunen bei dieser Aufgabe nicht alleine
lassen, sondern wir müssen darüber sprechen, was wir
tun können, damit wir eine Bildungs- und Integrationspolitik aus einem Guss bekommen. Es wird unweigerlich um das Miteinander von Europa, Bund, Ländern und
Gemeinden gehen.
({11})
Art. 146 ist schon angesprochen worden:
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte
deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem
Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von
dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Nun ist die Frage, ob das eine banale Aussage für
Feierstunden oder ein Abgesang auf Nie und Nimmer ist
oder ob es die Möglichkeit zum Handeln eröffnet. Mehr
will ich nicht sagen. Ich bin überzeugt, dass wir in
Deutschland gut beraten sind, wenn wir die Debatte über
den demokratischen und sozialen Bundesstaat nicht nach
dem Motto „Nun ist alles geklärt, und nun machen wir es
so“ führen, sondern immer wieder prüfen, ob die Werte,
die in diesem Grundgesetz enthalten sind, mit den Zielen
und Regeln der praktischen Politik, in denen wir zurzeit stehen, übereinstimmen. Deswegen muss es erlaubt
sein, darüber zu sprechen, wie sich das zueinander verhält, wie wir den Menschen erklären können, was dieses
Grundgesetz für uns bedeutet, und wie wir gemeinsam
aus dieser Situation heraus Politik für die Zukunft bestimmen wollen.
({12})
Ich will einige letzte Sätze zu etwas sagen, was uns
auch Gedanken machen muss. Demokratie braucht informierte Menschen. Die Frage ist: Wie ist das mit der
Information in unserer Gesellschaft? Was passiert hier
eigentlich? Die Vielfalt, die wir haben, hat ihren
Charme. Aber sie hat auch ihre Risiken.
({13})
Bei meinen Besuchen in den Lokalredaktionen der Zeitungen wird Jahr für Jahr gestöhnt - das kennen Sie
auch -: wieder 3 Prozent weniger. Wie sieht es mit Kontakten und Informationen aus? Was läuft an informationellen Zusammenhängen in unserem Land? Ich habe
keine Antwort darauf, aber das Problem ist da.
Ein Staat, der nicht dafür sorgt, dass die Menschen - ob
Heranwachsende oder andere - Zugang zu verlässlichen
und belastbaren Informationen haben, wird Demokratie nicht organisieren können. Vielleicht müssen wir
das Ganze umkehren. Vielleicht müssen uns die Jüngeren - die Menschen in Ihrem Alter, Herr Toncar - sagen,
wie das in der Zukunft gehen könnte, wie man Menschen in den Städten und Gemeinden mit neuen Techniken an Demokratie beteiligt, sie rechtzeitig informiert
und ihnen Möglichkeiten gibt, an der Meinungs- und
Entscheidungsbildung in den Städten und Gemeinden,
an der Politik insgesamt teilzuhaben.
Meine Generation hat Lesen gelernt, nicht den Umgang mit der neuen Technik. Das gilt zumindest für
mich. Aber wir müssen begreifen, dass sich das, was
1949 noch gang und gäbe war, fundamental verändert
hat. Damals hat man noch wirklich gelesen. Man hat
noch Bücher und Zeitungen miteinander gelesen, sodass
man daraus eine gemeinsame Debatte entwickeln
konnte. Wer erlebt das denn bei uns noch? Wenn man
heutzutage jemanden trifft, dann sagt er beispielsweise,
dass er gestern um 21.45 Uhr etwas gelesen, gesehen
und gehört hat. Wo, weiß er nicht mehr. Damit ist das
Gespräch zu Ende. Wir haben so wenige gemeinsame
Dinge, die etwas mit unserer Demokratie vor Ort zu tun
haben und über die wir gemeinsam sprechen können.
Wenn wir das Grundgesetz in seinem Anspruch ernst
nehmen, den Menschen die Chance zu geben und ein
Angebot zu sein, wie es Gustav Heinemann gesagt hat,
Bescheid zu wissen und dazu beizutragen, dass Demokratie gelingt, dann müssen wir uns Gedanken darüber
machen, was in den Bereichen der Information und der
Informationstechnik in diesem Land stattfindet und wie
das in Zukunft in dieser Gesellschaft buchstabiert werden soll. Das ist nicht fertig. Das war es auch damals
nicht. Trotzdem sind die Gedanken, die sich damit verbinden, wichtig.
Demokratie braucht Partei im Sinne von Parteinahme. Es gibt in Deutschland ganz viele Menschen, die
ehrenamtlich in Vereinen, Verbänden und Organisationen mithelfen, dass Demokratie gelingt. Demokratie
braucht aber auch Parteien - Art. 21 des Grundgesetzes -,
die bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Sie dürfen sich nicht mit Exekutive, Legislative
und Rechtsprechung verwechseln. Es gibt keine Staatsparteien. Aber die Parteien sind bei der Meinungsbildung insgesamt wichtig. Die Art und Weise, wie wir zulassen, dass in diesem Land abfällig zwar weniger über
Demokratie, aber über Staat, Politik und Parteien insgesamt gesprochen wird,
({14})
hat ihre Grenze. Ich empfehle uns sehr, mit ein bisschen
mehr Selbstbewusstsein an die Sache heranzugehen.
({15})
Es kann sein, dass wir Fehler machen - ja, das ist ganz
sicher der Fall -, aber das Engagement ist das Entscheidende. Demokratie wird nur gelingen können, wenn wir
hinreichend viele Menschen haben, die bereit sind, sich
zu engagieren und mitzuhelfen, Dinge zu verändern.
Wenn ich nach einer Wahl abends höre, wie irgendjemand vor laufender Kamera einen anderen voller Mitleid
fragt, warum er nicht habe zur Wahl gehen und abstimmen können, dann frage ich mich: Was ist eigentlich in
den Köpfen los? Was können wir dafür tun, dass wieder
klarer wird, dass Parteinahme und Parteien in dieser Gesellschaft und Demokratie unverzichtbar sind? Das geht
vor allem dadurch, dass wir denjenigen Mut machen, die
mitmachen. Deshalb sage ich stellvertretend für alle anderen, die ich meine: Denjenigen, die sich in Sozialverbänden, Sportvereinen und kommunalpolitischen Institutionen mit großem zeitlichen Aufwand und manchmal
auch mit eigenem Geld engagieren und viele Stunden in
Kleinigkeiten investieren, über die Golfspieler und Tennisspieler gar nicht reden mögen, weil sie etwas anderes
zu tun haben, muss man sagen: Jawohl, ihr seid ein großer Teil dieser Demokratie. Das sind nicht nur wir, sondern das seid auch ihr. Wir sagen euch von hier aus ein
herzliches Dankeschön.
In diesem Sinne alles Gute und vielen Dank für die
Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die
Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung
der Bundesrepublik Deutschland kann man nicht sprechen, wenn man nicht wenigstens ein oder zwei Sätze zu
der vorangegangenen Zeit sagt. Die Gründung eines
neuen Staates wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die
deutsche Gesellschaft, wenn das deutsche Volk das
Naziregime verhindert hätte. Aber dieses Regime hat
von 1933 bis 1945 existiert. Nicht nur seine Methoden
waren in einer bis dahin nie gekannten Art und Weise
verbrecherisch. Vielmehr hatte dieses Regime ausschließlich verbrecherische Ziele, keine anderen. Insofern sage ich: Der 8. Mai 1945 war - das müssen endlich
alle begreifen - ein Tag der Befreiung, egal wie es damals aussah. Es konnte nur ein Tag der Befreiung sein.
({0})
Dann war Deutschland besetzt, zuerst von vier Siegermächten. Es stellte sich die Frage, was jetzt geschehen sollte. Ich glaube, dass die deutschen Politiker in Ost
und West nicht die Geduld der Österreicherinnen und
Österreicher hatten; denn auch Österreich war von vier
Mächten besetzt, aber Österreich ist ein Land geblieben.
Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Lieber das halbe
Deutschland ganz als das ganze halb. - Die im Osten
dachten genauso. Ich glaube, die vier Mächte hätten gar
nichts machen können, wenn wir alle gesagt hätten:
Nein, wir gründen nur einen Staat zusammen. - Wie hätten sie das verhindern sollen? Aber wir hatten diese Geduld nicht.
({1})
Was wäre eigentlich daran so schlimm gewesen, wenn
wir diesen Weg zusammen gegangen wären? Gut, wir
wären nicht in der NATO oder im Warschauer Vertrag
gewesen, so wie Österreich. Na und?, kann ich nur sagen. Ich sehe darin keine Katastrophe. Wir hätten auf die
Art und Weise die Spaltung verhindern können. Sie dürfen übrigens nicht vergessen, dass zuerst die Bundesrepublik Deutschland ohne den Osten gegründet worden
ist und erst danach die DDR. Nachdem die vier Mächte
das alles mitgetragen und mitorganisiert hatten, da waren sie sich einig, den Kalten Krieg hier zwischen beiden deutschen Staaten auszutragen. Machen wir uns
nichts vor: Wäre es zu einem dritten Weltkrieg gekommen, existierte Deutschland heute nicht mehr. Das war
zwischen ihnen verabredet. Es gab Politiker, auch wieder in Ost und West, die das erkannten und zu verhindern versuchten. Das ist gelungen.
Wenn wir darüber reden, dann müssen wir auch sagen, dass die Besetzung Ostdeutschlands durch die
Sowjetunion doch ein Zufall war. Stellen Sie sich einmal
vor, die sowjetischen Truppen wären anders vorgedrungen und nach Bayern einmarschiert. Dann wäre aus Bayern eine Art DDR geworden. Herr Ramsauer würde
heute die Kompliziertheit seiner Biografie erklären, und
wir alle würden leicht arrogant zuhören. Das ist die
Wahrheit.
({2})
Ich will damit sagen: Das, was ich nicht mag, ist, wenn
jemand, der nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt hat, einer ehemaligen Bürgerin oder einem ehemaligen Bürger der DDR erklärt, wie er in der DDR gelebt
hätte, wenn er dort gelebt hätte. Er kann es eigentlich
nicht wissen und sollte einen gewissen Grad an Bescheidenheit diesbezüglich an den Tag legen.
({3})
Das Grundgesetz ist zweifellos eine hervorragende
Verfassung. Es erstaunt mich, wie tief zwei Sätze aus
dem Grundgesetz im Denken und Fühlen der Menschen
verankert sind. In fast jedem zweiten Brief, den ich bekomme, wird entweder der eine oder der andere Satz
zitiert. Der eine Satz lautet „Die Würde des Menschen
ist unantastbar“, und der zweite Satz lautet „Eigentum
verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen.“ Immer wieder kommen diese
Sätze vor. Das kriegt keiner mehr aus dem Kopf. Selbst
wenn jemand heimlich darüber nachdenken würde, diese
Sätze zu streichen - dafür wird es, glaube ich, in
Deutschland niemals eine Zweidrittelmehrheit geben,
sodass das ausgeschlossen und auch gar nicht gestattet
ist.
({4})
Heute sind der zweite und der erste Satz nach wie vor
von großer Bedeutung. Beide Sätze beschreiben doch
keinen Istzustand. Nie kann eine Gesellschaft behaupten,
das sei verwirklicht. Aber es muss ein Ringen darum geben, und in den letzten Jahren gab es mir zu wenig Ringen darum, die Würde des Menschen wirklich für
unantastbar zu erklären und die soziale Eigentumsverpflichtung herauszuarbeiten. Das Gegenteil haben wir
in der Krise erlebt.
({5})
Das Grundgesetz unterstreicht die politischen und demokratischen Grundrechte sehr deutlich, die sozialen
Rechte werden weniger betont. Dazu ist hier schon einiges gesagt worden.
Aber wir müssen in der Geschichte weitergehen. Die
Mauer fiel friedlich, die deutsche Einheit kam friedlich
zustande. Das ist ein großes Verdienst und ein großes
Glück in unserer Geschichte, woran wir früher überhaupt nicht geglaubt hatten. Trotzdem sage ich: Seitdem
gibt es einen ungeheuren Fortschritt für die ostdeutsche
Bevölkerung; denn sie lebt in Freiheit und Demokratie, was sie vorher nicht kannte. Es war eine Zäsur in der
Geschichte, aber die Einheit erfolgte leider durch Beitritt, nicht durch eine neue Verfassung und nicht durch
Vereinigung. Es gab zwei Mängel, die sich bis heute auswirken. Es gab vielleicht noch mehr, aber ich nenne
zwei, die mir wichtig sind. Eine Ursache, warum wir gesellschaftlich immer noch gespalten sind, sehe ich darin,
dass die ostdeutschen Eliten in Kultur, Wissenschaft und
anderen Bereichen nicht am Einigungsprozess beteiligt,
sondern abgewickelt wurden. Die zweite Ursache sehe
ich darin, dass das westdeutsche System eins zu eins auf
den Osten übertragen wurde und Erfahrungen, die dort
existierten, nicht berücksichtigt wurden.
({6})
So nahmen viele Westdeutsche die Einheit zwar erfreut
zur Kenntnis, aber sie konstatieren, dass es seit der Einheit auch im Westen wirtschaftlich und sozial bergab
geht. Viele glauben, schuld daran sei der Osten, der Milliarden erhalte, ohne dass sich die wirtschaftliche Lage
dort und im Westen verbessere. Obendrein seien die Ostdeutschen zum Teil auch noch unzufrieden und wählten
komisch. Letzteres passiert zunehmend auch im Westen,
sodass wir uns diesbezüglich schon vereinigen.
({7})
Aber die gegenwärtige Krise beweist, dass die Thesen
zur Wirtschafts- und Soziallage falsch sind. Der
Sozialabbau im Westen und auch im Osten erfolgt doch
nicht wegen des Ostens, sondern überall wegen der gigantischen Umverteilung von unten nach oben. Genau
diese Umverteilung muss gestoppt und umgekehrt werden.
({8})
Nach 19 Jahren sind die Renten im Osten im Durchschnitt noch um 15 Prozent niedriger als im Westen; das
ist ein Problem. Die Löhne im Osten sind durchschnittlich ein Drittel niedriger als im Westen, und zwar bei
gleicher Arbeit und längerer Arbeitszeit. Der Niedriglohnsektor umfasst 41 Prozent im Osten und 19 Prozent
im Westen. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist doppelt so
hoch.
Das größte kulturelle Defizit liegt in der häufigen
Missachtung ostdeutscher Biografien. Geradezu symbolisch und massiv kommt dies in der Ausstellung
„60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ zum Ausdruck:
Die Geschichte der DDR wird nicht als Teil der deutschen Geschichte begriffen. Es gibt kein Bild, keine
Plastik von einem Maler oder Bildhauer der DDR, nicht
von John Heartfield, nicht von Wolfgang Mattheuer,
nicht von Fritz Cremer, nicht von Otto NiemeyerHolstein, nicht von Jo Jastram, nicht von Bernhard oder
Johannes Heisig, nicht von Hartwig Ebersbach, nicht
von Willi Sitte, nicht von Werner Tübke, nicht von
Albert Ebert, nicht von Wieland Förster, nicht von Arno
Mohr. Das ist nach 60 Jahren Grundgesetz, nach 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland nicht vertretbar.
({9})
- Ja, das war genauso einseitig.
({10})
Herr Gysi, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin sofort fertig.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Meine Generation
hatte Schwierigkeiten mit dem eigenen Land. Das lag an
der Geschichte vor 1945, mit der umzugehen so kompliziert war. Ich habe zur Fußball-Weltmeisterschaft eine
neue junge Generation kennengelernt, auf die ich meine
Hoffnung setze.
Herr Gysi, bitte!
Ich glaube, diese Generation will keine Nation mehr
unter sich haben und auch keine über sich. Sie erfüllt damit einen Traum Brechts. Ich glaube, dass diese junge
Generation die Teilung unserer Gesellschaft überwindet.
Sie wird deutsch, aber auch europäisch und vor allem
weltbürgerlich sein.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ja, Herr Gysi, auch ich glaube daran, dass diese junge
Generation in Einheit leben und die Teilung überwinden
möchte. Ich glaube allerdings auch, dass Sie und die
Linke etwas dafür tut und tun will, dass es möglichst
nicht geschieht.
({0})
Als es nach der friedlichen Revolution um einen gemeinsamen Verfassungsentwurf ging, hatten die Menschen vermutlich andere Fragen, Sorgen und Pläne, und
das wird wohl auch heute so sein. Wolfgang Ullmann
und andere dürfen hier trotzdem nicht unerwähnt bleiben
im Hinblick auf ihr Bemühen, über eine gemeinsame
Verfassung zu diskutieren.
({1})
Es ging darum, das, was auf den Transparenten stand, in
Verfassungswirklichkeit umzuwandeln. Da standen wütende Parolen wie „Stasi in die Produktion“. Da stand
aber auch „Keine Gewalt“. Da wurde der Hoffnung mit
den Worten „Gorbi, hilf uns!“ Ausdruck verliehen. Außerdem stand da „Wir sind das Volk“ und „Alle Macht
geht vom Volk aus“.
Mehr als alles andere war es dieser urdemokratische
und friedlich vorgetragene Anspruch, der den SED-Staat
am Ende zusammenbrechen ließ. Es lohnt sich heute, zu
fragen, wie es um Freiheit und Demokratie bestellt ist.
Es reicht nicht, stolz auf die Glanzpunkte von 60 Jahren
zu zeigen. Demokratie ist nämlich kein Zustand; sie ist
ein Prozess, in dem Mitsprache und Beteiligung immer
wieder gelernt und vor allen Dingen möglich gemacht
werden müssen.
({2})
Wir haben Demokratie lernen müssen und wissen, wie
gefährdet sie immer wieder ist.
Wir brauchen Streit. Streiten gehört zum Wesenskern
in der Demokratie. Zum Glück werden Meinungen nicht
verfügt wie in der DDR, sondern auf den Prüfstand gestellt. Sie müssen Gegenargumente aushalten. Unser demokratisches Zusammenleben braucht Streit. Was wir
aber nicht brauchen, das ist eine Politik, die sich auf
Wut, auf Ressentiments oder populistische Anbiederungen aufbaut, wenn auf Stimmungen gesurft wird.
Was soll denn die Debatte um den Unrechtsstaat
DDR? Dabei geht es nicht um das, was trotzdem stattfand, ein Leben, das sich immer wieder normal anfühlte,
nicht nur im Persönlichen übrigens. Ich hatte auch eine
ganz begeisterte Lehrerin, die kein Bonze war. Da waren
Erfinder, da waren Tüftler, da waren Fußballmannschaften und Musiker. Aber alles und jedes konnte sofort aufhören, wenn es nicht systemkonform war oder schien,
wenn eine Person in Ungnade fiel oder wenn ein
Schiedsrichter gegen die Mannschaft pfiff, die nach
Meinung des Staatsapparates zu gewinnen hatte.
Nein, es ist Unrecht, wenn Grenzen dicht sind, wenn
Justiz einer Parteidoktrin folgt und Zigtausende in Gefängnissen psychisch und physisch gequält werden,
wenn eine Gesellschaft vom Kindergarten bis zum Alter
ideologisch durchherrscht und militarisiert wird und
wenn in ihr Altenheime heruntergekommene Masseneinrichtungen sind,
({3})
in der es nur eine Meinung geben darf und Abweichung
bestraft wird. Wie wollen eigentlich Herr Ramelow und
andere Geschichtsklitterer das denen erklären, die im Jugendwerkhof saßen oder aus der Hochschule flogen,
({4})
denen damit gedroht wurde, ihnen ihre Kinder wegzunehmen, wenn sie nicht mit der Stasi kooperierten, oder
auch den Eltern von Mauertoten? Ich halte es für zynisch, wenn die DDR im Rückblick zu einer kleinen
Idylle gemacht wird.
({5})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nicht umsonst
standen zentrale Werte unserer Demokratie auch für den
Aufbruch 1989 - Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Selbstbestimmung -, und wohl jedes
zweite Transparent in dem wunderbaren Herbst 1989 bezog sich auf diese friedlichen Werte, für die die Menschen einstanden, obwohl sie sich nicht sicher sein konnten, dass sie nicht dafür im Knast landen würden.
({6})
Grundrechte sind vor allem Freiheitsrechte. Es geht
um Freiheit, sich zu entfalten, mitzureden, aktiv das eigene Leben zu gestalten. Genau über diese Freiheit müssen wir auch heute reden. Dabei geht es nicht nur darum,
von Steuerlasten frei zu sein. Freiheit braucht Voraussetzungen, soziale, kulturelle, wirtschaftliche und auch
ökologische Voraussetzungen.
({7})
Dazu passt es auch nicht - ich sage das bewusst auch
als Bürgerin der Ex-DDR, in der jeder Lebensbereich
durchleuchtet wurde -, dass wir Menschenwürde und
Persönlichkeitsrechte heute zur Disposition gestellt sehen, zum Beispiel in der Wirtschaft. Es kann doch nicht
sein, dass wir es als normal erachten, dass Verkäuferinnen quasi per se unter Verdacht gestellt und durchsucht
oder von Sicherheitskräften betatscht werden, wenn sie
den Laden verlassen.
({8})
Es kann nicht sein, dass Unternehmen unter dem Deckmäntelchen der Prävention Krankenakten führen und
dann Mitarbeiter unter Druck setzen. Wir sind ein freies
Land. Dafür müssen wir kämpfen, auch in diesem Bereich.
({9})
Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Mein Sohn hat gerade seine Abiturklausur über die Geschichte der Demokratie geschrieben. Er ist ganz hingerissen von dieser Frage, ebenso seine ganze Klasse,
wenn sie davon erzählen, wie großartig sie es finden, eigentlich ein bisschen in der Vorstellung, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie selbst dabei gewesen wären. Das
liegt nur ein ganz kleines bisschen an elterlicher Erziehung; das liegt vor allen Dingen an einer wunderbaren
Geschichtslehrerin, die erklärt, begeistert, übt und
kämpft. Es ist katastrophal, dass die Auseinandersetzung
mit der eigenen Geschichte und der Geschichte der Demokratie wie mit der Diktatur in unseren Schulen immer
wieder hinten herunterfällt. Das müssen wir ändern,
denn dort ist die Wiege der Demokratie für die Zukunft.
({10})
Diejenigen, die dafür 1989 auf die Straße gegangen sind,
haben allen Grund, heute nicht damit zu hadern, dass die
Demokratie nicht das Paradies ist. Sie ist aber das Beste,
was uns passieren konnte.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland die deutsche Wiedervereinigung als politisches Ziel aufrechterhalten hat und damit dazu beigetragen hat, zu verhindern, dass eine eigene DDRStaatsbürgerschaft anerkannt wurde, war eine der
Grundvoraussetzungen für die deutsche Wiedervereinigung. Dafür bin ich ganz besonders dankbar.
({0})
Diese Tatsache bewirkte aber noch mehr: Sie hat
nicht nur den Flüchtlingen, die damals die Botschaften
besetzt hatten, Mut gegeben und es ihnen ermöglicht,
ungeschädigt in den Westen zu gelangen, sondern sie
diente auch all denjenigen, die sich damals entschlossen
hatten, in der DDR zu bleiben, als letzte Zuflucht und
gab ihnen Hoffnung. Das muss, wie ich glaube, noch
hinzugefügt werden.
Gleichwohl muss gesagt werden: Die Tatsache, dass
das Grundgesetz die deutsche Wiedervereinigung als politisches Ziel beibehalten hat, ist nicht allein hinreichend
dafür gewesen, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland dann zu unserer gemeinsamen deutschen Verfassung geworden ist, sondern dazu trug auch
der überragende Erfolg bei, den die auf dem Fundament
des Grundgesetzes gewachsene Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg hatte.
({1})
Dieser Erfolg hat die Menschen in Ostdeutschland und
darüber hinaus die Menschen im gesamten damaligen
sowjetischen Einflussbereich nicht eine Sekunde lang
zögern lassen bei der Antwort auf die Frage, welcher
Gesellschaftsaufbau die optimalen Entfaltungschancen
für alle bietet und welchen man im eigenen Land anwenden soll. Insofern hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auch den Weg für die Einheit Europas
bereitet.
({2})
Man muss außerdem sagen: Das lag nicht allein am
Grundgesetz, sondern auch an den Personen, die damals
daran gearbeitet haben, dass der Geist des Grundgesetzes in der damaligen Situation umgesetzt wurde. Da bin
ich Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher ganz besonders dankbar, dass sie damals für die Einheit gearbeitet haben und sich nicht wie andere, die das zum Teil
noch heute tun, gegen die Einheit gestellt haben.
({3})
Peter Ramsauer hat schon den Slogan aufgegriffen,
der uns gelegentlich entgegengehalten wird, nämlich
dass das Grundgesetz den Menschen in Ostdeutschland
übergestülpt worden sei. Ich möchte die Kritik an diesem Slogan gerne noch etwas verstärken. Hinzuzufügen
wäre etwa, dass diese Aussage eigentlich Ausdruck ungeheurer Arroganz ist, nämlich einer Arroganz gegenüber der freien Entscheidung der Menschen in Ostdeutschland.
({4})
Man versucht, diese Menschen nachträglich für unmündig zu erklären nach dem Motto: Sie wussten ja nicht,
was sie taten. Aber genau das stimmt nicht. Sie wussten
genau, was sie taten, und sie würden es heute wieder so
tun. Man kann nur dann auf die Idee kommen, ihnen ein
entsprechendes Unwissen zu unterstellen, wenn man unberücksichtigt lässt, was für ein Albtraum es für die Ostdeutschen gewesen wäre, wenn sie diese geschichtliche
Stunde, die ihnen plötzlich die nicht mehr für möglich
gehaltene deutsche Wiedervereinigung eröffnete, verstolpert hätten. Genau dies wollten sie unter allen Umständen vermeiden. Deshalb sind sie kein Risiko einge24340
gangen. Und, meine Damen und Herren, das war richtig
so.
({5})
Um ein Stück weit zu illustrieren, wie gefährlich die
Lage damals war, möchte ich einiges in Erinnerung rufen. Ich will zwar unter gar keinen Umständen alle Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei in einen Topf
werfen - viele von ihnen haben Enormes für die deutsche Wiedervereinigung und auch für das Wachhalten
des Gedankens daran getan; dazu zähle ich Willy Brandt,
Henning Voscherau und andere -, aber doch daran erinnern, welche Auffassung Oskar Lafontaine damals vertreten hat. Oskar Lafontaine hat im Dezember 1989 gesagt, man müsse den Zugriff der Übersiedler aus dem
Osten auf die Solidarsysteme im Westen einschränken.
Das war seine Auffassung. Auch Herr Schröder hat gesagt: Wir müssen verhindern, dass sich die DDR-Bürger
über Gebühr an den Leistungen bedienen, für die die
Westdeutschen Beiträge gezahlt haben.
({6})
Das war die damalige Situation. Dies hat Herr Schröder
noch am 27. Januar 1990 gesagt. Daran erkennen Sie,
wie dringend es für uns gewesen ist, in dieser Frage
klare Verhältnisse zu schaffen. Ich bin dankbar dafür,
dass es gelungen ist.
({7})
- Selbstverständlich, Herr Lafontaine, habe ich davon etwas gehört. Zur Wahrheit hätte aber auch gehört, dass
Sie heute an dieser Stelle zu Ihren damaligen Reden korrekt Stellung genommen hätten. Das haben Sie nicht getan.
({8})
Als ich hier Ihre eigentumsphilosophische Vorlesung
verfolgt habe, habe ich bedauert, dass Sie in Ihrem Saarland nicht die Möglichkeit hatten, die Umsetzung Ihrer
Ideen in Ostdeutschland persönlich mitzumachen und
mitzuerleben. Sie wären ein hervorragender Leiter der
staatlichen Plankommission des Bezirks Karl-MarxStadt geworden, Herr Lafontaine.
({9})
Meine Damen und Herren, derzeit diskutieren wir
über die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder
nicht. Der Ministerpräsident des Landes MecklenburgVorpommern sagt, er wolle durch diese Diskussion die
DDR gegen den Vorwurf verteidigen, es hätte in diesem
Staat auch nicht das geringste bisschen Gute gegeben.
Diesen Vorwurf erhebt niemand. Ich kenne überhaupt
niemanden, der sagt, in der DDR habe es nicht das geringste bisschen Gute gegeben.
({10})
Diese Frage ist auch nicht relevant in Bezug darauf,
ob man die DDR als Unrechtsstaat qualifiziert.
({11})
Denn wer die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet, der bestreitet nicht, dass es in dieser DDR absolut vernünftige
Vorschriften gegeben hat. Die Straßenverkehrsordnung,
vielleicht abgesehen von der Tempo-100-Regelung, war
eine vernünftige Regelung.
({12})
Das Gleiche gilt für das Zivilrecht. Der frühere Ministerpräsident de Maizière hat allen Grund, immer wieder
darauf hinzuweisen, was passiert wäre, wenn man alle
Verwaltungsakte aufgehoben hätte. Dann wären nämlich
alle Ehen in der damaligen DDR geschieden gewesen.
Also Unsinn! Das heißt, es bestand überhaupt kein universeller Korrekturbedarf für alle Entscheidungen der
DDR. Auch das besagt der Begriff Unrechtsstaat nicht.
Der Begriff Unrechtsstaat besagt etwas anderes. Er besagt, dass diejenigen, die sich in der DDR das Recht zur
Gesetzgebung angemaßt haben, dieses Recht nicht hatten, weil sie dazu nicht durch freie Wahlen legitimiert
waren.
({13})
Deshalb war die DDR selbstverständlich ein Unrechtsstaat. Dieser Unrechtsstaat ging weit über die
bloße Tatsache der Nichtlegitimation der Volkskammer
hinaus. Denn er hat zusätzlich auch noch dafür gesorgt,
dass es keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Gerichtsbarkeit und insbesondere keine Verfassungsgerichtsbarkeit gab,
({14})
mit der die Bürger die eigentlich in der damaligen DDRVerfassung festgeschriebenen Grundrechte gegen den
Staat hätten einklagen können. Diese Tatsachen qualifizieren die DDR als einen Unrechtstaat.
({15})
Ich hatte gehofft, dass man sich dieser Tatsache gerade in der jetzigen Diskussion etwas stärker bewusst
wird. In der damaligen DDR haben wir selbstverständlich im Fernsehen gesehen, wie man gleichzeitig mit
dem Bestehen des Repressionsregimes in der DDR im
Westen mit der Bundesrepublik Deutschland umgegangen ist. In den 70er-Jahren wurde die Bundesrepublik
Deutschland als ein Polizeistaat, als alles mögliche Negative bezeichnet, unter anderem auch von Herrschaften,
die hier mit im Raum sitzen.
({16})
Der Beweis dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland
kein Polizeistaat war, ist, dass man ihn einen Polizeistaat
nennen durfte.
({17})
Dass die DDR ein Polizeistaat war, beweist die Tatsache,
dass die Polizei kam, wenn man diesen Staat so nannte.
({18})
Das alles ist zum Glück vorbei.
Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Das tut mir außerordentlich leid; denn ich habe noch eine ganze Menge
mehr vorbereitet. Vielleicht kann ich das beim nächsten
Mal sagen.
({19})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen im
Plenarsaal des Deutschen Bundestages! Ich möchte
meine Rede in dieser Debatte mit einer persönlichen Geschichte beginnen. Ich habe mir 1962 eine Ausgabe der
Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik gekauft. Warum, weiß ich nicht mehr. Damals war
ich 15 Jahre alt. In dieser Verfassung, die ich bei der
Vorbereitung auf diese Rede wiedergefunden habe, habe
ich damals verschiedene Artikel und Punkte angestrichen. Im Rückblick auf das, was ich in den vergangenen
19 Jahren im Deutschen Bundestag erlebt habe, finde ich
das, was ich angestrichen habe, besonders interessant
und in dieser Debatte erwähnenswert.
Es gab in der DDR-Verfassung von 1949, die in Teilen an die Weimarer Verfassung von 1919 angelehnt war,
den Abschnitt „Rechte des Bürgers“, und zwar in einem
Kapitel mit der Überschrift „Inhalt und Grenzen der
Staatsgewalt“. Ich habe mir damals den Art. 9 angestrichen, der besagte, dass alle Bürger das Recht haben, „innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze
ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern“. Bereits für
mich als 15-Jährige war relativ schnell klar, dass das
1962 nicht mit der Realität übereinstimmte.
Auf der gleichen Seite befand sich Art. 10, den ich
doppelt unterstrichen habe. Darin hieß es: „Jeder Bürger
ist berechtigt, auszuwandern.“ Das war 1962, ein Jahr
nach dem Mauerbau. Meine Schwester hatte dieses
Recht 1955 für sich in Anspruch genommen und war in
die Bundesrepublik zu ihrem Liebsten ausgewandert.
Das hatte zur Folge, dass sie nicht mehr in die DDR zu
Besuch kommen durfte und dass auch wir nach 1961
nicht mehr die Möglichkeit hatten, mitzuerleben, wie es
der Familie meiner Schwester ging.
1968 legte die DDR eine neue Verfassung vor, über
die in einer Volksabstimmung entschieden werden sollte.
Das war die einzige Volksabstimmung, die zu DDR-Zeiten stattfand. Damals war ich 21 Jahre alt und als Buchhändlerin im Volksbuchhandel beschäftigt. Im Vorfeld
dieser Abstimmung sollte innerhalb eines jeden sozialistischen Kollektives - das betraf auch den Volksbuchhandel - unterschrieben werden, dass bei der Volksabstimmung jeder und jede von uns natürlich mit Ja stimmt.
Das habe ich abgelehnt mit dem Verweis darauf, dass
nach der Verfassung der DDR, die ja noch galt - das
wurde dann übrigens auch in die neue Verfassung übernommen -, freie, geheime und allgemeine Wahlen
durchgeführt werden müssen. Indem ich die Unterschrift
verweigert habe, habe ich nicht nur das Ansehen des
Kollektivs geschädigt - das war für die anderen sehr
schlimm -, sondern mein Verhalten hatte auch für mich
persönlich Konsequenzen. Mir wurde nach vielen Diskussionen und zähem Ringen mein Arbeitsplatz im
Volksbuchhandel gekündigt. Das bedeutete faktisch Berufsverbot; denn es gab fast nur Volksbuchhandlungen
und kaum noch private Buchhandlungen. Ich war zwei
Jahre arbeitslos - und das in einem Staat, der mit seinen
Gesetzen garantierte, dass jeder Mann und jede Frau ein
Recht auf Arbeit und Beschäftigung hat.
Auch die 1968 geänderte Verfassung beinhaltete Versammlungs-, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit.
Außerdem galten die Unverletzbarkeit der Wohnung und
das Post- und Fernmeldegeheimnis. Doch genau diese
Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem
Staat hebelten die SED und die Staatssicherheit Artikel
für Artikel aus. Diese Verfassung hatte keinerlei Verfassungswirklichkeit.
({0})
In den Stasiakten ist nachzulesen, wie eng die Zusammenarbeit zwischen der Staatsanwaltschaft, den Richtern, den SED- und CDU-Funktionären und der Staatssicherheit war. Sie arbeiteten Hand in Hand gegen die
Bürgerinnen und Bürger. Rechtsstaatlichkeit konnte weder erlebt noch eingeklagt werden. Denn eine Trennung
von Justiz und Staatsapparat, also eine Gewaltenteilung,
gab es nicht. Das oberste Gericht der DDR war der
Volkskammer bzw. - wenn die Volkskammer nicht tagte dem Staatsrat verantwortlich.
Das sind Erfahrungen, die ich zu DDR-Zeiten mit vielen anderen teilte. Wir wollten Veränderungen in diesem
Land bewirken. Wir wollten mitgestalten. Wir wollten
dazu beitragen, dass in der DDR Demokratie nicht nur
auf dem Papier stand, sondern auch erlebbar, fühlbar
wurde. Wir waren nämlich davon überzeugt, dass Demokratie die Grundlage dafür ist, dass Menschen sich frei
entfalten können.
Wir hatten also ähnliche Beweggründe, als wir uns in
den 80er-Jahren in der DDR in den unterschiedlichsten
Gruppen engagierten. Die Rufe nach demokratischer
Teilhabe und Mitgestaltung sowie danach, die in der
Verfassung niedergeschriebenen Rechte durch den Staat
zu garantieren, wurden immer lauter. Immer mehr Menschen, vor allem junge, fanden sich in Friedens- und
Umweltgruppen zusammen. Die Folgen davon waren
vermehrte Repressalien.
Ein Beispiel. Obwohl in Art. 28 der Verfassung von
1968, also in der veränderten Verfassung, das Recht auf
Versammlung und auf Nutzung von Versammlungsgebäuden und -plätzen festgeschrieben war, wurde es von
staatlicher Seite nicht gewährt. Im Klartext bedeutete
dies das Verbot jeglicher Art von Versammlungen, aber
auch von Demonstrationen, obwohl die Formulierung
des entsprechenden Artikels anders lautete. Denn Versammlungen außerhalb der Parteien der Nationalen
Front und der sozialistischen Massenorganisationen waren nicht möglich.
Die Evangelische Kirche bot Raum für Friedens- und
Umweltgruppen und für die Mitarbeit am Konziliaren
Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der
Schöpfung. Das waren damals drängende Themen. Wie
ich aus Nachrichtensendungen wusste, waren das auch
drängende Themen in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ breitete sich in
den 80er-Jahren aus.
Viele junge Menschen haben massiv unter den Eingriffen des Staates gelitten. Sie wurden zum Teil von der
Schule verwiesen. Sie bekamen keine Berufsausbildung
bzw. nicht die Berufsausbildung, die sie wollten. Sie
wurden inhaftiert oder - so hieß das damals - von der
Stasi zugeführt.
Wer nach 1990 einmal die Möglichkeit hatte, sich den
Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau von innen anzusehen, dem wurde ganz schnell deutlich, was viele
junge Männer und Frauen und Minderjährige erleiden
mussten, ohne dass es zuvor ein Verfahren gegeben hatte.
Was die Volksbildungsministerin Margot Honecker diesen jungen Menschen angetan hat - viele leiden noch
heute unter den Folgen -, wurde nie gesühnt, weil dies
rechtsstaatlich sehr problematisch ist. An dieser Stelle
wird für mich besonders deutlich, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.
({1})
Diejenigen, die den Mut hatten, etwas anderes zu denken und das, was sie anders gedacht haben, laut zu sagen, gerieten mehr und mehr unter Druck. Die Verfassung bot ihnen keinen Schutz, obwohl in ihr noch so
etwas Ähnliches wie Grundrechte formuliert waren. Im
Gegenteil: Auf die dort niedergeschriebenen Rechte zu
verweisen, führte oft zu strafrechtlicher Verfolgung.
Es gab zum Beispiel den Straftatbestand der Zusammenrottung, der dann erfüllt war, wenn man sich mit
Gleichgesinnten getroffen hat, oder den Straftatbestand
der ungesetzlichen Verbindungsaufnahme, der dann vorlag, wenn Bürger der DDR es wagten, sich mit Gleichgesinnten in der Bundesrepublik Deutschland kurzzuschließen, sich zu informieren und sich vielleicht sogar
im Osten Berlins zu treffen.
Meine Damen und Herren, das Engagement vieler
Menschen brachte das System der DDR im Herbst 1989
zum Einsturz. In der Folge wurden Vorschläge für eine
gemeinsame deutsche Verfassung erarbeitet. Das
Grundgesetz wurde von seinen Müttern und Vätern im
Jahre 1949 nämlich als vorläufig betrachtet und sollte
bis zur deutschen Einheit Bestand haben. In Art. 146 des
Grundgesetzes kommt das bis heute sehr gut zum Ausdruck.
Statt eines Verfassungsrates arbeitete von 1991 bis
1994 lediglich eine Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Ich bedaure das
noch heute - so geht es vielen -, weil das eine gute
Chance gewesen wäre, unsere Erfahrungen mit einzubringen und nicht nur die Grundrechte und die Freiheiten, die wir haben, in ganz Deutschland bekannt zu machen, sondern auch deutlich zu machen, dass dies die
einzig mögliche Grundlage eines demokratischen Staatsgebildes ist.
({2})
- Nein, das hat es nicht gegeben. Das hat es deshalb
nicht gegeben, weil die Verfassungskommission exklusiv tagte. Was es gegeben hat, lieber Herr Kollege - hier
stimme ich Ihnen zu, das war auch richtig und gut so und
hat bewiesen, wie viele Männer und Frauen in der Lage
gewesen wären, sehr konstruktiv mitzuarbeiten -, waren
Tausende von Zuschriften zu Art. 3 des Grundgesetzes,
als es darum ging, dass niemand wegen einer Behinderung diskriminiert werden darf.
({3})
Diese Formulierung war in der Verfassungskommission sehr umstritten.
({4})
Die Kolleginnen und Kollegen von der Union wollten
sie nicht in das Grundgesetz aufnehmen. Ihre Begründung lautete: Wenn wir Menschen mit Behinderung erwähnen, welche anderen Personengruppen müssen wir
dann noch alles aufzählen? - Es wurde also das Argument angeführt, dass eine gewisse Beliebigkeit einsetze.
Ich bin sehr froh, dass die Behindertenverbände und
viele Einzelpersonen dafür gekämpft haben und eine
Mehrheit der Gemeinsamen Verfassungskommission damals dafür votiert hat, diesen Zusatz in Art. 3 des Grundgesetzes aufzunehmen.
({5})
- Ja, da kann man auch heute noch klatschen, erst recht,
weil durch die Konvention der Vereinten Nationen über
die Rechte der Menschen mit Behinderungen deutlich
geworden ist, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Es
muss ein Grundrecht sein, vor Diskriminierung geschützt zu werden.
({6})
Andere Diskriminierungverbote wurden allerdings
nicht ins Grundgesetz aufgenommen. Natürlich können
wir jetzt sagen: Es ist prima, dass uns die europäische
Gesetzgebung eingeholt hat. - Vielleicht ist es tatsächChristel Riemann-Hanewinckel
lich etwas tröstlich, dass das eine oder andere, was wir
nicht in unsere Verfassung aufnehmen konnten, nun von
anderer Seite beigesteuert wird.
Für die Gruppen in den östlichen Bundesländern, die
damals Vorschläge erarbeitet und sich sehr intensiv mit
der Frage „Welchen Inhalt sollte eine gemeinsame deutsche Verfassung haben?“ beschäftigt haben, war es sehr
enttäuschend, dass auf ihre Zuarbeit und Mitarbeit weitgehend verzichtet wurde.
Eine entscheidende Festschreibung der Mütter und
Väter des Grundgesetzes von 1949 haben wir noch immer nicht erfüllt. Ich zitiere Art. 146:
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte
deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem
Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von
dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Das können wir jederzeit nachholen. Denn das heißt
nichts anderes, als dass wir einen Volksentscheid durchführen und unserer Verfassung, dem Grundgesetz, in
veränderter Form zustimmen; darauf komme ich noch
zurück.
Meine Damen und Herren, ich gratuliere dem Grundgesetz zum 60. Geburtstag. Ich habe mittlerweile
19 Jahre mit dem Grundgesetz erlebt und bin darüber
sehr froh. Ich danke den Männern und vor allen Dingen
den Frauen, die damals an seiner Erarbeitung beteiligt
waren, für ihr Engagement und ihren Mut, nach den
furchtbaren Erfahrungen mit der Nazidiktatur die Prinzipien der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichberechtigung und der Gleichheit in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich beglückwünsche die Bundesrepublik Deutschland
dazu, dass sie sich auf der Basis dieses Grundgesetzes,
dieses Regelwerkes organisieren konnte. Unsere Erfahrungen in der DDR waren genau umgekehrt: Der Staat
hat sich konstituiert, nach seinem Bedarf bzw. seiner Interpretation eine Verfassung geschrieben und in der
SED-Diktatur die Rechte ausgehöhlt. Auch das machte
den Unrechtsstaat aus.
Glückwünsche zum 60. Geburtstag sind heutzutage
Wünsche an die jungen Alten. Ich kann das so locker sagen; denn ich habe das selbst vor zwei Jahren hinter
mich gebracht.
({7})
- Vielen Dank. - Auch das Grundgesetz gehört dazu. Es
hat die 60 Jahre mit Erfolg hinter sich gebracht und kann
durchaus zu den jungen Alten gezählt werden. Sie wissen, dass mit 60 Jahren noch vieles offen ist: Veränderungen und Entwicklungen sind möglich und auch
nötig. Das gilt genauso für das Grundgesetz. Eine Verfassung kann und muss immer wieder überarbeitet und
gestaltet werden. Unsere Gesellschaft stellt sich immer
wieder neuen Anforderungen; das muss sich auch im
Grundgesetz widerspiegeln. Deshalb ist noch einiges zu
tun. Ich möchte ein paar Anliegen nennen.
Erstens. In Art. 20 Abs. 2 steht: „Alle Staatsgewalt
geht vom Volke aus.“ Das bedeutet für uns als Parlamentarierinnen und Parlamentarier, dass wir unsere Aufgaben im Auftrag der Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes erfüllen. Das heißt für mich und für die Sozialdemokratische Partei, dass auch dem Volke eine Beteiligung zu ermöglichen ist. Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide gehören deshalb in das
Grundgesetz. Bisher gab es dafür in diesem Haus keine
Mehrheiten. Die zweite Volkspartei will diese Art der
Beteiligung auf Bundesebene nicht. Das haben wir 1994,
aber auch in der Folge, als wir entsprechende Anträge
eingebracht haben, sehr deutlich gehört. Lieber Koalitionspartner CDU/CSU, welche Befürchtungen haben
Sie eigentlich im Hinblick auf die unmittelbare Bürgerbeteiligung? Die Antwort auf diese Frage sind Sie dem
Parlament, aber auch dem deutschen Volk bis heute
schuldig geblieben.
({8})
- Das entwertet das, was ich gefordert habe, überhaupt
nicht.
Zweitens. Noch immer werden Kinder in Deutschland
nach Art. 6 über die Rechtsbeziehung ihrer Eltern definiert. Noch immer gibt es in Deutschland den Status des
nichtehelichen Kindes. Das bedeutet, dass ungefähr
45 Prozent der Kinder, die im Osten geboren werden,
dieses Etikett angeklebt wird. Noch immer werden Menschen, die in Lebenspartnerschaften Verantwortung füreinander übernehmen, nicht vom Grundgesetz geachtet.
Es gab entsprechende Vorschläge, die vor 15 Jahren leider auch keine Mehrheit erhalten haben.
Kinderrechte gehören jetzt unbedingt ins Grundgesetz.
({9})
Sie müssen Richtschnur des politischen Handelns von
Bund, Ländern und Kommunen sein. Eine Aufnahme
der Kinderrechte ins Grundgesetz würde bedeuten, dass
Deutschland endlich die 1992 erklärten Vorbehalte
gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen könnte.
({10})
Drittens. Das Grundgesetz enthält am Ende, nach
Art. 146, einen Auszug aus der Weimarer Verfassung,
die 1919, vor 90 Jahren, beschlossen wurde. Das bedeutet, dass diese Artikel, die praktisch als Anhang im
Grundgesetz stehen, auch 90 Jahre alt sind. Diese Artikel beschreiben das Verhältnis des Staates zur Kirche.
Als Mitglied der evangelischen Kirche und Theologin
hatte ich 1994 die Hoffnung, dass die Gemeinsame Verfassungskommission eine neue Vereinbarung dazu vorlegen würde. Leider wurde eine solche Vereinbarung weder von weiten Teilen der Verfassungskommission noch
von den beiden großen Kirchen gewünscht. Damals hät24344
ten wir zumindest eines tun können bzw. aus meiner
Sicht tun müssen: Wir hätten wenigstens Begriffe wie
„Reich“ und „Heer“ durch Begriffe ersetzen müssen, die
unserer Realität entsprechen.
Das Verhältnis des Staates zu den Kirchen muss für
das 21. Jahrhundert in unserer Verfassung neu geregelt
und gestaltet werden.
Viertens. Kommunales Wahlrecht für Migrantinnen und Migranten aus Nicht-EU-Ländern. Wenn Integration gelingen soll - und sie muss gelingen -, dann
ist dieses Wahlrecht für die betroffenen Männer und
Frauen ein entscheidender Punkt.
60 Jahre lang hat sich das Grundgesetz bewährt. Es
hat Veränderungen erfahren. Die Menschen aus dem Osten Deutschlands erleben seit 19 Jahren den Schutz
durch Grundrechte. Deshalb kann ich sagen: Das Grundgesetz ist auch für uns zum Glücksfall geworden. Ich bedanke mich bei all denen herzlich, die 40 Jahre lang, bis
vor 20 Jahren, intensiv dafür gearbeitet haben, dass wir
die Chance bekommen haben, daran teilzuhaben.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkt 2 auf:
16 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Wachstumsprogramm zur Überwindung der
Rezession
- Drucksache 16/12887 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Christian Ahrendt, Daniel Bahr ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Anti-Rezessionsprogramm auflegen
- Drucksache 16/10867 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen
noch mitteilen, dass die für 13.30 Uhr angekündigte
Pause nicht stattfinden wird, sondern die Beratungen
durchgehend fortgesetzt werden.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle von der
FDP-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen
Stunden wird das Ergebnis der Steuerschätzung vorgetragen. Das ist eine Bankrotterklärung für die Bundesregierung und auch eine persönliche Niederlage für Herrn
Steinbrück. Minister Steinbrück wird von der Financial
Times Deutschland als „diplomatische Neutronenbombe“ bezeichnet; auf jeden Fall ist er der größte
Schuldenmacher in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland. Die kleinste Recheneinheit bei den Schuldenlöchern ist mittlerweile die Milliarde; man könnte
auch sagen: ein Peer. Das Ergebnis der Steuerschätzung
beweist: Mit Steuererhöhungen bringt man öffentliche
Haushalte nicht in Ordnung. Man braucht Wachstum und
Ausgabendisziplin, um sie in Ordnung zu bringen.
({0})
Drei Jahre lang hat die FDP-Fraktion gefordert: Sorgt
für die mageren Jahre vor! Drei Jahre lang haben Sie uns
verhöhnt und unsere liberalen Sparbücher ins Lächerliche gezogen. Sie haben den Bundeshaushalt von
260 Milliarden Euro auf 300 Milliarden Euro aufgebläht. Jetzt müssen die Bürger Ihre Rundum-sorglosPolitik teuer bezahlen. Deutschland braucht nach Auskunft der Konjunkturforscher bis 2013, um wieder das
Wohlstandsniveau von 2008 zu erreichen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Schwarz-Rot hat den Aufschwung
nicht genutzt, um Deutschland besser aufzustellen und
auf erkennbar schwierige Zeiten vorzubereiten. Ihr Regierungsmotto war: Investieren, Sanieren und Reformieren. Das Erbe, das Sie hinterlassen, ist: Blamieren, Dilettieren und Ruinieren.
Das klassische Konjunkturmuster in Deutschland
war: Getrieben vom Export springt die Wirtschaft an;
lässt die Exportnachfrage nach, springen die Investitionen an und dann der private Konsum. Dieser Mechanismus funktioniert in Deutschland schon länger nicht
mehr. Die strukturelle Schwäche ist die Binnenkonjunktur. Der Sachverständigenrat hat immer wieder darauf
hingewiesen. Für die schwache Binnenkonjunktur tragen
die letzten Bundesregierungen - Grün-Rot und SchwarzRot - die Verantwortung. Das geht von den kleinen Gemeinheiten wie der Praxisgebühr bis zu den großen
Hammerschlägen wie der Mehrwertsteuererhöhung.
({1})
Die Konsequenz ist: Die Unternehmen haben sich im
letzten Jahrzehnt noch stärker den Auslandsmärkten zugewandt. Die Exportquote betrug ein Drittel; heute
liegt sie bei rund 50 Prozent. Das hat mit unserer Produktionspalette zu tun, aber vor allen Dingen mit der
Schwäche des Binnenmarktes. Die Exportquote ist aber
unnatürlich hoch. Daran trägt die Bundesregierung, RotGrün wie Schwarz-Rot, eine entscheidende Mitschuld.
Stellen Sie sich einen Moment vor, die 75 Milliarden
Euro, die Sie mit der Mehrwertsteuererhöhung bei den
Bürgern abkassiert haben, wären heute noch in den Händen der Bürger! Der Abschwung wäre dann halb so
schlimm. Dies wären Kräfte, um die Binnenkonjunktur
zu aktivieren.
({2})
Ich möchte mit einer Mär aufräumen, die insbesondere die Sozialdemokraten verbreiten: Die USA werden
von der Rezession viel härter getroffen als Deutschland. Das ist falsch. Deutschland hat ein Minus von 6 Prozent,
die Vereinigten Staaten haben ein Minus von 3 Prozent.
Uns trifft es doppelt so hart wie die Vereinigten Staaten.
Das hat seine Ursache in der Schwäche dessen, was in
Deutschland entwickelt wurde.
Wir haben schon im November letzten Jahres ein Antirezessionsprogramm vorgeschlagen; wir haben es
heute wieder auf der Tagesordnung. Das haben Sie nicht
zur Kenntnis genommen; Sie haben es ignoriert. Stattdessen haben Sie im Hinblick auf die Wahl in Hessen ein
schuldenfinanziertes Ausgabenprogramm auf den Weg
gebracht. Herausgekommen ist Murks: Abwrackprämie
mit einem Volumen von 6 Milliarden Euro, Strohfeuereffekt, Vorzieheffekt, Mitnahmeeffekte.
Aber das Vorziehen der Steuerentlastungen bei den
Kassenbeiträgen war angeblich nicht möglich. Wir haben vorgeschlagen, sie auf den 1. Januar 2009 vorzuziehen. Das wäre eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden
Euro gewesen. Von den Mitteln der Konjunkturpakete
werden Fußbodenheizungen für Eisbärengehege und Radargeräte zum Abschröpfen der Autofahrer angeschafft.
Das sind Sickerverluste und prozyklische Elemente.
({3})
Besonders dreist finde ich es, dass Herr Steinbrück
jetzt vor der Inflation warnt. Seine Schuldenpolitik ist
der größte Inflationstreiber in Deutschland.
({4})
Da legt einer selbst den Brand, um anschließend Feuerwehr zu spielen. Absurder geht es nicht mehr.
({5})
Der Finanzminister profitiert von den inflationären Entwicklungen. Die Zeche zahlen andere: Rentner, Geringverdiener und Sparer. Sie werden kalt enteignet.
Die Vorboten der inflationären Entwicklung sind unübersehbar. Das ist ein Ritt auf der Rasierklinge.
({6})
Wir wissen: Wenn das Geld schlecht wird, dann kann alles ins Rutschen kommen. Das beste Konjunkturprogramm, das Deutschland passieren könnte, wäre eine andere, eine bessere Regierung.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Laurenz Meyer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich bei der FDP dafür bedanken, dass sie das Thema Wachstum auf die Tagesordnung gebracht hat.
({0})
Gleichzeitig möchte ich mich bei ihr bedanken, weil ich
hoffe, dass möglichst viele - Herr Brüderle, das muss ich
in allem Ernst sagen - am Fernseher und hier im Saal zugehört haben.
({1})
Schon durch den Titel Ihres Antrages wird deutlich,
dass Sie in einer völligen Fehleinschätzung dessen leben, worum es hier geht.
({2})
Sie schreiben: „Wachstumsprogramm zur Überwindung
der Rezession“. Das ist keine Rezession. Weil es keine
normale Rezession ist, Herr Brüderle, helfen Ihre platten, einfachen Antworten, die Sie vor dieser Krise gegeben haben und die Sie heute geben, nicht weiter. Das ist
leider Gottes wahr.
({3})
Wir haben es in Deutschland mit einer höchstkomplizierten Situation zu tun. Deswegen helfen keine einfachen Antworten. Die Antworten werden kompliziert sein
müssen. In dieser Situation erleben wir in Teilen unserer
Wirtschaft abbruchkantenartige Entwicklungen, während es in anderen Teilen kaum Auswirkungen gibt. Das
ist eine höchst diffuse Lage.
In dieser Situation geben Sie hier sozusagen die Standardantworten. Ich habe Ihnen das schon einmal gesagt:
Ich habe den Eindruck - hier leider wieder -, dass Sie
eine Reihe von richtigen Komponenten und Antworten,
die Sie in Ihrem Antrag erwähnen und die ich auch mittragen würde, vom Computer per Zufallsgenerator ständig durcheinandermischen lassen, sodass es nach einem
neuen Text aussieht. Dieser wird dann hier als Antrag
Laurenz Meyer ({4})
eingebracht. Das geht so nicht. Das ist nicht verantwortungsbewusst;
({5})
das muss ich Ihnen wirklich sagen. Ich bin zwar in vielen Punkten nahe bei Ihnen. Aber in dieser Form geht es
wirklich nicht.
Seit Herbst letzten Jahres brennt es in Deutschland.
Wir haben am Anfang nur gelöscht. In einem ersten
Schritt haben wir, angefangen von der Erklärung der
Bundeskanzlerin zur Absicherung der Sparer bis hin
zum Finanzmarktstabilisierungsgesetz, gelöscht und anschließend die Schäden analysiert. Dann haben wir über
das kommunale Investitionsprogramm und Anreize für
Investitionen bis hin zu Regelungen zur degressiven Abschreibung sowie zu Steuern und Abgaben einen zweiten
Schritt getan.
Der britische Botschafter hat letztlich in einem Gespräch - ich will ihn hier nicht über Gebühr zitieren;
aber das ist ein für mich ganz wichtiger Punkt - zum
Ausdruck gebracht, dass es zu seinem Bedauern das, was
wir soziale Marktwirtschaft nennen, und damit Instrumente wie die Kurzarbeit in dem System der sozialen
Absicherung in Großbritannien in dieser Form nicht
gibt.
Ich will an dieser Stelle für unsere Fraktion ganz bewusst sagen: Angesichts all der Unternehmerbeschimpfung, die wir in den letzten Monaten gehört haben, ist es
im Zusammenhang mit der Kurzarbeit und dem verantwortungsvollen Umgang der Unternehmer mit den Arbeitnehmern in den Betrieben, besonders in den mittelständischen Betrieben, an der Zeit, für das Miteinander
ein herzliches Dankeschön zu sagen.
({6})
Hier haben in den vergangenen Monaten viele sehr
große Verantwortung gezeigt, sonst sähen unsere Arbeitslosenzahlen angesichts der drastischen Einbrüche
ganz anders aus.
Ich kann mich an ein Gespräch aus der vorletzten Woche mit einem Unternehmer eines Zuliefererbetriebes
aus der Lkw-Branche erinnern. Er musste einen Auftragseinbruch von 90 Prozent verkraften. Trotzdem sagte der
Mann: Wir versuchen, mit Kurzarbeit über die Runden
zu kommen. Wir werden durchstarten, wenn es wieder
losgeht. - Diese Haltung stelle ich in vielen Firmen fest.
Davor habe ich Hochachtung. Diese Menschen haben
unser System nach vorne gebracht und etwas für die Arbeitnehmer und das Land getan. Das bezeichne ich als
gesunden Patriotismus und Heimatliebe. Diese Menschen identifizieren sich mit ihren Leuten vor Ort und
mit der Region. Deshalb an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön.
({7})
Derzeit geht es um die Frage der Funktionsfähigkeit
der Finanzmärkte, Stichwort Bad Bank. Dahinter steckt
die Sorge um die notwendige Finanzierung mittelständischer Unternehmen.
Eines ist mir in letzter Zeit - schon zu Beginn der
Krise, aktuell und auch heute Morgen in der Debatte immer wieder aufgefallen: Bei einer Analyse der Lage
stellen wir fest, dass es nicht darum geht, ob wir mehr
Staat brauchen. Wir brauchen mehr und klarere Rahmenbedingungen, zum Beispiel für die Finanzwirtschaft. Wo ist denn das Versagen am größten gewesen?
Das war doch eher bei den staatlichen Bankinstituten der
Fall. Ich weiß überhaupt nicht, wie man auf die Idee
kommen kann, einer Verstaatlichung dieser Systeme das
Wort zu reden. Das ist doch absoluter Unsinn. Diejenigen, die das fordern, haben offensichtlich nicht richtig
hingesehen. Zwei Drittel unserer Probleme sind bei
staatlichen Banken aufgetreten.
({8})
Das liegt nicht an zu viel Privatwirtschaft, sondern an zu
viel Staat und zu wenig Wettbewerb in diesem Land, an
einer falschen Ausgangssituation und an falschen Geschäftsmodellen, die diese Leute verfolgt haben.
({9})
Wir brauchen klarere Rahmenbedingungen; das ist
ein typisches Merkmal der sozialen Marktwirtschaft.
Wir brauchen mehr langfristiges Denken, sowohl in den
Unternehmen wie auch beim Staat. Viele Probleme, mit
denen wir uns jetzt beschäftigen, sind auf zu kurzfristiges Denken und Lenkungsmechanismen, die Anlass zu
kurzfristigem Handeln geben, zurückzuführen. Das fängt
bei den Managergehältern an, geht über die Quartalsabschlüsse und endet bei den Investitionen des Staates in
Bereichen wie Bildung und Familie. Langfristig führt
das auch zu Fragen hinsichtlich der Höhe der Steuern
und Abgaben.
Hier geht es nicht einfach um die Frage einer Absenkung der Prozentzahlen und noch nicht einmal um die
Frage, in welchen konkreten Schritten wir den Verlauf
der Steuerkurve korrigieren. Es geht darum, endlich
deutlich zu machen, dass dieses Land gerade in der
Situation, in der wir uns befinden, die Motivation aller
Leistungsträger braucht. Die normalen Arbeitnehmer
- die Durchschnittsverdiener, die Handwerker, die Facharbeiter - müssen im Mittelpunkt unseres Handelns stehen. Das muss die Botschaft sein.
({10})
Wir brauchen diese Leute, um den Karren aus dem
Dreck zu ziehen.
Deshalb sage ich - auch an meine Partei gewandt -:
Es ist richtig, dass wir diese Diskussion führen. Wir
müssen diese Diskussion vor der Wahl, bevor ein Wahlprogramm verabschiedet wird, führen, damit die Menschen vor der Wahl Klarheit bekommen, dass wir in der
nächsten Legislaturperiode den normalen Arbeitnehmer
in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen stellen.
Laurenz Meyer ({11})
Wir brauchen langfristiges Denken. Forschung und
Entwicklung sind das Thema. Bei der steuerlichen Anrechnung von Verlusten in Existenzgründungs- oder
Wachstumsbetrieben, Heinz Riesenhuber, sind wir mit
unserem Koalitionspartner leider nicht weitergekommen. Da sind Sperren in den Köpfen. Ich wundere mich
wirklich, wie jemand, der bereit ist, der Deutschen Post
jeden Monat 40 Millionen Euro Mehrwertsteuer zu
schenken, bei Kleinigkeiten, die den Unternehmen wirklich helfen würden, dann, wenn es um die Zukunft des
Landes geht, alles blockieren kann, was sinnvoll und
notwendig ist.
({12})
Die Investitionsbremsen müssen gelockert werden im
Bereich Energie, im Bereich Verkehr - bei Straße,
Schiene und Flughäfen -, aber auch im Bereich Breitbandnetze. Das ist langfristiges Denken.
Herr Brüderle, in Ihrem Antrag taucht wieder auf,
dass Sie Veränderungen im Arbeitsrecht, Stichwort Kündigungsschutz, wollen. Ich frage Sie - darüber sollten
Sie einmal nachdenken - ganz konkret: Wollen Sie wirklich in so einer Situation zusätzlich Millionen Menschen
in diesem Lande in Angst und Schrecken versetzen? Da
machen wir nicht mit. Das ist nicht unsere Politik. Wir
wollen nicht Angst verbreiten, sondern wollen die Leute
motivieren und sie in eine bessere Zukunft mitnehmen.
Wir wollen Startchancen schaffen. Das ist, glaube ich,
der richtige Weg.
({13})
Ein klares Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland gehört gerade in der jetzigen Situation dazu.
Zusammenfassend will ich sagen: Wichtig ist jetzt,
nicht die alten Antworten zu geben, sondern Mut zu zeigen, Verantwortung zu zeigen und klare Ziele nach dem
Denken zu äußern. Wenn wir es schaffen, alle Kräfte zu
mobilisieren, dann werden wir durchstarten können. Ich
bin sicher, dass wir am Ende des Prozesses zwar in einer
veränderten Situation sind; aber es muss keine schlechtere sein, wenn wir es richtig machen und die Verantwortung und den Mut zeigen, der jetzt nötig ist.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wenn man den Antrag der FDP
liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass es keine
Finanzkrise gibt und die Märkte auch ohne staatliche
Eingriffe funktionieren. Dabei liegen die neoliberalen
Glaubenssätze längst auf dem Müllhaufen der Geschichte.
Die heutige Steuerschätzung geht allein für dieses
Jahr von einem Steuerausfall von 45 Milliarden Euro
aus. Der Finanzminister, der im Jahre 2011 eine
schwarze Null schreiben wollte, muss sich so hoch verschulden, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik
noch nie der Fall war. Dennoch fordert die FDP verbissen eine Politik der Steuersenkung. Das ist nicht nur
weltfremd, das ist auch volksverdummend.
({0})
Diese Weltfremdheit ist kein Privileg der FDP. Auch
die Kanzlerin hält trotz der katastrophalen Steuerschätzung an ihrem Vorhaben fest, die Einkommensteuersätze
zu senken. In die letzte Bundestagswahl ist die Oppositionsführerin Merkel mit der Ankündigung gegangen,
die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte zu erhöhen.
Kaum war die Oppositionsführerin Kanzlerin, wurde gemeinsam mit der SPD der größte Wahlbetrug
({1})
in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg gebracht: Aus 2 Prozentpunkten Mehrwertsteuererhöhung
wurden 3 Prozentpunkte.
Wessen Steuersätze will die Kanzlerin senken, und
wer soll das bezahlen? Das ist die Frage. In den letzten
zehn Jahren war es immer so, dass die Steuersenkungen
für die Reichen von den Geringverdienern, Rentnern,
Alleinerziehenden und Arbeitslosen bezahlt wurden.
({2})
Die Wählerinnen und Wähler sollten diese dreiste Umverteilung bei der nächsten Bundestagswahl stoppen.
({3})
Wir, die Linke, wollen Geringverdiener, Arbeitslose,
Alleinerziehende, Familien und Rentner entlasten, und
wir sagen auch ehrlich, wie wir das finanzieren wollen,
nämlich mit einer höheren Besteuerung derjenigen, die
in den letzten zehn Jahren schwindelerregende Gewinne
auf Kosten der Allgemeinheit angehäuft haben.
({4})
Im FDP-Antrag wird die Unternehmensteuerreform
angegriffen, durch die schon jetzt eine jährliche Entlastung der Unternehmen von ungefähr 10 Milliarden Euro
erreicht wird. Die FDP möchte die Unternehmen noch
weiter entlasten, doch sie sagt nicht, wer für diese Steuerausfälle aufkommen soll. Das ist keine seriöse Steuerund Haushaltspolitik.
({5})
Sie wollen in Ihrem Antrag, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, dass sich die Marktkräfte frei
entfalten können und dass sich der Staat zurückzieht.
Wenn der Staat das getan hätte, dann wären die Märkte
schon jetzt komplett zusammengebrochen, und dann
gäbe es heute auch keine Commerzbank und damit zum
Beispiel auch keine Spenden an die FDP mehr.
({6})
Eine Forderung in dem FDP-Antrag möchte ich zitieren:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, weitere
Maßnahmen einzuleiten, die den Geldkreislauf wiederbeleben mit dem Ziel, die Kreditversorgung der
Wirtschaft zu sichern.
Was denn nun? Wollen Sie nun, dass der Staat eingreift und Banken mit Steuergeldern rettet, oder wollen
Sie plötzlich keinen freien Markt mehr, der sich ohne
Staat selbst reguliert?
({7})
Es ist völlig unklar, was Sie eigentlich wollen.
Die Bundesregierung gibt allerdings vor, den Bankensektor strenger regulieren zu wollen. Gegenwärtig
erleben die Menschen aber nur, dass die Regierung Milliarden Euro in marode Banken steckt und nur eine
kleine Gruppe von Politikern und Bankmanagern über
die Vergabe von Milliarden entscheidet, ohne dass sie
vom Bundestag wirksam kontrolliert werden können.
Das ist ein Zustand, den wir nicht länger hinnehmen
können.
Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bringt es auf den
Punkt - ich zitiere -:
… wird das Geld wahllos den Bankern hinterhergeworfen, und die zahlen sich dafür Milliarden an
Boni und Dividenden aus. Wir Steuerzahler werden
praktisch ausgeraubt, um die Verluste einiger sehr
wohlhabender Leute zu verringern. Das muss sich
dringend ändern.
({8})
Der Bundesfinanzminister verbirgt sich mit den
Banklobbyisten hinter einer Mauer des Schweigens. Die
Informationen, die wir als Abgeordnete bekommen, sind
häufig komplett wertlos, und es werden Begriffe verwendet, die wie Nebelbomben wirken.
Welche Wirkung soll zum Beispiel der Begriff „toxische Papiere“ auf die Bürger haben? Vorsicht, bitte nicht
öffnen, Lebensgefahr? Ich will genau wissen, welche
schlechten Kredite der Finanzminister aufkauft, für die
er gute Staatsanleihen ausgeben will, und ich will auch
genau wissen, wie aus diesen toxischen Krediten in
10 oder 20 Jahren durch Geisterhand wieder jungfräuliche Kredite werden. Das ist Voodoo-Ökonomie; um einmal den Sprachgebrauch von Herrn Steinbrück zu benutzen.
Machen wir es doch einmal praktisch und nehmen wir
an, ein Autohaus habe auf Kredit 100 Geländewagen des
Typs Hummer H 2 gekauft. Dieser Geländewagen mit
einem durchschnittlichen Benzinverbrauch von 22 Litern auf 100 Kilometer ist in der Krise unverkäuflich.
Glauben Sie wirklich, dass der Autohändler diese Spritfresser in den nächsten 20 Jahren verkaufen kann? Diese
Vorstellung ist doch abenteuerlich und hat mit Ökonomie überhaupt nichts zu tun. Dieser Kredit ist und bleibt
tot.
Oder betrachten Sie eine Bank, die 100 Häuser in den
USA finanziert hat. Es handelt sich um Holzhäuser mit
Einfachverglasung, ohne Wärmedämmung und mit einer
Klimaanlage in jedem Zimmer. Glauben Sie wirklich,
dass man diese Häuser in 10 oder 20 Jahren mit Gewinn
verkaufen kann?
Ihr toxisches Gerede hat nur einen Zweck: Sie wollen
den Wählerinnen und Wählern Glauben machen, dass
nicht sie, sondern die Aktionäre die Zeche zahlen sollen.
Nein, es muss Schluss sein mit den unkontrollierten Milliarden für die Banken.
({9})
Eine Verstaatlichung der privaten Banken nach dem
schwedischen Modell, wie sie die Linke fordert, hat mit
Sozialismus übrigens nur sehr wenig zu tun, sondern ist
reine Marktwirtschaft. Wer das Geld gibt, der hat das Sagen. Jetzt ist es aber so: Der Steuerzahler gibt das Geld,
hat aber gar nichts zu sagen. Diese Regierung hat das
Einmaleins der Marktwirtschaft noch immer nicht verstanden.
({10})
Natürlich darf bei den FDP-Forderungen auch die
Flexibilisierung des Arbeitsrechts nicht fehlen. Sie meinen damit natürlich den Abbau des Kündigungsschutzes. Sprechen Sie es doch ehrlich aus und schreiben Sie
es auch so auf, wie Sie es meinen! Herr Brüderle, sagen
Sie mir doch bitte, welche Unternehmen, welche Banken
jetzt in den Konkurs gehen, weil das Arbeitsrecht nicht
flexibel war? Diese Unternehmen gibt es nicht; Sie können kein einziges nennen. Ich kann Ihnen aber genügend
Unternehmen nennen, die pleitegegangen sind, weil sie
von Heuschrecken überfallen wurden. Dazu steht kein
Wort in Ihrem Antrag.
({11})
Das wundert mich nicht, kann man doch von der FDP,
dem parlamentarischen Arm der Heuschrecken, nichts
anderes erwarten. Die FDP lebt weiter in ihrer Shareholder-Value- und Boni-Welt.
Wir als Linke kennen die harte Wirklichkeit und die
Probleme der Menschen.
({12})
Deshalb sind wir für einen gesetzlichen Mindestlohn.
Denn wir sehen, dass viele Menschen in diesem Land
nicht von ihrem Lohn leben können.
Wir sind für eine Börsenumsatzsteuer, weil wir sehen,
wie die gierigen Finanzchaoten unsere Gesellschaft zerstören.
({13})
Wir sind für mehr öffentliche Investitionen, weil wir sehen, dass diese Regierung in den letzten Jahren die öffentliche Infrastruktur - insbesondere die Sanierung von
Schulen, Hochschulen und Krankenhäusern - sträflich
vernachlässigt hat.
({14})
Zum Schluss habe ich eine Frage an die SPD, Herrn
Müntefering und Herrn Steinmeier. Sie schließen eine
Koalition mit der FDP nicht aus. Deshalb frage ich Sie,
wie Sie in einer Koalition mit der Haifisch-FDP, wie sie
überall auf den Wahlplakaten zu sehen ist, Ihr Wahlprogramm durchsetzen wollen.
({15})
Am besten plakatieren Sie: Haifischfutter würde SPD
wählen!
({16})
Das Wort hat die Kollegin Ute Berg von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
Ihrer Frage, Frau Lötzsch: Wir werden die FDP positiv
beeinflussen. Das fällt uns sicherlich nicht schwer, Herr
Brüderle.
({0})
Nachdem uns gerade Frau Lötzsch das Einmaleins
der Marktwirtschaft erklärt hat, komme ich auf Ihren
Antrag zurück, Herr Brüderle. Die FDP hat, wie ich
finde, einen glasklaren Schaufensterantrag vorgelegt.
Damit meine ich, dass Ihre Absichten leicht zu durchschauen sind: Sie brauchen noch Munition für den Wahlkampf. Bisher haben Sie nichts zur Bewältigung der
Krise beigetragen. Außerdem haben Sie ein Sammelsurium von Einzelpunkten vorgelegt, das den Anspruch
jeglicher Seriosität vermissen lässt.
({1})
Ganz oben auf dem Forderungskatalog steht wieder
die altbekannte Forderung nach niedrigeren Steuern.
({2})
Ich kann es nicht mehr hören. Dabei müsste es sich inzwischen auch bis zu Ihnen herumgesprochen haben,
dass jetzt aus einer großen Steuerreform nichts wird,
weil es dafür absolut keinen Spielraum gibt. Die aktuellen Zahlen der amtlichen Steuerschätzung liegen noch
nicht vor; aber Peer Steinbrück hat bereits festgestellt,
dass sich die Steuerausfälle für die nächsten vier Jahre
auf ungefähr 350 Milliarden Euro belaufen werden. Wer
in dieser Lage Steuersenkungen fordert, hat offenbar
den Schuss noch nicht gehört.
({3})
Hinzu kommen - das ist bereits absehbar - die steigenden Ausgaben bei den Sozialversicherungen und die
Ausfälle durch den Bankenrettungsfonds. Klaus
Zimmermann, der Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung, hat mit seiner Einschätzung unsere Position bestätigt:
Der Ruf nach Steuersenkungen ist auf absehbare
Zukunft unverantwortlicher Populismus.
({4})
Wir haben daher andere Konzepte zur Krisenbewältigung entwickelt. Wie Sie wissen, steuern wir mit drei
Maßnahmenpaketen aktiv gegen die Krise an. Erstens
haben wir einen Rettungsschirm über die Banken gespannt, um die Geldversorgung aufrechtzuerhalten. Ich
weiß, dass es dabei noch ein wenig hakt. Wir sind gerade
dabei, nachzujustieren. Des Weiteren haben wir die
Spareinlagen der Bürgerinnen und Bürger gerettet.
({5})
Frau Lötzsch sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass wir
nicht nur die Höherverdienenden, sondern auch die normalen Bürgerinnen und Bürger im Blick haben.
Zweitens haben wir bereits im November 2008 das
erste Konjunkturpaket in Höhe von 30 Milliarden Euro
und drittens zu Beginn dieses Jahres das zweite Paket
beschlossen. Damit unterstützen wir Unternehmen wie
auch die Beschäftigten in einem Umfang von
50 Milliarden Euro. Das ist mit 80 Milliarden Euro insgesamt das größte Konjunkturpaket in der Geschichte
der Bundesrepublik. Damit - das wiederhole ich ausdrücklich - sichern wir Arbeitsplätze. Die FDP hat uns
die ganze Zeit bei allen Maßnahmen beschimpft und dagegengestimmt, aber nichts Eigenes entwickelt.
Wir setzen bewusst auf einen Maßnahmenmix. Ich
konzentriere mich auf vier Punkte: Wir setzen Impulse
für Investitionen und stärken gleichzeitig die Binnennachfrage durch Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger von Steuern und Abgaben. Wie gesagt, mehr geht
nicht. Wir helfen mit dem Wirtschaftsfonds kleinen und
großen Unternehmen und sichern damit die Arbeitsplätze vieler Beschäftigter. Wir stützen mit der Abwrackprämie die von der Krise besonders betroffene Automobilbranche. In der gestrigen Anhörung ist noch
einmal deutlich geworden, dass wir hier offensichtlich
sehr erfolgreich sind. Wir treiben zudem den Breitbandausbau in Deutschland massiv voran.
Damit nenne ich nur einige Maßnahmen, die wir beschlossen haben. Insgesamt handelt es sich um einen
ausgewogenen Mix aus kurzfristig und mittelfristig wirkenden Maßnahmen, die bereits ihre Wirkung entfalten.
Das zeigt nach wie vor die, wie ich finde, erstaunlich stabile Binnennachfrage in Deutschland.
Zum Glück - dank der Politik aus der rot-grünen Regierungszeit - sind wir in die jetzige Krise relativ stark
hineingegangen. Hinter uns liegt eine Zeit des Abbaus
der Arbeitslosigkeit um etwa 2 Millionen Menschen. Es
wurde damit mehr Beschäftigung aufgebaut, als nun bedroht ist. Das befriedigt nicht, ist aber ein Trost. Wenn
wir nicht so gut regiert hätten, hätte es noch viel bedrohlicher ausgesehen.
Auf zwei Punkte unserer Konjunkturmaßnahmen
möchte ich noch detaillierter eingehen, da Sie diese zwar
in Ihrem Antrag erwähnen, dabei aber vergessen, was
wir bereits beschlossen haben. Ich meine erstens Investitionen in Bildung und Infrastruktur und zweitens Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger von Steuern und Abgaben. Sie scheinen wirklich vergessen zu haben, was
wir hier getan haben. Beides sind wichtige und richtige
Stellschrauben, um in einer Situation, in der die Exportmärkte wegbrechen, die Binnenkonjunktur zu stützen.
Punkt 1, Impulse für mehr Investitionen. Mit unserem kommunalen Investitionsprogramm finanzieren wir
zu zwei Dritteln Investitionen in den Bildungsbereich
und zu einem Drittel Investitionen in die Modernisierung
der Infrastruktur. Wir haben zusätzlich Mittel für den
Ausbau und die Erneuerung der Bundesverkehrswege,
aber auch im Bereich der IuK-Technik bereitgestellt. Wir
haben zudem die Mittel für die Förderprogramme der
Kreditanstalt für Wiederaufbau aufgestockt, um weitere
Investitionen anzustoßen, insbesondere für die energetische Gebäudesanierung. Alles in allem summieren sich
die Ausgaben für Investitionen auf 25 Milliarden Euro in
den kommenden zwei Jahren. Mit einer deutlichen Vereinfachung des Vergaberechts haben wir außerdem sichergestellt, dass öffentliche Aufträge schnell und unbürokratisch - auch und gerade kleinen und mittleren
Unternehmen - erteilt werden können. Im Moment denken wir darüber nach, in diesem Bereich ein wenig nachzujustieren und weitere Erleichterungen für KMUs voranzubringen.
Punkt 2, Entlastung von Steuern und Abgaben.
Durch unsere bereits beschlossenen Maßnahmen entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger. Dabei haben wir besonders einkommensschwächere Haushalte im Blick, da
hier das zusätzliche Geld direkt in den Konsum geht.
Das beginnt mit der Absenkung des Eingangssteuersatzes auf 14 Prozent und der Anhebung des Grundfreibetrags auf 8 004 Euro. Das geht weiter mit dem Kinderbonus in Höhe von 100 Euro, den die Familienkassen
bereits ausgezahlt haben, sowie der Erhöhung des Kinderregelsatzes beim Arbeitslosengeld II und der Sozialhilfe ab dem 1. Juli 2009. Nicht zuletzt haben wir bereits
die Sozialabgaben gesenkt.
Alles in allem entlasten wir die privaten Haushalte
mit Augenmaß um insgesamt rund 30 Milliarden Euro.
Herr Fuchs, das heißt, eine Familie mit zwei Kindern hat
in diesem Jahr netto 679 Euro und im Jahr 2010
614 Euro mehr in der Tasche. Hinzu kommen die bessere Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen und verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen. Das alles sind Maßnahmen, die auch den Konsum
und die Investitionstätigkeit anregen.
Es geht aktuell aber auch darum, die Grundlage für
den nächsten Aufschwung zu legen. Von zentraler Bedeutung sind dabei erstens gut qualifizierte Fachkräfte
und zweitens die Bereitschaft und die Fähigkeit zu Innovationen. Wie Sie alle wissen, haben wir die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes von 12 auf 18 Monate verlängert und die Bedingungen unter anderem durch
Qualifizierungsangebote attraktiver gestaltet. Wir sehen
an der starken Annahme dieses Angebots, dass Unternehmen offensichtlich ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirklich halten und sie nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen wollen.
In einem zweiten Schritt werden wir - das hat Olaf
Scholz schon mit BDA und DGB vereinbart - die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf 24 Monate verlängern und die Arbeitgeber ab dem siebten Monat Kurzarbeit vollständig von den Sozialabgaben entlasten. Wir
wollen die Unternehmen dabei unterstützen, gemeinsam
mit ihren Beschäftigten durch die Krise zu gehen, damit
sie dann, wenn diese Krise vorbei ist, mit qualifizierten
Fachkräften wieder durchstarten können.
Damit tun wir wirklich etwas, um Arbeitsplätze zu sichern, und handeln nicht wie Sie, meine Herren von der
FDP - ich sehe, im Moment sind nur noch Herren da -,
({6})
die Sie mit Ihrer Forderung nach einem flexibleren Arbeitsrecht verschleiern, was Sie wirklich wollen. Was
das nämlich im Klartext heißt, sehen wir in Ihrem Wahlprogramm: Kündigungsschutz nur für Betriebe mit mehr
als 20 Beschäftigten und erst nach zwei Jahren Beschäftigungsdauer. Gleichzeitig wollen Sie die betriebliche
Mitbestimmung deutlich einschränken und am liebsten
ganz abschaffen. Das ist eine Politik gegen Beschäftigte
und auch gegen Unternehmen. Gerade in der Wirtschaftskrise zeigt sich nämlich, dass Unternehmen und
Beschäftigte eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die gemeinsam an einem Strang zieht. Ich gehe davon aus,
dass auch Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind und
hören, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesen
Zeiten sehr einig sind und gemeinsam Konzepte umsetzen, die wir entwickelt haben, um die Unternehmen zu
stärken und die Beschäftigten in den Unternehmen zu
halten.
Genauso wichtig für die Zukunft unserer Wirtschaft
sind Investitionen in Forschung und Entwicklung. In
diesem Bereich wird in Krisenzeiten leider häufig gespart, und zwar auf Kosten der Innovationsfähigkeit der
Betriebe und des Standortes Deutschland insgesamt. Ich
habe mir in der vorletzten Woche ein positives Gegenbeispiel angeschaut. Die Firma Phoenix Contact, ein
mittelständischer Betrieb aus meiner Region, steuert bewusst in der Krise dagegen und verstärkt trotz Kurzarbeit in der Produktion ihre Anstrengungen im Bereich
Forschung deutlich; denn, so einer der Geschäftsführer,
die Firma möchte nach der Krise in der Poleposition
sein. Um generell Firmen Anreize zu geben, ähnlich wie
Phoenix Contact zu agieren, haben wir die Mittel für das
Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand um insgesamt 900 Millionen Euro erhöht und damit den Etat für
Forschungsförderung im innovativen Mittelstand fast
verdoppelt.
({7})
Die Regierungsfraktionen haben in der aktuellen
Krise zügig und entschlossen gehandelt und Verantwortung für unser Land übernommen. Das wird auch in den
kommenden Wochen das Prinzip unseres Handelns sein,
wenn es nämlich darum geht, die nach wie vor bestehenden Probleme unseres Bankensystems durch die Einrichtung von Bad Banks in den Griff zu bekommen und die
Kreditversorgung der Wirtschaft zu sichern.
In diesem Punkt möchte ich allerdings Herrn Meyer
ausdrücklich widersprechen. Es ist mitnichten so, dass
der Staat zu großen Teilen der Versager war. Natürlich
haben auch staatliche Banken ihren Teil dazu beigetragen,
({8})
dass das Bankensystem in Misskredit geraden ist.
({9})
Aber dass die Krise von lupenreinen Privatbanken in den
USA ausging, das können Sie, Herr Meyer, wirklich
nicht unter den Tisch kehren.
({10})
Insofern halte ich die Diskussion, die Sie hier führen, für
falsch. Ich glaube, dass der Staat verstärkt regulierend
eingreifen muss,
({11})
wobei man natürlich auch nicht auf dem „Staatsauge“
blind sein darf. Es hat hier aber in allererster Linie ein
Marktversagen und kein Staatsversagen gegeben.
({12})
Die Politik ist in diesen Wochen gefordert, pragmatische Lösungen für außerordentlich schwierige Probleme
zu finden. Anträge wie der Ihre sind im Moment alles
andere als hilfreich.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat nun Thea Dückert für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Brüderle, ich muss Ihnen schon
eingangs Folgendes sagen: Ich finde, Sie haben hier einen akrobatischen intellektuellen Akt zur Aufführung
gebracht. Ich hoffe, Sie haben sich dabei nicht verletzt.
Es ist schon erstaunlich, dass Sie die gerade veröffentlichten Steuerschätzungen - die vorgelegten Zahlen sind
dramatisch, was Steuerausfälle angeht - als Hinweis darauf interpretieren, dass weitere Steuersenkungen notwendig sind. Das muss Ihnen schon einmal jemand
nachmachen. Das zeigt, mit welcher Ignoranz Sie mit
dieser Krise umgehen.
({0})
Dazu noch eines - Sie propagieren Steuersenkungen
schon seit langem; Sie haben sie vor und nach der Krise
propagiert; Sie wiederholen sich ständig -: Ich kenne
keine Regierung - an vielen Regierungen war die FDP
jahrelang beteiligt -, der es gelungen ist, mit Steuersenkungen einen wirtschaftlichen Aufschwung auf den Weg
zu bringen. Sie haben in keiner einzigen Regierung Steuersenkungen durchgesetzt.
({1})
Obwohl Sie verschiedenen Landesregierungen angehören, ist es im Bundesrat noch zu keiner Initiative gekommen, die Steuern zu senken. Ich kann nur feststellen:
Das, dem Sie hier seit Jahrzehnten das Wort reden, ist
Wahlbetrug.
({2})
Sie wollen über Konjunktur und Rezession, wie Sie
sagen, reden. Ich denke, wir sollten hier über die Krise
reden und darüber, wie wir aus dieser Krise herauskommen. Schon die von Ihnen verwendete Begrifflichkeit ist
doch eine Verharmlosung. Wir erleben die weltweit
größte Krise. Es geht um die Frage, welche Antworten
wir als Politikerinnen und Politiker haben. Das ist der
Punkt.
Ich muss schon sagen: Ich wundere mich sehr, dass
Sie sich vor dem Hintergrund dieser weltweiten Krise
hierhin stellen und behaupten, dass sie etwas mit der
Steuerpolitik in diesem Land zu tun habe. Auch die FDP
müsste endlich erkannt haben, dass die Finanzkrise als
systemische Krise, die die Wirtschaftskrise ausgelöst
hat, überhaupt nichts mit Steuerpolitik zu tun hat, aber
ganz viel mit einem wirklich völlig unbegrenzten, unregulierten Neoliberalismus, der sich auf den Finanzmärkten durchgesetzt hat. Charakteristisch für ihn ist die
Abwesenheit von Regelungen. Der Zustand der Regellosigkeit im Bereich Finanzmarkt hat uns eine Krise eingebrockt, die mit Steuerpolitik nichts zu tun hat und die
man mit einer anderen Steuerpolitik nicht bewältigen
kann.
({3})
Vielleicht reden Sie den Zustand deswegen klein, weil
Ihre Ideologien dieser Entwicklung den Boden bereitet
haben.
Die entscheidende Frage ist: Wie kommen wir aus
den Krisen, mit denen wir es zu tun haben - Finanzkrise,
Wirtschaftskrise, Klimakrise -, heraus? Vor kurzem hat
die Hannover-Messe stattgefunden. Auf ihr waren viele
Maschinenbauer und mittelständische und kleine Unternehmen vertreten. Sie haben eines sehr deutlich gemacht: Sie haben in ihren Bereichen eine Chance, wenn
sie sich auf die ökologische Modernisierung konzentrieren. Das war in Hannover Thema; das ging durch
sämtliche Tageszeitungen.
Gleichzeitig gibt es international - ich sprach von einer weltweiten Krise - Antworten auf die Krise. China
investiert 200 Milliarden Dollar in die ökologische Erneuerung, in den Klimaschutz, in die ökologische Modernisierung.
({4})
Die USA investieren in den nächsten zehn Jahren
150 Milliarden Dollar in genau diesen Bereich, also in
erneuerbare Energien, in die ökologische Modernisierung. Südkorea hat 80 Prozent der Mittel seines Konjunkturpakets genau in diese Bereiche investiert.
Herr Meyer sagte eben, wir sollten hier für Deutschland Mut entfalten und nicht immer die alten Antworten
geben. - Ja, Herr Meyer, das meine ich auch. Allerdings
sollten Sie vor dem Hintergrund dessen, was ich hier gerade dargestellt habe, genau dies einmal Ihrer Frau
Kanzlerin mitteilen.
({5})
Frau Merkel hat in der letzten Woche noch einmal darauf
hingewiesen, mit ihr gebe es keine Klimabeschlüsse, die
Arbeitsplätze in Gefahr bringen.
Meine Damen und Herren, Entschuldigung, ich
glaube, Sie haben wirklich nicht begriffen, dass umgekehrt ein Schuh daraus wird. Die Lösung ergibt sich
durch Klimaschutz, durch Investitionen in ökologische
Modernisierung, und zwar in allen industriellen Bereichen: Maschinenbau, Chemie, Hightech. Solche Investitionen sind notwendig und werden Arbeitsplätze bringen. Hier ist bei Ihnen Fehlanzeige.
({6})
Anders als Sie hat es beispielsweise die Wirtschaftswoche in der letzten Woche auf den Punkt gebracht. Sie
titelt „Grün aus der Krise“ und schreibt, dass die deutsche Industrie mit neuen Ideen eine Million neue Jobs
schaffen kann.
({7})
Damit ist Folgendes gemeint: Wir haben eine ökonomische Krise und eine ökologische Krise. Es führt kein
Weg daran vorbei, beide Krisen in einem, mit ein und
demselben Ansatz zu lösen. Die ökonomische Krise erfordert Investitionen; wir müssen unsere Wirtschaft in
Gang bringen. Die ökologische Krise erfordert Klimaschutzmaßnahmen. Beides ist machbar.
Jeder einzelne Euro, den wir hier in Deutschland für
Investitionen in die Hand nehmen, muss in den Bereich
der ökologischen Modernisierung fließen. Darin liegt die
Chance, meine Damen und Herren.
({8})
Dazu zählen die Bereiche Bildung und erneuerbare Energien,
({9})
Biolandwirtschaft, Gesundheit und Pflege. Sie bieten
Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen; aber
wir brauchen sie auch für unsere Gesellschaft, um in die
Zukunft gehen zu können. Das ist eine Palette von Möglichkeiten - wir werden sie Ihnen auch noch einmal
überreichen -, wie man mit breit angelegten Ansätzen
zur ökologischen Modernisierung eine Million Arbeitsplätze in Deutschland schaffen kann.
({10})
Herr Röttgen hat in der letzten Woche gesagt, mit
Sparen könne man die Konjunktur nicht ankurbeln. Er
wollte damit ein Argument für die Notwendigkeit von
Steuersenkungen liefern. - Es tut mir wirklich leid; ich
schätze Herrn Röttgen und insbesondere seine Argumentationen sehr, aber hier hat er definitiv einen völlig falschen Gegensatz aufgebaut. Es geht nicht darum, nicht
zu investieren, sondern darum, jeden Euro richtig zu investieren, also nachhaltig für die Zukunft. Es geht nicht
darum, dass wir sparen sollten und deswegen die Steuern
nicht senken sollten - selbstverständlich müssen wir
auch sparen -; vielmehr geht es darum, dass wir jetzt
Konjunkturprogramme aufgelegt haben, die für Steuersenkungen keinen Raum mehr lassen. Eine Debatte
hierüber müssen wir in diesem Hause führen.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Steuerschätzung,
vor dem Hintergrund der historisch größten Verschuldung Deutschlands ist es wirklich ein vorbereiteter
Wahlbetrug - das gilt auch für Frau Merkel -, in dieser
Situation Steuersenkungen anzukündigen.
({11})
Das ist vorbereiteter Wahlbetrug in doppelter Hinsicht:
Erstens werden Sie die Steuern nicht senken können.
({12})
- Sie sagen „doch“. Prima! - Dann kommt der zweite
Wahlbetrug zum Tragen: Sie werden es nur tun können,
indem Sie in der Zukunft in Deutschland Sozialabbau
betreiben, den Sie hier nicht thematisieren. Das ist wirklich unredlich, meine Damen und Herren!
({13})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende.
({0})
- Ich glaube gerne, dass Sie das nicht hören wollen.
Zum Ende möchte ich Sie auf Folgendes verweisen:
Es ist richtig, zu investieren, aber stoppen Sie nicht, wie
Ihre Regierung das gerade tut, Investitionen in Bereiche, wo wir sie brauchen wie beispielsweise im Bildungsbereich - Herr Steinbrück hat ja den Bildungspakt
gerade auf Eis gelegt, indem er einen Haushaltsvorbehalt
geltend gemacht hat -, und geben Sie das Geld nicht an
der falschen Stelle aus wie zum Beispiel für die Abwrackprämie.
Bei der gestrigen Anhörung im Ausschuss ist noch
einmal ganz deutlich geworden, dass diese Abwrackprämie, für die Sie jetzt noch mehr Geld bereitstellen - Geld
ist also offenbar da -, ökologische Kollateralschäden mit
sich bringt.
({1})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. - Außerdem wird durch die
Abwrackprämie Nachfrage vorgezogen und einem organisierten Betrug mit Altwagen Vorschub geleistet. Es
gäbe an dieser Stelle noch viel zu diskutieren - das sagen
die Fachleute, nicht wir.
Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren: Hören
Sie auf mit falschen Versprechungen und schaffen Sie
mit uns zusammen 1 Million neue Arbeitsplätze über
eine ökologische Modernisierung.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will in aller Kürze nur noch einmal auf den Kern dieses
Antrages hinweisen. Die Situation ist: Wir haben eine
Rekordrezession. Die Bundesregierung ist nicht allein
daran schuld, aber sie ist auch nicht unschuldig. Sie hat
in dieser Legislaturperiode die höchste Steuererhöhung
durchgeführt, die wir je erlebt haben.
({0})
Über diese höhere Steuerbelastung wollte sie die öffentlichen Haushalte sanieren. Das hat sie nicht geschafft.
Sie hat für die schlechten Jahre nicht vorgesorgt, die ja
zu erwarten waren. Deswegen fehlt ihr jetzt das Geld.
Darüber hinaus hat sie mit diesen hohen Belastungen
auch noch eine Binnenrezession herbeigeführt. Das ist ja
die Folge von höheren Belastungen.
({1})
Sie können doch keinem erzählen - auch der Parteitag
der Grünen kann das keinem weismachen -, dass man
mit höheren Steuern und höheren Belastungen die Wirtschaft beleben kann. Nein, all dieses dämpft die wirtschaftliche Entwicklung und schwächt das Einkommen
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dann weniger ausgeben können. Das führt im Endeffekt auch zu
geringeren Sozialabgaben und Steuereinnahmen.
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung jetzt zwar
einen Rekordstand bei den Schulden erreicht, aber zugleich beinahe schon höhnisch behauptet, jetzt bleibe
kein Geld mehr für die Entlastung der Bürger. Es ist
doch grotesk, dass sie für diese blöde Abwrackprämie
plötzlich 6 Milliarden Euro in die Hand nimmt,
({2})
aber den Bürgern keine Entlastung gönnt. Wo sind wir
denn hier?
({3})
Die Bürger sind der Souverän dieses Staates. Sie stehen
im Mittelpunkt, und nicht die Autos.
({4})
Die Abwrackprämie ist im Übrigen ein Schuss in den
Ofen, weil überwiegend Importautos verkauft worden
sind;
({5})
die kleinen Reparaturwerkstätten haben nichts mehr zu
tun, die Gebrauchtwagenhändler gehen pleite, und nach
Auslaufen der Abwrackprämie wird es einen Nachfrageeinbruch geben. Das wissen Sie genauso gut wie ich.
Das sagen auch die Experten.
({6})
Ich will jetzt einmal die Vergangenheit hinter uns lassen. Die Frage ist nun: Wie kommen wir aus der Rezession heraus, und was kann der Staat dazu tun, dass wir
sie überwinden? Man muss sich immer wieder in Erinne24354
rung rufen, dass 10 Prozent des Sozialproduktes im
staatlichen Sektor erwirtschaftet werden, 90 Prozent
aber im privaten Sektor. Also muss ich mich doch in
erster Linie darauf konzentrieren, Impulse für Wachstum, für Investitionen und für Beschäftigung im privaten
Sektor zu geben, damit sich dieser positiv entwickelt.
Die beiden Konjunkturprogramme konzentrieren ihre
Ausgaben aber allein auf den staatlichen Sektor, und
auch hier nur auf einen Teil, nämlich im Wesentlichen
die Bauwirtschaft. Das hilft einigen Baufirmen und einigen Kommunen - zugegeben -, aber es nutzt der wirtschaftlichen Entwicklung so gut wie nichts, sondern
führt in erster Linie nur zur Erhöhung der Schuldenlast.
Die Steuerentlastungen, die Sie auf den Weg gebracht haben, waren richtig. Diese haben wir unterstützt.
Sie kommen nur zu spät. Die Möglichkeit, Krankenversicherungsbeiträge von der Steuer abzuziehen, besteht
erst ab 2010. Wir hätten diese Regelung aber schon in
diesem Jahr gebraucht. Sie hätten sie zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft setzen sollen. Sie wurden übrigens
dazu genötigt, diese Möglichkeit zu schaffen, weil das
Bundesverfassungsgericht das gefordert hat. Aus eigenem Antrieb hätten Sie es gar nicht getan.
({7})
Es wird jetzt darauf ankommen, zu entlasten, damit mehr
investiert, mehr Arbeitsbereitschaft ausgelöst wird und
damit die Bürger, die Arbeitnehmer mehr Netto vom
Brutto behalten, damit sie sich wieder langlebige Gebrauchsgüter, etwa ein Auto, aus eigenem Einkommen
leisten können, in ihr Haus investieren können, auch beispielsweise energiesparende Investitionen in den Gebäude- bzw. Wohnbestand tätigen können. Das ist doch
die Voraussetzung dafür. Der gute Wille ist ja zu begrüßen, aber erst einmal müssen Sie den Bürgerinnen und
Bürgern die Möglichkeit dafür schaffen.
Frau Dückert, ich wundere mich wirklich über Ihr Gedächtnis. Erinnern Sie sich, dass Sie selbst als Grüne
eine Steuerreform mitverantwortet haben. Sie haben allen Grund, Herrn Brüderle zu danken und ihn nicht zu
beschimpfen;
({8})
denn er hat damals dafür gesorgt, dass Rheinland-Pfalz
im Bundesrat dieser Steuerreform über die Hürde geholfen hat.
({9})
- Nein, das lag nicht an uns.
({10})
- Das haben wir natürlich gemeinsam miteinander besprochen, wie wir das immer tun. Die Steuerreform,
Frau Dückert, die Sie zu verantworten haben, hat selbstverständlich positive Wirkungen erzeugt.
({11})
Warum hat es hinterher einen Wirtschaftsaufschwung
gegeben? Es ist doch einfach dumm, sich davon zu distanzieren. Das war doch mit Ihre Leistung. In den 80erJahren war das genauso. 1986, 1988 und 1990 haben wir
eine Steuerreform in drei Etappen durchgeführt, die dazu
beigetragen hat, dass wir 1989 eine erheblich höhere Beschäftigung und einen beinahe ausgeglichenen Haushalt
gehabt haben. Sonst hätten wir uns die deutsche Einheit
noch weniger leisten können. Wir sind ja froh, dass wir
uns in diesem Zustand befanden.
({12})
Genau das brauchen wir auch jetzt. Wenn wir aus der
Rezession heraus wollen, müssen wir die Bürger, die
Wirtschaftssubjekte, die kleinen Unternehmen, die
Selbstständigen und die Arbeitnehmer entlasten, damit
ihnen mehr Geld bleibt, um dies auszugeben, damit der
90-Prozent-Sektor, die private Wirtschaft, wieder Fahrt
aufnimmt und das Wachstum finanziert werden kann.
Das ist übrigens die Basis der Staatseinnahmen. Sie werden die Staatseinnahmen nur dann nachhaltig stabilisieren, wenn Sie einen viel höheren Beschäftigungsgrad erreichen. Dieser Aussage kann eigentlich niemand
widersprechen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Michael Fuchs für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lötzsch, etwas für Ihr Poesiealbum - schreiben Sie es mit, damit
Sie es endlich begreifen -:
({0})
Hören Sie bitte mit der Umverteilungsarie auf, die Sie
uns hier immer wieder vorsingen.
({1})
Es ist totaler Unsinn. Das obere Drittel der Haushalte in
Deutschland zahlt 62 Prozent der Einkommensteuer.
({2})
Das untere Drittel der Einkommensteuerzahler zahlt
5 Prozent der Einkommensteuer und bezieht 60 Prozent
sämtlicher Alimentierungen, sämtlicher Transfers.
({3})
Das zeigt doch wahrlich, dass wir ein Sozialstaat sind,
dass die Gelder bereits in erheblichem Maße umgeleitet
werden.
Darüber hinaus zeigt dies, dass wir aufpassen müssen,
dass diejenigen, die das erwirtschaften, auch noch Lust
dazu haben. Wenn wir denen permanent das Geld wegnehmen, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass irgendwann demotivierende Faktoren hineinkommen.
({4})
Deswegen ist es unsere gemeinsame Aufgabe, dafür
zu sorgen, dass wir für diejenigen, die morgens früh aufstehen, die arbeiten gehen, die richtig schaffen, die Polizeibeamten, Krankenschwestern, die Nachtdienst machen, ein motivierendes Steuersystem schaffen. Das tun
wir nicht, indem wir permanent den Mittelstand in der
Progression schlechterstellen. Genau das wollen Sie.
({5})
Liebe Kollegen von der FDP, wir freuen uns ja über
Debatten zum Mittelstand. Ich kann auch verstehen, dass
Sie als Opposition Forderungen aufstellen, für deren
Umsetzung Sie nicht geradestehen müssen. Wir müssen
aber in diesem Haushalt dafür geradestehen.
Lieber Kollege Brüderle, wir befinden uns in einer
Krise, wie es sie noch nie zuvor gab. Machen wir uns
nichts vor: Es ist eine Weltkrise. Zum ersten Mal bricht
überall die Wirtschaft zusammen. Das hat es noch nie
gegeben. Es gab bislang regionale Krisen, beispielsweise
1997/1998 die Finanzkrise in Asien. Wir haben sektorale
Wirtschaftskrisen erlebt, zum Beispiel die IT-Blase
2000/2001. Auch in anderen Bereichen gab es Krisen,
beispielsweise im Immobilienbereich. Aber nie gab es
eine Krise, bei der die Wirtschaft weltweit flächendeckend buchstäblich zusammengebrochen ist. Der Kollege Meyer spricht immer von Abbruchkanten, und er
hat recht damit.
Unser Export ist zurzeit das zentrale Problem. Dieser
ist besonders schwierig anzukurbeln, weil wir nichts dafür tun können, dass die Wirtschaft in anderen Ländern
wieder läuft. Das wäre eigentlich das Wichtigste für uns.
Im Moment läuft es nirgends gut, egal ob Sie zum Beispiel nach Russland oder nach China schauen. Ich habe
mit dem Außenhandel in meinem früheren Leben viel zu
tun gehabt. Aufgrund der mir vorliegenden Zahlen kann
ich Ihnen berichten, dass wir im Außenhandel wirklich
Probleme haben. Einem großen Hamburger Exportunternehmen mit Wirtschaftsbeziehungen zu China wurden in
der letzten Woche 30 Aufträge in China gecancelt. Dabei
nimmt China keine Rücksicht auf bestehende Verträge.
Sie haben gesagt: Wenn ihr in Zukunft mit uns zusammenarbeiten wollt, dann müsst ihr das akzeptieren. - So
läuft das momentan. Das sind Abläufe, die die Bundesregierung aber nicht in der Hand hat. Sie sind der Weltkrise geschuldet, und das sollten wir alle, auch Sie, zur
Kenntnis nehmen.
({6})
Wir haben eine Reihe von sinnvollen Maßnahmen ergriffen. Eine Maßnahme war, das „Schmiermittel“ der
Wirtschaft, den Geldkreislauf, wieder in Ordnung zu
bringen. Das ist gelungen. Wir haben erreicht, dass im
Bankenbereich endlich wieder ein gewisses Maß an Vertrauen herrscht. Ich bin sehr dankbar dafür, dass uns das
in Zusammenarbeit mit dem ganzen Haus gelungen ist.
Dass wir damals innerhalb einer Woche das berühmte
Finanzierungspaket mit über 500 Milliarden Euro geschnürt haben, war wahrlich nicht einfach, aber dringend
notwendig. Ohne dieses Paket wäre der Geldkreislauf
nicht wieder in Gang gekommen.
Der Kollege Meyer hat allerdings völlig recht, wenn
er darauf hinweist, dass es - das sollte nicht vergessen
werden, und das muss auch beim Thema Bad Bank beachtet werden - im Wesentlichen die staatlichen Banken
sind, die die größten Probleme haben. Die anderen Banken bekommen ihre Probleme in den Griff. Die Deutsche Bank hat eine Bilanzsumme von 1 Billion Euro und
22 Milliarden Euro Toxic Assets. Die HSH hat eine Bilanzsumme von 200 Milliarden Euro und toxische Papiere in einer Größenordnung von 135 Milliarden Euro.
Dieses Unverhältnis ist ein Beispiel dafür, wie schlecht
in Landesbanken gewirtschaftet wird. Deswegen ist es
zwingend notwendig, dass wir im Zusammenhang mit
den Bad Assets dafür sorgen, dass die Landesbanken ein
Zukunftskonzept auf den Tisch legen, bevor wir ihnen
helfen. Jetzt besteht die einmalige Chance, da etwas zu
ändern.
Auch im steuerlichen Bereich, Herr Kollege Brüderle,
haben wir eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Wir haben begonnen, die Progression abzubauen. Für 2009
und 2010 haben wir steuerliche Maßnahmen - zum Teil
zugegebenermaßen auf Geheiß des Bundesverfassungsgerichts - in einer Größenordnung von insgesamt circa
18 Milliarden Euro ergriffen. Das ist nicht wenig. Das
sind fast drei Mehrwertsteuerpunkte, die wir den Bürgerinnen und Bürgern wieder zurückgeben. Aber das ist
richtig und in dieser Krise dringend notwendig.
Auch bei den Lohnzusatzkosten haben wir einiges
getan. Von Rot-Grün haben wir fast 42 Prozent Lohnzusatzkosten geerbt. Zum 1. Juli dieses Jahres werden sie
bei 38,65 Prozent liegen. Das heißt, wir haben die Lohnzusatzkosten um rund 3,5 Prozentpunkte gesenkt. Das
hat in den letzten Jahren eine Entlastung von circa
25 Milliarden Euro mit sich gebracht. Auch das müssen
Sie bitte zur Kenntnis nehmen.
Ich weiß, dass wir noch einige weitere Punkte angehen müssen. Ich hoffe, dass wir mit den Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion noch Lösungen für die
schwierigen Probleme bei der Unternehmensteuerreform finden werden und da Regelungen schaffen können. Wir müssen die Zinsschranke verändern. Sie erweist sich in einer solchen Krisensituation als besonders
kritisch. Ebenso erweist sich als kritisch, dass wir diverse andere Punkte nicht geregelt haben, jedenfalls
nicht in dem Umfang, in dem dies erforderlich wäre.
Zum Beispiel muss alles, was mit der Gewerbesteuer zu
tun hat, noch einmal überprüft werden. Es kann nicht
sein, dass wir hier zu einer Substanzbesteuerung kommen.
Auch der Verlustvortrag bei der Übernahme von Unternehmen ist noch einmal auf den Prüfstand zu stellen.
Ich mache auch gleich einen Gegenfinanzierungsvorschlag - das müssen wir gemeinsam angehen, liebe Kollegin Berg -: Die Kollegen, auch Herr Steinmeier, haben
versprochen, dass das Postmonopol bei der Mehrwertsteuer aufgegeben wird. Da sind 500 Millionen Euro zusätzliche Einnahmen zu erwarten, und die wollen wir haben.
({7})
Das müssen wir jetzt gemeinsam auf den Weg bringen. Damit können wir die gröbsten Fehler, die wir bei
der Unternehmensteuerreform gemacht haben, reparieren. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen!
({8})
Das Wort hat nun Kollege Reinhard Schultz für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schon einigermaßen merkwürdig, dass
in den letzten Wochen und Monaten immer wieder dieselbe Leier in unterschiedlicher Form zur besten Sendezeit vorgetragen wird. In diesem Fall wird von der FDP
in der Kernzeit ein Wachstumsprogramm gefordert, das
in seinen wesentlichen Bestandteilen schon längst existiert. Das ist ein wenig Markenpiraterie, die Sie da betreiben.
Da ich es aber mit Ihnen gut meine und Sie nachher
noch einen Parteitag haben, habe ich einmal nachgeschaut, was sonst noch auf Sie zutreffen würde. In diesem Zusammenhang habe ich ein Lied von Hildegard
Knef entdeckt mit dem Titel „Lieber Leierkastenmann“.
Darin gibt es sozusagen eine richtige FDP-Strophe, die
ganz gut zu dem Redebeitrag von Herrn Solms passt, der
das zweigesichtige Verhalten der FDP bei der Steuerreform im Bundesrat und hier, das angeblich abgesprochen war, erwähnt hat. In dem Lied heißt es:
Lieber Leierkastenmann,
fang noch mal von vorne an,
von dem schönen Spree-Athen,
wo sojar die Blinden sehn.
Wo der Mann uff eenem Bein
abends packt de Krücken ein;
plötzlich kann er wieder loofen,
denn des Abends ist er uff’n Kien,
denn da jeht der Junge schwoofen,
dafür stammt er schließlich aus Berlin.
Das ist ein Lied, das zur FDP passt: Tagsüber spielt
sie den Blinden und den Lahmen, und abends geht sie
aufs Parkett. Bei Ihnen ist alles grundsätzlich möglich,
wie es gerade in Ihre Vermarktung passt. Das ist bezeichnend. Ich finde Ihr Verhalten nicht unsympathisch,
aber es ist leider nicht besonders ehrlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die
von Ihnen immer wieder vorgetragene Kernforderung
nach einer großen Steuerreform genauer anschaut, dann
erkennt man, dass sich in den nächsten vier Jahren über
den Daumen gepeilt eine zusätzliche Belastung für die
öffentlichen Haushalte durch Einnahmeausfälle in
Höhe von 152 Milliarden Euro ergibt. Dieser Betrag
kommt zu den 320 Milliarden Euro Einnahmeausfälle
hinzu, die von der Steuerschätzung vorhergesagt werden. Diese Relation muss man sich einmal vor Augen
führen.
Im gleichen Moment schwingen Sie sich aber auf - das
passt ziemlich gut zu dem Blinden, der plötzlich wieder
sehen kann -, eine rigide Schuldenbremse zu fordern.
Das ist ausgesprochen witzig. Im ersten Satz erheben Sie
Forderungen in Bezug auf eine Steuerreform, die Einnahmeausfälle in Höhe von 152 Milliarden Euro bewirkt. Im zweiten Satz fordern Sie eine rigide Schuldenbremse. Der Ausweg kann nur darin liegen, dass
öffentliche Aufgaben sowohl in den Bereichen Bildung
und Betreuung als auch in den Bereichen Wirtschaftsförderung und Infrastrukturausbau eingeschränkt werden.
Dieser Widerspruch ist so offensichtlich, dass Sie sich
schon wegen fehlender intellektueller Redlichkeit bei
der Öffentlichkeit für diesen Antrag entschuldigen müssten.
({0})
Viele Punkte, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen,
sind nachvollziehbar. Deswegen haben wir sie auch
schon umgesetzt. Sie fordern, dass Investitionen in den
Ausbau der öffentlichen Infrastruktur vorgezogen werden sollen. Das haben wir gemacht. Es ist der wesentliche Bestandteil unserer Konjunkturprogramme. Das gilt
für die Investitionen sowohl auf Bundesebene als auch
auf kommunaler Ebene. Sie fordern, den Bürgern mehr
Möglichkeiten zu geben, mehr zu investieren und zu
konsumieren. Das haben wir gemacht, indem Handwerkerrechnungen besser von der Steuer abgesetzt werden
können und indem wir in unsere Programme gewaltige
Abgaben- und Steuersenkungen aufgenommen haben,
die ihre Wirkungen entfalten werden.
({1})
Deswegen ist Ihre Analyse, die in Ihrem Antrag steht
und auch in dem Vortrag von Herrn Brüderle vorkam,
dass es eine Binnenwirtschaftskrise gibt, geradezu albern. Denn das Einzige, das im Augenblick einigermaßen funktioniert, ist die Binnenwirtschaft.
({2})
Die Bürger sind nach wie vor in Kauflaune. Der Einzelhandel weist ein Umsatzplus auf. In allen Bereichen der
Reinhard Schultz ({3})
Binnenwirtschaft geht es eher bergauf. Problematisch ist
allein der Bereich, der von der Außenwirtschaft, also
vom Export, abhängig ist. Wie Herr Fuchs richtig beschrieben hat, haben wir nur wenige Möglichkeiten, darauf einen direkten Einfluss zu nehmen, es sei denn
durch internationale Absprachen. Deswegen hat die
Bundesregierung, insbesondere Peer Steinbrück, dafür
gesorgt, dass im europäischen und im weltweiten Konzert alle Industrienationen auf der gleichen Klaviatur
spielen, was die Strategien zur Bekämpfung dieser Krise
angeht.
Natürlich besteht immer noch das Problem, dass der
auslösende Faktor, die Finanzkrise, immer noch nicht
bewältigt ist. Ich gehe nicht so weit zu sagen, dass der
Interbankenverkehr schon wieder grenzenlos funktioniert. Den Studien, die die KfW gestern veröffentlich
hat, ist zu entnehmen, dass entgegen den Verlautbarungen von vor zwei, drei Wochen mittlerweile auch die
KfW der Meinung ist, dass es bei Mittelstandsfinanzierungen allmählich wirklich eng wird.
Wir müssen die Banken zwingen, sich von ihren faulen Papieren zu trennen und ihre Bilanzen im Rahmen
einer längerfristigen Abschreibungsstrategie zu bereinigen; in der Zwischenzeit müssen sie natürlich genug Eigenkapital haben, um Kredite ausreichen zu können. Das
werden wir auch tun, und zwar auf eine Art und Weise,
die den Steuerzahler nicht belastet; das kann ich für die
SPD ganz deutlich sagen.
({4})
Es wird ein Risikomanagement durchgeführt, bei
dem der Staat zunächst einmal für eine bestimmte Phase
als Bürge eintritt. Die Restrisiken müssen aber von den
Alteigentümern der Banken selbst getragen werden. Für
den Fall, dass dann immer noch Geld fehlt, muss im Gesetz ein Mechanismus verankert werden, der sicherstellt,
dass diese Risiken in Form einer Umlage auf den gesamten Finanzsektor abgewälzt werden. Es kann nicht sein,
dass sich die Institute, die ein Fehlverhalten an den Tag
gelegt haben, letztlich zulasten des Steuerzahlers sanieren. Das ist eine klare programmatische Aussage, auch
im Hinblick auf die weiteren Diskussionen über die Gesetzgebung zur Gründung einer Konsolidierungsbank.
Hier ist vorgetragen worden, dass das Problem im öffentlichen Bankensektor bestehe. Das ist nicht ganz ehrlich, lieber Herr Meyer. Natürlich gibt es in der überwiegenden Zahl der Landesbanken erhebliche Probleme. Sie
sind zum Teil darin begründet, dass sich die Träger der
Landesbanken, insbesondere die Landesregierungen,
noch vor wenigen Wochen geweigert haben, überhaupt
über Fusionen, neue Geschäftsmodelle und Ähnliches
nachzudenken; damit hätte man ihnen nämlich ihr Spielzeug aus der Hand genommen. Das gilt für die nordrhein-westfälische Landesregierung genauso wie für alle
anderen.
({5})
Auch die politische Verantwortung ist, was die Farben
angeht, ziemlich einseitig verteilt. Die Heldenstücke, die
sich Hamburg und Schleswig-Holstein geleistet haben,
haben dazu geführt, dass ein von mir sehr geschätzter
früherer Unternehmenschef, der für kurze Zeit Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein war, aus Verzweifelung über die Inkompetenz seiner CDU-Kollegen in
der Landesregierung den Bettel hingeworfen hat. Daran
wird deutlich, wie dilettantisch auf dieser Ebene mit dem
Thema Landesbanken umgegangen wird.
Das eigentliche Problem - Stichwort: Lehman
Brothers - betrifft im Wesentlichen den privaten Sektor.
Auch die HRE ist keine öffentliche Bank; inzwischen ist
sie es vielleicht, aber sie war es nicht, als die Probleme
entstanden sind. Selbst die IKB - das wissen auch Sie war lediglich das Anhängsel eines öffentlichen Konstruktes. Sie ist uns seinerzeit sozusagen angedient worden, und zwar zur Vermeidung eines Zusammenbruchs.
Vom Bund wurde erwartet, dass die KfW die damals
notleidende IKB übernimmt. Dass dann mit krimineller
Energie bestimmte Entwicklungen vorangetrieben wurden, deren Folgen wir jetzt mit bergmännischen Methoden sozusagen zutage fördern müssen, ist ein anderes
Problem und in hohem Maße ärgerlich.
({6})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
ein sehr breit angelegtes Programm erarbeitet, um die
Wirtschaft flottzumachen. Da die FDP heute mehr freihändige Vergaben gefordert hat, sage ich Ihnen: Das hat
mit Wettbewerb nichts zu tun - darum geht es in einem
anderen Kapitel -, begünstigt eher die Unter-dem-TischVergabe und ist ein Riesenproblem. Dennoch haben wir
uns trotz der grundsätzlichen Reform des Vergaberechts,
die wir beschlossen haben, bereit erklärt, die Schwellen
für freihändige Vergaben und beschränkte Ausschreibungen anzuheben. Das ist bereits geschehen. Das, was
Sie heute fordern, ist also schon längst Gesetz.
Zur Breitbandstrategie. Die Bundesregierung hat eine
Breitbandstrategie, die sie den Regionen wie Sauerbier
anbietet. Das Problem ist, dass manche Unternehmen
dieses Angebot nicht annehmen wollen. In der Region,
aus der ich komme, gibt es führende Unternehmen, sogar
Hightechunternehmen, die sich immer noch fragen:
Brauchen wir das eigentlich? - Vielleicht scheuen sie die
damit verbundenen Kosten. Hier ist auf jeden Fall noch
eine Menge Entwicklungsarbeit erforderlich. Die Bundesregierung steht allerdings an der Spitze dieser Bewegung.
Jetzt komme ich zur Beschleunigung des Netzausbaus, die Sie gefordert haben. Ich muss Ihnen sagen: Wir
haben gerade erst das EnLAG beschlossen, mit dem der
Netzausbau beschleunigt wird. Es ist wirklich sehr interessant, dass Sie heute etwas fordern, was bereits in der
letzten Sitzungswoche beschlossen worden ist.
Nun komme ich zum wunderschönen Thema Abwrackprämie; man kann sich lange darüber unterhalten.
Gestern gab es eine Anhörung. Es waren interessante
Reinhard Schultz ({7})
Figuren der Zeitgeschichte vertreten. Diejenigen, die etwas von der Abwrackprämie haben - ich nenne stellvertretend die Vertreter der Automobilindustrie, des KfzGewerbes und der IG Metall -, finden die Abwrackprämie super, weil sie Arbeitsplätze rettet und diese Branche durch die Krise bringt. Die selbsternannten Säulenheiligen, die Deutsche Umwelthilfe, der BUND und
andere - auf anderen Gebieten sehr geschätzt -, behaupten in fast tibetanischer Gebetsmühlenartigkeit - „tibetanisch“ habe ich nicht gesagt, sonst gibt es wieder Probleme mit den China-Politikern -, das sei nicht das
Richtige, man hätte, wenn überhaupt, für den richtigen
ökologischen Impetus sorgen müssen.
Tatsache ist, dass im Wesentlichen Klein- und Mittelklassewagen mithilfe der Umweltprämie gekauft wurden. Diese sind moderner als die mindestens neun Jahre
alten Wagen, die abgewrackt wurden. Damit trägt die
Prämie garantiert zur Minderung des CO2-Ausstoßes
bei.
Ein großer Gewinner ist hier das Unternehmen Opel,
dem man erheblich helfen konnte, die Durststrecke zu
überwinden. Auch der Verkauf von Kleinwagen der
Marke VW wurde gesteigert. Die neuen Zulassungszahlen zeigen, dass weit über 50 Prozent der Autos, die mithilfe der Umweltprämie gekauft wurden, von Unternehmen stammen, die wesentliche Teile der Wertschöpfung
in Deutschland erzielen; ein anderer Teil der Wagen
kommt aus Europa, nur ein ganz kleiner Teil aus Asien.
Lassen Sie sich nicht irre machen! Es handelt sich
hier um ein Gewinnerthema, für diejenigen, die sich ein
Auto kaufen konnten, für die Arbeitnehmer, die diese
Autos gebaut haben, aber auch für uns, weil es uns fast
nichts kostet. Die Maßnahme ist nämlich fast aufkommensneutral; fast 20 Prozent des Verkaufspreises bekommen wir über die Mehrwertsteuer wieder.
({8})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich denke, diese Anträge sind der zweite Versuch einer Abreibung von einer ansonsten geschätzten kleineren Oppositionspartei.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Eigentlich wollte ich hier im Sinne einer Captatio benevolentiae die Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die es mit
den Kolleginnen und Kollegen von der FDP hinsichtlich
der Zielsetzungen unstrittig gibt. Arbeitsplatzsicherung
und die Herstellung finanzwirtschaftlicher Stabilität sind
sicherlich gemeinsame Ziele. Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit: Wir müssen uns sicher nicht ausgerechnet
von der Linken das Einmaleins der Marktwirtschaft erklären lassen, ausgerechnet von der Partei, die in einem
großen Feldversuch schon einmal gezeigt hat, wie man
eine Volkswirtschaft ruiniert.
({0})
Ich will meine Ausführungen zu den Gemeinsamkeiten trotzdem nicht wie vorgesehen ausbauen; denn es hat
mich schon geärgert, was die Kolleginnen und Kollegen
von der FDP heute hier vorgetragen haben. Man kann
doch nicht so tun, als gebe es hier eine binnenmarktbegründete Rezession, an der ausgerechnet diese Bundesregierung schuld ist. Man muss doch sehen, dass wir uns
in einer tiefgreifenden Vertrauenskrise befinden, in der
auch die Politik Verantwortung trägt, aber nicht dafür,
dass sie ausgebrochen ist, sondern dafür, Wege zu finden, aus der Krise herauszukommen.
({1})
Es ist schon ein Unding -, was hier alles behauptet
worden ist -, dass die FDP ein Versagen der Regierung
konstruiert. Die Äußerungen gipfelten darin - das ist
verantwortungslos -, ausgerechnet bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Inflationsängste zu schüren,
obwohl wir alle wissen, wie sensibel unsere Bürgerinnen
und Bürger auf dieses Thema reagieren.
({2})
Ich glaube, die FDP muss an dieser Stelle üben, Verantwortung zu übernehmen; denn ich gehe davon aus,
dass sie in naher Zukunft gemeinsam mit uns regieren
will. Insbesondere die schwierigen Operationen, die uns
beim Thema Bad Banks bevorstehen, bieten einige Möglichkeiten, Verantwortung zu übernehmen. Bisher waren
Sie beim Thema Stabilisierung des Vertrauens in den Finanzbereich nicht sehr hilfreich. Im Gegenteil: Ich erinnere mich an die letzte Rede des Kollegen Solms zum
Thema HRE-Bank, in der er so getan hat, als sei es eine
ernsthafte Alternative, die HRE-Bank in die Insolvenz
zu schicken. Auch das ist unverantwortlich.
({3})
Ich erwarte - das sage ich auch im Hinblick auf eine
denkbare Koalition -, dass Sie jetzt wieder verantwortungsvoll mit diesen Fragen umgehen.
({4})
Bei den Bad Banks geht es darum, dem Finanzsektor
wieder Gestaltungsspielraum zu geben, und zwar ohne
den Steuerzahler über Gebühr in eine Haftungssituation
zu drängen. Das ist schwierig, wahrscheinlich die ökonomische Quadratur des Kreises - das gebe ich zu -,
aber wir müssen ernsthaft etwas tun; denn sonst kommt
insbesondere der Mittelstand tatsächlich in eine Kreditklemme. Dem Mittelstand hilft es nicht, wenn wir über
die Definition der Kreditklemme diskutieren: Haben wir
eine flächendeckende Kreditklemme, oder haben wir sie
nicht? Für denjenigen, der momentan vor der Aufgabe
steht, sein Unternehmen finanzieren zu müssen, gibt es
eine Kreditklemme. Der steckt in der Klemme. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass er, wenn er krisenbedingt in dieser Klemme steckt, aus dieser Situation
wieder herauskommt. Wir tun einiges, zum Beispiel im
Bereich der KfW. Auch da geht es jetzt um die Details
der Umsetzung. Es geht um die Frage, wie wir sicherstellen können, dass das Instrument, das wir geschaffen
haben, in der Praxis umgesetzt werden kann und uns voranbringt.
Ich breche eine Lanze für den Mittelstand, weil ich
glaube, dass der unternehmerische Mittelstand eine
wichtige Säule im Rahmen der Krisenbewältigung ist.
Wir stellen fest, dass es in diesem Bereich ein hohes
Maß an Stabilität gibt. Ich stelle fest, dass insbesondere
diejenigen, die nicht sehr stark export- oder automobilwirtschaftlich orientiert sind, momentan in der Lage
sind, Deutschland wirtschaftspolitisch zu stabilisieren.
Deshalb verdient insbesondere der unternehmerische
Mittelstand unsere Unterstützung. Das, was wir in den
Bereichen Investitionen, Innovationsförderung und
Bürgschaften tun, tendiert in diese Richtung.
Mir geht es auch darum, dass wir in dieser Situation
die Mittelschicht, die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen, die täglich arbeiten, die als Handwerker oder
Facharbeiter ihren Beitrag dazu leisten, dass wirtschaftlich nicht alles zusammenbricht, nicht vergessen.
({5})
Wir haben hier eine relativ kontrovers geführte Debatte
über die Frage erlebt, ob wir in der Lage sind, diese
Gruppe zu entlasten. Meine Damen und Herren, dies ist
aber erst die zweite Frage. Der erste Punkt, den man herausstellen muss, ist: Wir haben die Pflicht, sie jetzt zu
entlasten. Die OECD ist zu dem Schluss gekommen,
dass die Durchschnittsverdiener nur in zwei anderen
Ländern, nämlich in Belgien und Ungarn, steuerlich stärker belastet werden als in der Bundesrepublik Deutschland. Daran erkennt man den Handlungsbedarf doch
ganz deutlich. Den kann man doch nicht leugnen. Also
ist es richtig, an dieser Stelle anzusetzen.
({6})
- Wenn Sie fragen, wer regiert, dann haben Sie meinen
Vorrednern von der Koalition nicht zugehört, die vielfach deutlich gemacht haben, dass wir in diesem Bereich
auf einem guten Weg sind
({7})
und etliche Schritte zur Entlastung - 30 Milliarden Euro schon unternommen haben. Diesen Weg müssen wir
fortsetzen und gleichzeitig auf unsere Haushalte achten.
Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen, der in
dieser Krise ganz entscheidend ist: die Kurzarbeit. Ich
glaube, dass viele noch nicht eingesehen haben, wie
wichtig und zentral dieses Instrument in dieser Krisensituation ist. Dieses Instrument wird uns nach dem
Durchschreiten dieses Tales, nachdem wir die Brücke
der Kurzarbeit genutzt haben, in eine positive wettbewerbliche Situation versetzen und dazu führen, dass wir
vorankommen. Durch Kurzarbeit können wir das Knowhow sichern und auf den Mitarbeitern, die wir nicht in
die Arbeitslosigkeit geschickt haben, aufbauen. So können wir gestärkt aus dieser gefährlichen Krisensituation
kommen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die
Politik Vertrauen wieder zurückgewinnt; das fordere ich
ein. Wir müssen Handlungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein zeigen. Deshalb eignet sich die Krise
nicht, aber auch gar nicht für Wahlkampfgetöse.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12887 und 16/10867 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/12887 soll federführend
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 e sowie
Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:
38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/12587 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die In-
ternetversteigerung in der Zwangsvollstreckung
- Drucksache 16/12811 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung elektronischer Anmeldungen zum Vereinsregister und anderer vereinsrechtlicher
Änderungen
- Drucksache 16/12813 24360
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Sportausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der zivilrechtlichen Vorschriften des
Heimgesetzes nach der Föderalismusreform
- Drucksache 16/12882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Europol-Gesetzes, des Europol-Auslegungsprotokollgesetzes und des Gesetzes zu
dem Protokoll vom 27. November 2003 zur
Änderung des Europol-Übereinkommens und
zur Änderung des Europol-Gesetzes
- Drucksache 16/12924 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Energieforschung neu ausrichten - Deutschland, Energieland der Zukunft
- Drucksache 16/10329 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Nachteile für den Forschungsstandort Deutschland aufheben - Für ein innovationsfreundliches Steuersystem
- Drucksache 16/12474 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero
Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas
Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas
Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Punkte-Systematik des Verkehrszentralregis-
ters in Flensburg einfacher und verständlicher
gestalten
- Drucksache 16/12993 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria
Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn,
Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Situation von Frauenhäusern verbessern
- Drucksache 16/12992 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erinnerungsprojekt „Zug der Erinnerung“
unterstützen
- Drucksache 16/12991 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/12991, Zusatzpunkt 3 e, soll zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 o sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 39 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({8}), Marieluise Beck ({9}), Alexander Bonde, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung der Strafprozessordnung
- Drucksache 16/7134 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({10})
- Drucksache 16/12534 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({11})
Dr. Matthias Miersch
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12534, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7134 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen und der Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 39 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Juli
2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 16/12589 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({12})
- Drucksache 16/12908 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({13})
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12908, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12589 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung
der Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. September 2004 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Polen über die
Vermarkung und Instandhaltung der gemeinsamen Grenze auf den Festlandabschnitten sowie den Grenzgewässern und die Einsetzung
einer Ständigen Deutsch-Polnischen Grenzkommission
- Drucksache 16/12590 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({14})
- Drucksache 16/12913 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Baumann
Wolfgang Gunkel
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12913, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12590 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes
- Drucksache 16/12427 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15})
- Drucksache 16/13028 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({16})
Dr. Carl-Christian Dressel
Jörg van Essen
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13028, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12427 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 12. November 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des grenzüberschreitenden Missbrauchs bei Leistungen und
Beiträgen zur sozialen Sicherheit durch
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Erwerbstätigkeit und von nicht angemeldeter
Erwerbstätigkeit sowie bei illegaler grenzüberschreitender Leiharbeit
- Drucksache 16/12588 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({17})
- Drucksache 16/13017 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13017, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12588 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP bei Enthaltung der Grünen und der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie in zweiter Lesung angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 f:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 20. Dezember 2006 zum
Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen
- Drucksache 16/12592 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({18})
- Drucksache 16/13029 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({19})
Christoph Strässer
Jörg van Essen
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13029, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12592 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 g:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes
- Drucksache 16/12853 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({20})
- Drucksache 16/13022 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({21})
Frank Schwabe
Michael Kauch
Hans-Josef Fell
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13022, den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12853 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({22}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Mit Bioraffinerien in Deutschland die Biomasse effizienter nutzen und zusätzliche Ressourcen erschließen
- Drucksachen 16/5529, 16/11220 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Marko Mühlstein
Angelika Brunkhorst
Hans-Kurt Hill
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11220, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5529 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 i:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ältestenrates zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Bärbel Höhn,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorbildfunktion der Politik für Klimaschutz
ernst nehmen - Für eine nachhaltige Senkung
verkehrsbedingter CO2-Emissionen des Deutschen Bundestages
- Drucksachen 16/9009, 16/12800 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Lammert
Der Ältestenrat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12800, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9009 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 j:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({23})
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Vierundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- zu der Verordnung der Bundesregierung
Einhundertachtundfünfzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 16/12195, 16/12357 Nr. 2.1,
16/12196, 16/12357 Nr. 2.2, 16/12819 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnungen der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf Drucksache 16/12195 und
zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - auf Drucksache 16/12196 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 k:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({24}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung
eines europäischen Schienennetzes für einen
wettbewerbsfähigen Güterverkehr ({25}) ({26})
KOM({27}) 852 endg.; Ratsdok. 17324/08
- Drucksachen 16/11721 Nr. A.27, 16/12842 Berichterstattung:
Abgeordneter Winfried Hermann
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Linken gegen die Stimmen der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkte 39 l bis 39 o. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 39 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 561 zu Petitionen
- Drucksache 16/12870 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 561 ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 562 zu Petitionen
- Drucksache 16/12871 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 562 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 563 zu Petitionen
- Drucksache 16/12872 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 563 ist gegen die Stimmen der Grünen und mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 564 zu Petitionen
- Drucksache 16/12873 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 564 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({32})
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Marieluise Beck ({33}), Volker Beck ({34}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Landrechte stärken - „land grabbing“ in Entwicklungsländern verhindern
- Drucksachen 16/12735, 16/13023 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf Bauer
Dr. Sascha Raabe
Dr. Karl Addicks
Dr. Norman Paech
Thilo Hoppe
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13023, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12735 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Grünen und der Linken bei
Stimmenthaltung der FDP angenommen.
Nun kommen wir wieder zu Beratungen. Ich rufe den
Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({35})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas
Scheuer, Dirk Fischer ({36}), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rita SchwarzelührSutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mobilität zukunftsfähig machen - Elektromobilität fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich
({37}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Elektromobilität - Für einen bezahlbaren
und klimaverträglichen Individualverkehr
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich
({38}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Elektromobilität durch Änderung von immissionsschutz- und verkehrsrechtlichen
Regelungen fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umfassende Förderstrategie für Elektromobilität mit grünem Strom entwickeln
- Drucksachen 16/12693, 16/10877, 16/12097,
16/11915, 16/12977 Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Ulrich
Kasparick das Wort.
({39})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
nicht klug, einen Rohstoff, der in absehbarer Zeit so
wertvoll wie Gold sein wird, einfach im Motor zu verbrennen. Deshalb brauchen wir eine strategische Neuausrichtung des gesamten Mobilitätssektors.
({0})
Wir müssen weg vom Öl und hin zu einer Elektrifizierung, die sich aus erneuerbaren Energien speist.
Im Jahre 2004 hat die Bundesregierung die Strategie
„Weg vom Öl“ beschlossen. Wir haben in den letzten Tagen und Wochen mit großen Schritten, mit einem großen
Nationalen Innovationsprogramm, an dem vier Bundesministerien beteiligt sind, begonnen, das konkret umzusetzen. Am 25. April dieses Jahres hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages 500 Millionen Euro
bewilligt, damit vier Bundesministerien in einer konzertierten Aktion der angeschlagenen Automobilindustrie
helfen können, ein Ziel zu erreichen, von dem wir uns
für die deutsche Wirtschaft einen großen Schub versprechen: Wir wollen, dass Deutschland der Leitmarkt für
Elektromobilität in Europa wird.
({1})
Unser Ziel ist es, dass bis spätestens 2020 1 Million
Einheiten auf den Straßen ist. Das ist die für den Massenmarkt interessante Schwelle, die es den Herstellern
erlaubt, mit eigenen Mitteln die Produktion so fortzuführen, dass die Marktkräfte genügend Wind in den neuen
Sektor bringen.
Was die vier Häuser seit der Bewilligung der Mittel
durch den Haushaltsausschuss erleben, übertrifft alle Erwartungen. Sowohl im Umweltministerium als auch im
Wirtschaftsministerium als auch im Forschungsministerium als auch bei uns im Verkehrsministerium geht eine
wahre Antragsflut ein. Die Menschen wollen die neue
Mobilität. Sie wissen, dass Erdöl als Rohstoff für Mobilität keine Zukunft hat. Allein bei uns im Verkehrsministerium bewerben sich weit über 130 Regionen darum,
Modellregion für Elektromobilität in Deutschland zu
werden. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium arbeiten unter Hochdruck daran, die Anträge
zu beurteilen und zu bescheiden. Wir hoffen, dass wir
Ende des Monats damit durch sind, damit wir Klarheit
bekommen, mit welchen Regionen wir anfangen können.
Es zeichnet sich sowohl bei den Energieversorgungsunternehmen als auch bei den Stadtwerken, in den Kommunen, bei den Automobilherstellern und bei den
Dienstleistern eine Aufbruchstimmung sondergleichen
ab. Beispielsweise tun sich Energieversorger mit dem
ADAC zusammen, um das Thema auch mental nach
vorne zu bringen. Die deutsche und die französische
Seite verständigen sich darüber, wie etwa die Standards
für Stromabnehmer und Steckdosen aussehen sollen.
Man sieht: Da ist ein Wettbewerb im Gange, der von Tag
zu Tag an Schärfe zunimmt.
Wir wollen vonseiten der Bundesregierung unseren
Beitrag dazu leisten, dass Deutschland der Leitmarkt
wird. Wir wollen die Entwicklung ganz vorne nicht nur
mitvollziehen, sondern wir wollen sie bestimmen.
Zunächst einmal gilt ein großer Dank dem Parlament.
Sie haben uns mit diesem 500-Millionen-Euro-Programm in die Lage versetzt, gemeinsam mit der Industrie jetzt große Schritte nach vorne zu gehen. Wenn man
das zu den Mitteln für die zweite Technologie addiert,
die wir als Ergänzung verstehen, dann verfügen wir in
Deutschland jetzt über ein Innovationsprogramm, das
mit weit über 2 Milliarden Euro gefördert wird. Sie wissen, dass das Nationale Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie mit 500 Millionen Euro dotiert ist. Die Industrie gibt 500 Millionen
Euro dazu. Für die Elektromobilität werden jetzt ebenfalls 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, und die
Industrie ist in ähnlicher Größenordnung engagiert.
Wenn Sie sich anschauen, was zurzeit in den Forschungsabteilungen der großen Automobilkonzerne passiert, dann sehen Sie, dass es eine große Bewegung hin
zur Elektromobilität gibt. Dadurch werden wir in die
Lage versetzt, ein nationales Programm zu starten, mit
dem wir den Vergleich mit dem, was in den Vereinigten
Staaten und Japan geschieht, in keiner Weise zu scheuen
brauchen.
Ich danke also dem Parlament. In absehbarer Zeit
werden wir darüber zu diskutieren haben, wie wir die
Mittel verstetigen können; denn wir kommen nicht mit
einem Jahr hin. Alle Hersteller werden im nächsten bzw.
übernächsten Jahr Elektrofahrzeuge einführen. Wir wollen in den Modellregionen gemeinsam mit den Energieversorgungsunternehmen die komplette Wertschöpfungskette bzw. den gesamten Technologiemix von der
Batterieherstellung über die Ladestationen und die Regelungs- und Steuerungstechnik bis hin zum Recycling abbilden, um, ausgehend von den Ballungsräumen,
Deutschland mit hohem Tempo auf einen neuen Pfad der
Mobilität zu bringen.
Das ist gut für den Klimaschutz, und dadurch werden
die Beschäftigung und der Innovationsstandort Deutschland gesichert. Wir glauben, dass wir die Krise in einer
unserer wichtigsten Branchen, nämlich der Automobilindustrie, die wir im Moment erleben, nutzen müssen,
um durch komplexe Innovationen wirklich nach vorne
zu kommen. Damit machen wir die Wirtschaft in
Deutschland zukunftsfähig und tun gleichzeitig etwas
für den Klimaschutz.
Ich darf mich bei den Koalitionsfraktionen dafür bedanken, dass sie diesen Weg durch ihren Antrag maßgeblich mit unterstützen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Horst Friedrich für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Herr Staatssekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es gibt nur wenige Themen im Verkehrs- und im Umweltbereich, bei denen
man in der Grundausrichtung einer Meinung ist. Dass
wir neue Antriebsformen brauchen, ist unstrittig.
Nach unseren Erkenntnissen gibt es im Wesentlichen
drei Pfade, die es auszuloten gilt:
Bei dem ersten Pfad wird parallel gedacht. Es geht um
die Verbesserung der Effizienz der jetzigen Antriebsformen und um die Ergänzung durch biogene Treibstoffe.
Der zweite Pfad ist, die Nutzung von Wasserstoff entweder als reines Antriebsmittel oder als Antriebsmittel
für Brennstoffzellen zu verbessern.
Der dritte Pfad ist das, was wir im Übrigen schon fünf
Monate vor der Regierung vorgeschlagen haben, nämlich der Ausbau des Bereichs E-Mobility.
Herr Staatssekretär, vor diesem Hintergrund wundert
es mich im Umkehrschluss, dass wir es hier wieder mit
dem üblichen Reflex der Regierung zu tun haben: Man
lehnt zunächst einmal Anträge pauschal ab, die kein
Geld kosten, wenn man die wesentlichen Forderungen
umsetzt, weil sie von der falschen Seite gestellt werden.
Danach legt man ein Programm auf, einen nationalen
Plan, mit dem in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nichts mehr bewegt werden wird, und sagt: Ich bin
dankbar, dass es mehr Geld kostet.
Die fünf wesentlichen Forderungen der FDP, mit denen wir unseren Antrag vom November letzten Jahres
ergänzt haben, sind nämlich geeignet, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die man dem Nutzer, nämlich dem
Bürger, bieten muss. Dazu ist es nicht erforderlich, viel
Geld in die Hand zu nehmen.
({0})
Was verlangt die FDP?
Horst Friedrich ({1})
Wir sagen erstens, dass wir eine geeignete Anpassung
der Verordnung zur Kennzeichnung von emissionsarmen
Fahrzeugen brauchen. Das heißt, in der 35. Bundes-Immissionsschutzverordnung muss geregelt werden, dass
Elektrofahrzeuge in eine besondere Schadstoffgruppe
eingestuft werden können. Das kostet kein Geld, man
muss es nur tun.
Zweitens. Auf dieser Grundlage und in Anpassung
der Vorgaben in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung ist sicherzustellen, dass mit entsprechenden Plaketten gekennzeichnete Fahrzeuge von Fahrverboten in
städtischen Umweltzonen befreit werden. Auch das kostet kein Geld. Man muss es nur wollen.
Drittens sollte durch eine geeignete Anpassung der
Straßenverkehrs-Ordnung ermöglicht werden, dass die
Kommunen Vorrang-Parkplätze ausweisen und entsprechende Parkzonen einrichten, in denen die Batterien
während des Parkens wieder aufgeladen werden können,
wenn es nicht über das Antriebsaggregat funktioniert.
Auch das kostet im Wesentlichen kein Geld. Man muss
es nur wollen.
Viertens sollten konkrete Regulierungsschritte unternommen werden, damit Hinweisschilder für Stromladestellen einheitlich gestaltet und entsprechend normiert
werden können, damit jeder weiß, wo er eine Ladestation für seine Batterie findet. Auch das kostet im Wesentlichen kein Geld. Man muss es nur machen.
Als letzter Punkt sollte durch eine geeignete Anpassung der Fahrzeug-Zulassungsverordnung die Einführung von Wechselkennzeichen ermöglicht werden, damit
ein Fahrzeughalter, der ein Elektrofahrzeug als Zweitfahrzeug nutzt, dasselbe Kennzeichen für beide Fahrzeuge verwenden kann; denn das eine ist besser für den
innerstädtischen Bereich geeignet und das andere für die
große Strecke.
Das alles lehnen Sie ab, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der SPD, vermutlich weil
der Antrag, wie gesagt, von der falschen Seite kommt,
nämlich von der bösen Opposition.
({2})
Sie müssen uns erklären, warum Sie einen großen Nationalen Entwicklungsplan Elektromobilität mit einer erheblichen Forschungsförderung vorsehen. Die wesentlichen Fakten sind schon erforscht. Jetzt kommt es darauf
an, die Akzeptanz beim Bürger zu erhöhen.
Die Erfahrung mit den anderen Antriebsaggregaten
hat gezeigt, dass eine Substitution der herkömmlichen
Brennstoffantriebe nur dann erreicht werden kann, wenn
dem Nutzer ein genauso einfaches Handling angeboten
wird wie jetzt und die notwendige Infrastruktur geschaffen wird. Dazu braucht man kein staatliches Geld, sondern klare rechtliche Regeln, die auch der Industrie zuverlässig aufzeigen, in welche Richtung die Entwicklung
geht.
Sie machen aber dauernd das Gegenteil. Kaum hatte
sich für biogene Treibstoffe ein Markt gebildet, haben
Sie die Steuertatbestände geändert, mit dem Ergebnis,
dass im Lkw-Bereich der komplette Markt weggebrochen ist. Das ist Ihre Politik.
({3})
Sie vertreten das Ziel, dass Deutschland der Leitmarkt
für Elektromobilität wird. Dagegen hat niemand etwas
einzuwenden. In Deutschland hat die Automobilindustrie schon 1992 die Hybridtechnologie gekannt. Doch
damals war sie nicht marktkonform, und es hat an den
notwendigen Begleitumständen gefehlt.
({4})
- Sicherlich war es zu teuer, aber das lag daran, dass es
an den notwendigen Rahmenbedingungen fehlte. Ich
habe meine erste Probefahrt mit einem Elektrofahrzeug
1991 in Bonn unternommen. Es war ein BMW 316 mit
einer Batterie von Asea Brown Boveri. Das Problem war
damals, dass die Batterie so teuer war, dass sie sich
kaum jemand leisten konnte. Die Produktion hätte in Serie gehen müssen. Das haben Sie bisher immer krampfhaft verhindert, und das wird auch jetzt wieder passieren.
Sie haben einen Masterplan „Güterverkehr und Logistik“ vorgelegt. Ergebnisse gibt es eigentlich nicht. Sie
haben ein nationales Flughafenkonzept. Das Ergebnis ist
eher eine große Katastrophe.
({5})
Nun setzen Sie noch einen nationalen Entwicklungsplan
für Elektromobilität oben drauf. Wenn das Ergebnis dasselbe sein wird wie bei den anderen Plänen, dann kann
man Ihnen nur raten:
({6})
Lassen Sie es endlich bleiben! Schließen Sie sich unserem Antrag an! Wir waren erstens schneller. Zweitens ist
er besser, und drittens kostet er kaum Geld.
({7})
Vor dem Hintergrund bitte ich Sie: Fassen Sie sich ein
Herz und schließen Sie sich unseren Forderungen an!
Denn sonst müssten Sie der gesamten Community erklären, warum Sie unsere Anträge, die in sich schlüssig
sind, ablehnen und auf Ihren neuen Plan setzen, der vielleicht irgendwann im Jahr 2012 greift.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Andreas Scheuer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich verstehe die Aufregung des Kollegen Friedrich nicht.
({0})
Wir haben im Ausschuss sehr freundschaftlich und kollegial über dieses Antragspaket diskutiert, auch vonseiten der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen und von eurer Seite, der FDP. Ich bin froh, dass
du, lieber Kollege Friedrich, nicht erzählt hast, dass du
schon um das Jahr 1900 eine Probefahrt im Lohner-Porsche gemacht hast.
({1})
- Davon gehe ich aus. - Wir haben im Ausschuss das
Ministerium gebeten, auch die guten Vorschläge der Opposition, die wir in einem grundlegenderen Antrag der
Koalition zusammengefasst haben, mit in die Elektromobilitätsstrategie aufzunehmen.
({2})
Herr Staatssekretär, Sie haben dazu Stellung genommen und Einzelpunkte genannt. Unsere Positionen liegen doch gar nicht weit auseinander, meine Damen und
Herren von der Opposition. Die Koalition hat grundlegender argumentiert und gesagt: Bevor wir zu den Einzelschritten kommen können, müssen wir zuerst eine
grundsätzliche Strategie festlegen, ein Marktanreizprogramm auflegen und Haushaltsmittel verstetigen. Sage
und schreibe 500 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket sind für diesen Forschungsbereich vorgesehen und
dienen dazu, die Vision von Elektromobilität Wirklichkeit werden zu lassen. Wir müssen aber genau definieren, was wir machen, und die Einzelmaßnahmen abstimmen.
Ich nähere mich in meiner Position der FDP-Fraktion
sehr stark an, wenn ich sage: Die Förderung von Wechselkennzeichen muss natürlich in ein Marktanreizprogramm und eine Elektromobilitätsstrategie eingebunden
werden. Jedes Elektromobil als Zweitwagen könnte mit
einem Wechselkennzeichen ausgestattet sein. Das normale Fahrzeug wird für lange Strecken genutzt, während
das kleine Elektromobil für den Stadtverkehr gedacht ist.
Man tauscht dann die Kennzeichen je nach Bedarf aus.
Die guten Ergebnisse aus Österreich zeigen uns, dass ein
Wechselkennzeichen eine gute Alternative ist.
Mit Einzelmaßnahmen - Parkplätzen, Ladestationen
und anderen infrastrukturellen Vorkehrungen - müssen
wir zu einer Strategie kommen. Genau das ist der Punkt.
Wir brauchen eine Elektromobilitätsstrategie für den
Alltag der Bürgerinnen und Bürger. Erstens muss sich
die Anschaffung eines Elektroautos lohnen. Zweitens
muss eine entsprechende Infrastruktur vorgehalten werden. Schauen wir uns beispielsweise das Konzept der
Firma Better Place an. Wenn man mit dem Elektroautomobil zum Einkaufen fährt, sind ein paar Parkplätze für
das Parken solcher Autos vorgesehen. Dort kann man
das Auto, wenn man zuvor einen Vertrag mit einem Anbieter abgeschlossen hat, mit einem entsprechend kodierten Stecker an eine Steckdose anschließen. Wenn das
Auto wieder vollständig aufgeladen ist, wird man während des Einkaufens via SMS benachrichtigt. Eine solch
hochinnovative Infrastruktur brauchen wir, Herr Staatssekretär, damit Deutschland nicht nur in Europa, sondern
weltweit zum Leitmarkt für Elektromobilität wird.
({3})
Wir müssen von den fossilen Energieträgern unabhängiger werden. Natürlich müssen wir uns - dazu wird
mein Kollege Vogel sicherlich noch einiges sagen - verstärkt Gedanken über die Effizienz des Verbrennungsmotors machen. Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag haben beispielsweise schon den BMW E-Mini
getestet. Die Rückmeldungen lauten in der Regel: Der
geht aber ab! - Das Image, dass ein Elektroauto in seiner
Dynamik beschränkt ist, wird also durch den Feldversuch und das eigene Erleben widerlegt. Man sieht: Diese
Technologie funktioniert. Wir müssen dafür sorgen, dass
auch die Bevölkerung zu dieser Einsicht gelangt und im
Alltag Elektroautos nutzt.
Nehmen wir Opel als Beispiel. Das Unternehmen Magna will sich Gedanken machen, ob es als Investor bei
Opel einsteigt. Das Unternehmen ist ein hocheffizienter
Zulieferer und Entwickler von Teilen für Elektroautos,
aber auch von ganzen Elektrofahrzeugen. Das kann eine
Chance für die deutsche Automobilindustrie sein, mit
solchen Produkten zum Leitmarkt in Europa und weltweit zu werden.
Herr Staatssekretär, ich melde Passau, meinen Wahlkreis, hiermit als Modellregion an. Ihnen werden sicherlich noch viele Modellregionen gemeldet werden. Ich
biete mich ganz selbstlos an, in der Studentenstadt Passau die Elektromobilitätsvision umzusetzen und diese
Stadt zu einer Modellregion zu machen. Wichtig ist, dass
erstens die Infrastruktur stimmt, dass zweitens die Batterietechnologie weiterentwickelt wird, dass drittens die
Speicherqualität verbessert wird und dass viertens die
Auflademöglichkeiten so flexibel gestaltet werden, dass
ein Pendler sagen kann: Für mich ist ein Vertrag passend, wenn der Anbieter es mir erlaubt, mein Auto mit
Nachtstrom aufzuladen. - Das heißt, er fährt früh morgens mit dem Elektromobil aus seiner Garage zum
Arbeitsplatz und anschließend wieder zurück. Dann
stöpselt er in der Garage ein und lädt die Batterie über
Nacht wieder auf. Er lädt also nur zu Hause auf. Wenn
wir diese Bedingungen für die Bürgerinnen und Bürgern
schaffen, dann werden sich die Haushaltsmittel und die
Mittel aus dem Konjunkturpaket in Höhe von 500 Millionen Euro bezahlt machen; denn wir werden in eine
neue Generation der Automobiltechnik investieren, auch
wenn das Elektroautomobil schon lange erfunden ist,
Herr Kollege Friedrich. Jetzt in der Krise besteht die
Chance, dass wir unsere Automobilhersteller mit staatlicher Förderung dazu bewegen, dass sie die Vision der
Elektromobilität in die Realität umsetzen, die Chance
am Schopfe packen und die Produkte anbieten, die für
Otto Normalverbraucher interessant sind.
Schauen Sie sich die Diskussionen in den Fachzeitschriften an, zum Beispiel in der Wirtschaftswoche.
({4})
Im Dossier Auto beschäftigt sich ein mehrseitiger Beitrag mit Elektromobilität und alternativen Antriebstech24368
niken. Auch die Medien müssen mithelfen. Es bringt uns
nichts, wenn wir im Verkehrsausschuss und im Forschungsausschuss Visionen diskutieren, aber der Bürger
diese Chance nicht ergreift und keines dieser Fahrzeuge
kauft. Wenn die Medien die Visionen der Automobilhersteller und der Politik in der Öffentlichkeit bekannt machen und die Alltagstauglichkeit aufzeigen, dann wird
die Diskussion eine ganz neue Qualität erhalten. Ich
freue mich darauf.
Die Diskussionen im Fachausschuss über Elektromobilität und alternative Antriebstechniken sind mit dem
heutigen Tag nicht beendet, sondern wir bleiben dran.
Herr Staatssekretär, ich freue mich darauf, dass wir in
der neuen Legislaturperiode einen Bericht des Verkehrsministeriums bekommen, der den Stand der Diskussion
wiedergibt. Wenn wir das Tal der Tränen, die Wirtschaftskrise,
({5})
durchschritten haben, dann muss uns die Bundesregierung am Jahresende darstellen, was sie in den nächsten
Jahren plant. Auf diese Diskussion freue ich mich.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun Kollegin Dorothée Menzner für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Elektroautos sind eine feine Sache. Für gewisse Bereiche und für gewisse Einsatzgebiete sind sie durchaus zu begrüßen, zum Beispiel im
innerstädtischen Verkehr. Sie sind leise, sie erzeugen
keinen Feinstaub und keine Abgase. Aber zu glauben,
sie könnten unsere grundlegenden Mobilitätsprobleme
lösen, ist doch ein bisschen kurzsichtig. Wir haben darüber neulich schon einmal diskutiert. Der WWF ist
nicht die einzige Institution, die sagt, dass das keine
kurzfristige Lösungsstrategie ist. Das ist eben schon angesprochen worden. So weit ist die Entwicklung noch
nicht. Bei der Klimabilanz und Umweltfreundlichkeit
von Elektroautos kommt es entscheidend darauf an, wie
der Strom erzeugt wird, mit dem sie gespeist werden.
Man kann natürlich wie die FDP in ihrem Antrag den
Standpunkt vertreten, die AKWs länger laufen zu lassen.
({0})
Ich sage ganz deutlich: Für uns ist das keine Lösung.
Man sollte sich aber auch überlegen, ob die fossile
Stromerzeugung die Lösung ist. Jeder, der sich Grevenbroich, die „Hauptstadt der Energie“, und Umgebung
mit den im Bau oder schon in Betrieb befindlichen Kohlekraftwerken einmal angeschaut hat, wird ins Grübeln
kommen. Wir wissen, dass wir bis heute noch nicht genug Strom auf ökologische und nachhaltige Weise bzw.
aus erneuerbaren Energien erzeugen. Aber auch Fragen,
die das Last- und Lademanagement, die Stromnetze und
die notwendige Infrastruktur betreffen, sind zu prüfen.
Daher begrüßen wir, dass 5 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung im Konjunkturpaket II dafür
bereitgestellt werden. Die Strategie „Weg vom Öl“ kann
aber nicht heißen, dass wir uns von der Abhängigkeit
von den Ölmultis geradewegs in die Abhängigkeit von
den Stromkonzernen begeben. Die Autos, die wir bisher
fahren, werden sicherlich nicht die sein, die wir als Basis
für Elektromobilität verwenden können. Es ist zu kurz
gedacht, einen Elektromotor in einen Golf einzubauen.
Es müssen andere Fahrzeuge sein. Auch unser Mobilitätsverhalten muss sich verändern.
({1})
Beispielsweise sagte letzte Woche ein Bürger aus
meinem Wahlkreis zu mir: Ich wollte mein Auto verschrotten und die Abwrackprämie dafür kassieren, dass
ich mir ein Elektroauto anschaffe; ich fahre nämlich nur
kurze Wege und habe Solarenergiezellen auf dem
Dach. - Das funktionierte aber nicht, weil das gewünschte Elektroauto drei Räder hat und die Abwrackprämie hingegen nur bei Kauf eines vierrädrigen Autos
ausgezahlt wird. Wenn wir fraktionsübergreifend die
Auffassung vertreten, dass Elektromobilität gefördert
werden muss, dann sollten wir an dieser Stelle genauer
hinschauen und etwas verändern.
({2})
Ich möchte für meine Fraktion ganz deutlich sagen:
Die Linke steht für eine Verkehrspolitik, die darauf ausgerichtet ist, umweltschonender und ressourcensparender zu wirtschaften, als wir es es viele Jahrzehnte lang
getan haben. Diese Verkehrspolitik muss bedarfsgerecht
und sozial gerecht sein. Wir stehen nicht für Konzepte,
die vorsehen - daher rührt unsere Kritik an den Wechselkennzeichen -, Menschen mit einem guten Einkommen
eine umweltfreundliche Mobilität zu ermöglichen, also
Menschen, die sich, um ein ökologisch reines Gewissen
zu haben, als Zweit- oder Drittwagen ein Elektromobil
beschaffen wollen. Wir möchten, dass Menschen unabhängig von ihrem Einkommen, unabhängig von ihrer
ökonomischen Lage einen möglichst barrierefreien Zugang zu gutem Verkehr haben.
({3})
Um von dem immensen Verbrauch fossiler Rohstoffe
wegzukommen, müssen der öffentliche Personennahverkehr und -fernverkehr weiter ausgebaut und attraktiver
gemacht werden. Auch die Vernetzung mit dem Fahrradverkehr muss hinzukommen. Um auf diesem Gebiet voranzukommen, kann der Ausbau der Elektromobilität ein
kleiner Schritt sein. Dafür sind wir sehr aufgeschlossen.
Wir sehen allerdings in ihr nicht die Möglichkeit, mit der
wir einfach umsteuern und alles grundlegend verändern
können. Wir glauben, es werden falsche Hoffnungen geweckt.
Ich danke.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Winfried Hermann für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die heutige Debatte zeigt: Es hat sich im Bereich der Mobilität viel bewegt: Man schaue sich nur an,
welche Zukunftsvisionen und Projekte die Autokonzerne
inzwischen anbieten. Es ist noch nicht lange her, dass
Personen, die dafür eingetreten sind, etwas für die Elektromobilität zu tun, mit Sätzen wie „Das geht doch
nicht“ oder „Elektroautos taugen allenfalls als Boxautos
auf der Kirmes“ abgespeist wurden. Inzwischen gibt es
keinen großen Autokonzern, der sich nicht mit Mobilität
beschäftigt und neue Konzepte zu Hybridfahrzeugen und
E-Mobilität entwickelt. Das ist, wie wir finden, gut so.
Ich störe mich überhaupt nicht daran, dass jetzt alle
Fraktionen sagen: Das ist etwas ganz Wichtiges; das
wollen wir unterstützen und fördern.
Einige wichtige Gründe für die Förderung der Elektromobilität sind bereits genannt worden. Aus unserer
Sicht ist bedeutsam - ich sage es noch einmal -: Elektromobilität hilft uns, weg vom Öl zu kommen. Auch der
Klimaschutz ist ein zentrales Ziel der Mobilitätspolitik.
Ich füge hinzu: Auch weil wir wissen, dass es einen globalen Trend zur „Mobilisierung“, vor allem zur Automobilisierung, gibt - es ist zu befürchten, dass es global in
wenigen Jahrzehnten doppelt so viele Autos wie heute
gibt, also statt 1 Milliarde 2 Milliarden -, ist es zwingend, dass wir Autos auf den Markt bringen, die tatsächlich umwelt- und klimafreundlich sind.
({0})
Das müssen wir fördern.
Richtig ist: Nur das Elektroauto zu fördern und sonst
keinerlei Mobilitätspolitik zu betreiben, das wäre die falsche Strategie. Wir teilen die Überzeugung: Wir
brauchen ein Gesamtkonzept. Wir haben einen Antrag
eingebracht, der auf eine umfassende Förderung der
Elektromobilität abzielt. Dabei geht es nicht nur um das
Elektroauto, sondern auch um den Elektroscooter. Wir
denken schon weiter - wir haben schon den nächsten
Antrag eingebracht -: Auch die Bahnen müssen „elektrischer“ werden; auch Dieselfahrzeuge kann man durch
Stromfahrzeuge ersetzen.
({1})
Wenn überhaupt, dann sollte man, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Regierungskoalition, schon eine
konsistente Strategie entwickeln. Es macht wirklich
Sinn, Forschung und Entwicklung im Bereich der Batterietechnik zu fördern. Hier kann und muss die Politik etwas tun. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht das gleiche
Problem wie bei den Handys entsteht. Wir haben ja beklagt, dass jedes Handy mit eigenem Ladegerät und
eigenem Stecker herausgebracht wurde. Das darf im
Automobilsektor nicht passieren. Wir brauchen eine einheitliche und praktische Technologie. Das können wir
politisch unterstützen.
Es ist allerdings ziemlich unklug, für einen Zeitraum
von drei Jahren 500 Millionen Euro für Forschung und
Entwicklung auszugeben und gleichzeitig mit der Abwrackprämie 5 Milliarden Euro für Fahrzeuge ohne jeden Klimaschutz rauszudonnern. Das ist inkonsistent.
Das ist verspieltes Geld.
({2})
Wir wollen es anders machen. Wir wollen mit einem
Marktanreizprogramm gerade die Schwierigkeiten der ersten Jahre überwinden. Heute wissen wir, dass der E-Mini
von BMW einfach zu teuer ist. Er ist mindestens
5 000 Euro teurer als ein normaler Mini.
({3})
Das Gleiche gilt für alle anderen Fahrzeuge. Für die
Übergangszeit brauchen wir also Fördermittel individueller Art. Wir sagen: Ab 2010 soll es eine Prämie von
5 000 Euro, die jährlich um 20 Prozent abgeschmolzen
werden soll, geben. Es handelt sich also nicht um eine
Subvention auf Dauer, sondern nur um eine Förderung
während der Markteinführung.
Wir wissen aus der Vergangenheit, dass zahlreiche
gute Technologien daran gescheitert sind, dass sie am
Anfang zu teuer waren. Die Konzerne sind aufgrund
dessen wieder ausgestiegen. Ich erinnere zum Beispiel
an den Audi A2 und an den 3-Liter-Lupo, mit denen genau das passiert ist. Diesen Fehler müssen wir bei der
Elektromobilität vermeiden. Wir müssen Anreize schaffen. Das Ziel der Bundesregierung - 1 Million Elektrofahrzeuge - ist zu niedrig gesteckt. Man kann heute sagen, dass eine Anzahl von 2 Millionen bis zum Jahre
2020 gut erreichbar ist. Ich finde nämlich: Zu einer Strategie gehört auch ein ambitioniertes Ziel.
Welche Chancen und Möglichkeiten gibt es noch?
Wir versprechen uns von der E-Mobilität, dass ein Umdenken in Bezug auf die Nutzung von Autos stattfindet.
Wir erhoffen uns eine andere Qualität von Autos, nämlich Autos, die weniger Ressourcen verbrauchen und für
eine geringere Geschwindigkeit ausgelegt sind, Autos
für die Stadt, die die Lebensqualität erhöhen, weil sie
leise sind und nicht so viel Fläche brauchen. Das alles
wollen wir unterstützen.
Wir wollen das, wie die FDP, mit ordnungsrechtlichen
Hilfen, Vorteilen beim Parken und bei der Nutzung von
Fahrbahnspuren erreichen. Auf diese vielfältige Art wollen wir zur Nutzung und zum Kauf anreizen. All dies
sind Chancen und Möglichkeiten, die Mobilität insgesamt nachhaltiger zu gestalten. E-Mobilität ist also ein
wichtiger Baustein für eine bessere und nachhaltige Mobilitätspolitik.
Wo liegen die Risiken? Diese möchte ich nicht verschweigen. Es wäre ein Irrweg, wenn wir zukünftig mit
Elektroautos fahren würden, die mit Atomstrom oder mit
Strom aus Kohlekraft gespeist sind. Man sieht dann zwar
nichts aus dem Auspuff herauskommen und hört auch
nichts, aber der Dreck und der Lärm entstehen an ande24370
rer Stelle. Elektromobilität bedeutet die zwingende Förderung und Nutzung erneuerbarer Energien. Jegliche
gebrauchte Energie muss aus erneuerbaren Energien erzeugt werden. Das ist unser Ansatz.
({4})
Es bleiben noch einige Fragen offen, die ich leider
nicht alle ausführen kann. Die Speichertechnik muss
verbessert werden, und das Problem der Anschlüsse
muss gelöst werden; das haben wir schon besprochen.
All dies, eingebettet in eine Gesamtstrategie der nachhaltigen Mobilität, ergibt Sinn. Deswegen wollen wir es
fördern und unterstützen. In diesem Sinne sind Elektroautos tatsächlich grüne Autos.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Schwarzelühr-Sutter
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin froh, dass wir uns einig sind, dass
Elektromobilität nicht mehr nur eine Vision oder ein
Ausweg aus einer Struktur- und Wirtschaftskrise ist, sondern dass wir wirklich auf dem Weg sind, sie in unseren
Alltag zu integrieren. Wir haben gute - ich sage sogar:
beste - Autos in Deutschland. Ich bin davon überzeugt,
dass wir im Jahre 2020 eines der besten Elektroautos anbieten können.
Lieber Kollege Friedrich, im Jahre 1991 sind Sie bereits mit einem Elektroauto gefahren. Da ihr so lange an
der Regierung wart, frage ich mich wirklich, warum es
so lange gedauert hat und wir erst heute ein Elektroauto
auf dem Markt haben.
({0})
Ich bin froh, dass die Bundesregierung jetzt 500 Millionen Euro zur Verfügung stellt und auch schon vorher im
Rahmen des Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie 500 Millionen
Euro zur Verfügung gestellt hat. Es ist wichtig, dass Forschung und Innovation in Gang kommen.
({1})
Die bloße Kennzeichnung von Elektroautos, die sowieso
eine grüne Plakette bekommen, löst keine Innovationen
aus. Wir aber brauchen Innovationen. Schon heute umfasst der Markt von Produkten und Dienstleistungen im
Zusammenhang mit nachhaltiger Mobilität weltweit
180 Milliarden Euro, ganz abgesehen von den Arbeitsplätzen, die in diesem Bereich schon existieren bzw.
noch geschaffen werden. Auch vor dem Hintergrund der
Debatte um CO2-Emissionen bieten Elektrofahrzeuge
eine große Chance, da sie helfen, die Emissionen von
CO2 sowie die Lärm- und Schadstoffemissionen in Metropolen zu reduzieren. Es gibt ja heutzutage ein Akzeptanzproblem von Verkehr aufgrund der Lärmbelästigung.
Ein Nullemissionsfahrzeug, das wir anstreben, ist nur
möglich, wenn es durch erneuerbare Energien angetrieben wird. Die FDP dagegen stellt die Versorgungssicherheit in den Vordergrund und versucht, nicht nur die Tür
für längere Laufzeiten von AKWs, sondern gleich für
den Neubau von AKWs aufzustoßen. Das ist nicht der
Weg, den wir gehen wollen. Wir wollen ein Nullemissionsfahrzeug. Das geht nur auf Basis erneuerbarer
Energien.
({2})
Dass endlich Bewegung in den Bereich Elektrofahrzeuge gekommen ist, liegt daran, dass die Industrie bei
der Entwicklung der Batterietechnik Fortschritte erzielt
hat. So rasant wie in den letzten zwei, drei Jahren ging es
schon lange nicht mehr voran. Es ist auch ein Vorteil,
dass hier zwei Branchen zusammenkommen, nämlich
die Automobilindustrie und die Energieversorgungswirtschaft. Zwischen beiden sind noch Fragen zu klären. Ich
nenne die Stichworte Schnittstellen und Standardisierungen. Es gibt auch unterschiedliche Modelle. Ein Modell
wäre zum Beispiel, dass man nicht ein komplettes Elektrofahrzeug mit Batterie kauft, sondern nur das Fahrzeug
kauft und die Batterie mietet. All das sind mögliche Geschäftsmodelle. Diese Geschäftsmodelle sind zugleich
Zukunftsmodelle und eröffnen einen riesigen Markt.
Ein französischer Hersteller möchte schon 2012 Elektrofahrzeuge zu einem Preis von 12 000 bis 14 000 Euro
anbieten. Ich bin überzeugt, dass unsere Industrie da mithält und insbesondere für den Stadtverkehr Elektrofahrzeuge zur Verfügung stellt. Ich bin gestern zum ersten
Mal mit dem E-Mini hier in Berlin gefahren. Das ist tatsächlich ein tolles Fahrgefühl. Man gleitet förmlich mit
einem solchen Fahrzeug durch den Verkehr. Es ist leise
und verhält sich beim Gasgeben nicht wie ein Autoskooter, sondern wie ein schnelles, spritziges Auto.
({3})
Ich bin überzeugt, wenn das Fahrzeugkonzept noch weiterentwickelt wird und ausgereift ist - im Moment sind
die Batterien sehr groß; es gibt keinen Platz, um zum
Beispiel einen Kinderwagen mitzunehmen -, bietet es
eine gute Möglichkeit, um in Städten mobil zu sein. Das
wäre ein Baustein für nachhaltige Mobilität in den Städten. Gerade die Verknüpfung zwischen ÖPNV, entsprechenden Elektrofahrzeugen und Fahrrädern bietet die
Chance, bis zum Jahr 2020 zu emissionsfreiem Verkehr
in den Städten zu kommen.
Heute schon erbringen zum Beispiel einige Kurierdienste in Hamburg ihre Dienstleistungen mit ElektroRita Schwarzelühr-Sutter
fahrzeugen. Das zeigt, diese Fahrzeuge sind im Kommen. Es gibt hier einen riesigen Markt. Auch angesichts
der Nachfrage bei den Pilotprojekten in den Modellregionen kann ich nur sagen: Endlich haben wir den
Durchbruch geschafft. Endlich wird auch das Elektrofahrzeug von seinem Image her als zukünftiger Ersatz
für das Auto in der Stadt akzeptiert.
Die genannten Kriterien - Unabhängigkeit vom Öl,
keine Feinstaub-, SOx- und CO2-Emissionen, effiziente
Energienutzung, Nutzung von erneuerbaren Energien machen dieses Konzept eigentlich zur Nummer eins. Wir
wollen, dass unsere deutsche Automobilindustrie mit einem solchen Konzept im Wettbewerb auf dem weltweiten Markt der Elektromobilität besteht und vielleicht
auch in diesem Bereich zur Nummer eins wird.
Herzlichen Dank.
({4})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Volkmar Vogel von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte und auch die Debatte im Ausschuss haben gezeigt, dass wir uns im Grunde genommen über die
Sinnhaftigkeit der Elektromobilität einig sind. Elektromobilität ist eine gute Sache.
Ich möchte den Fokus auf einen anderen Aspekt lenken, nämlich Mobilität. Mobilität ist ein hohes Gut. Den
Mobilitätsstandard, den wir in unserem Land erreicht haben, müssen wir halten und weiter ausbauen. Dieser Herausforderung müssen wir uns in den nächsten Jahren
stellen, nämlich auf Dauer und nachhaltig Mobilität in
unserem Land zu sichern, die ökologisch, aber gleichzeitig für jeden Bürger bezahlbar und attraktiv ist.
({0})
Aufgabe der Politik ist es, den Bedürfnissen der Menschen nach Mobilität im Privaten und natürlich auch im
Geschäftlichen Rechnung zu tragen. Beweglichkeit ist
ein Stück Freiheit, ist Ungebundenheit und auch Flexibilität. Mobilität bedeutet für uns wirtschaftliche Entwicklung, Wachstum und Wohlstand. Als Ostdeutscher weiß
ich, wovon ich rede. Ich habe die DDR live und grau in
grau erlebt. Nicht nur, dass wir in Richtung Westen und
Süden plötzlich vor Mauer und Stacheldraht standen, es
gehörte damals auch zum System des SED-Unrechtstaates, dafür zu sorgen, dass die individuelle Mobilität der
Menschen eingeschränkt war. Schlechte Straßen und
Wartezeiten von mehr als 15 Jahren auf den eigenen Pkw
sind dafür beredte Beispiele. Der dadurch entstandene
wirtschaftliche Schaden wurde von den Machthabern
billigend in Kauf gekommen.
Das wollen wir nicht. Es ist unsere Verantwortung,
dafür zu sorgen, die Probleme, vor denen wir stehen, in
den nächsten Jahren zu lösen. Diese Probleme kann man
in zwei Punkten zusammenfassen: Endlichkeit der fossilen Ressourcen sowie Kohlendioxid und Schadstoffe,
die das Klima verändern. Deshalb müssen wir jetzt in
Deutschland die Weichen richtig stellen. Elektromobilität ist ein wichtiger Baustein. Wir dürfen die individuelle
Mobilität nicht einschränken und müssen den Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung tragen.
({1})
Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition ist
ein gutes Instrument. Wir werden schnellstmöglich dafür
sorgen, dass elektrische bzw. elektrisch unterstützte Antriebe zur Marktreife kommen und dass Deutschland
- meine Vorredner haben es bereits betont - Leitmarkt
für die Elektromobilität und für alternative Antriebe
wird.
({2})
Klar ist - das merken wir gerade in der Krise, in der die
Automobilwirtschaft steckt -: Dies sichert die Zukunftsund Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und Tausende von Arbeitsplätzen. Richtig gemacht müssen Ökologie und Ökonomie kein Gegensatz sein. Ziel ist es, bis
2020 circa 1 Million Elektrofahrzeuge auf Deutschlands
Straßen zu haben, allerdings - darüber müssen wir uns
im Klaren sein - vorrangig in Ballungszentren.
Auch wenn wir uns an einem automobilen Wendepunkt befinden, müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir den Übergang in die mobile Zukunft ohne
fossile Brennstoffe gestalten. Wir müssen der Realität
ins Auge schauen: Die herkömmlichen Verbrennungsmotoren, die wir zurzeit haben, können nicht von heute
auf morgen im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Verkehr gezogen werden. Wir werden sie noch viele Jahre
brauchen. Sie werden noch viele Jahre Dienst tun, vielleicht weniger in den Ballungsgebieten, aber vor allem
in den ländlichen Siedlungsstrukturen, in den Gegenden,
wo die Infrastruktur weitläufiger ist. Wir dürfen sie für
diese Übergangszeit nicht verteufeln, sondern wir müssen auch hier Anstrengungen unternehmen, um sie noch
effizienter zu machen und ihre Potenziale noch weiter
auszureizen. Dann können sie für diese Übergangszeit
ökologisch und wirtschaftlich attraktiv bleiben.
Mit dem vorliegenden Antrag der Regierungskoalition gehen wir die richtigen Schritte. Wir unterstützen
die Entwicklung, sorgen für Planungssicherheit und setzen ein klares Zeichen an die Bürger und die Wirtschaft,
dass Elektromobilität eine Zukunft hat.
Als Ingenieur gebe ich allerdings zu bedenken - das
ist heute auch von anderen Rednern schon angedeutet
worden -, dass der Satz von der Erhaltung der Energie
gilt; denn das ist ein Naturgesetz: Wenn ich irgendwo etwas herausholen will, dann muss ich vorher etwas hinzufügen.
({3})
Neben der Elektromobilität brauchen wir deshalb bezahlbare, nachhaltige und effektive Speichersysteme für
Elektroenergie - das ist sehr richtig -, und wir müssen
dafür Sorge tragen, dass wir die Primärenergie, die wir
zum Einsatz bringen - dabei weise ich insbesondere auf
die erneuerbaren Energien hin, bei denen wir auf einem
guten Weg sind -, in einer Art und Weise produzieren,
dass sie für jeden von uns bezahlbar ist. Denn eines ist
klar: Mobilität für alle, die wir wollen, muss auch für
alle bezahlbar bleiben.
Ich bitte um Unterstützung unseres Antrages, weil er
aus meiner Sicht einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt,
im Gegensatz zu den anderen vorliegenden Anträgen,
die sich nur auf Teilaspekte beziehen, wenn auch viele
richtige Hinweise von den anderen Fraktionen gekommen sind. Ich bin der Meinung, dass wir hier auf einem
guten Weg sind, dass wir aber darauf achten müssen, die
Entwicklung nicht nur in einer einzigen Richtung voranzutreiben; wir müssen vielmehr den gesamten Markt
weiter beobachten. Es wird noch viele Entwicklungen
und Ideen geben, über die wir zu gegebener Zeit zu diskutieren und zu entscheiden haben.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 16/12977. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/12693 mit dem Titel „Mobilität zu-
kunftsfähig machen - Elektromobilität fördern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung von FDP und
Linken angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/10877 mit dem Titel „Elek-
tromobilität - Für einen bezahlbaren und klimaverträg-
lichen Individualverkehr“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der FDP mit den restlichen Stimmen des Hau-
ses angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12097 mit dem Ti-
tel „Elektromobilität durch Änderung von immissions-
schutz- und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Linken gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der
Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11915 mit
dem Titel „Umfassende Förderstrategie für Elektromobi-
lität mit grünem Strom entwickeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Conterganstiftungsgesetzes
- Drucksache 16/12413 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({0})
- Drucksache 16/13025 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Marlene Rupprecht ({1})
Jörn Wunderlich
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/13026 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Petra Hinz ({3})
Otto Fricke
Roland Claus
Anna Lührmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus
Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Soforthilfe zur Teilhabe-Ermöglichung für
Conterganbetroffene
- Drucksachen 16/11639, 16/13025 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Marlene Rupprecht ({5})
Jörn Wunderlich
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP vor.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Ilse Falk für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
nunmehr etwa anderthalb Jahren beschäftigen wir uns im
Deutschen Bundestag intensiv mit der Lebenssituation
contergangeschädigter Menschen. Ausgelöst unter anderem durch den bewegenden Spielfilm anlässlich des
50. Jahrestages der Markteinführung des Schlafmittels
Contergan wurde unsere Aufmerksamkeit auf das
Schicksal der Betroffenen gelenkt. Hinzu kamen viele
Briefe, Interviews und Reportagen, in denen uns vor Augen geführt wurde, wie schwer das tägliche Leben der
contergangeschädigten Menschen ist und zunehmend
wird. Verursacht durch die jahrzehntelange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken, Muskulatur und Zähnen, treten bei allen Betroffenen Spät- und Folgeschäden
auf, die ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen.
Ich muss zugeben: Diese Monate waren auch für
mich eine große Herausforderung. Das persönliche Kennenlernen vieler Betroffener hat mich beeindruckt und
bewegt. Ich habe große Achtung vor allen, die ihr
Schicksal angenommen haben und denen auch mit einer
solchen Bürde ein lebenswertes, glückliches Leben gelingt. Ich kann aber auch die nicht überhören, denen das
nicht gelingt und die mit ihrem Schicksal hadern und uns
als Vertreter und Vertreterinnen zumindest verbal heftig
angreifen. Der immer wieder gestellten Frage nach
Schuld und Verantwortung müssen wir uns stellen; wir
müssen versuchen, sie mit Herz und Verstand zu beantworten.
Weil wir Politiker - das gilt auch für den Verursacher,
die Firma Grünenthal - uns diese Antwort nicht leicht
machen, können wir heute einen guten Gesetzentwurf
vorlegen und verabschieden, der die Betroffenen einen
großen Schritt weiterbringt auf dem Weg, der sicher
noch nicht zu Ende ist.
In zahlreichen Gesprächen mit unterschiedlich organisierten Betroffenen und in zwei großen Expertenanhörungen des Familienausschusses haben wir miteinander
diskutiert, was der Gesetzgeber tun kann, um die Lebenssituation der Conterganopfer zu verbessern. Wir haben einiges auf den Weg gebracht. In einem ersten
Schritt haben wir die Conterganrenten zum 1. Juli 2008
verdoppelt. Zweitens haben wir diese Conterganrenten
gegenüber anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches
anrechnungsfrei gestellt. Wir haben drittens Parkerleichterungen eingeführt. Viertens hat auf unsere Bitte hin das
Bundesgesundheitsministerium in Gesprächsrunden mit
den Spitzenverbänden der Krankenkassen für die Verbesserung der Versorgung der contergangeschädigten
Menschen geworben. Es ist vereinbart worden, bestehende Verordnungsmöglichkeiten und Ausnahmetatbestände auszuschöpfen und Genehmigungen zügig und
unbürokratisch zu erteilen. Ich hoffe sehr, dass diese
Vereinbarung bald überall bekannt ist und dass es hier
wirklich Fortschritte gibt; denn ich weiß, dass die
Schwierigkeiten bei der Verordnung von Leistungen
durch die Ärzte und bei der Genehmigung durch die
Kassen für sehr viele ein großes Ärgernis sind.
Heute wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weitere Verbesserungen auf den Weg bringen. Die
Novellierung des Conterganstiftungsgesetzes hat einen
wichtigen Schwerpunkt, der wesentlich mitveranlasst
wurde, weil sich die Firma Grünenthal - obwohl rechtlich dazu nicht verpflichtet - bereit erklärt hat, weitere
50 Millionen Euro für die Verbesserung der Situation der
Contergangeschädigten als Zustiftung in die bestehende
Conterganstiftung zur Verfügung zu stellen. Der Bund
stellt aus dem noch vorhandenen Stiftungskapital ebenfalls 50 Millionen Euro zur Verfügung, sodass aus einem
sich aufzehrenden Stiftungsstock 25 Jahre lang eine jährliche Sonderzahlung an die Betroffenen geleistet werden
kann. Mithilfe dieser Sonderzahlung sollen sie besondere Bedarfe decken und sich Wünsche erfüllen können,
für die kein anderer aufkommt.
Die Regelungen dieses Gesetzentwurfes wurden in einem engen Austausch mit den Betroffenen getroffen.
Wir haben viele Wünsche und Anregungen aufgenommen, unsere ursprünglichen Überlegungen korrigiert und
nach der Expertenanhörung in der vergangenen Woche
noch weitere Änderungen berücksichtigt. So schlagen
wir vor, die Ausschlussfrist für die Beantragung von
Leistungen nicht nur für anderthalb Jahre, sondern vollständig aufzuheben. Außerdem soll ab diesem Jahr zu
den monatlichen Conterganrenten eine jährliche Sonderzahlung geleistet werden, deren Höhe vom Grad der
Schädigung abhängig ist. Die am schwersten Geschädigten erhalten dann 4 200 Euro; dies ist allerdings abhängig davon, wie viele Neuanträge nach Öffnung der Ausschlussfrist bewilligt werden.
Was die jährlichen Sonderzahlungen betrifft, war uns
die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation der
Betroffenen sehr wichtig, die durch einen gestreckten
Auszahlungszeitraum, gespeist aus Zins und Zinseszins,
viel besser erreicht wird als durch eine Einmalzahlung.
Um dem Wunsch der Betroffenen nach einer Erhöhung
der Zahlung entgegenzukommen, werden wir die Zahlung für 2010 nach der ersten Sonderzahlung im Spätherbst 2009 auf Januar 2010 vorziehen. Innerhalb kürzester Zeit wird somit eine größere Summe zur Deckung
von Sonderbedarfen zur Verfügung stehen, für die
schwer geschädigten Opfer immerhin circa 8 400 Euro.
({0})
Der ursprünglich ins Auge gefasste Auszahlungszeitraum für die jährlichen Sonderzahlungen wurde um zehn
Jahre verkürzt, von 35 auf nunmehr 25 Jahre. Konkret
bedeutet dies höhere Einmalzahlungen. Diese Regelung
ist ein Kompromiss zwischen einer Einmalzahlung und
Zahlungen über einen sehr lang gestreckten Zeitraum.
Künftig werden die Conterganrenten automatisch dynamisiert, und zwar in Anpassung an die gesetzliche
Rente. Künftig sollen mit den Erträgen des restlichen
Stiftungskapitals nur noch Projekte gefördert werden,
die den Conterganopfern zugutekommen. Dafür ändern
wir den Stiftungszweck. Die Ausgaben im Zusammenhang mit Personal- und Sachkosten, die bislang nur zur
Hälfte aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden, werden
künftig vollständig aus dem Bundeshaushalt gedeckt und
belasten nicht länger das Stiftungsvermögen, sodass dieses Geld den Betroffenen ungeschmälert zugutekommt.
Wir haben noch weitere Änderungen vorgesehen.
Dazu wird die Kollegin Blumenthal ausführlicher Stellung nehmen, insbesondere zur Änderung der Stiftungsstruktur.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass wir
zusammen viel erreicht haben. Ganz besonders danke
ich den beiden Berichterstatterinnen der Regierungskoalition, Antje Blumenthal und Marlene Rupprecht, die
mit viel Herzblut und großem Einsatz sehr erfolgreich
verhandelt haben, sowie den Verantwortlichen im Familienministerium, die uns zur Seite gestanden haben.
({1})
Ich freue mich sehr, dass die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen dieser Gesetzesänderung
ihre Zustimmung geben wollen. Die Grünen wollen sich
offensichtlich enthalten; bei ihnen hat es nicht ganz zur
Zustimmung gereicht. Allerdings glaube ich, dass es ein
Zeichen des guten Willens ist, dass wir alle den Weg,
den wir zum Wohl und zur Verbesserung der Situation
der Contergangeschädigten eingeschlagen haben, mittragen. Ich denke, so werden wir vorankommen und bei
weiteren Maßnahmen möglicherweise Ähnliches erreichen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun Kollegin Ina Lenke für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
möchte auch ich mich dafür bedanken, dass Opposition
und Regierung bei diesem schwierigen Thema sehr sachlich zusammengearbeitet haben. Bei allem Streit, den
wir manches Mal haben, sollte auch einmal gesagt werden: Wir können, wenn wir wollen, und dann klappt es
auch.
Die Firma Grünenthal hat in die Conterganstiftung
eine Zustiftung in Höhe von 50 Millionen Euro eingebracht; darauf hat Frau Falk schon hingewiesen. Es ist
wirklich gut, dass dieses Geld verwendet werden kann,
um neben der Rente auch jährliche Sonderzahlungen für
den besonderen Bedarf an contergangeschädigte Personen auszuschütten.
Letzten Montag haben wir zum vorliegenden Gesetzentwurf eine Anhörung durchgeführt, aus der sich für die
FDP-Bundestagsfraktion zusätzlicher Änderungsbedarf
ergeben hat. Nach dieser Anhörung haben wir gemeinsam einige Vorschläge gemacht. Auch wenn der FDPBundestagsfraktion noch etwas fehlt, wird sie den geplanten Änderungen des Conterganstiftungsgesetzes ihre
Zustimmung geben.
Im Mittelpunkt der Änderungsanträge der Großen
Koalition steht die Abschaffung der sogenannten Ausschlussfrist. Diese Forderung haben wir schon immer erhoben. Ich erinnere an das Gesetz über die Conterganstiftung für behinderte Menschen, das eine Frist
- 31. Dezember 1983 - enthielt. Bis zu diesem Zeitpunkt
konnten sich contergangeschädigte Menschen melden;
danach wurden sie nicht mehr einbezogen. Die damalige
Frist war überhaupt nicht zu halten; das haben wir auch
in der Anhörung gehört. Es gibt Betroffene, die diese
Frist ohne Schuld versäumt haben, zum Beispiel Eltern,
die sich schämten, einen solchen Antrag zu stellen, oder
denen die Conterganschädigung ihres Kindes damals
nicht bekannt war, weil die Schädigung nicht an den
Gliedmaßen sichtbar war, sondern im Körper aufgetreten
ist.
Ich finde es sehr gut, dass diese Frist mittlerweile
auch von der Koalition als falsch angesehen wird. Wir
sind der Auffassung - das ist einer unserer Kritikpunkte -,
dass diese Frist zu kurz ist. Sie soll wegfallen.
Der Gesetzentwurf, über den heute abzustimmen ist,
geht in die richtige Richtung. Am 22. Januar dieses Jahres haben wir über einen Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP abstimmen können. Wir haben das gemeinsam gemacht, um eine angemessene und
zukunftsorientierte Unterstützung der betroffenen Menschen sicherzustellen. Schon damals hatten wir Sie gebeten, unsere Forderungen im Gesetzentwurf zu berücksichtigen. Hierbei ging es um folgende Forderungen:
Erstens wollten wir, dass sich die neu einzuführende Dynamisierung der Conterganrenten am Dynamisierungsfaktor der Altersrente orientiert; das wurde berücksichtigt. Zweitens wollten wir, dass auf den früheren
Fristausschluss verzichtet wird. Beide Forderungen wurden im Gesetzentwurf berücksichtigt. Deshalb können
wir diesem Antrag zustimmen.
Der vorliegende Gesetzentwurf weist noch Defizite
auf. Deshalb haben wir einen Entschließungsantrag gestellt, in dem wir Sie um Zustimmung zu folgenden
Punkten bitten:
Erstens. Es muss sichergestellt werden, dass die Conterganrenten - es handelt sich dabei um Entschädigungsrenten, nicht um normale Renten, für die man in die
Rentenkasse einzahlt - nicht unter das Vorjahresniveau
fallen, wenn es dazu kommen sollte - in der letzten
Plenarwoche haben wir darüber diskutiert -, dass die Altersrenten sinken. Eine solche Regelung ist bei den Conterganrenten nicht getroffen worden. Ich glaube zwar,
dass wir hier einer Meinung sind; aber dieser Punkt findet sich nicht im Gesetzentwurf wieder.
Zweitens. Wir sind der Meinung, dass die Conterganrenten, auch wenn sie sich an den Altersrenten orientieren, circa alle fünf Jahre überprüft werden sollten. In der
Expertenanhörung haben wir gehört, dass der Hilfebedarf bei den betroffenen Menschen steigt, wenn sie - das
wissen wir auch von uns selbst - älter werden. Deshalb
ist es wichtig, die Renten, die in den nächsten 25 Jahren
gezahlt werden sollen, alle fünf Jahre zu überprüfen.
({0})
Eine Anmerkung zum Antrag der Linken: Die FDP
lehnt den Antrag der Linken ab, der unter anderem eine
sofortige weitere Erhöhung der Conterganrenten vorsieht. Man muss dazu wissen, dass die Conterganrenten
zum 1. Juli 2008 um 100 Prozent angehoben wurden.
({1})
Das war eine gute Erhöhung, die den Contergangeschädigten auch in den nächsten Jahren zugutekommt; Frau
Falk hat es schon gesagt.
Ich habe noch einen kurzen Satz zur Besetzung der
zwei Geschäftsführerpositionen zu sagen: Wir haben
vorgeschlagen, dass bei gleicher Eignung und Qualifikation für diese Position Contergangeschädigte ausgewählt
werden. Das ist meines Erachtens nicht nur eine Frage
der Gerechtigkeit, sondern von grundsätzlicher Bedeutung.
Deshalb legt die FDP Ihnen einen Entschließungsantrag vor. Ich bitte Sie, im Interesse der Betroffenen unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marlene
Rupprecht, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich begrüße
auch die Besucherinnen und Besucher, die selbst betroffen sind. Wir haben - Frau Falk hat es gesagt - anderthalb Jahre miteinander verhandelt. Wir haben versucht,
uns an eine Forderung zu halten, die oft an Politiker gestellt wird - „Suchet der Stadt Bestes“, so steht es in der
Bibel -: Wir haben versucht, die Anliegen der Menschen
ernst zu nehmen, sie in Gesetzgebung umzusetzen und
geeignete Maßnahmen zu ergreifen.
Frau Falk, ich möchte das, was Sie gesagt haben, aufgreifen: Dafür, dass wir das so hinbekommen haben, gebührt Ihnen, Frau Humme, Frau Blumenthal, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium, aber
auch den Fraktionen, die dieses Thema nicht für parteipolitisches Gerangel genutzt haben, sondern in den Anhörungen ganz ernsthaft nachgefragt haben, was nicht
immer der Fall ist, Dank.
({0})
Trotzdem war es schwierig, dieses Gesetz, das aus
dem Jahr 1972 stammt, zu ändern. Damals wurde dieses
Gesetz im guten Glauben verabschiedet. Ich will keine
Boshaftigkeit oder Gemeinheit unterstellen; ich glaube
vielmehr, dass man von dem damaligen Kenntnisstand
ausging und glaubte, mit dem Gesetz etwas Gutes zu tun,
soweit das vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grundlagen bezüglich Entschädigungs-, Opfer- und Regressfragen überhaupt möglich war. Ich glaube, es war dringend erforderlich, dass wir dieses Gesetz auf den
Prüfstand gestellt haben. Ich spreche in diesem Zusammenhang immer von drei Schritten.
Wir haben die Rente im letzten Jahr verdoppelt. Natürlich gab es Anfragen, warum wir sie nicht versechsfacht haben; schließlich gebe es in anderen Staaten mehr
Rente als bei uns. Ich denke, Vergleiche mit anderen
Staaten hinken immer dann, wenn man deren Sozialsysteme und deren Sozialleistungen nicht in Betracht zieht.
({1})
Wir haben in der Bundesrepublik ein sehr ausdifferenziertes, für die Anspruchsberechtigten oftmals fast
nicht durchschaubares System der Sozialleistungen. Die
Leistungen sind in zwölf Sozialgesetzbüchern geregelt.
Eigentlich stellt das Sozialrecht alle Leistungen zur Verfügung. Das heißt, man hat einen Anspruch auf Leistungen gemäß den Sozialgesetzbüchern, und zwar unabhängig davon, wie hoch die Conterganrente - so haben wir
sie jetzt genannt; ich denke, es ist eingängiger, wenn
man von monatlich eingehenden Conterganrenten
spricht - ist. Ich will nur einige dieser Sozialleistungen
nennen: Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, Pflegeversicherung, Sozialhilfe, Recht auf Rehabilitation. Manchmal
gibt es Schwierigkeiten, weil ein Sachbearbeiter vor Ort,
dem ein Antrag eines Betroffenen vorgelegt wird, nicht
weiß, dass die Conterganrente nicht auf Sozialleistungen
angerechnet werden darf. Aufgrund der Tatsache, dass
die Conterganrente in Deutschland nicht auf Sozialleistungen angerechnet wird, können wir die Situation in
Deutschland nicht mit der in anderen Staaten vergleichen, wo mit den Renten, die gezahlt werden, alle Bedürfnisse abgedeckt werden müssen.
Ich würde allerdings nicht sagen, dass es damit jetzt
ein für allemal gut ist. In einem zweiten Schritt haben
wir einen Antrag verabschiedet. Ich habe mir noch einmal angeschaut, welchen Auftrag wir damit erteilt haben. Vieles davon haben wir inzwischen auf den Weg
gebracht. Ein wichtiger Aspekt sind die Forschungsaufgaben: Was sind Folge- und Spätschäden einer Conterganschädigung, und wie müssen sie behandelt werden?
Wenn die Forschungsergebnisse vorliegen, müssen wir
die Betroffenen ansprechen - so viel Transparenz müssen wir herstellen; das habe ich mit dem Ministerium geklärt - und ihnen die Ergebnisse der Forschung vorstellen. In zwei bis drei Jahren, je nachdem, wann das
Ergebnis vorliegt, wollen wir das Ganze noch einmal
überprüfen und das Gesetz, das wir heute verabschieden,
eventuell nachjustieren. Zum jetzigen Zeitpunkt Dinge
Marlene Rupprecht ({2})
zu fordern, von denen wir gar nicht wissen, ob sie passgenau, ob sie zielgenau sind, halte ich nicht für richtig.
Wie gesagt: Wir nehmen die Betroffenen ernst; das
war 1972 so überhaupt nicht vorgesehen. Das entspricht
auch dem Leitspruch der EU zum Jahr der Behinderten:
„Nichts über uns ohne uns“. Wir haben gesagt: Im Stiftungsrat muss ein Drittel der Sitze von Betroffenen belegt sein. Diese werden durch Urwahl ermittelt. Das
heißt, alle werden angeschrieben und können Vorschläge
machen. Aus den Vorschlägen können sie die Menschen
wählen, von denen sie annehmen, dass sie geeignet sind,
ihre Interessen zu vertreten. Wir wollten bewusst nicht
die Verbandsebene als alleinige Ebene für Ansprechpartner; denn man weiß, dass es bei zwei Verbänden fünf
Meinungen gibt. Wir wollten die Betroffenen, die nicht
organisiert sind, hinzuziehen.
Es war ebenfalls ein ganz wichtiges Anliegen,
dass wir die Ausschlussfrist geöffnet haben. Frau
Blumenthal, wir können wirklich sagen: Wir hatten am
Anfang überhaupt keine Vorstellung, ob es machbar ist
und was auf uns zukommt. Zahlen und Fakten lagen uns
nicht vor. Wir haben nachforschen lassen; wir haben untersuchen lassen. Es ist, so wie es aussieht, überschaubar.
Wir haben im ersten Entwurf die Tür ein bisschen geöffnet. Jetzt fällt die Ausschlussfrist völlig weg. Das heißt,
die Frist läuft nicht am 31. Dezember 2010 aus, sondern
Anträge können in den nächsten Jahren weiterhin gestellt werden, wenn Menschen entdecken, dass sie betroffen sind. Das wurde aufgrund der Anhörungen eindeutig und klar.
Wir haben über die jährlichen Einmalzahlungen debattiert. Sollen wir vorneweg eine dicke Tranche geben
und dann jährliche Einmalzahlungen? Das kann man natürlich machen. Ich hätte gern vorgesehen: dicke Tranchen und dann der Rest. Aber wenn Sie rechnen, sehen
Sie, dass bei einer Kapitalisierung - diese nehmen wir
vor; Stiftungen müssen solide angelegt sein - in der Stiftung jährlich nicht mehr viel übrig bleibt. Ich denke, es
ist besser, wenn die Menschen im nächsten Jahrzehnt
ganz sicher jedes Jahr im ersten Quartal eine Zahlung erhalten. Das halte ich für richtig.
Damit das Geld, das in der Stiftung ist, den Contergangeschädigten wirklich zugute kommt, haben wir zugesichert, dass die Verwaltungskosten aus dem Bundeshaushalt gezahlt werden. Auch das ist ein Fortschritt.
Ich denke, viele Elemente haben den Gesetzentwurf
geprägt. Wir wollen all den Menschen, die sich noch
nicht gemeldet haben und jetzt Anträge stellen, möglichst zügig helfen. Daher wollen wir, dass die Kommission, die das behandelt, aufgestockt werden kann. Dies
war bisher begrenzt und ist jetzt möglich. Das heißt, die
Kommission der Fachleute, der Fachärzte, die die Anträge beurteilen, kann nach Inkrafttreten des Gesetzes
aufgestockt werden.
Unser Problem wird nicht darin bestehen, dass durch
das Gesetz etwas gehemmt wird. Das Hauptproblem
wird vielmehr darin liegen, ob wir genügend Fachleute
haben. Wir wissen inzwischen aufgrund der Behandlung
der Betroffenen, dass die Ärzte, die sich in das Thema
hineingearbeitet haben, genau wie wir ins Alter kommen
und aus dem Beruf ausscheiden. Wir müssen - das war
in unserem Antrag enthalten, den wir im Herbst vorgelegt haben - dafür sorgen, dass wir genügend Ärzte bekommen, die sich in die Thematik hineinarbeiten,
solange die anderen praktizieren und ihr Wissen weitergeben können.
Es nützt nichts, wenn wir hier etwas Gutes machen
und die Umsetzung im täglichen Leben fehlt. Damit
Menschen wissen, zu wem sie gehen können, damit die
weiterempfohlen werden, sind Information und Beratung ein ganz zentraler Punkt in der Stiftung, die neu
konzipiert wird. Frau Blumenthal wird sie nachher noch
vorstellen. Diese Beratung und Information an einer
Stelle zu gewährleisten, bedeutet ein völliges Umdenken. Das heißt, die Menschen können dort anrufen, werden informiert und erfahren eventuell auch, welche
Ärzte geeignet sind, um sie zu behandeln.
Vieles von dem, was wir en passant gemacht haben,
zum Beispiel die Erleichterungen beim Parken, haben
wir auf Zuruf gemacht, nachdem die EU-Verordnung
kam. Wir haben diese Erleichterungen mit aufgenommen, weil wir hierfür sofort eine Lösung finden und
nicht erst auf einen Antrag warten wollten. Das haben
wir ziemlich schnell und zügig umgesetzt.
Wir haben eine Petition im Bundestag, was die Mitnahme eines Behindertenbegleithundes in Verkehrsmitteln angeht. Das heißt, die Mitnahme eines Behindertenbegleithundes soll kostenfrei sein. Die Begleitung durch
einen Blindenführhund ist kostenfrei. Bei den Behinderten ist das nicht der Fall. Wir haben gesagt - ich denke,
dass man das so formulieren darf, ohne dass es abfällig
wirkt -: Wir machen ein Gleichstellungsgesetz für die
Hunde,
({3})
sodass die Blindenführhunde mit den Behindertenbegleithunden gleichgestellt werden und diese als Begleitung genauso kostenlos fahren dürfen.
({4})
Das mag für den einen oder anderen eine Nebensächlichkeit sein. Aber für denjenigen, der auf den Hund angewiesen und knapp bei Kasse ist, ist das eine wichtige
Entscheidung.
Deshalb sage ich: Wenn die Regierung das, was wir
noch am Rande ausgehandelt haben, Information der Betroffenen, Weitergabe der Informationen, Einladung der
Betroffenen, damit sie alle auf dem gleichen Sachstand
sind, Weitergabe der Forschungsergebnisse, umsetzt,
dann wird diese Transparenz dazu führen, dass auch in
den neuen Parlamenten immer rechtzeitig gegengesteuert wird, falls Entwicklungen eintreten, mit denen wir
jetzt nicht rechnen.
Dieses Thema werden und müssen wir auch in den
nächsten Jahren begleiten. Ich hoffe, dass wir uns alle im
Haus wieder so einig sind, dass es kein parteipolitisches
Marlene Rupprecht ({5})
Gezänk gibt. Vielmehr müssen wir alle schauen: Wie
können wir am besten eine Lösung finden und dabei
auch über den Tellerrand nach Europa schauen? Auch
das steht in unserem Papier. In diesem Sinne hoffe ich
auf Ihre Zustimmung.
Danke.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Ilja Seifert, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Rupprecht, Sie haben
es immer noch nicht begriffen. Es geht eben nicht darum, dass wir irgendetwas für die Behinderten tun, sondern es geht darum, dass man sie selber etwas tun lässt.
Ihr Dank am Anfang Ihrer Rede war ziemlich daneben. Sie haben nicht den Kolleginnen und Kollegen hier
und erst recht nicht den Beamten im Ministerium zu danken, die irgendetwas für die Contergangeschädigten tun.
Vielmehr haben Sie denjenigen zu danken, die uns gezwungen haben, endlich etwas zu tun, die nicht müde
werden, uns zu zeigen, wo es langgeht. Nicht wir müssen die anderen informieren, wie ihr Leben ist, sondern
wir müssen uns von ihnen informieren lassen, wie ihr
Leben aussieht, damit wir wissen, was wir zu tun haben.
({0})
So wird ein Schuh daraus.
({1})
Wir feiern in diesen Tagen den 60. Jahrestag des
Grundgesetzes. In Art. 1 steht - das ist das Allerwichtigste; das sollten wir nie vergessen -, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist. Das ist verteidigungs- und
schützenswert. Aber als Contergan in den Handel kam,
galt das Grundgesetz schon, auch das Würde-Konzept.
Damals hat ein jämmerliches Gezerre stattgefunden. Das
war ein Versagen auf allen Seiten: Die Firma hat versagt,
die Pharmaindustrie insgesamt hat versagt, die Justiz hat
versagt, die Politik hat versagt. Es gibt noch nicht einmal
eine Entschuldigung. Damals ist ein Vertrag geschlossen
worden, der sittenwidrig ist. Wir müssen jetzt retten, was
zu retten ist.
Wir werden dem Gesetzentwurf selbstverständlich
zustimmen, auch wenn es nur kleine Verbesserungen für
die Betroffenen gibt. Es wäre lächerlich, wenn wir das
nicht täten. Aber wenn wir das Würde-Konzept und das
Konzept der Teilhabe-Orientierung der UNO-Konvention wirklich ernst nähmen, dann, liebe Frau Rupprecht
und liebe andere Kolleginnen und Kollegen, würden wir
ganz andere Dinge entscheiden, und zwar schon heute.
Ich habe kein Verständnis dafür, dass jetzt, wenn die
Ausschlussfrist aufgehoben wird, nicht rückwirkend gezahlt wird. Wieso denn nicht? Die Menschen haben ihre
Probleme seit 50 Jahren, nicht erst seit dem Tag der Antragstellung. Wenn Betroffene seit 1983 keine Möglichkeit hatten, Anträge zu stellen, gibt es keinen Grund,
nicht rückwirkend zu zahlen. Das kostet natürlich etwas;
aber entweder wir reden von Würde, oder wir reden von
Geld; beides passt nicht zusammen.
Der nächste Punkt. Sie sind jetzt freundlicherweise
bereit, ein Drittel der Plätze in den Stiftungsgremien für
die Betroffenen zu reservieren. Was heißt denn „Nichts
über uns ohne uns“? Es heißt, die Betroffenen müssten
mindestens die Hälfte der Sitze, also das Sagen in der
Stiftung haben. Das wäre Selbstbestimmung.
Die Betroffenen können Fehler machen, natürlich. Sie
haben selbstverständlich das gleiche Recht wie jeder andere, Fehler zu machen. Wenigstens würden sie ihre eigenen Fehler machen, anstatt dass Beamte - die sich
möglicherweise noch selber kontrollieren sollen - in der
Stiftung das Sagen haben.
({2})
Das Menschenbild, das Ihrer Konzeption zugrunde
liegt, ist immer noch das der Fürsorge - etwas für andere
zu machen - und nicht das der Selbstbestimmung.
({3})
- Ich spreche jetzt nicht von Ihnen persönlich, Frau
Rupprecht, ich rede jetzt von dem Konzept, das dem Gesetzentwurf der Koalition zugrunde liegt.
Lassen Sie Revue passieren, was die Betroffenen gesagt haben. Sie haben gesagt: Lasst uns wenigstens selber entscheiden, ob wir einen Einmalbetrag oder ob wir
das Geld über 25 Jahre oder wie viele Jahre auch immer
ausgezahlt bekommen möchten. Nicht einmal das konnten Sie.
Wir machen mit unserem Änderungsantrag - dem Sie
nachher zustimmen können - den Vorschlag, Betroffenen die Summe wenigstens kapitalisieren zu lassen, ähnlich wie das mit der monatlichen Conterganrente möglich ist. Das wäre kein Problem, die Voraussetzungen
wären schon vorhanden. Doch das soll, wie ich gestern
im Ausschuss erfahren habe, nicht gehen, weil die Firma
Grünenthal die 50 Millionen Euro nicht als Spende, sondern als Zustiftung gibt.
Seit anderthalb Jahren bekommt die Firma Grünenthal
jede Woche kostenlos Werbung, weil immer gesagt wird:
Die sind großzügig und geben noch mal 50 Millionen
Euro. Dass Grünenthal davon jede Menge absetzen
kann, davon wird nicht geredet, auch nicht davon, dass
das Geld seit anderthalb Jahren aussteht. Dass jetzt ausgerechnet die Verursacher dieser Behinderungen auch
noch darüber bestimmen können, wie das Geld ausgegeben wird, das sie angeblich den Conterganopfern zur
Verfügung stellen, finde ich mehr als pervers.
({4})
Lassen Sie uns Selbstbestimmung ernst nehmen! Lassen Sie die Betroffenen entscheiden, und Sie werden sehen: Sie werden gut entscheiden.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Lieber Ilja Seifert, die Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition kann man sicherlich in vielem
kritisieren; aber eines kann man ihnen im Zusammenhang mit diesem Gesetzgebungsverfahren nicht vorwerfen: dass sie den Austausch, das Gespräch, den Kontakt
mit den Contergangeschädigten nicht gesucht hätten.
Das muss man zur Ehrenrettung einmal sagen.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen sind den Wünschen
oder dem Rat der Contergangeschädigten natürlich nicht
in allen Punkten gefolgt. Ich werde nachher einige
Punkte nennen, die wir anders sehen, als es nun im Gesetzentwurf vorgesehen ist; das ist ja der Grund, warum
wir uns enthalten. Aber dass es diesen Austausch gegeben hat, sollte man, finde ich, nicht in Abrede stellen.
Der vorliegende Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes weist zweifellos eine ganze Reihe von Verbesserungen auf, etwa dass
die Ausschlussfrist gestrichen worden ist und dass der
Stiftungszweck geändert worden ist: dass das Stiftungsvermögen jetzt ausschließlich den Contergangeschädigten zugutekommt. Auch die Dynamisierung ist im
Grundsatz sinnvoll, ebenso die Regelung für die Urwahl
der Vertreter der Contergangeschädigten im Stiftungsrat.
Ich finde, das muss man ganz klar auf der Habenseite
verbuchen, und das sollte man auch nicht kleinreden.
Allerdings denke ich, dass Sie trotz der Schritte in die
richtige Richtung an verschiedenen Stellen leider etwas
halbherzig handeln. Ich will das einmal an zwei Beispielen herausstellen.
Zum einen geht es um die Dynamisierung. Es handelt
sich bei der Conterganrente nicht um eine Rente, die mit
der gesetzlichen Rente vergleichbar ist, sondern um eine
Entschädigungszahlung, die aufgrund der Haftungsnachfolge der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist.
Ich denke, da es sich um eine Entschädigungszahlung
handelt, sollte man bei der Dynamisierung nicht der gesetzlichen Rente folgen. Die Anpassung der gesetzlichen
Rente ist zum Beispiel politisch durch den Nachhaltigkeitsfaktor, das Verhältnis von Beitragszahlenden zu
Rentnern, und den Riester-Faktor für den Aufbau der
privaten Ergänzungsversorgung beeinflusst. All dies
sind Dinge, die innerhalb des Systems der gesetzlichen
Rentenversicherung zu bewerten sind, systematisch aber
nichts mit einer Entschädigungszahlung zu tun haben.
({1})
Als zweiten Punkt möchte ich die sogenannte Ausschlussfrist exemplarisch herausgreifen. Es geht um den
Fall, dass sich jetzt nachträglich Personen melden, die
festgestellt haben, dass etwa ihre inneren Organe Schädigungen durch Contergan erlitten haben, von denen sie
bislang nichts wussten. Es gab durchaus einige Geschädigte, die schon in der Vergangenheit Leistungen beantragt hatten, aber mit Verweis auf die Ausschlussfrist
keine Leistungen bekommen haben. Diese können sich
jetzt wieder melden. Das ist gut so. Aber warum erhalten
sie die entsprechende Entschädigung nur ab dem Zeitpunkt der Antragstellung und nicht wenigstens ab dem
Zeitpunkt der Erstantragstellung, als sie damals nicht berechtigt waren? Ich kann nicht nachvollziehen, warum
Sie an dieser Stelle so kleinlich sind.
({2})
Ich denke auch, dass die Haftungsnachfolge eine
wirklich wichtige Sache für die Contergangeschädigten
ist. Die Gesamtsumme ist überschaubar. Ich will den
Vergleich mit der Bankenkrise jetzt nicht überstrapazieren, aber dort geht der Staat voll ins Risiko, und er haftet
mit ungleich höheren Summen. Ich finde, an dieser
Stelle sollte man eindeutig für die Menschen handeln,
die sich ihre Situation nun wahrlich nicht selbst ausgesucht haben.
Lassen Sie mich abschließend noch sagen: Ich finde,
die Spätfolgen müssten bei einer Neubegutachtung und
einer anderen Festsetzung der Entschädigungssumme eigentlich auch berücksichtigt werden. Frau Rupprecht,
Sie haben die Forschung angesprochen. Ich setze meine
Hoffnung darauf, dass wir hier zu einem anderen Bewertungsmaßstab kommen werden, wenn die Ergebnisse in
der nächsten Legislaturperiode vorliegen werden.
Ich halte diesen Weg auch für systematisch sinnvoller,
als alle fünf Jahre erneut zu schauen, Frau Lenke, wie
der Unterstützungsbedarf aussieht. Es handelt sich ja
nicht um eine Sozialleistung im klassischen Sinne. Frau
Rupprecht, insofern sollte man das auch nicht mit den
anderen Sozialleistungen in unserem System vergleichen. Man muss sich immer klarmachen: Das ist eine
Entschädigung.
({3})
Ich finde, diese Entschädigung muss man ins Verhältnis
zu dem entstandenen Schaden setzen, sodass wir systematisch sauber und auch transparent weiterhin im Sinne
der Betroffenen arbeiten.
Vielen Dank.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auch ich freue mich, dass
wir heute hier den Gesetzentwurf verabschieden können.
Ich bin stolz auf das Erreichte, und ich möchte mich dem
Dank, der hier schon ausgesprochen worden ist, anschließen.
Im besonderen Maße möchte ich aber natürlich
Marlene Rupprecht danken; denn was wir beide miteinander ausgehandelt haben, das durch Frau Humme
und Frau Falk mit Erfolg weitergetragen wurde, ist, so
denke ich, nicht ganz selbstverständlich. Gerade in Zeiten eines beginnenden Wahlkampfes zeigt das ja auch,
dass es möglich ist, sich zu verständigen und eine wichtige Sache einvernehmlich auf den Weg zu bringen und
vor allen Dingen auch abzuschließen. Ich denke, das ist
sehr wichtig.
({0})
Herr Dr. Seifert, damit Sie auch beruhigt sind, möchte
ich auch den Betroffenen, den Verbänden und den Organisationen für die guten Anregungen bzw. die Kritik, die
sie an uns weitergegeben haben, danken.
Uns erreichen immer noch täglich Zuschriften, in denen uns die verschiedenen Nöte und Bedarfe geschildert
werden. Deshalb bin ich froh, dass wir bei der Anhörung
am 4. Mai noch einmal die Möglichkeit hatten, uns mit
den Betroffenen und den Sachverständigen auszutauschen und weitere Impulse zu erhalten. Die Ergänzungen
zu unserem Gesetzentwurf haben Frau Falk und Frau
Rupprecht bereits erläutert und begründet.
Wir hatten eine diskussionsreiche Zeit, die jetzt ein
Ergebnis hervorbringt, das zeigt: Wir haben die Probleme der Conterganopfer ernst genommen, uns damit
auseinandergesetzt und Änderungen an dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgenommen.
Um den Betroffenen zu signalisieren, dass wir die Gespräche und den Austausch nicht abreißen lassen wollen,
haben wir beschlossen, den Stiftungsrat mit zwei contergangeschädigten Vertreterinnen oder Vertretern zu besetzen. Dadurch können sie direkt ihre Belange kommunizieren und an notwendigen Verbesserungen mitarbeiten.
Die Betroffenen können sich selbst oder eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten für den Stiftungsrat vorschlagen und per Urwahl bestimmen, wer dann ihre Interessen vertreten wird. Ich bin gespannt, wie die
Betroffenen dieses neue Verfahren nutzen werden.
Auch im Stiftungsvorstand wird eine leistungsberechtigte Person vertreten sein. Forderungen nach einer paritätischen oder vollständigen Besetzung des Stiftungsrates mit Betroffenen sind sicherlich vonseiten der
Betroffenen nachvollziehbar, aber ich denke, eine weitere Beteiligung von Ministeriumsvertretern im Stiftungsrat bindet die Politik direkt in die Beratungen ein
und entlässt sie somit nicht aus ihrer Pflicht.
({1})
Der Stiftungsrat fungiert als Kontroll- und Aufsichtsorgan und entscheidet über grundsätzliche Fragen, die
der Vorstand dann auszuführen hat. Die Stiftung kann so
effizienter und wirkungsvoller arbeiten. Ich darf aber
auch hierbei auf die in der Anhörung vertretene Auffassung zweier Sachverständiger hinweisen. Beide haben
die Nachteile verdeutlicht, die eine vollständige Vertretung von Betroffenen - das heißt eine Selbstverwaltung beinhaltet.
Der Stiftungsexperte gab zu bedenken, dass bei dieser
Lösung von staatlicher Seite den Betroffenen alles selbst
überlassen würde und so der Staat - das heißt die Politik die Verantwortung abwälzen könnte. Außerdem wies er
darauf hin, dass die Selbstverwaltung dem Stiftungsgedanken fremd ist.
Weiter sehe ich es als eine Bereicherung an, dass Wissenschaftler im Stiftungsrat vertreten sein werden. Mit
ihrem Fachwissen können sie zum Beispiel helfen, auf
gesundheitliche Probleme der contergangeschädigten
Menschen zu reagieren und bei der Entwicklung von
Hilfen zu beraten. Besonders für den Forschungsauftrag,
der noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ist
ihr Wissen sehr hilfreich.
Aber auch bei der Gestaltung des Forschungsauftrags
werden die Betroffenen einbezogen. In der Anhörung hat
der Bundesverband Contergangeschädigter e. V. von einer Arbeitsgruppe berichtet, die sich aus Vertretern der
Landesverbände zusammengefunden hat und die Bedürfnisse und Erwartungen der Betroffenen zusammentragen wird. Die Ergebnisse werden zusammen mit dem
Familienministerium ausgewertet und in den Forschungsauftrag integriert.
Schon in der Anhörung im letzten Jahr wurde über
den Begriff der sogenannten monatlichen Leistungen
diskutiert, wie er im ursprünglichen Gesetzentwurf zu
finden ist. Die meisten Betroffenen haben den bisherigen
Begriff Rente kritisiert. Die Abgrenzung gegenüber
Leistungen nach anderen Gesetzen war nicht deutlich
genug und bereitete oft genug Probleme bei der Beantragung von weiteren Hilfsmitteln durch die fehlerhafte
Anrechnung dieser Leistungen.
Wir hatten deshalb in unserem Gesetzentwurf zunächst den Begriff „monatliche finanzielle Unterstützung“ vorgeschlagen. Die Betroffenen - das hat die Anhörung gezeigt - wünschen sich jedoch eine deutlichere
Begriffsbestimmung, die klarstellt, dass sie Leistungen
nach dem Conterganstiftungsgesetz erhalten und dass
diese Leistungen anrechnungsfrei sind. Deshalb haben
wir jetzt den Begriff Conterganrente gewählt und die
Anrechungsfreiheit noch einmal herausgestellt.
Meine und die von meinen Vorrednern und Vorrednerinnen aufgeführten Beispiele zeigen, dass wir in kurzer
Zeit - das heißt seit unserer letzten Anhörung - eine
Menge geschafft haben. Wir haben den Betroffenen zugehört und ihre Kritik und Änderungswünsche in unsere
Beratungen einbezogen. Trotzdem haben einige das Gefühl, wir würden den Gesetzentwurf zu schnell verabschieden. Wenn wir aber eine Ausschüttung der Grünenthal-Gelder noch in diesem Jahr wollen, dann müssen
wir den Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode
verabschieden.
Ein weiterer sehr entscheidender Punkt ist: Die leistungsberechtigten Conterganopfer nehmen durch die
zügige Verabschiedung des Gesetzentwurfs an der Rentenerhöhung, die zum 1. Juli 2009 erfolgen wird, automatisch teil; denn wir haben festgeschrieben, dass die
Conterganrenten an die gesetzlichen Renten angepasst
werden. Dadurch steigen die Conterganrenten ebenfalls
zum 1. Juli. Deshalb müssen wir den Gesetzentwurf
heute verabschieden.
Diese Entwicklung hat bei den Debatten und der Diskussion über unseren Antrag vor einem Jahr niemand für
möglich gehalten. Aber wir haben es geschafft. Ich
möchte den Betroffenen versichern, dass wir mit der
heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes das
Thema „Contergan“ nicht abschließen. Uns ist bewusst,
dass die contergangeschädigten Menschen weiter unsere
Hilfe benötigen und wir, die Politik, weiter unserer Verantwortung nachkommen werden.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Con-
terganstiftungsgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13025, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD auf Drucksache 16/12413 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 16/13030? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von
SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Linken, SPD, CDU/CSU und FDP bei Ent-
haltung der Grünen und einer Gegenstimme bei Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in der Schlussabstimmung mit dem glei-
chen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13031.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Soforthilfe zur Teilhabe-Ermögli-
chung für Conterganbetroffene“. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13025, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/11639 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Diana Golze, Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ursachen und Folgen von Armut bei Kindern
und Jugendlichen
- Drucksachen 16/7582, 16/9810 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Miriam
Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Existenz von Kindern sichern - Familien
stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Kind zurücklassen - Programm gegen
Kinderarmut auf den Weg bringen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bessere Unterstützung für Alleinerziehende
- Drucksachen 16/9433, 16/9028, 16/10257,
16/12201 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Miriam Gruß
Ekin Deligöz
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke zur Großen Anfrage vor.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Letzten Sommer habe ich in Brandenburg
eine Gruppe von Kindern begrüßt, die das erste Mal in
ihrem Leben in einem Ferienlager waren. Finanziert
wurde der Aufenthalt aus Spendengeldern. Ich konnte in
die glücklichen Gesichter der Kinder sehen. Sie kamen
aus Familien, deren knappe Haushaltskasse einen Urlaub
nicht zulässt. Es waren Kinder, zu deren Alltag Suppenküchen, Tafeln und Kleiderkammern gehören, weil der
ALG-II-Regelsatz für eine gesunde Ernährung und für
Kinderkleidung nicht reicht.
Von all diesen Dingen scheint die Bundesregierung
aber nicht viel zu wissen oder wissen zu wollen; denn
die häufigste Antwort auf unsere Fragen in der Großen
Anfrage lautet: Dazu liegen der Bundesregierung keine
Erkenntnisse vor.
({0})
Schlimmer noch, ich glaube, Sie hatten nie vor, die Zustände ändern zu wollen. Im Koalitionsvertrag findet
man das Wort „Kinderarmut“ sage und schreibe ein Mal.
Auf Seite 118 heißt es: „Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren …“ Immerhin! Das Abschlusszeugnis
für die Regierungsarbeit fällt aus Sicht meiner Fraktion
aber denkbar schlecht aus. Die schwarz-rote Untätigkeit
hat dramatische Auswirkungen auf das Leben und die
Zukunft von mindestens 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichen, die der Bundesregierung und der Bundesfamilienministerin in Sonntagsreden zwar immer wieder
einfallen, danach allerdings schnell wieder vergessen
sind.
({1})
Im Vorspann der Antwort der Bundesregierung auf
unsere Große Anfrage zum Thema Kinderarmut heißt es:
Armut und soziale Ausgrenzung von Familien und
Kindern sind aus Sicht der Bundesregierung bedeutende Probleme, die insbesondere für den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft
von großer Relevanz sind.
Das liest sich zunächst wunderbar. Diese Bundesregierung hat aber eine Politik verfestigt, die eine ganze Bevölkerungsgruppe außen vor lässt. Den letzten traurigen
Beweis dieser Ausgrenzungspolitik hat die Große Koalition mit dem Schulbedarfspaket geliefert. Diese Unterstützung für Schülerinnen und Schüler sollte anfangs nur
bis zur 10. Klasse ausgezahlt werden. Die Erweiterung
auf die Abiturstufe ist letztlich auch auf unseren Druck
hin erfolgt.
({2})
Auch wenn es der Union nicht passt: Sie waren schließlich diejenigen, die im Vorfeld Kinder im Hartz-IV-Bezug nicht beim Abitur unterstützen wollten.
({3})
Die Bundesregierung verharmlost das Ausmaß der
Kinderarmut, leugnet ihren permanenten Anstieg und
agiert mit Zahlen, die schlicht und ergreifend falsch sind.
Wenn die Familienministerin schon ein Kompetenzzentrum für familienbezogene Leistungen einrichtet, dann
sollte sie auch auf diesen Sachverstand vertrauen; denn
genau dieses Kompetenzzentrum widerlegt die Zahlen
der Bundesregierung, die in der Antwort auf unsere
Große Anfrage genannt werden. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen - das ist der Umgang der Bundesregierung mit der Kinderarmut in Deutschland. Wenn man ein
Problem nicht wahrnehmen will, dann will man es auch
nicht lösen.
Was haben Sie denn wirklich getan? Noch immer gibt
es keine eigenständigen Kinderregelsätze. Warum auch?
Wer Kindern keine eigenständigen Rechte im Grundgesetz zugestehen will, der will auch ihren eigenständigen
Bedarf nicht absichern. Sie haben das Kindergeld um
sage und schreibe 10 Euro erhöht. Dies gleicht aber nicht
einmal annähernd den Wertverlust der letzten Jahre aus.
Zudem erreicht diese Erhöhung die armen Kinder überhaupt nicht; denn das Kindergeld wird auf Hartz IV angerechnet. Unser Antrag, wenigstens diese Erhöhung
von der Anrechnung auszunehmen, wurde vom ganzen
übrigen Haus abgelehnt. Obendrein haben Sie den Anspruch auf Kindergeld um zwei Jahre gekürzt. Volljährigen ALG-II-Beziehenden unter 25 haben Sie dann auch
noch das Recht auf eine eigene Wohnung genommen.
Aus dem Konjunkturpaket bekommt eine ganze Schulklasse Neunjähriger zusammen so viel Förderung wie
ein neun Jahre altes Auto. Das sind Ihre Prioritäten.
Dieser Bundesregierung kann ich kurz vor Ende dieser Legislaturperiode nur ein Armutszeugnis ausstellen.
Sie ist ein Armutsrisiko für Familien mit Kindern.
({4})
Ich bin mir sicher, dass Sie alle unsere Forderungen, die
Sie in unserem Entschließungsantrag finden, wie immer
mit Populismus, Wünsch-dir-was-Listen und Ähnlichem
abtun werden. Aber mit unseren Forderungen nach einer
spürbaren Erhöhung und Verbesserung des Kinderzuschlags, einem bedarfsbezogenen Kinderregelsatz im
Arbeitslosengeld II, der Einführung eines Mindestlohnes
und der deutlichen Beschleunigung des Ausbaus von Tagesbetreuungsplätzen für alle Kinder stehen wir in dieser
Gesellschaft nicht allein. Gewerkschaften, Kinderrechtsverbände und andere stehen an unserer Seite.
Ich sage: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit beim
Zuhören, aber nicht für die Arbeit gegen Kinderarmut.
({5})
Ich gebe das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Golze, Ihre Rede gerade hat deutlich gemacht, dass
Sie nicht verstanden haben, wo unsere Ansätze sind, um
Kinderarmut zu bekämpfen.
Kinderarmut hat etwas mit Familienarmut zu tun. Das
ist in Ihrer Rede überhaupt nicht vorgekommen. Kinderarmut hat etwas mit der finanziellen, emotionalen und
kulturellen Situation von Familien zu tun. Nur wenn wir
das erkennen, haben wir die Möglichkeit, Kinder aus der
Armutsfalle - da ist Ihre Sorge berechtigt - herauszuholen. Aber davon haben Sie überhaupt nicht gesprochen.
({0})
Das zeigt mir, dass Sie in dem Wünsch-dir-was-Programm, das Sie angekündigt haben, verharren.
Worin drückt sich aus, dass Sie, die Linken, als
Wünsch-dir-was-Trupp gesehen werden? Sie stellen
zwar ständig Forderungen - sie sind an der einen oder
anderen Stelle vielleicht gar nicht verkehrt -, bleiben
aber immer die Antwort schuldig, wie das Ganze finanziert werden soll. Eine Milliardenforderung nach der anderen aufzustellen, das können wir auch. Wir wollen
aber für eine Politik eintreten, die umgesetzt werden
kann - ({1})
- Sie können eine Zwischenfrage stellen; dann gehe ich
auf Sie ein. So lasse ich mich nicht darauf ein.
Ich rate Ihnen: Gehen Sie doch einmal die wirklichen
Ursachen an. Dann können wir gemeinsam etwas dagegen tun, dass Kinder in die Armutsfalle geraten. Wir sind
uns einig: Das wollen wir nicht. Wir wollen den Kindern, die in die Armutsfalle geraten sind, heraushelfen.
({2})
Dafür werden wir etwas tun, und dafür haben wir etwas
getan.
Wir, Union und auch Koalition, sind uns darüber einig, dass Kinderarmut Familienarmut ist, dass diese Armut aber nicht unbedingt materielle Armut ist, sondern
auch emotionale oder kulturelle, also Bildungsarmut
sein kann. Dreh- und Angelpunkt ist die Bildung. Darauf
wird meine Kollegin Noll gleich noch eingehen. Ich
werde mich mit dem Bereich der materiellen Armut beschäftigen. Angesichts der Kürze der Redezeit werde ich
mich auf eine spezielle Gruppe konzentrieren, die von
Armut stark betroffen ist.
Für die finanzielle Absicherung von Kindern ist unserer Meinung nach die finanzielle Absicherung der Familien wichtig. Nur wenn es den Familien gut geht, wenn
alle in einer Bedarfsgemeinschaft Lebenden eine ausreichende Absicherung haben, dann haben auch die Kinder
diese Absicherung und sind nicht von Kinderarmut bedroht. Deshalb geht Kinderarmut hauptsächlich auf die
Armut der Eltern zurück. Deren Armut müssen wir bekämpfen.
In diesem Zusammenhang ist das Stichwort Arbeitslosigkeit zu erwähnen: Die Senkung der Arbeitslosigkeit
ist unser Hauptanliegen. Ich will jetzt keine Belege für
das bringen, was unsere Regierungskoalition auf den
Weg gebracht hat.
({3})
Man kann allerdings eines sagen: Bis zum Eintreten der
von niemandem vorhergesagten Wirtschaftskrise haben
wir die Arbeitslosigkeit so deutlich gesenkt wie noch
nie.
({4})
Das heißt, 1,5 Millionen Menschen sind aus der Arbeitslosigkeit herausgekommen, Herr Wunderlich. Fakten
und Zahlen müssen auch Sie anerkennen. Es kam zu einem Plus von 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen.
({5})
Der beste Weg, Kinderarmut zu bekämpfen, ist also,
Eltern in Arbeit zu bringen, es ihnen zu ermöglichen,
selber für ihren Unterhalt Sorge zu tragen. Dafür zu sorgen, das ist unsere Reaktion auf Kinderarmut. Den ersten
Schritt auf diesem Weg sind wir gegangen. Ich gebe zu:
Durch die Wirtschaftskrise haben wir jetzt Probleme.
Aber auch diese Probleme werden wir angehen und lösen.
({6})
Von Kinderarmut besonders betroffen sind Familien
mit Migrationshintergrund, Mehrkinderfamilien und vor
allem die Alleinerziehenden. Frau Golze, es wäre schön,
wenn Sie zuhörten; sonst wissen Sie gleich wieder nicht,
was die Regierung getan hat, um mit diesem Problem
fertig zu werden. Wir haben einiges getan, um die Situation der Alleinerziehenden zu verbessern. Wir haben
dem Kinderzuschlag, der unter Rot-Grün eingeführt
worden ist, vom Ansinnen her zugestimmt. Bei seiner
Einführung haben wir gesagt: Der Kinderzuschlag ist zu
kompliziert; zu wenige kommen in den Genuss dieses
Zuschlags. Herr Spanier, aufgrund der Evaluierungsergebnisse haben wir bei der Reform des Kinderzuschlages die Alleinerziehenden in den Fokus gerückt. Wir haben dafür gesorgt, dass mehr Alleinerziehende in den
Genuss des Kinderzuschlags kommen.
Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, erkennen Sie, dass
sie für sich sprechen - was hier gesagt wird, ist keine Erfindung von Frau Fischbach, die es gern schönreden
möchte -: Die Familienkassen berichten, dass die Zahl
derjenigen, die den Kinderzuschlag beantragt haben und
deren Anträge bewilligt worden sind, im Dezember 2008
bei rund 31,9 Prozent lag; vorher waren es 21 Prozent.
Es ist also ein Anstieg zu erkennen. Der zweite Beleg ist,
dass auch die Zahl der Kinder, deren Eltern Leistungen
nach dem SGB II beziehen, im Vergleich zum Vorjahr
um 6,8 Prozent gesunken ist. Dies geht aus den Zahlen
der Bundesagentur für Arbeit hervor.
Frau Kollegin Fischbach, die Kollegin Golze möchte
gern eine Zwischenfrage stellen.
Die Kollegin Golze hat bereits im Ausschuss sehr
viele Zwischenfragen gestellt und hat gerade erst geredet. Ich würde daher meine Rede gern fortsetzen.
132 000 Kinder weniger sind im Leistungsbezug des
SGB II verzeichnet. Diese Zahl spricht für sich.
Erwerbslosigkeit der Eltern und ein geringes Einkommen sind Hauptursachen für Armut. Deshalb werden wir
die gute Familienpolitik, die unter Schwarz-Rot eingeleitet wurde, fortführen. Ich könnte jetzt noch die Erhöhung des Kindergeldes und die Einführung des Elterngelds nennen. Am Pult blinkt es allerdings schon
unaufhörlich. Deshalb möchte ich an dieser Stelle alle
bitten, sich mit den Ursachen und der Bekämpfung der
Ursachen zu beschäftigen und gemeinsam dafür zu sorgen, dass in unserem Land kein Kind von Armut bedroht
ist.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin
Golze das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Frau Fischbach,
Sie haben gerade anerkannt, dass ich eine sehr fleißige
Mitarbeiterin im Ausschuss bin. Ich möchte dennoch
gern auch meine Rechte im Plenum nutzen.
Ich wollte Ihnen eine Frage stellen und Ihnen damit
die Möglichkeit geben, mir etwas zu erklären. Ich werde
Ihnen meine Meinung nun aber im Voraus mitteilen: Sie
haben das Instrument des Kinderzuschlags als das bedeutende Mittel im Rahmen der Armutsbekämpfung
bei Alleinerziehenden gepriesen. Ist Ihnen denn bekannt - das wollte ich Sie fragen; ich glaube aber, es ist
Ihnen nicht bekannt -, dass der Kinderzuschlag zwar
von mehr Menschen in Anspruch genommen wird, er
aber nicht dazu führt, Armut zu verhindern?
Es wird sogar ganz bewusst mit verdeckter Armut gearbeitet. Warum? Weil es jetzt folgendes Wahlrecht gibt:
Entweder die Eltern beantragen Hartz-IV-Leistungen,
oder sie nehmen den Kinderzuschlag in Anspruch. Viele
nehmen lieber den Kinderzuschlag in Anspruch, als sich
den Repressalien der Argen auszusetzen. Das bedeutet
aber nicht, dass sie am Ende auch nur einen Cent mehr in
der Tasche haben. Viele haben mit dem Kinderzuschlag
sogar weniger, als wenn sie Hartz IV-Leistungen beziehen würden. Das ist keine Armutsbekämpfung.
({0})
Frau Kollegin Fischbach, bitte schön.
Frau Golze, ich bin keine Mitarbeiterin im Ausschuss,
sondern eine Abgeordnete. Sie sind auch eine Abgeordnete.
({0})
- Ja, aber eben nicht als Mitarbeiterin.
Ich bin erstaunt darüber - dies zeigt, dass es richtig
war, die Frage abzulehnen -, dass Sie sich hier hinstellen
und die Einführung des Wahlrechts, also die Wahlmöglichkeiten für Alleinerziehende, kritisieren. Sie kritisieren, dass man sich zwischen dem Kinderzuschlag und
dem ALG II entscheiden kann.
Wenn ich mich richtig erinnere - meine Gehirnzellen
funktionieren noch ganz gut -, war es Ihre Fraktion, die
sich in der Anhörung sehr deutlich dafür ausgesprochen
und die Frage gestellt hat, wieso es beim Kinderzuschlag
bisher keine Wahlmöglichkeit gibt. Herr Wunderlich hat
dies angeprangert und gesagt: Wir müssen die Wahlmöglichkeit sicherstellen. - Jetzt führen wir sie ein, und Sie
sagen, dass die Armen genau das nicht wollen. Sie sollten erst einmal Ihre Gedanken sortieren und sich überlegen, was Sie wollen. Das wäre sinnvoller, als ständig
hin- und herzuspringen.
Wir können belegen, dass ein Großteil der bewilligten
Anträge von Alleinerziehenden gestellt wurde, die vom
Kinderzuschlag Gebrauch machen. Das ist gut, und das
ist richtig. Dass es allein ausreicht, habe ich nicht gesagt.
Hätten Sie vorhin zugehört, hätten Sie verstanden, dass
dies nur ein Aspekt ist.
({1})
Für die FDP-Fraktion gebe ich der Kollegin Ina
Lenke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2,5 Millionen arme Kinder leben in Deutschland. Frau
Fischbach sagte bereits, dass Kinder aus Zuwandererfamilien und Kinder von Alleinerziehenden ganz besonders betroffen sind.
Jedes sechste Kind lebt in Armut. Das bestimmt natürlich auch den Tagesablauf dieser Kinder. Wenn ich
von Armut spreche, denke ich nicht nur an das Geld, das
fehlt, sondern - wir wissen alle, dass es das gibt - auch
an die gesellschaftliche Verwahrlosung. Sie drückt sich
zum Beispiel in zu wenig Aufmerksamkeit und zu wenig
Zuwendung für die Kinder aus.
Dass sich Armut wie ein roter Faden durch das Leben
vieler Kinder zieht, beweisen auch die Ergebnisse der
World-Vision-Kinderstudie. Es ist wirklich nicht zu fassen, dass im Vergleich zu wenig Kinder aus sozial benachteiligten Gruppen Gymnasien besuchen, dass
19 Prozent dieser Kinder eine Förderschule besuchen.
Wenn das wirklich stimmt, stimmt irgendetwas nicht in
unserem Staat. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie es
möglich ist, dass jemand neun oder zehn Jahre in die
Schule geht, aber noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss bekommt. Das ist zwar jetzt nicht unser Thema,
aber hier muss uns wirklich mehr einfallen, als das heute
nur zu beklagen.
Selbst die Quote derjenigen Kinder, die regelmäßige
Freizeitaktivitäten außerhalb des Elternhauses und außerhalb der Schule unternehmen - das ist für Kinder
ganz wichtig, um Neues aufzunehmen bzw. kennenzulernen -, beträgt bei benachteiligten Kindern nur 47 Prozent, im Durchschnitt aber 73 Prozent.
Auch der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte warnt vor den Folgen von Kinderarmut. Die Studien zeigen: Neben den erhöhten Gesundheitsrisiken als
Folge von Fehlernährung und Bewegungsmangel besteht
auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für psychosomatische und psychische Erkrankungen für diese Kinder.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, nicht die Kinder
sind arm, sondern die Familien, in die sie hineingeboren
wurden. Von daher ist es auch Aufgabe der Politik, die
wir hier in Berlin machen, den Zyklus aus vererbter Armut und manchmal auch aus Perspektivlosigkeit zu
durchbrechen. Es ist ja auch keine Chancengerechtigkeit
gegeben, wenn der soziale Status der Eltern über den
Bildungsweg von Kindern entscheidet. Hierdurch wird
nämlich das Leben bis weit in das Erwachsenenalter hinein geprägt.
Die FDP hat Vorschläge unterbreitet. Dem ersten Vorschlag können Sie, auch wenn er von der Opposition
kommt, sicherlich zustimmen. Wir sind uns ja einig: Bildung, Bildung, Bildung, das ist die soziale Antwort auf
diese drängende Frage des 21. Jahrhunderts. Kinder
brauchen, weil sie im Elternhaus manchmal nicht ausreichend Bildung erhalten, qualitativ hochwertige Kindertagesstätten, damit sie so früh wie möglich gefördert und
gebildet werden.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich es
empörend, dass die Große Koalition 2013 ein Betreuungsgeld einführen will,
({0})
und zwar für Eltern von Kleinkindern als Alternative
zum Besuch einer Krippe. Das ist der falsche Weg.
Wenn Sie, Frau Marks, jetzt sagen, Sie wollen es nicht,
dann kann ich Ihnen nur entgegnen: Es steht schwarz auf
weiß geschrieben.
({1})
Sie können nicht sagen, Sie hätten damit nichts zu tun.
Sie haben das gemeinsam mit der CDU/CSU beschlossen. Sie sind mitverantwortlich. Sie haben das unterschrieben.
({2})
Zweitens. In Deutschland werden im OECD-Vergleich verhältnismäßig hohe Finanzhilfen an Familien
gezahlt. Aber kommt das Geld auch da an, wo es gebraucht wird? Wir als FDP-Fraktion fordern seit fast vier
Jahren, seit Beginn dieser Legislaturperiode, alle 150 familienbezogenen Leistungen auf ihre Wirksamkeit und
Zielgenauigkeit zu überprüfen. Die Bundesregierung
denkt einfach nicht daran. Der Staatssekretär hat es abgelehnt. Er hat gesagt, wir könnten ja den entsprechenden Aktenberg an Gutachten und Informationen lesen.
Was soll das denn? Es gibt ein Ministerium mit vielen
Mitarbeitern, aber uns liegt bis heute keine Analyse vor.
Die einmalige Zahlung von 100 Euro pro Kind im Zuge
des Konjunkturpakets ist schließlich der größte Witz.
({3})
Drittens. Familien mit Kindern gehören steuerlich
entlastet. Durch Ihre Steuererhöhungen ziehen Sie den
Familien aber jährlich 1 400 Euro aus den Taschen. Statt
jetzt aber zum Beispiel die Mehrwertsteuer bei Windeln
von 19 Prozent auf 7 Prozent zu senken, haben Sie es in
dieser Legislaturperiode nur geschafft, die entsprechende Mehrwertsteuer für Skiliftumsätze zu senken.
Man darf gar nicht darüber nachdenken. Nach wie vor
müssen die Eltern für Windeln 19 Prozent Mehrwertsteuer zahlen. Das ist wirklich ein Witz; das muss man
auch in der Öffentlichkeit einmal sagen.
({4})
Ich komme zum Schluss, weil ich leider schon über
die Zeit geredet habe. Wir wollen den Schwerpunkt auf
frühkindliche Bildung legen. Ich glaube, das ebnet Alleinerziehenden auch einen Weg aus der Arbeitslosigkeit. Handeln statt reden, das muss die Devise sein. Die
FDP hat in ihrem Antrag deutlich gemacht, was wir für
richtig halten.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Wolfgang Spanier.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Und wenn es denn gewünscht wird: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
Ausschuss!
({0})
Wir debattieren heute über die Große Anfrage und einige
Anträge. Wir sprechen nicht über konkrete Entscheidungen oder eine konkrete Maßnahme.
({1})
Deswegen bietet diese Debatte noch einmal eine Gelegenheit, grundsätzlich etwas zu dem Thema zu sagen.
Frau Golze, bei Ihrer Rede musste ich mein ansonsten
überbordendes ostwestfälisches Temperament zügeln.
Diese Rede beinhaltete eine Reihe manchmal bösartiger
Unterstellungen und polemischer Zuspitzungen.
({2})
- Ich sage es in aller Ruhe. Ich schätze Sie als Mitarbeiterin im Ausschuss, bei allen Unterschieden und Differenzen.
({3})
Aber wenn Sie Ihre Rede später noch einmal nachlesen,
werden Sie das, was ich gerade gesagt habe, bestätigen
können.
Ich bin froh, dass wir heute nicht über Statistiken
streiten - das machen wir sonst ganz gerne, wenn es um
dieses Thema geht -, sondern dass es heute um die Sache geht. Es ist schon angesprochen worden, wer in erster Linie vom Armutsrisiko betroffen ist: Frauen, Alleinerziehende und Kinder. Deswegen ist die Feststellung,
dass Armut weiblich und jung ist, voll zutreffend.
Wir sind uns auch einig über die Ursachen: Arbeitslosigkeit, vor allen Dingen wenn sie langanhaltend ist, die
Situation als Alleinerziehende und auch Ereignisse im
Leben wie schwere Krankheiten, die einen aus der Bahn
werfen können.
Wenn wir über die Vermeidung und Bekämpfung von
Armut und - diese Ergänzung ist wichtig - sozialer Ausgrenzung sprechen, dann müssen wir natürlich bei den
Ursachen ansetzen.
({4})
Wir müssen sehen, welche Möglichkeiten und Grenzen
dieses Parlament hat. Nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die rasante Entwicklung im Niedriglohnsektor
hat sicherlich dazu beigetragen, dass mehr Menschen
vom Armutsrisiko betroffen sind. Deswegen ist die
Frage des Mindestlohns an dieser Stelle eine ganz entscheidende.
({5})
- Ich will nicht nur loben, sondern an der einen oder anderen Stelle durchaus auch selbstkritische Bemerkungen
machen. - Auch das rasante Anwachsen der Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse ist eine Ursache. Hier
müssen ebenfalls Korrekturen vorgenommen werden.
Wenn es um die finanziellen Leistungen geht, dann
sind die vorgelagerten sozialen Leistungen von ganz besonderer Bedeutung. Wir haben das Kindergeld erhöht.
Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es nicht
noch mehr sein sollte. Wir haben den Kinderzuschlag
verbessert. Das ist ein Fortschritt.
({6})
Aber wir haben den Kinderzuschlag nicht - deswegen
stehen in unseren Wahlprogrammen auch entsprechende
Formulierungen - so verbessern können, wie wir Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker uns das gewünscht haben; das sei eingeräumt. Außerdem haben wir das Wohngeld deutlich angehoben. Das heißt, wir haben bei den
vorgelagerten sozialen Leistungen eine ganze Menge getan.
Nicht erreicht worden ist allerdings etwas, was die
Bundesfamilienministerin, die nicht anwesend sein
kann, eigentlich zugesagt hatte, nämlich eine Prüfung
der Effektivität aller Familienleistungen durchzuführen
und eine Bilanz zu erstellen. Ich hoffe, dass der nächste
Bundestag doch noch einmal an das Thema Ehegattensplitting herangeht.
({7})
Wir sollten das Splitting nicht abschaffen, weil wir damit
auch Familien treffen würden. Aber die Lösung, die wir
jetzt haben, ist auf Dauer einfach nicht haltbar. Sie birgt
so viele Widersprüche, dass wir uns dieses Themas noch
einmal annehmen müssen. Dann hätten wir auch mehr
finanzielle Möglichkeiten, Leistungen, die Kindern und
Familien direkt zukommen, zu verbessern.
Zu den Regelsätzen. Wir unterscheiden bei den Kindern drei Gruppen. Für die 6- bis 13-Jährigen haben wir
die Regelsätze kräftig angehoben. Auch das Schulbedarfspaket sollte man in diesem Zusammenhang nicht
kleinreden.
({8})
Es stellt einen ganz entscheidenden Fortschritt dar, weil
bei der Ermittlung der Regelsätze Bildung nicht die
Rolle gespielt hat, die ihr eigentlich zukommt. Die Regelsätze sollten vom nächsten Bundestag noch einmal
überprüft und überdacht werden. Den Grundgedanken,
dabei bedarfsorientiert vorzugehen, halte ich persönlich
grundsätzlich für richtig. Man kann die Verbrauchsstichprobe auch so gestalten, dass eben nicht der alleinstehende Erwachsene der Maßstab ist, sondern Familien
mit Kindern. Das ist jetzt geschehen.
An dieser Stelle will ich noch anmerken: Das Bundessozialgericht - demnächst möglicherweise auch das
Bundesverfassungsgericht - hat sich gegen die Ableitung gewandt und ausdrücklich keine Aussage zur Höhe
gemacht.
({9})
Das ist eine Aufgabe für den nächsten Bundestag.
({10})
- Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe vier Jahre Erfahrung in der Opposition, sieben Jahre Erfahrung in der
herzlichen Koalition mit Ihnen und jetzt vier Jahre Erfahrung in der ganz besonders herzlichen Koalition mit
der Union. Sie als Fachpolitiker wissen selbst, dass in einer Koalition manches nicht durchsetzbar ist. Dieses
Spielchen sollten wir uns ersparen, Herr Kurth.
Es geht aber nicht nur um die materielle Bekämpfung
von Armut. Es geht auch - da gebe ich Frau Lenke absolut recht - um Bildung. Bildung ist tatsächlich der
Schlüssel, um Armut zu vermeiden und die Chance zu
bekommen, sich langfristig aus dieser Lage zu befreien.
Wir stellen bildlich gesehen Leitern auf, die es den Betroffenen ermöglichen, herauszuklettern. Wenn jemand
herunterrutschen sollte, dann bekommt er eine weitere
Chance; denn wir helfen ihm noch einmal auf die Leiter.
Das halte ich für ganz entscheidend. Auch an dieser
Stelle haben wir Fortschritte gemacht.
Frühkindliche Förderung ist ein ganz entscheidendes
Moment. Wir haben es geschafft, das Angebot an Betreuungsplätzen für die unter 3-Jährigen mit finanzieller
Beteiligung des Bundes deutlich auszubauen. Das ist angesichts der Zuständigkeiten nicht selbstverständlich.
({11})
Dass wir den Rechtsanspruch auf Betreuung durchgesetzt haben, ist ein ganz entscheidender Fortschritt. Das
wird zwar nicht von heute auf morgen, aber auf mittlere
Sicht eine spürbare Verbesserung bringen.
Wir haben auch die Chance, auf dem Gebiet der Integration voranzukommen. Darüber haben wir in der gesellschaftspolitischen Debatte erst sehr spät eine Verständigung erzielt. Auch da müssen wir entscheidende
Schritte vorankommen.
({12})
- Dieses kleine Zugeständnis mussten wir machen, um
das große Ziel zu erreichen. Wie meine Kolleginnen und
Kollegen bin auch ich absolut sicher, dass dieser Unsinn
nicht Realität wird. Das sage ich ganz offen.
({13})
Ich will zum Schluss - ich glaube, das ist wichtig noch einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Einkommen, Bildung und Gesundheit - über die Gesundheit
habe ich noch kein Wort verloren; man kann in neun Minuten nicht alles ansprechen - sind die zentralen Dimensionen, die Armut beeinflussen. Es ist ganz entscheidend, dass wir nicht eine dieser Dimensionen
herausgreifen und glauben, mit Fortschritten in diesem
Bereich das schwierige Problem der Armut lösen zu
können. Wir dürfen diese drei Dimensionen auch nicht
gegeneinander ausspielen. Manchmal gab es solche Ansätze: hier die materiellen Leistungen oder dort mehr
Geld in Infrastruktur. Das sollten wir auf jeden Fall vermeiden.
Wir brauchen in der Tat ein umfassendes Konzept, in
dem alle Dimensionen berücksichtigt werden. Ich gehöre zu denen, die immer misstrauisch werden, wenn
von großen und umfassenden Konzepten die Rede ist.
Von der Sache her ist das hier aber nötig. Wir Sozialdemokraten nennen das „Nationaler Aktionsplan“. Ich
denke - das konnte ich in allen Anträgen und auch im
Entschließungsantrag erkennen -, dass der Bundestag
über alle Unterschiede und Fraktionsgrenzen hinweg in
diese Richtung geht. Deswegen hoffe ich, dass nach der
Bundestagswahl das neu zusammengesetzte Parlament
im Jahr 2010, also im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, diese umfassende Strategie entwickelt. Das halte ich für sehr wichtig, damit alle Dimensionen - Einkommen, Bildung und
Gesundheit - berücksichtigt werden.
({14})
Nur dann haben wir die Chance, möglichst allen Kindern gleiche Lebenschancen zu geben; darum geht es.
Selbst ökonomisch ist das richtig; denn wir brauchen jedes Kind.
({15})
Ich füge hinzu - jeder hat ja seine eigene Biografie -:
Ganz besonders brauchen wir die benachteiligten Kinder.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich gebe das Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Spanier, Sie haben wirklich schöne Worte gefunden.
Wir reden heute aber leider nicht über Ihre Wünsche,
sondern wir diskutieren über die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Kinderarmut. Bei
diesem Thema ist die Bilanz nicht so schön, wie Ihre
Worte waren. Die Bilanz ist eigentlich sehr schlecht.
Denn in der Antwort der Bundesregierung wird deutlich,
dass es in Deutschland Kinderarmut gibt, dass Kinder
benachteiligt sind und dass sich die Kinderarmut verfestigt. Das ist die Bilanz, über die wir reden und die wir
ernst nehmen müssen.
Anstatt nach Lösungen zu suchen, Antworten zu geben und Ideen, wie es weitergehen kann, zu entwickeln,
verwenden Sie Ihre Energie darauf, die Lage zu beschönigen und die Zahlen schönzureden; um das festzustellen, braucht man nur die Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage zu lesen. Das kann es nicht
sein. So dürfen Sie mit diesem Thema nicht umgehen;
hier haben die Kolleginnen und Kollegen von der Linken
wirklich recht.
({0})
Es ist an der Zeit, Klartext zu reden. Jedes sechste
Kind in Deutschland lebt in Armut; das ist eine Katastrophe. Armut hat in Deutschland viele Gesichter. Armut
liegt nicht nur dann vor, wenn man wenig Geld hat. Es
geht auch um die Teilhabe, den Bildungshunger und darum, ob ein Kind mit knurrendem Magen im Unterricht
sitzen muss und ob es ein paar neue Sandalen bekommen
kann. Das sind die Fragen, die die Eltern von Kindern,
die von Armut betroffen sind, beschäftigen. Diese Fragen sind ganz akut.
({1})
Wir brauchen ein Umdenken. Ihr Klein-Klein bringt
uns nicht weiter. Übrigens hat auch das im Bundesfamilienministerium eingerichtete Kompetenzzentrum darauf
hingewiesen, dass ein Umdenken bzw. ein Systemumschwung notwendig ist, weil das jetzige Familienfinanzierungssystem ehelastig und steuerlastig ist. Es ist nicht
transfer-, sondern steuerlastig. Wenn wir für Gerechtigkeit sorgen wollen, müssen wir diese Steuerlastigkeit
überwinden. Wir müssen unseren Blick weg von der Definition der Ehe und hin zur Finanzierung des Lebens mit
Kindern richten.
({2})
Die Grünen schlagen vor, eine Kindergrundsicherung
einzuführen. Dazu haben wir einen Parteitagsbeschluss
gefasst. Wir wollen, dass für jedes Kind 330 Euro pro
Monat zur Verfügung gestellt werden.
({3})
Das ist unser Vorschlag, um das Zusammenleben mit
Kindern zu finanzieren und die Armut zu bekämpfen.
Wir brauchen allerdings nicht nur eine umfangreiche
Unterstützung, sondern auch die notwendige Infrastruktur.
Jetzt komme ich auf Ihre Lösungsvorschläge zu sprechen. Sie sagen, es gebe den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung und den Kinderzuschlag. Sie sind wirklich
nicht besonders ambitioniert. Der Rechtsanspruch auf
Kinderbetreuung, den Sie festgeschrieben haben, gilt
erst irgendwann, erst ab dem Jahre 2013.
({4})
Bis dahin - auch das kommt in Ihren Antworten auf die
Große Anfrage sehr gut zum Ausdruck - passiert nichts.
Was unternehmen Sie dagegen, dass wir auf einen Erziehermangel zusteuern? Was unternehmen Sie dagegen,
dass sich die Kommunen in einer sehr schwierigen finanziellen Situation befinden? Was unternehmen Sie in
Anbetracht der Tatsache, dass die Kommunen ihre Aufgabe ernst nehmen, und zwar nicht erst im Jahre 2013,
sondern schon heute? Nichts. In Ihren Antworten heißt
es nur: Dieses Problem kennen wir nicht. - Das ist beschämend.
({5})
Um die Kinderarmut zu bekämpfen, brauchen wir
eine Existenzsicherung für Kinder. Außerdem benötigen
wir die erforderliche Infrastruktur. Das muss Hand in
Hand gehen.
({6})
Wir brauchen nicht leere Versprechen, nicht schöne
Worte und Wunschträume; das können wir uns nicht
leisten; das ist zu wenig. Wir müssen handeln.
Frau Fischbach, als Sie sagten, die Große Koalition
habe sehr viel für Familien getan, habe ich mich gefragt:
Was haben Sie denn für Familien getan? Mehrwertsteuererhöhung und Abwrackprämie, ist das Ihre Familienpolitik?
({7})
Das kann es doch wohl nicht sein.
Wir brauchen Politiker, die Mut zum Handeln haben
und nicht immer das, was da ist, schönreden. Denn
Schönreden heißt: weggucken und ignorieren. Genau
das können wir uns nicht leisten.
({8})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegin Golze, ich wende mich zunächst einmal Ihnen zu, weil Sie die erste Rednerin zu
diesem Thema waren. Wenn Sie eben Frau Fischbach
und Herrn Spanier aufmerksam zugehört haben und
nicht, wie jetzt gerade, geschrieben haben,
({0})
dann müssen Sie zugeben, dass die Bilanz, die die Bundesregierung vorgelegt hat, eine wirklich gute ist. Ich
werde gleich noch zu den einzelnen Punkten kommen.
Was ich ein bisschen schade finde, weil ich Kollegin
Deligöz aus der Arbeit in der Kinderkommission auch
sehr schätze, ist Folgendes: Einig sind wir darin, dass
Kinderarmut viele Gesichter hat und dass die materielle
Armut die ist, die letztlich für uns alle am sichtbarsten
ist. Aber ich habe immer dann ein Problem, wenn wir
Kinderarmut allein auf finanzielle Armut reduzieren.
Das reicht meiner Meinung nach nicht aus.
({1})
- Moment! Die ganze Diskussion lief im Moment in die
Richtung. Das finde ich sehr schade.
Frau Fischbach und Herr Spanier haben genau dargelegt, was wir erreicht haben: Wir haben eine Kindergelderhöhung durchgesetzt, wir haben die Regelung zum
Kinderzuschlag erweitert, ich nenne weiter das Wohngeld und das Elterngeld. Wir haben also wirklich Leistungen für Familien auf den Weg gebracht und damit die
Einkommensarmut von Eltern reduziert. Denn wir haben
festgestellt: Kinderarmut ist Elternarmut.
Wenn wir uns die Fakten ansehen - das ist ja auch in
der Antwort deutlich geworden - und den Vergleich zu
anderen europäischen Ländern ziehen, dann erkennen
wir: Wir stehen nicht schlecht da. Wir haben in Deutschland mit das niedrigste Armutsrisiko von Kindern, und
wir liegen weit unter dem EU-Durchschnitt. Das sind
Fakten.
({2})
Trotzdem möchte ich über Kinderarmut sprechen.
Denn Kinderarmut ist für mich nicht nur eine reine Geldfrage. Es geht um Chancen. Deswegen definiere ich Armut von Kindern etwas anders. Wann ist ein Kind arm? Für mich ist ein Kind dann arm, wenn es einsam aufwächst - wir sprechen von sozialer Armut -, für mich ist
ein Kind arm, wenn es vernachlässigt und überfordert
wird - davon hatten wir im letzten Jahr viele traurige
Fälle -, und es ist arm, wenn es zu Hause keine Anregung bekommt. Da müssen wir dringend handeln.
Ich möchte auch mit einem Vorurteil aufräumen: Es
gibt wirklich viele Familien, die ein begrenztes Budget
haben, aber sie geben ihr Bestes und ihren Kindern die
beste Förderung, die möglich ist. Die Kinder kommen
gut klar und werden entsprechend großgezogen. Die
Kinder fühlen sich wohl, weil sich die Eltern kümmern.
Wir sollten über soziale Armut sprechen. Es gibt viel
zu viele Kinder, die darunter leiden. Sie leiden nicht unter Geldmangel, sie leiden unter zu wenig Zuwendung
und Aufmerksamkeit, und das ist nicht unbedingt eine
Frage des Geldes.
({3})
Wie können wir diesen Mangel tatsächlich beheben?
Wie können wir es schaffen, dass sich diese Eltern wieder mehr kümmern? Wie können wir es schaffen, dass
bei ihnen die Gleichgültigkeit gegenüber ihren eigenen
Kindern abgebaut wird?
Es wird immer wieder gesagt - das haben wir uns bei
der Arche in Berlin selber angeschaut -:
({4})
Die Eltern haben oftmals die Fähigkeit verloren, ihren
Alltag zu bewältigen. Viele Kinder gehen morgens ohne
Frühstück los; viele Kinder werden nicht betreut. Aber
sie müssen einmal sehen, welche Ausstattung die Kinder
haben: ein Handy haben sie. Einen Fernseher haben sie;
stundenlang werden sie davor „geparkt“, und wenig
Wissenssendungen werden eingeschaltet. Wir müssen
also mehr zum Abbau von Erziehungsarmut tun.
({5})
- Nein, das ist nicht das Billigste. - Ich möchte einfach
wieder, dass wir dazu übergehen, dass Eltern ihre Vorbildfunktion tatsächlich wahrnehmen. Denn wenn ihnen
der Antrieb fehlt, wenn sie nicht zu motivieren sind, ist
die Gefahr groß, dass die emotionale Armut und die
mangelnde Bildung weitervererbt werden. Unsere Aufgabe ist es, sie mit frühen Hilfen zu unterstützen. Mit
dem KiföG haben wir die richtigen Weichen gestellt, um
Kindern zu helfen.
Ich wäre gern noch auf einzelne Gruppen, wie Kinder
von Alleinerziehenden, Kinder von Kinderreichen, eingegangen. Ich kann aber nur noch einen Appell starten. Hier sitzen auch viele Mitglieder der Kinderkommission. Wir hatten „MoKi“ zu einer Anhörung dort. Ihr
könnt euch daran erinnern: „MoKi“ ist ein Präventionsprojekt bei mir im Wahlkreis, das den Deutschen Präventionspreis bekommen hat. Das hat gezeigt, was möglich
ist, wie man mit wirklich wenig finanziellen Mitteln
Kindern Chancen geben kann. Wir alle waren davon angetan - überparteilich, kann ich sagen -, und ich fände es
schön, wenn man diese Form der Vernetzung, diese institutionenübergreifende Zusammenarbeit ausbaute. So bekäme jedes Kind eine Chance. Es ist nicht nur eine Frage
des Geldbeutels.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13001.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ab-
gelehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/12201. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9433
mit dem Titel „Existenz von Kindern sichern - Familien
stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion Die Linke,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/
CSU bei Gegenstimmen der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/9028 mit dem Titel „Kein Kind zurück-
lassen - Programm gegen Kinderarmut auf den Weg
bringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge-
genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
tung der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10257 mit
dem Titel „Bessere Unterstützung für Alleinerziehende“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
tung der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b so-
wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
24 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Einlagensicherungs- und
Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer
Gesetze
- Drucksachen 16/12255, 16/12599 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 16/13024, 16/13038 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach
Frank Schäffler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler,
Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann Otto
Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Reform der Anlegerentschädigung in Deutschland
- Drucksachen 16/11458, 16/13024, 16/13038 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach
Frank Schäffler
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui,
Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Sozialisierung der Verluste verhindern - Sicherungsfonds für privaten Finanzsektor
schaffen
- Drucksachen 16/8888, 16/10610 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger
Dr. Axel Troost
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbesserung des Verbraucherschutzes beim
Erwerb von Kapitalanlagen
- Drucksachen 16/11185, 16/12354 Berichterstattung:
Abgeordnete Ortwin Runde
Dr. Barbara Höll
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg-Otto Spiller, dem ich an dieser Stelle sehr herzlich
zu seinem heutigen Geburtstag gratuliere.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! An den Finanzmärkten kehrt allmählich wieder
mehr Ruhe ein. Die Nervosität lässt ein Stück weit nach,
allerdings weniger bei den Profis als beim breiten Publikum. Dass die Bevölkerung in Deutschland beim Umgang mit dieser Finanzkrise so viel Besonnenheit zeigt
- eigentlich sogar von Anfang an gezeigt hat -, liegt zu
einem guten Teil daran, dass wir in Deutschland seit langem ein sehr gutes System der Einlagensicherung bei
Banken und Sparkassen haben.
Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden wollen, wird in diesem Bereich noch einige Verbesserungen
bringen. Aber wir haben schon heute - das will ich kurz
darlegen - ein richtig gutes System der Einlagensicherung. Die Kunden von Sparkassen, aber auch die Kunden von Genossenschaftsbanken, also von Volks- und
Raiffeisenbanken, sind ohne Einschränkung dadurch geschützt, dass es innerhalb dieser Institutsgruppen einen
Haftungsverbund gibt. Jede Sparkasse kann sich darauf
verlassen, dass im Notfall, falls sie in Schwierigkeiten
sein sollte, die übrigen Sparkassen zu ihr stehen. Das ist
eine sehr solide Grundlage. Bei den Genossenschaftsbanken funktioniert der Haftungsverbund ganz ähnlich.
({0})
Die Banken, die dem privaten Sektor zuzurechnen
sind, gehören ganz überwiegend dem Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken an.
Dort sind alle Einlagen von Nichtbanken, also nicht nur
von Privatpersonen, sondern auch von Unternehmen und
Gebietskörperschaften, im Individualfall bis zur Höhe
von 30 Prozent des haftenden Eigenkapitals der Bank
abgesichert. Das ist eine starke Absicherung.
In dem extremen Fall, dass mehrere große Banken in
Schwierigkeiten geraten, wäre natürlich - das ist immer
so bei Sicherungseinrichtungen - die Frage zu stellen:
Reichen die Mittel aus? Deswegen war es, denke ich,
eine kluge Entscheidung, dass die Bundeskanzlerin und
der Bundesfinanzminister im Herbst vorigen Jahres gesagt haben: Es gibt eine Patronatserklärung. Für den
Fall, dass eine Einlagensicherung überfordert sein sollte,
steht der Staat den Einlegern schützend bei.
Das bisherige System von Anlegerschutz und Einlagensicherung - das muss man freimütig anerkennen hatte an einer Stelle Lücken. Das betrifft die Entschädigungseinrichtung für den Bereich von Wertpapierhandelsunternehmen. Es hat einen spektakulären Fall gegeben,
der sehr deutlich gemacht hat, wie viele Unzulänglichkeiten in dem bisherigen System der Absicherung bestehen. Das Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetz wurde Anfang 1998 verabschiedet. Damals
war nicht erkennbar, dass es eine Reihe von Schwierigkeiten geben könnte. Zum Glück muss man sagen: Es ist
erst durch diesen einen spektakulären Fall - Stichwort
„Phoenix“ - virulent geworden.
Was wir jetzt in dem Gesetzentwurf vorsehen, ist die
Umsetzung einer EU-Richtlinie im Bereich der Einlagensicherung; das betrifft Einlagen bei Banken und
Sparkassen. Wir gehen über das, was bisher schon gesetzlich vorgeschrieben ist, ein Stück hinaus. Für die
meisten Kunden von Banken in Deutschland wird sich
dadurch faktisch nichts ändern, weil das System bisher
schon voll ausreichend war.
Der Fortschritt beim Lückenschluss im Bereich der
Entschädigungseinrichtung für Wertpapierhandelsunternehmen besteht meiner Ansicht nach nicht in erster Linie
darin - obwohl das auch wichtig ist -, dass die Regelung
von Beiträgen aus diesem Geschäftsbereich sehr viel
deutlicher und klarer wird als zuvor. Der eigentliche
Knackpunkt scheint mir zu sein, dass eindeutig vorgeschrieben wird, dass sich auch solche Unternehmen, die
dem Wertpapierhandelssektor zuzurechnen sind und dieser Entschädigungseinrichtung angehören, Prüfungen
gefallen lassen müssen, nicht nur durch die BaFin, sondern auch im Auftrage der Entschädigungseinrichtung.
Dort muss rechtzeitig der Finger in die Wunde gelegt
werden, wenn es zu Mängeln kommt. Dort wird intensiver, als es bisher geschehen ist, geprüft.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass diese Regelung, die
wir jetzt verabschieden wollen, großen Anklang finden
wird. Wie gesagt: Die Anhebung der Garantiesumme auf
50 000 Euro pro Kunde bedeutet für die meisten Kunden
einer Sparkasse, einer Genossenschaftsbank oder einer
privaten Bank, die dem Einlagensicherungssystem des
Bundesverbandes deutscher Banken angehört, faktisch
keine Änderung. Das war schon vorher so.
Das Ganze macht jedoch noch einmal deutlich, dass
sich der eine oder andere hat verlocken lassen, wenn er
nächtens vor seinem PC gesessen und geschaut hat, ob
es für Tagesgeld vielleicht irgendwo anders auf der Welt
ein bisschen mehr Zinsen gibt. Es gibt da eine schöne Insel im Nordatlantik, bekannt durch heißes Wasser. Wenn
für Tagesgeld Zinssätze angeboten werden, wie sie eigentlich nur für eine zehnjährige Anlage zu erzielen sind,
sollte man auch die Unterzeile zur Kenntnis nehmen: Zuständig ist der Einlagensicherungsfonds in Reykjavik. Das haben manche offenbar nicht so ernst genommen.
Ich glaube, es wäre ein gutes Ergebnis dieser Debatte,
wenn sich das Bewusstsein ausbreitete, dass es sich
lohnt, seine Ersparnisse dort anzulegen, wo es ein gutes
System der Einlagensicherung gibt, beispielsweise in der
Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Spiller, ich finde, Sie haben am eigentlichen Thema vorbeigeredet.
({0})
Bei diesem Gesetz liegen Anspruch und Wirklichkeit
weit auseinander. Es ist unbestritten, dass die Einlagensicherung im Bankenbereich in Deutschland weit über das
hinausgeht, was Sie hier aufgrund europäischer Vorgaben ins Gesetz schreiben. In einem anderen Bereich, bei
der Anlegerentschädigung - ich erinnere an das, was im
Fall Phoenix geschehen ist -, werden Sie die Probleme
mit diesem Gesetz sogar noch verschärfen. Das ist das
eigentlich Erschreckende: Im Kern haben Sie aus dem
Fall Phoenix nichts gelernt.
Sie müssen sich grundsätzlich mit der Frage auseinandersetzen: Was machen wir im Falle Phoenix? Sie
haben seit der Insolvenz im Jahre 2005 vier Jahre Zeit
gehabt, den Fall Phoenix zu lösen und rechtliche Änderungen vorzunehmen. Sie haben aber seitdem nichts gemacht. Was Sie jetzt ins Gesetz schreiben, hat überhaupt
nichts mit einer Problemlösung zu tun. Sie müssen sich
darüber klar werden, dass der Staat an dieser Stelle unendlich versagt hat. Die 30 000 geschädigten Anleger
warten mindestens seit 2005 auf eine Entschädigung. Es
ist so klar wie Kloßbrühe, dass der Staat hier mithaften
muss.
Im Jahr 2002 hat das Bundesverwaltungsgericht Phoenix höchstrichterlich gezwungen, seine Konten zu trennen. Phoenix hatte das gesamte Geld der Anleger auf ein
Konto gepackt. Dadurch wurde ein Schneeballsystem in
Gang gesetzt. Die BaFin hat bis zum Insolvenzfall 2005
dieses höchstrichterliche Urteil nicht umgesetzt. Am
Ende sollen jetzt rund 600 Kapitalanlagegesellschaften
und Vermögensverwalter für dieses Missmanagement
der Bankenaufsicht aufkommen. Ich halte es für recht
und billig, dass die Vertreter dieser Gesellschaften auf
die Straße gehen und sagen: Das kann doch wohl so
nicht sein; hier muss auch der Staat seiner Verantwortung gerecht werden.
({1})
Ich will mit einem Zitat aus dem Jahre 2007 belegen,
dass die Bundesregierung in diesem Bereich bisher nur
auf Zeit gespielt hat. Frau Hendricks, die damalige
Staatssekretärin, hatte gegenüber dem Finanzausschuss
erklärt:
Die Bundesregierung unterstützt die EdW
- die Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen bei ihren Bemühungen um eine rechtzeitige und
umfassende Entschädigung der Anleger im Fall
Phoenix.
Diese Aussage stammt vom April 2007. Nach zwei Jahren ist man gerade einmal so weit, dass von
30 000 geschädigten Anlegern 312 entschädigt werden
sollen. Ausgezahlt worden ist die Entschädigung übrigens noch nicht. Da muss man schon fragen, ob Sie Ihrer
Verantwortung für den Finanzplatz Deutschland gerecht
werden.
Es treibt das Ganze auf die Spitze, wenn die Finanzbehörden der Länder die Anleger jetzt auch noch auffordern, die Scheingewinne, die sie in der betreffenden Zeit
erwirtschaftet haben - erwirtschaftet haben sollen, muss
man sagen; faktisch sind die Gewinne ja nicht realisiert
worden -, zu versteuern. Es ist notwendig, dass der Bundesfinanzminister hier endlich seiner Verantwortung gerecht wird.
({2})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben Sie die
Anlegerentschädigungsrichtlinie in Deutschland nicht
umgesetzt und keine Anlegerentschädigungseinrichtung
geschaffen, die nachhaltig ist. Das will ich Ihnen mit
Zahlen belegen: Die EdW - Entschädigungseinrichtung
der Wertpapierhandelsunternehmen - hat laufende Einnahmen von 3 Millionen Euro, bei Verwaltungskosten
von 2,4 Millionen Euro. Nun soll die EdW einen Entschädigungsfall in der Größenordnung von 200 Millionen Euro bewältigen. Wie viele Jahrhunderte soll die
Entschädigung der 30 000 Anleger dauern?
Sie reden immer von Anlegerschutz. Sie sollten endlich handeln und vor allem dieses konkrete Problem lösen.
Vielen Dank.
({3})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter
Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Wort „Vertrauen“ ist wohl der Begriff, der in den
letzten beiden Jahren am häufigsten gebraucht wurde.
Vor allen Dingen ging es um fehlendes Vertrauen der
Banken untereinander und fehlendes Vertrauen zwischen
Bürger und Bank.
Im Herbst letzten Jahres konnten wir auf Bildern aus
England sehen, wie die Leute in Schlangen vor den Banken standen und ihr Geld abheben wollten. Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister haben damals
eine Erklärung abgegeben, dass die deutschen Einlagen
sicher sind. Wir haben über die Einlagensicherung, die ja
ein aktuelles Thema ist, mehrere Debatten geführt. Der
Finanzwissenschaftler Professor Gerke hat bei diesen
Gesprächen deutlich gemacht, dass das Krisenmanagement der Bundesregierung gerade in diesem Fall besonders hohe Anerkennung verdient. Dem möchte ich mich
gerne anschließen.
({0})
Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die
Neuordnung der Einlagensicherung in Deutschland. Was
sind Einlagen? Einlagen sind Guthaben, Festgelder,
Spareinlagen bei Banken. Diese sind bisher bis zu einer
Summe von 20 000 Euro gesichert. Diese Summe werden wir jetzt mit der Umsetzung einer europäischen
Richtlinie auf 50 000 Euro für jeden Kunden anpassen.
Wir haben darüber hinaus die Absicht, diesen Betrag bis
Ende nächsten Jahres auf 100 000 Euro zu erhöhen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist die Aufgabe
des Deutschen Bundestages, denjenigen, die ihr Geld sicher anlegen wollen, deutlich zu machen, dass es auch
gesichert ist. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass nicht nur
Privateinlagen gesichert sind, sondern auch die Einlagen
kleiner und mittlerer Unternehmen. Mit dieser Position
hat sich Deutschland auch in Europa durchsetzen können. Ich denke, damit haben wir für unseren Mittelstand,
für die kleinen und mittleren Betriebe in unserem Lande
etwas Gutes getan.
({1})
Das zweite große Thema, um das es in diesem Gesetzentwurf geht, ist die Entschädigung von Anlegern.
Wir haben in Deutschland, wie Herr Kollege Spiller gesagt hat, ein hervorragendes Sicherungssystem. Sie kennen die drei Säulen: Raiffeisenbanken, Sparkassen und
andere öffentlich-rechtliche Banken, private Banken.
Bei den Raiffeisen- und Volksbanken und bei den Sparkassen gibt es eine eigene Institutssicherung. Bei den anderen Banken gibt es einen Einlagensicherungsfonds,
durch den mit bis zu 30 Prozent des Eigenkapitals der
betroffenen Bank für jeden einzelnen Kunden gehaftet
wird.
Im Zusammenhang mit der Einlagensicherung von
Wertpapierhandelsunternehmen begleitet uns aber natürlich auch der Fall Phoenix. Hier sind 30 000 Anleger, die
jeweils im Durchschnitt 20 000 Euro angelegt haben, be24392
troffen. Insgesamt wird ein Schaden von voraussichtlich
200 Millionen Euro entstehen. Herr Schäffler, ich
stimme Ihnen zu: Hier haben die Wirtschaftsprüfer, die
Banken, die Aufsichtsräte und die Aufsichtsbehörde in
der Tat versagt.
Es hat genügend Vorschläge dafür gegeben, die Neuordnung der Anlegerentschädigung in Deutschland in
dieser Phase von der Neuordnung der Einlagensicherung
zu trennen. In den Fachgesprächen und Anhörungen hat
sich aber ergeben, dass wir das nicht voneinander trennen dürfen, sondern jetzt Regelungen dafür finden müssen, die Einlagensicherung und die Anlegerentschädigung in Deutschland deutlich zu verbessern.
({2})
Die Frage war, ob wir auf Regelungen seitens der Europäischen Union warten sollen. Dort wird dieses Thema
natürlich nach wie vor diskutiert. Es gibt Konsultationsprozesse, und es wird bald auch wieder eine neue Vorlage geben. Seit 1998 sind neben dem Phoenix-Fall
- Phoenix war das größte Unternehmen in der Einlagensicherung - etwa 19 weitere Schäden aufgetreten.
Das Wichtigste bei diesem Gesetzentwurf ist meines
Erachtens, dass wir jetzt Vorgaben für die Prüfung eines
jeden einzelnen Unternehmens machen und dass wir auf
die Erfahrung und die Kenntnis der Bundesbank zurückgreifen können. Die Bundesbank wird in Zukunft jedes
einzelne Unternehmen prüfen. Meines Erachtens ist der
Hinweis der Bundesbank, dass sie die großen und systemrelevanten Unternehmen mit hohen Erträge, aber
möglicherweise auch großen Schadenspotenzialen prüfen will, besonders wichtig. Sie will die kleinen Unternehmen nicht mit Bürokratie und Kosten, die höher sind
als deren Erträgen, überziehen. Ich denke, das ist sehr
wichtig.
Ein weiterer Punkt, der in diesem Gesetzentwurf einen großen Raum einnimmt, ist, dass in Zukunft risikoorientierte Beiträge gezahlt werden und dass auch eine
Regelung für Sonderbeiträge gefunden worden ist.
Wir müssen daran denken: Jedes einzelne Mitgliedsunternehmen bei der EdW, der Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen, muss wissen,
was auf das einzelne Unternehmen zukommt. Von den
790 Mitgliedsunternehmen sind 600 Kleinstbetriebe.
Dies sind zum Beispiel Vermögensverwalter und Portfolioverwalter und keine großen KAGs, also Kapitalanlagegesellschaften. Gerade für die Kleinen ist es wichtig, zu wissen, was auf sie zukommt.
({3})
Ein wichtiges Thema in diesem Gesetzentwurf - das
hat uns alle bewegt - ist die Struktur der Mitgliedsunternehmen; Herr Schäffler, Sie haben auf das Thema hingewiesen. Wenn von 790 Unternehmen 600 kleine Unternehmen sind, dann stellt sich die Frage, ob es richtig sein
kann, dass diese 600 kleinen Unternehmen für die großen Schäden der wenigen großen Unternehmen haften
müssen. Es ist insbesondere wichtig, zu wissen, dass
diese kleinen Unternehmen normalerweise im Rahmen
einer Vermögensschadenhaftpflicht- oder einer Vertrauensschadenhaftpflichtversicherung haften können; denn
diese würde genügen, um mögliche Schäden abzudecken. Ich glaube, dieses Thema wird uns auch in Zukunft
bewegen. Wir müssen aber natürlich auch die europäische Ebene betrachten. Die Struktur der Entschädigungseinrichtungen ist auch in den anderen Ländern nicht anders als in Deutschland. Ich glaube, wir gehen einen
Schritt nach vorne, wenn für die kleinen Unternehmen
eine Versicherungslösung angeboten wird, sodass sie nur
geringe Beiträge in diese Entschädigungseinrichtung
einzahlen müssen.
Die Frage ist natürlich, ob die Diskussion über die
Einlagensicherung und die Entschädigung in Deutschland mit diesem Gesetzentwurf zu Ende ist. Ich sage
deutlich, nein. Das Thema Phoenix wird uns selbstverständlich weiterhin begleiten. Dabei geht es aber natürlich auch um die Belastbarkeit einer Entschädigungseinrichtung: Wenn pro Jahr Beiträge in Höhe von
3 Millionen Euro gezahlt werden, mit denen ein Schaden
von 200 Millionen Euro gedeckt werden soll, dann ist
das ein krasses Missverhältnis. Ich denke, auch in den
Fachgesprächen hat sich gezeigt, dass die Entschädigungseinrichtung nicht jederzeit für solche Großereignisse haften kann - das gilt auch für andere Risiken, die
wir derzeit erleben -, sondern dass dieser Fall getrennt
betrachtet werden muss und dass eine Entschädigungseinrichtung in erster Linie für kleine und mittlere Unternehmen vorgesehen ist, dass also Kapital zur Verfügung
gestellt wird, wenn kleine und mittlere Unternehmen in
die Insolvenz gehen.
Ich möchte ein Fazit zu dem Gesetzentwurf ziehen.
Ich denke, dass ein solches Gesetz in der jetzigen Phase
sehr wichtig ist; denn es geht um die Sicherheit von Anlagen in Deutschland. Die Bundesbürger wollen wissen,
was mit ihrem Geld passiert, wenn sie es auf die Bank
bringen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass als
sicher geltende Einlagen wie Termineinlagen, Spareinlagen und Sparbriefe tatsächlich ausreichend gesichert
sind.
({4})
Aber dort, wo es große Risiken gibt, müssen wir in Zukunft auch auf Prävention setzen. Es muss geprüft werden, wo mögliche Risiken liegen. Das ist im Gesetzentwurf vorgesehen. Darin liegt seine Stärke.
({5})
Letztendlich hängt der Finanzplatz Deutschland davon ab, dass die Anleger Vertrauen in ihn haben. Es
kommt vor allem auf ein funktionierendes Finanz- und
Bankensystem an. Ich glaube, mit dem Gesetzentwurf
sind wir diesem Ziel ein Stück nähergekommen.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke, hat
seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
Deswegen rufe ich den Kollegen Dr. Gerhard Schick,
Bündnis 90/Die Grünen, auf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Gesetzentwurf zu
betrachten. Die eine ist, sich zu fragen, ob das, was darin
formuliert ist, gut ist. Ein Blick in den Gesetzentwurf
zeigt, dass die Umsetzung einer EU-Richtlinie vorgesehen ist, wozu wir verpflichtet sind, und dass einige technische Fragen richtig gelöst werden. Es wird eine
Kreditaufnahmeregelung geschaffen; die Überwachungspflichten werden verbessert. Insofern könnten wir
meinen, es sei alles wunderbar.
Es gibt aber noch eine andere Perspektive, die, glaube
ich, wichtiger ist. Dabei geht es um die Frage, ob es mit
dem Gesetzentwurf gelingt, auf Fehler, die in der Realität zu erkennen sind, richtig zu reagieren.
({0})
An dieser Stelle kommen wir leider zu einem ganz
anderen Fazit. In dem Themenbereich der Anlegerentschädigung bzw. der Einlagensicherung, um den es heute
geht, hatten wir es mit drei großen Problemfällen zu tun.
Einer ist schon angesprochen worden: Das ist der Fall
Phoenix, der ziemlich lamentabel ist. Vier Jahre danach
ist zwar ein Gutachten in Auftrag gegeben und ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht worden, aber die zentralen Probleme, die im Zusammenhang mit dem Fall
Phoenix offengelegt wurden, der Zehntausende betroffen
hat, sind nicht gelöst worden. Denn nach wie vor ist eine
Entschädigungseinrichtung für viel zu viele unterschiedliche Unternehmen zuständig, und die Überforderung
der EdW, die bei Phoenix zutage kam, würde sich bei einem vergleichbaren Fall in der Zukunft erneut zeigen.
({1})
Wir müssen also konstatieren, dass es der Politik
nicht gelungen ist, vier Jahre nach dem Entschädigungsfall Phoenix eine wirkliche Antwort auf diese Problematik zu geben. Das Gutachten hat einige sinnvolle Vorschläge enthalten. Wie aber einer der Gutachter in seiner
Stellungnahme ganz nüchtern festgestellt hat, wurden
zentrale Empfehlungen zur Strukturänderung nicht im
Gesetzentwurf aufgenommen. Warum lassen wir denn
ein Gutachten erstellen, wenn wir die zentralen Vorschläge nicht aufgreifen?
({2})
Der zweite Fall ist der Fall Lehman Brothers. Als die
große amerikanische Bank Lehman Brothers pleiteging,
mussten wir mit ansehen, dass auch ihre kleine deutsche
1) Anlage 3
Tochter pleiteging. Kaum war das der Fall, zeigte sich,
dass die Einlagensicherungseinrichtung der deutschen
Banken nicht in der Lage war, das zu stemmen. Die
deutsche Tochter von Lehman Brothers war kein riesiges
Institut. Aber bereits in dieser Situation war eine Sonderlösung über eine Anleihe im Rahmen des Finanzmarktstabilisierungsfonds nötig, um das aufzufangen. Das ist
in Deutschland nicht groß diskutiert worden, aber es
zeigt, dass das System auch in diesem Fall nicht das geleistet hat, was wir versprochen haben. Ich meine, darauf
müsste man reagieren. Das ist aber bei diesem Gesetzentwurf nicht der Fall.
({3})
Das dritte Beispiel ist Kaupthing. Herr Spiller, Sie haben so schön gesagt, die Leute hätten das Kleingedruckte lesen müssen. Das ist richtig. Man muss schon
wissen, dass man es mit Reykjavik zu tun hat. Es stellt
sich aber die Frage, warum Betroffene in anderen Ländern nach 14 Tagen oder 3 Wochen eine Entschädigung
aus der Einlagensicherung bekommen, während das in
Deutschland nach Monaten noch nicht geschehen ist; es
gibt ein ewiges Hin und Her zwischen den Behörden. Ich
meine, die Bürger in einem modernen Europa mit einem
Binnenmarkt, der für die Verbraucherinnen und Verbraucher geschaffen worden ist, sollten sich darauf verlassen
können, dass die amtlichen Institutionen von verschiedenen befreundeten Ländern so zusammenarbeiten, dass
der Bürger nicht nachher der Dumme ist.
({4})
Auch dieses Problem wird in dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht gelöst.
Sie haben aus den drei großen Problemfällen der letzten vier Jahre nichts gelernt. Wenn ich einen Schlussstrich ziehe und mir vorstelle, dass das die Blaupause dafür ist, wie die Politik auf andere große Probleme, die in
der letzten Zeit zutage getreten sind, reagieren wird,
dann komme ich zu dem Ergebnis: Wir haben Besseres
zu tun und dürfen uns nicht mit der Umsetzung einer
EU-Richtlinie zufriedengeben. Wir sollten die aufgetretenen Probleme wirklich lösen, sodass die Systeme in
Zukunft besser sind. Wir sind mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zufrieden und lehnen ihn daher ab.
Danke.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 16/13024 und 16/13038,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/12255 und 16/12599 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Reform der Anlegerentschädigung in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13024, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/11458 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von FDP und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialisierung der
Verluste verhindern - Sicherungsfonds für privaten Finanzsektor schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10610, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8888
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Verbesserung des
Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/12354, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/11185 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der
Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Priska Hinz ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Problem der ungenutzten Studienplätze in zulassungsbeschränkten Studiengängen umgehend lösen - Staatsvertrag jetzt vereinbaren
- Drucksache 16/12476 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die
Vorstellung, die völlige Deregulierung, das freie Spiel
aller Kräfte, könne zum Erfolg führen, nicht nur im Hinblick auf die Finanzmärkte ein Irrglaube ist, sondern offensichtlich auch nicht die Zauberformel ist, um gesamtstaatliche Ziele im Hochschulbereich zu erreichen, wird
offenkundig, wenn wir uns anschauen, wie Studienbewerberinnen und -bewerber unter dem Bewerbungs- und
Zulassungschaos, das wir schon seit langem in Deutschland erleben, leiden.
({0})
Was ist denn der Ausgangspunkt bei den gesamtstaatlichen Zielen? Alle sind sich einig: Wir wollen und
müssen die Studierendenquote in Deutschland dringend
erhöhen. Alle wissen: Das Zeitfenster, bis der demografische Wandel die Hochschulen erreicht, ist denkbar
klein. Alle sind sich einig: Angesichts der steigenden
Zahl von Studierenden und Studienbewerbern und der
doppelten Abiturientenjahrgänge wollen wir allen Studienplätze zur Verfügung stellen. Alle sagen: Dafür müssen Länder und Bund gemeinsam das nötige Geld in die
Hand nehmen.
Was passiert jetzt? Wie ist die Situation, vor der wir
stehen? Studienwillige verzweifeln reihenweise angesichts des Bewerbungs- und Zulassungschaos, weil auf
der einen Seite zulassungsbeschränkte Studienplätze frei
bleiben und auf der anderen Seite junge Menschen
schlichtweg nicht mit Studienplätzen versorgt werden.
({1})
Damit werden die gesamtstaatlichen Ziele, die wir uns
gesetzt haben, unterminiert. Allein in Baden-Württemberg blieben im letzten Wintersemester 2 487 NC-Studienplätze unbesetzt. Das sind 12,4 Prozent. Das ist
nicht nur ein hochschulpolitischer Skandal, sondern das
ist auch Politikversagen und Verantwortungsverweigerung in der Politik.
Diejenigen, die geglaubt haben, man müsse nur die
ZVS abschaffen und dann werde alles gut, haben zwar
auf der Zeitgeistwelle gesurft, stehen jetzt aber als naive,
blauäugige Irrläufer da. Das hat offensichtlich nicht
funktioniert. Ich bin absolut für die Hochschulautonomie. Ich habe die Hochschulautonomie immer befördert,
wo ich es konnte. Aber die Hochschulautonomie reicht
nur so weit wie die Handlungsspielräume und der Einfluss der Hochschule. Die einzelne Hochschule ist nicht
dafür verantwortlich, dass wir bei der Studierendenquote
in Deutschland gerade einmal dort stehen, wo wir 2003
schon angekommen waren.
({2})
Was muss also passieren? Es muss Schluss damit
sein, dass die Politik die Hochschulautonomie benutzt,
um sich in deren Windschatten aus der Verantwortung zu
stehlen. Wird denn jetzt alles gut, nachdem es nach endlosen Diskussionen eine Verständigung über ein Eckpunktepapier zur Umsetzung eines dialogorientierten
Serviceverfahrens gibt? Nein, es ist noch lange nicht alles gut. Warum? Bis dieses Verfahren möglicherweise
überhaupt in Gang kommt, werden noch mindestens
zwei Jahre vergehen. Bis dahin wird den Studierwilligen
in Deutschland weiter weiße Salbe in Form einer freiwilligen Internetbörse verpasst.
({3})
Das ist keine Lösung. Es bleibt weiter unklar, ob sich die
Länder und auch die Hochschulen tatsächlich an diesem
Verfahren beteiligen werden.
Was ist also nötig? Wir brauchen Verbindlichkeit, und
wir brauchen Klarheit. Deswegen muss es eine verbindliche Verständigung über ein Verfahren geben, das gewährleistet, dass alle zulassungsbeschränkten Studienplätze transparent, gerecht und effizient vergeben
werden.
({4})
Dazu sollte der Bund einen Vorschlag machen. Dann
sollte es darüber einen Staatsvertrag geben, nicht weil
wir Staatsverträge schön finden, sondern weil wir nicht
wollen, dass einzelne Länder abweichende Regelungen
treffen. Die Länder müssen in die Pflicht genommen
werden und ihrerseits die Hochschulen im Rahmen ihrer
Ziel- und Leistungsvereinbarungen zu der Teilnahme an
diesem Verfahren verpflichten.
({5})
Es geht nicht, dass einzelne Hochschulen durch besonders hohe lokale Numeri clausi Plätze frei halten, obwohl Studierwillige unversorgt bleiben. Der Bund muss
dafür sorgen, dass es dann, wenn auf diese Art und
Weise Studienplätze in zulassungsbeschränkten Studiengängen frei gehalten werden, Studierende unversorgt
bleiben und man sich die Studierenden vom Halse hält,
zur Rückzahlung von Mitteln aus dem Hochschulpakt
kommt und nicht noch Geld dafür kassiert wird.
({6})
In diesem Sinne: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Wir brauchen wirklich Klarheit und Verbindlichkeit.
Hochschulautonomie ist zwar gut, aber politische Verantwortungslosigkeit ist schlecht.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Grütters,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr
verehrte Kollegin Sager, ich habe den Eindruck, Sie surfen hier ein wenig auf der Oppositionswelle. Was wir
hier machen, ist bezeichnend. Wir haben dieses Thema
ausführlich im Ausschuss besprochen. Danach haben Sie
sich diesen Antrag - als hätten Sie nicht zugehört - ausgedacht, und jetzt zwingen Sie uns, im Plenum darüber
zu reden. Das sind Oppositionsrituale - ja, geschenkt;
aber bitte mit etwas mehr Substanz.
({0})
- Vielleicht wollen auch die Grünen hören, was andere
ihnen zu ihrem Antrag zu sagen haben. Herr Gehring,
der diesen Antrag verfasst hat, ist auf einer Podiumsdiskussion; deshalb sitzen Sie stellvertretend hier. Tut mir
leid für Sie.
Wir alle sind uns einig - wir können das gerne hier
immer wieder mal sagen -: Die Situation der Studierenden mag in vielerlei Hinsicht unbefriedigend sein. Was
mich stört, ist, dass Sie so tun, als wäre das der vorherrschende Eindruck, den deutsche Hochschulen machen.
Das ist zumindest unzutreffend.
({1})
Wir reden also zum wiederholten Mal über das Detail
Hochschulzulassung. Wir sind uns einig: Schöner wäre
es, alle Studierenden bekämen genügend Studienplätze.
Die dafür zuständigen Länder - ich betone: die Länder;
wir sind Abgeordnete des Bundestages; man muss das
immer wieder mal sagen - geben leider immer noch
nicht genug Geld für Bildung und Wissenschaft aus.
Es wäre auch schön, wenn alle Studierenden den Studienplatz, den sie haben wollen, an dem jeweiligen Ort
bekämen. Das ist - auch das wissen wir; dafür bräuchten
wir die heutige Debatte nicht - ein Problem in Deutschland. Man hat immer wieder versucht, es zu lösen. Ich
verweise auf die Praxis der „Kinderlandverschickung“
der ZVS.
Wir sind jetzt auf einem anderen Weg. Auf diesem
Weg, der immer wieder mit Holprigkeiten verbunden ist,
hat der Bund mehr als einmal und stets entgegen seiner
eigentlichen Nichtzuständigkeit moderierend und übrigens auch finanzierend eingegriffen. Bei der Feinsteuerung der Hochschulzulassung soll der Bund nun nach
Ihrer Meinung nicht nur - ähnlich wie beim Hochschulpakt - moderierend und mit Geld tätig werden, sondern
er soll auch die Hochschulen zwingen, etwas zu machen,
was sie bisher freiwillig getan haben. Diese absurde Logik müssen sie mir einmal erklären: Warum haben Sie so
wenig Vertrauen in die Hochschulen, dass Ihnen deren
freiwillige Bekundung, ein solches Verfahren durchzuführen, nicht ausreicht? Sie wollen vielmehr, dass wir,
der Bund, die Hochschulen zwingen, dass wir also über
die Länderzuständigkeit hinweggehen. Das machen wir
nicht mit.
({2})
Es ist zwar schön, dass Sie, die Grünen, auf diese
Weise indirekt das Instrument des Hochschulpaktes anerkennen - das hat sich in Ihren früheren Reden ganz anders angehört;
({3})
mittlerweile sehen Sie ein, dass eine bundesunmittelbare
finanzielle und moderierende Mitwirkung, geregelt in einem Staatsvertrag, sinnvoll ist -; aber Ihr Vorschlag hat
nicht den Charakter einer Notlösung, sondern bedeutet
einen unmittelbaren Zugriff auf die Hochschulen.
Was mich neben dem permanenten Ignorieren der Zuständigkeiten von Bund und Ländern ebenfalls irritiert,
ist die Tatsache, dass die Grünen ihren Antrag erst nach
dem Gespräch formuliert haben, das wir im Bildungsausschuss mit der Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz - Sie waren dabei, Frau Sager - geführt haben. Nach diesem Gespräch müssten auch Sie den
Sachstand genau kennen. Es mag sein, dass Sie ihn immer noch nicht für befriedigend halten, vor allen Dingen
für die Studierenden; aber mit dem in Ihrem Antrag geforderten Staatsvertrag ist diesem Sachverhalt nicht beizukommen. Sie wissen ganz genau: Das Hauptproblem
ist die Softwareentwicklung. Sie wird weder durch eine
solche Debatte noch durch einen Staatsvertrag beschleunigt. Das dürften Sie wissen.
Angesichts des zwischenzeitlich erreichten Sachstandes bei der Etablierung eines - Frau Sager, ich zitiere
nicht Sie, sondern Sie haben die Hochschulrektorenkonferenz zitiert - transparenten, unbürokratischen, nutzerfreundlichen und effizienten Hochschulzulassungsverfahrens besteht jedenfalls auf der rechtlichen Ebene kein
Regulierungsbedarf, so wie Sie ihn beschreiben. Das Problem bei der Zulassung in örtlich zulassungsbeschränkten
Studiengängen ist kein Problem des Zulassungsrechts,
sondern der Anwendung des Zulassungsrechts, ganz
konkret: der Gestaltung des Verfahrensablaufs. Änderungen im Zulassungsrecht können hier deshalb nichts
bewirken. Erforderlich ist jetzt, dass das angestrebte dialogorientierte Verfahren sobald wie möglich technisch
realisiert wird.
Auch der von Ihnen, verehrte Kollegin, geforderten
In-die-Pflicht-Nahme der Hochschulen bedarf es nicht,
da die Unis und Fachhochschulen am 21. April - das
war, kurz nachdem Sie Ihren Antrag formuliert hatten;
aber man hätte ihn noch ändern können - im Rahmen
der HRK-Mitgliederversammlung fast einstimmig erklärt haben, das dialogorientierte Verfahren nutzen zu
wollen und sich in der Übergangszeit - das haben Sie in
dieser Debatte unterschlagen - an den zur Verbesserung
der Zulassungssituation verabredeten Maßnahmen zu beteiligen, nämlich einheitliche Fristen und eine Studienplatzbörse einzuführen. Sie wissen, dass das beschlossen
wurde. Sie wissen, dass es ab diesem Wintersemester,
also in wenigen Monaten - schneller geht es gar nicht -,
eine einheitliche Bewerbungsfrist geben wird. Bewerbungsschluss ist der 15. Juli. Ende August werden die
Zulassungsbescheide versendet. Danach wird es eine
Börse geben, sodass sich Studierwillige, die noch keinen
Studienplatz erhalten haben, unmittelbar an den jeweiligen Hochschulen auf freie Plätze bewerben können.
Auch das ist eine einstimmige Erklärung aller Universitäten.
({4})
Sie haben den Antrag ein bisschen früher formuliert und
dann keine Lust gehabt, ihn der tatsächlichen Regelung
anzupassen.
({5})
Das KMK-Plenum hat außerdem beschlossen, dass
auf die Länder eingewirkt werden soll, damit sie die
Bundesanschubfinanzierung später fortführen. Das ist
auch nötig, weil die Länder zuständig sind. Insgesamt
sind damit Verfahren etabliert worden, bei denen Dezentralität und unterstützender Service der ZVS ineinandergreifen. Die Vergabe von Studienplätzen wird übersichtlich und zuverlässig koordiniert.
Frau Sager, Sie haben eben gesagt, Sie seien eine Verfechterin der Hochschulautonomie. Auf diese Weise
wird die Autonomie gewahrt. Anders ist es bei Ihrem
Vorschlag eines Durchgriffszwangs. Zu Ihrer Forderung,
die Fortschreibung des Hochschulpaktes entsprechend
zu nutzen, darf ich Sie daran erinnern, dass wie in der
laufenden Programmphase des Hochschulpakts 2020
und auch bei der Ausgestaltung der zweiten Programmphase durch den neuen Hochschulvertrag bereits sicherstellt ist, dass die Bundesmittel an die Zahl der tatsächlich zusätzlich aufgenommenen Studienanfänger gekoppelt
sind und dass das - so sagen wir immer - spitz abgerechnet wird. Es gibt auch Sonderregelungen für die neuen
Länder, die dazu dienen, die Studienanfängerkapazitäten
tatsächlich aufrechtzuerhalten und nicht abzubauen.
Den Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen wird
demnach bereits im Vereinbarungsentwurf für die
nächste Programmphase des Hochschulpakts 2020
Rechnung getragen. Da wir darüber im Ausschuss ausführlich gesprochen haben, müssten Sie es besser wissen, als es Ihr Antrag vermuten lässt.
({6})
Abschließend möchte ich sagen: Der Bund ist ganz sicher nicht für die Lösung von Zulassungsproblemen zuständig. Der Meinung der CDU/CSU nach sollten nicht
die Länder, sondern die Universitäten zuständig sein, da
wir Hochschulautonomie nicht nur behaupten, sondern
auch praktizieren.
({7})
Das ist auch beim Thema Studienplatzvergabe der Fall.
Tatsächlich gibt es einen Studierendenüberhang, und
Studienplätze bleiben viel zu lange frei. Diese Plätze
bleiben aber nicht dauerhaft frei, sondern werden erst
sehr spät nachbesetzt; das erkennen wir an. Deshalb hat
sich Ministerin Schavan mit der Hochschulrektorenkonferenz und der KMK zusammengesetzt. Genau deshalb
hat sie, die nicht zuständig ist, die Moderation an diesem
Punkt übernommen. Erfolgreich haben sie ein gemeinsames Vorgehen beschlossen, das ab Juli greift.
Ich bin sicher, dass sich die Lage an den Universitäten
sehr bald entspannen wird. Ich hoffe, dass Sie bei der
nächsten Bildungsausschusssitzung ein bisschen besser
zuhören. Dann könnten wir uns solche Anträge und die
Debatte darüber beinahe sparen.
({8})
Für die FDP spricht der Kollege Patrick Meinhardt.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Mit dem uns heute zur Beratung vorliegenden Antrag zeigen die Grünen einmal mehr, welch
Geistes Kind sie sind. Sie glauben ganz offensichtlich,
durch Regulierung und Staatsbürokratie zum besten Ergebnis zu kommen.
({0})
Frau Sager, es wird Sie nicht verwundern, dass wir
Liberale dem ein anderes Modell entgegenhalten. Nicht
mehr bundeseinheitliche Regelungen, die Universitäten
und Studenten eigener Kompetenzen und eigener Wahlfreiheiten berauben, sind der Schlüssel zum Erfolg, sondern Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Wahlmöglichkeiten.
({1})
Worüber reden wir eigentlich konkret? Es ist erst wenige Wochen her - es war am 25. März -, dass den Mitgliedern aller Fraktionen, auch den Mitgliedern der
Grünen, im Bildungsausschuss das neue Modell zur Regelung des Hochschulzugangs vorgestellt wurde. Alle
anwesenden Sachverständigen von der Hochschulrektorenkonferenz bis hin zur KMK waren zuversichtlich,
dass das neue Instrumentarium die derzeitigen Probleme
löst.
Das vorgestellte Verfahren scheint tatsächlich in der
Lage zu sein, alle Interessen zu vereinen. Verantwortungsvoller Umgang mit Kapazitäten und finanziellen
Mitteln wird mit freier Wahlmöglichkeit und mit Wettbewerb verbunden. Das ist ein sinnvoller Ansatz. Dieses
innovative Konzept hat drei Komponenten:
Erstens. In einem ersten Schritt bewerben sich Studenten um ein Studienfach ihrer Wahl an einer oder
mehreren Hochschulen. Dies betont die Eigenverantwortlichkeit, und das ist auch gut so.
In einem zweiten Schritt findet, sobald ein Platz gefunden ist und sich der Studierende immatrikuliert hat,
ein Abgleich im System statt. In einer Nachrückphase
werden für die unberücksichtigt gebliebenen Bewerberinnen und Bewerber die jeweils optimale Zulassungsmöglichkeit nach ihren eigenen Prioritäten ermittelt und
wiederum freie Plätze unterbreitet. Im zweiten Schritt
werden also alle Interessen berücksichtigt.
Dritter Schritt. Für diejenigen, die dann noch immer
nicht zum Zuge gekommen sind, bietet ein abschließendes Clearingverfahren die Chance, nicht besetzte Studienplätze zu besetzen. Dieser dritte Schritt gewährleistet eine optimale Auslastung.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich gefällt staatsgläubigen Fraktionen eine solche untergesetzliche, pragmatische Lösung nur wenig.
({2})
Deren Bauchgefühl verlangt nach zentral gesteuerten
Strukturen und Planverfahren. Die im Jahre 1972 ins Leben gerufene ZVS war eine solche Planbehörde, ganz
nach dem Geschmack der Grünen. Hier durften Beamte
noch über das Studienschicksal von jungen Menschen
entscheiden. Nicht umsonst hatte das ZVS-Verfahren
auch den Namen „Studentenlandverschickung“. Von Bürokraten geliebt, von Studenten zutiefst gehasst - so stellen wir uns eine studentennahe Bildungspolitik nicht
vor!
({3})
Nun wollen die Grünen Wahlmöglichkeiten zugunsten von Bequemlichkeit und Fremdbestimmung aufgeben. Wettbewerb und Hochschulautonomie sollen
Staatsdirigismus und Planwirtschaft weichen - und dies
ohne jedwede Notwendigkeit.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, stellen wir uns doch
einmal wirklich die Frage, welches Menschenbild hinter
solch einer Staatsgläubigkeit steht.
({5})
Trauen wir es jungen Menschen, angehenden Akademikern, nicht zu, eigenverantwortlich nach ihren eigenen
Bedürfnissen, also selbstbestimmt, einen Studienplatz zu
finden? Wir Liberale trauen das unseren Abiturientinnen
und Abiturienten durchaus zu.
({6})
Herr Kollege, die Kollegin Sager würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Gerne, Frau Kollegin Sager.
Bitte schön.
Herr Kollege Meinhardt, halten Sie es für einen Erfolg, dass im letzten Wintersemester allein in BadenWürttemberg 2 487 NC-Studienplätze, also zugangsbeschränkte Studienplätze - das entspricht 12,4 Prozent aller Studienplätze -, unbesetzt geblieben sind?
Frau Sager, Sie wissen ganz genau, dass bei einem
Verfahren, das in Baden-Württemberg zu solchen Ergebnissen geführt hat, wie Sie sie beschrieben haben, eine
Nachjustierung notwendig ist.
({0})
Deswegen führen wir ja diese Debatte, Frau Sager. Wir
haben genau deswegen im Bildungsausschuss darüber
beraten, damit wir eine bessere Variante hinbekommen.
Es stimmt, dass in Baden-Württemberg Studienplätze
freigeblieben sind. Ich stelle aber die von Ihnen genannte Zahl infrage. Mir ist diese Zahl nämlich nicht zugänglich. Ich gebe allerdings zu, dass es letztendlich unbesetzt gebliebene Studienplätze gegeben hat. Aber es
ist doch logisch, dass so etwas passiert ist und passieren
wird, wenn der Zugang zu den Universitäten von diesen
geregelt wird. Ich möchte - es ist meine feste Überzeugung, dass das der richtige bildungspolitische Weg ist -,
dass sich Studenten ihre Universitäten aussuchen können
und Universitäten ihre Studenten.
({1})
Der vorliegende Antrag der Grünen lässt sich knapp
zusammenfassen: Probleme werden dort erzeugt, wo
vorher keine waren, und dafür Lösungen feilgeboten,
welche das Potenzial besitzen, ernste Verwerfungen herbeizuführen. Sie werden sehen, dass sich das vermeintliche Problem ohne politischen Interventionismus, ohne
Hyperaktivität und Firlefanz fast von alleine durch die
betroffenen Akteure bewältigen lässt.
({2})
Es gibt Situationen, in denen die Politik gehalten ist,
die Beine still und den Ball flach zu halten. Genau dies
ist solch ein Fall. Deswegen können wir diesen Antrag
nur ablehnen.
Herzlichen Dank.
({3})
Swen Schulz spricht jetzt für die Fraktion der SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Meinhardt, so kommen wir, glaube ich, nicht zusammen.
({0})
Bei der Vergabe von Studienplätzen herrscht leider - da
haben die Grünen vollkommen recht - schon seit langem
ein Durcheinander und ein ziemlich heftiges Hickhack
darüber, wie dieses Problem gelöst werden kann.
({1})
Ich will jetzt darauf verzichten, die Schuldfrage zu erörtern. Das führt nicht weiter. Aber eines ist klar, und
darüber sollten wir uns hier alle einig sein: So wie es ist,
darf und kann es nicht bleiben.
({2})
Wie ist die Situation? Die Hochschulen haben die
Freiheit, nach eigenen Kriterien Studierende zuzulassen.
Der Abiturnotendurchschnitt ist nicht mehr das einzige
Kriterium, wie es früher der Fall war, sondern es sind
auch andere Kriterien anwendbar. So können gewichtete
Schulnoten, Bewerbungsgespräche und Vorqualifikationen einbezogen werden. Das hat Vorteile. Ich bin nach
wie vor der Überzeugung, dass der simple Abiturnotendurchschnitt den Menschen, ihren Fähigkeiten und ihren
Leistungen nicht gerecht wird und diese nicht vernünftig
abbildet.
({3})
Doch das Fehlen jeder Steuerung bei der Studienplatzvergabe, Herr Meinhardt, resultiert in der Praxis im
blanken Chaos. Die Bewerberinnen und Bewerber müssen sich mühsam Informationen darüber beschaffen,
welche Unterlagen sie bei den einzelnen Hochschulen
einzureichen haben und welche Kriterien diese überhaupt anwenden. Sie bewerben sich an mehreren Hochschulen, weil sie nicht sicher sein können, dass sie an der
von ihnen bevorzugten Hochschule tatsächlich genommen werden. Da die Hochschulen unterschiedliche Zeitabläufe und Fristen haben - wie es jedenfalls bisher der
Fall war -, wissen die Bewerberinnen und Bewerber
nicht, ob sie die Zusage einer Hochschule annehmen sollen, wenn sie noch auf den Bescheid der von ihnen
bevorzugen Hochschule warten. Die Hochschulen wiederum können sich nicht sicher sein, ob die Bewerberinnen und Bewerber, denen sie eine Zusage geben, tatsächlich das Studium bei ihnen aufnehmen; denn es gibt ja
Leute, die durchaus mehr als eine Zusage erhalten.
Im Resultat bleiben zwischen 10 und 20 Prozent der
Studienplätze unbesetzt. Das muss man sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen. Während wir uns mit großem Aufwand, viel Engagement und einer Menge finanzieller Mittel im Rahmen des Hochschulpaktes daran beteiligen, das Angebot an Studienplätzen auszubauen,
bleiben viele Studienplätze unbesetzt, obwohl Leute
dringend auf eine Zusage warten. So können wir mit den
Swen Schulz ({4})
Menschen nicht umgehen, und so können wir mit der
Zukunft des Landes nicht umgehen. Das muss geändert
werden.
({5})
Früher wurde auf die ZVS geschimpft. Es war die
Rede von Bürokratie und Zentralismus. Heute sind es
andere Begriffe, die im Zusammenhang mit der Studienplatzvergabe fallen: Pokerspiel, Lotterie, Basar. Diese
Art der Studienplatzvergabe kann angesichts der Tatsache, dass wir einem Fachkräftemangel entgegensehen,
nicht unsere Lösung sein.
Bündnis 90/Die Grünen beantragen nun, dass ganz
schnell etwas gemacht wird, dass ein Staatsvertrag von
Bund und Ländern geschlossen wird und ein neues Verfahren schon zum Sommersemester 2010 in Kraft tritt.
Das wäre natürlich toll;
({6})
aber es ist unrealistisch. Eine Oppositionsfraktion weist
auf ein bestehendes Problem hin, will es sofort ändern
und hofft auf den Beifall der Bürgerinnen und Bürger;
doch ich fürchte, das ist Augenwischerei. Ich glaube, Sie
wissen ganz genau, dass es so schnell leider nicht geht.
Lassen Sie uns das lieber seriös betrachten.
Nach dem ganzen Theater, das es bei der Suche nach
der richtigen Lösung gegeben hat, ist nun endlich mit
Ländern, Hochschulen und unter Einbeziehung einer
umgestalteten ZVS der Weg gefunden worden, dass zum
Wintersemester 2011/2012 ein sogenanntes dialogorientiertes Serviceverfahren eingeführt wird.
({7})
Dieses Verfahren soll dazu dienen, dass Bürokratie abgebaut wird; es soll transparent und übersichtlich sein, und
alle Beteiligten sollen schnell Klarheit bekommen.
({8})
Leider geht es kaum schneller, weil allein für die Entwicklung der dafür nötigen Software vom FraunhoferInstitut schon anderthalb Jahre angesetzt werden. Schon
damit wären wir über der von Ihnen gesetzten Zielmarke. Zeit brauchen auch die Entwicklungsphase, die
Prüfung, der Probelauf. Eine vernünftige Einführung des
Verfahrens ist wichtig; denn schließlich soll es gut funktionieren. Ich bin, ehrlich gesagt, froh, wenn es tatsächlich - wie geplant - zum Wintersemester 2011/2012
klappt.
Dieser eingeschlagene Weg macht trotzdem Hoffnung, zumal in der Zeit, bis das neue Verfahren greift,
eine Übergangsregelung existieren wird. Die Bewerberinnen und Bewerber werden nicht hängen gelassen. Für
diese Übergangszeit wird eine Zwischenlösung realisiert
mit einer bundeseinheitlichen Bewerbungsfrist und mit
einer Studienplatzbörse im Internet für noch offene Angebote. Der Bund ist mit dabei und übernimmt Verantwortung. Das ist auch richtig so. Er trägt auch finanzielle
Lasten: bis zu 15 Millionen Euro. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat erst in der letzten
Woche die Mittel für die Entwicklung des Softwaresystems freigegeben.
Wir von der SPD haben dabei - das war uns wichtig Bedingungen durchgesetzt. Erstens. Das Bewerbungsverfahren muss für diejenigen, die sich um Studienplätze
bemühen, gebührenfrei sein. Wir wollen nicht, dass die
Leute für ihre Bewerbung auch noch Geld zahlen müssen.
({9})
Zweitens. Das angesprochene Übergangsverfahren
muss vernünftig laufen. Die Selbstverpflichtung der
Hochschulrektorenkonferenz muss eingehalten werden.
92 Prozent der Hochschulleitungen haben erklärt, dass
sie sich beteiligen werden.
({10})
Diese Quote muss mindestens gehalten werden. Wir
werden nicht akzeptieren, dass wir mit großem Aufwand
ein neues System etablieren, die Hochschulen sich aber
hintenrum vom Acker machen.
Ich sage dazu: 92 Prozent der Hochschulen - das ist
gut. Aber es sind nicht 100 Prozent. 8 Prozent fehlen.
Dem Vernehmen nach soll bei der Abstimmung auf der
Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonferenz unter den 8 Prozent auch eine der großen Universitäten gewesen sein.
({11})
Wir werden das genau im Auge behalten. Aus unserer
Sicht ist das ein Hinweis darauf, dass wir eigentlich eine
bundeseinheitliche gesetzliche Regelung benötigen.
({12})
Die jetzige Vereinbarung ist ein guter Weg - zweifelsohne. Aber besser wäre ein Bundeszulassungsgesetz, auf
das sich alle dauerhaft verlassen können und bei dem
keiner mehr ausbüxen kann.
({13})
Letztlich muss es uns darum gehen, liebe Frau
Grütters, die Hochschulen für alle zugänglich zu machen, die willens und in der Lage sind, zu studieren.
Dazu müssen soziale Hindernisse wie etwa Studiengebühren aus dem Weg geräumt werden. Es ist völlig unerträglich, dass auf der einen Seite der Bund das BAföG
verbessert, um den Studierenden über soziale Hürden
hinwegzuhelfen, und auf der anderen Seite einige Bundesländer durch Studiengebühren neue soziale Hürden
aufstellen.
({14})
Swen Schulz ({15})
Wir brauchen Studienplätze in ausreichender Zahl, damit
die Zulassungsbeschränkungen einmal komplett wegfallen. Das muss unser Ziel sein. Dazu benötigen wir ein
vernünftiges Verfahren für die Vergabe von Studienplätzen.
Wir wollen nicht, dass der Geldbeutel, der bessere
Anwalt oder vielleicht einfach nur das Glück darüber
entscheiden, ob jemand studieren kann. Wir wollen, dass
alle Menschen den gleichen Zugang zu Bildung haben.
Herzlichen Dank.
({16})
Die Kollegin Cornelia Hirsch spricht jetzt für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Sager, in der Problembeschreibung besteht auch vonseiten der Linken durchaus Einigkeit. Das
betrifft sowohl die aktuelle Situation an den Hochschulen mit dem Bewerbungschaos und mit den Tausenden
unbesetzten Studienplätzen wie auch die bisherige Reaktion der Bundesregierung, die zum einen komplett unzureichend ist und zum anderen viel zu spät erfolgte. An
dieser Stelle besteht kein Dissens. Es wird den Interessen der Studienbewerber bestimmt nicht gerecht, wenn
man nach monatelangen Debatten, die einfach nichts bewirkt haben, eine Internettauschbörse auf freiwilliger
Basis anbietet. Das kann nun wirklich nicht die Lösung
für das Problem sein.
({0})
Was allerdings die Grünen in ihrem Antrag als Lösung vorschlagen, nämlich einen Staatsvertrag abzuschließen, halten wir vonseiten der Linken auch nicht für
den praktikabelsten und erfolgversprechendsten Weg.
Wenn wir uns anschauen, welche Lösungen sich aus einer Diskussion über einen Staatsvertrag ergeben haben,
dann müssen wir sagen, dass es auf die Schnelle keine
wirklich umfassenden und verbindlichen Regelungen
geben wird, auf die man sich verlassen kann. Das ist aus
unserer Sicht nicht der richtige Weg. Vor allen Dingen
wird bei der Lösung des Staatsvertrages komplett übersehen, dass der Bund eigentlich viel mehr Möglichkeiten
hätte, im Hinblick auf die Hochschulzulassung tätig zu
werden.
Erinnern wir uns: Im Rahmen der Föderalismusreform I wurde in bildungspolitischer Hinsicht sehr großer Unfug betrieben. Zumindest wurde festgehalten,
dass die Kompetenzen für die Hochschulzulassung und
die Hochschulabschlüsse beim Bund verbleiben. Das
wäre ein möglicher Ansatzpunkt.
Traurig und zu kritisieren ist aber, dass seit dieser
Entscheidung vonseiten der Bundesregierung auf diesem
Gebiet überhaupt nichts getan wurde. An genau dieser
Stelle müsste man aber ansetzen. Deshalb sagt die Linke
- Kollege Schulz, hier sind wir uns einig -: Es wäre
schön, wenn die SPD eine Initiative auf den Weg bringen würde. Dann wären wir gleich mit dabei.
({1})
Wir brauchen keinen Staatsvertrag, sondern ein Bundesgesetz für die Hochschulzulassung. Hier muss etwas getan werden.
({2})
Mit einem Bundesgesetz könnte man nicht nur das
Zulassungschaos und die Situation, dass viele Studienplätze unbesetzt sind, beenden, sondern man könnte
auch viel mehr festschreiben, als es im Rahmen eines
Staatsvertrages jemals möglich wäre. In einem Bundesgesetz könnte man zum Beispiel - anders als nur unverbindlich an die Länder zu appellieren - die Öffnung der
Hochschulen für Menschen aus dem Bereich der beruflichen Bildung regeln. Man könnte für Menschen aus dem
Bereich der beruflichen Bildung den Rechtsanspruch auf
Zugang zur Hochschule schaffen.
Das gilt auch für das Problem der Gebühren. Man
könnte dafür sorgen, dass der Zugang zur Hochschule
bundesweit gebührenfrei ist, damit die Campusmaut Studieninteressierten ohne Geld nicht den Weg an die Hochschule versperrt.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, wenn Sie es schaffen würden, die Mittel für
den Hochschulpakt deutlich aufzustocken, anstatt sie,
wie gerade geschehen, unter Haushaltsvorbehalt zu stellen und die Studierenden und Studieninteressierten im
Unklaren zu lassen, dann hätten Sie große Schritte in die
Richtung, in die wir eigentlich gehen müssen, gemacht.
Es sollte unser gemeinsamer Anspruch sein, allen Studieninteressierten einen Studienplatz zu garantieren. Bisher ist vonseiten der Bundesregierung aber leider so gut
wie gar nichts getan worden.
Besten Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12476 an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und
Vormundschaftsrechts
- Drucksache 16/10798 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/13027 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jerzy Montag
Es ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen
Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Herren im Präsidium! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir beraten heute eine gute und zeitgemäße Änderung des Familienrechts. Der Gesetzentwurf lässt das Grundprinzip des
Zugewinnausgleichs - darum geht es - unberührt. Die
Einfachheit und Klarheit des Ausgleichsmodus, der für
die Praxis elementar wichtig ist, bleibt erhalten. Der Gesetzentwurf sieht allerdings Neuerungen vor, die die
Schwachstellen des geltenden Zugewinnausgleichs beseitigen. Dadurch sorgt der Gesetzentwurf für mehr Gerechtigkeit, vor allem nach einer Scheidung.
Die meisten Ehepartner leben im gesetzlichen Güterstand. In diesem Güterstand wird der sogenannte Zugewinn bei Ende der Ehe ausgeglichen. Das bedeutet, bei
einer Scheidung kann der Ehegatte, dessen Vermögen
während der Ehe einen geringeren Zuwachs erfahren hat
als das des anderen Ehegatten, von diesem einen Ausgleich in Geld verlangen. Ziel des Zugewinnausgleichs
ist es, dass beide Eheleute an dem während der Ehe Erworbenen gerecht, also grundsätzlich zu gleichen Teilen,
beteiligt werden.
Diese gleichberechtigte Teilhabe der Ehegatten kann
nach geltendem Recht dann nicht vollständig zum Tragen kommen, wenn ein Ehepartner bei der Eheschließung mehr Schulden als Vermögen hat. Hier schafft der
Gesetzentwurf Abhilfe. Nach der Neuregelung wird
auch das sogenannte negative Anfangsvermögen berücksichtigt und bei der Berechnung des späteren Ausgleichsanspruchs in die Bilanz der Ehe eingestellt.
({0})
Dadurch wird auch der zur Schuldentilgung verwandte
Vermögenszuwachs ausgeglichen und der Grundgedanke des Zugewinnausgleichs konsequent zu Ende gedacht. Das gilt übrigens demnächst auch für die Ehen,
bei denen ein Ehegatte oder beide Schulden in Form eines Darlehens für die Finanzierung der Studiengebühren
mit in die Ehe bringen. Ich erinnere einmal daran.
Für den ausgleichsberechtigten Ehegatten macht es
keinen Unterschied, ob das während der Ehe erworbene
Vermögen zur Schuldentilgung oder zum Erwerb von
Aktien eingesetzt wird. Allerdings wird der Ausgleichsanspruch grundsätzlich auf das vorhandene Vermögen beschränkt. Das bedeutet, grundsätzlich muss
sich kein Ehegatte zusätzlich verschulden, um die Ausgleichsforderungen des anderen zu bedienen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt allerdings für den Ehegatten, der sein Vermögen zur Schädigung des anderen
Ehegatten verschwendet oder verschenkt hat.
({1})
- Das wollten wir ja auch so. - Er muss notfalls einen
Kredit aufnehmen.
Künftig werden auch Vermögensverschiebungen zulasten des ausgleichsberechtigten Ehegatten effektiv verhindert.
({2})
Der Gesetzentwurf sieht hierfür folgende Neuerungen
vor: Für die Berechnung der konkreten Höhe der Ausgleichsforderung soll künftig bereits der Zeitpunkt der
Zustellung des Scheidungsantrags maßgeblich sein. Bisher war dafür erst der spätere Zeitpunkt der Rechtskraft
der Scheidung maßgeblich. In der Zwischenzeit bestand
in der Praxis die Gefahr, dass der ausgleichspflichtige
Ehegatte Vermögen beiseiteschaffte.
Darüber hinaus wird der ausgleichsberechtigte Ehegatte vor Vermögensverschiebungen mit Schädigungsabsicht in der Phase zwischen Trennung und Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags geschützt. Dies gelingt
durch den zusätzlichen Auskunftsanspruch über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung. Dadurch ist es dem
ausgleichsberechtigten Ehegatten nunmehr möglich,
Vermögensminderungen zwischen der Trennung und
dem Stichtag für das Endvermögen aufzudecken. Die
damit verknüpfte neue Beweislastregel führt dazu, dass
sich der Ausgleichsschuldner dazu erklären muss, warum es zu einer Vermögensminderung zwischen Trennung und Stichtag gekommen ist. Das ist auch gerecht.
Denn er, der Ausgleichsschuldner, hat den besseren Einblick in seine Vermögensbewegungen und kann einen
unverschuldeten Vermögensverlust darlegen, während
der andere Ehegatte diese Möglichkeiten eben nicht hat.
({3})
Schließlich wird es für beide Ehegatten einfacher, die
Zugewinngemeinschaft ohne Auflösung der Ehe zu beenden. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte soll künftig
seinen Anspruch auf vorzeitigen Zugewinnausgleich unmittelbar geltend machen und seinen Geldanspruch im
vorläufigen Rechtsschutz durch Arrest auch direkt sichern können. Damit kann der Ehepartner, dem Schaden
droht, mithilfe des Gerichts verhindern, dass der andere
sein Vermögen ganz oder in Teilen beiseiteschafft.
Der Entwurf führt ergänzend die Pflicht ein, bei einer
Auskunft auch Belege über das Vermögen vorzulegen.
Die Reform schafft also ausreichend Schutzvorschriften,
damit der Ausgleichsanspruch eines Ehegatten nicht
durch schädigendes Verhalten des anderen Ehegatten
vereitelt oder geschmälert wird.
({4})
Ein weiteres wichtiges Anliegen betrifft die Rechtsbereinigung. Die aus dem Jahr 1944 - notabene! - stammende Hausratsverordnung wird der Vergangenheit angehören.
({5})
Die notwendigen materiell-rechtlichen Regelungen werden in das Bürgerliche Gesetzbuch integriert und zugleich modernisiert.
Der Gesetzentwurf sieht eine weitere wichtige Neuerung vor, die allerdings nicht den Zugewinnausgleich betrifft, sondern die Verfügung eines Vormunds oder
Betreuers über das Guthaben auf einem Giro- oder Kontokorrentkonto. Bisher musste der Betreuer, der am automatisierten Giroverkehr teilnahm, alles, was über
3 000 Euro ging, genehmigen lassen. Künftig kann er
genehmigungsfrei darüber verfügen. Die Schutzvorschriften des Vormundschaftsrechts sind auch ohne die
bisherige Genehmigungspflicht ausreichend, um das
Vermögen von Mündeln und Betreuten vor ungerechtfertigten Abflüssen zu bewahren.
Der Gesetzentwurf sorgt damit vor allem für einen gerechten und effektiven Zugewinnausgleich. Die Reform
soll zum 1. September 2009 in Kraft treten und gleichzeitig mit der Reform des Familienverfahrensrechts und
der Reform des Versorgungsausgleichs anwendbares
Recht sein.
Dies ist der vierte Gesetzentwurf zum Familienrecht,
den wir hier behandeln.
({6})
- Ja, in dieser Legislaturperiode. - Ich möchte mich sehr
herzlich bei Ihnen allen bedanken; denn wir haben fast
immer in großer Einmütigkeit gearbeitet. Ich denke, das
wird auch bei der heutigen Abstimmung zum Ausdruck
kommen. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir in der
Rechtspolitik wirklich etwas vorangebracht haben.
({7})
- Ich lobe euch gleich noch viel mehr. Passt mal auf.
Hinzu kommt Folgendes: Heute Morgen hat sich ein
junger Kollege etwas herablassend über Ministerialbeamte ausgelassen. Ich denke, diese vier Gesetzentwürfe
zum Familienrecht haben zwei Dinge gezeigt:
Erstens. Ministerialbeamte können sehr gut und vernünftig mitarbeiten.
({8})
- Mitarbeiten! Gut, mein lieber Uwe: Zuarbeiten. - Deswegen gilt mein Dank meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesjustizministerium.
({9})
Zweitens. Sie alle haben hervorragend mitgearbeitet.
Ich möchte Sie ermuntern, vor allen Dingen Sie, meine
Damen, die Sie einen zweiten Beruf neben dem des Bundestagsabgeordneten ausüben - Frau Präsidentin, das
darf ich jetzt noch sagen, oder? -:
Vertreter der Bundesregierung dürfen so lange reden,
wie sie wollen. Die Zeit wird später abgezogen.
Sie haben bewiesen, dass das Gerede, Abgeordnete
sollen nur einen Beruf haben, nicht in Ordnung ist.
Durch Ihre fachliche Qualifikation, die Sie, vor allen
Dingen Sie, Frau Granold und Frau Lambrecht, in diese
Debatten eingebracht haben, haben Sie bewiesen, dass es
gut ist, wenn weiterhin eine Verzahnung zwischen Abgeordneten und Beruf besteht.
({0})
Kämpfen Sie auch in der nächsten Legislaturperiode dafür, dass das so bleibt. Ich werde Ihnen dabei freundlich
zuschauen.
Vielen Dank.
({1})
Weil die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
ihre Rede zu Protokoll gibt,1) hat jetzt der Kollege Jörn
Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Parlamentarische Staatssekretär Hartenbach hat die
wesentlichen neuen Bestandteile dieses Gesetzentwurfs
zum Familienrecht zutreffend dargelegt. Er hat auch ge-
sagt, dass dies inzwischen das vierte Gesetz in dieser Le-
gislaturperiode ist, mit dem die zum Teil unangenehmen
Nebenfolgen einer Scheidung neu geregelt werden und
versucht wird, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu
minimieren. Ich möchte hier nicht nach dem Motto agie-
ren: Es ist schon alles gesagt worden, aber noch nicht
von jedem. Ich könnte im Grunde nur Gesagtes wieder-
holen.
Ich freue mich über die erfolgreichen, sachlichen Be-
richterstattergespräche, auch über das erweiterte Bericht-
erstattergespräch, in dem letztlich die Anträge der Op-
position, egal von welcher Fraktion sie kamen, in den
Gesetzentwurf einflossen. Daher können wir diesem
Gesetzentwurf mit gutem Gewissen zustimmen und fest-
stellen, dass eine deutliche Verbesserung auf den Gebie-
ten des Zugewinnausgleichs und des Vormundschafts-
rechts erreicht worden ist. Hinsichtlich der Konten
1) Anlage 4
passen wir das Recht ja nur an die tatsächlichen Gegebenheiten an.
Jetzt habe ich noch knapp vier Minuten Redezeit.
Luftgitarre möchte ich nicht spielen. Ich schenke die
restliche Zeit dem Parlament.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt hat die Kollegin Ute Granold das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke schon, dass wir einige Punkte dieses wichtigen Gesetzentwurfs hier erwähnen sollten. Es geht um
ein Thema, das viele Menschen berührt.
Ich danke dem Herrn Staatssekretär ausdrücklich für
die gute Zusammenarbeit, für die Zuarbeit des Justizministeriums. Ich danke auch dafür, dass Sie erwähnt haben, dass hier Praktiker am Werk waren. Wenn ein
Gesetz geändert wird, nachdem Praktiker ihren Sachverstand eingebracht haben, dann ist das eine gute Sache.
Ich finde, das muss man nicht unbedingt schlechtreden.
({0})
Herr Staatssekretär - Sie haben es bereits gesagt -,
wir haben in dieser Legislaturperiode vier große Baustellen im Familienrecht bearbeitet. Die ersten drei waren
das Unterhaltsrecht, die Strukturreform des Versorgungsausgleichs und das Familienverfahrensgesetz. Das
Unterhaltsrecht ist seit dem 1. Januar 2008 in Kraft. Die
beiden anderen Gesetze werden ebenso wie das jetzt zu
behandelnde eheliche Güterrecht, sofern das Haus das
heute beschließt, zum 1. September 2009 in Kraft treten.
Das eheliche Güterrecht ist eine Folgesache im Rahmen einer Scheidung, die nicht zu vernachlässigen ist,
aber auch ein Rechtsgebiet, in dem sehr viel getrickst
wird. Deshalb haben wir uns berufen gesehen, einige
Korrekturen vorzunehmen, um Ungerechtigkeiten und
Vermögensverschiebungen in Zukunft zu verhindern.
Das ist nicht gänzlich möglich, aber zu einem großen
Teil.
Die Mehrzahl der Eheleute in Deutschland lebt im
Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Bei der Scheidung wird der Zugewinn ausgeglichen. Das, was die
Eheleute während der Ehezeit erwirtschaftet haben, wird
hälftig geteilt. Hier gilt das sogenannte Stichtagsprinzip.
Die Berechnung ist sehr stark schematisiert, weil der
Güterstand klar und leicht handhabbar getrennt werden
soll. Das hat sich in der Vergangenheit grundsätzlich bewährt.
Wir wollen mit der jetzigen Reform wesentliche Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten korrigieren. Es
geht zum einen - das wurde schon angesprochen - um
Schulden, die in die Ehe eingebracht werden. Diese werden in Zukunft berücksichtigt. Denn auch der Abbau von
Schulden ist ein wirtschaftlicher Vorteil, ein Vermögenszuwachs, an dem der andere Ehepartner teilhaben sollte.
Es geht auch um Vermögensverschiebungen, die in der
Vergangenheit nur schwer von demjenigen, der Ansprüche geltend macht, bewiesen werden konnten. Wir versuchen mit diesem Gesetzentwurf, diese Beweisproblematik zu beseitigen.
Der Entwurf wurde den Verbänden, den Bundesländern und den Fachkreisen im November 2008 vorgelegt.
Diese Praxis der Einbindung des außerparlamentarischen Bereichs hat sich beim Unterhaltsrecht und beim
Familienverfahrensrecht bewährt. Deshalb wurde auch
hier darauf zurückgegriffen.
Die erste Lesung des Gesetzentwurfes fand im November 2008 statt. Im Februar 2009 wurde ein sogenanntes erweitertes Berichterstattergespräch durchgeführt. Diese Gespräche haben sich in der Vergangenheit
als sehr praxisorientiert und intensiv dargestellt. Es war
auch hier sehr fruchtbar. Das Ergebnis des Berichterstattergesprächs hat die Koalition dazu veranlasst, einige
wesentliche Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf vorzunehmen. Es freut uns insbesondere, dass die
dann folgenden Berichterstattergespräche mit der Opposition dazu geführt haben, dass wir in diesem Haus heute
- ebenso wie bei anderen Reformen im Familienrecht hoffentlich einen einstimmigen Beschluss herbeiführen
können. An dieser Stelle herzlichen Dank dafür!
Im Regierungsentwurf bereits festgelegt und auch in
der Empfehlung des Rechtsausschusses vom Mittwoch
bestätigt ist das sogenannte negative Anfangsvermögen.
Das heißt, wenn ein Ehepartner heute mit Schulden in
die Ehe geht und während der Ehe die Schulden abbaut
und gar noch Vermögen dazu erwirtschaftet, muss das
dem anderen Ehepartner zugute kommen. Das war bislang nicht der Fall. Bislang wurde der Ehepartner bei der
Berechnung des Zugewinns auf null gestellt. Es gab bisher kein negatives Anfangsvermögen. Das ist, denke ich,
gut; denn es schafft ein Stück weit Gerechtigkeit.
Eine weitere Regelung ist der Schutz vor Vermögensmanipulationen. Zukünftig wird sowohl für die Berechnung des Zugewinns als auch für die Höhe der Ausgleichsforderung der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des
Scheidungsantrages maßgeblich sein. Damit rentiert es
sich nicht mehr, Vermögensverschiebungen zum Nachteil des Ausgleichsberechtigten in der Zeit zwischen der
Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags und der Fälligkeit der Forderung selbst, also mit Rechtskraft der Scheidung, vorzunehmen.
Ich nenne ein Beispiel. Der Mann reicht die Scheidung ein - dieses Beispiel kann natürlich auch für eine
Frau gelten - und hat nach der Berechnung einen Zugewinn in Höhe von 20 000 Euro. In dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Scheidungsschrift und der
Rechtskraft der Scheidung vergehen in der Regel mehrere Monate. In dieser Zeit fährt er mit seiner Freundin
in den Urlaub. Das kostet 8 000 Euro. Dann verliert er
noch 12 000 Euro an der Börse. Er hat dann mit Beendigung der Ehe 0 Euro. Das heißt, der Ausgleichsanspruch
der Ehefrau - die Hälfte von 20 000 Euro, sprich
10 000 Euro - steht auf dem Papier, kann aber nicht realisiert werden. Das kann nicht sein. Deshalb sagen wir:
Für die Berechnung des Ausgleichsforderungsanspruches ist der Zeitpunkt des Scheidungsantrages maßgeblich. Das ist gut so.
({1})
Wir haben auch festgelegt, dass die Möglichkeit bestehen muss, drohenden Vermögensverschiebungen rechtzeitig Einhalt zu gebieten, indem ein vorzeitiger Anspruch
auf Ausgleich in Form einer sogenannten Leistungsklage
besteht. Bislang war das nur mit einer Gestaltungsklage
möglich. Das war eine Klage auf Beendigung der Zugewinngemeinschaft. Heute kann man direkt auf Leistung
klagen. Der Anspruch kann bei einer drohenden illoyalen Vermögensverschiebung bereits durch Arrest vorläufig gesichert werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Ich denke, das haben wir richtig auf den Weg gebracht.
({2})
Der Ehepartner hat - auch das ist neu - einen Auskunftsanspruch und einen Beleganspruch über die Höhe
des Anfangsvermögens, also das Vermögen, das jeder
Ehepartner hat, wenn er heiratet. Dies ist im Unterhaltsrecht ähnlich.
Der Staatssekretär hat es erwähnt: Die Hausratsverordnung aus dem Jahre 1944 wird aufgehoben; die wesentlichen Vorschriften werden in das BGB übernommen. Hier haben wir auch die Stellungnahmen des
Bundesrates - da gab es einige Korrekturen - berücksichtigt. Das Gleiche gilt für die Änderung des Vormundschaftsrechts. Hier geht es darum, dass bei der
Verwaltung von Girokonten durch Betreuer Vereinfachungen im Rechtsverkehr durchgeführt werden.
Wichtig ist auch das Vorsorgeregister, das wir in der
letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben.
In diesem Register sind die Vorsorgevollmachten registriert. Nun soll es auch möglich sein, dass Betreuungsverfügungen - hier gibt es eine Reihe von Verfügungen in das Register aufgenommen werden. Es ist gut, dass
das nun festgelegt wird.
Nach dem von mir schon eingangs erwähnten Berichterstattergespräch gab es Ergänzungen, die uns sehr
wichtig sind. Zum einen soll an der bisherigen Kappungsgrenze festgehalten werden. Hier sah der Regierungsentwurf vor, die Ausgleichsforderung auf die
Hälfte des Vermögens des Ehepartners zu begrenzen.
Wir sagen nun, dass das ganze Vermögen für den Ausgleichsanspruch haftet. Allerdings muss der Ausgleichsverpflichtete nicht ein Darlehen aufnehmen, um die Ausgleichsforderung erfüllen zu können. Eine Ausnahme:
Wenn der Pflichtige illoyale Vermögensverschiebungen
vornimmt, dann muss er sich auch gefallen lassen, dass
er die Ausgleichsforderung notfalls mit einem Darlehen
finanzieren muss. Dies fördert den Schutz des Berechtigten.
Das Wichtigste ist die Neuregelung - sie kommt aus
der Praxis -, dass ein Anspruch auf Auskunft über den
Bestand des Vermögens künftig bereits mit der Trennung
der Ehegatten besteht. Das heißt also, dass zum Zeitpunkt der Trennung Auskunft über den Bestand des Vermögens zu erteilen ist. Dieser Auskunftsanspruch ist mit
der Verpflichtung unterlegt, den Vermögensbestand zu
belegen. Auch das ist eine Regelung, die dem Unterhaltsrecht entspricht. Damit kann Missbrauch weitestgehend verhindert werden.
Natürlich gibt es auch den Fall, dass ein Ehepartner
den Ausstieg aus der Ehe vorbereitet, während der andere Ehepartner noch denkt, alles sei okay. Wenn dann
alles soweit organisiert ist - das Vermögen ist weggeschafft, die Konten sind geplündert -, dann sagt dieser
Ehepartner: Jetzt gehe ich aus der Ehe heraus und gebe
Auskunft. In solch einem Fall ist das, was wir jetzt auf
den Weg bringen, nicht ausreichend. Der Gesetzgeber
kann aber auch nicht alles regeln.
Die lange Zeit zwischen Trennung und Scheidungsantrag von immerhin einem Jahr - das Zerrüttungsprinzip
besagt, dass man ein Jahr in Trennung leben muss, bevor
die Scheidung eingereicht werden kann - kann nun genutzt werden, um stichtagsbezogen und -gerecht Auskunft zu verlangen.
Wenn jemand zum Stichtag der Trennung die Auskunft erteilt, er besitze 50 000 Euro, und später, wenn es
zur Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags kommt,
sagt, er besitze 10 000 Euro, dann muss derjenige, der
eine Vermögensminderung darlegt, beweisen, wie es zu
dieser Vermögensminderung kam. Wenn ihm dies nicht
gelingt - es also eine illoyale Vermögensminderung war -,
dann wird er gestellt, als hätte er zum Zeitpunkt der
Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags das Geld noch
besessen. Wenn die Vermögensminderung nicht illoyal
ist, wird anders gerechnet.
Ein Beispiel: Mit der Trennung kauft jemand seiner
Freundin einen Porsche. Dadurch wird das Vermögen
um - ich habe keine Ahnung, was ein Porsche kostet 70 000 Euro gemindert.
({3})
- Weiß ich nicht. Es handelt sich um einen gebrauchten
Porsche, okay? - Das Geld ist dann weg, wenn der
Scheidungsantrag anhängig ist. Wenn er allerdings zwischen Trennung und Rechtshängigkeit des Scheidungsantrages durch eine riskante Geldanlage einen Teil seines Vermögens verliert, dann handelt es sich nach der
derzeitigen Rechtsprechung um keine illoyale Vermögensverschiebung. Demzufolge ist sie dem Ausgleichsverpflichteten nicht anzurechnen.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Mit diesem Gesetz können wir nicht alle illoyalen Vermögensverschiebungen und Beweisschwierigkeiten beseitigen. Wir denken aber doch, dass wir Wesentliches ändern konnten
und ein effektives Instrumentarium geschaffen haben,
um nach Beendigung der Ehe einen fairen und interessengerechten Zugewinnausgleich zu gewährleisten.
Ich möchte dem BMJ und den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen für die konstruktive
Zusammenarbeit bei diesem Gesetzentwurf danken. Ich
würde mich freuen, wenn das Gesetz heute in diesem
Hause einstimmig verabschiedet werden könnte.
Vielen Dank.
({4})
Irmingard Schewe-Gerigk hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Reform ist überfällig. Die Zahl der Scheidungen ist hoch, und nicht immer geht es bei der Trennung fair und transparent zu. Die Leidtragenden sind
überwiegend die Frauen.
„Scheiden soll weniger weh tun“, titelte heute die
tageszeitung. Zumindest finanziell, kann man da nur sagen; denn bisher gab es viele Schlupflöcher, um Vermögen beiseitezuschaffen. Außerdem gab es eine große Ungerechtigkeit: Brachte ein Partner hohe Schulden mit in
die Ehe, musste er bei der Scheidung nicht unbedingt einen entsprechenden Ausgleich zahlen, und das, obwohl
der andere Partner - meist muss man sagen: die Partnerin - durch Geld oder Familienarbeit an der Rückzahlung der Schulden mitgewirkt hatte. So konnte zum Beispiel der Aufbau einer Selbstständigkeit als
gemeinsamer Lebensgrundlage zum einseitigen Vorteil
werden. Wenn man gleiche Teilhabe am Vermögenszuwachs will, muss man aber berücksichtigen, wo der
Startpunkt lag.
Wir haben schon unter Rot-Grün, Herr Staatssekretär,
mit den Vorarbeiten für notwendige Korrekturen begonnen. Die Große Koalition hat dieses Vorhaben fortgeführt. Der Gesetzentwurf, den das Bundesjustizministerium vorgelegt hatte, ging in die richtige Richtung, ließ
aber noch Luft für Verbesserungen. Was sich verbessern
lässt, haben wir in der ersten Debatte im Plenum benannt.
Nach intensiven Berichterstattergesprächen und nach
Gesprächen mit den Sachverständigen - denen ich an
dieser Stelle ebenfalls danken möchte - haben wir uns
beraten. Das Ergebnis, das heute vorgelegt wird, zeigt:
Es hat sich gelohnt, um die bestmögliche Lösung zu ringen. Eine solch offene und konstruktive Zusammenarbeit aller Beteiligten würde man sich auch bei anderen
Themen manchmal wünschen.
({0})
Die Reform kommt den finanziell meist schwächergestellten Frauen zugute. Viele Frauen wissen bis heute
weder, was der Ehemann verdient, noch, wie hoch der
Kontostand ist. Die alten Geschlechterrollen sind eben
immer noch sehr lebendig. Dies macht die heutige Reform umso notwendiger.
Ansatzpunkte - das wurde gesagt - sind ein besserer
Schutz vor Vermögensmanipulation und die Einbeziehung von Anfangsschulden in den Zugewinnausgleich.
Im vorliegenden Gesamtpaket sind mehrere Instrumente
vorgesehen, um im Rahmen des Möglichen vor einer
Aushöhlung des Zugewinnausgleichs zu schützen. Die
Möglichkeiten, bei drohender illoyaler Vermögensverfügung eine vorzeitige Ausgleichszahlung durchzusetzen
und zu sichern, werden verbessert. Die Auskunftsansprüche zur Klärung des Vermögensbestands werden erheblich erweitert. Nun können auch Belege wie Kontoauszüge verlangt werden. Die rückblickende Startbilanz
wird einfacher, Mauscheleien zwischen Trennung und
Scheidung können leichter aufgedeckt werden, und wundersamer Vermögensschwund nach der Trennung - gerade wurde das Beispiel mit dem Porsche genannt muss erklärt werden. Die Umkehrung der Beweislast ist
eine gute Lösung, die eine weitere Vorverlegung des
Stichtages für die Abrechnung entbehrlich macht. Durch
die Berücksichtigung getilgter Anfangsschulden wird
der Zugewinnausgleich gerechter.
Für mich war es wichtig, dass die sogenannte Kappungsgrenze für den Ausgleichsanspruch auf null gesetzt
wurde. Ursprünglich war vorgesehen, dass nicht mehr
als die Hälfte des verbleibenden Vermögens für die Ausgleichszahlung eingesetzt werden muss. Das war nicht
einzusehen. Nun kann ein Ausgleichsanspruch bis zum
Wert des gesamten restlichen Vermögens realisiert werden. Lediglich neue Schulden muss niemand aufnehmen.
Ich hätte es befürwortet, wenn auch für die ausgleichsberechtigte Person eine Billigkeitsklausel eingebaut worden wäre. Meines Erachtens hätte sich eine eng
formulierte Lösung für etwas mehr Einzelfallgerechtigkeit finden lassen - der Herr Staatssekretär nickt -, ohne
den bewährten Mechanismus des Zugewinnausgleichs
aufzuweichen. Schließlich gibt es schon eine Billigkeitsklausel, und zwar für die ausgleichsverpflichtete Person.
Aber dieser Punkt war nicht entscheidend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Transparenz
und Verwirklichung gleicher Teilhabe, diese Ziele haben
wir erreicht. Die ersten Rückmeldungen aus der Fachwelt sind sehr positiv. Ich unterstütze allerdings die Forderung des Deutschen Juristinnenbundes, den gesetzlichen Güterstand insgesamt zu ändern. Ich denke, die EU
wird uns demnächst dazu auffordern. Trotzdem ist heute
ein guter Tag, insbesondere für die Frauen. Deshalb
stimme ich dem Gesetzentwurf aus voller Überzeugung
zu.
Ich habe noch etwas Zeit und würde in dieser gerne
darauf eingehen, dass der Herr Staatssekretär mit seiner
letzten Äußerung diejenigen gelobt hat, die neben ihrem
Bundestagsmandat noch einen zweiten Beruf, als Anwältin, haben. Herr Staatssekretär Hartenbach, ich stelle
mir manches Mal die Frage, wie das gehen kann. Ich übe
mein Mandat als Vollzeitberuf aus. Viele meiner Arbeitstage haben 16 Stunden. Ich wüsste nicht, wie ich einen
zweiten Beruf damit in Einklang bringen könnte. Diese
Debatte sollten wir zu einem späteren Zeitpunkt einmal
führen.
Ich danke allen, die an diesem guten Gesetzentwurf
mitgewirkt haben, und sage den Koalitionsfraktionen zu,
dass wir ihn voll unterstützen werden.
Vielen Dank.
({1})
Helga Lopez hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Schewe-Gerigk hat eben über die Zahl der Ehescheidungen gesprochen. Laut Statistischem Bundesamt
- ich habe heute einmal nachgesehen - waren das in
2007 rund 187 000, das heißt, in Deutschland wird derzeit jede dritte Ehe geschieden.
Die Mehrzahl der Ehepaare lebt nach wie vor im gesetzlichen Güterstand, also im Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Hier sei mir eine persönliche Bemerkung gestattet, die ich auch gestern im Ausschuss schon
gemacht habe: Die Zugewinngemeinschaft ist fair bei
Beendigung der Ehe, insbesondere deswegen, weil dann
das in der Ehe zusätzlich erworbene Vermögen fair geteilt wird. Während der Ehe hängt der wirtschaftlich
schwächere Partner aber doch sehr - ich sage es einmal
so - am Tropf des wirtschaftlich stärkeren Partners. Das
liegt daran, dass der gesetzliche Güterstand vereinfacht
ausgedrückt im Grunde genommen eine Gütertrennung
während der Ehe bei Ausgleich des Mehrvermögens am
Ende der Ehe ist.
({0})
Ich persönlich würde mir wünschen, dass in der
17. Legislaturperiode nach dieser wirklich guten Reform, durch die der gesetzliche Güterstand deutlich verbessert und deutlich fairer gemacht wird, vielleicht noch
einmal darüber nachgedacht wird, ob nicht auch eine Regelung gefunden werden kann, durch die die Fairness
während der Ehe erhöht wird.
({1})
Als Stichwort - aber auch nur als Stichwort - sei hier der
Güterstand der Errungenschaftsgemeinschaft genannt,
den es ja in vielen anderen europäischen Ländern gibt.
Zurück zum Thema, zum gesetzlichen Güterstand der
Zugewinngemeinschaft. Bei Beendigung der Zugewinngemeinschaft - wir haben das hier jetzt schon mehrfach
gehört - erhält jeder Partner die Hälfte des zusätzlich in
der Ehe erworbenen Vermögens. An diesem Grundsatz
halten wir fest; denn durch ihn wird für einen fairen und
praxistauglichen Ausgleich gesorgt. In der Praxis zeigen
sich aber Gerechtigkeitslücken. Diese werden wir mit
dieser Reform bestmöglich schließen.
({2})
Eine Gerechtigkeitslücke ist, dass bei der Berechnung
des Zugewinns Schulden vor der Ehe bislang unberücksichtigt geblieben sind. Das ist hier auch schon ausgiebig
erläutert worden. Wir werden sie künftig berücksichtigen. Das ist in der Tat gerechter.
Einen besonderen Schwerpunkt legen wir darauf
- auch das wurde ausreichend erläutert -, den schwächeren Partner künftig deutlich besser vor sogenannten illoyalen Vermögensverschiebungen zu schützen. Das gelingt uns mit der Fixierung eines festen Zeitpunktes für
die Auskunftspflicht, mit dem der Zeitraum deutlich verkürzt wird, die der stärkere Partner heute noch für diese
illoyalen Transaktionen zur Verfügung hat, mit einer
deutlich verstärkten Auskunftspflicht und mit einer Belegpflicht.
Es ist hier auch schon gesagt worden - ich glaube,
von der Kollegin Schewe-Gerigk -, dass nicht etwa die
vermögenden Ehepaare im Besonderen davon profitieren, sondern gerade die vielen Ehepaare, die nicht so viel
Vermögen haben. Denn gerade dort tut es besonders
weh, wenn zwischen der Trennung und der Scheidung
noch mal eben 10 000 Euro beiseitegeschafft werden.
Wie gesagt, wir haben gute Regelungen gefunden, um
hier zu deutlich besseren Ergebnissen zu kommen.
Auch ich will noch einmal den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des BMJ wie auch den Sachverständigen
im Namen meiner Fraktion herzlich für die erneut exzellente Zuarbeit und Mitarbeit danken. Ganz herzlichen
Dank!
({3})
Frau Granold hat schon darauf hingewiesen, dass im
Zuge der Beratungen über viele Teilbereiche intensiv mit
den Sachverständigen diskutiert worden ist. Ich erinnere
mich noch an ein Thema, das wir neben der Härtefallklausel auch sehr intensiv erörtert haben, nämlich die
Anrechnung von eheneutralem Erwerb. Die Berichterstatterinnen und Berichterstatter sind mit den Sachverständigen aber eindeutig zu dem Ergebnis gekommen,
dass wir besser keine Korrekturen vornehmen, weil wir
per se keine Besserstellung und auch keine größere Praxisnähe bei der Bearbeitung hinbekommen.
Über die Aufhebung der Hausratsverordnung und die
Änderungen im Vormundschaftsrecht ist bereits ausgiebig informiert worden. Ich persönlich freue mich, dass
die Reform des Zugewinn- und Vormundschaftsrechts
zusammen mit der FGG-Reform am 1. September dieses
Jahres in Kraft treten kann. Als Familien- und Frauenpolitikerin freue ich mich ganz besonders, dass auch
diese Reform eine große Bedeutung für die Gleichstellung von Männern und Frauen hat.
({4})
Zwar profitieren noch deutlich mehr Frauen von den
Verbesserungen, aber die Zahl der Männer, die in der
Ehe ganz, teilweise oder zeitweise in die wirtschaftlich
schwächere Position kommen - etwa während der Elternzeit - wächst ständig.
Die Reform trägt maßgeblich dazu bei, dass Partner,
die wegen Kindererziehung, Pflege von Angehörigen
oder Arbeitslosigkeit ganz oder zeitweise in der wirtschaftlich schwächeren Position sind, am Ende der Ehe
nicht auch noch ohne wirkliche Hürden über den Tisch
gezogen werden.
Abschließend nochmals ganz herzlichen Dank für die
guten Beratungen innerhalb der Fraktionen.
Die taz titelte „Scheiden soll weniger weh tun“. Eine
Trennung ist fürwahr ein schmerzlicher Vorgang. Damit
hat die taz meines Erachtens ganz recht. Mit dieser Reform wird der Vorgang vielen künftig ein bisschen weniger weh tun. Das ist gut so.
Danke schön.
({5})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts. Der
Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13027, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10798 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen.
({0})
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Horst Friedrich ({1}), HansMichael Goldmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Arbeitsplätze im Transportgewerbe sichern Mauterhöhung bis Ende 2009 aussetzen
- Drucksache 16/12731 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sind zu
Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Reden der
Kolleginnen und Kollegen Wilhelm Josef Sebastian,
Uwe Beckmeyer, Jan Mücke, Lutz Heilmann und
Dr. Anton Hofreiter.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12731 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Eduard
Lintner, Eckart von Klaeden, Klaus Brähmig,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Lothar Mark, Gert
Weisskirchen ({4}), Niels Annen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Eine starke Partnerschaft - Europa und
Lateinamerika/Karibik
- Drucksachen 16/9072, 16/9466 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({5})
Hierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich gebe als Erstem das Wort dem Kollegen Lothar
Mark für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ist
über ein Jahr alt. Er bezog sich ursprünglich auf das Gip-
feltreffen am 16./17. Mai 2008 in Lima. Wir hatten da-
mals als Themen Armut und soziale Kohäsion sowie die
Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in den Berei-
chen Umwelt- und Klimaschutz und im Energiesektor.
Das Ziel war, insgesamt eine stärkere Intensivierung der
Beziehungen zwischen Lateinamerika und der Europäi-
schen Union herbeizuführen. Quasi am Jahrestag dieses
Gipfeltreffens findet nun das Ministertreffen der EU-
Rio-Gruppe in Prag am 13./14. Mai statt. Bei diesem
Treffen wurde gestern der Beschluss gefasst, dass die
Europäische Union und Lateinamerika im Bereich der
erneuerbaren Energien noch intensiver zusammenarbei-
ten und sich gegenseitig fördern sollen. Des Weiteren
wurde der Beschluss gefasst, dass diese beiden Blöcke
die Weltklimakonferenz im Dezember in Kopenhagen
Hand in Hand vorbereiten wollen.
Es gibt ein unendlich breites Feld der Zusammenar-
beit zwischen Lateinamerika und der Europäischen
Union. Die Europäische Union hat einige Aufträge zu
1) Anlage 5
erledigen, die bisher nicht zu Ende geführt wurden.
Unter anderem verhandeln wir seit vielen Jahren mit
Mercosur, dem Wirtschaftsblock aus Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und neuerdings Venezuela, sowie der Andengemeinschaft und den zentralamerikanischen Ländern über ein Assoziierungsabkommen bzw.
Abkommen im Handelsbereich. Wir kommen im Grunde
genommen nicht so voran, wie es für beide Seiten von
Vorteil wäre. Ich persönlich bedauere das sehr, weil für
die europäische und insbesondere für die deutsche Wirtschaft, aber auch für die lateinamerikanische Wirtschaft
wesentlich mehr erreichbar wäre, als derzeit auf bilateraler Ebene möglich ist.
Ich weise besonders darauf hin, dass die Europäische
Union es in der Phase, in der die Vereinigten Staaten Lateinamerika nicht so intensiv als Partner ansahen, versäumt hat, in die Lücke hineinzustoßen. Nun hat Präsident Barack Obama erklärt, dass er mit Zentralamerika
und Südamerika wieder intensiver zusammenarbeiten
wird. Es wird für uns insgesamt schwieriger werden, in
die entsprechenden Bereiche vorzudringen. In den derzeit laufenden Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit Ländern der Andengemeinschaft hat die Europäische Union zudem meines Erachtens den Fauxpas
begangen, mit der Andengemeinschaft nicht mehr en
bloc, sondern nur noch mit Kolumbien, Peru und
Ecuador zu verhandeln. Bolivien hat sich separiert, weil
es mit der Agenda nicht einverstanden ist. Ich denke,
dass es falsch war, dass die Europäische Union, die immer mit Wirtschaftsblöcken und politischen Blöcken
insgesamt verhandeln und deren Integration fördern
wollte, dieses Prinzip verlassen hat. Es wird gesagt, dass,
wenn diese Einzelverhandlungen über ein Wirtschaftsund Handelsabkommen zu einem Ergebnis kommen,
dieses dann später in einem umfassenden Assoziierungsabkommen zusammengeführt werden soll, das von allen
beteiligten Ländern mitgetragen wird. Ich denke, das
wird ein Trugschluss sein. Die Europäische Union als
Block wird mit der Andengemeinschaft auf diesem
Wege nicht weiterkommen.
Die Verhandlungen mit Zentralamerika laufen gut.
Die Verhandlungen mit Mercosur sind auf dem Stand
des letzten und vorletzten Jahres geblieben. Es gibt keine
allzu großen Fortschritte, wenngleich diese dringend
notwendig wären.
Es gäbe zu Lateinamerika und den bilateralen Beziehungen unendlich viel zu sagen,
({0})
sowohl zu Brasilien als auch zu Venezuela, zu Bolivien,
zu Kolumbien und zu Kuba. Ich will ein Wort zu Kuba
sagen - ich tue das nicht, um etwa Kuba besonders hervorzuheben -: Es ist ermutigend, dass der neue amerikanische Präsident zumindest einige Erleichterungen
gegenüber Kuba veranlasst hat. Jetzt können die Exilkubaner wieder öfter nach Kuba reisen, und sie dürfen
mehr Geld nach Kuba überweisen. Ich glaube, es wäre
ungemein wichtig - das haben alle übrigen lateinamerikanischen Länder auf dem OAS-Gipfel im April in Trinidad und Tobago gefordert -, dass das US-Embargo gegen Kuba aufgehoben wird.
Ich muss meine kurze Rede beenden. Ich bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit und darf an dieser Stelle
sagen: Das wird aller Wahrscheinlichkeit nach meine
letzte Rede zu Lateinamerika im Deutschen Bundestag
gewesen sein, weil ich nicht wieder kandidieren werde.
Danke.
({1})
Herr Mark, herzlichen Dank. Der Respekt des ganzen
Hauses für Ihre Arbeit hier im Parlament soll Ihnen ge-
wiss sein.
Als nächste Rednerin rufe ich, weil Marina Schuster
von der FDP-Fraktion ihre Rede zu Protokoll gegeben
hat,1) wegen des Wechsels zwischen Regierung und Opposition jetzt die Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Die Linke auf.
({0})
Frau Präsidentin! Ich bitte um Entschuldigung. Ich
bin hierhergerannt und habe kaum noch Luft. - Herr
Lothar Mark, ich bedauere sehr, dass Sie nicht noch einmal den Weg ins Parlament gewählt haben; denn Sie sind
- das darf ich auch für die anderen Fraktionen sagen - ein
ausgezeichneter Vertreter nicht nur der deutschen Interessen in Lateinamerika, sondern auch der lateinamerikanischen Interessen in Deutschland.
({0})
An dem Bericht und der Beschlussempfehlung, die
wir heute diskutieren, ist mir aufgefallen, dass bestimmte, ganz wichtige Länder gar nicht genannt sind.
Dazu möchte ich Venezuela, Bolivien, Ecuador und vielleicht auch Paraguay zählen, Länder, in denen sich durch
demokratische Wahlen und verfassungsgebende Prozesse, an denen die Bevölkerung teilgenommen hat, hervorragende Entwicklungen vollzogen haben. In einer
beispielhaften Weise sind neue Regierungen an die
Macht gekommen, die sich zum Ziel gesetzt haben - ich
nenne das Beispiel Bolivien -, endlich die Rechte der indigenen Bevölkerung zu wahren, zu sichern und auszubauen und dieser Bevölkerung die Macht in der Regierung zu geben.
({1})
Mein Gespräch, das ich gerade mit dem boliviani-
schen Botschafter geführt habe, hat mir gezeigt, wie
wichtig es ist, dass wir darauf achten, dass diese Länder
1) Anlage 6
ihre eigenen Entwicklungspotenziale nutzen können und
nicht durch Freihandelsabkommen, von denen das letzte
ohnehin gescheitert ist, daran gehindert werden, eigene
Produktlinien zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen,
eine unabhängige Wirtschaft aufzubauen. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass das internationale Verbot, Kokapflanzen anzubauen, diesem Land
ganz schweren Schaden zufügt. Sonst könnte das Land
eine Nutzpflanze entwickeln, die ihm zu wirtschaftlicher
Prosperität verhelfen würde. Über eine solche Veränderung der Politik muss Deutschland dringend nachdenken, gerade auch im Hinblick auf Europa.
Ich kann diesem Antrag überhaupt nicht folgen. Man
setzt auf bilaterale Verträge und erkennt die neue wirtschaftliche Realität nicht an. Gewollt wird eben keine
marktradikale, keine neoliberale Ordnung; vielmehr will
man eine Gesellschaft aufbauen, die über das, was wir
als soziale Marktwirtschaft kennen, hinausgeht. Das ist
eine Demokratie, die es zu unterstützen gilt. Deshalb
wundert es mich sehr, dass Sie die Länder in Lateinamerika, die diesen demokratischen Weg gehen, hier mit keinem Wort erwähnen.
Ganz wichtig ist mir auch das Thema Klimawandel;
Sie haben es angesprochen. In Ecuador gibt es ein sehr
unterstützenswertes Projekt, den Regenwald nicht auszubeuten und die Ölvorkommen nicht zu nutzen. Die
europäische Seite sollte es unterstützen. Wir sollten unser Know-how dafür zur Verfügung stellen, dass diese
Länder nicht den falschen Weg gehen, die Ressourcen
auszubeuten. Die neue Regierung dort orientiert sich am
Ziel einer nachhaltigen Wirtschaft. Wir müssen sie dringend unterstützen.
({2})
Ich möchte auch auf die neue Agentur IRENA hinweisen. Sie fördert solche Maßnahmen. Diese Agentur
ist von unserem Abgeordnetenkollegen Hermann Scheer
maßgeblich mit ins Leben gerufen worden. Die Unterstützung dieser Agentur ist eine wichtige Hilfe, die wir
im Rahmen von Kooperation, von Entwicklungszusammenarbeit geben können.
Eines zum Schluss - die Zeit rast -: Angesichts der
katastrophalen Entwicklungen im Bereich der Bekämpfung der Drogenkriminalität in Mexiko sind Deutschland
und andere europäische Länder als die Konsumenten der
illegalisierten Drogen dringend aufgefordert, einmal
gründlich darüber nachzudenken, wie viel Elend, Leid,
Gewalt und Tod der Krieg gegen Drogen in Lateinamerika gebracht hat.
Ich vertrete hier die Auffassung: Wir müssen im
nächsten Deutschen Bundestag dringend eine EnqueteKommission zur Drogenpolitik mit Blick auf das Problem der Prohibition einrichten. Dieses Netz von Gewalt, Korruption und Menschenrechtsverletzungen, das
sich im Zuge des sogenannten Krieges gegen Drogen
- ich verweise auf den „Plan Columbia“ in Kolumbien entwickelt, ist mit einer Politik der Menschenrechte und
der Achtung der indigenen Bevölkerung nicht mehr in
Einklang zu bringen.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt hat der Kollege Erich Fritz das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Lothar Mark, es macht immer
Freude, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die wissen,
worüber sie sprechen. Deshalb herzlichen Dank für die
Zusammenarbeit in Sachen Lateinamerika! Es ist schade
für den Deutschen Bundestag, dass du als Abgeordneter
nicht weitermachen wirst.
Man kann unterschiedliche Vorstellungen zu den Entwicklungen in Lateinamerika haben. Das alles mit den
Worten „demokratische und eigenständige Entwicklung“
darzustellen, scheint mir doch etwas einäugig zu sein.
({0})
Das, was durch die Bilder von Oppositionellen aus
Venezuela zum Ausdruck kommt - man hat dort sozusagen mit der Pistole am Kopf gewählt -, ist meinem Verständnis von Demokratie genau entgegengesetzt.
({1})
Das ist nicht das, was wir uns wünschen. Die Neigung,
diese Art von Caudillotum in Lateinamerika wieder hoffähig zu machen, ist sicher nicht gut für die Zukunft dieses Kontinents.
({2})
Wir bedauern ausdrücklich, dass alle Anstrengungen
zur Integration in Lateinamerika - sowohl in Zentralamerika als auch in den Anden als auch in Mercosur stecken geblieben sind. Warum sind sie stecken geblieben? Weil sich die Erkenntnis, dass es ein Vorteil für alle
ist, wenn man selbst ein wenig zurücksteckt, für die anderen mitdenkt und Nachteile in Kauf nimmt, nicht
durchgesetzt hat. Wir, die Europäische Union, sind für
diese Länder durchaus ein Vorbild, was Integration angeht.
({3})
Man will aber nicht wahrhaben, was es heißt, dass
man von seinen Souveränitätsrechten ein Stück abrücken
muss, dass man auch einmal akzeptieren muss, etwas
hinzugeben, um dem anderen zu helfen. Wie lange hat es
in Mercosur gedauert, bis es zum ersten Mal einen wirklich mickrig ausgestatteten Fonds gab, mit dem kleineren Ländern geholfen werden sollte? Das ist ein Anfang.
Man hat jetzt so etwas wie eine parlamentarische Versammlung gegründet. Das ist der richtige Ansatz.
Wenn Sie sich aber anschauen, was jetzt während der
Krise in Argentinien geschieht, dann erkennen Sie, dass
es nur zulasten der Nachbarländer, insbesondere der klei24410
nen Nachbarländer, geht. Die Schikanen innerhalb einer
Region - etwa zwischen Argentinien und Paraguay führen beispielsweise zur Verhinderung des Exports von
Agrarprodukten wie Rindfleisch nach Chile. Paraguay
ist auf diese Exporte aber angewiesen und hat keine andere Möglichkeit, als sie über das Nachbarland zu transportieren.
Dies zeigt, dass das Verständnis davon, dass man den
Wohlstand über eine supranationale Integration gemeinsam fördern kann, nicht ausgeprägt ist. Immer dann,
wenn es in einer Krise schwierig wird, fällt man leicht in
eine Haltung zurück, die in Lateinamerika dazu geführt
hat, dass Gewalt die Politik bestimmt. Zehn Jahre nach
dem ersten EU-LAK-Gipfel ist es deshalb Auftrag der
europäischen Politik, dafür zu sorgen, dass es nicht zu
Brüchen in den Beziehungen zu diesen Ländern kommt.
Dies muss unabhängig davon geschehen, wo diese einzelnen Länder im Augenblick stehen.
Im Hinblick auf die jetzigen Prozesse - Lothar Mark
hat sie einzeln dargestellt; ich muss sie nicht wiederholen - müssen wir alles dafür tun, zur Schaffung möglichst gemeinschaftlicher Initiativen beizutragen und den
Bruch, den es in den Beziehungen zu den Andenstaaten
gegeben hat, zu kitten. Wir müssen die Basis so gestalten, dass die anderen Länder sich schnell wieder anschließen. Die Europäer haben in diesen Prozessen
wahrlich viele Angebote zugunsten dieser Länder gemacht. Wir überziehen Lateinamerika nicht mit einer
Ideologie und bestimmten Konsensvorstellungen, wie
das andere tun. Wir sind Partner, und als solche werden
wir auch wahrgenommen.
Die Ausrichtung und der Wunsch, dass wir strategischer Partner der Region und auch der großen Länder
- diese wollen natürlich immer besondere Beziehungen
haben - sein sollen, zeigen die enge Verbundenheit im
Denken und in den Werten. Der Glaube, dass die Europäer eine ehrlichere Beziehung zu Lateinamerika als andere Länder auf dieser Welt zu pflegen bereit sind, stellt
für uns eine Chance dar. Sie kann aber nur dann genutzt
werden, wenn auch in Lateinamerika ein Umdenken
stattfindet.
Ich weiß, dass es in unseren Partnerländern viele
Menschen gibt, die daran arbeiten und daran glauben,
dass es nur auf diese Weise geht. Ansonsten würde wiederum der Effekt einsetzen, dass man nur den eigenen
Vorteil - auch wenn es sich für den Nachbarn nachteilig
auswirkt - sieht; nach der Argentinienkrise war dies
deutlich zu sehen. In der jetzigen Krise hat weder in
Asien noch in Nordamerika noch in Europa und noch
nicht einmal in Afrika der Protektionismus Einzug gehalten. In Lateinamerika dagegen ist das der Fall. Das
sollte uns zu denken geben, da es unmittelbare Folgen
für diejenigen hat, die von der Ausfuhr von Agrarprodukten abhängig sind; an dieser Stelle möchte ich noch
einmal Paraguay nennen.
Das kann uns nicht gleichgültig sein. Deshalb glaube
ich - unabhängig davon, über welchen Antrag wir gerade reden -, dass jetzt eine Welle von Beeinträchtigungen über diese Länder hinwegrollen wird. Die Krise ist
jetzt auch in Lateinamerika angekommen. Wir wissen,
dass wir um die Rohstoffe dieser Regionen einen Wettbewerber haben - ich meine China -, dass Indien zunehmend Interesse entfaltet, dass es aber nicht der größte
Wunsch Lateinamerikas ist, solche Beziehungen zu den
asiatischen Ländern zu pflegen. Gerade sich entwickelnde Länder wie Mexiko und Brasilien sehen China
als Konkurrenten an. Sie sehen das Land nicht nur als
wichtigen Investor, auf den man sich in vielen Bereichen
verlassen kann - das ist ganz unbestritten -, sondern
auch als Wettbewerber. Sie konkurrieren in dem gleichen
industriellen Segment mit diesen beiden großen Ländern.
Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zu den
Energiebeziehungen sagen. Wir haben nicht die intensivsten Beziehungen zu den Ölländern und den Gasländern Lateinamerikas. Was sich dort abzeichnet, ist ein
Beispiel für den inneren Zustand dieser Länder, nämlich
die Unfähigkeit und mangelnde Bereitschaft, Wege zu
finden, die außerhalb der eigenen Vorstellungen liegen,
um dafür sorgen zu können, dass ihre Rohstoffeinkommensbasis erhalten bleibt. Wir erleben jetzt in Venezuela
wie in Mexiko - beides wichtige Länder aufgrund ihrer
Vorräte -, dass die Produktionsraten von Jahr zu Jahr
sinken und dass die Investitionen weit hinter dem zurückbleiben, was notwendig wäre, um auf Dauer die Basis für diese Volkswirtschaften zu sichern.
Schließlich sollte man sich auch anschauen, wie die
Ölgewinne in Venezuela verteilt werden. Dem Verfahren, dass ein kleiner Anteil im Staatshaushalt landet und
ein großer Anteil zur freien Verfügung des Präsidenten
steht, der darüber nicht rechenschaftspflichtig ist, schon
gar nicht gegenüber dem Parlament, können doch auch
Sie, Frau Knoche, nicht zustimmen.
({4})
Das kann doch kein Vorbild sein für die Art von Partner,
mit denen wir in Lateinamerika zusammenarbeiten wollen.
({5})
Als Partner kommen vielmehr diejenigen infrage, die
sich bereit erklären, die Idee des freiheitlichen Staates
hochzuhalten. Mit diesen Staaten wollen wir zusammenarbeiten; diese Zusammenarbeit muss sich für sie dann
auch deutlich vorteilhaft auswirken.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich möchte für die Grünen unser Bedauern aussprechen, dass Herr Mark uns verlässt. Auch ich habe
ihn im Rahmen der südamerikanischen Partnerschaftsgruppen kennen- und schätzen gelernt. Ich bedauere es
sehr, nicht mehr weiter mit ihm hier im Bundestag diskuUte Koczy
tieren zu können. Ich wünsche ihm natürlich viel Glück
und viel Erfolg auch außerhalb der Politik.
Meine Damen und Herren, die letzte große Debatte zu
Lateinamerika hier im Haus liegt schon ein Jahr zurück.
Seitdem ist eine ganze Menge in Bewegung geraten. Vor
einem Jahr - wir erinnern uns - verhalfen die hohen
Rohstoffpreise den lateinamerikanischen Staaten zu
neuer Handlungsfähigkeit und großem Selbstbewusstsein. Ein Jahr später sind die Rohstoffpreise gefallen,
und alle Länder sind in den Sog der weltweiten Rezession geraten.
Wer hätte aber vor einem Jahr gedacht, dass ein neuer
US-Präsident den Beginn einer neuen Kuba-Politik einläuten würde oder - auch das ist neu - dass Präsident
Chávez gerne ein Freund des US-Präsidenten sein
möchte? Wir wissen natürlich: Diese Entwicklungen
sind nicht der strategischen Partnerschaft zwischen der
EU und Lateinamerika zu verdanken. Schade eigentlich,
denn die EU steht weiterhin nur am Spielfeldrand. Sie
schaut nur zu, wie sich die Beziehungen zwischen Lateinamerika und Asien bzw. den USA entwickeln. Ich
befürchte, die EU wird auch später noch am Spielfeldrand stehen und sich wundern, wenn sich die Beziehungen zwischen Washington und den Staaten der Region
verändert haben. Dann wird sich die EU fragen, warum
man all das verpasst hat.
({0})
- Diese Zustimmung überrascht mich jetzt. Aber der
Kollege hat, wie ich meine, auch recht.
Eigentlich wollte die EU ja die regionale Integration
stärken und biregionale Assoziierungsabkommen abschließen, also Abkommen, bei denen es nicht nur um
Freihandel, sondern auch um politischen Dialog, Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte gehen
sollte.
({1})
Man wollte zeigen, dass die EU anders reagiert als die
USA. Doch wir mussten registrieren: Die guten Vorsätze
sind schnell über Bord gegangen. Kolumbien und Peru
konnten sich nicht mit Bolivien und Ecuador einigen;
das wurde schon gesagt. Man gab dann dem dringenden
Wunsch Kolumbiens nach und einigte sich darauf, die
Handelsfragen bilateral zu behandeln, und zwar nur die
Handelsfragen. Das heißt, es fehlt ein ganz gewaltiger
Bestandteil, den die EU eigentlich auch in die Abkommen integriert sehen wollte.
({2})
Da fragen wir jetzt: Wo ist denn die europäische Strategie gegenüber Lateinamerika? Der US-Kongress hat
wegen der desaströsen Menschenrechtslage in Kolumbien ein Freihandelsabkommen mit diesem Land blockiert. Aber wir Europäer verhandeln weiter über ein
Abkommen, das keinen Bezug zu Menschenrechtsstandards hat, ja noch nicht einmal eine Demokratieklausel
enthält. Entspricht das dem viel beschworenen Wertefundament der EU? So darf es doch nicht weitergehen.
Hier hat Frau Merkel falsch verhandelt.
({3})
Ich glaube nicht, dass wir Kolumbien einen Vertrag
an die Hand geben, mit dem die Regierung dann nach
dem Motto hausieren gehen kann: Schaut mal her, wenn
selbst die Europäer mit uns einen Freihandelsvertrag abschließen, kann es doch mit den Menschenrechten bei
uns nicht so schlimm bestellt sein.
Es wurde schon darauf hingewiesen: Gestern haben
sich in Prag die EU-Außenministerinnen und -minister
mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Lateinamerika
und der Karibik getroffen. Sie haben beraten, welche gemeinsamen Antworten sie geben. Es klingt gut, wenn
man sich dabei auf erneuerbare Energien konzentriert.
Aber die Verpflichtungen sind vage; es gibt nur ein unverbindliches Dokument. Man merkt ganz deutlich, dass
die Außenminister nicht begriffen haben, dass es jetzt einen Stopp bei den fossilen Energieträgern und eine Stornierung der Atomverträge mit Brasilien geben muss.
({4})
Es gibt Bausteine in der Region; Kollegin Knoche hat
darauf hingewiesen. Die von den Grünen angeregte und
vom Parlament gemeinsam unterstützte ITT-Initiative ist
ein positiver Vorschlag. Schade, dass wir es versäumt
haben, auf EU-Ebene solche hervorragenden Beispiele
zu unterstützen und zu forcieren.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Niels Annen hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich darüber, dass bezüglich der Einschätzung
dieses wichtigen Kontinents in dieser Debatte viele übereinstimmende Punkte festzuhalten sind. Deswegen habe
ich mein Manuskript an meinem Platz gelassen. Statt der
ursprünglich geplanten Rede möchte ich - nachdem wir
heute in diesem Parlament schon eine wichtige Debatte
zum Thema „60 Jahre Grundgesetz“ hatten - auch in Bezug auf Lateinamerika etwas zur Frage der Demokratie
sagen.
Kollege Fritz, sosehr ich Ihnen zustimme, dass es die
eine oder andere Entwicklung gibt, die uns besorgt stimmen muss - Venezuela ist ein Beispiel, aber auch andere
Länder, die in der Debatte genannt worden sind -, bin
ich doch der Meinung, dass wir die großartige Leistung
Lateinamerikas in den letzten Jahrzehnten hervorheben
sollten. Denn dieser Kontinent, der in weiten Teilen beherrscht war von Militärdiktaturen, hat es geschafft, die
Epoche der Diktaturen nachhaltig hinter sich zu lassen,
auch wenn nach wie vor unglaubliche soziale Gegensätze existieren, soziale Spannungen, Unterschiede zwischen Arm und Reich - bis hin zu anderen Problemen,
die uns Sorgen bereiten und die wir miteinander besprechen müssen: nämlich Korruption, Drogenhandel, auf
den Sie hingewiesen haben, die Zersetzung ganzer Gesellschaften durch den „narcotráfico“.
({0})
An dieser Stelle sollte auch darauf hingewiesen werden, dass auf einige der aufgrund der Finanzkrise und
der Fehlentwicklungen an den internationalen Märkten
bestehenden Probleme, über die wir in Deutschland zurzeit mit großer Intensität diskutieren, in einigen Ländern
Lateinamerikas in gewisser Weise in Form einer - man
muss es fast so nennen - revolutionären politischen Entwicklung bereits reagiert worden ist. Viele Regierungen
in wichtigen lateinamerikanischen Ländern sind abgewählt worden. Traditionelle Partner, auch der Sozialdemokratie und der Christdemokratie, sind als politische
Parteien, als Bewegung quasi von der Bildfläche verschwunden. Deswegen sollten wir in dieser Zeit, in der
wir über grundlegende Konsequenzen aus den Fehlentwicklungen auf den internationalen Märkten reden, unseren Blick auch einmal nach Lateinamerika wenden
und schauen, welche Reaktionen es dort bei der Zivilgesellschaft und der Politik gegeben hat.
Wir sind uns in diesem Hause nicht immer einig hinsichtlich der Entwicklungen in Lateinamerika. Es ist
schwierig, in einer relativ kurzen Debatte das Bild eines
gesamten Kontinents zu entwerfen. Lateinamerika ist
sehr vielfältig, und es gibt diverse und zum Teil auch widersprüchliche Entwicklungen. Aber eines ist, glaube
ich, klar: Die Menschen in Lateinamerika haben die demokratischen Freiheiten nicht nur zu schätzen gelernt,
sondern sie haben sich auch, zum Teil unter großen persönlichen Risiken und zu einem hohen Preis, dafür eingesetzt, dass ihre Länder weiterhin demokratisch regiert
werden. Auf der anderen Seite haben die Menschen
deutlich gemacht, dass sie nicht mehr bereit sind, die Art
und Weise zu akzeptieren, in der die internationale Gemeinschaft ihnen in den letzten Jahrzehnten über Instrumente des Internationalen Währungsfonds oder auch der
Weltbank ohne Sensibilität für die sozialen Probleme in
vielen Bereichen eine bestimmte Politik aufgezwungen
hat.
Bei allen Schwierigkeiten - Frau Knoche hat in einer
positiven Konnotation über Venezuela geredet; Herr
Fritz hat dies in einer etwas kritischeren Art und Weise
getan - bin ich der Überzeugung, dass wir mit diesen
Regierungen und mit diesen Bewegungen im Gespräch
bleiben müssen. Die europäische Lateinamerika-Politik
muss sich sehr genau anschauen, was in Trinidad passiert ist. Wir müssen die Signale der neuen amerikanischen Administration ernst nehmen. Wir dürfen ihr aber
nicht hinterherlaufen, sondern müssen mit einer eigenständigen und selbstbewussten Politik der lateinamerikanisch-europäischen Partnerschaft einen neuen Impuls
verleihen. Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Antrag und
hoffe gleichzeitig, dass dieses Parlament und auch der
neu gewählte Bundestag in der Lage sein werden, mehr
als eine halbe Stunde am Abend über dieses Thema zu
diskutieren, und dass dann alle heute Anwesenden wieder dabei sind.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit dem
Titel „Eine starke Partnerschaft - Europa und Latein-
amerika/Karibik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9466, den An-
trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Druck-
sache 16/9072 anzunehmen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die
Koalition und bei Ablehnung durch die Oppositionsfrak-
tionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf:
25 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Otto ({1}), Christoph Waitz,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Klare Rahmenbedingungen für den dualen
Rundfunk im multimedialen Zeitalter
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar
Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeitalter
- zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje
Bettin, Volker Beck ({2}), Ekin Deligöz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Besondere Rolle des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks nach EU-Kompromiss sicher-
stellen
- Drucksachen 16/5959, 16/6773, 16/5424, 16/
7343 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Jörg Tauss
Christoph Waitz
Grietje Bettin
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({3}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Elke Reinke, Dr. Lothar Bisky, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Neuregelung der GEZ-Befreiungstatbestände -
Neuverhandlung des Rundfunkgebühren-
staatsvertrages
- Drucksachen 16/5140, 16/7345 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Jörg Tauss
Christoph Waitz
Grietje Bettin
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({4})
- zu der Unterrichtung durch den Beauftragten
der Bundesregierung für Kultur und Medien
Medien- und Kommunikationsbericht der
Bundesregierung 2008
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({5}), Christoph
Waitz, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung
durch den Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien
Medien- und Kommunikationsbericht der
Bundesregierung 2008
- Drucksachen 16/11570, 16/12135, 16/12909 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Monika Griefahn
Hans-Joachim Otto ({6})
Grietje Staffelt
Hier ist interfraktionell vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden. Es
handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen
und Kollegen: Reinhard Grindel, Marco Wanderwitz,
Monika Griefahn, Hans-Joachim Otto, Lothar Bisky und
Grietje Staffelt.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 16/7343. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5959
mit dem Titel „Klare Rahmenbedingungen für den dua-
len Rundfunk im multimedialen Zeitalter“. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegen-
stimmen der FDP-Fraktion und Zustimmung im übrigen
Haus angenommen.
1) Anlage 7
Unter Buchstabe b der Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6773 mit dem
Titel „Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeitalter“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ablehnung der Fraktion Die Linke und bei
Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7343
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/5424 mit dem Titel „Besondere Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach
EU-Kompromiss sicherstellen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Neuregelung der GEZBefreiungstatbestände - Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7345, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5140
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen der Linken und bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/12909. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des
Medien- und Kommunikationsberichts der Bundesregierung 2008 auf Drucksache 16/11570 eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke bei Enthaltung der FDP angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12135
zu der eben genannten Unterrichtung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke angenommen. Die FDP hat dagegen gestimmt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes
- Drucksache 16/12593 24414
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({7})
- Drucksache 16/13015 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Kammer
Christian Ahrendt
Silke Stokar von Neuforn
Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Jochen-Konrad Fromme,
Maik Reichel, Christian Ahrendt, Ulla Jelpke und Silke
Stokar von Neuforn.
Mit dem 8. Änderungsgesetz zum Bundesvertriebenengesetz unterstreichen wir heute am Tag der Debatte um
60 Jahre Grundgesetz die Kontinuität der Verantwortung
Deutschlands für die deutschen Minderheiten und die
Spätaussiedler. Das Bundesvertriebenengesetz bedarf im
nunmehr 57. Jahr seines Bestehens einiger Änderungen,
die der Rechtsklarheit und einer Vereinfachung dienen.
Das wichtige Ziel dabei ist es, das Verfahren zur Ausstellung einer Spätaussiedler- oder Angehörigenbescheinigung erheblich zu beschleunigen. Dies ist eine gute Neuregelung, denn hierzu werden nach den Vorschlägen des
Bundesinnenministers die Fristen bei der Überprüfung
von Ausschlussgründen verkürzt, und das Verfahren wird
künftig anstatt zwei bis drei Monate regelmäßig nur noch
zwei bis drei Wochen betragen. Damit kann eine Bescheinigung als Spätaussiedler oder Angehöriger zügig nach
der Einreise ausgestellt werden.
Mit diesem Gesetz wird zudem die rückwirkende Aufhebung von Spätaussiedler- und Angehörigenbescheinigungen parallel zur Rücknahme von Einbürgerungen im
Staatsangehörigkeitsgesetz geregelt. Die Rücknahme einer Bescheinigung wird auf den Zeitraum von fünf Jahren
beschränkt und der Schutz der Ehegatten und Abkömmlinge des Spätaussiedlers berücksichtigt. Weiterhin wird
die Befristung der vertriebenenrechtlichen Altbescheide
von EU-Bürgern aufgehoben. Kein Betroffener soll aufgrund einer Befristung veranlasst werden, vorzeitig auszureisen.
Ein weiterer wesentlicher Punkt des Gesetzes ist
schließlich eine effektive Gestaltung der Verwaltungspraxis: Das Bundesverwaltungsamt, das bereits jetzt die zentrale Behörde im Verfahren zur Aufnahme von Spätaussiedlern ist, wird zukünftig ebenfalls für die Erteilung von
Bescheinigungen in Altfällen zuständig. Die Bundesländer werden insofern von parallelen Verwaltungsstrukturen entlastet. Weitaus wichtiger als die Verfahrensbeschleunigungen ist aber das politische Bekenntnis
unserer dauerhaften und historischen Verantwortung gegenüber den Deutschstämmigen, die in diesem Gesetz
seinen Ausdruck findet.
Denn das Bundesvertriebenengesetz bestätigt im
Grundsatz den bestehenden rechtlichen Rahmen auch für
eine künftige Aufnahme deutscher Spätaussiedler in die
Bundesrepublik Deutschland: Die Tür für die deutschen
Spätaussiedler ist und bleibt offen. Art. 116 des Grundgesetzes und dessen Ausführungsbestimmungen gelten fort.
Dabei ist es von außerordentlicher Bedeutung, dass wir
uns auch künftig zu einem allgemeinen Kriegsfolgenschicksal für die Deutschen aus den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion bekennen. Denn eine vollständige Rehabilitation dieser Schicksalsgruppe hat bis heute nicht stattgefunden.
Über drei Millionen deutsche Spätaussiedler sind seit
der Wende in Europa zu uns in die Bundesrepublik
Deutschland eingereist. Die allermeisten von ihnen sind
sehr gut integriert und stellen eine erhebliche Bereicherung unserer insgesamt älter werdenden Gesellschaft dar.
Die jüngste Studie „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der
Integration in Deutschland“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung hat eindrucksvoll belegt, dass
die Gruppe der Spätaussiedler - im Gegensatz zu den türkischstämmigen Migranten - besonders gut abgeschnitten hat.
Eine deutliche Diskrepanz dazu ergibt sich in der öffentlichen Wahrnehmung, vor allem durch die mediale
Aufbereitung von Straftaten, die die Gruppe dann insgesamt in ein schlechtes Licht rücken. Dabei belegen solide
Statistiken und Untersuchungen anderes. So hat die
Hamburger Polizeibehörde schon vor einiger Zeit eine
Untersuchung veröffentlicht, die nachweist, dass Spätaussiedler keine höhere Kriminalitätsneigung haben als
einheimische Deutsche; häufig ist sogar das Gegenteil
der Fall. Ähnliche Untersuchungen und Ergebnisse gibt
es auch aus anderen Bundesländern. Das alles kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einen kleineren Teil innerhalb der Gruppe gibt, bei dem die Integration in unsere Gesellschaft bis heute noch nicht gut
funktioniert hat.
Dort, wo Integrationsprobleme bestehen, sind vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene betroffen, die erst in den vergangenen Jahren und häufig gegen ihren Willen zu uns nach Deutschland gekommen
sind. Dort, wo zu geringe Sprachkenntnisse den Weg in
den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt versperren, da ist
auch der Weg in die Gesellschaft versperrt und da treten
fast schon zwangsläufig Probleme zutage.
Ich will offen ansprechen, dass sich in manchen Gemeinden, wo wie etwa im niedersächsischen Cloppenburg jeder fünfte Einwohner aus einer Spätaussiedlerfamilie stammt, eine Parallelgesellschaft gebildet hat. Laut
einer dort tätigen Sozialpädagogin funktioniere das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Aussiedlern
nur deshalb, weil sich die Spätaussiedler in einer eigenen
Welt eingerichtet haben. Die deutsche Gesellschaft, der
deutsche Staat dürfen auf gar keinen Fall in dieselbe
Gleichgültigkeit verfallen, wie es in Cloppenburg bereits
der Fall ist. Hier ist die Politik gefordert! Denn nur die
Politik, so das Fazit der besagten Sozialpädagogin,
könne die Parallelgesellschaft von „Russland-Deutschen
und Deutschland-Deutschen“ noch aufbrechen.
Wie sich auch am Beispiel Cloppenburg zeigt, sind und
bleiben die deutschen Sprachkenntnisse das Fundament
für eine erfolgreiche Integration. Den Weg, den die Bundesregierung mit dem Nationalen Integrationsplan eingeJochen-Konrad Fromme
schlagen hat, weist in die richtige Richtung: Die „Ausländerpolitik“ soll endlich professionalisiert werden,
wobei die Integrations- und Sprachkurse ein zentrales
Element sind. Die Spätaussiedler haben über Jahrzehnte
in ihren Herkunftsgebieten dafür gelitten, dass sie sich als
Deutsche verstanden und versucht haben, als Deutsche
zu leben. Sie wollen hier unter uns als Deutsche leben;
und so sollten wir ihnen auch begegnen.
Aus zahlreichen Gesprächen mit Spätaussiedlern bin
ich auf zwei Probleme gestoßen, die momentan als die
schwerwiegenden Hindernisse wahrgenommen werden:
zum einen die Anerkennung von im Ausland erworbenen
Berufsabschlüssen und zum anderen die im Rahmen der
Familienzusammenführung aufgetretenen Härtefälle. In
beiden Fällen muss rasch eine Lösung gefunden werden,
was sich die Union auf ihre Fahnen geschrieben hat!
„Integration leidet in Deutschland nicht in erster Linie
an einem Mangel an Angeboten und erst Recht nicht an zu
wenig Regeln und Gesetzen“, äußerte jüngst die Journalistin Merle Hilbk, die selbst Nachfahrin von RusslandDeutschen ist, in einem bemerkenswerten Beitrag in der
„taz“, „sondern,“ so Hilbk weiter, „vor allem an einer
fehlenden Vorstellung davon, wie das gemeinsame Zusammenleben aussehen könnte - einem Leitbild, das dem
Rückzug in Parallelgesellschaften entgegenwirken
könnte“.
Auch wenn es noch so verpönt ist, von Leitbildern zu
sprechen, kommt die deutsche Gesellschaft, vor allem die
deutsche Politik, nicht um diese Diskussion herum.
Ich erinnere an die gewalttätigen Unruhen in den
Vororten von Paris, bei denen vor gerade mal vier Jahren 2 500 Randalierer festgenommen wurden. Heinz
Buschkowsky, der Bürgermeister von Neukölln, Berlins
Zuwandererhochburg, sagte damals, dass die Ausschreitungen in Frankreich ein Hinweis auf das sein könnten,
was uns in 10 bis 15 Jahren drohe. Mehr denn je ist die
Gesellschaft, ist die Politik gefordert, stärkere Integrationsbemühungen umzusetzen. Die heute zu beschließende gesetzliche Grundlage ist ein weiterer Schritt in
diese Richtung, und daher bitte ich um Ihre Zustimmung.
Wir haben heute über das 8. Gesetz zur Änderung des
Bundesvertriebenengesetzes zu befinden. Die Vertreibungen infolge des Zweiten Weltkrieges sind ein Thema, das
- obwohl seine realen Ereignisse mehr als 60 Jahre zurückliegen - in vielen Aspekten noch Gegenwart ist. Wer
das abstreitet, verschließt die Augen zum Beispiel vor den
vielfältigen Debatten und Reflexionen in unserer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, ganz unabhängig von Interessenverbänden oder Parteigruppierungen. In neuen
Buchpublikationen, Filmen, Presseartikeln findet eine
öffentliche Aufarbeitung statt, die sich zunehmend offener
und differenzierter mit diesem Kapitel deutscher und
europäischer Geschichte befasst.
Das Thema Vertreibung betrifft - wie historische Ereignisse überhaupt - ja nicht nur die Menschen, die dies
noch selbst unmittelbar erlebt haben, sondern in mancher
Weise die nachfolgenden Generationen, unter anderem
auch Kinder und Enkel der Betroffenen, die sich zum Beispiel mit psychischen Traumata auseinandersetzen müssen. Wie in vielen Aspekten der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit können nachfolgende
Generationen mit dem wachsenden zeitlichen Abstand
unaufgeregter, oft genauer und unabhängiger von ideologischen Frontstellungen die Geschichte aufarbeiten.
Wir haben zum Beispiel in diesem Hause im vergangenen Jahr über die Errichtung einer Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ entschieden. Die Diskussion um
die Gestaltung eines „sichtbaren Zeichens gegen Vertreibungen“ ist noch lange nicht zu Ende - und ebenso das
Bestreben, dies im europäischen Zusammenhang, gemeinsam mit unseren betroffenen Nachbarstaaten, zu realisieren.
Auch das Bundesvertriebenengesetz hat seine Bedeutung nicht verloren. Es hat seit 1953 vielen Millionen
Menschen ermöglicht, nach Deutschland einzureisen und
hier zu leben. Die Zahl der Antragsteller nimmt dabei stetig ab. Waren es im Jahre 2005 noch mehr als 35 000, so
sank die Zahl im Folgejahr bereits auf 7 700, im Jahre
2007 auf knapp 6 000 und im vergangenen Jahr gingen
nur circa 4 400 Anträge ein. Sicher wird sich diese Tendenz so fortsetzen. Dennoch stehen wir weiterhin in der
Verantwortung, so wie wir es im Koalitionsvertrag von
SPD und CDU/CSU formuliert haben: „Wir bekennen
uns auch weiterhin zu der Verantwortung sowohl für diejenigen Menschen, die als Deutsche in Ost- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des
Zweiten Weltkrieges gelitten haben und in ihrer jetzigen
Heimat bleiben wollen, als auch für jene, die nach
Deutschland aussiedeln.“
Ich darf auch besonders die Kulturförderung betonen,
die einerseits der Integration von Millionen Flüchtlingen
und Vertriebenen in unsere Gesellschaft dient, andererseits aber nach 1989 auch neu ausgerichtet wurde. Denn
es gehört zu unserem Selbstverständnis als Kulturnation,
dass das kulturelle Erbe der ursprünglichen Siedlungsgebiete von Vertriebenen und Aussiedlern bewahrt wird,
ebenso wie die Erinnerung an diese schreckliche Epoche
der Flucht und Vertreibung.
Das Bundesvertriebenengesetz ist im Laufe der Jahre
den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend angepasst worden. Vor zwei Jahren haben wir hier
über das 7. Änderungsgesetz debattiert. Damals war über
etwa ein Dutzend wesentliche Änderungen zu befinden.
Sie betrafen einerseits die nötigen Anpassungen an die
fortschreitende Erweiterung der Europäischen Union.
Andererseits ging es um die Erweiterung und Modifizierung von Ausschlussgründen für eine Anerkennung nach
dem BVG und um entsprechende Regelungen für eine
Abfrage bei den Sicherheitsbehörden. Zudem wurden
Vereinfachungen und Regelungen für effektivere und unbürokratischere Verwaltungsprozesse festgelegt, die zunehmend von den Ländern auf den Bund, das heißt das
Bundesverwaltungsamt, übertragen wurden. Erleichterungen bei der Integration und Regelungen für die jüdische Zuwanderung gehörten ebenfalls zu den Änderungen, die wir damals hier beschlossen haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das heute zum Beschluss vorliegende 8. Änderungsgesetz ist von geringerem Umfang. Die vorgeschlagenen
Änderungen sollen der Rechtsklarheit und -bereinigung
dienen sowie die Verwaltungspraxis weiter vereinfachen.
In weiten Teilen beziehen sich die Neuregelungen auf eine
Änderung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach es nicht dem Grundgesetz, Art. 16
Abs. 1, widerspricht, einem Spätaussiedler und dessen
Angehörigen die Staatsangehörigkeit wieder abzuerkennen, wenn diese durch Täuschung oder wissentlich falsche Angaben erworben wurde. Dies kann mit diesem
Gesetzentwurf nunmehr auf fünf Jahre rückwirkend geschehen. Die Antwortfristen der überprüfenden Sicherheitsbehörden im Verfahren werden dabei von bisher mitunter drei Monaten auf nun drei Wochen verkürzt. Damit
wird für berechtigte Antragsteller schneller Rechtssicherheit über ihren Status geschaffen, Unberechtigten kommt
weiterhin ein quasi vorbehaltliches Aufenthaltsrecht zu.
Bei ihnen wird im Verfahren eine Einzelfallprüfung über
ihren Status vorgesehen.
In den Kreis der zu befragenden Institutionen wird
nunmehr auch die Bundespolizei aufgenommen, da sie zu
den zentralen Sicherheitsorganen zählt. Ferner wird die
vor zwei Jahren festgelegte Befristung für die Geltungsdauer von Übernahmegenehmigungen und vor 1993 erteilten Aufnahmebescheiden wieder aufgehoben. Damit
soll verhindert werden, dass ein Druck zur vorzeitigen
Ausreise bei Personen entstehen könnte, deren Verbleib in
ihren Herkunftsstaaten in unserem Interesse wäre. Besonders sind damit Menschen gemeint, die eine herausgehobene Stellung innerhalb der deutschen Minderheit in
diesen Ländern einnehmen.
Der weiteren Effektivität der Verwaltungsprozesse
dient die Neuregelung, dass das Bundesverwaltungsamt
nunmehr auch für die Ausstellung von Altfallbescheinigungen zuständig ist und die Länder weiter von unnötigen
parallelen Behördenstrukturen entlastet werden.
Eine zusätzliche Neuregelung betrifft die Erweiterung
von Möglichkeiten für Integrationshilfen. Zukünftig sollen die Zusatzangebote der Integrationsmaßnahmen auch
den sogenannten weiteren Familienangehörigen nach § 8
offenstehen. Damit soll die Integration unter Wahrung
der Familieneinheit erleichtert werden.
Mit den in diesem Änderungsgesetz zu beschließenden
durchaus unspektakulären Neuregelungen wird das Bundesvertriebenengesetz in der nötigen Weise an die aktuellen Bedürfnisse angepasst. Ich denke, dass diese Neuregelungen nachvollziehbar und schlüssig sind. Für die
Betroffenen - die Spätaussiedler und ihre Angehörigen bedeuten sie weitere Verbesserungen; sie dienen damit
dem sinnvollen Funktionieren des Gesetzes entsprechend
den gesellschaftlichen Anforderungen. Deshalb bitte ich
um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.
Wir befassen uns heute mit dem Achten Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Im Folgenden
möchte ich vier Aspekte näher beleuchten, weil sie meines
Erachtens besonders wichtig sind.
Es geht um die neu geschaffene Rücknahmevorschrift,
die Verkürzung von Bearbeitungszeiten, die Ausweitung
der Integrationsleistungen sowie die Einbeziehung der
Bundespolizei in die Sicherheitsbehörden, die bereits
nach der siebten Änderung erweiterte Abfragemöglichkeiten bekamen. Insgesamt enthält der Gesetzentwurf
viele sinnvolle Regelungen, jedoch sind die Informationsübermittlung an Sicherheitsbehörden und neuerdings die
Erweiterung des Kreises zuständiger Behörden der
Grund, warum die FDP ihre Zustimmung verweigern
muss.
In der Tat ist es gelungen, mit den Änderungen des
Bundesvertriebenengesetzes Rechtsklarheit und Vereinfachung der Verwaltungspraxis zu bringen. Die nunmehr
geschaffene Regelung zur Rücknahme von Spätaussiedler- und Angehörigenbescheinigungen ist zwar bereits im
Staatsangehörigkeitsrecht zu finden, dient jedoch der
Verständlichkeit und ist daher zu begrüßen. Die entsprechende Regelung im Staatsangehörigkeitsgesetz hat die
FDP lediglich abgelehnt, weil sie mit einer völlig unnötigen Strafvorschrift verbunden wurde. Dies ist hier glücklicherweise nicht geschehen.
Die Verkürzung des Verfahrens zur Ausstellung einer
Spätaussiedler- oder Angehörigenbescheinigung von
derzeit zwei bis drei Monate auf zwei bis drei Wochen gibt
nicht nur den Betroffenen schneller Rechtssicherheit,
sondern dient auch der Disziplinierung der Behörden.
In dem Änderungsantrag der Großen Koalition wurden zusätzliche Integrationsleistungen für die Familien
einbezogen, was nun auch Gegenstand des Regierungsentwurfs ist und voll und ganz zu unterstützen ist. Die
FDP begrüßt ausdrücklich alle Maßnahmen, die zu einer
weiteren Verbesserung der Integration beitragen.
Jetzt ist aber Schluss mit den Lobgesängen. Bedauerlicherweise enthält der Gesetzentwurf eine Regelung, die
wir schon bei der letzten Änderung des Bundesvertriebenengesetzes gerügt haben. Damals wurden erweiterte Abfragemöglichkeiten für Sicherheitsbehörden zur Feststellung von Ausschlussgründen geschaffen, insbesondere
für die Fälle von Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Nun wird auch noch die
Bundespolizei in den Katalog der zu beteiligenden
Sicherheitsbehörden aufgenommen. In dem begründenden Teil des Gesetzentwurfs heißt es, der Entwurf diene
der Rechtsklarheit und -bereinigung. Das hört sich gut
an. Das hört sich harmlos an. Und fast überliest man,
dass jetzt auch die Bundespolizei an dem Informationsfluss beteiligt werden soll.
Erstens erschließt sich mir nicht die Notwendigkeit einer solchen Vorschrift. Zweitens kann ich noch weniger
nachvollziehen, warum diese Befugnisse weiter ausgedehnt werden. Der unbegründete Verdacht terroristischer
Tendenzen bei Spätaussiedlern wird fortgesetzt, was mir
äußerst befremdlich erscheint. Sie erlauben mir den Hinweis darauf, dass laut der Kriminalitäts- und Integrationsstatistiken Spätaussiedler keine besondere Problemgruppe darstellen und sich insgesamt gut in unsere
Gesellschaft integrieren. Noch weniger kann man behaupten, dass vertriebenenrechtliche Aufnahmeverfahren als Einfallstor für Extremisten und Terroristen gelten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und falls doch, wäre die Bundesregierung schon bei der
letzten Gesetzesänderung in der Pflicht gewesen, zu begründen, wie viele Extremisten oder Terroristen in der
Vergangenheit versucht haben, über das Verfahren nach
dem Bundesvertriebenengesetz Aufnahme in Deutschland zu erlangen.
Es bestehen jedoch keine Zweifel daran, dass der Zuzug von Schwerkriminellen gesetzgeberisch verhindert
werden muss. In diesem Zusammenhang möchte sich die
FDP einer vernünftigen Lösung selbstverständlich nicht
verschließen. Allerdings lehnen wir strikt ab, wenn hinterrücks Abfragemöglichkeiten und der damit verbundene Ausbau des Informationsaustausches eingefügt
werden. Aus diesen Gründen muss sich die FDP leider
enthalten.
Wir beraten heute abschließend den Entwurf für die
8. Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Im Wesentlichen geht es dabei um drei Änderungen: die Bundespolizei soll in die Sicherheitsüberprüfung von Spätaussiedlern miteinbezogen werden. Zugleich werden die
Fristen, innerhalb derer die Sicherheitsbehörden der Anerkennung der Spätaussiedlereigenschaft widersprechen
können, deutlich verkürzt. Und es wird nun eine gesetzliche Grundlage für die Rücknahme der Bescheinigung
über die „Spätaussiedlereigenschaft“ geschaffen.
Lassen Sie mich mit dem letzten Punkt beginnen. Zunächst einmal ist eine gesetzliche Regelung für die Rücknahme der Bescheinigung ein Fortschritt gegenüber der
aktuellen Situation. Denn es wird in dieser Frage überhaupt erst mal eine klare Rechtslage geschaffen. Analog
zum Staatsangehörigkeitsgesetz wird die Möglichkeit der
Rücknahme auf einen Zeitraum von fünf Jahren beschränkt. Wir stellen uns allerdings die Frage, warum es
überhaupt eine Regelung zur Rücknahme der Spätaussiedlereigenschaft geben muss. Die Bundesregierung
sagt in der Begründung nichts darüber, ob es in der Vergangenheit etwa eine signifikante Anzahl an Bescheinigungen gegeben hat, die im Nachhinein umstritten waren. Die Regelung über den Widerruf der Spätaussiedlereigenschaft wurde gleich ganz gestrichen, weil sie nie zur
Anwendung kam. Ob diese neue Regelung je zur Anwendung kommen wird, ist also völlig offen.
Zur Überprüfung durch Polizei und Geheimdienste:
Die Linksfraktion lehnt die pauschale und verdachtsunabhängige Durchleuchtung der Spätaussiedler im Rahmen des Anerkennungsverfahrens generell ab. Nun müssen die Sicherheitsbehörden allerdings wesentlich
schneller ihre Bedenken äußern als nach der alten
Rechtslage. Das finden wir richtig, weil es die Betroffenen entlastet. Allerdings hätten Sie auch hier in der Begründung etwas mehr liefern können, was die bisherigen
Ergebnisse dieser Überprüfungen angeht. Nun soll auch
noch die Bundespolizei beteiligt werden, laut Gesetzesbegründung, um die Übersiedlung von „Schwerkriminellen
und gewaltbereiten Extremisten“ zu verhindern. Damit
wird der Eindruck erweckt, unter den Spätaussiedlern
seien in so großer Zahl Kriminelle und Extremisten, dass
deren ungebremste Einwanderung verhindert werden
muss. Das ist doch wohl eindeutig nicht der Fall. Der gesetzgeberische Handlungsbedarf ist nicht überzeugend
dargelegt. Deshalb wird sich die Linksfraktion enthalten.
Ich will noch zu einem Nebenaspekt dieses Gesetzes etwas sagen. Menschen aus osteuropäischen Staaten konnten sich früher einen Aufnahmebescheid der Bundesrepublik ausstellen lassen, auch wenn sie gar nicht direkt
übersiedeln wollten. Diese Aufnahmebescheide gelten
unbefristet. Da mit der Möglichkeit der Übersiedlung das
Kriegsfolgenschicksal der Betroffenen gelindert werden
sollte, hat der Gesetzgeber 2007 zu Recht gesagt: Wer in
einem EU-Mitgliedstaat lebt, der muss sich bis Ende 2009
entscheiden, ob er nun übersiedeln will oder nicht. Danach verfällt der Bescheid, der die Spätaussiedlereigenschaft bestätigt. Ein Kriegsfolgenschicksal muss ja nun
nicht mehr ausgeglichen werden. Aber jetzt, keine zwei
Jahre später, soll diese Befristung wieder aufgehoben
werden.
Die Bundesregierung begründet dieses Ansinnen auf
eine höchst fragwürdige Art und Weise:
… damit hierdurch nicht Personen, deren weiterer
Verbleib in ihren Herkunftsstaaten im Interesse der
Bundesrepublik Deutschland liegt, zu einer vorzeitigen Ausreise veranlasst werden. Dies betrifft insbesondere Personen, die eine herausgehobene Stellung innerhalb der deutschen Minderheiten im
Herkunftsgebiet haben.
Diese Sätze klingen in meinen Ohren doch sehr nach
„Fünfter Kolonne“ und nach Sicherung von Einfluss in
den osteuropäischen Staaten, indem man die dort lebenden deutschen Minderheiten instrumentalisiert. Unter
dem Deckmantel des Minderheitenschutzes will man hier
anscheinend einen Fuß in der Tür halten. Das zeigt, dass
die deutsche Politik gegenüber den deutschen Minderheiten in Osteuropa noch immer nicht von den Überresten einer überkommenen Volkstumspolitik entschlackt ist. Die
Koalitionsfraktionen hätten gut daran getan, solchen
Quatsch aus der Gesetzesbegründung herauszustreichen.
Wir werden den Änderungen im Bundesvertriebenen-
gesetz zustimmen, weil wir eine tatsächliche Verbesse-
rung für die von dem Gesetz betroffenen Menschen sehen.
Die bislang völlig unangemessene Wartezeit von meh-
reren Monaten für die Prüfung der Spätaussiedlerbe-
scheinigungen und der Angehörigenbescheinigungen soll
erheblich verkürzt werden. Wir werden prüfen, ob damit
das im Gesetz angekündigte Ziel, eine verbindliche Ent-
scheidung innerhalb von drei Wochen zu treffen, in der
Praxis wirklich erreicht wird. Insbesondere die Sicher-
heitsbehörden sollten eigentlich in der Lage sein, Sicher-
heitsbedenken innerhalb einer kurzen Frist vorzutragen.
Es kann nicht sein, dass die Sicherheitsüberprüfungen,
die in der Regel ein Routinevorgang sind, zu so erhebli-
chen Verfahrensverzögerungen führen.
Die Aufhebung der Befristung von vertriebenenrecht-
lichen Altbescheiden fordern wir seit langem. Wir begrü-
ßen, dass dies jetzt umgesetzt wird. Ob wir die Regelung
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Rücknahme der Bescheinigungen wirklich brauchen,
muss die Praxis zeigen. Wir halten sie nicht für erforder-
lich. Das ist für uns aber kein hinreichender Grund, den
Gesetzentwurf abzulehnen.
Entscheidend für unsere Zustimmung ist allerdings der
Änderungsantrag, den die Koalitionsfraktionen noch in
den Innenausschuss eingebracht haben. Wir brauchen
weitere Anstrengungen bei der Integration der Spätaus-
siedler. Es ist nicht vernünftig, einzelne Personen oder
Personengruppen von dem Zugang zu Sprach- und Inte-
grationskursen auszuschließen. Diejenigen, die kommen
und bleiben dürfen, ganz gleich, ob als Spätaussiedler
oder im Rahmen des Familiennachzuges, müssen glei-
chermaßen Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben.
Es kann nicht sein, dass in Familienverbünden ein Teil
Deutsch lernen soll und der andere Teil nicht an Deutsch-
kursen teilnehmen darf.
Es ist zu begrüßen, dass wir für die Aufnahme von Spät-
aussiedlern und deren Angehörigen klarere Regelungen
schaffen, dass wir durch die Zusammenfassung von Zu-
ständigkeiten zu einer Verfahrensbeschleunigung kom-
men und den Zugang zu Integrationsmaßnahmen verbes-
sern. Wenn die Große Koalition vernünftige Vorschläge
macht, gibt es keinen Grund, dagegen zu stimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13015, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 16/12593 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung der Koalitionsfraktionen und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen angenommen. Gegenstimmen gab es
nicht. Enthalten haben sich FDP und Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmer-
gebnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Undine Kurth ({1}), Volker Beck ({2}), Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Bedrohung der Meeresumwelt durch
Unterwasserlärm stoppen
- Drucksachen 16/5117, 16/7168 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Angelika Brunkhorst
Undine Kurth ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({4}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Undine Kurth ({5}), Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einführung eines Europäischen Tags der
Meere
- Drucksachen 16/8213, 16/12654 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Michael Link ({6})
Alexander Ulrich
Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Bernhard Kaster, Ingbert
Liebing, Christoph Pries, Kurt Bodewig, Hans-Michael
Goldmann, Eva Bulling-Schröter und Rainder
Steenblock.
Bereits vor ziemlich genau einem Jahr haben wir uns
hier im Plenum in erster Lesung mit dem zweiten Teil der
heutigen Tagesordnung, dem Grünen-Antrag für die Einführung eines Europäischen Tages der Meere, näher befasst. Ich will das damals Gesagte an dieser Stelle nur
nochmals kurz skizzieren und mich nicht in Wiederholungen ergehen. Faktum jedenfalls ist und bleibt, auch nach
der Behandlung dieses Antrags in den Ausschüssen: Er
ist natürlich gut gemeint. Indes: Gut gemeint genügt oftmals nicht. So verhält es sich auch hier.
Politisch wird - dies ist an dieser Stelle erneut zu unterstreichen - der allgemeinen Stoßrichtung des Antrags der
Grünen längst gefolgt. Ich verweise in diesem Zusammenhang etwa auf die Anstrengungen während der deutschen
EU-Präsidentschaft vor bereits zwei Jahren, als mit der
„Bremer Erklärung zur Zukunft der Meerespolitik in der
EU“ wesentliche Impulse für eine integrierte Meerespolitik
gegeben wurden.
Es folgte dann eine Mitteilung der Europäischen Kommission zur integrierten Meerespolitik der EU mit einer
ganzen Reihe interessanter Anstöße. Die Reihe lässt sich
weiter fortsetzen. Längst werden weitere, ergänzende
Bereiche behandelt, wird die ganze Thematik vertieft,
ergänzt und ausgeweitet. Ganz aktuell etwa hat sich erst
vor wenigen Wochen der Rat der EU-Agrarminister mit
einer Mitteilung der Kommission zur nachhaltigen Zukunft der Aquakultur befasst, zu denen möglicherweise
noch unter tschechischer Präsidentschaft entsprechende
Schlussfolgerungen verabschiedet werden können.
Mit der Vorlage des Grünbuchs der Europäischen Kommission zur Gemeinsamen Fischereipolitik steht zudem
auch dieser für den Zustand der Meere ganz wesentliche
und bekanntermaßen schwierige Bereich vor einer
grundlegenden Neuausrichtung. Die Diskussion im Rat
dazu hat begonnen, und Deutschland wird sich dazu konstruktiv einbringen.
Daran zeigt sich: Die von den Grünen eingeforderte Politik für die Meere findet längst statt, in einem umfassenden, nachhaltigen Sinne. Auf vielen Ebenen - europäisch,
national, regional, lokal - wird intensiv an einer integrierten und in sich stimmigen Politik für die Zukunft unserer
Meere gearbeitet. Der mit der „Bremer Erklärung“ begonnene Prozess hat eindrucksvoll Gestalt angenommen.
Natürlich betrifft, darüber sind wir in der CDU/CSUFraktion uns völlig im Klaren, vor allem uns Deutsche als
Anrainer von Nord- und Ostsee die Gefährdung der Weltmeere ganz konkret. Das heißt für uns etwa, insbesondere
das sensible Ökosystem Wattenmeer zu schützen. Zugleich,
das will ich ausdrücklich nochmals für meine Fraktion
hier hervorheben, kommt es ganz entscheidend darauf an,
alle politischen, gesetzgeberischen wie administrativen
Maßnahmen, gleich ob auf europäischer, nationaler oder
regionaler Ebene, stets in Kooperation mit den Bewohnern
der Küsten zu ergreifen. Es sind die Menschen vor Ort,
deren unschätzbares Erfahrungswissen wir uns - und
dies halte ich anlässlich dieser Debatte im europäischen
Maßstab für sinnvoll - zunutze machen müssen.
Keine Frage: Wir dürfen uns nicht auf dem bereits Erreichten ausruhen. Die europäische Politik für die Meere,
von Deutschland ganz entscheidend initiiert und weiter
vorangetrieben, muss fortgeführt und ausgestaltet werden.
Genau darauf, auf das konkrete Handeln, die konkrete Tat
im Austausch mit den Menschen vor Ort, die an den Meeren
und vielfach als Fischer auch von den Meeren leben, kommt
es an.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute
hier debattieren, ist schon mehr als zwei Jahre alt. Die
seismischen Untersuchungen im Naturschutzgebiet Doggerbank, deren sofortiger Stopp gefordert wird, waren im
Mai 2007 bereits abgeschlossen. Jetzt haben wir Mai 2009.
Auch über den Einsatz von US-Kriegsmarineschiffen mit
Mittelfrequenzsonar in der Ostsee zur Bewachung des im
Juni 2007 stattfindenden G-8-Gipfels in Heiligendamm,
der in dem Antrag kritisiert wird, brauchen wir wohl nicht
mehr zu sprechen. Damit ist der Antrag der Grünen nicht
nur alt, sondern auch veraltet und überholt.
Ebenfalls vor zwei Jahren, am 27. März 2007, haben
die Fraktionen CDU/CSU und SPD in dem gemeinsamen
Antrag „Schutz der Wale sicherstellen“ - Drucksache 16/48431 - unter anderem konkrete Maßnahmen
zum verbesserten Schutz aller Walarten, inklusive kleinerer Wale und Delfine, gefordert. Hierin wurde besonders
auch vor den negativen anthropogenen Einflüssen wie
zum Beispiel Verschmutzung, Beifang und Lärm gewarnt.
Am 10. Mai 2007 hat der Deutsche Bundestag diesen
Antrag inklusive der Forderung nach einem wirksamen
Monitoring dieser Maßnahmen angenommen. Dies macht
deutlich, dass wir als Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung das Thema Unterwasserlärm längst aufgegriffen haben und es einer Aufforderung durch die Grünen
nicht bedarf.
Dennoch gibt es durchaus positive Ansätze in dem Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen. Dazu gehören unter anderem
die Forderungen nach einer stärkeren Forschung über
Umweltauswirkungen von Unterwasserlärm. Auch stimme
ich der Entwicklung und Erprobung von Vermeidungs- und
Minimierungsmaßnahmen zu. Das ist auch eine Aufgabe
der europäischen Ebene. Die Bundesregierung hat - nicht
zuletzt aufgrund unseres eben angesprochenen Antrages auch diesbezügliche Aktivitäten ergriffen, etwa im Rahmen des am 10. Oktober 2007 vorgelegten Blaubuchs zur
integrierten EU-Meerespolitik mit dem dazugehörigen
Aktionsplan und im Rahmen der EU-MeeresstrategieRichtlinie.
Beim Unterwasserlärm ist eine Vielzahl von Faktoren
zu beachten. Neben militärischen Aktivitäten sind hier
der Schiffsverkehr, der Bau und Betrieb von OffshoreWindparks, die maritime Erdöl- und Gasförderung und
auch die Sand- und Kiesgewinnung zu nennen. Auch seismische Untersuchungen im Zusammenhang mit maritimen
Erdöl- und Erdgasquellen gehören dazu. Diesen vielfältigen
Faktoren wird man mit Pauschalurteilen nicht gerecht,
wie wir sie im Antrag der Grünen lesen.
Als Beispiel ist hier ihr Wunsch zu nennen, „anthropogenen Unterwasserlärm in Schutzgebieten und in hochfrequentierten Aufenthaltsgebieten von geschützten maritimen Arten nicht mehr zu genehmigen“. Würden wir dieser
Forderung zustimmen, wäre eine Genehmigung von Offshore-Windparks in wesentlichen Bereichen der Nordund Ostsee ausgeschlossen.
An diesem Beispiel wird die widersprüchliche Politik
der Grünen deutlich. Der erste Offshore-Windpark in der
Nordsee ist in der Amtszeit von ihrem eigenen Bundesumweltminister Jürgen Trittin zur Genehmigung vorbereitet
worden. Im Anschluss daran sind genau in den genehmigten
Gebieten FFH-Schutzgebiete ausgewiesen worden. Und
erst jetzt erfolgt die Raumplanung für die AWZ, die eigentlich am Anfang hätte stehen müssen: der zweite Schritt vor
dem ersten. Raumplanerisch ist das ein Riesenblödsinn.
Einerseits wollen sie den Ausbau regenerativer Energien,
andererseits behindern sie ihn zum Beispiel durch einen
derartigen Forderungskatalog in ihrem Antrag.
Wenn sie es dennoch tun, können sie kaum Zustimmung
erwarten. Sie setzen sich dann nämlich dem Verdacht aus,
ihre Hausaufgaben nicht ordentlich erledigt zu haben.
Politik muss immer eine Vielzahl unterschiedlicher
Aspekte berücksichtigen und in sich stimmig sein. Ich
weiß, Kompromisse sind nicht immer leicht zu finden,
aber gegensätzliche Forderungen aus der gleichen Fraktion werden der Anforderung an eine seriöse Politik nicht
gerecht.
Die Bundesregierung engagiert sich beim Thema Unterwasserlärm. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt sie dabei. Das Bundesumweltministerium führt derzeit mehrere
Forschungsaufträge zum Thema Unterwasserlärm durch.
Es laufen Aufträge über die Lärmbelästigung im Zusammenhang mit Offshore-Windanlagen. Im Zusammenhang
Zu Protokoll gegebene Reden
mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee arbeiten die
verschiedenen beteiligten Ministerien zusammen.
Darüber hinaus benötigen wir dringend wissenschaftliche Grundlagen für fundierte Standards zum Meeresschutz.
Daher unterstütze ich ausdrücklich den Einsatz des BMU
und des Bundesamtes für Naturschutz, mit dem in konkreten Fällen die Lärmbelastungen heimischer Wale bereits
minimiert werden konnten. Dafür können auch neue technologische Entwicklungen genutzt werden.
Ich hoffe, dass auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Forschung so bald wie möglich konkrete
Verbesserungen bei der Lärmbelastung von Walen, insbesondere des heimischen Schweinswales, erreicht werden
können. Dafür sind wir auf einem guten Weg - auch ohne
den längst überholten und veralteten Antrag der Grünen,
den wir nur ablehnen können.
Wir diskutieren heute über den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen „Die Bedrohung der Meeresumwelt durch
Unterwasserlärm stoppen“. In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich national und international für die Bekämpfung der anthropogenen Verlärmung
der Meere einzusetzen. Das Problem ist seit langem bekannt und fraktionsübergreifend grundsätzlich wenig umstritten. Dies wurde auch in der Debatte zum Walschutz
am 10. Mai 2007 deutlich. Damals haben wir uns einstimmig für einen verbesserten Schutz der Wale ausgesprochen.
Unter anderem enthält der damals angenommene Antrag „Schutz der Wale sicherstellen“ die Forderung an
die Bundesregierung, sich für „konkrete Maßnahmen
zum verbesserten Schutz aller Walarten vor negativen anthropogenen Einflüssen, wie zum Beispiel Verschmutzung, Beifang oder Lärm“ einzusetzen. Wir unterstützen
diese Forderung, sehen aber auch die Schwierigkeiten
bei der Umsetzung im Rahmen einer „Technischen Anweisung ({0}) Unterwasserlärm“ auf nationaler und im
Rahmen völkerrechtlich bindender Vereinbarungen auf
internationaler Ebene.
Die pauschalen und zum Teil bereits überholten Forderungen in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
werden der komplexen Problematik nicht gerecht. Darüber hinaus sind einige Forderungen bereits erfüllt worden. Wir lehnen den Antrag daher ab.
Trotzdem möchte ich betonen, dass die zunehmende
Verlärmung der Meere auch für die SPD-Bundestagsfraktion ein wichtiges Thema ist. Wir begrüßen deshalb die
Forschungsförderung des Bundesumweltministeriums
zum Thema Unterwasserlärm. Die Bundesregierung
trägt damit dazu bei, die dringend notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen für fundierte Standards zu legen. Darüber hinaus begrüßen wir den Einsatz des BMU
und des Bundesamtes für Naturschutz, um in konkreten
Fällen die Lärmbelastungen für die heimischen Wale zu
minimieren, so zum Beispiel beim G-8-Gipfel in Heiligendamm - Vermeidung von Sonareinsatz durch amerikanische Kriegsschiffe - oder bei der Minenräumung vor der
Ostseeküste.
Besonders erfreulich ist auch, dass es gelungen ist, auf
der 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention zum
Schutz wandernder Tierarten ({1}) Anfang Dezember
2008 eine Resolution zum Thema Unterwasserlärm zu
verabschieden. Darüber hinaus werden im Rahmen des
Abkommens zum Schutz der Kleinwale in Nord- und Ostsee, ASCOBANS, derzeit Leitlinien zur Minderung von
Unterwasserlärm entwickelt, die auf der nächsten Vertragsstaatenkonferenz im Jahr 2010 vorgestellt werden
sollen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hofft, dass auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Forschung und der
Diskussionen im Rahmen von CMS und ASCOBANS baldmöglichst konkrete Verbesserungen hinsichtlich der
Lärmbelastung von Walen und insbesondere des heimischen Schweinswales erreicht werden können. Wir unterstützen das BMU bei den diesbezüglichen Anstrengungen
auf nationaler und internationaler Ebene.
Am 20. Mai 2009 feiert der „Europäische Tag der
Meere“ seinen ersten Geburtstag. Dessen Einführung
wurde im letzten Jahr in einer gemeinsamen Dreiererklärung von den Präsidenten der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates der
Europäischen Union beschlossen und wird nun jedes
Jahr feierlich begangen. Hintergrund ist, Bewusstseinsbildungs- und Netzwerkaktivitäten zu organisieren, die
den Menschen die Bedeutung der Meere näherbringen
und die Sichtbarkeit maritimer Angelegenheiten in
Europa stärken.
Deshalb ist an der grundsätzlichen Idee der Grünen in
ihrem vorliegenden Antrag nichts auszusetzen. Durch die
Einführung eines „Europäischen Tages der Meere“ in
Deutschland einen konkreten öffentlich wahrnehmbaren
Schritt zu unternehmen, um ein Bewusstsein für das gemeinsame maritime Erbe zu schaffen, ist ja grundsätzlich
nicht falsch. Aber ich muss an dieser Stelle fragen, warum
es hier explizit eines deutschen europäischen Tages der
Meere bedarf? Ich denke, dass es nicht zielführend ist in
Zeiten, in denen wir ein gemeinsames Europa anstreben,
in jedem Land einen nationalen Tag zu zelebrieren. Ein
gemeinsamer „Europäischer Tag der Meere“, der europaweit in allen Mitgliedstaaten an vielen Orten begangen
wird, ist nach meiner Ansicht die bessere Lösung. So habe
ich die Freude, am kommenden Dienstag als Chairman
des internationalen „Baltic Sea Forums“ in der Landesvertretung Hamburg diesen Tag mit einer Veranstaltung
zum Thema „Die EU-Ostseestrategie - das Meer als
Chance“ zu begehen. Weitere Veranstaltungen anlässlich
des „Europäischen Tags der Meere“ fanden im Vorfeld
und in den Tagen um den 20. Mai allein in Deutschland in
Berlin, Kiel, Hamburg, Rostock und Bremen statt. Warum
sollten wir dies auf eine einzige Bundesveranstaltung eindampfen?
Manche könnten sich fragen, warum ein europäischer
Mitgliedstaat wie beispielsweise Österreich den „Europäischen Tag der Meere“ feiern sollte. Die Antwort darauf ist einfach. Denn der maritime Sektor beschränkt
sich keineswegs nur auf Küstenregionen. Die ZuliefererZu Protokoll gegebene Reden
industrie für die maritime Wirtschaft ist auch weit weg
von den Küsten angesiedelt. Deshalb und weil die Meere
und das maritime Erbe von unschätzbarem Wert für die
Bevölkerung Europas sind, sollte der „Europäische Tag
der Meere“ als europäischer und nicht als nationaler
Feiertag betrachtet werden. Mir gefällt der Gedanke,
dass sich europaweit in den Mitgliedstaaten Veranstaltungen mit der Bedeutung der Meere auseinandersetzen
und diese auch der breiten Öffentlichkeit vermitteln.
Denn wir alle sollten die vielfältige Bedeutung der
Meere nicht unterschätzen. Europa ist von 70 000 Kilometern Küste umgeben. Mehr als zwei Drittel seiner
Grenzen sind Küsten, und mehr als 40 Prozent von Europas BIP wird in Küstenregionen erwirtschaftet. Zudem leben mehr als 50 Prozent der europäischen Bevölkerung in
Küstenregionen. Eine gemeinsame europäische Meerespolitik ist also wirklich wichtig, wenn Europa weiterhin
so erfolgreich sein möchte, wie es ist. Denn 90 Prozent
des Außenhandels und 40 Prozent des Binnenhandels erfolgen über den Seeweg. Trotz der aktuellen Finanzkrise
bewältigen europäische Häfen jährlich 3,5 Milliarden
Tonnen Fracht, und etwa 350 000 Menschen sind in der
Hafenwirtschaft beschäftigt. Im Fischsektor sind es weitere 526 000 Arbeitnehmer. Und auch der Küstentourismus bringt jährlich 72 Milliarden Euro in Europas Kassen.
Die Meere und Ozeane haben also eine strategische
Bedeutung für die europäische Wirtschaft. Die unterschiedlichen Sektoren Schiffbau und Schifffahrt, Häfen
und Fischerei, Offshoreenergie, Fremdenverkehr, Umwelt und maritimes Erbe sind jeder für sich von großer
wirtschaftlicher Bedeutung. Ergänzt wird dies durch die
Synergien zwischen diesen Sektoren.
Im Blaubuch der KOM vom 10. Oktober 2007 „Eine
integrierte Meerespolitik für die Europäische Union“
wurde auf die strategische Bedeutung der Meere und
Ozeane für die europäische Wirtschaft hingewiesen. In
Zeiten der Globalisierung, der Finanzkrise und der Piraterie, aber auch des technologischen Fortschritts und des
Klimawandels ist eine gemeinsame europäische Meerespolitik ein Muss.
Ich habe das Gefühl, dass sich auch im technologischen Bereich in den kommenden Jahren einiges bewegen
wird. Die Meere sind ein noch in weiten Teilen unentdeckter Forschungsbereich, und die Potenziale, die die europäischen Mitgliedstaaten hier gemeinsam noch entwickeln und nutzen können, sind groß. Gerade - aber nicht
nur - für den Bereich der erneuerbaren Energien wird
hier sicher noch ein großer Nutzwert entstehen, der auch
unserem Klima zugutekommen wird. Jeder Mitgliedstaat
für sich wäre wahrscheinlich mit der Ausschöpfung dieser Potenziale überfordert. Doch durch die Kombination
ihres Wissens und ihrer Technologien kann Europa wettbewerbsfähig sein. Der Zusammenschluss bzw. die Kooperation von Universitäten und Unternehmen aus elf
Staaten im Ostseeraum ist ein gutes Beispiel.
Auch für den logistischen Bereich entwickeln sich die
Meere zu einer unverzichtbaren Alternative zur Schiene.
Wie bereits erwähnt, erfolgen 90 Prozent des europäischen Außen- und 40 Prozent des Binnenhandels auf dem
Seeweg. Die Frachtmengen, die an europäischen Häfen
bewältigt werden, sind immens. Dass die Europäische
Union zukünftig verstärkt auf die Schifffahrt setzt, um die
bevorstehenden Verkehrszuwächse ökologisch verträglich und kostengünstig bewältigen zu können, begrüße
ich.
Problembereiche wie der Klimaschutz und der Schutz
der Meeresumwelt und die Bekämpfung von Piraterie lassen sich, wie man an der erfolgreichen Arbeit der Organisation HELCOM im Bereich der Umwelt und der
Atalanta-Mission der Europäischen Union zur Bekämpfung der Piraterie vor den Küsten Somalias sieht, am besten gemeinsam bekämpfen und lösen.
Gerade deshalb plädiere ich noch einmal dafür, den
„Europäischen Tag der Meere“ dort zu belassen, wo er
hingehört: auf der europäischen Ebene. Dort wird er
auch in diesem Jahr in großem Stil begangen. Ich selbst
freue mich sehr darauf, auf der Stakeholder Conference,
die anlässlich dieses Tages am 20. Mai in Rom stattfindet,
zu Gast zu sein. In einer Vielzahl von Paneldiskussionen,
Workshops und Gesprächen, aber auch bei den vielen
Veranstaltungen, die anlässlich des „Europäischen Tages
der Meere“ in ganz Rom stattfinden werden, wird es öffentlichkeitswirksam um die Bedeutung der Meere für
Europa gehen.
Die Meerespolitik ist ein europäisches Anliegen.
Die wirtschaftliche Nutzung der Meere hat stark zugenommen, wobei auch neue Interessen wie Seewindkraft,
Meeresbergbau, Meeresschutzgebiete etc. an Bedeutung
gewinnen. Verschiedene Nutzungsansprüche entwickeln
sich teilweise gegenläufig und geraten in Konkurrenz zueinander.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat im Februar 2007
eine öffentliche Anhörung zur Meerespolitik der EU
durchgeführt, deren Ergebnisse in unseren Antrag
„Schutz und Nutzung der Meere - Für eine integrierte
maritime Politik“, Drucksache 16/4418, eingeflossen
sind. Nutzung und Schutz müssen sich nicht ausschließen.
Es gilt jeweils eine sinnvolle und vernünftige Abwägung
divergierender Interessen vorzunehmen.
So enthält der Antrag zum Schutz der Meeresumwelt
durch Unterwasserlärm durchaus viel Richtiges. Die
FDP unterstützt sowohl die Forderung nach Verstärkung
der Forschungsanstrengungen als auch die Forderung
nach der Intensivierung der Entwicklung und Erprobung
von Vermeidungs- und Vergrämungsstrategien. Wie sich
aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage „Schutz der Meeresumwelt beim Bau deutscher
Offshore-Windparks“, Drucksache 16/10959, ergibt, besteht im Hinblick auf das Ziel Konsens, und es wird auch
schon manches unternommen, um die Meeresumwelt vor
Unterwasserlärm zu schützen. Da der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen teilweise veraltet ist, enthalten wir uns insoweit der Stimme.
Bei vielen Bürgern ist die dynamische Entwicklung der
Meere und des maritimen Bereichs noch nicht angekommen. Vielfach ist noch unklar, welche Bedeutung die
Zu Protokoll gegebene Reden
Meere haben, dass sie nicht nur für das Weltklima und die
Umwelt insgesamt von entscheidender Bedeutung sind,
sondern auch für unseren wirtschaftlichen Wohlstand.
Während der Nutzen der Meere, der Nutzen ökologisch
intakter Meere immerhin den meisten Menschen an der
Küste schon lange klar ist, haben die Binnenländer hier
noch einiges aufzuholen. Es fängt schon bei etwas so Profanem an, dass zwei Drittel der Wertschöpfung im Schiffbau gar nicht in den Küstenländern, sondern bei Firmen
im Binnenland erfolgen.
Die FDP begrüßt deshalb, dass die EU-Kommission
mit dem 20. Mai den „Europäischen Tag der Meere“ aus
der Taufe gehoben hat. Die Meeresregionen mit ihren
vielfältigen Ökosystemen sind unterschiedlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt. Trotz einiger Erfolge ist der
Schutz der Meere und Küsten nach wie vor eine große Herausforderung. Die Schäden, die den Küstenregionen
durch Schadstoffeinträge durch die Flüsse, auch aus dem
Binnenland, zugefügt werden, sind oft irreparabel. Ein
Beispiel ist ein immer noch zu hoher Nährstoff- und
Schwermetalleintrag. Die politische Entscheidungsfindung zum Schutz der Meere kann nur unter der Betrachtung des ganzen Ökosystems erfolgen, und dafür bedarf
es eines umfassenden Verständnisses von der Bedeutung
der Meere.
Ein solcher Tag muss mit Leben gefüllt werden, wenn
er einen Sinn ergeben soll. Dieser Tag könnte Anlass für
deutsche Regionen und Städte sein, sich ein Programm zu
überlegen, das einerseits die Bürger aufklärt und andererseits touristische Akzente setzt. Schulen und Hochschulen könnten ihn künftig sinnvoll begleiten.
Ob es Aufgabe gerade der Bundesregierung ist, ein
Konzept vorzulegen, wie mit einem Tag der Meere ein Bewusstsein für das maritime Erbe auch auf europäischer
Ebene geschaffen werden kann - wie dies von den Grünen
gefordert wird -, ist zweifelhaft. Wegen der Kultushoheit
der Länder wäre es sinnvoll, wenn die Bundesländer
Konzepte erarbeiten, wie sie diesen Tag durch entsprechende Angebote und Anreize gestalten können. Insofern
enthalten wir uns auch bei diesem Antrag der Stimme.
Die Linksfraktion unterstützt den Antrag der Grünen,
der auf einen Vorschlag der Europäischen Kommmission,
des Rates und des EU-Parlaments zurückgeht. Ein „Europäischer Tag der Meere“, der festlich begangen wird,
könnte dazu beitragen, ein Bewusstsein für das gemeinsame maritime Erbe zu schaffen.
Ein solches Bewusstsein wäre auch mehr als notwendig. Schließlich ist die Bilanz der menschlichen Eingriffe
in die unterseeische Welt katastrophal. In den letzten hundert Jahren sind die Bestände vieler Fischarten um fast
90 Prozent zurückgegangen, schätzen Wissenschaftler.
Weil sich das Ganze jedoch fernab und unter der Wasseroberfläche abspielt, wird es für viele Menschen wenig
greifbar. Das ist beispielsweise beim Waldsterben anders.
Lichte Kronen und Mittelgebirge mit Baumstümpfen sind
sichtbar. Sie haben viele Bürgerinnen und Bürger für den
„sauren Regen“ und Luftschadstoffe sensibilisiert. Der
öffentliche Druck war es vor allem, der zur Verschärfung
der entsprechenden Grenzwerte für Industrie- und Verbrennungsanlagen geführt hat.
Genau solch ein öffentlicher Druck für den Schutz der
Meere fehlt, wenn man einmal von Walen und Delfinen
absieht. Kabeljau, Sprotte und Tunfisch haben keine
Lobby. Sie werden gnadenlos überfischt. Dabei geht es
nicht nur um den Artenschutz, sondern - wie beim Klimaschutz - auch um Solidarität. Denn während Millionen
Tonnen wertvoller Meerestiere als Beifänge ungenutzt
und tot über Bord gehen, sitzen Millionen von Küstenbewohnern in Afrika vor leeren Tellern. Die Trawler der
Industriestaaten saugen ihnen die Meere leer, legal und
illegal.
Es geht aber nicht nur um Fische. Das Ökosystem
Meer als Ganzes zu begreifen und endlich behutsam zu
nutzen, das ist die eigentliche Aufgabe, die vor der
Menschheit steht. Schließlich sind die Ozeane neben der
Überfischung auch durch organische Überfrachtung und
Schadstoffeinträge bedroht. Die Überdüngung der Flüsse
aus der Landwirtschaft führt in den Meeren zu gefürchteten Algenblüten. Schwermetalle und hormonelle Stoffe,
neuerdings auch nukleare Belastungen reichern sich in
den Organismen an. Zunehmend wird auch Lärm zu einem Problem, insbesondere für Großsäuger.
Wie mangelhaft die europäische Meeresschutzpolitik
ist, zeigen Grünbuch und Blue-Paper der EU-Kommission genauso wie die Entwicklung der europäischen Meeresschutzrichtlinie. Die Gesetzgebung und die Zuständigkeiten in Bezug auf den Meeresschutz bleiben zersplittert.
Ein ganzheitlicher ökosystemarischer Ansatz ist nicht erkennbar. Die Ozeane werden vorrangig als Wirtschaftsgut betrachtet. Meeresschutz ist aber deutlich mehr, als
konkurrierende Nutzungsansprüche aus Fischerei, Bergbau, Seefahrt und Tourismus abzugleichen.
Doch noch ein Blick nach vorn, der zeigt, dass sich
moderner Meeresschutz und Meeresnutzung auch gegenseitig befruchten können. In Neuseeland waren die
Fischer einst die stärksten Gegner, als es darum ging,
Schutzgebiete einzurichten. Nunmehr gehören die
Fischer zu den Verteidigern dieser ökologischen Oasen.
Die dort rasant anwachsenden Bestände wandern nämlich aus den Schutzgebieten aus und füllen wieder die
Netze. Greenpeace und andere fordern seit langem, auch
in anderen Teilen der Welt Meeresschutzgebiete einzurichten, in denen Fischerei und Rohstoffabbau verboten
werden. Konkrete Vorschläge gibt es für Nord- und Ostsee sowie für die außereuropäischen Meere. Vielleicht
kann ein „Europäischer Tag der Meere“ dazu beitragen,
solche Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.
Was den zweiten Antrag betrifft, so halten wir den steigenden Unterwasserlärm für eine große Bedrohung der
maritimen Lebenswelt. Mit Sicherheit gefährdet er Wale
und Tümmler. Entsprechende Untersuchungen liegen vor.
Deshalb muss die Bundesregierung einerseits national
Maßnahmen gegen anthropogenen Unterwasserlärm ergreifen und sich andererseits konsequent für internationale Maßnahmen gegen den Unterwasserlärm einsetzen.
Insbesondere in Schutzgebieten und hochfrequentierten
Aufenthaltsgebieten dieser Tiere müssen Tätigkeiten des
Menschen, die starken Lärm entwickeln, weitgehend verZu Protokoll gegebene Reden
boten werden. Das betrifft insbesondere die Sonaraktivitäten von U-Booten sowie Sprengungen. Für Deutschland müssen darum seismische Untersuchungen, wie sie
im Naturschutzgebiet Doggerbank stattgefunden haben,
künftig unterbunden werden.
Die Meere sind für alle Länder Europas von zentraler
ökonomischer und ökologischer Bedeutung: Circa zwei
Drittel der europäischen Außengrenzen werden von Küstenlinien gebildet, 22 der 27 EU-Mitgliedsländer sind Insel- oder Küstenstaaten, und die Fläche der EU-Hoheitsgewässer ist größer als das kontinentale Hoheitsgebiet
der EU. Fast die Hälfte aller EU-Bürger lebt in Küstenregionen. Sowohl ihre Lebensqualität als auch ihr Lebensstandard sind abhängig vom Zustand der Meere und
einer nachhaltigen Nutzung dieser Ressource. Der Rückgriffsmöglichkeit auf die Ressource Meer haben wir einen
erheblichen Teil unseres heutigen Wohlstandes auf dem
europäischen Kontinent zu verdanken. Andererseits war
es genau diese Nutzung, die große Teile der sensiblen maritimen Ökosysteme an den Rand des Zusammenbruchs
gebracht hat. Unsere Meere sehen sich heute mannigfaltigen Bedrohungen ausgesetzt: Zunehmende Schadstoffund Lärmemission durch die Schifffahrt, eine Überdüngung und Überfischung, eine zunehmenden Verbauung
der Küsten etc. haben bereits heute zu teilweise irreparablen Schäden geführt. Durch die exzessive Nutzung
unserer Meere laufen wir Gefahr, den erst durch sie ermöglichten Standard einer hohen Lebensqualität zu gefährden.
Mit dem „Europäischen Tag der Meere“ macht die EU
deutlich, dass sie die Herausforderungen, unsere Meere
effektiv zu schützen, erkannt hat und die Herausforderung
ernst nimmt. Der „Europäische Tag der Meere“ ist elementarer Bestandteil der Strategie für „eine integrierte
Meerespolitik für die Europäische Union“. Diese lässt
sich im gleichnamigen Blaubuch und dem darauf aufbauenden Aktionsplan der Kommission vom 10. Oktober
2007 finden. Dort heißt es: Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, der Schutz der Meeresumwelt und die Interessen und Lebensgrundlagen derjenigen, die von der
maritimen Wirtschaft abhängig sind oder an der Küste
wohnen, sollen integrale Bestandteile einer ganzheitlichen Betrachtungsweise sein. Dementsprechend enthalten Blaubuch und Aktionsplan folgende Aktionsbereiche:
Optimale Nachhaltigkeit bei der wirtschaftlichen Nutzung der Meeresressourcen, Aufbau einer Wissens- und
Innovationsgrundlage, verbesserte Lebensqualität in den
Küstenregionen, Ausbau der Position Europas in den
internationalen Organisationen und Abkommen und größere Aufmerksamkeit für ein maritimes Europa in der
Öffentlichkeit.
Um die Bedeutung unserer Meere für unser tägliches
Leben stärker ins Bewusstsein zu rufen und vor allem dem
letzten Punkt, einer größeren Aufmerksamkeit für ein maritimes Europa, gerecht zu werden, haben Europäische
Kommission, Rat und Parlament vor zwei Jahren den
„Europäischen Tag der Meere“ ins Leben gerufen. Zugleich wurden alle, ich betone, alle Mitgliedstaaten,
Regionen, nichtstaatliche Organisationen, Wissenschaftseinrichtungen sowie alle Organisationen und Institutionen, die irgendwie mit dem Meer zu tun haben, aufgerufen, sich mit eigenen Aktionen an dem „Europäischen Tag
des Meeres“ zu beteiligen. Dieser Aufforderung sind viele
Mitgliedstaaten, etliche Regionen, unzählige nichtstaatliche Organisationen und Wirtschafts- und Forschungseinrichten nachgekommen. Auch viele deutsche Bundesländer begehen in Kooperation mit Universitäten, Meeresforschungsinstituten und Organisationen den „Europäischen Tag der Meere“ am 20. Mai 2009.
Nur die Bundesregierung weigert sich bislang beharrlich, einen solchen „Europäischen Tag der Meere“ auch
in Deutschland einzuführen und angemessen zu gestalten.
Das ist mehr als traurig: Als Exportnation haben gerade
wir besonders von der Bedeutung der Meere profitiert.
Gerade wir sind es, die ein besonderes Interesse daran
haben sollten, auch unseren zukünftigen Wohlstand zu
sichern. Womit die Weigerung der Bundesregierung,
einen solchen Tag auch in Deutschland einzuführen, zu
begründen ist, bleibt weiter unklar. Der Hinweis darauf,
man sei nicht imstande, einen solchen Tag in Deutschland
zu begehen, da man sich auf europäischer Ebene so stark
engagiere, ist peinlich und kann wohl kaum der Grund
sein. Für mich bleiben nur zwei mögliche Erklärungen:
Entweder hat die Bundesregierung die Bedeutung der
Meere bisher nicht erkannt, womit sie sich ein Armutszeugnis ausstellen würde -, oder der wahre Grund ist der,
dass es sich nach Meinung der Bundesregierung um die
Initiative einer Oppositionsfraktion handelt, der man
schon aus Prinzip nicht zustimmen will.
Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, um das noch einmal klarzustellen: Die Annahme,
dass es sich hier ausschließlich um eine Initiative der
Opposition handele, ist falsch. Wir, die Vertreterinnen
und Vertreter der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
sind es lediglich, die Sie, die Bundesregierung, einmal
mehr an die Bedeutung der Meere für unser Land und die
von Ihnen eingegangenen Verpflichtungen innerhalb der
EU erinnern müssen.
Hiermit fordern meine Fraktion und ich sie noch einmal mit Nachdruck dazu auf, den 20. Mai als den „Europäischen Tag der Meere“ auch in Deutschland einzuführen und angemessen zu gestalten. Ansonsten läuft die
Bundesregierung nicht nur Gefahr, die gemeinsame Empfehlung der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union
vom 14. Dezember 2007 zu missachten, sondern vergibt
zudem die Chance, ein Bewusstsein für das maritime
Erbe auf deutscher und europäischer Ebene zu schaffen
und der Notwendigkeit des Schutzes der Meere den Platz
einzuräumen, welche die Meere als unsere natürliche Lebensgrundlage verdienen.
Tagesordnungspunkt 27 a. Wir kommen zunächst zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Un24424
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
terwasserlärm stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7168, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5117 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und bei Gegenstimmen
des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke angenommen. Die FDP hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einführung
eines Europäischen Tages der Meere“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12654, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/8213 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben die Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die FDP hat sich
enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk
- Drucksache 16/12854 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/13016 Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Hartfrid Wolff ({1})
Silke Stokar von Neuforn
Hier haben Beatrix Philipp, Gerold Reichenbach,
Hartfrid Wolff, Petra Pau und Silke Stokar von Neuforn
ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Wir sprechen heute über das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse
der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk, kurz
THW-Helferrechtsgesetz. Angesichts der Bedeutung des
THW für alle Menschen in Deutschland und zunehmend
auch im Ausland ist es fast verwunderlich oder ein Zeichen besonderer Qualität und Güte des THW, dass das
derzeit gültige THW-HelfRG bisher Akzeptanz gefunden
hat, obwohl es eigentlich anders hätte heißen müssen. Es
beinhaltete nämlich von Anfang an auch Regelungen zum
Einsatz und zur Organisation des THW, ohne dass sich
dies in der Gesetzesbezeichnung wiedergefunden hätte.
Der 15. Mai 2009 ist der Tag des THW. So ist es also
kein Zufall, wenn wir heute nicht nur eine Namensänderung vornehmen, sondern auch das regeln, was eindeutig
- vor allem im Interesse der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, besonders aber für die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer - dringend geboten ist.
Das THW als Einrichtung des Bundes ist elementarer Bestandteil des Zivil- und Katastrophenschutzes.
Trotz des zweigliedrigen Aufbaus des Zivil- und Katastrophenschutzes zwischen Bund und Ländern ist eine
scharfe Grenzziehung in der Praxis oft schwierig, wenn
es um die eindeutige Kompetenzzuweisung geht. Dies
zeigten bereits die Debatten zur Änderung des Zivilschutzgesetzes vom 29. Januar dieses Jahres und die
Diskussionen im Rahmen der Föderalismusreform. So
kommt dem Bund nicht nur die Funktion des Zivilschutzes, sondern mittlerweile auch eine ergänzende Funktion
im Bereich des Katastrophenschutzes zu. Aufgrund der
immer umfassender werdenden zunehmenden Herausforderungen an die Leistungsfähigkeit und das Spektrum der
Einsätze wird deutlich, dass ein funktionierendes Zusammenspiel von Bund und Ländern unabdingbar ist. Dies
zeigte sich zuletzt bei den Bergungsarbeiten nach dem
Einsturz des Kölner Stadtarchivs oder bei Aufräumarbeiten nach Verkehrsunfällen und Autobahnsperrungen, wie
dies noch in dieser Woche auf der A2 in Brandenburg der
Fall war.
Wenn nun alles fast reibungslos läuft, warum ist denn
dann die Änderung des bestehenden Gesetzes notwendig?
Seit der Gründung des THW in den 50er-Jahren haben
sich, wie gesagt, die Einsatzarten stark verändert. Die
bisher gesetzlichen Regelungen entsprechen zum Teil
nicht mehr den Einsatzerfordernissen. Daher besteht gesetzlicher Anpassungsbedarf. So findet sich nun im neuen
THW-Helferrechtsgesetz, welches 1990 den Erlass über
die Errichtung des Technischen Hilfswerkes als nichtrechtsfähige Bundesanstalt ablöste, eine genauere und
zum Teil auch erweiterte Aufgabenskizzierung.
Wer sich im Zivil- und Katastrophenschutz auskennt,
weiß, wie schwierig sich in der Vergangenheit die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern oft gestaltete. Es
ist der Praxisbezogenheit der handelnden Personen und
dem Wunsch, den Menschen zu helfen, zu verdanken, dass
es zu so vielen erfolgreichen Einsätzen und beeindruckenden Bilanzen kommen konnte. Allein im Jahr 2008 gab es
circa 390 000 Einsatzstunden, waren Tausende von Helferinnen und Helfern im Einsatz.
Der Verweis von § 1 Abs. 4 auf die landesrechtlichen
Vorschriften erlaubt es nun den THW-Einsatzkräften,
gleichberechtigt wie Einsatzkräfte von Feuerwehr und
anderen Hilfsorganisationen zu handeln. Darunter fällt
zum Beispiel, dass THWler nun berechtigt sind, einen
Einsatzort abzusperren, Absperrungen gegenüber Schaulustigen durchzusetzen, betroffene Grundstücke zu betreten usw. Das sind Beispiele, die zeigen, dass wir uns - im
Gegensatz zu manch anderen Gesetzesvorhaben - im absoluten praktischen und nicht im theoretischen Bereich
der Anwendung dieses Gesetzes bewegen. Die Gleichstellung von THW und Feuerwehr war angesichts der zunehBeatrix Philipp
menden Bedeutung des Technischen Hilfswerkes in unserer heutigen Gesellschaft mehr als geboten.
Immer häufiger können wir die blauen Fahrzeuge des
THW auf den Straßen sehen, wenn sie von einem Einsatzort zum nächsten unterwegs sind, und es wirkt irgendwie
„beruhigend“.
Das Besondere daran ist, dass bei diesen Einsätzen ein
hoher Anteil der Kräfte ehrenamtlich tätig ist. Dafür
möchte ich allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern
danken.
Mit gut 80 000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern ist das THW mit eine der bekanntesten Hilfsorganisationen in Deutschland, in der sich Helferinnen und Helfer ehrenamtlich engagieren. Ehrenamtliche Arbeit hat in
unserem Land eine lange Tradition. Wir sind in Deutschland zwar immer noch weit davon entfernt, dem Ehrenamt
so viel Bedeutung und Anerkennung beizumessen, wie
dies in den USA der Fall ist, aber es gibt ermutigende Anzeichen dafür, dass wir auf einem guten Weg sind. Zweifellos hat sich auch die Arbeitswelt in den letzten Jahren
so verändert, dass ehrenamtliches Engagement immer
schwieriger wird.
Umso mehr ist es berechtigt, nicht nur den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern Dank zu sagen, sondern
auch den Arbeitgebern, die sich bereitfinden, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während ihrer Arbeitszeit
freizustellen. Das ist nicht selbstverständlich. Also auch
ihnen ein herzliches Dankeschön!
Eine weitere wichtige Änderung ist die Schaffung einer
Rechtsgrundlage für das THW zur Durchsetzung eigener
entstandener Kosten in § 6. Demnach kann das THW
künftig Gebühren und Auslagen gemäß § 14 des Verwaltungskostengesetzes geltend machen. Die Besonderheit
liegt darin, dass dem THW ein Erstattungsanspruch zukommt, wenn die anfordernde Behörde nicht gegenüber
dem Begünstigten kostenrechtlich tätig wird, das heißt
konkret, wenn die anfordernde Behörde einfach nicht abrechnet oder sich die Abrechnung über die Behörde aus
anderen Gründen nicht umsetzen lässt. Die technische
Hilfe des THW ist nach § 6 Abs. 1 grundsätzlich gebühren- und auslagenpflichtig.
Wie hoch die Gebühren sein werden, richtet sich nach
dem Kostendeckungsprinzip. Dieses Prinzip geht aus § 3
Verwaltungskostengesetz hervor, wonach die Gebühren
so bemessen sein müssen, dass das geschätzte Gebührenaufkommen den auf die Amtshandlung entfallenden
durchschnittlichen Personal- und Sachaufwand für den
betreffenden Verwaltungszweig nicht übersteigt.
Eine Erwirtschaftung von Überschüssen ist ebenfalls
nicht möglich.
Gemäß § 6 Abs. 1 werden die näheren Bestimmungen
zur Gebührenhöhe durch Rechtsverordnung des Bundesministers des Innern getroffen. Wie gestern im Ausschuss
erläutert wurde, ermöglicht dies eine flexible Handhabung und schnelle, angemessene Reaktionen, sollte es zu
ungewöhnlichen oder unvorhergesehenen Ereignissen
kommen.
Gemäß Satz 3 ist aber auch ein Erlass der Kostenerstattung aus Gründen der Billigkeit oder des öffentlichen Interesses möglich, das heißt, es werden dann keine
Kosten in Rechnung gestellt, wenn es nach allgemeinen
Gesichtspunkten nicht hinnehmbar wäre - aufgrund der
Gesamtumstände -, dem Begünstigten die Kosten aufzuerlegen. Dies erlaubt eine Fortsetzung des bereits praktizierten Verwaltungshandelns. Sofern die zuständige Behörde die Kosten nicht an den Begünstigten weiterleiten
kann, hat das THW seinerseits die Möglichkeit, auf eine
finanzielle Belastung gegenüber der anfordernden Behörde zu verzichten. Mit der Rechtsgrundlage der Kostenstellung des neuen THW-Gesetzes findet insgesamt
eine Kostenentlastung des THW statt.
Weiterhin ist diese Regelung nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 19. Juli 2007 mehr als geboten.
Diese Rechtsgrundlage ist wichtig, um die Tätigkeit des
THW zu unterstützen.
Mit Schaffung dieser Rechtsvorschrift ist das Risiko einer Kostenbelastung beseitigt. Es liegt in der Natur der
Sache, dass diese gesetzlichen Klarstellungen an der vielzitierten Basis gerne aufgenommen werden; sie sind ein
Zeichen dafür, dass der Gesetzgeber sehr wohl in der
Lage ist, Anregungen aus der Praxis wahrzunehmen und
umzusetzen.
Lassen Sie mich zu Beginn feststellen, dass wir in
Deutschland ein gut funktionierendes Bevölkerungsschutzsystem haben, das auf einer breiten Basis von Freiwilligen ruht. Der Schutz der Bevölkerung ist eine der
wichtigsten Aufgaben unseres Staates. Sie wird durch die
vielen Tausend vor allem ehren- und hauptamtlichen Helferinnen und Helfer der Hilfsorganisationen, der Feuerwehren und des THW wahrgenommen. Viele Länder, sowohl in Europa als auch weltweit, beneiden uns um dieses
System.
Deutschland hat in dem Bereich der nichtpolizeilichen
Gefahrenabwehr traditionell ein vertikal gegliedertes,
auf Ehrenamtlichkeit und Freiwilligkeit beruhendes Sicherheitssystem aufgebaut. Dieses System hat sich im Alltag und bei größeren Schadenslagen bisher im Großen
und Ganzen bewährt. Ich erinnere hier nur an die Oderund Elbeflut. Aber insbesondere in Zeiten der wachsenden Bedrohungen für die Bevölkerung durch Klimawandel, Pandemien, aber auch durch den Zusammenbruch
kritischer Infrastrukturen wird die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Das aktuellste Beispiel ist die sogenannte
Schweinegrippe. Durch die Globalisierung und die weltweite Vernetzung hat sie sich, von Mexiko ausgehend, in
rasantem Tempo zu einem pandemischen Geschehen entwickelt - bisher zum Glück mit weltweit geringen Opferzahlen. Das muss aber nicht so bleiben.
Aus all diesen Gründen werden die Aufgaben der
nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr weiter wachsen, und
sie werden einen noch höheren Stellenwert in der Sicherheitsarchitektur unseres Landes einnehmen müssen. Lassen Sie mich deshalb auch an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, besonders den Helferinnen und Helfern der
Zu Protokoll gegebene Reden
im Bevölkerungsschutz tätigen Hilfsorganisationen herzlich zu danken für Ihr unermüdliches Engagement bei der
Erfüllung dieser wichtigen Aufgabe. Das sind die Feuerwehren, die Sanitäts- und Rettungsorganisationen und
natürlich, im Verantwortungsbereich des Bundes, das
Technische Hilfswerk. Aus meiner eigenen Erfahrung als
ehrenamtlicher Helfer weiß ich, was eine solch ehrenamtliche Tätigkeit an zeitlichen, aber auch physischen und
psychischen Belastungen im Einsatz mit sich bringen
kann. Nicht zuletzt deshalb ist es unsere klare Pflicht, den
Helferinnen und Helfern eine ordentliche Grundlage für
ihre Arbeit zu schaffen.
Dazu gehören eine vernünftige, moderne Ausstattung
und ihre Finanzierung. Hier haben wir in den letzen Jahren, beginnend unter Rot-Grün, Fortschritte erzielt. Der
Haushalt des THW etwa wurde kontinuierlich gesteigert.
Ich erinnere auch an die Vereinbarungen zwischen Bund
und Ländern zur „Neuen Strategie im Bevölkerungsschutz“ und an das Konjunkturpaket, von dem in den
Ländern die Feuerwehren und auf Bundesebene das THW
mit profitieren werden.
Wir müssen als Gesetzgeber aber auch dafür sorgen,
dass die gesetzlichen Grundlagen den Herausforderungen gerecht werden. Denn diese Normen dienen dem
Schutz der Bevölkerung vor besonderen Gefahren - ebensolchen Gefahren, vor denen sie sich aus eigener Kraft
nicht schützen kann. Einen ersten Teilschritt haben wir
gemacht: Wir haben die rechtlichen Grundlagen an die
Gefährdungsentwicklung - im Rahmen dessen, was dem
Bund möglich war - im neuen Zivilschutzgesetz-Änderungsgesetz angepasst.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung
des THW-Helferrechtsgesetzes gehen wir jetzt einen weiteren Schritt. Auch dieses aus dem Jahre 1990 stammende
Gesetz, das die Rechtsverhältnisse der Helferinnen und
Helfer im THW regelt, muss rechtlich weiterentwickelt
werden. Das neue THW-Gesetz wird der immer stärkeren
Einbindung des THW in die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr und die Amtshilfe sowie seiner immer wichtigeren
Rolle in der humanitären Auslandshilfe Rechnung tragen.
Wir definieren die Aufgaben des THW als technische
Bevölkerungsschutz- und Katastrophenhilfeorganisation
des Bundes. Das THW nimmt zum einen Aufgaben nach
dem Gesetz über den Zivilschutz und zum anderen über
die Katastrophenhilfe des Bundes wahr. Es wird im Rahmen des Art. 35 des Grundgesetzes für technische Hilfeleistungen bei Katastrophen und Unglücksfällen im Wege
der Amtshilfe tätig und ist damit mit seinen über
80 000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern und seinen 800 hauptamtlichen Mitarbeitern ein wichtiger
Bestandteil im Sicherheitssystem der Bundesrepublik
Deutschland.
Darüber hinaus ist es die humanitäre Auslandshilfeorganisation des Bundes. Es leistet im Auftrag der Bundesregierung humanitäre und technische Hilfe im Ausland
und hat sich als „Botschafter Deutschlands“ einen hervorragenden Ruf im Ausland erworben. Die vielfältigen
Anfragen aus dem Ausland - zuletzt aus China -, beim
Aufbau eines eigenen am Vorbild des THW orientierten
Bevölkerungsschutzsystems Beratungs- und Aufbauhilfe
zu leisten, sind ein beredtes Beispiel dafür.
Mit der Gesetzesänderung sorgen wir dafür, dass landesrechtlich geregelte Befugnisse nun auch für das THW
gelten, wenn es im Rahmen der Amts- oder Katastrophenhilfe eingesetzt wird. Bisher war es dem THW unter anderem nicht erlaubt, im Einzelfall ein nicht vom Schadensereignis betroffenes Grundstück zu betreten, um so
bei einem Unglücksfall oder einer Katastrophe effektive
Hilfe zu leisten oder eine drohende Gefahr abzuwehren.
Gleiches galt für die Durchsetzung einer Absperrung am
Unglücksort vor Schaulustigen oder die Heranziehung
von Hilfsmitteln, die in fremdem Eigentum stehen. Diese
Befugnisse besitzen bereits die anerkannten Hilfsorganisationen sowie die Feuerwehren gemäß den jeweiligen
Landesgesetzen. Um einen erfolgreichen Einsatz und die
lückenlose Zusammenarbeit bei gemeinsamen Einsätzen
sicherzustellen, wird mit dem vorliegenden Gesetz diese
Lücke geschlossen.
Mit der Änderung des Gesetzes wollen wir auch eine
Rechtsgrundlage schaffen, um aufgetretene Probleme im
Rahmen der Kostenerstattung bei Inanspruchnahme des
THW zu lösen. Grundsätzlich ist die Hilfe des THW gebühren- und auslagenpflichtig. Dort, wo im Wege der
Amts- oder Katastrophenhilfe die jeweils anfordernde
Behörde aus gesetzlichen Gründen selbst keine Gebühren
oder Kostenersatz erheben kann, wird dies auch das THW
weiterhin nicht tun. Dort, wo dies aber der Fall ist, wollen
wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Erstattung möglichst unkompliziert und ohne erheblichen zusätzlichen Aufwand für die anfordernde Behörde erfolgen
kann.
Das Bundesinnenministerium wird mit dem Gesetz ermächtigt, eine entsprechende Rechtsverordnung zu schaffen, die die Gebühren- und Auslagenerhebung durch das
THW regelt. Mit dieser Rechtsverordnung soll auch eine
direkte Kostenerstattung durch den letztendlich Kostenpflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen möglich
sein. Die Rechtsverordnung des Innenministeriums wird
sich dabei im verfassungs- und verwaltungsrechtlich vorgegebenen Rahmen bewegen müssen.
Und last, but not least werden wir in dem neuen Gesetz
- so, wie dies bereits im Vorgängergesetz der Fall war die Mitgestaltungsmöglichkeiten der ehrenamtlichen
Helferinnen und Helfer im THW verankern. Das Nähere
wird dann eine Verordnung des Innenministers regeln.
Das THW-Gesetz selbst ist übrigens ein gutes Beispiel für
die Anerkennung von Fachkompetenz im Ehrenamt. So
waren im Vorfeld nicht nur, wie üblich, die zuständigen
Behörden, sondern eben auch die Ehrenamtlichen im
THW fachlich beteiligt.
Beim Schutz unserer Bevölkerung wird es in der Zukunft noch mehr darauf ankommen, dass alle Akteure reibungslos zusammenarbeiten. Das neue THW-Gesetz leistet seinen Beitrag dazu. Und es ist auch ein Beitrag zur
Stärkung des ehrenamtlichen Fundaments. Darum bitte
ich um Ihre Zustimmung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die FDP ist überzeugt: Die ehrenamtlichen und die
professionellen Helferinnen und Helfer von THW und
Feuerwehren, von Rettungsdiensten, DLRG und anderen
Hilfsorganisationen leisten ausgezeichnete Arbeit. Sie
müssen deutlich mehr gewürdigt und unterstützt werden,
als es bisher der Fall war. Effiziente Strukturen, einfache
Entscheidungswege, an Risiken ausgerichtete Reaktionsmöglichkeiten helfen auch und gerade denjenigen, die
selbst schnell helfen wollen.
Die Herausforderungen im Bevölkerungsschutz sind
sehr groß. Deshalb ist es gut, dass den Helferinnen und
Helfern im THW endlich mehr Rechtssicherheit für ihre
verantwortungsvolle Aufgabe eingeräumt wird. Dem
THW werden im vorliegenden Gesetzentwurf Befugnisse
zuteil, die einen erfolgreichen Einsatz sicherstellen sollen. Dem THW werden nun die gleichen Befugnisse eingeräumt wie den anerkannten privaten Hilfsorganisationen. Auch die Landesgesetze für Feuerwehren und
Hilfsorganisationen enthalten ähnliche Befugnisse.
Die FDP unterstützt also das vorliegende Gesetz. Wir
weisen aber auf die immer noch offenen grundlegenden
Fragen des Bevölkerungsschutzes in Deutschland hin.
Naturkatastrophen und Großunfälle machen nicht an
Ländergrenzen halt. Überregionale Stromausfälle wie
vor einigen Jahren im Münsterland oder verursacht
durch die Ems-Durchfahrt eines großen Schiffsneubaus,
Pandemien wie etwa die Vogelgrippe oder von bestimmten Gruppen ausgehende Gefahren, etwa durch organisierte Kriminalität oder terroristische Aktivitäten, erfordern ein länderübergreifendes Sicherheitskonzept.
Hierfür ist ein von Bund und Ländern gemeinsam getragenes, einheitliches Bevölkerungsschutzsystem am besten
geeignet - mit allein am Schadensausmaß und an den
schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten.
Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und
Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des
Staates. Das kürzlich verabschiedete Zivilschutzgesetz
war überfällig, aber erscheint nicht als ausreichend.
Neue Herausforderungen an die öffentliche Sicherheit
sind nicht allein mit tagespolitischen Aktivitäten zu beantworten. Der Bund muss im Katastrophenschutz Verantwortung übernehmen und darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen.
Der Bundesrechnungshof hat wiederholt die Bundesfinanzierung kritisiert. Katastrophenschutz ist laut
Grundgesetz Ländersache. Eine Nachjustierung ist dringend erforderlich.
Es ist befremdlich, dass Innenminister Schäuble dem
Bundeswehreinsatz im Innern Tür und Tor öffnen will,
aber sich einer zeitgemäßen Neudefinition der grundgesetzlichen Bevölkerungsschutzkompetenzen verweigert.
Es gilt aber, die zivilen Kräfte zu stärken. Die bestehende
Zweiteilung in den Zivilschutz im Verteidigungsfall und
den Katastrophenschutz im Frieden ist überholt und
macht aus Sicht der meisten Experten so keinen Sinn
mehr. Die bislang praktizierte Zuweisung von Zuständigkeiten nach der Schadensursache wird der Lage nicht
länger gerecht. Zum Zeitpunkt einer notwendigen Gefahrenabwehr kann nicht die Ursachenforschung höchste
Priorität haben, um Zuständigkeitsfragen zu klären. Hier
muss einfach und schnell anhand des Schadensausmaßes
geholfen werden.
Daher ist eine Aufgabenverteilung anzustreben, bei
der die Zuständigkeit für lokale Schadensereignisse im
Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr bei den Kommunen bzw. beim Land, die Zuständigkeit für Großschadensereignisse innerhalb eines Bundeslandes ohne weitere Auswirkungen auf das Bundesgebiet bei den Ländern
und die Zuständigkeit für außerordentliche bundesweite
Schadenslagen sowie für länderübergreifende Großschadenslagen beim Bund liegt. Innerhalb dieses Rahmens ist
die Ressourcenverantwortung zu regeln, um effektiv und
schnellstmöglich helfen zu können. Deshalb scheint eine
grundgesetzlich verankerte bundesweite Koordinierungskompetenz im Katastrophenschutz unverzichtbar zu
sein.
Darüber hinaus sind die ehrenamtlichen Strukturen im
Katastrophenschutz mindestens im bisherigen Umfange
unbedingt aufrechtzuerhalten. Das ehrenamtliche Engagement ist die bürgerschaftliche Grundlage für die
Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
und die tragende personelle Infrastrukturkomponente des
Bevölkerungsschutzes. Gerade im Bereich des THW sind
die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer das Rückgrat
der Arbeit für den Bevölkerungsschutz. Dieses Engagement muss unterstützt und anerkannt werden.
Erstens. Das Gesetz, das heute beschlossen werden
soll, heißt: „Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur
Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk“. Schon die Überschrift ist
ein Text schlichter Schönheit. Glückwunsch! Worum geht
es also wirklich? Um Zweierlei! Erstens: Das Technische
Hilfswerk erhält Rechte, die ähnliche Einrichtungen, zum
Beispiel Feuerwehren, längst haben. So soll auch das
THW Straßen sperren dürfen, wenn das im Katastrophenfall geboten scheint. Es geht um weitere Befugnisse für
das THW, die sinnvoll und verhältnismäßig sind. Dem
stimmt die Linke zu. Und ich füge hinzu: Das Technische
Hilfswerk wird demnächst 60 Jahre alt. Ich wünsche dem
THW noch weitere erfolgreiche 60 Jahre, hierzulande
und weltweit.
Zweitens. Auch die zweite Absicht dieses Gesetzes ist
im Sinne der Fraktion Die Linke. Der Gesetzestext soll
der Realität angepasst werden, und die heißt: Nicht nur
Männer oder Jungs schultern die Arbeit im Technischen
Hilfswerk, sondern zunehmend auch Frauen und Mädchen. Also wurde der Gesetzestext geändert oder
neudeutsch „gegendert“. Überall, wo vordem „Helfer“
geschrieben wurde, steht nunmehr „Helferinnen und Helfer“. Mit einer wesentlichen Ausnahme: In der Überschrift geht es noch immer nur um die „Helfer“ des THW.
Nun können wir raten, ob hier schlicht sozialdemokratischer Schlendrian am Werk war oder ob die CSU subversiv ihren Mannesgeist verewigen wollte. Wie auch immer:
Wichtiger ist, dass die THW-Helferinnen und -Helfer in
Zu Protokoll gegebene Reden
der Not, zumeist ehrenamtlich im besten Sinne, präsent
sind.
Das Technische Hilfswerk ist die bedeutendste Katastrophenschutzorganisation des Bundes, und lassen Sie
mich gleich zu Beginn sagen: Wir wünschen dem THW
auf der Tagung in Chemnitz viel Erfolg. Der „Tag des
THW“ der vom 15. bis 17. Mai in der Stadthalle von
Chemnitz stattfinden wird, steht unter dem Motto „Zukunft gemeinsam gestalten“, und in den vier Foren wird
sich die Tagung mit den wichtigen Themen „Bevölkerungsentwicklung“, „Beruf und freiwilliges Engagement“, „Risiko und Sicherheit“ und „Technischer Fortschritt“ befassen.
Ich bin gespannt auf die Ergebnisse dieser Foren, und
ich stelle hier diesen Tag des THW an den Anfang meiner
Rede, weil ich deutlich machen will, dass wir hier zwar
heute richtige Entscheidungen zur Verbesserung der
Rechtsverhältnisse der Helferinnen und Helfer des THW
treffen, dass es aber nicht ausreicht, bei dieser kleinen
Gesetzesänderung stehen zu bleiben. Wir müssen die
Bundesanstalt Technisches Hilfswerk fit machen für die
Zukunft, und ich würde es begrüßen, wenn die fraktionsübergreifende Arbeit beim Thema Katastrophenschutz
auch in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt
wird.
Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken bei den
über 80 000 ehrenamtlichen THW-Kräften, die im In- und
Ausland mit großem persönlichen Einsatz eine unverzichtbare Arbeit leisten, und ich freue mich ganz besonders, dass das Erfolgsmodell THW in den vergangenen
Jahren so erfolgreich auf die neuen Bundesländer übertragen werden konnte. Ganz besonders erwähnen möchte
ich die THW-Jugend, die an vielen Orten neben der freiwilligen Feuerwehr und den Sportvereinen jungen Menschen Orientierung und sinnvolle Beschäftigung bietet.
Es ist überfällig, dass mit dem Gesetzentwurf der Großen Koalition jetzt die rechtlichen Befugnisse der Helferinnen und Helfer des THW eindeutig geregelt werden.
Während des Einsatzes muss schnell und effektiv gehandelt werden, rechtliche Streitigkeiten und Unklarheiten
der Befugnisse führen zu Reibungsverlusten in den Einsätzen und verunsichern diejenigen, die helfen wollen.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Helferinnen und
Helfer des THW bei innerdeutschen Einsätzen im Katastrophenfall und Zivilschutz mit denen der öffentlichen
Landesfeuerwehren gleich. Unter Vorbehalt landesrechtlicher Regelungen wird dem THW nun ein eindeutiger
Rechtsrahmen zur Verfügung gestellt, und ich hoffe, dass
auch die Länder bereit sind, weiter an einheitlichen
Rechtsstandards zu arbeiten. Es gibt keine Konkurrenz
zur freiwilligen Feuerwehr, sondern die Notwendigkeit
einer gemeinsamen, vernetzten Arbeit.
Auch das Problem der Finanzierung von THW-Einsätzen soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelöst werden. Über eine noch zu schaffende Rechtsordnung soll
das Bundesinnenministerium in Absprache mit dem Bundesministerium der Finanzen dazu ermächtigt werden,
gebührenpflichtige Tatbestände und deren Bemessung sowie feste Sätze festzulegen. Wir sehen hier Auswirkungen
auf den Haushalt, die nicht am Parlament vorbei entschieden werden sollten, und wollen die Gebühren in das
Gesetz aufnehmen. Die jetzt vorgeschlagene Rechtsverordnung ist zwar eine Verbesserung gegenüber der bestehenden ungeregelten Verfahrensweise, wir wollen hier
aber keine Entscheidungen am Parlament vorbei.
Dennoch werden wir dem Gesetzentwurf der Großen
Koalition zustimmen. Die Änderungen gehen in die richtige Richtung, und sie sind eine Verbesserung gegenüber
dem jetzigen Zustand.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13016, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12854 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Krankenversicherung für Selbständige bezahlbar gestalten
- Drucksache 16/12734 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegen Max Straubinger, Karl Lauterbach, Daniel Bahr,
Birgitt Bender, Frank Spieth und die Parlamentarische
Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Zunächst möchte ich für meine Fraktion ein gewisses
Erstaunen darüber nicht verhehlen, dass die Linke im
Titel ihres heute zu debattierenden Antrags suggeriert,
das Wählerpotenzial der Selbstständigen entdeckt zu haben. Schließlich lautet der Antrag: „Krankenversicherung für Selbständige bezahlbar gestalten“. Doch um
privat versicherte Selbstständige geht es der Linken ja
auch gar nicht. Vielmehr geht es ihr einmal mehr darum,
Hartz-IV-Versicherte in der GKV und solche, die lediglich aus systematischen Gründen der PKV zuzuordnen
sind, vor finanzieller Überforderung durch Beitragspflichten zu schützen. Womit ich ausdrücklich nicht sagen
möchte, dass dort, wo es tatsächlich Ungereimtheiten
oder Ungerechtigkeiten bei gesetzlich auferlegten BeiMax Straubinger
tragspflichten gibt, nicht tatsächlich auch Korrekturen
erfolgen sollten. Ich komme gleich darauf zurück.
Zuvor stelle ich fest: Der Antragstitel ist also trügerisch. Denn tatsächlich selbstständige Unternehmer oder
Freiberufler sind gar nicht der Adressat. Alles andere
wäre ja auch höchst verwunderlich. Für diese Zielgruppe
hat die Linke ja auch nicht wirklich viel übrig. Im Gegenteil! Nehmen wir das Thema Steuern: Was die Linke dort
an Daumenschrauben in ihrem Sammelsurium steuerpolitischer Belastungen für Selbstständige und Freiberufler bereithält, ist mehr als beachtlich - oder besser: abschreckend.
Doch zurück zum eigentlichen Inhalt des Antrages und
der von der Linken angeführten Ungerechtigkeit bei der
Bemessung von Beiträgen für freiwillig Versicherte. Die
unterschiedliche Beitragsbelastung freiwillig gesetzlich
versicherter Grundsicherungsempfänger und gesetzlich
pflichtversicherter Grundsicherungsempfänger ist tatsächlich schwer nachvollziehbar. Die beklagten Folgen
sind ganz offenbar Ergebnis des Bemühens der Bundesgesundheitsministerin, die Attraktivität der privaten
Krankenversicherung so weit wie möglich zu schmälern.
Warum? Weil die Betroffenen als Ausweg ja schließlich
zumindest theoretisch in den neu geschaffenen Basistarif
der PKV wechseln könnten. Doch auch dort hat man die
Schwellen entsprechend hoch gehängt. Schließlich liegt
auch in der PKV der von Hilfebedürftigen aufzubringende Beitrag bei knapp 300 Euro.
Im Unterschied zu pflichtversicherten GKV-Mitgliedern kommt für Beitragsausfälle infolge von Hilfebedürftigkeit bei der PKV nur nicht die Allgemeinheit auf. Dies
wird vielmehr der übrigen Versichertengemeinschaft zugemutet. In der GKV leistet die Gemeinschaft der Steuerzahler über die Träger der Grundsicherung Hilfe. Auch
dieses Beispiel zeigt, dass zwischen und sogar innerhalb
der beiden Krankenversicherungssysteme mit den Neuregelungen im Bereich des SGB V manche Ungereimtheiten geschaffen wurden, die es zu korrigieren gilt.
Eine Anmerkung zum Punkt zwei des Antrages, in dem
die Linke fordert, dass hilfeberechtigte Hartz-IV-Empfänger und Sozialhilfeempfänger nicht mehr für den Basistarif der PKV zahlen müssen, als sie vom Träger der
Grundsicherung dafür erhalten: Nach geltendem Recht
würde dies bedeuten, dass die PKV-Gemeinschaft und
eben nicht die Allgemeinheit dauerhaft für die Differenz
zwischen notwendigem Beitrag und geleistetem Beitrag
geradestehen müsste.
Die Linke wird anführen, dass dies bei der GKV ja
nicht anders sei, weil schließlich der von der Bundesagentur für Arbeit bzw. den Sozialämtern abgeführte Beitrag an die Krankenkassen auch deutlich unter dem
eigentlich erforderlichen Beitrag liegt. Und tatsächlich
bin auch ich an diesem Punkt der Meinung, dass dies
nicht auf Dauer gerechtfertigt sein kann. Nur, erstens
scheitert eine Korrektur in dieser ja gerade auch von der
Bundesgesundheitsministerin forcierten Frage bisher vor
allem am Widerstand ihres Parteifreundes, des Bundesfinanzministers. Und zweitens darf darauf verwiesen werden, dass wir uns gerade erst auf den Weg gemacht haben, einen dauerhaften und mehr als nennenswerten
GKV-Bundeszuschuss aus Steuermitteln zu etablieren,
mit dem gesamtgesellschaftliche Aufgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung geschultert werden.
Zu diesen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben des
Steuerzahlers zählt zweifelsfrei auch der Schutz Hilfebedürftiger vor finanzieller Überforderung durch Krankenversicherungsbeiträge. Und auch dieser Hinweis sei
erlaubt: Einen solchen Bundeszuschuss für gesamtgesellschaftliche Aufgaben kennt die PKV nicht, wobei uns
doch eigentlich auch dort etwa der Versicherungsschutz
von Kindern genauso viel wert sein müsste wie in der gesetzlichen Krankenversicherung. In der GKV jedenfalls
finanziert der Steuerzahler die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern. Der in der PKV versicherte kleine Beamte muss hierfür selbst Beiträge entrichten. Auch dies
wäre ein Thema, dem sich die Linke einmal widmen
könnte.
Ich darf zusammenfassen: Unbestreitbar existieren bei
der Ausgestaltung der Beitragspflichten zur Krankenversicherung für eng begrenzte Personengruppen Ungereimtheiten, die von den Betroffenen als ungerecht und
tatsächlich auch als korrekturbedürftig empfunden werden. Nur sollte man diese Ungereimtheiten nicht jeweils
einer isolierten Lösung zuführen. Denn mit jeder vermeintlichen Gerechtigkeitslücke, die wir schließen, reißen wir neue auf. Im Steuerrecht ist dies nicht anders.
Ich plädiere deshalb mit Nachdruck für eine umfassende Bestandsaufnahme. Danach sollten wir uns gemeinsam um Korrekturen bemühen, die allen betroffenen
Gruppen gerecht werden, selbstverständlich auch den
freiwillig GKV-versicherten Selbstständigen.
Gerade in dieser Gruppe von Versicherten vollziehen
wir mit der Rolle rückwärts beim Krankengeld ja gerade
eine höchst pragmatische Kehrtwende. Die Quasirückkehr zum alten Recht, in dem freiwillig GKV-versicherte
Selbstständige ihren Krankengeldanspruch durch Leistung des allgemeinen Beitragssatzes erwerben, ist ein
Gebot der Vernunft und der Gerechtigkeit. Auch in dieser
Frage zeigt sich, dass pragmatische Regelungen im Interesse der Betroffenen allemal besser und gerechter sind
als ideologisch gefärbte Versuche, freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung verbliebene Selbstständige zu vergraulen.
Bei den privat versicherten ALG-II-Empfängern und
Sozialgeldempfängern besteht in der Tat eine Regelungslücke. Dies hat die SPD-Fraktion auch frühzeitig erkannt.
Allerdings konnte hier mit dem Koalitionspartner noch
keine befriedigende Lösung erreicht werden. Der Antrag
der Linken greift hier aber dennoch deutlich zu kurz. Das
grundlegende Problem unseres Gesundheitssystems ist
nicht die finanzielle Überforderung privat versicherter
Arbeitsloser, sondern die willkürliche Zweiteilung des
Krankenversicherungssystems in gesetzliche und private
Kassen mit der Konsequenz einer zunehmenden Zweiklassenmedizin.
Ein gesetzlich Versicherter mit einem Höchstbeitrag
von 550 Euro im Monat zahlt davon circa 250 Euro für
Zu Protokoll gegebene Reden
die Krankenversicherung der Einkommensschwachen.
Wechselt er in die private Krankenversicherung, muss er
dies nicht mehr bezahlen, weil die private Krankenversicherung am Finanzausgleich der Krankenkassen zwischen gering Verdienenden und gut Verdienenden nicht
teilnimmt. Nur aus diesem Grunde können die privaten
Krankenversicherungen trotz höherer Honorare für die
Ärzte und mehr als doppelt so hohen Verwaltungsausgaben billiger als die gesetzlichen Kassen sein. Wer bei hohem Einkommen gesetzlich versichert bleibt, zahlt nicht
nur mehr, sondern muss dazu beim Arztbesuch warten, bis
der privat Versicherte behandelt wurde, leistet dann die
Praxisgebühr und zahlt selbst für ein Arzneimittel im
Wert von zehn Euro fünf Euro beim Apotheker dazu. Über
die Jahrzehnte zahlt er mehrere Hunderttausend Euro
Beitrag. Wird er dann krank, steht ihm die Privatsprechstunde eines Universitätsprofessors nicht zu, der dagegen
den privat versicherten Studenten empfängt.
Dieses System ist mittlerweile nicht nur einzigartig in
Europa, sondern auch einzigartig ungerecht. In Zukunft
müssen wir sicherstellen, dass alle Bürger einen Solidarbeitrag zur Gesundheitsversorgung leisten und umgekehrt Anspruch auf die Solidarität der Gesellschaft
haben. Alle Bürger sollen die Pflicht zur Versicherung
haben und einkommensabhängige Beiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen, die an den Gesundheitsfonds abgeführt werden, wobei zu prüfen ist, ob die
Beitragsbemessungsgrenze angehoben wird. Einer Versicherungspflichtgrenze bedarf es dann nicht mehr. Die
Pflicht zur Versicherung sollte sowohl bei gesetzlichen
Krankenkassen als auch bei privaten Krankenversicherungsunternehmen realisiert werden können. In dieser
neuen Pflichtversicherung sollte Kontrahierungszwang
herrschen, und Risikozuschläge sollten unzulässig sein.
Alle Krankenversicherer, die die Pflichtversicherung
durchführen, erhalten dann pauschalierte Zuweisungen
aus dem Gesundheitsfonds über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich.
Nur auf dieser Grundlage eines einheitlichen Versicherungssystems können wir auch die Lösung der weiteren zentralen Probleme, die unser Gesundheitssystem leider prägen und eine gute medizinische Versorgung für die
Menschen in Deutschland gefährden, angehen.
Denn das deutsche Gesundheitssystem ist leider insgesamt schlechter als sein Ruf: in der Welt hoch angesehen
wegen seiner Solidarität zwischen den Versicherten und
wegen der hohen Qualität der Ärzte, Pfleger und der Einrichtungen. In Wahrheit allerdings verschärft sich die
Zweiklassenmedizin immer mehr, was jeder gesetzlich
Versicherte - und das sind 90 Prozent der Bevölkerung am eigenen Leib spürt. Im Vergleich zu privat Versicherten müssen gesetzlich Versicherte dreimal so lange beim
niedergelassenen Facharzt warten, und das auch bei
wichtigen diagnostischen Leistungen, die für die Abklärung einer ernsthaften Erkrankung notwendig sind. Aber
auch wenn er einen Termin bekommt, ist eine adäquate
Versorgung keineswegs gewährleistet. Auch wenn die
Beitragszahler so viel Geld wie in kaum einem anderen
Land für die medizinische Versorgung bereitstellen, ist
die Qualität meist nur Mittelmaß.
Mehrere Ursachen führen zu diesem Befund: Erstens
ist unser ganzes System zu wenig auf Vorbeugemedizin
ausgerichtet. Über 95 Prozent unserer Gesundheitsausgaben gehen in die rein kurative Versorgung. Dabei ist es
mittlerweile wissenschaftlich gesichert, dass rund
80 Prozent aller Krankheitsfälle durch eine bessere Vorbeugung vermieden, aufgeschoben oder gelindert werden
können.
Zweitens. Uns gehen die Hausärzte aus. Wir haben
zwar immer noch eine hohe Ärztedichte, aber leider nicht
mehr bei den Hausärzten. In kaum einem anderen Land
gibt es so viele Fachärzte pro Hausarzt, nämlich zweieinhalb Mal so viel, wie in Deutschland. Gleichzeitig nimmt
die Zahl der Hausärzte jedes Jahr weiter ab. Das ist besonders bitter, weil die Hausärzte diejenigen wären, die
verstärkt die Vorbeugemedizin anbieten könnten, weil sie
oft ihre Patienten über lange Zeiträume hinweg versorgen.
Drittens. Die einzelnen Akteure arbeiten nicht gut genug zusammen. Kein Gesundheitssystem der Welt trennt
so streng die Aufgaben der Krankenhäuser von den Aufgaben der niedergelassenen Ärzte wie unseres. Für die
schweren Fälle ist das Krankenhaus zuständig, für die
leichten der niedergelassene Hausarzt. Erschwerend
kommt noch hinzu, dass wir eines der wenigen Länder
sind, das Fachärzte sowohl in der Praxis als auch im
Krankenhaus vorhält. So kommt es, dass in vielen Fällen
die niedergelassenen Fachärzte sogar mit den Klinikärzten um denselben Patienten konkurrieren anstatt zu kooperieren.
Viertens. Die Fortbildung unserer Ärzte ist zu schlecht
organisiert und zu gering vergütet. In kaum einer Disziplin ist der Fortschritt so rasant wie in der Medizin. Täglich erscheinen Hunderte medizinische Studien. Es gibt
mehrere Zehntausend medizinische Fachzeitschriften.
Ein Allgemeinarzt müsste jeden Tag 17 Artikel lesen, um
sich über die in seinem Fachgebiet gewonnenen Erkenntnisse zu informieren. Die jetzt vorgeschriebene ärztliche
Fortbildung wird meistens von der Pharmaindustrie gesponsert und ist mit einfachsten Anforderungen im Internet zu bewältigen. Das System belohnt Ärzte, die es sich
so einfach wie möglich machen, und bestraft diejenigen,
die viel Geld und Zeit in ihre Fortbildung investieren.
Fünftens. Wir haben zwar viele Fachärzte, aber wenig
Spezialisten. Ein Facharzt für Chirurgie beispielsweise,
der auch Knieverletzungen operiert, ist längst noch kein
Meniskusspezialist. Daher kommen bei uns für viele
Krankheiten mehr Fachärzte, aber weniger Spezialisten
auf 1 000 Einwohner als in anderen Ländern. Dies ist
eine direkte Folge des falschen Honorarsystems, in dem
eine konsequente Spezialisierung für viele Fachärzte das
wirtschaftliche Aus bedeutet hätte. So kommt es, dass die
wenigen Spezialisten in Deutschland vorwiegend privat
Versicherte behandeln, weil sie dort ein höheres Honorar
generieren können. Das Nachsehen hat auch hier die
große Mehrheit der gesetzlich Versicherten, die entweder
gar nicht beim Spezialisten drankommt oder sehr lange
Wartezeiten in Kauf nehmen muss.
Die Lösung dieser Probleme hat die SPD in ihrem Programm vorgelegt. Das werden wir in der WahlauseinanZu Protokoll gegebene Reden
dersetzung deutlich machen, und das werden wir auch
nach der Wahl umsetzen.
Wir brauchen einen dritten Weg jenseits von Marktradikalisierung und Staatsmedizin. Das zentrale Anliegen
dabei muss die Überwindung des zweigeteilten Versicherungssystems sein. Wir brauchen eine Versicherung von
allen, von allem für alle. Damit einher geht auch eine einheitliche Gebührenordnung für privat wie gesetzlich Versicherte gleichermaßen. Dies wäre der wirkungsvollste
Ansatz im Kampf gegen die Zweiklassenmedizin. Die Kliniken sollten stärker als bisher für die ambulante Versorgung geöffnet werden. Auch hier sollte eine einheitliche
Gebührenordnung für niedergelassene Fachärzte und
Kliniken gelten. In diesem Fall belebt Konkurrenz nicht
nur das Geschäft; die stärkere Öffnung der Krankenhäuser kann auch zu mehr Kooperation und damit zu einer
Qualitätssteigerung führen.
Wir müssen Hausärzte deutlich besser bezahlen als
heute. Heute ist es so, dass diejenigen Ärzte am meisten
verdienen, die kaum einmal einen Patienten lebend oder
am Stück zu Gesicht bekommen, wie Pathologen oder Laborärzte. Die Hausärzte hingegen waren in den letzten
beiden Jahrzehnten fast immer die Verlierer bei den
innerärztlichen Honorarverteilungskonflikten. So kommt
es, dass heutzutage ein Hausarzt nur noch die Hälfte dessen verdient wie beispielsweise ein Röntgenarzt. Eine
bessere Honorierung der Hausärzte, die diesen Beruf
wieder so attraktiv macht, wie er es verdient, ist auch der
Schlüssel zu mehr Vorbeugemedizin.
Der dritte Weg in der Gesundheitspolitik wäre in der
Tat der beste, würde man ihn auch konsequent gehen. Er
verbindet die Vorteile des Marktes mit denen eines starken Sozialstaates. Die Rolle des Marktes ist es dabei, Innovation und Wirtschaftlichkeit zu stützen. Dazu muss der
Verbraucher gestärkt werden. Weil er ohne Hilfe nicht erkennen kann, was echte Innovationen sind und was nur
als Innovation verkauft wird, müssen die Krankenkassen
und die Verbraucherschützer die Qualität der Tätigkeit
von Ärzten und Kliniken auswerten und öffentlich machen. Ärzte müssen ohne Einfluss der Pharmalobby fortgebildet und nach der Qualität ihrer Leistungen honoriert
werden, nicht nach der Zahl der Privatpatienten.
Zum besseren Wettbewerb gehört auch eine bessere
Bezahlung von Vorbeugeleistungen, die besonders von
Hausärzten angeboten werden. Es ist unsinnig, die Vorbeugung zu vernachlässigen, nur um unser Überangebot
an Fachärzten auszulasten. Daher müssen die Wettbewerbsbedingungen so geändert werden, dass man mit
dem Erhalt der Gesundheit so gut verdienen kann wie mit
ihrer Wiederherstellung.
Eine gute Gesundheitspolitik kann dafür sorgen, dass
alle, ob arm oder reich, von einem Gesundheitssystem,
das sich durch Qualität und Wirtschaftlichkeit auszeichnet, profitieren. Sie muss garantieren, dass genug Geld in
die Aus- und Weiterbildung von Ärzten fließt, und die Forschung in Deutschland gezielt fördern. Dann könnte das
deutsche Gesundheitssystem international an die Spitze
zurückkehren. Das Potenzial dafür hat Deutschland, und
die Bürger werden in den kommenden Jahren die Politik
unterstützen, die dafür sorgt, dass dieses Potenzial endlich ausgeschöpft wird. Sie können sicher sein, dass die
SPD genau diese Politik vertritt und gestalten wird.
Die Linke macht mit ihrem Antrag auf einen Missstand
aufmerksam, den auch die FDP-Fraktion im Deutschen
Bundestag stets kritisiert hat. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-WSG - wird die Höhe der Prämie für
hilfebedürftige Versicherte im Basistarif einer privaten
Krankenversicherung halbiert. Diese Halbierung muss
durch die Versichertengemeinschaft der privaten Krankenversicherung getragen werden. Zu der dann noch verbleibenden Prämie erhält der hilfebedürftige Versicherte
zwar einen Zuschuss aus Steuermitteln, es bleibt jedoch
eine für viele nicht schulterbare Finanzierungslücke.
Diese Finanzierungslücke von über 155 Euro ist der
schwarz-roten Koalition nicht nur bereits seit dem Gesetzgebungsverfahren zum GKV-WSG bekannt, sie hat sie
sogar bewusst ignoriert, wie Frau Dr. Reimann, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, dies im „Tagesspiegel“ vom 4. Mai 2009 auch offen
zugibt. Damit sollte ganz bewusst eine Situation geschaffen werden, die darauf hinausläuft, dass die anderen
PKV-Versicherten diese Finanzierungslücke durch eine
Verteuerung ihrer Tarife schließen müssen. Das ist nicht
nur inhaltlich falsch. Das ist auch unverantwortliches
politisches Handeln.
Eine solche Irreführung der Parlamentarier, die über
das Gesetz abzustimmen hatten, und auch der Bürger, die
diesen Prozess aufmerksam beobachtet haben, ist dem
Ansehen des Gesetzgebers und der Politik nicht förderlich. Für Frau Dr. Reimann stellt dies, so ihre Äußerungen im genannten Beitrag des „Tagesspiegels“, „kein
Problem“ dar. Es handle sich ja nicht um besonders viele
Fälle. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist dies jedoch
ein weiterer Schritt in das Aufweichen der politischen Sitten. Und es ist die Fortsetzung des Versuchs, die private
Krankenversicherung zu schwächen, um beim Marsch in
ein staatlich gelenktes, zentralistisches Einheitskassensystem wieder ein Stück voranzukommen.
Die Linke greift mit ihrem zur Debatte stehenden Antrag zwar dankenswerterweise ein berechtigtes Anliegen
auf. Nichtsdestoweniger ist die Lösung, die Finanzierungslücke durch die Versichertengemeinschaft der privaten Krankenversicherung tragen zu lassen, falsch.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es zwar eine
Selbstverständlichkeit, dass derjenige, der seine Prämie
aus eigenen Kräften nicht schultern kann, unterstützt
werden muss. Aus den Regelsätzen für Hartz IV bzw. der
Grundsicherung kann die Finanzierungslücke bei der
Prämie nicht bestritten werden. Dies ist für die FDP-Bundestagsfraktion jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die damit nicht über die Versichertengemeinschaft,
sondern über das Steuer- und Transfersystem gelöst werden muss. Auch in unserem Antrag „Für ein einfaches,
transparentes und leistungsgerechtes Gesundheitswesen“, der im Plenum des Deutschen Bundestages bereits
beraten wurde, schlagen wir einen sozialen Ausgleich
Zu Protokoll gegebene Reden
Daniel Bahr ({0})
über das Steuer- und Transfersystem vor. Denn dort ist er
transparenter und zielgenauer.
„Alle Menschen werden krankenversichert“ ließ die
Bundesregierung 2007 republikweit plakatieren. Ein ehrgeiziges Ziel, ein richtiges Ziel! Aber daran muss sich die
Bundesregierung auch messen lassen. Werden alle Menschen krankenversichert? Nein! Es gibt etwa eine Million
papierlose Flüchtlinge - manche nennen sie „Illegale“ -,
die in aller Regel keine Absicherung im Krankheitsfall
haben. Das haben wir schon mehrfach in Anfragen thematisiert, und die Bundesregierung hat abgewunken.
Aber auch nicht alle „legalen“ Einwohner Deutschlands haben einen Krankenversicherungsschutz. Darum
geht es bei unserem Antrag. Es gibt eine große Gruppe
von geringverdienenden Selbstständigen, die nicht krankenversichert waren und die immer noch unversichert
sind. Ihr Problem vor der Gesetzesänderung 2007 war,
dass sie sich die Krankenversicherung schlicht nicht leisten konnten. Seit April 2007 haben nun die zuletzt gesetzlich versicherten Selbständigen zwar die Pflicht, sich zu
versichern. Sie haben jedoch - das ist das Kernproblem immer noch nicht das Geld dazu.
Im Gegensatz zu geringverdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen Selbstständige mit gleich
niedrigem Einkommen relativ hohe Krankenkassenbeiträge zahlen. Mindestens 300 Euro müssen sie monatlich
der Krankenkasse überweisen. Nur unter gewissen Voraussetzungen wird dies auf 200 Euro Mindestbeitrag gesenkt. Das entspricht dem Beitrag bei einem Einkommen
von 1 890 Euro bzw. 1 260 Euro.
Viele Selbstständige - der Döner-Verkäufer, der Handwerker, die Friseurin oder die Kioskbesitzerin - haben oft
nur um die 900 Euro Gewinn. Davon sollen sie dann
200 oder 300 Euro Krankenkassenbeiträge zahlen. Das
entspricht einer Beitragsbelastung von bis zu 33 Prozent.
Zum Vergleich: Der normale Arbeitnehmer zahlt zusammen mit seinem Arbeitgeber 15,5 Prozent, alleine aus seinem Einkommen 8,2 Prozent. Ein Bundestagsabgeordneter zahlt wegen der Beitragsbemessungsgrenze nur einen
Eigenanteil von 3,9 Prozent! Dies ist eine Riesen-Ungerechtigkeit! Eine Call-Center-Telefonistin auf Selbstständigen-Basis zahlt prozentual zehn Mal mehr als ein gutverdienender Bundestagsabgeordneter.
Wir wollen eine allgemein verbindliche Untergrenze
von 840 Euro. Unterhalb dieser Summe tritt in der Regel
Hilfebedürftigkeit ein und die ARGE zahlt die Krankenversicherung. Darüberliegende Einkommen sind in ihrer
realen Höhe zur Beitragszahlung heranzuziehen. Die bisherigen fiktiven Mindesteinkommen werden abgeschafft.
Im Ergebnis zahlen die betroffenen Selbstständigen mit
840 Euro Monatseinkommen also nicht mehr 300 oder
200 Euro, sondern nur 130 Euro. Das ist völlig ausreichend, finden wir.
Das gilt für alle Selbstständigen, die gesetzlich krankenversichert sind. Bei der Gruppe der privat Versicherten gibt es ein anderes Problem, welches wir lösen wollen. Ist ein Selbstständiger, der arbeitslos wird, Mitglied
in einer privaten Krankenversicherung, dann hat er
Pech: Seit Anfang 2009 ist er gesetzlich gezwungen, in
der privaten Krankenversicherung zu bleiben. Die private Krankenversicherung darf im Basistarif von Hilfebedürftigen 284,81 Euro verlangen. Die ARGE zahlt
aber nur 129,54 Euro. Es bleibt also eine Differenz von
155,27 Euro. Wer zahlt das?
Die Bundesregierung sagt: Das muss der Hilfebedürftige selbst zahlen. Seit Monaten erinnere ich die Bundesregierung an diesen sozialpolitischen Mangel und erhalte
immer die gleiche abweisende Antwort: Man sehe hier
durchaus Handlungsbedarf und man habe eine Arbeitsgruppe gegründet, die Lösungen erarbeiten soll. Ich habe
die Hoffnung ja noch nicht aufgegeben, dass die Ministerien für Soziales und Gesundheit - beide SPD-geführt hier nicht nur heiße Luft produzieren, sondern Politik für
die Betroffenen machen.
Auf meine Fragen hat die Bundesregierung zudem geantwortet, die privaten Krankenversicherungen müssten
bei Hilfebedürftigen alle Leistungen erbringen - auch
wenn diese nicht zahlten. Das ist richtig. Jedoch bauen
die Hilfebedürftigen damit Schulden bei ihrer Versicherung auf. Nach derzeit geltendem Recht bedeutet das:
Wer zum Januar 2009 arbeitslos wurde und immer nur die
129,54 Euro weiterreicht, die die ARGE für eine Krankenversicherung zur Verfügung stellt, bekommt zwar alle
Leistungen. Er hat aber Ende 2009 bereits knapp 1 900
Euro Schulden. Falls er dann wieder Arbeit findet, wird
er erstens sofort zahlungspflichtig und zweitens kann die
Versicherung die Leistungen dann so lange auf ein Mindestmaß kürzen, bis alles beglichen ist. Das ist absurd.
Betroffene haben sich an mich gewendet. Sie wollen
mittlerweile ihre Krankenversicherung kündigen, obwohl
sie krank sind und dringend eine Versicherung brauchen.
Sie haben genug von der immer bedrückenderen Verschuldung und genug von dem Rechtsstreit mit der Versicherung. Mit jedem Tag, an dem wir hier im Bundestag
mit der Entscheidung warten, wird das Problem drängender. Daher bitte ich Sie, dieses Gesetz noch vor der Bundestagswahl zu ändern.
„Ganz Deutschland ist versichert!“ - so jubelte es aus
den Anzeigen der Bundesregierung nach der Gesund-
heitsreform. Die allgemeine Versicherungspflicht wurde
als sozialpolitische Großtat dargestellt und sollte so über
die vielen Defizite der Reform hinwegtäuschen. Doch
schon nach kürzester Zeit erweist sich das als bloßes
Illusionstheater. Tatsächlich hat die Gesundheitsreform
nichts daran geändert, dass für viele Selbstständige der
Krankenversicherungsschutz nicht finanzierbar ist. Das
betrifft insbesondere solche Selbstständigen, die als Ein-
Mann- bzw. Ein-Frau-Unternehmen tätig sind. Diese
Gruppe macht inzwischen mehr als die Hälfte aller
Selbstständigen aus. Doch das Krankenversicherungs-
recht geht nach wie vor von einem überholten Selbst-
ständigenbild aus. Demnach sind Selbstständige typi-
scherweise in der Lage, selbst für die Kosten ihrer
Gesundheitsversorgung aufzukommen, und deshalb nicht
auf den Schutz der Solidargemeinschaft angewiesen. Die-
Zu Protokoll gegebene Reden
ses Selbstständigenbild ist aber überholt. Viele der über
2,3 Millionen Solo-Selbstständigen verfügen über deut-
lich geringere Einkommen als vergleichbar qualifizierte
Angestellte. Der Basistarif in der PKV ist für sie zu teuer,
die Mindestbemessungsgrundlage in der GKV zu hoch.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken schlagen
deshalb vor, den Basistarif und die Mindestbemessungs-
grundlage weiter abzusenken. Ich halte diesen Vorschlag
für begründet. In der gesetzlichen Krankenversicherung
werden die Beiträge einkommensabhängig erhoben. Min-
destbeiträge sind innerhalb dieses Solidarsystems eigent-
lich ein Fremdkörper. Schade ist allerdings, dass der An-
trag mit keinem Wort auf die wesentliche Ursache dieses
sozialpolitischen Problems eingeht. Und das ist die Zwei-
teilung unseres Krankenversicherungssystems in GKV
und PKV und der Umstand, dass sich ausgerechnet die
wirtschaftlich leistungsstärksten Bevölkerungsgruppen
dem Solidarausgleich innerhalb der GKV entziehen kön-
nen.
Es ist dieses „Ausstiegsprivileg“, das innerhalb der
GKV eine Mindestbemessungsgrundlage für freiwillig
Versicherte erforderlich macht. Ohne eine solche Grenze
würden sich für die gesetzliche Krankenversicherung vor
allem einkommensschwache Selbstständige mit hohen
Gesundheitsrisiken entscheiden, die keine kostengünstige
Aufnahme in die PKV finden. Die meisten anderen Selbst-
ständigen würden sich auch weiterhin privat versichern.
Damit würden aber die gesetzlich Krankenversicherten
weiter belastet. Und das ist auch schon dann der Fall,
wenn man auf die Mindestbemessungsgrundlage nicht
verzichtet, sondern sie deutlich reduziert. Der von den
Kolleginnen und Kollegen der Linken angestrebte Min-
destbeitrag von 125 bis 130 Euro würde die entstehenden
Leistungsausgaben im Durchschnitt nicht decken. Damit
ist für mich die Forderung nach einer Reduzierung des
Mindestbeitrags nicht vom Tisch. Aber diese Überlegung
zeigt auch, dass eine wirklich gute Lösung nur mit einer
umfassenden Reform zu finden sein wird. Erst durch die
Weiterentwicklung unseres Krankenversicherungssys-
tems in eine Bürgerversicherung, an der alle Bevölke-
rungsgruppen beteiligt sind, werden sich die vielen Sys-
tembrüche und Ungerechtigkeiten, die heute zwischen
GKV und PKV stattfinden, beheben lassen.
Lassen Sie mich zu dem vorliegenden Antrag der Frak-
tion Die Linke eines feststellen: Die Bundesregierung hat
bedürftigen Selbstständigen bereits eine wichtige Hilfe
gegeben. Selbstständige, die nur ein geringes Einkommen
haben, zahlen 30 Prozent weniger Beiträge als im Nor-
malfall. Das haben wir mit der letzten Gesundheitsreform
realisiert. Allen Selbstständigen geringere Beitragszah-
lungen ermöglichen zu wollen, halte ich aber für zu weit
gegriffen. Nicht nur die Selbstständigen, sondern alle
Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung sind
daran interessiert, möglichst geringe Beiträge zur gesetz-
lichen Krankenversicherung zu zahlen. Ein verständli-
ches Anliegen. Beitrag und Leistung müssen jedoch
immer in einem angemessenen Verhältnis zueinanderste-
hen, die Krankenversicherung macht hier keine Aus-
nahme.
Besondere Mindestbeiträge für Selbstständige haben
schon deshalb einen Sinn, weil das Steuerrecht den
Selbstständigen, anders als Arbeitnehmern, eine gewisse
Gestaltbarkeit des Einkommens erlaubt. Diese steuer-
rechtlichen Möglichkeiten dürfen sich aber nicht in Form
ungerechtfertigt niedrigerer Beiträge auf die gesetzliche
Krankenversicherung auswirken. Zudem belasten Versi-
cherte, die keine oder nur geringe Beiträge zahlen, die
übrigen Beitragszahler der Solidargemeinschaft, da Bei-
tragsfreiheit oder geringe Beiträge immer von den übri-
gen Beitragszahlern mitfinanziert werden müssen. Das
kann nicht richtig sein.
Zum zweiten Punkt Ihres Antrags will ich betonen: Mit
der Gesundheitsreform haben auch Menschen mit gerin-
gerem Einkommen die Möglichkeit erhalten, in der PKV
versichert bleiben zu können; denn seit dem 1. Januar
2009 dürfen die Versicherungsunternehmen niemandem
mehr kündigen, der Beitragsrückstände aufweist. Sie
müssen zudem Notfallleistungen in jedem Fall bezahlen.
Und bei Hilfebedürftigen im Basistarif müssen die Versi-
cherer die Leistungen sogar in vollem Umfang gewähren.
Es kann also keine Rede davon sein, dass - wie Sie schrei-
ben - die Betroffenen keinen Krankenversicherungs-
schutz garantiert bekämen. Zu dem Problem, um das es
Ihnen konkret geht - die Beitragslücke, die nur bei Per-
sonen entstehen kann, die bereits ALG II beziehen und
privat versichert sind -, habe ich bereits im Gesundheits-
ausschuss Stellung genommen. Die Bundesregierung
prüft derzeit verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Das
Ergebnis dieser Prüfung werden Sie abwarten müssen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12734 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Sicherheit, Stabilität und Demokratie im Süd-
kaukasus fördern
- Drucksachen 16/12102, 16/12726 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Marieluise Beck ({2}), Volker
Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion Bündnis 90/DIE Grünen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Demokratie und Sicherheit im Südkaukasus
stärken
- Drucksachen 16/12110, 16/12727 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Hierzu haben folgende Kolleginnen und Kollegen
ihre Reden zu Protokoll gegeben: Manfred Grund,
Eduard Lintner, Markus Meckel,1) Dr. Bärbel Kofler,
Michael Link, Dr. Hakki Keskin und Rainder
Steenblock.
Unsere Sicht auf den Südkaukasus wird noch von dem
Eindruck des Georgienkrieges vom letzten August domi-
niert. Allerdings sind damit auch einige positive Entwick-
lungen aus dem Blickfeld geraten. Ich nenne nur einige
vorsichtigen Zeichen der Annäherung zwischen Arme-
nien und der Türkei wie auch zwischen Armenien und
Aserbaidschan. Allerdings sind nach wie vor 20 Prozent
aserbaidschanischen Territoriums besetzt, festigt Russ-
land seine Präsenz in den abtrünnigen georgischen Ge-
bieten.
Der Georgienkrieg hat die Abspaltung Abchasiens und
Südossetiens zwangsläufig nur vertieft. Wir werden noch
abzuwarten haben, wie sich die innenpolitische Aufarbei-
tung der damaligen Ereignisse in Georgien selbst voll-
zieht. Hier sind im Augenblick noch Klärungsprozesse im
Gange, deren Ausgang mit darüber entscheiden wird, wie
sich unsere Zusammenarbeit mit Georgien weiter entwi-
ckeln sollte. Ich begnüge mich an dieser Stelle mit dem
Hinweis, dass das Verhalten des georgischen Präsidenten
im Zusammenhang mit dem Krieg im August für mich un-
sere Skepsis gegenüber einem möglichen Membership
Action Plan der NATO für Georgien bestätigt hat.
Die Krisenpräventionsmechanismen haben offensicht-
lich versagt. Allerdings war der Friedenswille auf beiden
Seiten begrenzt. Russland war auf den Krieg anscheinend
vorbereitet. Letztlich hat jedoch nicht Moskau, sondern
Georgien den Konflikt bewusst eskalieren lassen. Wenn es
einmal soweit kommt, helfen natürlich auch keine Prä-
ventionsmechanismen mehr.
Welche Schlüsse ergeben sich daraus? Erstens sollten
sich alle Beteiligten von der Vorstellung verabschieden,
es ließen sich im Kaukasus heute effektive Sicherheits-
strukturen ohne Einbeziehung Russlands aufbauen.
Umso wichtiger ist gerade deshalb der Ausbau der re-
gionalen Zusammenarbeit. Das Konzept der Schwarz-
meersynergie ist in dieser Hinsicht nach wie vor wegwei-
send. Und gerade auch die „Östliche Partnerschaft“
bietet den Ländern der Region eine Chance, bestehende
Trennlinien durch kooperative Ansätze zu überwinden.
1) Lag bei Redaktionsschluss nicht vor. Die Rede wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt.
Aber auch im Verhältnis zwischen dem Westen und
Russland, zwischen der EU oder der NATO einerseits und
Russland andererseits zeigte sich, wie unterentwickelt die
Mechanismen für die Krisenbewältigung sind. Zwar
möchte ich ausdrücklich hervorheben, dass die französische Ratspräsidentschaft insgesamt sehr positiv agiert
hat, trotz aller Schwierigkeiten und Kritik. Demgegenüber war es in meinen Augen jedoch ein Fehler, den
NATO-Russland-Rat auszusetzen. Welche Gremien haben
wir denn sonst für den Krisenfall?
Deshalb sollten wir auch auf die Vorschläge Präsident
Medwedews zur Ausgestaltung einer umfassenden Sicherheitsarchitektur in Europa ernsthaft eingehen. Es
kommt nur darauf an, dass hierbei nicht einfach nur eine
Art Einspruchsrecht gegenüber EU- oder NATO-Entscheidungen gemeint ist. Russland ist jetzt gefordert,
seine bislang recht vagen Vorschläge zu konkretisieren.
Auf Präsident Medwedews Vorschläge eingehen zu
wollen, bedeutet nicht, die bestehende Sicherheitsarchitektur in Europa infrage zu stellen. Aber das seit dem
Ende des Kalten Krieges ungelöste Problem dieser
Sicherheitsarchitektur ist die mangelnde Einbindung
Russlands gewesen. Solange Russland in einer Art
Außenseiterrolle verbleibt, wird es seine auch machtpolitische Selbstbestätigung in Form innen- und außenpolitischer Sonderwege suchen.
Natürlich muss die Anerkennung von Südossetien und
Abchasien auf unsere Ablehnung stoßen. Aber Russland
hat bereits zur Kenntnis nehmen müssen, wie isoliert es in
dieser Angelegenheit geblieben ist. Auch die russische
Politik sieht sich in dieser Hinsicht ja in einem Dilemma.
Moskau weiß sehr wohl, wie angewiesen Russland auf
ein kooperatives Verhältnis gegenüber dem Westen ist.
Und die wirtschaftlichen Folgewirkungen des Krieges in
Georgien haben dies ja auch noch einmal sehr deutlich
gemacht. Russland sollte deshalb auch selbst daran interessiert sein, Zeichen des guten Willens und der Zusammenarbeit gegenüber Europa zu setzen.
In diesem Zusammenhang haben Kanzlerin Merkel
und Präsident Sarkozy im Februar in einem gemeinsamen Artikel auf das Beispiel Transnistrien verwiesen. Inwieweit Russland hier zu Konzessionen bereit oder fähig
ist, wird sich zeigen.
Grundsätzlich hat aber auch die Finanzkrise gegenseitige Abhängigkeiten beleuchtet. Und ebenso verbinden
sich mit der neuen Administration in Washington Aussichten auf eine engere Zusammenarbeit, nicht nur im
russisch-amerikanischen Verhältnis. Auch innerhalb der
EU dürften so kooperative Ansätze gestärkt werden.
Beide Seiten sollten darin eine Chance sehen.
Auch auf den Kaukasus werden diese Entwicklungen
nicht ohne Einfluss bleiben. Alle Länder werden sehr viel
stärker davon profitieren, wenn sie sich auf ihre innere
Entwicklung konzentrieren können, anstatt auf innere und
äußere Konflikte. Die EU bietet bereits im Rahmen ihrer
bestehenden Instrumente ein breites Spektrum an Transformationshilfen an. Es kommt allerdings entscheidend
darauf an, dass sie von den Regierungen in der Region
entsprechend angenommen werden; und dass Reformen
auch dann effektiv implementiert werden, wenn sie die
Macht der jeweils Herrschenden zu beschneiden drohen.
Der Kaukasus behält für Europa seine strategische
Bedeutung, nicht zuletzt im Blick auf unsere Energieversorgung. Deshalb ist es auch richtig, dass wir an der politischen Unterstützung für die Nabucco-Pipeline festhalten. Für unsere Versorgungssicherheit, aber auch für
Sicherheit und Stabilität in Europa insgesamt bleibt der
Kaukasus eine Schlüsselregion. Deshalb kann auch der
Georgien-Krieg uns nur in unserer Absicht bestärken, die
Transformations- und Friedensprozesse in der Region zu
unterstützen.
Es ist sehr begrüßenswert, dass wir trotz des engen
Zeitplans des Parlaments in den letzten Wochen vor der
Sommerpause doch noch einmal die Zeit finden, über den
Südkaukasus zu sprechen. Denn dort liegt einer der weltpolitischen Brennpunkte, und aus der jüngsten Vergangenheit wissen wir, wie schnell sich dort schwelende Konflikte in kriegerische Feuer verwandeln können. Dagegen
gilt es politische Vorkehrungen zu treffen.
An erster Stelle ist hier die Gründung der „Östlichen
Partnerschaft“ der EU zu nennen, zu der nun auch alle
drei südkaukasischen Republiken gehören. Die „Östliche
Partnerschaft“ macht deutlich, dass diese Staaten zu Europa gehören und dass sie für die Außenpolitik der EU
künftig eine wichtige Rolle spielen sollen. Die Bundeskanzlerin hat mit ihrer persönlichen Anwesenheit in Prag
ein deutliches Zeichen dafür gesetzt und so bekundet,
dass Deutschland an der Entwicklung der „Östlichen
Partnerschaft“ großes Interesse hat. Aber jetzt muss der
durch die Partnerschaft geschaffene Rahmen entschlossen und zügig mit konkreten Projekten gefüllt werden.
Im Anschluss an den Gründungsgipfel der „Östlichen
Partnerschaft“ fand noch ein Energiegipfel der EU statt,
der für die Realisierung der Nabucco-Pipeline wichtige
Fortschritte gebracht hat. So hat die Türkei ihr Junktim
zwischen der Teilnahme an dem Pipelineprojekt und den
EU-Beitrittsverhandlungen aufgehoben, und gleichzeitig
hat Aserbaidschan die Belieferung von Nabucco mit Gas
zugesagt. Damit ist dieses Projekt, das für die künftige sichere Energieversorgung Europas so wichtig ist, hoffentlich auf gutem Wege. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Projekt noch weitere positive Impulse für die gemeinsame
wirtschaftliche Entwicklung der Region und für die Bindungen zwischen dem Südkaukasus und Europa auslöst.
Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn noch möglichst viele andere Staaten aus Zentralasien und dem
Mittleren Osten als Gaszulieferer für Nabucco gewonnen
werden könnten.
Die positiven Ergebnisse von Prag werden noch dadurch unterstrichen, dass auch die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans zu Gesprächen über die Beilegung des Konflikts um die Region Berg-Karabach
zusammenkamen. Diese auf Vermittlung der USA und der
Türkei zustande gekommenen Gespräche bieten nun eine
weitere Chance, diesen seit anderthalb Jahrzehnten
schwelenden Konflikt einer Lösung näher zu bringen. Die
Gespräche müssen nun in einen Prozess münden, in dem
die Wahrung und Wiederherstellung der territorialen Integrität der beteiligten Staaten sowie die Rückführung
der Flüchtlinge oberste Priorität haben müssen. Die Bundesregierung kann dabei in ihrer Rolle als Mitglied der
Minsk-Gruppe wertvolle Hilfestellungen leisten und
sollte die neuen Impulse im armenisch-aserbaidschanischen Verhältnis entschlossen nutzen, um einen abermaligen Stillstand in den Verhandlungen zu verhindern.
Wie entscheidend es für das friedliche Miteinander
von Staaten ist, den Anspruch jedes Landes auf Respektierung seiner territorialen Integrität zu achten, zeigen
die gravierenden Folgen der Verletzung dieses zentralen
Völkerrechtsprinzips. Regelmäßig sind Tod und Leid für
die betroffene Bevölkerung, die Vertreibung und Heimatlosigkeit Tausender, wenn nicht Millionen von Menschen
die Folge, wird mit der vorhandenen Infrastruktur auch
die Basis für sicheres Auskommen und wachsenden Wohlstand zerstört. Die Chancen für eine friedliche Zukunft
werden oft für Generationen vernichtet. Wachsende Verzweiflung, unbändige Wut und Hass belasten die Beziehungen auf Jahrzehnte hinaus. Das zu verhindern ist eine
überaus wichtige humane Pflicht der Politik vor allem jener Staaten, die wie zum Beispiel Russland entscheidenden Einfluss auf das Geschehen haben.
In Georgien gibt es nach Wochen der Konfrontation
zwischen Regierung und Opposition nun Anzeichen für
eine neue Dialogbereitschaft auf beiden Seiten. Georgien
braucht nach den verheerenden Ereignissen des vergangenen Sommers wahrlich keine neuen Konflikte. Daher
ist die am Montag begonnene Runde von Gesprächen
zwischen Präsident Saakaschwili und Vertretern der Opposition ein gutes Zeichen. Die georgische Politik
braucht aber auch die Gewissheit, dass sie von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Daher war es
gut und richtig, das schon lange geplante NATO-Manöver in der vergangenen Woche trotz der Kritik aus Moskau abzuhalten. Die Äußerungen des Bundesministers
des Auswärtigen vom vergangenen Wochenende in dieser
Sache sind mir vor diesem Hintergrund nicht verständlich. Es mag vielleicht sein, dass das Manöver die Gefahr
einer Reizung Moskaus mit sich gebracht hat. Eine kurzfristige Absage hätte aber als ein Hinweis darauf
missverstanden werden können, dass die westliche Staatengemeinschaft tatsächlich den Anspruch Moskaus, das
Land als seine exklusive Interessensphäre zu behandeln,
hinnimmt.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass das in
letzter Zeit gezeigte große Interesse Europas am Geschehen im Südkaukasus und den dortigen Staaten nicht, wie
schon so oft in der Vergangenheit, wieder nachlässt. Dafür ist die Region mit ihren Menschen, ihrer Kultur, ihrem
Engagement, den Vorkommen an wichtigen Rohstoffen
und der Funktion als Brücke von Europa nach Asien und
dem Mittleren und Nahen Osten zu bedeutsam. Deutschland und Europa müssen in verlässlicher Weise engagiert
bleiben.
Die Länder des südlichen Kaukasus - Armenien, Aserbaidschan und Georgien - haben nach der Auflösung der
Zu Protokoll gegebene Reden
Sowjetunion einen dramatischen Zusammenbruch ihrer
Wirtschaft und ihrer sozialen Sicherungssysteme erfahren. Die desolate wirtschaftliche Situation verknüpfte
sich mit ethnischen und religiösen Konflikten, die ihre
Wurzeln in der Geschichte der Region Südkaukasus haben. Gleichzeitig gibt es derzeit in allen drei Ländern einen großen Bedarf am Aufbau von demokratischen und
rechtsstaatlichen Strukturen.
Das Verhältnis Georgiens zum Nachbarstaat Russland
ist durch die noch offene Regelung der Abchasien- und
Südossetien-Frage seit Jahren spannungsreich. Auch der
ungelöste Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien
und Aserbaidschan beunruhigt die Region. Seit 1994 gibt
es einen fragilen Waffenstillstand zwischen beiden Staaten, jedoch keinen Kompromiss, der den Frieden ermöglicht.
Die Krise zwischen Russland und Georgien erreichte
im vergangenen Jahr eine Zuspitzung und zeigte zugleich
die internationale Dimension des südkaukasischen Konflikts. Die Region des südlichen Kaukasus ist als Schnittstelle zwischen Europa und Asien von großer politischer
Bedeutung. Die drei Südkaukasus-Länder streben eine
engere Bindung an Europa und die westliche Staatengemeinschaft an. Davon erhoffen sie sich einen Beitrag zur
Lösung ihrer gegenwärtigen Problemsituation. Alle drei
Staaten sind seit einigen Jahren Mitglieder im Europarat,
sind Partnerstaaten der Europäischen Nachbarschaftspolitik, und Georgien strebt zudem eine NATO-Mitgliedschaft an. Frieden und Entwicklung in dieser Region sind
mithin für die internationale Gemeinschaft von großem
Interesse.
An erster Stelle aber ist eine demokratische und wirtschaftliche Entwicklung für die Völker des Südkaukasus,
für die Menschen vor Ort von besonderer Dringlichkeit.
Immer noch leben die Hälfte der Männer und Frauen in
diesen Ländern unterhalb der Armutsgrenze. Hinzu kommen die schrecklichen Erfahrungen von Krieg und Bürgerkrieg. Die gesundheitliche Situation ist durch die
grenzüberschreitende Gefahr der Tuberkulose überschattet. Eine Kultur der gewaltfreien Konfliktlösung bedarf
ebenso der Förderung wie der Schutz für Minderheiten.
Um die wirtschaftliche und politische Entwicklung des
Südkaukasus zu stärken, den Menschen vor Ort Perspektiven zu geben und eine regionale Kooperation zwischen
den Ländern des Südkaukasus zu erreichen, leistet auch
die deutsche Entwicklungspolitik ihren Beitrag. Die Eckpfeiler der Entwicklungszusammenarbeit mit der Region
des südlichen Kaukasus sind der Ausbau des demokratischen Rechtssystems sowie die Stärkung der kommunalen
Demokratie und der Zivilgesellschaft. Die Förderung der
Privatwirtschaft und des Energiesektors sowie der Aufbau von grenzüberschreitenden Nationalparks gehören
ebenso dazu wie die Bekämpfung der Tuberkulose.
Beispielsweise wird durch die deutsche Technische Zusammenarbeit in allen drei Ländern Beratung für den
Aufbau unabhängiger und funktionsfähiger Justizsysteme
bereitgestellt. Seit 1999 werden in Georgien daher fachliche Richterprüfungen durchgeführt. Bereits amtierende
Richter mussten sich ebenfalls dieser Prüfung unterziehen. Sie findet zudem unter Beteiligung externer Beobachter aus Europa und den USA statt. Gesetzesreformen
im Bereich des Zivil- und Handelsgesetzes sowie der Zivilprozessordnung tragen zu einer verbesserten Rechtssicherheit für wirtschaftliche Akteure in den drei Ländern
bei.
In Georgien unterstützt die deutsche Finanzielle Zusammenarbeit ein Projekt zur Errichtung eines funktionierenden Kataster- und Grundbuchwesens. 1991, nach
der Unabhängigkeit Georgiens, wurde aus staatlichem
Besitz faktisch über Nacht Privateigentum. Überprüfungen alter Eigentumsrechte fanden nicht statt, die neuen
Besitzer wurden wiederum nirgendwo eingetragen. Gemeinden konnten keine Grundsteuern erheben, weil sie
die Eigentümer nicht kannten, und die mangelnde Rechtssicherheit im Grundbuchwesen führte zu Konflikten in
der Gesellschaft. Der Erfolg des Projekts macht sich inzwischen bemerkbar, denn überall im Land gibt es nun
verlässliche Grundbücher. Das ist die Basis für wirtschaftliche Entwicklung und für sozialen Frieden, aber
auch die Grundlage für ein Verantwortungsbewusstsein
von Eigentümern; denn Eigentum verpflichtet.
In Aserbeidschan hemmen gravierende Strukturprobleme die weitere Entwicklung des Energiesektors außerhalb des Ölsektors. Das führt trotz des Ölreichtums
zu einer schlechten Energieversorgung des Landes.
Übertragungsnetze sind veraltet, häufig überlastet und
daher instabil. Hier setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit einem Reformprojekt der Elektrizitätsübertragungsanlagen an. Auch hier sind erste Erfolge zu verzeichnen, denn das Projekt führt zu einer
besseren Energieeffizienz und einer erhöhten Versorgung
des Landes. Dadurch wird zum einen die wirtschaftliche
Wettbewerbsfähigkeit gesteigert, zum anderen der Klimaschutz gefördert.
Zum Klimaschutz trägt zudem das „Ökoregionale Naturschutzprogramm Südlicher Kaukasus“ bei, welches
unter anderem mit deutschen Entwicklungsgeldern finanziert wird. Der südliche Kaukasus besitzt eine einzigartige biologische Vielfalt, die durch Wilderei, Überweidung und Holzeinschlag akut bedroht ist. Der mit unserer
Unterstützung gegründete Umweltstiftungsfonds finanziert die Entwicklung und Umsetzung einer regionalen
Naturschutzstrategie.
Mit solchen Beispielen könnte ich im Bereich der Förderung des Klein- und Mittelstandes fortfahren, wo durch
Mikrokredite nicht nur die Wirtschaft belebt wird, sondern auch der Korruption im Kreditwesen der Kampf angesagt wird.
Aber lassen sie mich noch ein besonderes Augenmerk
auf die Friedensarbeit und Konfliktprävention der Entwicklungszusammenarbeit werfen. Hier arbeiten die
deutschen Durchführungsorganisationen Hand in Hand
mit unseren politischen Stiftungen. Sie fördern den Erfahrungsaustausch zwischen politischen Entscheidungsträgern, Mediatoren und Multiplikatoren, Vertretern von
Menschenrechtsgruppen sowie Medien. Dabei wird Themen wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und religiöser
Toleranz sowie dem Schutz von Minderheiten besondere
Aufmerksamkeit geschenkt. Das Besondere an den konfliktpräventiven Initiativen ist ihre regionale Dimension.
Zu Protokoll gegebene Reden
Sie sind als grenzüberschreitende Kooperationen angelegt und arbeiten mit unterschiedlichen Akteuren und
Entscheidungsträgern aller drei Länder.
Die Kaukasus-Initiative der deutschen Entwicklungspolitik ergänzt in vielen Punkten die deutsche Außenpolitik sowie Europapolitik. Gerade Letztere wurde mit der
„Östlichen Partnerschaft“ in der vergangenen Woche
noch einmal vertieft. Hierbei soll unter anderem die Kooperation der Länder untereinander gefördert werden.
Die langfristige und nachhaltige Begleitung der
Transformationsprozesse in der Region des südlichen
Kaukasus wird seit 2001 mit 50 Millionen Euro jährlich
aus dem entwicklungspolitischen Bundeshaushalt finanziert. Die bereits geschilderten Maßnahmen und Investitionen unserer Entwicklungszusammenarbeit zeigen eines besonders deutlich: Entwicklung fördern heißt auch
immer Frieden sichern. Grenzüberschreitende Projekte
regen fachlichen und zwischenmenschlichen Austausch
auf vielen Ebenen der Gesellschaft an. Gegenseitiges
Verständnis für gemeinsame Probleme führt zu besserer
Verständigung.
Mit unserer Entwicklungspolitik stellen wir uns dem
Anspruch, Verständnis zu ermutigen und Frieden zu fördern.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigen erneut, dass eine Aussprache über den Südkaukasus nur unter dem Bezug zu den regionalen Akteuren Russland und
Türkei geschehen kann.
Die Reaktion Russlands auf das NATO-Manöver im
Rahmen der Partnerschaft für den Frieden und die Reaktionen Aserbaidschans auf die türkisch-armenische Annäherung zeigen, wie stark die verschiedenen Problemlagen innerhalb der Region miteinander verzahnt und
verflochten sind. Dies mag mancher von uns bedauern,
zumal Akteure in allen Staaten der Region gleichermaßen
eine Lösung der Konflikte in die Geiselhaft eigener partikularistischer und aggressiver Politiken nehmen.
Man kann über den ungünstigen Zeitpunkt des Militärmanövers in Georgien diskutieren, auch wenn dieses Manöver prinzipiell berechtigt und langfristig geplant und
angekündigt war. Die Reaktion Russlands zeigt jedoch erneut deutlich seine Haltung in der Südkaukasus-Frage.
Die Begrifflichkeiten mögen sich geändert haben, die
russische Politik des sogenannten Nahen Auslands als
seiner von ihm so definierten exklusiven Einflusszone ist
geblieben.
Die teils reflexhafte Politik Russlands richtet sich gegen jeden, der vermeintlich in diese Einflusszone vordringt. Russland hat leider noch immer nicht verinnerlicht, dass es sich bei den Nachfolgestaaten der UdSSR
um unabhängige Staaten handelt. Dieser rückwärtsgewandte Ansatz schadet jedoch letztendlich auch Russland
selbst. Im Gegensatz zur EU hat das Land leider noch
nicht begriffen, dass es sich bei internationaler Kooperation nicht um ein Nullsummenspiel handelt.
Die zwanghafte Einteilung in Freunde und Feinde
schadet hingegen allen Seiten und behindert Entwicklung, Frieden und Wohlstand. Diese Lektion haben wir in
Europa bitter lernen müssen, und deshalb besteht für die
FDP deutsche Außenpolitik immer zuerst aus einer
Selbstverpflichtung zur Kooperation. Eine solche Selbstverpflichtung zur Kooperation erwarten wir auch von
Russland - und natürlich von den südkaukasischen Staaten.
Verpflichtung auf Kooperation ist auch ein integraler
Teil der Botschaft, die in der „Östlichen Partnerschaft“
steckt, die am 7. Mai 2009 in Prag offiziell initiiert wurde.
Das geringe Interesse mancher Mitgliedstaaten an der
Inauguration war allerdings, das muss man leider deutlich sagen, ein Armutszeugnis. Leider ist der Mangel an
Vertrauen und gegenseitiger Achtung anscheinend ein
prinzipielles Problem im Südkaukasus. Dies zeigt sich innerhalb der Länder im Umgang mit der politischen Opposition. So sind die beständige Diffamierung der Protestbewegung in Georgien und eine fast zwanghafte
verschwörungstheoretische Aufladung der Probleme in
Georgien nicht hilfreich.
Die Regierung Saakaschwili muss sich endlich der
Kritik an der eigenen verfehlten Politik der vergangenen
Monate stellen und sich konstruktiv mit der Oppositionsbewegung auseinandersetzen. Eine substanzlose Diffamierungsrhetorik ist der falsche Weg. Aber auch die georgische Opposition muss mehr bieten als den Druck der
Straße.
Eine langfristige Stabilisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien macht die Einbindung
Aserbaidschans in den Annäherungsprozess notwendig.
Die Lösung dieser Konflikte darf kein Land auf dem Altar
rein nationaler Interessen opfern. Die berechtigten Ansprüche Aserbaidschans auf eine Rückgewinnung der von
Armenien besetzten Gebiete dürfen aber nicht dazu dienen, die türkisch-armenische Annäherung zu torpedieren.
Im Gegenteil sollte Aserbaidschan, statt diesen Prozess
mit allen Mitteln zu bekämpfen, ihn verstärkt nutzen.
Bedauernswert ist aber auch die Reaktion der Opposition in Armenien. Trotz der Unterdrückung durch die aktuelle armenische Regierung sollte die Opposition ihr
Heil nicht in strammen nationalen Tönen suchen. Auch
wenn die Bearbeitung der Konflikte im Südkaukasus - von
einer Lösung kann man leider wohl erst in ferner Zukunft
sprechen - die Einbeziehung aller Konfliktparteien verlangt, darf dies nicht dazu führen, dass die armenischtürkische Annäherung in die Geiselhaft ultra-nationalistischer Propaganda auf beiden Seiten genommen wird.
Bezüglich der Konflikte im Südkaukasus hat sich die
internationale Gemeinschaft klar zum Prinzip der territorialen Integrität bekannt. Die internationale Gemeinschaft ist aber zuallererst einer friedlichen Lösung verpflichtet, die langfristig nur unter Berücksichtigung der
Bedürfnisse aller Parteien erreicht werden kann.
Der russisch-georgische Krieg hat gezeigt, wie Gewalterfahrungen das Vertrauen, das für eine erfolgreiche und
friedliche Konfliktbearbeitung unabdingbar ist, nachhalZu Protokoll gegebene Reden
Michael Link ({0})
tig zerstören. Dieser Vertrauensverlust betrifft beileibe
nicht nur Georgien, sondern bedroht die gesamte Region.
Kaukasusexperten betonen, wie sehr der Augustkrieg
den Begriff der Frozen Conflicts infrage gestellt hat. Dies
stellt das „Arrangement“, mit dem man sich bisher begnügt hat, infrage. In Zukunft bedeutet dies, dass die Konfliktbearbeitung von der EU und auch von Deutschland
aktiver angegangen werden muss, und zwar auf allen
Ebenen, insbesondere aber auf der Ebene der zivilgesellschaftlichen Akteure.
Dialog ist das Gebot der Stunde! Neben vielen internationalen Nichtregierungsorganisationen leisten insbesondere die politischen Stiftungen hier gute Arbeit, die
gestärkt werden muss.
Die deutsche Politik ist gefordert, die im Rahmen der
„Östlichen Partnerschaft“ geplante Annäherung des
Südkaukasus an Europa aktiv zu begleiten. Viele betonen,
dass dies nicht ohne gleichzeitige Einbindung Russlands
geschehen kann - das stimmt -, aber nicht durch ein Mitspracherecht oder Vetorecht Russlands bei der „Östlichen Partnerschaft“ , sondern durch die zügige und vordringliche Verabschiedung eines neuen Partnerschaftsund Kooperationsabkommens mit Russland. Nur ein solches neues PKA wird der besonderen Bedeutung Russlands gerecht.
Abschließend hebe ich für die FDP hervor, dass wir
dem gelungenen Antrag der Grünen zustimmen und uns
beim Antrag der Großen Koalition enthalten werden, da
er leider auf die kritische innenpolitische Situation und
die Unterdrückung der demokratischen Opposition nicht
eingeht.
Heute debattieren wir abschließend über die Anträge
der Regierungskoalition und der Grünen zum Thema
Südkaukasus. Lassen Sie mich zunächst auf eine aktuelle
Entwicklung eingehen.
Erst vor wenigen Tagen wurde zwischen der EU und
einigen Anrainern, darunter die Südkaukasus-Staaten,
die sogenannte Östliche Partnerschaft ins Leben gerufen.
Die Linke ist für eine engere Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarn der EU. Entscheidend ist, ob es sich um
eine echte Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe handelt
und dass Russland nicht ausgegrenzt wird. Die Linke hat
hierzu bereits Anfang 2008 in ihrem eigenen Südkaukasus-Antrag detaillierte Vorschläge unterbreitet. Die
Stichwörter lauten: Armutsbekämpfung, sozialer Ausgleich, Demokratieförderung, Stärkung der Binnenwirtschaften, fairer Handel und Öffnung des EU-Binnenmarktes für Exportprodukte aus den SüdkaukasusStaaten über Erdöl und Erdgas hinaus.
Ich finde es sehr bedenklich, wenn die Partnerländer
im Südkaukasus, wie insbesondere im Koalitionsantrag
vorgesehen, auf die Rolle einer Nachschubbasis für den
fossilen Energiehunger Europas reduziert werden. Diese
Politik ist kurzsichtig und wird den Ansprüchen einer fairen und gleichberechtigten Partnerschaft nicht gerecht.
Da unser eigener Antrag deutlich über die Anträge der
Koalition und der Grünen hinausgeht und weitaus umfassendere und präzisere Antworten formuliert, kann die
Linke beiden Anträgen nicht zustimmen.
Völlig vage bleiben die Antragsteller von der Koalition beispielsweise bei den Themen Sicherheitspolitik und
Lösung der ethno-territorialen Konflikte. Wir sollten uns
daran erinnern, dass Georgien und Russland erst im August letzten Jahres wegen Südossetien einen Krieg gegeneinander geführt haben, der tiefe Wunden hinterlassen
hat. Dies betrifft vor allem die bis zu 2 000 Getöteten und
die schwierige Lage der Kriegsflüchtlinge und Binnenvertriebenen in Georgien. Ihr Recht auf Rückkehr in
die früheren Wohnorte muss in vollem Umfang gewährleistet werden. Zahlreiche Binnenvertriebene, circa
100 000 Menschen, konnten bereits in ihre Wohnorte in
den ehemaligen sogenannten Pufferzonen zurückkehren.
Der Wiederaufbau von Wohnungen und Infrastruktur in
Georgien kommt zügig voran. Zahlreiche ehrenamtliche
Helferinnen und Helfer aus der örtlichen Bevölkerung sowie humanitäre und technische Hilfsorganisationen aus
den EU-Mitgliedstaaten unterstützen aktiv den Aufbauprozess. Auch die Verdienste russischer Aufbauhelfer in
Süd- und Nordossetien gilt es zu würdigen. Ihnen allen
gebührt an dieser Stelle Dank für ihren unermüdlichen
Einsatz.
In der Praxis dürfen sich die Rückkehrmöglichkeiten
für die Flüchtlinge jedoch nicht nur auf kerngeorgische
Gebiete beschränken, sondern müssen auch für Südossetien und Abchasien gelten. Dies gilt für die Flüchtlinge des letzten Krieges, aber auch für diejenigen aus
früheren Konflikten. Ebenso benötigen zivile Hilfsorganisationen dringend einen ungehinderten Zugang zu den
Konfliktgebieten.
Eine neue Beobachtermission der OSZE für ganz
Georgien inklusive Südossetien ist dringend notwendig.
Es ist auch in russischem Interesse, die Rolle der OSZE zu
stärken. Schließlich hat sich Russland als OSZE-Mitglied
jahrelang aktiv engagiert und wertvolle Arbeit geleistet.
Die OSZE ist nicht die NATO. Die OSZE hat sich in der
Vergangenheit sehr bewährt und könnte zur Grundlage
für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa werden,
die Russland nicht ausgrenzt, sondern integriert. Die
militärische Einkreisungspolitik, die die NATO gegenüber Russland immer noch praktiziert, entspricht der
Geisteshaltung des Kalten Krieges. Sie verschärft die
Konfrontation und muss deshalb umgehend beendet werden. Vor diesem Hintergrund ist es politisch unverantwortlich, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag
ausgerechnet die NATO-Beitrittsoption für Georgien ausdrücklich bekräftigen. Auch im Antrag der Grünen wird
die Aufnahme Georgiens in die NATO nur für den Moment ausgeschlossen, jedoch nicht für die Zukunft. Einzig
die Linke lehnt die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder ab.
Frieden und Sicherheit in Europa bedürfen der Partnerschaft mit Russland und nicht seiner Ausgrenzung.
Dies würde ebenso die Lösung der Konflikte im Südkaukasus erleichtern. Es ist sehr zu begrüßen, dass sich
in jüngster Zeit die Anzeichen für Fortschritte bei der
Lösung des Berg-Karabach-Konflikts mehren. BergKarabach bildet den potenziell gefährlichsten Krisenherd
im Südkaukasus. Als Folge der seit 1994 anhaltenden Besetzung von circa 20 Prozent des Staatsterritoriums der
Zu Protokoll gegebene Reden
Republik Aserbaidschan durch die Nachbarrepublik Armenien wird die Rückkehr von über 1 Million Binnenflüchtlingen blockiert. Armenien leidet umgekehrt unter
den Auswirkungen der Wirtschaftsblockade und den geschlossenen Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei,
die zur Massenauswanderung insbesondere von gut ausgebildeten Fachkräften beigetragen haben.
Die Linke unterstützt den Friedensplan, den die OSZE
den Konfliktparteien bereits 1997 unterbreitet hat. Demnach gilt es, die armenisch besetzten Gebiete um BergKarabach schnellstmöglich zu räumen, damit der Großteil der Flüchtlinge zurückkehren kann. Erst im Anschluss
daran sollte über den endgültigen Status der abtrünnigen
Provinz entschieden werden. Die Linke befürwortet hierbei eine Autonomielösung innerhalb der territorialen Integrität Aserbaidschans, die den legitimen, völkerrechtlichen Interessen aller Konfliktbeteiligten nach unserer
Auffassung am besten entspricht.
Die EU und die deutsche Bundesregierung sind aufgerufen, ihre diplomatischen Anstrengungen für eine friedliche Konfliktlösung im Südkaukasus zu erhöhen, um
möglichen erneuten kriegerischen Konfliktzuspitzungen
vorzubeugen. Dies gilt für Abchasien und Südossetien
ebenso wie für Berg-Karabach.
Die alltägliche Vorstellung der Region des Südkaukasus wird bis heute geprägt vom Krieg in Georgien im August 2008 und seinen Folgen. Wenn man sich die Situation an den Grenzen von Südossetien und Abchasien
anschaut, dann stellt man fest, dass sie dramatischer ist,
als es häufig in Westeuropa wahrgenommen wird. Vor
zwei Wochen begann Russland, dauerhaft Truppen an
diesen Grenzen zu Georgien zu stationieren. Zu Recht kritisierte die Europäische Union dies als eine weitere Verletzung der Waffenstillstandsvereinbarung.
Wir brauchen eine Deeskalation, weil sich an den
Grenzen Georgiens ein neuer Konflikt aufbaut. Wir müssen sehr viel sensibler als in der Vergangenheit darauf
achten, dass dieser Konflikt nicht wieder heißläuft. Das
heißt unter anderem auch, dass wir ein großes Interesse
daran haben müssen, dass dort internationale Beobachtungsstrukturen aufgebaut werden, die mehr Eingriffsmöglichkeiten bieten, als es bei unserer EU-Monitoringmission bisher der Fall ist. Wir brauchen dort eine sehr
viel bessere Präsenz. Noch bis Mitte Juni 2009 läuft derzeit das Mandat für die unbewaffnete UN-BeobachterMission UNOMIG in Abchasien. Sie sollte verlängert und
auf Südossetien ausgedehnt werden. Denn die UN und ihr
Sicherheitsrat sollten dafür zuständig sein. Vermittlung
erfordert Neutralität und Ergebnisoffenheit auf den
Grundlagen des Völkerrechts.
Ungeachtet der notwendigen Beobachtung des Konfliktgebietes und der diplomatischen Suche nach einer
dauerhaften Lösung steht noch immer die Klärung der
Vorgänge im August 2008 aus. Mit Aufmerksamkeit erwarten wir die demnächst anstehenden Ergebnisse der
auch von uns geforderten unabhängigen Untersuchungskommission unter Leitung der Schweizer Diplomatin
Heidi Tagliavini.
Unsere, die Beziehungen der Europäischen Union zu
den Ländern des Kaukasus sind eng und intensiv. Die
„Östliche Partnerschaft“ wird sie noch vertiefen, und die
Erwartungen vieler dieser Länder gerade an Deutschland
sind hoch. Deshalb begrüßen wir es, dass die Bundeskanzlerin im Gegensatz zu vielen anderen westeuropäischen
Regierungschefs an diesem Treffen teilgenommen hat.
Wir haben allerdings kein Verständnis dafür, dass diese
Länder in der Abschlusserklärung nicht, wie ursprünglich im Entwurf vom Ratsvorsitz vorgesehen, als europäische Länder bezeichnet werden. Falls dies mit aktiver
deutscher Beteiligung bzw. aufgrund deutscher Intervention verändert wurde, war es ein schwerer Fehler, den wir
scharf verurteilen. Diese Länder sind unsere europäischen Partner, und die Beziehungen beruhen auf den Werten der gemeinsamen Mitgliedschaft im Europarat. Und
die Einhaltung dieser Werte ist die Grundlage für Frieden
und Stabilität in dieser Region.
Territoriale Integrität ist eine zentrale Säule des Völkerrechts. Das gilt für die Lösung des Konflikts zwischen
Russland und Georgien genauso wie für den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien. Aber wir werden
diese Konflikte nur lösen können, wenn die Selbstbestimmungsrechte von Minderheiten sichergestellt werden und
wenn die Bereitschaft zu sehr weitgehenden Autonomieregelungen ehrliches Anliegen aller Konfliktpartner ist.
Solange es Hunderttausende Flüchtlinge gibt, vor allem
in Georgien und Aserbaidschan, bleiben die Wunden offen. Für sie muss mehr investiert werden, und vor allem
muss die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht werden. Die
jüngsten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der
Türkei und Armenien geben Anlass zu der Hoffnung, dass
dies auch positive Wirkung auf den direkten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, aber auch für die
Region als Ganzes, entfalten kann.
Eine Schlüsselrolle zur Lösung all dieser Konflikte
wird Russland spielen. Deshalb ist die Integration Russlands in internationale Konfliktlösungsstrategien notwendig. Die EU muss dabei in allen Verhandlungen mit
Russland aber deutlich machen: Es geht nicht um die Aufteilung in Einflusszonen. Es geht um die eigenständige,
freie und demokratische Entscheidung jedes dieser Länder über seine eigene Zukunft. Dabei ist ökonomischer
Druck genauso fehl am Platz wie politische oder militärische Provokation.
Deshalb ist es richtig, die Art der russischen Militärpräsenz in Südossetien zu kritisieren, aber deshalb war
es zumindest unklug, jetzt ein Manöver der NATO in Georgien abzuhalten. Das NATO-Argument langer Planung
und Bekanntheit zieht nicht, denn inzwischen hat immerhin ein Krieg stattgefunden. Die Manöver geben zum
jetzigen Zeitpunkt, noch nach einem angeblichen oder
vermeintlichen „Militärputsch“ in Georgien, unnötige
Gelegenheit zur politischen Instrumentalisierung.
Alle Länder des Südkaukasus verdienen unsere Unterstützung. Sie ist ebenso notwendig wie die eigenen Anstrengungen der Menschen in den drei Ländern, damit die
Wertegemeinschaft des Europarates und die Werte der
Europäischen Union dort auch erfolgreich und dauerhaft
wirksam werden können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Tagesordnungspunkt 32 a. Wir kommen zunächst zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Sicherheit, Stabilität und Demokratie im Südkaukasus fördern“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12726, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12102 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen gestimmt haben die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP hat
sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 32 b. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Demokratie und
Sicherheit im Südkaukasus stärken“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12727, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/12110 abzulehnen. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke angenommen. Dagegen gestimmt haben die Fraktionen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Krankenhausinfektionen vermeiden - Multi-
resistente Problemkeime wirksam bekämpfen
- Drucksachen 16/11660, 16/12925 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Konrad Schily
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Hans Georg Faust,
Dr. Carola Reimann, Dr. Konrad Schily, Dr. Harald
Terpe und der Parlamentarische Staatssekretär Rolf
Schwanitz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Frank Spieth für die Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema er-
schließt sich nicht sofort, wenn man den Begriff „multi-
resistente Keime“ hört. Aber stellen Sie sich folgende
1) Anlage 8
Situation vor: Eine rüstige Rentnerin stürzt und bricht
sich den Oberschenkelhals. Im Krankenhaus wird dieser
Bruch genagelt, und alles scheint in Ordnung zu sein.
Doch dann kommt es zu einer Infektion, und innerhalb
von zwei Wochen verstirbt die Frau.
2006 starben in Deutschland 40 000 Patienten an
Krankenhausinfektionen, so das Bundesministerium für
Gesundheit in seiner Deutschen Antibiotikaresistenzstrategie. Krankenhausinfektionen sind die mit Abstand
häufigste Form ernsthafter Infektionskrankheiten in
Deutschland. In Deutschland werden jährlich rund
17 Millionen Patienten behandelt, von denen sich rund
500 000 bis 800 000 mit Krankenhauskeimen infizieren.
Auch dies ist dem Gesundheitsbericht der Bundesregierung zu entnehmen.
Die Hygienefachleute, die wir vor kurzem in einer
Anhörung zurate gezogen haben, haben klipp und klar
gesagt: Es ist an der Zeit, dass endlich gehandelt und
nicht mehr weiter nur appelliert wird.
({0})
Ich sage Ihnen: Auch der gesunde Menschenverstand
verlangt, dass endlich gehandelt wird. Seit 14 Jahren
wird in Deutschland Jahr für Jahr in allen Berichten festgestellt, dass es einen ständigen Anstieg der Verkeimung
gibt. Die Antwort darauf sind in der Regel Appelle. Es
werden, wie von den Fachleuten in der Anhörung gesagt
wurde, „Papiertiger“ produziert. Seit Mitte der 70erJahre sind die Bundesländer aufgefordert, Hygieneverordnungen zu erlassen. Ganze vier Bundesländer sind
dieser Aufforderung nachgekommen. Zwölf Bundesländer haben keine Hygieneverordnung. Ich finde, das allein ist schon ein Skandal.
({1})
Die vom Robert Koch-Institut vorgeschlagene Richtlinie zur Bekämpfung von Infektionen ist aus unserer Sicht
sehr brauchbar. Sie ist aber ohne Fachpersonal - auch das
wurde in der Anhörung von allen Fachleuten deutlich
formuliert - nicht umsetzbar.
Die Linke hat mit diesem Antrag den Versuch unternommen, Krankenhausinfektionen vermeidbar zu machen und multiresistente Problemkeime zu bekämpfen.
Leider hat unser Antrag im Ausschuss keine Mehrheit
gefunden. Die Koalition hat ihn abgelehnt, und die beiden anderen Oppositionsfraktionen haben sich enthalten.
Wir bedauern dies sehr. Jeder Mensch, der in Deutschland in einem Krankenhaus wegen einer vermeidbaren
Infektion verstirbt, ist ohne Wenn und Aber ein Toter zu
viel.
({2})
Angesichts der Kürze meiner Redezeit habe ich nicht
die Möglichkeit, alle unsere Forderungen darzustellen.
Wir haben uns auf wesentliche Punkte konzentriert. Drei
davon will ich nennen:
Erstens. Wir brauchen endlich wirkungsvolle, verbindliche Regelungen, um mit geeigneten Maßnahmen
Infektionen nicht nur zu einem späteren Zeitpunkt erfassen und heilen zu können, sondern sie sofort, schon in
der Entstehung, durch Präventionsmaßnahmen bekämpfen zu können.
({3})
Zweitens. Wir fordern den Einsatz von Ärztinnen und
Ärzten für Hygiene und Hygienefachkräften in Krankenhäusern, und zwar in allen Bundesländern. Berlin, Sachsen und Bremen sind hier vorbildlich.
({4})
Drittens. Wir fordern die konsequente Umsetzung der
bestehenden Richtlinie des Robert Koch-Instituts zur
Prävention von MRSA, also multiresistenten Keimen.
Meine Damen und Herren, es ist in der Tat Zeit, zu
handeln. Wir haben keine Zeit für weitere Verzögerungen. Ich bedauere sehr, dass wir mit diesem Antrag heute
nicht durchdringen. Ich setze aber darauf, dass wir in
weiteren parlamentarischen Beratungen möglicherweise
gemeinsam im Interesse der Menschen, der Patienten in
diesem Land zu vernünftigen Lösungen im Sinne unserer Vorschläge kommen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Krankenhausinfektionen vermeiden - Multiresistente Problemkeime
wirksam bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12925, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11660
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen angenommen. Die Fraktion Die Linke hat
dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben sich enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung
einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten
Juden Europas“
- Drucksache 16/12230 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0})
- Drucksache 16/12976 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Hans-Joachim Otto ({1})
Katrin Göring-Eckardt
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika Grütters,
Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Hans-Joachim Otto,
Dr. Lukrezia Jochimsen und Volker Beck zu Protokoll
gegeben.
Die Absicht zur Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas und die angemessene Würdigung anderer Opfergruppen erfordert einen breiten politischen Konsens. Das gilt hier mehr als bei irgendeiner
anderen politischen Auseinandersetzung. Darauf hat
schon damals unser heutiger Bundestagspräsident,
Dr. Norbert Lammert, in der Debatte um die Gründung
der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ hingewiesen. Ich freue mich, dass wir zu diesem
überfraktionellen Konsens bei der Entscheidung über die
Aktualisierung und Ergänzung des Stiftungsgesetzes auch
jetzt im Kulturausschuss kommen konnten.
Dennoch kam dieses Ergebnis nicht einhellig und ohne
Bedenken zustande. Die Fraktionen der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen haben ihre Einwände trotz
Zustimmung zur Gesetzesänderung in jeweils eigenen
Änderungsanträgen niedergelegt.
Das Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal
für die ermordeten Juden Europas“ diente dazu, den Bundestagsbeschluss zur Errichtung dieses Denkmals umzusetzen und es später auch zu unterhalten. Der von Beginn
an im Stiftungszweck formulierte gesetzliche Auftrag, den
Entwurf des Stelenfeldes von Peter Eisenman und den ergänzenden Ort der Information zu verwirklichen, wurde
umgesetzt. Als neue Aufgabe der Stiftung hat inzwischen
die Betreuung der Denkmäler für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen und für die ermordeten
Sinti und Roma konkrete Gestalt angenommen. Im Mai
vergangenen Jahres ist das Denkmal für die homosexuellen Opfer der Naziherrschaft der Öffentlichkeit übergeben worden, und im Laufe dieses Jahres kommt das
Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma hinzu.
Diesen neuen Aufgaben wollen wir mit der Änderung
des Stiftungsgesetzes Rechnung tragen. Die Organisationsstruktur der Stiftung soll dazu vergleichbaren Einrichtungen angepasst werden. Die Stiftung erhält nun den
Auftrag, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas
mit dem Ort der Information zu unterhalten und zu betreiben. Darüber hinaus obliegt ihr im Rahmen der Erinnerung an alle Opfergruppen des Nationalsozialismus die
Betreuung der beiden neuen Denkmäler für die Sinti und
Roma sowie für die ermordeten Homosexuellen.
Die FDP sowie die Grünen wollen in diesem Zusammenhang auch den Namen der Stiftung ändern. Aus mehreren Gründen sind wir da skeptisch. Schon in der ursprünglichen Gesetzesfassung, in der man sich auf den
heutigen Stiftungsnamen geeinigt hatte, wurde im Stiftungsgesetz die Aufgabe verankert, an der angemessenen
Würdigung anderer Opfergruppen mitzuwirken.
Die Stiftungsgründung verdankt sich zudem einer privaten Initiative, die ausschließlich den jüdischen Opfern
des nationalsozialistischen Terrors gewidmet war. Der
Förderkreis „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ hat eine politisch-moralische Aufgabe der Nation
zum Gegenstand einer gesellschaftlichen Initiative gemacht, die der Staat sich dann selbst zur Aufgabe machte.
Erst mit dem Eintreten des Staates für dieses Erinnerungsprojekt ist neben der Debatte um ein eigenständiges
Mahnmal zum Gedenken an den Holocaust auch die Diskussion um den Namen entbrannt. Diese private Initiative
und ihre Motive verdienen unseres Erachtens Dank und
Respekt, der sich eben auch in dem Namen der operativen
Stiftung ausdrückt. Entscheidend aber ist auch hier der
Verweis auf die Singularität der Verbrechen der Nazis gegen die Juden.
Die Beibehaltung des Namens hat daher nicht nur ihre
Berechtigung, es spricht auch nichts dagegen. Faktisch
betreut die Stiftung bereits die beiden neuen Denkmale, so
wie es seit ihrer Gründung geplant war. Angesichts der
Stiftungsarbeit in den letzten vier Jahren, deren erfolgreiches und international anerkanntes Wirken ich schon in
meiner letzten Rede ausgeführt habe, sehe ich in ihrer
Verantwortung für die Erinnerungsarbeit der neuen
Denkmäler einen echten Gewinn.
Für das Denkmal der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen wurde die Feier zur Übergabe an die
Öffentlichkeit am 27. Mai 2008 von der Stiftung organisiert. Technisch unterstützt sie die dort im Rahmen des
Berliner Christopher Street Days und des Gedenktages
am 27. Januar stattfindenden Veranstaltungen. Darüber
hinaus zeichnet die Stiftung für Begleitmedien verantwortlich und bemüht sich, das Denkmal in Zusammenarbeit mit dem „Schwulen Museum Berlin“ und dem
Lesben- und Schwulenverband Deutschland in die Bildungsarbeit der Stiftung einzubeziehen.
Für das Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma wurde der offizielle Baubeginn am
19. Dezember 2008 von der Stiftung organisiert. Ein entsprechendes Faltblatt zum Denkmal erstellt sie in Absprache mit dem BKM und dem Künstler Dani Karavan
bis zur Eröffnung.
Trotz der Betreuung der Aktivitäten dieser Denkmale
durch die Stiftung werden jedoch alle drei Mahnmale in
der öffentlichen Berichterstattung völlig eigenständig
wahrgenommen.
Bei allem Verständnis auch für das Anliegen, den Namen der Stiftung - nicht des Denkmals! - an die nunmehr
faktisch erweiterte Aufgabe anzupassen, spricht meines
Erachtens doch nach wie vor vor allem eines dagegen:
Jede neue Bezeichnung impliziert neue Ausgrenzungen
und Konflikte, oder sie wird so allgemein, dass ihre Pauschalität verharmlost. Ein Denkmal für alle „Opfer von
Krieg und Gewaltherrschaft“ gibt es in der Neuen Wache.
Es gibt seit 1953 in Berlin-Charlottenburg sogar ein weiteres, am Steinplatz, mit der Inschrift „Den Opfern des
Nationalsozialismus“.
Die Grünen haben frühzeitig eine Namensänderung
gewollt, vor der ersten Lesung dieses Gesetzes. Aber sie
haben keinen Vorschlag zur Formulierung gemacht. Die
FDP kam mit ihrer Formulierung so spät, dass bereits
Gespräche mit vielen Betroffenen stattgefunden hatten.
Abgesehen davon gibt es nach wie vor eine Mehrheit für
die Beibehaltung des Namens aus den oben genannten
Gründen. Dieser Auffassung hat sich in der vergangenen
Woche dann auch das Kuratorium der Stiftung „Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“ einstimmig angeschlossen.
Der zweite Diskussionspunkt war die Besetzung der
Stiftungsgremien nach der Erweiterung der Aufgaben der
Stiftung. Gegenwärtig umfasst das Kuratorium insgesamt
23 Mitglieder. Dem wissenschaftlichen Beirat gehören
zurzeit 13 Sachverständige an. Die Grünen fordern in ihrem Änderungsantrag die zusätzliche Vertretung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma sowie des Lesbenund Schwulenverbandes im Stiftungskuratorium. Die
FDP möchte darüber hinaus die „Sinti Allianz Deutschland“ und die Initiative „Der homosexuellen NS-Opfer
gedenken“ in diesem Gremium vertreten wissen. Immerhin kommt sie in der Begründung ihres Änderungsantrages zu dem Schluss, dass die bisherige Mitgliederzahl
nicht überschritten werden sollte, da sonst die Arbeitsfähigkeit des Gremiums geschwächt sei. Daher soll die
Zahl der Kuratoriumsplätze der Mitglieder des Bundestages, der Bundesregierung und des Landes Berlin reduziert werden.
Darin, dass die Mitgliederzahl des Kuratoriums nicht
weiter erhöht werden darf, um die Arbeitsfähigkeit zu
gewährleisten, stimmen wir völlig überein. Anliegen der
Gesetzesänderung ist es, die Stiftungsstruktur den Erfordernissen eines Dauerbetriebes anzupassen. Vergleichbare Einrichtungen sollten dazu als Maßstab dienen. Auf Bundesebene wurde der vor allem in der neu
gegründeten selbstständigen Stiftung „Deutsches Historisches Museum“, DHM, und in der unselbstständigen
Stiftung „Flucht, Vertreibungen, Versöhnung“ gesehen.
Das Kuratorium der DHM-Stiftung besteht laut Gesetz
aus 15 Mitgliedern, der Stiftungsrat „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, der sich gestern konstituiert hat, besteht aus 13 Mitgliedern. Dem wissenschaftlichen Beirat
des DHM gehören mindestens 12 und höchstens 25 Sachverständige an. In den wissenschaftlichen Beraterkreis
der unselbstständigen Stiftung sollen bis zu neun Mitglieder berufen werden.
Das Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden“ ist im Vergleich dazu personell bereits
großzügig besetzt. Die von der FDP vorgeschlagene Reduzierung der Sitze von Parlament sowie Bundes- und
Landesregierung lehnen wir ab. Die Mitgliedschaft von
derzeit sieben gewählten Volksvertretern im Kuratorium,
die auch die Mehrheitsverhältnisse des Parlamentes
widerspiegelt, sowie der Regierungsvertreter entspricht
der besonderen Bedeutung, die dem systematischen Völkermord an den europäischen Juden in der deutschen Erinnerungskultur zukommt. Erinnern und Gedenken sind
weder Privatsache noch rein bürgerschaftlich zu bewältigen. Sie sind immer eine öffentliche Angelegenheit, und
das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Die Politik darf sich hier nicht allein auf die Verantwortung für
die Rahmenbedingungen zurückziehen, sondern muss die
Zu Protokoll gegebene Reden
Form des Gedenkens mitprägen. Die Art und Weise, wie
eine Nation, wie ein Staat dies öffentlich tut, gibt Auskunft
über sein Selbstverständnis und prägt seine Identität.
So, wie es das Stiftungsgesetz vorsieht - die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre
Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen -, ist es
durchaus denkbar, dass ihr auch künftig noch weitere
Aufgaben in diesem Rahmen zufallen. Wollen Sie dann
eine erneute Auseinandersetzung über die Verteilung der
Kuratoriumssitze? Wir wollen das nicht.
Es ist richtig, Vertreter der Opfergruppen der neuen
Denkmale in den Stiftungsbeirat zu integrieren. Über
diese Fragen ist mit den Vertretern aller jetzt zur Debatte
stehenden Opfergruppen gesprochen worden.
Die Zustimmung aller Fraktionen im Ausschuss für
Kultur und Medien trotz eigener Änderungsanträge bestätigt den Entwurf zur Änderung des Stiftungsgesetzes.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen, dass sie ihre Einwände und Bedenken
zugunsten der Signalwirkung zurückstellen konnten, die
von einem überfraktionellen Beschluss für die Erinnerungspolitik der Bundesrepublik Deutschland ausgeht.
Das ist eine wichtige Botschaft für alle Betroffenen, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch für unsere
europäischen Nachbarn.
Die Änderung des Stiftungsgesetzes ist notwendig, weil
- mit großem Erfolg - der bisherige Stiftungszweck umgesetzt ist, nämlich die Errichtung des Mahnmals für die
ermordeten Juden Europas. Das Denkmal erfährt große
nationale und internationale Anerkennung; ein Besuch
steht regelmäßig bei Staatsgästen auf dem Programm.
Das Stiftungsgesetz wird jetzt in einigen Punkten
aktualisiert. Erstens wird der bisherige Stiftungszweck
- die Errichtung des Denkmals - geändert. Dafür heißt es
nun: „Zweck der Stiftung ist die Erinnerung an den
nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas. Die Stiftung trägt dazu bei, die Erinnerung an alle
Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen.“
Zweitens wird der Stiftungszweck erweitert um die Betreuung der Denkmäler für die im Nationalsozialismus
ermordeten Sinti und Roma und die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Im Übrigen war auch
bisher schon im Stiftungsgesetz verankert, dass die Stiftung dazu beiträgt, „die Erinnerung an alle Opfer des
Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter
Weise sicherzustellen.“
Drittens wird der dreiköpfige Vorstand abgeschafft,
der als Gremium neben dem weiter bestehenden Kuratorium nicht mehr erforderlich ist. Ziel bei dieser Änderung
ist die Angleichung der Stiftungsstruktur an vergleichbare Einrichtungen.
Deshalb werden viertens die Aufgaben des bisherigen
Vorstands und der Geschäftsführung in dem neuen Organ
„Direktorin oder Direktor“ zusammengefasst.
Da ein Ziel der Änderung des Stiftungsgesetzes die Anpassung der Struktur an vergleichbare Einrichtungen ist,
haben wir im Kulturausschuss zwei Änderungen eingebracht. Zum einen haben wir festgeschrieben, dass der
bisherige Geschäftsführer auch der künftige Direktor
wird, um die Kontinuität der hervorragenden Arbeit der
Stiftung zu gewährleisten. Zum Zweiten wird der Direktor
für fünf Jahre bestellt und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, für vier Jahre.
Eine Änderung des Stiftungsnamens halten wir nicht
für sinnvoll. Bisher wurde kein plausibler, überzeugender
Namensvorschlag unterbreitet. Bereits unter dem jetzigen
Namen der Stiftung war die Erinnerung an alle Opfer des
Nationalsozialismus Aufgabe der Stiftung. Unter dem jetzigen Namen wurden das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma und die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen errichtet; und
unter dem jetzigen Namen betreut die Stiftung bereits das
Homosexuellendenkmal. Auch angesichts der internationalen Bedeutung des Denkmals sollte der Name nicht verändert werden. Außerdem bleibt trotz der Betreuung der
beiden neuen Denkmäler der Betrieb des Denkmals für
die ermordeten Juden Europas die Hauptaufgabe der Stiftung.
Aus den gleichen Gründen sind wir gegen eine Veränderung der Besetzung des Kuratoriums. Schon jetzt ist
der Lesben- und Schwulenverband im Beirat der Stiftung
vertreten. Hier können auch Vertreter der Sinti und Roma
mitarbeiten. Wir sollten den Streit, der im Vorfeld des
Baus der Denkmäler geführt wurde, nicht wieder führen.
Der Argumente sind genug gewechselt worden.
Es freut mich, dass der Gesetzentwurf im Kulturausschuss einstimmig beschlossen wurde und der breite Konsens bei wichtigen Entscheidungen zur Erinnerungskultur in Deutschland weiterhin trägt.
Die Anpassung des Gesetzes zur Errichtung einer
„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung ist grundsätzlich richtig und sinnvoll. Denn die Stiftung hat im
Laufe der Zeit einen Teil ihrer Aufgaben bewältigt - insbesondere den Bau des Holocaust-Mahnmals -, aber
auch neue Aufgaben übernommen, sodass ihre Struktur
renoviert werden muss: Die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ wurde vor neun Jahren errichtet, Mitte 2008 konnte das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen der Öffentlichkeit
übergeben werden, und im Sommer 2009 wird das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma hoffentlich vollendet sein. Die Struktur der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ musste also auf diese
geänderte Aufgabenstellung ausgerichtet werden. Dem
stimmen wir ausdrücklich zu.
Aus Sicht der FDP gebietet es jedoch die Logik, dass
sowohl der Name der Stiftung, die nunmehr drei Denkmäler betreut, als auch die Zusammensetzung des Kuratoriums der Stiftung an die neue Situation angepasst werden. Selbstverständlich ist von einer Namensänderung
nicht das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal für die erZu Protokoll gegebene Reden
Hans-Joachim Otto ({0})
mordeten Juden Europas“ berührt. Eine Namensänderung des organisatorischen Rahmens halten wir jedoch
für geboten. Unser Vorschlag - „Stiftung Denkmäler für
die Opfer des Nationalsozialismus“ - wurde leider im
Ausschuss mehrheitlich abgelehnt, mit wenig überzeugender Begründung. Wir gehen deshalb davon aus, dass
eine solche Namensänderung in naher Zukunft erneut auf
der Tagesordnung stehen wird. Wie kann denn eine Stiftung, die sich um drei Denkmäler kümmert, nur nach einem der Denkmäler benannt werden? Keiner käme doch
auf die Idee, die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“
„Stiftung Pergamonmuseum“ zu nennen oder die „Stiftung Preußische Schlösser und Gärten“ als „Stiftung
Schloss Sanssouci“ firmieren zu lassen.
Aus Sicht der FDP gebietet es ebenfalls die Logik, aber
auch der Respekt vor den Opfergruppen, die Zusammensetzung des Kuratoriums um die neuen Opfergruppen zu
erweitern. Um das jetzt schon 23-köpfige Gremium aber
nicht noch zu erweitern, hatte die FDP-Fraktion vorgeschlagen, die Zahl der Mitglieder aus dem politischen
Raum - Bundestag, Bundesregierung und Land Berlin zugunsten von Vertretern der Homosexuellen und der
Sinti und Roma zu reduzieren. Damit hätte man den neuen
Opfergruppen Sitz und Stimme im Kuratorium ermöglicht, und das Kuratorium wäre dennoch arbeitsfähig geblieben.
Die vorgesehene Repräsentation dieser beiden Opfergruppen lediglich im Stiftungsbeirat ist unseres Erachtens nicht angemessen. Bei allem Respekt vor den Mitgliedern und der Bedeutung des Beirates gibt es doch von
den Aufgaben her wichtige Unterschiede zwischen dem
Beirat und dem Kuratorium. Die Hauptaufgabe des Beirates liegt nach § 8 Abs. 3 der Satzung der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden darin, das Kuratorium und
den Direktor bei grundsätzlichen Fragen, insbesondere
im Hinblick auf die Würdigung der anderen Opfergruppen und die authentischen Stätten des Gedenkens, zu beraten. Allein das Kuratorium beschließt hingegen über
alle wichtigen Fragen, die zum Aufgabenbereich der Stiftung gehören, wie die Berufung des Direktors, die Feststellung des Haushaltsplans und die Berufung der Mitglieder des Beirates; so steht es in § 6 Abs. 2 der Satzung
der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden.
Auch hier gilt: Warum sollte eine Opfergruppe, deren
Denkmal durch die Stiftung betreut wird, nicht auch Vertreter in das höchste Organ der Stiftung entsenden können? Aus diesem Grund schlugen wir vor, das Kuratorium um je einen Vertreter des Zentralrates Deutscher
Sinti und Roma sowie der Sinti-Allianz Deutschland und
je einen Vertreter des Lesben- und Schwulenverbandes in
Deutschland und der Initiative „Der homosexuellen NSOpfer gedenken“ zu erweitern, die Zahl der Politiker dort
jedoch zu reduzieren.
Die Koalition erweckte im Ausschuss den Eindruck,
dass alle Änderungen zuvor mit den Betroffenen ausgiebig erörtert worden seien. Dies scheint jedoch nicht der
Fall zu sein. Wir halten es für wenig sensibel, dass die
Opferverbände im Vorfeld dieser Reform nicht ausreichend einbezogen wurden.
Dem heute vorliegenden Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen können wir deshalb nicht zustimmen,
weil das ohnehin schon zu große Kuratorium weiter aufgebläht und in seiner Effektivität beeinträchtigt würde.
Trotz der von mir erwähnten Kritikpunkte stimmen wir
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, da das
Grundanliegen mehr als berechtigt ist. Wir hoffen, dass
unsere Vorschläge in der nächsten Legislaturperiode aufgegriffen werden und dann einvernehmlich umgesetzt
werden.
Das Gesetz über die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zu ändern, ist richtig und notwendig, da sie neue Aufgaben - die Betreuung der Denkmäler
für die ermordeten Sinti und Roma sowie für die verfolgten Homosexuellen - zu leisten hat.
Diese neuen Aufgaben verlangen allerdings eine Namensänderung. Da die Stiftung nun nicht mehr nur für
das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zuständig ist, kann sie aus Sicht der Fraktion die Linke nicht
mehr unter dem alten Namen firmieren. Wir halten den
Namensvorschlag im Änderungsantrag, den die FDP im
Kulturausschuss eingebracht hatte, für sehr gut: „Stiftung Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus“.
Allerdings ist ebenso zu bedenken, wie im Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen im Kulturausschuss vorgeschlagen und mittlerweile zurückgezogen,
ob es nicht noch besser wäre, mit den Opferverbänden gemeinsam einen Stiftungsnamen zu finden. Ich frage, wieso
diese beiden Anträge im Ausschuss für Kultur und
Medien beraten wurden, nur um sie im Plenum nicht mehr
zur Abstimmung zu stellen? Soll nun doch alles beim
Alten bleiben?
Schon im März 2009 hat der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands eine Prüfung des Stiftungsnamens
gefordert. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, hat ergeben, dass er bisher nicht in dieser Frage konsultiert
wurde. Er widerspricht eindeutig der Aussage der Koalitionsfraktionen, die im Ausschuss für Kultur und Medien
behauptet haben, alles sei mit den Betroffenen erörtert
worden. Der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma
würde die Namensänderung in „Stiftung Denkmäler für
die Opfer des Nationalsozialismus“ unterstützen, wenn
er denn gefragt werden würde. Insofern übergeht der Antrag der Koalitionsfraktionen klar den Willen von zwei
Opfergruppen. Das ist für die Fraktion Die Linke inakzeptabel. Für wen wird diese Stiftung denn eingerichtet
und betrieben? Trotzdem wollen wir natürlich, dass die
Stiftung ihre Arbeit leisten kann, und stimmen deshalb
wie schon im Ausschuss für Kultur und Medien dem Gesetzentwurf und dem Änderungsantrag der Koalition zu.
Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ hat Großartiges geleistet: bei der Realisierung
dieses Gedenkortes und bei der inhaltlichen und organisatorischen Betreuung. Das Denkmal für die ermordeten
Juden Europas ist zu einem der eindrucksvollsten Orte
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
unserer Hauptstadt geworden. Zu Recht zieht es Jahr für
Jahr zahlreiche Menschen an.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung ist
herzlich für ihr großes Engagement zu danken, stellvertretend für alle insbesondere dem Geschäftsführer, Herrn
Uwe Neumärker. Es ist eine gute Entscheidung, dass der
bisherige Geschäftsführer nach der Strukturreform der
erste Direktor wird. Das unterstützen wir sehr nachdrücklich.
Bündnis 90/Die Grünen unterstützt ausdrücklich die
Erweiterung des Stiftungszweckes um die Betreuung des
entstehenden Denkmals für die im Nationalsozialismus
ermordeten Sinti und Roma sowie des Denkmals für die
im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, das
vor einem Jahr der Öffentlichkeit übergeben wurde. Es ist
aber sehr schade, dass die Koalition nicht bereit war, aus
dieser Aufgabenerweiterung auch strukturelle Konsequenzen zu ziehen.
Wir beantragen deshalb, dass die Verbände, die das
Sinti- und Roma-Denkmal wie das Homosexuellendenkmal maßgeblich iniitiert haben und diese Bevölkerungsgruppen repräsentieren, auch Sitz und Stimme im Entscheidungsgremium der Stiftung, dem Kuratorium,
erhalten sollen. Denkmalsbetreuung ist schließlich nicht
allein eine technische Frage von Reinigung oder Instandhaltung, sondern beinhaltet auch gedenkpolitische Grundsatzentscheidungen zu den jeweiligen Gedenkorten. Dafür
sollten aber die Verbände und Initiatoren, die das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma und das Denkmal
für die verfolgten Homosexuellen gesellschaftlich tragen,
mit am Entscheidungstisch sitzen und nicht von außen als
Bittsteller auftreten müssen. Das Kuratorium beschließt
laut Stiftungsgesetz über alle grundsätzlichen Fragen, die
zum Aufgabenbereich der Stiftung gehören. Nach der
ausdrücklichen Aufgabenerweiterung ist es einfach unangemessen, dass Sinti und Roma sowie Homosexuelle
draußen bleiben müssen. Mir ist es gänzlich unverständlich, warum man sie nicht dabei haben will. Mir ist
ebenso unververständlich, warum der Kulturstaatsminister und die Regierungsfraktionen nicht mit allen Beteiligten ein klärendes Gespräch über die Kuratoriumsfrage
geführt haben. Insbesondere diese Gesprächsverweigerung grenzt an Missachtung. Diese Debatte kann mit der
Verabschiedung des heutigen Gesetzes nicht zu Ende
sein.
Eine offene Frage bleibt auch der Name der Stiftung.
Gewiss, Namen sollte man nicht leichtfertig ändern. Der
bisherige Name ist gut eingeführt. Er bringt die weltgeschichtliche Einzigartigkeit des Verbrechens des Holocaust einprägsam auf den Punkt. Aber dennoch trägt er
nicht mehr der nun existierenden, veränderten Denkmalssituation Rechnung.
Ich bin nicht der Meinung, dass wir hier einen neuen
Namen von oben dekretieren sollten. Namensänderungen
sollte es nur im Einvernehmen geben. Mein Vorschlag ist
daher nach wie vor, dass sich der Kulturstaatsminister
mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, dem Lesben- und
Schwulenverband und weiteren Interessierten zusammensetzt und im Gespräch Lösungsvorschläge für einen Stiftungsnamen entwickelt, der der neuen Situation Rechnung trägt.
Lange Jahrzehnte haben in Deutschland NS-Verfolgte
aus bestimmten Opfergruppen darunter gelitten, dass sie
im öffentlichen Gedenken nicht beim Namen genannt
wurden, dass sie dabei immer wieder „vergessen“, in
Wahrheit aber ausgrenzt wurden. Diese Phase sollte endgültig vorbei sein.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der
Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12976, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/12230 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/13002? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion
und die Fraktion Die Linke abgelehnt. Dagegen haben
die übrigen Fraktionen des Hauses gestimmt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf
stimmt, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter
Beratung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung eines Sondervermögens „Vorsorge für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ ({0})
- Drucksache 16/12233 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
- Drucksache 16/12905 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({2})
Otto Fricke
Alexander Bonde
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt ebenfalls zu Protokoll zu
geben. Es handelt sich um die Reden der folgenden
Kolleginnen und Kollegen: Jochen-Konrad Fromme,
Bernhard Brinkmann, Otto Fricke, Roland Claus und
Alexander Bonde.1)
1) Anlage 9
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12905, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12233 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte
ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei
Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die
Linke gestimmt. Enthalten hat sich die FDP.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor angenommen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 35 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit
Sicherheitsaufgaben ({3})
- Drucksache 16/12594 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4})
- Drucksache 16/12914 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Hartfrid Wolff ({5})
Silke Stokar von Neuforn
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Clemens
Binninger, Gerold Reichenbach, Hartfrid Wolff, Jan
Korte und Silke Stokar von Neuforn.
Sicherheit zu gewährleisten gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Staates überhaupt. Zu diesem Feld zählt
auch die Sicherheitsinfrastruktur. Die Polizeien, die Feuerwehren, die Rettungsdienste und die übrigen Sicherheitsbehörden in Deutschland benötigen für ihre wichtige
und nicht selten auch gefährliche Arbeit eine einwandfreie und technisch moderne Ausstattung und Infrastruktur. Dazu gehört ein modernes und leistungsfähiges
Funknetz, wie es im Augenblick mit dem Digitalfunk in
Deutschland aufgebaut wird.
Im Jahr 2006 hat der Gesetzgeber mit dem Beschluss
für die Einrichtung der Bundesanstalt für den Digitalfunk
der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben den Startschuss für ein modernes Funknetz in
Deutschland gegeben. Die Bundesanstalt hat die Aufgabe, für Bund und Länder den Digitalfunk BOS aufzubauen, seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Die
Bundesanstalt nimmt gegenüber privatwirtschaftlichen
Unternehmen die Auftragsvergabe wahr. Dazu musste ein
Verwaltungsabkommen mit den Ländern geschlossen
werden, es musste ein Vergabeverfahren durchgeführt
werden und die Bundesbehörde aufgebaut werden. Im
April 2007 hat die Bundesanstalt für den Digitalfunk ihre
Arbeit aufgenommen.
Der Roll-out-Plan sieht vor, dass bis Ende 2010 rund
90 Prozent des Digitalfunknetzes aufgebaut sind. Aktuell
zeichnet sich ab, dass sich die Realisierung um anderthalb bis zwei Jahre verzögern wird. Auch wenn es hier
- leider wieder einmal - zu Verzögerungen kommen kann,
gilt: Es ist zwar wichtig, dass wir die Digitalfunktechnologie möglichst schnell einsetzen können - noch wichtiger ist aber, dass sie zuverlässig funktioniert. Störungen
des Funknetzes können schwerwiegende Folgen für die
öffentliche Sicherheit und speziell für die Einsatzkräfte
haben.
Die wesentlichen Änderungen, die wir heute am Gesetz über die Errichtung der Bundesanstalt für den Digitalfunk beschließen, betreffen genau diesen Punkt: Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit und Sicherheit bei der
eingesetzten Technik.
Die Beschaffung von Endgeräten für den Digitalfunk
liegt nicht im Aufgabenbereich der Bundesanstalt, sondern wird dezentral von Bund und Ländern vorgenommen. Deshalb ist ein klarer rechtlicher Rahmen notwendig, mit der die Bundesanstalt sicherstellen kann,
dass die von den zuständigen Bundes- und Landesstellen
angeschafften Endgeräte und Funkgeräte die für den
störungsfreien Betrieb des Netzes notwendigen Leistungsmerkmale haben. Daher steht im Zentrum des vorliegenden Gesetzentwurfs die Zertifizierung von Endgeräten durch die Bundesanstalt für den Digitalfunk geregelt in dem neuen § 15 a bis c BDBOS-Gesetz.
Die technische Überprüfung der Funkgeräte wird zukünftig durch sachverständige Prüfstellen vorgenommen.
Auf der Grundlage der Prüfberichte und verschiedener
Nachweise entscheidet die Bundesanstalt für den Digitalfunk auf Antrag des Herstellers oder Lieferanten, ob ein
Zertifikat vergeben wird und das Gerät damit zugelassen
ist. Ein solches Zertifikat wird dann Voraussetzung dafür
sein, dass Funkgeräte im BOS-Digitalfunknetz eingesetzt
werden dürfen und entsprechend dezentral angeschafft
werden. Übergangsregelungen ermöglichen eine schrittweise Migration zu Funkgeräten mit Zertifikat. Die Einzelheiten des Zertifizierungsverfahrens und der Inhalt der
Zertifikate werden in einer Verordnung geregelt, die im
Grundsatz vom Bundesinnenministerium erlassen wird.
Auch wenn hier keine formale Einbeziehung der Länder
bei der Gestaltung der Verordnung vorgesehen ist, halte
ich es für wichtig, dass die zuständigen Landesbehörden
auf der Arbeitsebene ausreichend einbezogen werden und
bei der Zertifizierung und der Festlegung von Standards
eingebunden werden. Ich will noch einmal daran erinnern: Das Projekt „Digitalfunk BOS“ ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern; daran muss sich
die Zusammenarbeit der beteiligten Stellen orientieren.
Landesweite, auf dem sogenannten TETRA-Standard
basierende Funknetze errichten auch andere europäische
Staaten wie Österreich, Schweden, Norwegen und Dänemark. Das deutsche Digitalfunknetz, das wir zukünftig einer halben Million Mitarbeitern von Polizei, Feuerwehr,
Rettungsdiensten und weiteren Sicherheitsbehörden zur
Verfügung stellen werden, ist das weitaus größte Projekt
seiner Art.
Die Einführung des Digitalfunks bedeutet für unser
Land einen Zugewinn an innerer Sicherheit. Mit dem vorliegenden Gesetz tragen wir dazu bei.
Das heute vorliegende Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den
Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit
Sicherheitsaufgaben ist ein weiterer Schritt bei der
schwierigen und sich zäh gestaltenden Aufgabe, das in
Deutschland bereits bestehende integrierte BOS-Funknetz von der analogen in die modernere digitale Funktechnik zu überführen. Die Gesetzesänderung ist notwendig, weil das Großprojekt - seit der Verabschiedung des
dafür zuständigen Gesetzes im Juni 2006 - nun in ein Stadium getreten ist, in dem wir endlich die Voraussetzungen
für die Beschaffung der Endgeräte festzulegen haben.
Entscheidend für die Realisierung und auch die künftige Weiterentwicklung des BOS-Funknetzes ist, dass entsprechende Endgeräte von den Herstellern angeboten
werden und sich ein entsprechender Markt entwickelt.
Dabei wollen wir einerseits einen breiten Wettbewerb bei
den Endgeräten gewährleisten. Das ist einer der Gründe,
warum wir Netz- und Systembetrieb getrennt vergeben
und dafür gesorgt haben, dass die Schnittstellen zu den
Endgeräten offengelegt werden müssen.
Andererseits müssen wir als Gesetzgeber darauf achten, dass eine sicherheitsrelevante Infrastruktur wie der
BOS-Digitalfunk die notwendigen Sicherheitsstandards
einhält. Die von den Nutzern dezentral beschafften und
verwendeten Endgeräte müssen störungsfrei und interoperabel mit den sonstigen Komponenten des Digitalfunknetzes und mit anderen Endgeräten eingesetzt werden können. Zudem müssen die Endgeräte bestimmte
elektromagnetische und mechanische Eigenschaften sowie bestimmte Anforderungen an die Bedienbarkeit erfüllen. Deshalb muss es eine Zertifizierung der Endgeräte
geben.
Sie ist zum einen wichtig für die Benutzer. Sie müssen
sich im Ernstfall, in dem es durchaus um Menschenleben
gehen kann, darauf verlassen können, dass die beschafften Geräte technisch und funktionell alle Anforderungen
erfüllen und störungsfrei betrieben werden können.
Sie ist aber auch wichtig für die Hersteller, um sie vor
unlauterem Wettbewerb zu schützen. Eine unabhängige
Zertifizierung durch die Bundesanstalt bietet für beide
diese Sicherheit.
Nicht zuletzt dient eine unabhängige, allgemeine Zertifizierungsmöglichkeit auch der Vielfalt und Konkurrenz
auf dem Markt. Konkurrenz bei Preis und Qualität ist
wichtig für die kommunalen Gebietskörperschaften und
Organisationen, die die Endgeräte beschaffen, auch in
Anbetracht der Gerätekosten. Wir wollen keine Monopolstellung eines einzelnen Anbieters mit allen Marktverzerrungen, die sehr wohl bekannt sind. Wir verpflichten die
Hersteller, die eine Zertifizierung anstreben, dazu, zwei
Endgeräte unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, die von
unabhängigen, externen Testplattformen geprüft werden.
Dies gilt nicht für die Hersteller von mobilen oder stationären Funkleitstellen. Weil diese Anlagen hohe Stückpreise haben, hätte dies für die Zertifizierungswilligen
unverhältnismäßig hohe Kosten zur Folge, die sich nicht
marktkonform auf den Verkaufspreis umlegen ließen. Bei
den Endgeräten fällt dies wegen der geringeren Stückpreise und den höheren Marktchancen dagegen kaum ins
Gewicht.
Durch einen Änderungsantrag haben die Koalitionsfraktionen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sichergestellt, dass bei kleineren Veränderungen keine aufwendigen Folgezertifizierungen notwendig sind. Nur bei
Änderungen, die wesentlich sind, die also Auswirkungen
auf Betriebs- und Funktionsfähigkeit haben muss nachzertifiziert werden. Für unwesentliche Änderungen, also
zum Beispiel im Design, gilt dies nicht. Die konkrete Unterscheidung trifft letztlich die Bundesanstalt innerhalb
einer Frist von drei Monaten.
Des Weiteren stellen wir mit der Gesetzesänderung
noch einmal klar, dass die Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ausschließlich in öffentlichem Interesse tätig
wird.
Weil die Debatte über den Digitalfunk angesichts der
drohenden weiteren Verzögerungen und Kostensteigerungen erneut aufflammt, lassen Sie mich anlässlich der heutigen Gesetzesberatung noch zwei grundsätzliche Feststellungen treffen: Erstens. Unbefriedigend ist, dass sich
erneut herausstellt, dass der bereits mehrfach in die
Länge gezogene Zeitplan für den Aufbau des flächendeckenden BOS-Digitalfunks wieder nicht eingehalten werden kann. Entsprechend unserer föderalen Struktur im
Sicherheitsbereich müssen wir diesen Prozess kontinuierlich mit einer Vielzahl von Aufgabenträgern abstimmen:
mit dem Bund, den Ländern und auf den jeweiligen Ebenen unter den Behören und Organisationen in der polizeilichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. Das erweist sich stellenweise immer noch als zäh, zumal die
einzelnen Länder unterschiedlich und unterschiedlich
schnell vorgehen. Allerdings können wir uns auch nicht
- wie manche Neunmalkluge immer wieder suggerieren mit vermeintlich erfolgreicheren Nachbarländern vergleichen. Dort wurde der Digitalfunk bisher entweder als
Insellösung oder als Teilfunknetz angelegt. Erst jetzt werden auf dieser Basis integrierte Gesamtlösungen geplant.
Wir müssen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern,
den kommunalen Gebietskörperschaften und den jeweiligen Organisationen der polizeilichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr ein bereits bestehendes integriertes Netz komplett transferieren. Der Verzicht auf den
einheitlichen Ausbau eines Kernnetzes durch den Bund
und der steigende Koordinierungsbedarf tun ein Übriges.
Zum Zweiten: Beunruhigend sind die stark steigenden
Kosten, die die ursprünglichen Ansätze jetzt schon erhebZu Protokoll gegebene Reden
lich übersteigen. Die Zahlen, die jetzt gehandelt werden,
sind ein Vielfaches dessen, was ursprünglich beim Aufbau
des Kernnetzes durch die DB-Telematik in Rede stand.
Damals führte der Aufschlag von 500 Millionen Euro
dazu, dass der DB-Telematik das Gesamtprojekt entzogen
wurde, und zwar mit der Begründung: zu teuer. Inzwischen haben wir das Mehrfache der damals in Rede stehenden Kostensteigerung erreicht.
Wir erinnern uns, dass der Bund unter Rot-Grün zugesagt hatte, das Kernnetz zu finanzieren. Das entspricht
50 Prozent des gesamten Netzes, und das obwohl der
Bund weniger als 10 Prozent der Nutzer stellt. Mit diesem
„unausschlagbaren“ Angebot, das einem Kostenteil des
Bundes von rund 30 Prozent entsprach, hatte der damalige Bundesminister Schily das Kostenkarussell zwischen
Bund und Ländern beenden und endlich den Weg für den
Digitalfunk frei machen können.
Die Länder und Innenminister Wolfgang Schäuble haben dann von dem Modell es Ausbaus des Kernnetzes
durch den Bund mithilfe eines einheitlichen Dienstleisters
Abstand genommen, unter anderem mit Verweis auf die
avisierte Kostensteigerung von 500 Millionen Euro. Dagegen wurde - vereinfacht dargestellt - vereinbart, dass
der Bund zwar mit der Bundesanstalt die Verantwortung
für die Koordinierung und die Gesamtnetzplanung übernehmen soll, die Länder aber in ihrem Bereich den Gesamtausbau des Netzes eigenständig vornehmen können,
wobei sie dies auch wahlweise der Bundesanstalt übertragen können. Das wurde damals von allen Beteiligten
als kostengünstigere und schnellere Lösung gefeiert. Die
Realität sieht heute leider ganz anders aus. Es ist nicht
redlich, alle Probleme die jetzt im Projekt- und Kostenmanagement entstehen, dem Vorgängerminister in die
Schuhe zu schieben und jegliche Verantwortung für die
jetzige - für uns alle unbefriedigende Situation - von sich
zu weisen. Im Gegenteil: Wir müssen aufpassen, dass das
von Innenminister Schäuble mit den Ländern vereinbarte
jetzige Vorgehen nicht zu einem reinen Optionsmodell
wird, bei dem alle Kostenrisiken auf den Bund abgewälzt
werden. Denjenigen, die jetzt die Kostensteigerungen als
Gelegenheit nutzen wollen, verlorene Schlachten erneut
zu schlagen und nach einer Privatisierung hoheitlicher
Aufgaben in Form einer Konsortiumslösung zu rufen,
möchte ich nur das Beispiel Maut entgegen halten. Es
kann nicht die Rede davon sein, dass diese Lösung kostengünstig sei oder gewesen wäre. Das vorliegende Gesetz ist notwendig, um die Voraussetzung für die Zertifizierung und damit die Markteinführung und Beschaffung
der Endgeräte zu schaffen. Die Bundesländer, die Gemeinden, aber insbesondere die Nutzer warten darauf ungeduldig; nicht zuletzt auch deshalb, um endlich
marktreife Geräte und verlässlichere Zahlen für ihre Planungen zu erhalten. Wir stehen ohnehin im Verzug.
Die Frauen und Männer, die bei den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, bei den Polizeien,
den Feuerwehren, den Hilfsorganisationen und beim
THW sich täglich für unser aller Sicherheit einsetzen und
dabei oft Risken für Leib und Leben in Kauf nehmen, haben nicht nur unser aller Dank dafür verdient, sie haben
auch Anspruch darauf, dass wir alles tun, damit ihnen
endlich eine modernere Funktechnik für die Erfüllung ihrer schwierigen Aufgaben zu Verfügung steht.
Darum sollten wir die jetzige Gesetzesänderung nicht
in Haftung für andere Debatten nehmen. Ich bitte um ihre
Zustimmung.
Wir brauchen schnellstmöglich den Digitalfunk in
Deutschland. Das Projekt ist zu wichtig, als dass sein
Scheitern auf Dauer riskiert werden darf.
Gegenstand des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfes ist
insbesondere die Einführung einer Vorschrift zur Zertifizierung von Endgeräten durch die Bundesanstalt für
Digitalfunk. Die technische Überprüfung verbleibt
grundsätzlich bei sachverständigen Prüfstellen. Die Endabnahme soll durch die Bundesanstalt durchgeführt werden. Eine Zertifizierung soll dann erteilt werden, wenn
die zwingend erforderlichen Leistungsmerkmale vorhanden sind, das Gerät nicht gegen andere öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt und der Erteilung des Zertifikats keine überwiegenden öffentlichen Interessen,
insbesondere sicherheitspolitische Belange der BRD, entgegenstehen.
Die FDP-Bundestagsfraktion macht sich bereits seit
Jahren für die Einführung des Digitalfunks stark. Allerdings hatte sie sich bereits bei der Errichtung einer Bundesanstalt für Digitalfunk enthalten, da grundsätzlich die
Notwendigkeit einer Behördenlösung in diesem Bereich
zweifelhaft ist. Alternativen hatte die Bundesregierung
nicht ernsthaft geprüft. Diese Kritik wirkt auch jetzt fort,
vor allem, wenn ich über das Kostencontrolling und die
Informationspolitik der Bundesregierung nachdenke.
Innerhalb des Bundesrates wurde Kritik daran geäußert, dass die Mitspracherechte der Länder bei der Festlegung des Zertifizierungsverfahrens und des Inhalts der
Zertifikate zu gering seien. So solle die Zertifizierungsverordnung des BMI nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Da das Projekt Digitalfunk ein Gemeinschaftsprojekt von Bund und Ländern ist, muss dies
tatsächlich kritisch hinterfragt werden.
Das bisherige Auftrags- und Vergabeverfahren der
Bundesregierung für den BOS-Digitalfunk ist unverantwortlich und undurchsichtig. Die dringend erforderliche
Einführung wurde unnötig verzögert und verteuert. Der
ursprünglich geplante Weg, über eine Dienstleistungsausschreibung das Digitalfunknetz zu errichten, wurde
von der Bundesregierung Ende Januar 2005 verlassen.
Der Betrieb wurde ohne Ausschreibung an die Bahntochter DB-Telematik vergeben - einfach so mit einem telegenen Handschlag von Otto Schily und Herrn Mehdorn.
Und dann passierte Folgendes: Für den Betrieb des BOSDigitalfunks legte die DB-Telematik am 31. Juli 2006 ein
Angebot in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vor. Der im
Haushalts- und Finanzplan für den Bund veranschlagte
Kostenrahmen beträgt aber nur rund 1,1 Milliarden
Euro. Jetzt ist eine erneute Kostensteigerung um rund
1 Milliarde Euro bekannt geworden. Die Kosten für den
Bund betragen jetzt inzwischen fast das Dreifache.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
Die Kostenentwicklung wie die Gesamtumstände der
Digitalfunkeinführung in Deutschland sind skandalös.
Die Rolle der Minister Schily und Schäuble ist mit „undurchsichtig“ noch sehr behutsam ausgedrückt. Obwohl
die Bundesregierung immer wieder das Gegenteil behauptet, ist der Eindruck unabweisbar, dass die Kosten
für den Steuerzahler als eine zu vernachlässigende Größe
angesehen werden. Ein wirksames Controlling fehlt.
Die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der
Bundesregierung ist durch ein hohes Maß an Intransparenz und Undurchsichtigkeit geprägt. Gegen daraus resultierende Mutmaßungen und Verdächtigungen helfen
nur Offenheit und Transparenz. Die Finanzierung des gesamten Projekts für den Bund, aber auch die Finanzierungsbedingungen für jedes einzelne Bundesland sind
völlig aus dem Blick geraten. Ein Vertrag zulasten Dritter,
zulasten der Länder ist unzulässig.
Die FDP hat erhebliche Bedenken gegen die Art und
Weise, wie die Bundesregierung die Einführung des Digitalfunks betreibt. Das unklare und intransparent wirkende Vergabeverfahren zum Digitalfunk hat bislang neben immensen Kosten nur grandiose Zeitverzögerungen
verursacht.
Wir sollten im Interesse der Sicherheit der Bürger,
aber auch der Haushaltslage schnellstmöglich die beste,
aber auch wirtschaftlichste Technik in Deutschland umsetzen. Und wir wollen, dass alle Entscheidungen nachvollziehbar und transparent sind. Denn an dem, was und
wie bislang in diesem Zusammenhang entschieden
wurde, sind erhebliche Zweifel angebracht - sachlich,
rechtlich und finanziell.
Wir debattieren heute über eine Gesetzesänderung,
vorgeschlagen durch die Bundesregierung, zu einem Gesetz, das die Regierung selber vor kaum drei Jahren durch
das Parlament gedrückt hat. Die Rede ist vom Gesetz zur
Einrichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der
Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben.
Bereits in den Debatten 2006 hat sich die Fraktion Die
Linke gegen die Einrichtung einer solchen Bundesanstalt
ausgesprochen, jedoch nicht, wie uns aus der Koalition
immer wieder vorgeworfen wurde, weil wir gegen eine
über die Ländergrenzen hinweg funktionierende Kommunikation beispielsweise zwischen den Feuerwehren, dem
Katastrophenschutz oder der Polizei waren. Im Gegenteil, wir, Die Linke, sprechen uns seit langem dafür aus,
die vorsintflutartigen Kommunikationsmittel auf analoger Basis durch digitales Gerät auszutauschen. Seit Jahren wird nun an Geräten, Funkmasten und Zertifizierungen für diese herumgedokter - ohne messbaren Erfolg.
Die bundesweite Inbetriebnahme des Digitalfunks steht
aus und wird wohl noch einige Jahre auf sich warten lassen. Ein deutsches Novum in der europäischen Sicherheitsarchitektur! Da werden Datenbanken aufgebaut,
millionenfach Personendaten ausgespäht, auf Vorrat
gesammelt und international weitergegeben, Geheimdienste und Militär in die Polizeiarbeit eingebunden, der
Kampf gegen den Terrorismus medienwirksam inszeniert,
und woran krankt unsere Sicherheitsarchitektur wirklich:
an Funkgeräten. Das ist ein Schildbürgerstreich ohne
Beispiel. Das Vorgehen der Regierung ist so peinlich,
dass man sich sogar als Oppositionspolitiker für die Koalitionsmehrheit fremdschämen muss. Neben den Knoten
in der Sicherheitskommunikation gehört deshalb auch
das Fremdschämen aufgehoben.
Nun will die Bundesregierung mit ihrer heute vorliegenden Gesetzesänderung ihr eigenes Gesetz von 2006
nachbessern. Plötzlich werden Kritikpunkte an der zuständigen Bundesanstalt, die erst 2007 eingerichtet
wurde, aufgegriffen, welche die Opposition bereits zum
damaligen Zeitpunkt öffentlich machte. Es bleibt aber dabei: Der Nachbesserungsversuch der Regierung ist ein
hilfloser Versuch, denn nun, nachdem die Bundesländer
bereits Geräte für den Digitalfunk angeschafft haben,
stellt die Regierung fest, dass die Bundesanstalt mit der
Zertifizierung und der Prüfung der Geräte auf länderübergreifende und störungsfreie Nutzung und Kompatibilität hin überfordert ist. Deshalb soll es zukünftig möglich
sein, diese Aufgaben abzugeben, das heißt externe Prüfstellen damit zu betrauen. Mit der Änderung des von § 13
Abs. 2 BDBOS-Gesetz sollen gleichzeitig der Bundesanstalt zusätzliche Befugnisse gegenüber Behörden anderer
Bundesministerien übertragen werden.
Ganz schlau ist im Übrigen auch, dass die Bundesregierung jetzt - über den neuen § 15 b und c - drei Jahre
nach Gesetzeseinführung und zwei Jahre nach der Einrichtung der Bundesanstalt definiert, wie die Zertifizierungsverfahren und Einzelheiten des Zertifikats auszugestalten sind. Der Opposition hätte die Große Koalition
bei einem Gesetzentwurf, welcher derart viele Defizite
aufweist, jedwede politische Kompetenz abgesprochen.
Bis heute ist die Bundesanstalt ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachgekommen. Laut Gesetz hat die Bundesanstalt die Aufgabe, im Öffentlichen Interesse ein bundesweit einheitliches digitales Sprech- und Datenfunksystem
für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben aufzubauen, zu betreiben und seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen“. Weder wurde bis heute ein solches
System aufgebaut, noch ist die Funktionsfähigkeit gesichert; denn die Kompatibilität der bisher angeschafften
Geräte und der Aufbau der notwendigen Funkmasten stehen weiter in den Sternen.
Der Digitalfunk in Deutschland ist ein weiteres Millionengrab der Großen Koalition. Die daraus folgenden
Kommunikationsschwierigkeiten von Sicherheitsbehörden verschärfen die Sicherheitslage in Deutschland. Die
Linke wird der Gesetzesänderung nicht zustimmen und
fordert die Regierung auf, endlich im Sicherheitsinteresse
der Bürgerinnen und Bürger zu handeln.
Der BOS-Digitalfunk kommt später, und er wird wesentlich teurer als bislang geplant - das ist die zweifach
schlechte Botschaft, die sich hinter diesem Gesetzentwurf
verbirgt. Was ganz Europa kann, bringt das Hightechland
Deutschland mit seinem föderalen Wahnsinn nicht zustande, und ich kann dieser Bundesregierung noch nicht
einmal die alleinige Schuld in die Schuhe schieben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir erinnern uns noch an das großspurige Versprechen von Otto Schily: Der Digitalfunk kommt pünktlich
zur Fußball-WM 2006. Dann gab es Alleingänge des ehemaligen Bundesinnenministers, Verträge per Handschlag
und einen festgefahrenen Konflikt mit allen Bundesländern, die nun einmal zu beteiligen sind, weil es bei der
Föderalismusreform I nur um das BKA ging und nicht darum, dass der Aufbau eines einheitlichen, bundesweiten
Digitalfunks als Aufgabe des Bundes definiert wird. Jetzt
haben wir eine schwerfällige Bund-Länder-Behörde, die
mit der Bewältigung dieses Großprojektes schon aufgrund ihrer Organisationsstruktur überfordert ist.
Nach Presseberichten - „Handelsblatt“ vom 6. Mai;
der Sachstandsbericht liegt den Mitgliedern des Innenausschusses nicht vor - sind die Gesamtkosten um
30 Prozent auf 3,625 Milliarden Euro gestiegen, die Einführung verzögert sich nach derzeitigem Stand bis 2012.
Es werden mehr Funkstationen gebraucht als ursprünglich geplant, und in der Bevölkerung gibt es ganz offensichtlich Widerstand gegen immer neue Sendemasten, deren Strahlung nicht genau eingeschätzt werden kann. Die
unendliche Geschichte der Einführung des BOS-Digitalfunks in Deutschland wird auf jeden Fall weiter geschrieben, und bis dahin funken wir weiter analog oder bauen
parallel Insellösungen auf und ab.
Es ist prima, dass die Bundesregierung jetzt beginnt,
verbindliche Standards zu setzen, und ich kann nur hoffen, dass die Länder, inklusive Bayern, hier zustimmen
können. Die Klarstellung, dass die BDBOS ihre Aufgaben
und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt
und die vorgesehene Klärung der Zuständigkeiten auf,
dem Gebiet der Versorgung sind Selbstverständlichkeiten, die nicht erneut eine Welle der Debatte auslösen sollten. Dass es eine Zertifizierung der Endgeräte geben
muss, sollte auch für alle nachvollziehbar sein.
Wir haben gegen diese Änderungen keine Einwände.
Wir sind allerdings nicht bereit, die Verantwortung für
weitere Kostensteigerungen und Verzögerungen mit zu
übernehmen. Es mangelt an Transparenz gegenüber dem
Parlament, und es ist den Abgeordneten kaum möglich,
hier gestaltend einzugreifen. Der Murks beim BOS-Digitalfunk ist der Murks der Innenminister. Otto Schily
wollte seinen Alleingang, und Schäuble geht den falschen
Weg weiter. Für das Projekt BOS-Digitalfunk lehnen wir
die Mitverantwortung ab. Beim Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten wir uns, weil einige Regelungen
durchaus vernünftig sind, aber insgesamt das verkorkste
Verfahren damit nicht gerettet werden kann. Der BOSDigitalfunk braucht eine Evaluierung, ein transparentes
Kosten-Controlling und eine Neuausrichtung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12914, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/12594 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, mögen bitte die Hand
heben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die
Linke gestimmt. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die
Grünen und FDP.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 36 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen und zur
verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung
- Drucksache 16/12814 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Zu Protokoll gegeben haben hier ihre Reden die
Kolleginnen und Kollegen Marco Wanderwitz, Klaus
Uwe Benneter, Mechthild Dyckmans, Sevim Dağdelen,
Dr. Gerhard Schick und der Parlamentarische Staatsse-
kretär Alfred Hartenbach.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 37 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Konrad
Schily und weiteren Abgeordneten eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches - Strafbarkeit der Genitalverstümmelung
- Drucksache 16/12910 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Ute
Granold, Christine Lambrecht, Sibylle Laurischk,
Dr. Kirsten Tackman und Irmingard Schewe-Gerigk.
Wir diskutieren heute in erster Beratung einen Gesetz-
entwurf zur Strafbarkeit von Genitalverstümmelungen.
Der Gesetzentwurf sieht vor, die Genitalverstümmelung
bei Mädchen und Frauen als Fall der schweren Körper-
verletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Zudem
soll die Verjährung der Strafbarkeit erst mit Vollendung
1) Anlage 10
des 18. Lebensjahres des Opfers einsetzen. Mittels einer
Ergänzung der Vorschriften zur Auslandsstrafbarkeit soll
außerdem sichergestellt werden, dass die Genitalverstümmelung bei einem lediglich vorübergehenden Aufenthalt außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik dem
deutschen Strafrecht unterliegt.
Ich möchte zunächst feststellen: Die Union unterstützt
ausdrücklich das Anliegen, Mädchen und Frauen besser
vor Genitalverstümmelungen zu schützen. Die Genitalverstümmelung stellt eine schwere Menschenrechtsverletzung und Diskriminierung der betroffenen Mädchen
und Frauen dar, die auch mit Blick auf einen etwaigen besonderen kulturellen oder religiösen Hintergrund unter
keinen Umständen toleriert werden kann.
Die Koalition hat sich der Problematik der Genitalverstümmelung bereits seit langem angenommen und den
Antrag „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen“ mit einem 20-PunktePlan eingebracht, der im Juni letzten Jahres vom Bundestag verabschiedet wurde. Darin wird eine Reihe von Maßnahmen genannt, die aus unserer Sicht erforderlich sind,
um Mädchen und Frauen wirksamer vor Genitalverstümmelungen zu schützen.
Die zentrale Forderung des heute zur Beratung anstehenden Entwurfs zielt auf die Schaffung eines eigenen
Straftatbestandes hin. Zur Begründung wird angeführt, es
sei unklar, ob eine Genitalverstümmelung den Straftatbestand der schweren Körperverletzung erfülle. Deshalb sei
die vorgeschlagene Gesetzesänderung notwendig. Mit
der ausdrücklichen Erfassung als schwere Körperverletzung und der damit verbundenen Strafandrohung werde
der besondere Unrechtsgehalt dieser Tat erfasst. Eine
Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung würde
hingegen den schlimmen Folgen für die Opfer nicht hinreichend Rechnung tragen.
Es dürfte weitestgehend unstreitig sein, dass die Genitalverstümmelung, da sie in der Regel mit einem Messer,
Skalpell oder ähnlich scharfem Gegenstand geschieht,
schon jetzt nicht nur eine einfache Körperverletzung darstellt, sondern in der Regel den Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 des Strafgesetzbuchs erfüllt. Mit Blick auf die damit verbundene
Höchststrafe von zehn Jahren Freiheitsentzug wäre eine
Aufnahme in den Katalog der schweren Körperverletzung, wie hier vorgeschlagen, somit wegen des Strafmaßes nicht erforderlich und im Übrigen auch nicht zu
rechtfertigen.
Soweit es jedoch um die unterschiedliche Mindeststrafe geht, die bei der schweren Körperverletzung bei
absichtlicher Verstümmelung der Genitalien drei Jahre
und bei der gefährlichen Körperverletzung sechs Monate
beträgt, gibt es ein Problem, auf das der vorliegende Entwurf nicht eingeht: Der Familienausschuss hat die Problematik der Genitalverstümmelung im Rahmen einer
Anhörung im September 2007 intensiv erörtert. Es wurden nicht nur Experten, sondern auch Betroffene angehört. Die Koalition hat sich nach dieser Anhörung bewusst gegen einen eigenen Straftatbestand entschieden.
Ausschlaggebend war hierfür vor allem der Einwand der
Sachverständigen, dass die vorgeschlagene Strafverschärfung mit ihrer Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren ausländerrechtlich stets die Ausweisung der Täter
- also insbesondere der Eltern oder anderer Familienangehöriger - zur Folge hätte. Für die betroffenen Opfer
wäre deshalb nach eigener Aussage die Strafverschärfung wegen der damit verbundenen Regelausweisung
keine Lösung. Es besteht daher aus unserer Sicht die Gefahr, dass eine Strafverschärfung sogar kontraproduktiv
wirkt: Sie könnte die Opfer wegen der damit verbundenen
Ausweisung ihrer Familienangehörigen von einer Anzeige abhalten. Dies kann von uns nicht gewollt sein.
Was die angesprochene Symbolwirkung einer erweiterten Strafbarkeit angeht, so teile ich die Einschätzung,
dass leider einem beträchtlichen Teil der Öffentlichkeit
immer noch das Bewusstsein der Strafbarkeit von Genitalverstümmelungen fehlt. Es ist allerdings auch festzustellen, dass sich in diesem Bereich in den vergangenen
Jahren schon vieles zum Positiven entwickelt hat. Den
Menschen ist inzwischen weitgehend bekannt, dass es
- auch hierzulande - Genitalverstümmelungen gibt. Auch
müsste sich in den relevanten Migrantengruppen mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass unsere
Rechtsordnung diese menschen- und frauenverachtenden
Praktiken nicht duldet. Hier hat die vielfältige Aufklärungsarbeit seitens des Staates und privater Organisationen bereits zu einer Veränderung in den Köpfen der Menschen geführt.
Unabhängig von der Frage der strafrechtlichen Bewertung werden wir unsere Anstrengungen in diesem Bereich weiter forcieren. Die Bundesregierung setzt sich bereits seit Jahren kontinuierlich für die Bekämpfung der
Genitalverstümmelung ein. So ist etwa der Aktionsplan II
zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vom September 2007 zu nennen. Die Koalition hat mit ihrem Antrag
aus dem vergangenen Jahr nun eine Reihe weiterer wichtiger und guter Maßnahmen beschlossen, die es jetzt umzusetzen gilt.
So wollen wir durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit darauf hinwirken, dass die Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien als Körperverletzung der
breiten Öffentlichkeit und insbesondere auch bei den Migranten bzw. Migrantenorganisationen noch stärker bekannt gemacht wird und sich hier ein entsprechender
Mentalitätswechsel vollzieht.
Darüber hinaus - hierin sehen wir die zentrale Herausforderung - muss es uns gelingen, Mädchen und
Frauen umfassend über ihre Rechte sowie Beratungsund Zufluchtsmöglichkeiten aufzuklären. Dabei wollen
wir auch die mit diesem Thema befassten Akteure - zum
Beispiel Ärzte, Sozialarbeiter, Polizei und andere Behörden - weiter sensibilisieren und auch bei den Ländern
darauf hinwirken, dass sie die erforderliche Infrastruktur
bereitstellen. Vordringlich sind dies Mädchen- und Frauenhäuser sowie Beratungsstellen.
Wir wollen zudem einen besonderen Schwerpunkt in
die Aufklärung und Prävention bei der Vergabe von Forschungsaufträgen setzen. Dazu zählt auch eine Evaluierung von sogenannten Best Practices in Herkunftsländern und europäischen Migrationsländern. Gelingen uns
dabei keine Fortschritte, sind alle gesetzlichen MaßnahZu Protokoll gegebene Reden
men reine Symbolpolitik, die den betroffenen Mädchen
und Frauen nicht helfen. Hier müssen wir also unsere
Prioritäten setzen. Das tun wir auch.
Schließlich haben auch wir uns in unserem Antrag dafür ausgesprochen, die Verjährungsfrist für Opfer, die
zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig waren, zu verlängern, sodass die Betroffenen auch noch nach dem Erreichen der Volljährigkeit die Möglichkeit haben, selbst Anzeige zu erstatten. In diesem Punkt stimmen wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich überein.
Aus diesem Grund habe ich bereits gemeinsam mit
dem Kollegen Arnold Vaatz die Bundesregierung - namentlich die Justizministerin - aufgefordert, die Vorgaben des Bundestages umzusetzen und einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Dabei haben wir auch
ausdrücklich um Prüfung gebeten, inwieweit eine Verlängerung der Verjährungsfrist auch ohne die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes für Genitalverstümmelung
zu realisieren ist, und für den Fall, dass dies nicht geht,
welche Lösungen sich aus rechtspolitischer Sicht ergeben, um diese Forderung des Bundestages umzusetzen.
Eine Antwort bzw. den Gesetzentwurf erwarten wir in
Kürze.
Vor diesem Hintergrund lehnen wir es - zumindest
zum gegenwärtigen Zeitpunkt und wegen der noch ausstehenden rechtlichen Prüfung durch das Bundesjustizministerium - ab, die Genitalverstümmelung als Fall der
schweren Körperverletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Schnellschüsse verbieten sich angesichts der
Sensibilität dieses Themas.
Da uns als Union dieses Thema - vor allem auch im
Interesse der betroffenen Mädchen und Frauen - sehr
wichtig ist, drängen wir darauf, dass die noch offenen
rechtlichen Fragen zeitnah geklärt werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir hier schon in Kürze einen eigenen Gesetzentwurf auf den Weg bringen werden.
Der hier behandelte Gruppenantrag beschäftigt sich
mit einem sehr wichtigen und ernst zu nehmenden Thema.
Die Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung und eine schwere Diskriminierung der
Frau. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes
und der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes Menschenrechte für die Frau e.V.“ sind in Deutschland
etwa 30 000 Frauen und Mädchen von der Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht.
Richtig ist, dass der Eingriff weder mit Religion noch
mit Tradition zu rechtfertigen ist. Auf der Grundlage internationaler Verträge liegt auch unbestritten eine rechtsverbindliche Verpflichtung Deutschlands vor, aktiv gegen
die weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland vorzugehen.
Leider vermengt der Gruppenantrag von Dr. Konrad
Schily aber das Anliegen, die Genitalverstümmelung zu
bekämpfen und diesen Frauen und Mädchen zu helfen,
mit einer Reihe von Halbwahrheiten. Das ist schade.
So beschäftigt uns das Thema „Kampf gegen die Genitalverstümmelung“ hier im Bundestag schon seit Jahren. Es gab diverse Anträge von allen Fraktionen und
eine öffentliche Anhörung zu dem Thema. Wir als Koalitionsfraktionen haben schließlich am 26. Juni 2008 einen
sehr ausführlichen und dezidierten Antrag verabschiedet.
Dies zeigt, dass dieses Thema nicht neu von einigen Abgeordneten, unter anderem der FDP, aufgegriffen wurde.
Wir haben uns mit allen Aspekten, die der Gruppenantrag
aufwirft, bereits sehr ausgiebig und intensiv auseinandergesetzt. Fälschlicherweise erweckt der Gruppenantrag
den Eindruck, das Thema sei neu auf der Tagesordnung.
Über eine ausdrückliche Strafbewehrung als schwere
Körperverletzung haben wir immer wieder diskutiert. In
den Beratungen zu unserem Antrag haben wir uns aus guten Gründen gegen die Einführung eines ausdrücklichen
Straftatbestandes entschieden. Entgegen dem Gruppenantrag bestehen keine rechtlichen Unsicherheiten bei der
exakten strafrechtlichen Einordnung. Es gibt hier keine
Strafbarkeitslücke. Für Mädchen und Frauen, denen die
Genitalverstümmelung droht, gilt, dass Genitalverstümmelung bereits jetzt strafbar ist und in den meisten Fällen
auch als gefährliche oder schwere Körperverletzung geahndet werden kann. Selbst bei einer Einwilligung des
Mädchens oder der Frau zu dem Eingriff bleibt die Tat
strafbar, da sie nach unserem Strafrecht gegen die guten
Sitten verstößt. Die Schaffung eines Straftatbestandes
wäre daher ein rein symbolischer Akt.
Auch das Problem der Ferienbeschneidung ist strafrechtlich ausreichend erfasst. Das bestätigen die Antworten der Bundesregierung auf entsprechende Anfragen,
zum Beispiel in der Drucksache 14/6682 unter Frage 15.
Die Unterstützer eines solchen Eingriffs, beispielsweise
Verwandte, die in Deutschland leben, machen sich in diesem Fall als Beihelfer oder Mittäter schuldig.
In einer Strafrechtsänderung sehe ich zudem keine
Problemlösung. Sie würde keinesfalls die Wurzel des Problems beheben. Trotz der existierenden Strafbarkeit der
Genitalverstümmelung gibt es bei uns bislang keine einzige Verurteilung. Es liegt das Problem vielmehr in der
Nachweisbarkeit einer solchen Straftat. Denn es werden
derzeit leider solche Vorgänge von niemandem aus dem
Umfeld der Betroffenengruppe zur Anzeige gebracht.
Unser Anliegen bei der Verabschiedung des Koalitionsantrags war es immer, für die Prävention von Genitalverstümmelung gemeinsam mit den betroffenen Familien an einem Unrechtsbewusstsein für diese lebenslangen Verstümmelungen ihrer Kinder zu arbeiten. So haben
wir uns bereits mit unserem Koalitionsantrag für eine
verstärkte Öffentlichkeitsarbeit bei den entsprechenden
Migrantenorganisationen eingesetzt, die deutlich macht,
dass die Genitalverstümmelung mit unserem Strafrecht
geahndet wird und ein großes nicht wiedergutzumachendes Unrecht darstellt. Wir haben uns mit dem Koalitionsantrag für die Sensibilisierung von Polizei, Justiz, Lehrern und Ärzten eingesetzt, um für mehr Aufklärungs- und
Präventionsarbeit zu sorgen. In dieser Arbeit und entsprechenden Sensibilisierungskampagnen sehe ich den
einzigen Lösungsansatz für das Problem.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für viel wichtiger als eine Strafrechtsverschärfung
halte ich eine Änderung des Ausländerrechts in der Form,
dass es nicht zur Abschiebung der Eltern bzw. gefährdeten Mädchen im Fall einer Anzeige kommt. Bei Straftaten
in solchen Fällen kommt es auch deshalb nicht zur Anzeige, weil den Eltern mit ihren Kindern im Falle einer
Verurteilung die Ausweisung droht.
Wir haben außerdem mit dem Koalitionsantrag beschlossen, eine Verlängerung der Verjährungsfrist sicherzustellen, damit die Opfer ausreichend Zeit haben, solche
schrecklichen Verbrechen auch zur Anzeige zu bringen.
Hier besteht zutreffend Handlungsbedarf. Seitens des
Justizministeriums gibt es aber die Erklärung, dieses
auch zügig vorzubereiten.
Alle unsere Bemühungen und der Einsatz von Ärzten,
Lehrern und Polizisten sowie Justiz zeigen, dass die
Wahrnehmung von Herrn Dr. Schily, die Genitalverstümmelung würde in der deutschen Politik verharmlost, völlig falsch ist. Durch einen symbolischen Akt der Strafrechtsverschärfung kommen wir dem Problem keinesfalls
bei. Setzen wir uns deshalb dafür ein, dass wir gemeinsam
mit den Migrantenorganisationen und den betroffenen
Familien weiter an einem Unrechtsbewusstsein arbeiten,
damit diese Straftaten in Zukunft zur Anzeige kommen
und geahndet werden können.
Dieser Gruppenantrag hat eine lange Vorgeschichte.
Zuletzt haben wir uns im Juni letzten Jahres mit der Genitalverstümmelung befasst. Er ist das Ergebnis einer Anhörung vor dem Familienausschuss und langer innerund interfraktioneller und fachlicher Diskussionen. Ich
hoffe sehr, dass er einen guten Abschluss und eine klare
Mehrheit in diesem Hause finden wird. Alles andere wäre
ein Rückschlag für den Schutz der Menschenrechte in
Deutschland.
Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist, unabhängig davon, wo und warum dies geschieht, eine
schwere Verletzung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit von Frauen und Mädchen. Die genitale Verstümmelung von Frauen - international ist die Abkürzung
FGM für „female genital mutilation“ gebräuchlich - wird
seit der 4. UN-Weltkonferenz zu Frauen in Peking 1995
weltweit als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung
geächtet. Bereits 1977 hatte ein Artikel in der Zeitschrift
„Emma“ das Problem deutlich gemacht.
Die genitale Verstümmelung verletzt die Frauen nicht
nur an ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Es ist
eine frühe Traumatisierung; die sexuelle Erlebnisfähigkeit und partnerschaftliche Bindungsfähigkeit wird lebenslänglich und unwiderruflich beschädigt. Es ist eine
tiefe Verletzung ihrer Menschenwürde. Alle Formen der
Verstümmelung erhöhen die Sterblichkeit der Frauen und
die Komplikationen auch für die Kinder während der Geburt um 50 Prozent. Die genitale Verstümmelung stellt einen besonderen, nachhaltigen und menschenrechtswidrigen Auswuchs von Gewalt gegen Frauen dar. Weltweit
sind nach Schätzungen von UNICEF 140 Millionen
Frauen genital verstümmelt, zu denen 3 Millionen
Frauen und Mädchen jedes Jahr neu hinzukommen.
In Deutschland leben nach Schätzungen der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes rund 20 000 von
Genitalverstümmelung betroffene und 4 000 bis 5 000
von genitaler Verstümmelung bedrohte Mädchen und
Frauen. Genitalverstümmelung ist in Deutschland also
nicht etwas Exotisches, für deren Bekämpfung im Ausland etwas getan werden muss, sondern sie ist auch bei
uns existent. Um es klar zu sagen: Genitalverstümmelung
ist in Deutschland bereits strafbar; man wird es unter den
Straftatbestand der Körperverletzung subsumieren müssen. Jedoch unterliegt sie nach der bisherigen Rechtslage
der bis zu zehnjährigen Verjährung. Der Bundestag hat
mit Beschluss vom 26. Juni 2008 die Bundesregierung
aufgefordert, sicherzustellen, dass die Verjährung bis zur
Volljährigkeit der Betroffenen zu ruhen hat, also bis das
Opfer das 18. Lebensjahr erreicht hat. Wir begrüßen diesen Beschluss und nehmen das ureigene Recht des Parlaments wahr, diesen Beschluss Gesetz werden zu lassen.
Wir können ein Ruhen der Verjährung bis zum Erreichen der Volljährigkeit der Betroffenen nicht anders regeln, als im materiellen Strafrecht einen ausdrücklichen
Anknüpfungstatbestand zu schaffen, auf den sich § 78
StGB beziehen kann. Von meiner bisherigen Ablehnung
einer ausdrücklichen Strafbarkeit bin ich daher abgerückt.
Die Auslandsstrafbarkeit von im Inland lebenden Tätern oder Betroffenen soll sogenannte Ferienbeschneidungen ahnden und ein strafloses Ausweichen in die Herkunftsländer unmöglich machen.
Für die Aufnahme eines ausdrücklichen Straftatbestandes spricht darüber hinaus noch eine Vielzahl von anderen Gründen. Im Jahr 2001 forderte das Europäische
Parlament die Mitgliedstaaten auf, bei der Ausarbeitung
spezifischer Rechtsvorschriften zusammenzuarbeiten, um
FGM „im Namen der Rechte der Person auf Unversehrtheit, Gewissensfreiheit und Gesundheit zu unterbinden.“
Eine ausdrückliche Strafbarkeit erleichtert nach bisherigen Erfahrungen aus Frankreich auch die Strafverfolgung; dort haben seit 1983 36 Prozesse wegen Genitalverstümmelung stattgefunden.
Die ausdrückliche Strafbarkeit stärkt zudem den Dialog mit den Ländern, in denen Genitalverstümmelung
noch stattfindet. Sie stärkt die Glaubwürdigkeit deutscher
Entwicklungspolitik im Ausland. Die Migrantenorganisationen selbst fordern eine ausdrückliche Strafbarkeit,
um in ihren Kreisen besser die Strafbarkeit in Deutschland kommunizieren zu können.
Die eindeutige juristische Benennung wird auch die
Aufklärungsarbeit im Inland verbessern. Ärzte und
Ärztinnen, Juristen, Sozialarbeiter, Lehrer, Verwaltungsmitarbeiter, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von
Beratungsstellen, Jugendämtern, Ausländerbehörden,
Erzieher und all diejenigen, die mit betroffenen oder gefährdeten Mädchen und Frauen zu tun haben können, ist
der Zugang zu diesem Thema durch die ausdrückliche
Benennung im Strafgesetzbuch erleichtert. So wird auch
die gemeinhin geforderte Doppelstrategie von Strafverfolgung und Aufklärung umgesetzt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich bin sehr froh, dass die Wichtigkeit der ausdrücklichen strafrechtlichen Regelung auch von so vielen meiner Kolleginnen und Kollegen mitgetragen wird, ganz unabhängig von ihrer Partei- und Fraktionszugehörigkeit.
Ich bin sicher, dass sich noch mehr Kolleginnen und Kollegen anschließen werden.
Damit ist aber der Kampf gegen Genitalverstümmelung leider noch nicht am Ende. Notwendig sind Präventionsmaßnahen und Aufklärungsarbeit. Gleichzeitig ist
die Entwicklungshilfe für die Entwicklungsländer zu
überdenken, die noch nicht den Kampf gegen die Genitalverstümmelung aufgenommen haben, wie dies auch
Dr. Guido Westerwelle unlängst in einem „SPIEGEL“Interview vom 12. Mai 2009 gefordert hat. Der Beschluss
des Deutschen Bundestages vom 26. Juni 2008 ist auch in
sofern umzusetzen, als die interministerielle Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Nichtregierungsorganisationen noch nicht effizient arbeitet. Überdies ist es
fragwürdig, warum das BMZ hier die Federführung haben sollte, geht es doch überwiegend um die Koordinierung der Präventionsarbeit im Inland.
Dieser Gruppenantrag ist ein klares Bekenntnis zur
Wahrung der Menschenrechte. Er soll auch Grundlage
für präventive Arbeit gegen die traumatisierende Praxis
der Genitalverstümmelung sein, hier wie in der Welt.
Ich möchte mit dem Verbindenden beginnen. Die
grundsätzliche Position der Linken zur weiblichen Genitalverstümmelung ist eindeutig: Sie ist eine schwere Körperverletzung, die sowohl in der Bundesrepublik als auch
als Auslandsstraftat verfolgt werden muss. Das ist unstrittig. Sie ist weder mit Tradition, Kultur noch Glauben
zu rechtfertigen, sondern stellt eine schwere Menschenrechtsverletzung dar, unter deren physischen und psychischen Folgen die betroffenen Frauen ein Leben lang leiden. Da eine Genitalverstümmelung fast immer im
Kindesalter vorgenommen wird, ist auch das Ziel ausdrücklich unstrittig, den Beginn der Verjährungsfrist auf
das 18. Lebensjahr zu verschieben. Aber damit enden
auch schon die Übereinstimmungen zwischen den Positionen der Linken und dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Auch wenn wir eine ausdrückliche Aufnahme der Genitalverstümmelung als Straftatbestand wollen: Aus
unserer Sicht wäre es für die angestrebte Schließung
rechtlicher Schutzlücken eindeutiger, die Genitalverstümmelung als gesonderten Tatbestand bei den Tatbeständen
gegen die sexuelle Selbstbestimmung Schutzbefohlener
anzusiedeln, wie das ja auch zum Beispiel von Kollegin
Laurischk ausgedacht worden war. Das wäre dem angegriffenen Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung von
Frauen und Mädchen in seinen unterschiedlichen Formen auch angemessen. Es würde ehrlich beim Namen genannt, was mit Genitalverstümmelungen in Wirklichkeit
erreicht werden soll: Frauen dauerhaft der sexuellen
Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit zu
berauben.
Aber diese Diskussion zur rechtlichen Einordnung ist
nicht unser größtes Problem. Viel schwerer wiegen für
uns die aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen des vorliegenden Gesetzentwurfs. Als Gesetzgeber haben wir
selbstverständlich auch die Pflicht, die Folgen unserer
Regelungen für Opfer und Tatbeteiligte im Blick zu behalten. Im vorliegenden Fall bedeutet das, die Folgen einer
Verurteilung der Eltern wegen Beihilfe oder Anstiftung
zur Genitalverstümmelung zu bedenken. Die betroffenen
Familien werden nach einer solchen Verurteilung mit hoher Wahrscheinlichkeit abgeschoben, vermutlich sogar in
das Land der Tat - getrennt von ihren Töchtern oder mit
diesen gemeinsam. Beides ist kaum im Interesse des Kindeswohls. Deshalb fordern wir die Autorinnen und Autoren des Antrags erneut auf, den Gesetzentwurf so zu ändern, dass in § 56 Aufenthaltsgesetz eine Abschiebung
infolge einer Verurteilung wegen Genitalverstümmelung
ausgeschlossen wird. Sonst ist der Gesetzentwurf für uns
nicht zustimmungsfähig.
Sie werden sich sicher erinnern, dass meine Fraktion
vor zwei Jahren einen Antrag zur Genitalverstümmelung
eingebracht hat, der einen besonderen Schwerpunkt auf
Prävention und Hilfe für die Betroffenen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene gesetzt hat.
Leider wurde dieser Antrag damals von allen anderen
Fraktionen abgelehnt.
Es ist aus Sicht der Linken aber nach wie vor allzu kurz
gedacht, vor allem auf Abschreckung durch Strafe zu setzen. Aufklärung, Kooperation mit Organisationen, die
sich vor Ort gegen Genitalverstümmelung engagieren,
und die Schaffung einer zentralen Stelle zur Koordination
und Vernetzung der Initiativen gegen Genitalverstümmelung in der Bundesrepublik bleiben deshalb weiter wichtige Forderungen der Linken. Denn wo bestraft werden
muss, kommen wir für das Opfer ohnehin zu spät.
Es gehört zu einer ernsthaften Diskussion zu bedenken, dass die Maßnahmen gegen die Täterinnen die Zugänge zu den Gemeinschaften nicht versperren dürfen.
Wir brauchen ihre Unterstützung für ein wirksames
gemeinsames Handlungskonzept. Im vorliegenden Gesetzentwurf fehlt dieser Ansatz der Verhinderung von Genitalverstümmelungen durch Hilfe, Aufklärung und Beratung und der Hilfe für Betroffene vollständig.
Deshalb werden wir unsere Vorschläge in die kommenden Debatten im Ausschuss und die zweite und dritte Lesung im Plenum erneut einbringen, denn sie sind dringender denn je.
Die Grünen haben im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes 1999 durchgesetzt, dass drohende Genitalverstümmelung als eigenständiger Asylgrund anerkannt werden
kann. 1997 haben wir die Diskussion in der Öffentlichkeit
mit einer großen Fachanhörung im Bundestag überhaupt
erst in Gang gesetzt und mit einem gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen dafür gesorgt, dass das Thema im Parlament behandelt wurde. Vor über zwei Jahren haben wir
Grünen die Bundesregierung mit unserem Antrag „Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen“
dazu aufgefordert, endlich wirkungsvolle Maßnahmen
zum Schutz vor Genitalverstümmlung in Deutschland zu
ergreifen. Dieser wurde von der Großen Koalition abgeZu Protokoll gegebene Reden
lehnt. Doch wir haben nicht aufgegeben, parteiübergreifend über dieses Thema zu diskutieren und gemeinsames
Handeln voranzubringen.
Genitalverstümmlung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. Sie hinterlässt lebenslange irreparable
körperliche und seelische Schädigungen bei den Mädchen und jungen Frauen. Es handelt sich hierbei auch um
ein deutsches Problem. Durch Migration und Flucht leben heute immer mehr Frauen in Europa, die in ihren
Herkunftsländern beschnitten wurden. Und es gibt Eltern, die auch hier glauben, diese grausame Praxis sei für
ihre Töchter unbedingt notwendig. In Deutschland leben
nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Terre
des Femmes mindestens 20 000 von Genitalverstümmlung betroffene Frauen sowie 4 000 bis 5 000 Mädchen,
die davon bedroht sind. Die erlittenen Verletzungen sind
niemals revidierbar. Weder Religion noch Tradition können diesen Eingriff rechtfertigen.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf fordern wir eine
ausdrückliche Aufnahme der grausamen Praktik in den
Straftatbestand der schweren Körperverletzung. Auch die
Mehrzahl der Sachverständigen in der Ausschussanhörung sah dies als notwendig an. Ich möchte hierfür eindringlich werben. Eine ausdrückliche Aufnahme als einfache Körperverletzung würde den schrecklichen Folgen
der Verletzung nicht gerecht werden. Als eine einfache
Körperverletzung ist Genitalverstümmelung ohnehin anzusehen. Es kann aber nicht angehen, dass der Verlust
eines wichtigen Körpergliedes oder der Fortpflanzungsfähigkeit eine schwere Körperverletzung darstellen, aber
eine teilweise oder vollständige Amputation eines weiblichen Geschlechtsorgans „nicht so schlimm“ sein soll.
Hier müssen wir konsequent sein. Mit der Gesetzesänderung wird Rechtsklarheit und Transparenz bei allen Beteiligten wie medizinischem und juristischem Fachpersonal, Lehrerinnen und Lehrern und Eltern hergestellt. Für
die Betroffenen wird eine rechtliche Schutzlücke in aktuellen Gefährdungslagen endlich geschlossen.
Die meisten Betroffenen sind zum Zeitpunkt der Beschneidung minderjährig, und der Weg bis zu einer Strafanzeige wegen des innerfamiliären Konflikts ist schwierig
und langwierig. Daher wollen wir, dass die Verjährungsfrist erst mit dem 18. Lebensjahr der Mädchen einsetzt.
Dies ist bereits bei der gesetzlichen Regelung des sexuellen Missbrauchs so vorgesehen.
Aufgrund der hohen Anzahl „Ferienbeschneidungen“
im Ausland - ich nenne das nur in Anführungszeichen,
denn die Bezeichnung beschönigt die Brutalität solcher
Vorgänge - muss darüber hinaus die Genitalverstümmlung in den Katalog der Auslandsstraftaten im StGB aufgenommen werden. Somit kann sichergestellt werden,
dass eine Genitalverstümmelung während eines vorübergehenden Aufenthalts im Ausland trotzdem dem deutschen Strafrecht unterliegt.
Mehrfach habe ich dazu aufgefordert, bei dem Thema
Genitalverstümmlung parteiübergreifend zu arbeiten.
Nach den vielen Gesprächen und Verhandlungsrunden
liegt nun ein Gruppengesetzentwurf vor, mit dem Genitalverstümmlung ausdrücklich ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden soll. Dies wäre ein klares Signal an Ärzte
und Ärztinnen, Eltern und Opfer: Eine solche Menschenrechtsverletzung wird von unserem Staat nicht geduldet.
Es ist endlich an der Zeit, bei dem Thema Genitalverstümmlung nicht länger auf die Zustände in anderen Ländern zu verweisen, sondern vor Ort tätig zu werden. Der
Staat hat die Pflicht, gefährdete Mädchen und Frauen vor
Genitalverstümmlung zu schützen. Im Übrigen fordert
uns auch das Europäische Parlament dazu auf. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag hierzu
und soll ein klares Zeichen setzen. Es gibt noch viele Vorbehalte. Ich stehe weiter bereit, die Zweifler in Gesprächen zu überzeugen. Eine Ablehnung wäre ein denkbar
schlechtes Signal. Ich fordere Sie auf: Unterstützen Sie
den Gesetzentwurf!
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12910 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den restlichen Abend.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. Mai 2009, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.