Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/14/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt für die heutige Plenarsitzung eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kompetenzstreit der Bundesregierung bei der Sicherung des Schiffsverkehrs vor Somalia ({0}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Christian Ahrendt, Daniel Bahr ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Anti-Rezessionsprogramm auflegen - Drucksache 16/10867 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Energieforschung neu ausrichten - Deutschland, Energieland der Zukunft - Drucksache 16/10329 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Nachteile für den Forschungsstandort Deutschland aufheben - Für ein innovationsfreundliches Steuersystem - Drucksache 16/12474 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Punkte-Systematik des Verkehrszentralregis- ters in Flensburg einfacher und verständlicher gestalten - Drucksache 16/12993 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Situation von Frauenhäusern verbessern - Drucksache 16/12992 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erinnerungsprojekt „Zug der Erinnerung“ unterstützen - Drucksache 16/12991 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({8}) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Marieluise Beck ({10}), Volker Beck ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Landrechte stärken - „land grabbing“ in Entwicklungsländern verhindern - Drucksachen 16/12735, 16/13023 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolf Bauer Dr. Sascha Raabe Dr. Karl Addicks Dr. Norman Paech Thilo Hoppe ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sozialisierung der Verluste verhindern - Sicherungsfonds für privaten Finanzsektor schaffen - Drucksachen 16/8888, 16/10610 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Axel Troost ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbesserung des Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen - Drucksachen 16/11185, 16/12354 Berichterstattung: Abgeordnete Ortwin Runde Dr. Barbara Höll Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnung 17 wird abgesetzt. Nach den Ohne-Debatte-Punkten sollen jetzt die Tagesordnungspunkte 20 und 22 aufgerufen werden. Der Tagesordnungspunkt 24 wird nach dem Tagesordnungspunkt 19 aufgerufen und der Tagesordnungspunkt 18 nach dem Tagesordnungspunkt 21. Außerdem rücken die Tagesordnungspunkte 26, 28, 30 und 32 jeweils um einen Platz vor. Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 205. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({14}) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorständen - Drucksache 16/10120 überwiesen: Rechtsausschuss ({15}) Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Der in der 217. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss ({16}) zur Mitberatung und gemäß § 96 GO überwiesen werden. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 16/12596 überwiesen: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({17}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Vereinbarte Debatte 60 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart. Präsident Dr. Norbert Lammert Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/CSUFraktion. ({18})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein neues geschichtliches Standardwerk beschreibt in diesen Tagen 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland als eine geglückte Demokratie. Wer hätte nach unserer Geschichte, nach der Schoah, nach der furchtbaren, verbrecherischen Diktatur des Dritten Reiches, nach dem von Deutschland verursachten Zweiten Weltkrieg, der ganz Europa in Schutt und Asche gelegt hat - mit Millionen Toten -, jemals daran gedacht, dass wir wieder geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft und des europäischen Integrationsprozesses werden würden? Und die Deutschen selbst? Nach Jahrzehnten von Selbstzweifeln - sagt uns die Meinungsforschung - blicken sie zufrieden auf die vergangenen 60 Jahre. Ja, sie sind stolz auf das Erreichte. Sie nehmen für sich zu Recht in Anspruch, dass sie, die Bürgerinnen und Bürger, den entscheidenden Anteil daran hatten. Und sie formulieren völlig unverkrampft: Wir Deutsche sind stolz auf unser Vaterland. ({0}) Aber ein abschließendes Urteil über eine glückliche Entwicklung der vergangenen 60 Jahre, der ersten 60 Jahre der Bundesrepublik Deutschland, war erst möglich mit der deutschen Einheit. Mit der deutschen Einheit wurde die Teilung unseres Vaterlandes überwunden, und der Prozess der europäischen Einigung machte einen gewaltigen Schritt voran. Für uns waren Einheit in Freiheit und gemeinsames Europa immer zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dass dies heute erreicht ist, macht uns froh und glücklich. ({1}) Einen beachtlichen Anteil an dieser erfolgreichen Entwicklung der ersten 60 Jahre hatte unser Grundgesetz. Die 65 Männer und Frauen des Parlamentarischen Rates unter Führung von Konrad Adenauer, 32 davon aus der Union, hatten alle ihre eigene persönliche Erfahrung aus der Weimarer Republik und mit der Diktatur des Dritten Reiches. Sie haben etwas erlebt, was wir uns gar nicht vorstellen können: Sie haben erlebt, wie sich in dieser Diktatur Menschen über Menschen erhoben haben. Sie haben erlebt, wie in dieser Diktatur menschliches Leben zu unwertem Leben verurteilt und ermordet wurde. Ja, zusammenfassend kann man sagen: Sie haben erlebt, wie in dieser Diktatur die Menschenwürde mit Füßen getreten wurde. Deshalb war es aus dieser Erfahrung heraus nur konsequent, dass vom Parlamentarischen Rat als Eingangsstatement, als Leitsatz für die neue Verfassung geschrieben wurde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das war die Erfahrung aus dieser furchtbaren Zeit. Aber zur gleichen Zeit war im Parlamentarischen Rat ebenso präsent, dass die Verfassung die Menschenwürde nicht schafft, nicht neu erfindet, sondern dass die Menschenwürde vor der Verfassung, vor jedem menschlichen Recht steht. Deshalb wurde in der Präambel des Grundgesetzes folgerichtig formuliert, in Verantwortung vor Gott werde das Folgende als Verfassung niedergelegt. Zur gleichen Zeit kam eine weitere Erfahrung hinzu, die wir uns auch in unserer politischen Arbeit immer wieder vor Augen führen sollten - bei allem, was nun geregelt und gemacht wird -, nämlich die Erfahrung - wie Dietrich Bonhoeffer einmal schön formuliert hat -, hier auf dieser Welt würden nur die vorletzten, nicht die letzten Dinge geregelt. Aus dieser Erkenntnis heraus konnte auch die Kraft zur Beschränkung formuliert werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben diesem zentralen Wert, neben dieser zentralen Aussage zur Menschenwürde, sind die ersten 19 bzw. 20 Artikel des Grundgesetzes jedoch von einem weiteren zentralen Wert geprägt, der ebenfalls aus der Erfahrung unserer Geschichte begründet ist, dem der Freiheit. In wesentlichen Artikeln des Grundgesetzes wurde die Freiheit des Einzelnen formuliert - die Religionsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit -, und resultierend aus Menschenwürde und Freiheit wurde dann in Art. 2 der Schutz des Lebens formuliert. Dies alles ergibt ein Wertesystem, das von einem Menschenbild des mündigen und selbstständigen Bürgers ausgeht. ({2}) Menschenwürde und Schutz des Lebens gehören untrennbar zusammen. Deswegen bin ich froh, dass wir gestern hier im Deutschen Bundestag eine bemerkenswerte Entscheidung zum Schutz des Lebens bei den Spätabtreibungen getroffen haben. ({3}) Die Freiheit des Einzelnen ist immer begrenzt - dies geht klar aus dem System des Grundgesetzes hervor; so steht es nämlich in einigen Artikeln - durch die Freiheit des anderen, durch die Würde des anderen. Insofern zielt der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes auf verantwortete Freiheit. Er verlangt immer wieder aufs Neue, die Freiheit zu verteidigen sowie sich zu wehren und da zu widersprechen, wo Freiheit in Gefahr ist. Aber es ist gerade nicht durch den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes gedeckt, Polizisten mit Steinen zu bewerfen und Autos anzuzünden. Das entspricht nicht dem Begriff verantwortungsbewusster Freiheit, wie er im Grundgesetz formuliert ist. ({4}) Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren sich aber auch der Gefährdungen der Verfassung bewusst. Auch die Weimarer Republik hat Bürgerrechte, hat Freiheiten formuliert, aber es konnte durch die Verfassung und den Verfassungsvollzug nicht verhindert werden, dass diese Freiheit von den Feinden der Verfassung und von den Feinden der Freiheit missbraucht wurde. Deshalb wurde im Grundgesetz ein ausgefeiltes, wesentlich robusteres System gegenseitiger Kontrollen und Machtbegrenzungen formuliert. Entscheidend aber ist die Bestimmung im Grundgesetz, dass Parteien zwar an der Willensbildung in unserer Demokratie mitwirken, dass aber Parteien verboten werden können, wenn sie unsere demokratische Rechtsordnung verbiegen oder abschaffen wollen. All das wird unter dem Begriff der wehrhaften Demokratie zusammengefasst. Unsere Demokratie ist nicht wehrlos gegen ihre Feinde, sondern ist eine wehrhafte Demokratie. Ich sage deshalb auch ganz klar: Für mich ist die NPD eine verfassungswidrige Partei, die unser System überwinden bzw. abschaffen will. ({5}) Aber ({6}) die oberste Tugend ist die Klugheit. Das Bundesverfassungsgericht hat uns klar vorgeschrieben, wann und unter welchen Voraussetzungen ein Verbotsantrag zum Erfolg führen kann. Ich kann nur sagen: Ich fordere die Landesregierungen und die Bundesregierung auf, intensiv zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, dann sind wir sofort dafür, einen Verbotsantrag zu stellen und zum Erfolg zu führen. Aber ein zweites Mal einen Verbotsantrag zu stellen und wiederum keinen Erfolg zu haben, würde die wehrhafte Demokratie nicht stärken. Die Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um zum Erfolg zu kommen. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe davon gesprochen, dass die Verfassung das robuste System einer repräsentativen Demokratie geschaffen hat, um Macht zu kontrollieren und Macht auszubalancieren. Ein Beweis dafür ist auch die Schaffung des Bundesverfassungsgerichts. Nicht die Legislative, nicht die Exekutive entscheiden abschließend über das, was verfassungsgemäß ist oder nicht, sondern das Bundesverfassungsgericht. Die hohe Akzeptanz der Verfassung hängt auch damit zusammen, dass unser Grundgesetz Bürgerrechte und Abwehrrechte gegenüber dem Staat, aber auch Teilhaberechte gegenüber dem Staat als direkte Rechtsansprüche formuliert hat, die letztlich vor dem Bundesverfassungsgericht einklagbar sind. Die hohe Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts mit seinen Entscheidungen in den letzten 60 Jahren beruht ganz maßgeblich auf seiner beispielhaften Rechtsprechung zu unseren Grundrechten, ({8}) einer konkreten Ausformulierung des Rechtsanspruchs des Bürgers gegenüber Eingriffsmöglichkeiten des Staates. Ich wünsche mir, dass diese hohe Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts, die es sich durch seine Rechtsprechung erworben hat, auch in Zukunft erhalten bleibt. Sie bleibt aber nur durch die Rechtsprechung und weniger durch viele Interviews und Einmischung in tagesaktuelle Politik erhalten. ({9}) Das Grundgesetz appelliert mit seinen Grundrechten und vor allem mit seinen Freiheitsrechten aber auch an den Gesetzgeber, die Freiheit des Einzelnen zu achten und zu schützen. Deshalb müssen wir uns, die wir Gesetze machen, immer dessen bewusst sein, dass eine Abwägung zwischen staatlicher Regulierung, staatlicher Gängelung und Bewahrung der Freiheitsrechte erforderlich ist. Nirgendwo wird dieses Problem so eklatant und deutlich wie bei einer zentralen Aufgabe des demokratischen Rechtsstaats, nämlich Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Die Bundesrepublik Deutschland ist als Sozialstaat, als Rechtsstaat ausgestaltet. Die sozialen Rechte sind von elementarer, existenzieller Bedeutung. Aber diese ganzen Rechte sind dann nicht lebbar, wenn der Staat nicht die Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger gewährleistet. Da bringen neue Herausforderungen neue Fragen. Nicht umsonst machen wir es uns hier im Deutschen Bundestag so schwer, darüber zu entscheiden, wo der Staat intensiv hinschauen und hinhören muss, um Unheil und Terrorismus abzuwenden, und wo er freiheitliche Bürgerrechte nicht verletzen darf. Dies ist nicht pauschal in einer einzigen Sentenz zu klären, sondern jedes Mal, in jedem Einzelfall muss im Lichte dieser Abwägung darum gerungen werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Freiheit zu sichern, geschieht nicht mehr ausschließlich in unserem Land, in Deutschland. Die Freiheit ist von Außen gefährdet, nicht mehr im Sinne des Kalten Krieges, als wir in erster Linie Landesverteidigung ausgeübt haben, sondern, wie der damalige Verteidigungsminister Peter Struck gesagt hat, auch am Hindukusch. Deshalb ist im Grundgesetz folgerichtig - unter Annahme dieser neuen Herausforderung - formuliert, unter welchen Bedingungen die Bundeswehr eingesetzt werden kann, um Freiheit für unser Land und die Menschen dieses Landes zu erreichen. Auch da ist wieder deutlich geworden, dass der Verfassungsgeber der Neuzeit ganz konsequent das fortgeschrieben hat, was bei den Gründungsvätern und Gründungsmüttern angelegt war, nämlich den Vorbehalt des Parlaments. Wir haben im Grundgesetz einen starken Parlamentarismus angelegt, stärker als in vielen anderen Ländern Europas. Das mag bei der Umsetzung manchmal etwas hinderlich und beschwerlich sein. Aber es zeigt eine ausbalancierte Kontrolle und Begrenzung von Macht. Darüber hinaus macht es deutlich, was das Grundgesetz in dieser repräsentativen Demokratie verVolker Kauder langt, nämlich ein hohes Maß an Transparenz. Was hier im Deutschen Bundestag beraten, diskutiert und entschieden wird, ist aufgrund der Medien, die über unsere Arbeit berichten, transparent. Das Grundgesetz hat aber auch deshalb eine so erfolgreiche Geschichte, weil es puristisch ist. Wer das Grundgesetz liest, ist elektrisiert von den wie in Stein gemeißelten Sätzen: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ - Diese klare Sprache ist für jeden nachvollziehbar und verständlich. Nur in sehr wenigen Fällen hat das Grundgesetz unbestimmte Zielaufträge formuliert. Das Grundgesetz hat sich ganz bewusst aus tagesaktuellen Zielbestimmungen herausgehalten. In der Verfassungsgeschichte wurde häufig die Frage gestellt: Was hätte es in der Zeit des schwierigen Wiederaufbaus, der Trümmerfrauen in West und Ost, bedeutet, wenn wir Staatsziele über das hinaus, was 1949 im Grundgesetz festgeschrieben wurde, beschlossen hätten? Indem das Grundgesetz dies nicht getan hat, hat es einen Beitrag geleistet zu dem, was der Verfassungsrechtler Konrad Hesse einmal formuliert hat: In einer Demokratie, die sich auch durch Meinungsstreit auszeichnet und in der der Wettbewerb um die besseren Ideen zum Parlamentarismus gehört, muss eine Verfassung, muss ein Grundgesetz Voraussetzungen für Einheit schaffen. Dies hat das Grundgesetz mit seinen puristischen Formulierungen getan. Deswegen sind wir sicher gut beraten, wenn wir diesen Purismus im Grundgesetz auch für die Zukunft bewahren. ({10}) Das Grundgesetz hat, ganz im Kontext der parlamentarischen Demokratie, einen offenen politischen Prozess, einen Wettbewerb um die besseren Ideen ermöglicht, den es mit seinen Wertentscheidungen aber prägt. Ein Beispiel, das gerade in der aktuellen Diskussion von großer Bedeutung ist: Das Grundgesetz formuliert keine Wirtschaftsverfassung, keine Wirtschaftsordnung. Es gibt aber hierzu einige wesentliche, existenzielle Aussagen in diesem Grundgesetz. Da ist zum einen die Aussage des Grundgesetzes, dass die Bundesrepublik ein sozialer Staat ist. Daraus entsteht die Verpflichtung, für sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft zu sorgen und für diejenigen da zu sein, die es schwerer haben und, zumindest zeitweise, ihr Leben nicht aus eigener Kraft gestalten können. Zu den existenziellen Aussagen gehören zum anderen aber auch jene zu Erbrecht, Eigentum und Berufsfreiheit. Aus diesen Eckpfeilern ergibt sich für uns heute fast folgerichtig das Modell der sozialen Marktwirtschaft, das in dieser Verfassung zwar nicht festgeschrieben, aber doch angelegt ist. Es gab damals einen heftigen Streit um die soziale Marktwirtschaft, und es waren nicht nur Sozialdemokraten, die an mehr staatliche Ordnung dachten. ({11}) - Ich hoffe, Sie sind auch heute nicht die Einzigen. Vielmehr wurde auch in unserer Union um eine Antwort auf die Frage gerungen, ob die freiheitlich-soziale Marktwirtschaft das richtige Modell ist oder nicht. Aber mit Ludwig Erhard hatte die Union einen Vertreter, der auf den richtigen Kurs geführt hat. Bei allen aktuellen Problemen ist eines deutlich: Die soziale Marktwirtschaft hat unserem Land zu Wohlstand verholfen, und sie wird uns auch wieder aus dieser Krise herausführen. ({12}) Im Grundgesetz wurde eine dritte elementare Festlegung getroffen. Es wurde in einer Zeit erarbeitet, als Deutschland geteilt war und von der Einheit noch meilenweit entfernt schien. Dieses Grundgesetz hat sich an alle Deutschen gerichtet, und es hat vor allem die deutsche Politik mit dem Auftrag versehen, die Wiedervereinigung immer als Ziel zu haben. Wir haben das Ziel der Wiedervereinigung nie aufgegeben. Wir haben immer daran festgehalten, dass es nur eine deutsche Staatsbürgerschaft gibt - nicht eine westdeutsche und eine ostdeutsche. Dies war unsere Umsetzung des Wiedervereinigungsgebots. Weil wir an der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten haben - dies haben alle Kanzler der Union getan -, konnten die Menschen aus der Botschaft in Prag und aus Ungarn als Deutsche ohne Probleme nach Deutschland einreisen. ({13}) Wir wurden von manchen als Gestrige bezeichnet, weil wir aufgrund unserer Überzeugung mit Hartnäckigkeit an der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten haben. Aber Wiedervereinigungsgebot und das Festhalten an der deutschen Staatsbürgerschaft hätten nicht zum Ziel geführt, wenn nicht die Menschen in Ostdeutschland selber diese Entwicklung erfolgreich herbeigeführt hätten. ({14}) Das Grundgesetz mit seinen klaren Aussagen und wir mit unserer Position mögen die Menschen in Ostdeutschland ermutigt haben. Aber der Mut, auf die Straße zu gehen und ein persönliches Risiko einzugehen - 1989 zum zweiten Mal nach dem 17. Juni 1953 -, nötigt mir unglaublichen Respekt und Dankbarkeit ab. ({15}) Ich komme noch einmal auf meine Eingangssätze zurück. Ausschließlich wegen des Ereignisses, das sich in diesem Jahr zum neunzehnten Mal jährt, können wir von 60 Jahren geglückter Demokratie und glücklicher geschichtlicher Entwicklung in unserem Land sprechen. Gerade deshalb haben die Menschen in den neuen Bun24316 desländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR einen so unschätzbar großen Anteil an unserer gemeinsamen Erfolgsgeschichte. ({16}) Ich höre heute wie damals die Rufe auf der Straße: „Wir sind das Volk!“ Mit diesem Ruf „Wir sind das Volk!“ haben die Menschen in der ehemaligen DDR das ausformuliert und gesagt, was in unserer Verfassung steht, nämlich dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Sehr bald - das muss man sich heute immer wieder vor Augen führen, wenn man über bestimmte Entwicklungen spricht - wurde aus dem Ruf „Wir sind das Volk!“ der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Mancher wollte das damals nicht hören. Mancher wollte die deutsche Einheit so nicht verwirklicht sehen. Mancher von denen, die hier sitzen, hatte keine Emotionen und kein Herz für das, was die Menschen damals in ihren Rufen ausgedrückt haben. ({17}) Diejenigen, die ich meine, sollten jetzt lieber ruhig sein, um mich nicht noch mehr herauszufordern. ({18}) Umso dankbarer sind wir dafür, dass damals die richtigen Weichen gestellt und die richtigen Entscheidungen getroffen wurden. Umso dankbarer sind wir für das, was Helmut Kohl in dieser Zeit geleistet hat. Er ist deshalb zu Recht der Kanzler der Einheit. ({19}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Grundgesetz, die Verfassung unseres Landes, ist, so schreibt das Bundesverfassungsgericht in zwei denkwürdigen Entscheidungen, weltanschaulich neutral, aber es ist nicht werteneutral. Deshalb ist unsere Verfassung geradezu dazu prädestiniert, in unserem Land Integration zu ermöglichen. Sie ist weltanschaulich neutral und kulturell offen, aber nicht werteneutral. Mit dieser Aussage stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Grundgesetz für unsere Gesellschaft einen Wertekanon festlegt, an den sich jeder zu halten hat. Das wird auch an einer weiteren bemerkenswerten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich schon sehr früh formuliert: Die Grundrechte als zentrale Wertentscheidungen gelten nicht nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat, sondern sie entfalten auch eine Drittwirkung in unser gesamtes gesellschaftliches Leben, vor allem natürlich dort, wo sich Starke gegen Schwächere durchsetzen könnten. Die Drittwirkungsfunktion der Grundrechte hat selbst in das liberale Bürgerliche Gesetzbuch Eingang gefunden. Es ist für uns selbstverständlich geworden, dass Grundrechte nicht nur im staatlichen Bereich eine Rolle spielen, sondern dass diese Wertentscheidungen auch unser gesamtes gesellschaftliches und privates Leben prägen. Weil das so ist, gelten die Wertentscheidungen des Grundgesetzes für jeden, der in diesem Land leben will. Wenn wir wollen, dass die Wertentscheidungen des Grundgesetzes auch in Zukunft Bestand haben und - um noch einmal meinen Verfassungslehrer Konrad Hesse zu zitieren - zur Bildung von Einheit in unserer Gesellschaft beitragen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass es in unserem Land Parallelgesellschaften und grundwertefreie Zonen gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({20}) Diesem Verfassungsgebot ist natürlich auch die Integrationspolitik unterworfen. Ich bin dafür dankbar, dass sich Menschen, die in diesem Land leben und hier zusätzlich zu ihrer alten Heimat im Herzen eine neue Heimat gefunden haben, nach genauer Prüfung bereit erklären, als Abschluss eines gelungenen Integrationsprozesses die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Frau Bundeskanzlerin, für den Einbürgerungsakt, der in dieser Woche stattgefunden hat und durch den die Würde dessen, was hier geschieht, in besonderer Weise betont wurde, bin ich dankbar. ({21}) Heute sitzen einige Bürgerinnen und Bürger, die in den vergangenen Tagen Deutsche geworden sind, auf der Tribüne. Ich sage Ihnen: Sie alle, jede und jeder von Ihnen, sind herzlich willkommen. ({22}) Wir freuen uns, dass Sie in unserem Land leben. ({23}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 60 Jahre einer Erfolgsgeschichte, 60 Jahre, auf die die Deutschen zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit Recht stolz sind und mit denen sie zufrieden sind. Wir alle haben in diesen 60 Jahren miteinander etwas erreicht: eine moderne, geachtete Demokratie, Voraussetzungen für den Wohlstand, auch jetzt in schwieriger Zeit. Wir alle haben dies erreicht, die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Einsatz, der Deutsche Bundestag und die Regierungen mit ihrer Arbeit. Es ist nicht immer einfach in einer repräsentativen Demokratie. Wir haben da nicht die Möglichkeit, uns vor Entscheidungen zu drücken und zu sagen, das soll eben mal das Volk entscheiden. Damals hat man sich mit klarer Mehrheit aus SPD-Vertretern, aus CDU/CSU und FDP für diese repräsentative Demokratie entschieden, weil der Impetus des Grundgesetzes heißt, Einheit zu schaffen. Auch dies ist eine Besonderheit unseres Systems: immer darum zu ringen und sich zu bemühen, in wichtigen, zentralen Fragen unserer Gesellschaft - wie gestern im Deutschen Bundestag beim Lebensschutz nicht bloß mit Ja oder Nein zu stimmen, sondern KomVolker Kauder promisse zu finden. Diese Kompromisse zu finden, ist Wesenselement der repräsentativen Demokratie, die wir uns deshalb auch so erhalten sollten, weil sie erfolgreich war. ({24}) Diese 60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre Demokratie sind für uns kein Anlass, einfach zufrieden zurückzublicken und uns auszuruhen, sondern sie sind für uns Ansporn weiterzumachen. Aber lassen Sie es mich etwas leicht pathetisch formulieren: Sie sind für uns auch Kraftquelle aus den gemachten Erfahrungen, dass wir mit den Grundlagen, die das Grundgesetz geschaffen hat, auch schwierige Aufgaben mit Mut und Zuversicht bewältigen können. Genau dies ist jetzt in der konkreten Situation von uns auch gefordert, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben in 60 Jahren etwas errungen, was wir uns für die Zukunft bewahren müssen und sollten: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf die Frage nach der entscheidenden Bedeutung des Grundgesetzes hat Theodor Heuss einmal geantwortet, dass sie für ihn in der Versöhnung der deutschen politischen Eliten mit den parlamentarischen Systemen des Westens liege. Ganz ähnlich hat sich im Übrigen nach meiner Erinnerung auch Carlo Schmid eingelassen - so, als wäre das ein Schlusskapitel in dem Buch des großen Historikers Heinrich August Winkler „Der lange Weg nach Westen“. Theodor Heuss hat das aus tiefer Erfahrung aus der Weimarer Republik und ihrem Scheitern gesagt, in der eine Gesellschaft weder willens noch in der Lage war, eine Reichsverfassung zu verteidigen, und schließlich diesem totalitären Angebot unterlag, das Ralf Dahrendorf so prägnant beschrieben hat: auf der Seite der Nazis mit Bindung und Führung und auf der Seite der Stalinisten - so drückte er sich aus - mit Bindung und Hoffnung. Die Gesellschaft hat das totalitäre Potenzial überhaupt nicht erkannt und ist am Ende trotz einer freiheitlichen Verfassung gescheitert. Das, was mit dem Grundgesetz nach dem einmaligen deutschen Abweichen vom Pfad jeglicher Zivilisation versucht worden ist, war im Kern der Versuch einer notwendigen neuen Selbstvergewisserung, die man dokumentieren musste und mit der man erneut um Anerkennung in der Welt nachgesucht hat, dieses Mal endlich zivil und human und nicht totalitär und imperial. Das ist im Kern die Bedeutung dieses Werkes. ({0}) Das war eine gute Lösung. Das Grundgesetz ist die beste Visitenkarte nach innen und nach außen. Es gibt keine bessere. Das Grundgesetz gibt uns die nötige - der Kollege Kauder hat das gesagt - kraftspendende Identität, wenn wir sie annehmen wollen. Es erwartet den Bürger und nicht den bequemen Untertan. Im Grundgesetz sind die unveräußerlichen Rechte niedergelegt, die wir seit Immanuel Kant unter dem Begriff der Menschenwürde kennen. Es hat eine freiheitliche Gesellschaft grundgelegt, die Joachim Fest als eine Gesellschaft beschreibt, die sich auf Voraussetzungen gründen muss, die manchmal gegen die menschliche Natur sind, wenn sie frei bleiben will. Das Grundgesetz - das gilt für jede Verfassung - muss auch Mechanismen enthalten, die eine Gesellschaft zügeln. Dass eine Mehrheit nicht alles darf und alles kann, gehört zu den Voraussetzungen, die im Grundgesetz normiert sind. ({1}) Deshalb weiß das Grundgesetz bei allen Freiheitsrechten auch, dass mit Freiheit sorgfältig umgegangen werden muss. Sie kann nicht zügellos genutzt werden, und das muss eine Gesellschaft begreifen. In diesen Punkten liegt, so schreibt der leider schon verstorbene Joachim Fest, das eigentümliche Pathos einer freiheitlichen Ordnung. Das Grundgesetz hat ein Gespür dafür, dass Demokratie zerbrechlich ist und dass Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf. ({2}) Es sichert nach den Katastrophen in unserer Geschichte eine Art zivilisatorischer Bestände und sagt uns: Ihr dürft sie nicht dem Amüsierbetrieb freigeben. ({3}) Das ist eine wichtige Aufforderung, die sich an alle politischen Gruppierungen richtet. Das Grundgesetz hat sich ohne jeden Zweifel bewährt. Es hat sich durchgesetzt, und zwar auch - auch das sage ich an dieser Stelle - durch die kluge und überzeugende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das der Parlamentarische Rat zu Recht an die Spitze der dritten Gewalt gesetzt hat. ({4}) Wir sollten immer sehen, dass neben dem Grundgesetz die dritte Gewalt in Gestalt des Bundesverfassungsge24318 richts in der politischen Geschichte unseres Landes Maßstäbe gesetzt hat. Das Grundgesetz hat nahezu vorausschauend für all das, was sich später ereignet hat, eine kluge Grundlage gegeben: Es hat uns eine Verfassung für die notwendige Integration in Europa gegeben; es hat uns eine Verfassung für die Zusammenarbeit im Transatlantischen Bündnis, für den Eintritt in die NATO, gegeben; es hat uns eine Verfassung für die Verträge mit den ost- und mittelosteuropäischen Nachbarn der Bundesrepublik Deutschland gegeben, und es war auch gegen den Versuch der Überdehnung der Freiheit im Namen der Freiheit gewappnet, die in einem bestimmten Abschnitt unser Land heimgesucht hat; wir wissen alle, wovon ich spreche. Das Grundgesetz war weitsichtig und hat den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands immer offen gehalten. Der Brief Walter Scheels zum Moskauer Vertrag, der diese Option nach langen Verhandlungen, auch mit Egon Bahr, ausdrücklich zum Gegenstand des Vertragswerks machte, hat gezeigt, dass das nicht nur ein Lippenbekenntnis war. Das Grundgesetz war immer eine Einladung an 18 Millionen Deutsche. Es war immer eine ausgestreckte Hand. Diese 18 Millionen können stolz darauf sein, dass sie durch eigene Aktivität die Mauer vom Osten aus eingedrückt haben, um diese ausgestreckte Hand zu ergreifen. Schon deshalb sage ich: Das Grundgesetz ist niemandem übergestülpt worden. Es war eine Hoffnung für Millionen in der Geschichte unseres Landes. ({5}) Als der bedeutende Historiker Fritz Stern in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam und sich in einer Dankesrede äußerte, hat er einen ganz einfachen Satz gesagt. Er berichtete von Schwierigkeiten aus seiner persönlichen Biografie, aufgrund derer er sich mit Deutschland erst spät versöhnt hatte. Er sagte ganz einfach: Ein bisschen mehr Freude über das Erreichte täte uns gut. - Mehr ist dazu gar nicht zu sagen. ({6}) Es gibt Verfassungen, die mehr soziale Grundrechte niedergelegt haben, manche im besten Willen, manche aber auch in bewusster Verachtung der bürgerlichen Freiheitsrechte. Die Verfassungen, die im besten Willen soziale Grundrechte niedergelegt haben, sind irgendwann in schwierige Situationen gekommen, weil Staaten - bei allem guten Willen - nie mehr für die Menschen tun können, als die Menschen für sich selbst tun könnten und sollten. Manche Staaten haben versucht, soziale Grundrechte in einer Art und Weise zu verwirklichen, durch die persönliche Freiheitsrechte nahezu zerstört und erdrückt wurden. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es ist und bleibt Unrecht - und es muss auch so genannt werden dürfen -, wenn man sich im Namen von Gerechtigkeit und Solidarität derart zum Herren über das Schicksal von Menschen macht, wie es das politische System der DDR getan hat. ({7}) Es tut fast körperlich weh, wenn man hört, mit welchen Argumenten in der letzten Zeit die Grenzen zwischen Freiheit und Unfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland durch Diskussionsteilnehmer verwischt worden sind. Es mag der jeweiligen politischen Bewertung überlassen bleiben, zu entscheiden, ob an dem einen oder anderen Punkt im Lauf der Geschichte Ergänzungen des Grundgesetzes notwendig bleiben und ob sie notwendig waren. Allerdings gilt es, ein Erfordernis an alle Wünsche des Hinzufügens zu stellen: Sie sollten sich am Maßstab der Schlichtheit und Klarheit des Grundgesetzes orientieren. ({8}) Deshalb scheint mir das durchaus diskussionswürdige Vorhaben der Schuldenbremse jedenfalls stilistisch noch kein Gesamtkunstwerk zu sein, das sich nahtlos einpassen wird. ({9}) Mit Renaissance und Humanismus haben sich in einem Teil der Welt freiheitliche Lebensweisen und freiheitliche Verfassungen durchgesetzt. Aber moderne Setzungen, so sagt Udo Di Fabio, der Bundesverfassungsrichter, sind auch gefährdet. Es ist wahr: Unser Menschen- und Weltbild ist kulturell und religiös womöglich voraussetzungsreicher, als wir rationalen Menschen es uns selbst immer versichern. Es gibt alte Gegengewichte zum Neuen - das stellen wir fest -, die wir in ihrer Heftigkeit nach dem Zusammenbruch der alten bipolaren Weltordnung so gar nicht erwartet hatten. Sie sind aber da. Es gibt Menschen, die mit solch einer Gewissheit ihre Positionen vertreten, dass diejenigen, die ihnen die Wahrheit sagen wollen, so sagt ein altes chinesisches Sprichwort, ein schnelles Pferd brauchen. Die freie Entfaltung von Menschen braucht einen Staat, der Frieden und Sicherheit, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, all diese unersetzlichen Voraussetzungen für menschliches Zusammenleben sichern muss. Sicherheit und soziale Sicherheit sind die Voraussetzungen für Teilhabe an der Freiheit. Unser Grundgesetz macht uns gegen Feinde der Freiheit nicht wehrlos. Vertretern einer konfrontativen Weltsicht müssen wir noch längst nicht die Bühne überlassen, in welchen Kostümen sie auch daherkommen. ({10}) Eines gilt aber: Ein Rechtsstaat wird niemals in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern seine eigene ethische Überlegenheit aufs Spiel setzen dürfen. Das war der Fehler, den die Führungsmacht Vereinigte Staaten von Nordamerika im politischen Programm des Westens gemacht hat und der ihrem Ansehen weltweit geschadet hat. Wir haben ein massives Interesse, dass der 44. amerikanische Präsident die Chance ergreift, dieses Programm zu ändern, weil wir als Westen nicht eine Art politische Geografie sein wollen, sondern der Welt eine Art politisches Programm anbieten und beispielgebend sein wollen. ({11}) Es gibt keinen besseren Satz als den, den die Harvard Law School ihren Graduierten in die Diplome schreibt: „to think of law as wise restraint that makes man free.“ Es geht um die Selbstdisziplinierung - nicht mehr und nicht weniger - freiheitlicher Gesellschaften. Unser weltanschaulich neutraler Staat - Herr Kollege Kauder hat das angesprochen - schützt sich selbst vor Überhöhung durch eine Religion und schützt die Religionen im wohlverstandenen Interesse durch eigene Überhöhung vor Übernahme des Staates. Er ist in seiner weltanschaulichen Neutralität niemals Gegner von religiösen Bekenntnissen. Er ist auf viele religiöse Aktivitäten - nehmen wir die Kirchen - in der Gesellschaft angewiesen. Er hat aber das legitime Recht, die Authentizität religiöser Bekenntnisse auf ihre Übereinstimmung mit Menschenrechten zu hinterfragen, an die er auch selbst gebunden ist. ({12}) Ich sage das deshalb, weil man in unserer Gesellschaft manchmal eine irritierende Unsicherheit spürt, wie man damit umgeht. Es ist für uns völlig klar, dass niemand hinter einem religiösen Bekenntnis mit Anspruch auf eine Authentizität die Verletzung von Menschenrechten verstecken kann. ({13}) Es muss klar sein, dass Menschenrechte nicht umgangen werden dürfen. Der frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus hat das mit Blick auf die eigene Kirchengeschichte selbstkritisch festgestellt: Wir sollten nicht überheblich sein. Auch die katholische Kirche habe im Grunde bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gebraucht, bis sie das begriffen hätte, so sagt er. Deshalb müssten wir etwas Geduld mit anderen haben. Er hat einen Satz geprägt, der fantastisch genau die Sachlage beschreibt: Religionen sollen Gott verehren, aber sie sollen nicht selbst Gott spielen. - Mehr ist dazu überhaupt nicht zu sagen. ({14}) Wenn eine Gesellschaft sich selbst nicht mag, dann kann sie niemanden integrieren. Deshalb sind ein normales Selbstbewusstsein und ein Stolzsein auf das, was in der Bundesrepublik Deutschland erreicht worden ist, richtig. Wir müssen immer wissen, wie viel Verbindlichkeiten wir uns leisten können, zu verlieren, und wie viel Gemeinsamkeiten wir immer neu schaffen müssen. Deshalb ist die Verfassung auf eine reife Mentalität der Gesellschaft angewiesen. Wenn die Verfassung nur geschrieben wäre und wir uns nicht danach richten würden, bekämen wir Probleme. Ich komme zum Schluss. In einer Zeit, in der mehr als eine Generation den Nationalsozialismus gar nicht mehr erlebt hat und die den Stalinismus nur aus Geschichtsbüchern kennt, müssen wir immer wieder an die nächste Generation weitergeben, wo die Kernpunkte, der Kompass einer freiheitlichen Gesellschaft liegen. Manche machen Europa zu einer nebensächlichen Angelegenheit. Sie wissen gar nicht mehr, warum diese europäische Politik entstanden ist. Für viele ist sie zu kompliziert. Das ist verständlich. Die ältere Generation hat zwei Hyperinflationen erlebt. Der Abschied von der D-Mark war schon eine gewaltige Anstrengung, die niemand unterschätzen sollte. Kritik und Einwände sollten eines berücksichtigen - ich sage das mit Blick auf die Wahl, die vor uns steht, ohne parteipolitisch zu werden -: In keinem Abschnitt der deutschen Geschichte hat es eine solche Leistung des Poolens von Souveränität, des Verzichtens auf nationale Souveränität in manchen Bereichen gegeben, um nicht wieder einen Rückfall in alte imperative Politiken, in Politik gegeneinander, zu bekommen. Wir haben jetzt 60 Jahre des Friedens, eine unglaublich lange Periode, wie sie in den letzten zwei Jahrhunderten kaum eine Generation in Deutschland erlebt hat. Selbst wenn Europa nicht mehr gebracht hätte als das, müsste man sagen: Schon das hätte gereicht. ({15}) Die Zusammenarbeit in Europa ist nicht mehr eine reine Option, sie ist eine unmittelbare und zwingende Notwendigkeit, es gibt zu ihr keine Alternative. Wir sollten jedenfalls dabeibleiben, mit Kooperation und Integration als Charakterzüge unserer Verfassung und auch als Charakterzüge der deutschen Außenpolitik. Das Grundgesetz bleibt, was es war und ist: ein Kompass für die Zukunft einer freiheitlichen Gesellschaft. Es liegt an uns, diesen Kompass zu nutzen. Wir, die Freien Demokraten, wollen das tun. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Dr. Däubler-Gmelin ist nächste Rednerin für die SPD. ({0})

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind uns, glaube ich, bewusst, dass die heutige Debatte keine unserer normalen, tagespolitischen Debatten ist. Das haben schon die Reden meiner Vorredner gezeigt. Ich möchte hinzufügen, dass der Rückblick auf 60 Jahre Grundgesetz und auf 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland - was ja eine lange Zeit ist - für unsere Kinder und Enkel einen Blick in die Geschichte bedeutet, für die Angehörigen meiner Generation aber einen Blick auf unser ganzes Leben. Das beeinflusst natürlich das, was wir heraussuchen und hier herausstellen, so auch meine Rede. Ich bin im Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland in die Schule gekommen. Ich erinnere mich noch genau an das sehnlichst erwartete Carepaket, dem ich eine Schiefertafel und eine Tafel Schokolade - was mir immer in Erinnerung bleiben wird - verdanke, und auch an die Schulspeisung. Und ich habe noch gut in Erinnerung, wie das damals war, wenn eine ausgebombte Mutter mit vier Kindern in die Wohnung anderer Leute eingewiesen wurde, und was es bedeutete, die Kinder sattzumachen, wenn der Vater nicht da war, gefallen oder, wie meiner, in Gefangenschaft war. Seit dieser Zeit - lassen Sie mich das sagen - habe ich unglaublichen Respekt vor der Leistung der Generation meiner Mutter. Die Frauen haben ja nicht nur als Trümmerfrauen gearbeitet, sie haben auch die Familie zusammengehalten und damit die Grundlage für den Wiederaufbau, übrigens in ganz Deutschland, gelegt. ({0}) In der Schule haben wir dann vieles über die Eckpfeiler der neuen Gesellschaftsordnung, des neuen Staates gelernt. Wir haben gelernt - der Kollege Kauder hat es ausgeführt -, was Demokratie ist, was Rechtsstaatlichkeit ist, warum Menschenrechte so wichtig sind und warum es so wichtig ist, dass alle staatliche Gewalt, ohne Lücke, an sie gebunden ist. Ich hatte, in Tübingen aufgewachsen, das Glück, relativ frühzeitig Persönlichkeiten kennenzulernen, die natürlich unser Denken und unser Leben geprägt haben. Da war Carlo Schmid, der so viele Beiträge zu unserem Grundgesetz geleistet hat, und da war Theodor Heuss, der nie müde wurde, es zu leben und es zu erläutern, und der durch seine Sprache - auch er sprach Schwäbisch mit deutschem Akzent ({1}) zusätzlich Identifikation geschaffen hat. In jener Zeit traf man aber nicht nur solche Persönlichkeiten, man traf auch viele, die in der neuen Zeit noch nicht angekommen waren. Das will ich an einem Beispiel deutlich machen: Ich habe mich schon immer dafür interessiert, was das Auswärtige Amt so tut. ({2}) Als ich anfing, zu studieren, ging ich deshalb in eine Vorlesung, in der ein damals schon ältlicher Vortragender Legationsrat Erster Klasse die Tätigkeiten und die Berufsmöglichkeiten im Auswärtigen Amt vorstellte. Selbstverständlich habe ich hinterher gefragt, wie das eigentlich mit den Chancen für Frauen sei, und bekam die Antwort: Frauen nehmen wir nicht, sie gehören da nicht hin. Werden Sie lieber Erzieherin! ({3}) Da war sie wieder: die alte Rolle. Sie können sich vorstellen, wie „gut“ mir das gefallen hat, übrigens nicht nur, weil ich fand, dass der Mann in der neuen Zeit noch nicht angekommen war, sondern schlichtweg auch deshalb, weil mich auch diese Missachtung der Erziehungsleistung unheimlich geärgert hat. ({4}) Geärgert hat mich auch, dass die Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die ja wirklich erkämpft werden musste - auch im Parlamentarischen Rat - und bitter erkämpft wurde, ganz offensichtlich völlig an ihm vorbeigegangen war. Elisabeth Selber und ihre Mitstreiterinnen wollten eben nicht mehr die alte, unverbindliche Formulierung der Weimarer Reichsverfassung, und sie setzten sich damit schließlich durch, obwohl sie nur vier Frauen waren, weil eben die Frauen aus der Generation meiner Mutter damals trotz ihrer Belastung gesagt haben: „Das wollen wir jetzt endlich einmal wissen, und gleiche Rechte wollen wir haben“, und das mit massenhaften Postkartenaktionen auch durchsetzten. ({5}) Mich persönlich hat das natürlich eher angespornt; das ist völlig richtig. Ich glaube, hier ist das Wort, das Wolfgang Gerhardt mit völligem Recht gesagt hat: „Freude über das Erreichte“, wirklich angebracht. Wir können sehen, dass Frauen heute weitgehend den Platz haben, der ihnen zukommt, auch wenn dort noch eine Menge zu tun ist. ({6}) Die Gewöhnung an die Werte und Maßstäbe des Grundgesetzes hat insgesamt aber schon noch ein bisschen länger gedauert. Ende der 60er-Jahre war ich zur Ausbildung beim Oberlandesgericht, und ich musste dort natürlich Revisionsfälle bearbeiten. Dafür zog ich die Maßstäbe und Grundwerte des Grundgesetzes heran. Was hörte ich von meinem Ausbilder? - Mir wurde gesagt: Lassen wir doch dieses neumodische Zeug, wir halten uns lieber an das bewährte BGB. Wenn man sich anschaut, wie die Gerichtsurteile in den 50er- und 60er-Jahren manchmal aussahen, dann geht einem heute der Hut hoch. Ich will nur an Folgendes erinnern: Da passte Eltern der Umgang ihrer Tochter mit einem Jungen nicht; sie bestraften die Tochter mit Essensentzug; sie banden sie ans Bett und an einen Stuhl fest; sie schnitten ihr die Haare so unregelmäßig kurz, dass es sie entstellte. Und zu alledem sagte der BGH: Das sei vom elterlichen Züchtigungsrecht umfasst. Warum war das so? Das Gericht sagte: Mit 16 Jahren sei man der Strafe der Eltern unterworfen, und wenn man entgegen dem Willen der Eltern mit einem Jungen Kontakt pflegen wolle, dann sei man sittlich verdorben. Dieses Züchtigungsrecht gibt es heute nicht mehr, sondern heute gibt es die elterliche Verantwortung. Die Stellung der Kinder hat sich grundlegend verändert, und ich denke, wir sollten das auch durch Kinderrechte im Grundgesetz dokumentieren. ({7}) Lassen Sie mich auch an den schrecklichen § 175 StGB erinnern, der damals für verfassungsgemäß gehalten wurde. Dieser Paragraf war eine Quelle von Ungerechtigkeit, von Diskriminierung, von menschlichem Leid und von ständiger Erpressbarkeit. Gott sei Dank haben wir auch den abgeschafft. Auch deswegen können wir Freude über das Erreichte empfinden. ({8}) Schauen Sie sich auch einmal an, in wie vielen Gerichtsprozessen gerade in den 50er-Jahren Nazitäter geschont und Opfer zum zweiten Male diskriminiert wurden. Auch das gehört in die Kette der Erinnerung, die wir bewahren müssen, um Gefahren zu erkennen, die jetzt nicht drohen, die aber auch nie wieder drohen dürfen. ({9}) Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den skandalösen Umgang mit den Mördern von Dietrich Bonhoeffer. ({10}) Eindrucksvolle Persönlichkeiten wie Richard Schmid oder auch der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatten es schwer. Die Rebellion in diesem Bereich begann eigentlich erst so richtig, als es das Kammergericht Berlin Mitte der 60er-Jahre übertrieben hatte und auch noch Freislers Volksgerichtshof den Charakter eines demokratischen, rechtsstaatlichen, unabhängigen Gerichtes zubilligen wollte. Das war dann wirklich zu viel. Damals kam es zur Kritik durch die Öffentlichkeit und auch zu den Demonstrationen. Allerdings wissen wir auch, dass der Bundesgerichtshof bis ins Jahr 1995 brauchte, um das „folgenschwere Versagen“, wie er es nannte, der bundesdeutschen Strafjustiz bei der Auseinandersetzung mit der NS-Justiz zu kritisieren. Dann allerdings hat er das mit klaren und eindrucksvollen Worten getan, wenn auch möglicherweise von manchem Leser der bittere Unterton bemerkt wird, dass er das aus Anlass der Verurteilung eines DDR-Richters getan hat. ({11}) Das war korrekt, aber die Entscheidung zur Nazi-Justiz war spektakulär und bemerkenswert. Liebe Kollegen, heute wissen wir alle, dass das Grundgesetz anerkannt ist, wir teilen die Einschätzung Gustav Heinemanns, dass das Inkrafttreten des Grundgesetzes eine Sternstunde der Geschichte oder auch, wie andere es nennen, ein Glücksfall war. Dies wurde aber nicht immer so gesehen: Was Ernst Friedländer am 19. Mai 1949 in der Zeit geschrieben hat, macht deutlich, unter welch unglaublich beißender Kritik das Grundgesetz 1949 in Kraft gesetzt wurde. Er zitierte nicht nur die Kritik von „Grundgesetz gleich Schundgesetz“, vom Parlamentarischen Rat als einer Versammlung von Langweilern, das Grundgesetz sei langatmig, und der Mann auf der Straße habe andere Sorgen, sondern auch von Kautschukbegriffen - von wegen Schlichtheit und Klarheit -, und es wurde der Vorwurf erhoben, das Grundgesetz sei „keine Kreation schöpferischer Fantasie“. Die Verfassungsexperten seien sowieso nicht die Repräsentanten der Bevölkerung gewesen. In der Sache selber hat man auch die Unabänderlichkeit der Grundsatzentscheidung für die Menschenrechte und den Staatscharakter kritisiert, weil die Mehrheit ganz bewusst nicht daran rütteln können sollte. Friedländers Folgerung war: „Papier ist geduldig“, aber auch: Geben wir dem Grundgesetz und denen, die es anwenden müssen, eine Chance zur Bewährung! Diese Bewährung hat bis heute stattgefunden, auch wenn viele das am Anfang noch nicht erkannt haben. Das gilt für das Grundgesetz, aber auch für die Bewährung durch die Ausfüllenden und Handelnden. Zehn Jahre später - ich habe die Festveranstaltung 1959 vor Augen - gab es immer noch große Zweifel. Damals hat Bundeskanzler Adenauer es geradezu entschuldigt, dass es Mängel gebe, und so das Grundgesetz verteidigt. Ich will Ihnen zusätzlich ein Zitat des damaligen Festredners Jahrreiß nicht vorenthalten. Er stellte fest, der Parlamentarische Rat sei „von seinem eigentlichen Auftrag abgewichen“. Er habe sich nämlich davon „gelöst, ein bloßes Organisationsstatut zu schaffen“, und „wie in einem Rausch“ sei er „darüber hinausgegangen, um sich dann doch vor der größeren, der weiteren Aufgabe des Vollverfassungsgebens als zu schwach zu erweisen“. Das ist ein bisschen kompliziert ausgedrückt, aber eindeutig ein Verriss. ({12}) Was hat sich bis 1969 geändert, dem Jahr, ab dem dann das Grundgesetz als Sternstunde und Glücksfall bezeichnet wurde? Ich glaube, dass wir nicht vergessen dürfen, dass in den 60er-Jahren ein erheblicher und signifikanter Aufbruch stattgefunden hat. ({13}) Das mag manchem heute nicht passen. Mancher mag die Verirrungen und Verbrechen sehen wollen, die einige begangen haben. Mancher mag nur sehen, was es an Illusionen oder Fehleinschätzungen gegeben hat. Richtig ist aber, dass in den 60er-Jahren durch eine neue, in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erzogene Generation ein Aufbruch angestoßen wurde, dass es einen Aufbruch in der Gesellschaftsordnung gegeben hat und dass man die Maßstäbe des Grundgesetzes sehr viel ernster nahm. ({14}) Mich, die ich damals auch demonstrierte, hat damals Gustav Heinemann unglaublich beeindruckt, mit einem Bild, das er damals gezeichnet hat. Es war die Zeit der Osterunruhen 1968. Sie erinnern sich sicherlich: Martin Luther King war umgebracht worden, und auf Dutschke war geschossen worden. Es gab gewalttätige Krawalle und Zerstörungen in Berlin, die selbstverständlich heftig kritisiert wurden, zum Teil auch sehr einseitig. Gustav Heinemann hat gegenüber denjenigen, die kritisiert haben, ein Bild geprägt, das aber gleichzeitig auch an die Demonstrierenden gerichtet war. Er hat gesagt, wer in allgemeinen Vorwürfen „mit dem Zeigefinger auf den oder die vermeintlich verantwortlichen Anstifter oder auch politisch Verantwortlichen“ zeige, der solle bedenken, dass „dabei drei Finger seiner Hand auf ihn selber“ zeigten. Ich glaube, besser kann man nicht ausdrücken, was im neuen Grundgesetz mit Demokratie gemeint war. ({15}) Dazu gehört immer die Verantwortlichkeit der Handelnden. Dazu gehört aber genauso die Verantwortlichkeit derjenigen, die mitgestalten sollen, die wählen. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht nur zuschauen und hinterher maulen, sondern müssen sich engagieren und einbringen. Nicht umsonst hat Gustav Heinemann immer davon gesprochen, dass unser „Grundgesetz ein großes Angebot“ für Meinungsfreiheit sowie unterschiedliche Auffassungen und Religionen - das wurde hier schon dargelegt; das ist völlig richtig - darstellt. Er hat auch darauf hingewiesen, dass der einzelne Bürger und die einzelne Bürgerin Instrumente in der Hand haben, die sie befähigen, eigene Rechte durch Demonstrationen und Partizipation in Parteien, aber auch durch Petitionen und auf juristisch-gerichtlichem Weg durchzusetzen. Über die segensreiche Rolle des Bundesverfassungsgerichts ist heute schon gesprochen worden. Wenn man das fortführt, Herr Gerhardt, und schaut, wie viele gute Ideen und Maßstäbe des Grundgesetzes durch Verfassungsbeschwerden der Bürger entstanden sind und in unsere Lebenswirklichkeit eingebracht wurden, dann zeigt dies die unglaublich wichtige Bedeutung des Instruments der Verfassungsbeschwerde. Beispiele hierfür reichen von der Stellung der Frau über die Stellung der Kinder bis in die jüngste Zeit, in der es um Fragen betreffend den Persönlichkeitsschutz und den Datenschutz geht. ({16}) Das dokumentiert aber auch: Im Grundgesetz wird politische Macht als Vollmacht, wie wir Juristen das ausdrücken, verstanden, und zwar als inhaltlich und zeitlich gebundene Macht. Das Grundgesetz meint eben nicht politische Macht, die Bürgerinnen und Bürger gegenüber „denen da oben“ ohnmächtig werden lässt, mit dem Empfinden: Wir können sowieso nichts machen. Das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Feststellung, die wir in Zukunft besonders berücksichtigen müssen. Neben der Partizipation ist es die Machtbegrenzung, die als Element unserer Verfassung und damit unserer Gesellschaftsordnung für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft und unserer Rechtsordnung ganz besonders wichtig ist. ({17}) Lassen Sie mich mit Blick auf das, was von Herrn Gerhardt schon angesprochen wurde und mir unter einem etwas anderen Blickwinkel besonders wichtig zu sein scheint, schließen. Eine der wirklich genialen Grundentscheidungen von 1949 war - diese Entscheidung hat sich nicht nur bewährt, sondern muss auch Maßstäbe für die Zukunft setzen; es war eine großartige Leistung -, die Gesellschaftsordnung und die Politik, aber auch die Rechtsordnung der neuen Bundesrepublik Deutschland in die der zivilisierten Völkergemeinschaft einzuordnen. Das war in der Tat eine richtig gute, eine unglaublich wichtige Grundentscheidung; dazu gehört auch das Verbot des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges; ich hoffe, dass Deutschland helfen kann, die Antiaggressionskonvention im Rahmen des Internationalen Strafgerichtshofs durchzusetzen. ({18}) Wichtig ist die Entscheidung, dass internationales Recht auch unser Recht ist und dass internationales Recht und internationale Gerichtsbarkeit sowohl in Europa als auch beim Internationalen Strafgerichtshof nicht nur für andere, sondern auch für uns gelten. Internationales Recht darf nie nur Recht für andere sein, genauso wenig wie die internationale Gerichtsbarkeit. Für diesen Gedanken müssen wir bei Freunden werben; denn erst mit einer solchen Einordnung, einer wertegebundenen Macht, der Einhaltung der Menschenrechte und vor allen Dingen mit der Förderung von Partizipation lässt sich eine menschenwürdige Gesellschaft erreichen. Etwas weniger vollmundig ausgedrückt: So können wir einer menschenwürdigen Gesellschaft einen Schritt näherkommen, die wir auch auf globaler Ebene wollen. Da müssen wir hin. Da wollen wir hin. ({19}) Ernst Bloch, dessen Vorlesungen ich in Tübingen besuchen konnte und der lange in der damaligen DDR gewirkt hat, bevor er gehen musste, hat einmal gesagt: Erinnerung taugt eigentlich nur, wenn wir uns gleichzeitig daran erinnern, was noch zu tun ist. - Ich glaube, das ist völlig richtig. ({20}) Sie werden es mir nachsehen, dass ich mit sehr viel kürzeren, aber das Gleiche ausdrückende Wort von Herbert Wehner ende, der meinte, nein, er hat es eigentlich geknurrt: „Nicht nur Gedenken, sondern Gedanken“ sind auch gefragt. Herzlichen Dank. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich eine Parlamentarierdelegation aus Gabun unter Vorsitz des Vizepräsidenten Daniel Ona Ondo auf unserer Ehrentribüne begrüßen, die sich auf Einladung der deutsch-afrikanischen Parlamentariergruppe hier in der Bundesrepublik aufhält. ({0}) Wir freuen uns über Ihren Besuch, und wir freuen uns ganz besonders, dass Sie an dieser Debatte im Deutschen Bundestag heute teilnehmen. Herzlich willkommen! Das Wort hat nun der Kollege Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke. ({1})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 vom Parlamentarischen Rat zur Grundlage des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Westdeutschland gemacht. Nach der untergegangenen Weimarer Republik und der Nazibarbarei hat es in seinem Geltungsbereich Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat und parlamentarische Demokratie begründet. In Ostdeutschland ist das Vorhaben, nach dem Zweiten Weltkrieg eine sozialistische Demokratie zu errichten, gescheitert, weil, so der mittlerweile verstorbene Politiker der PDS Michael Benjamin - ich erwähne ihn bewusst wegen seines Namens -, die DDR keine Demokratie und kein Rechtsstaat war und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine Mitbestimmung hatten. An dem 60. Geburtstag des Grundgesetzes ist die Versuchung groß, mit Stolz auf das Erreichte zurückzublicken und es dabei zu belassen. Da wir aber das Grundgesetz als ständige Aufgabe begreifen, Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat und Demokratie zu verwirklichen, wollen wir heute einen kritischen Blick auf die Gegenwart werfen und unsere Hoffnung für die Zukunft formulieren. Es fällt auf, dass es Demokratien gibt, die keine geschriebene Verfassung kennen. Das bekannteste Beispiel ist Großbritannien. Dort gibt es folglich auch keinen Verfassungsschutz, und das Wort „Verfassungsfeind“ ist dort ebenso wenig Bestandteil der politischen Alltagssprache wie in den Vereinigten Staaten. Offensichtlich haben die angelsächsischen Länder eine andere Verfassungstradition. Dazu gehört auch das Hinterfragen der eigenen Verfassung. So schrieb 1913 in den USA der renommierte Historiker Charles Beard ein aufsehenerregendes Buch. Darin kam er zu dem Ergebnis, dass die amerikanische Verfassung die ökonomischen Interessen derer widerspiegelt, die sie geschrieben hatten. Ob es einen Verfassungstext gibt oder nicht, in jedem Falle braucht eine Gesellschaft eine allgemein anerkannte Wertorientierung, die das Fundament des täglichen Lebens ist. Diese Wertorientierung ist auch Grundlage der jeweiligen Verfassung der Staaten der Welt. Wie aber ist es zu erklären, dass Beard zu dem Schluss kommt, die Verfassung der Vereinigten Staaten spiegele die persönlichen ökonomischen Interessen ihrer Schöpfer wider? Eine Antwort finden wir bereits bei Goethe, ebenso wie bei Marx und Engels. In seinem Faust sagt Goethe: Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln. Marx und Engels schreiben in der Deutschen Ideologie: Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, das heißt, die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. ({0}) Unsere Sprache formt unsere Wahrnehmung. Wie schwer es ist, der überlieferten Begriffswelt zu entkommen, beschrieben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung. Ich zitiere: Es gehört zum heillosen Zustand, dass auch der ehrlichste Reformer, der in abgegriffener Sprache die Neuerung empfiehlt, durch Übernahme des eingeschliffenen Kategorieapparates und der dahinter stehenden schlechten Philosophie die Macht des Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte. In unsere Zeit übersetzt heißt das: Der Reformer des Finanzmarktes verstärkt die Macht der Spekulanten, wenn er sich ihrer abgegriffenen Sprache und ihrer Begriffe bedient. ({1}) Das Problem aller Verfassungstexte ist, dass die dort verwandten Begriffe nicht definiert sind. Ich nehme beispielhaft aus Zeitgründen den Begriff des Eigentums in seinem Spannungsverhältnis zu Freiheit und Demokratie. Was ist eigentlich Eigentum? Im Grundgesetz finden wir auf diese Frage keine konkrete Antwort. Aber in § 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches steht: Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache … ({2}) Würden wir diese Bestimmungen ernst nehmen, dann müssten wir unsere Wirtschaftsordnung vom Grunde her neu gestalten. ({3}) Niemand hat so wie der Aufklärer Rousseau die Bedeutung des Eigentums für die bürgerliche Gesellschaft hervorgehoben: Derjenige, der als Erster ein Stück Erde mit einem Zaun umgab und es als Eigentum bezeichnete und Leute fand, die ihm das glaubten, war der Begründer der bürgerlichen Ordnung. Er hat unzählige Kriege und den Tod von Millionen Menschen auf dem Gewissen. Er hat gegen elementares Menschenrecht verstoßen: Der Boden gehört niemandem, die Früchte allen. ({4}) Rousseau hat keinen Zweifel daran gelassen, wie dem abzuhelfen sei: Die Menschenrechte müssen ergänzt werden durch einschränkende Bestimmungen über das Eigentum; sonst sind sie nur für die Reichen da, für die Schieber und Börsenwucherer. Klingt dieser Satz nicht erstaunlich aktuell? ({5}) Nun gibt es im Geltungsbereich unseres Grundgesetzes Eingriffe in das Eigentum. Ich denke an Steuern, Enteignungen zum Zwecke des Ausbaus der Infrastruktur oder auch an Subventionen. Aber warum wird die Vermögensverteilung immer ungerechter? Ist es deshalb, weil das Eigentum in unserer Gesellschaft in vielen Fällen nicht dem zugesprochen wird, dem es von Rechts wegen eigentlich zustünde? Die dem § 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches zugrunde liegende Auffassung vom Eigentum ist keineswegs neu. Schon Wilhelm von Humboldt schrieb: Nun aber hält der Mensch das nie so sehr für sein, was er besitzt, als was er tut, und der Arbeiter, welcher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem wahreren Sinne Eigentümer als der müßige Schwelger, der ihn genießt. ({6}) Abraham Lincoln sagte schon 1847: Die meisten schönen Dinge sind durch Arbeit entstanden, woraus von Rechts wegen folgen sollte, dass diese Dinge jenen gehören, die sie hergestellt haben. Aber es hat sich zu allen Zeiten so ergeben, dass die einen gearbeitet haben, und die anderen, ohne zu arbeiten, genossen den größten Teil der Früchte. Das ist falsch und sollte nicht fortgesetzt werden. ({7}) In allen Gesellschaften wurde die ungleiche Eigentumsverteilung zum Problem, insbesondere wenn sie von jüdisch-christlichen Ideen geprägt waren. Vor Gott sind alle Menschen gleich, und das muss sich auf das Zusammenleben der Menschen auswirken. Darum - so können wir schon im Alten Testament nachlesen - erfand Israel das Sabbatjahr. Nach einer Anzahl von Jahren mussten in Israel den Schuldnern die Schulden erlassen werden, und die Verteilung des Ackerlandes wurde neu verlost, um wieder Gleichstand herzustellen. Danach konnte der Wettbewerb der Menschen von Neuem beginnen. Aber nach einigen Jahren erhielt der Verarmte zurück, was er an den Reichen verloren hatte. Dieses Beispiel zeigt, dass es einen tiefen Grund gibt, die Werte Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit als Einheit aufzufassen. ({8}) Solange unsere Wirtschaftsordnung systemimmanent zu wachsender Ungleichheit führt, wird es Freiheit und Brüderlichkeit nicht geben und letztendlich auch keinen Frieden. ({9}) Das Privateigentum gilt in bürgerlichen Gesellschaften als Garant einer freien Gesellschaft und persönlicher Freiheit. Nur das Privateigentum führe zu wirtschaftlichem Fortschritt, wecke die Eigeninitiative, stärke die Selbstverantwortung und gewährleiste die persönliche Entfaltung. Doch nach wie vor hat diese Art von Selbstverantwortung einen Schönheitsfehler: Sie gilt nur für wenige und wird der Mehrheit nicht zugebilligt. In einer Gesellschaft, in der die übergroße Mehrheit kein Vermögen und keine Produktionsmittel besitzt, lassen sich die Privilegien einer besitzenden Minderheit durch das Argument, sie wirkten persönlichkeitsbildend und garantierten die Freiheit, nicht als gesellschaftlich nützlich legitimieren. ({10}) In der frühen liberalen Gesellschaftstheorie ergab diese Eigentumsauffassung noch einen Sinn. Das private, weder durch obrigkeitsstaatliche noch durch traditionelle oder religiöse Vorschriften beschränkte Eigentum war ein Instrument des wirtschaftlichen Fortschritts, ein Ferment der Auflösung der feudalen Ordnung und der Herstellung der staatsbürgerlichen politischen Freiheit. Für die Väter des Liberalismus war das Privateigentum wegen dieser für die ganze Gesellschaft nützlichen Konsequenz legitim. Aber heute sind derartige Legitimationskriterien fragwürdig und von der Geschichte außer Kraft gesetzt worden. Wäre das wirtschaftliche Privateigentum auch dann der Garant einer freien Persönlichkeit in einer freien Gesellschaft, wenn es nicht breit gestreut ist, dann hätte es das nationalsozialistische Deutschland nicht gegeben. ({11}) Ein Teil der deutschen Großindustriellen verhalf Hitler zur Macht, um seine aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln herrührenden Privilegien durch den Nazistaat abzusichern. In Deutschland bildete also das ungleich verteilte Privateigentum zu jener Zeit auch die Grundlage für die Zerstörung der gesellschaftlichen Freiheit. ({12}) Ähnliches ließ und lässt sich weltweit in vielen Militärdiktaturen beobachten. In der liberalen Gesellschaftstheorie legitimierte sich das wirtschaftliche Privateigentum nur durch den von ihm erzeugten gesellschaftlichen Nutzen. Heute kann diese liberale Gesellschaftstheorie auch dazu herangezogen werden, die Neuverteilung des Eigentums am Vermögen und am Produktivvermögen zu begründen. So wie die Neuverteilung des Eigentums ein Ferment der Auflösung der feudalen Ordnung und der Herstellung der bürgerlichen Freiheit war, so ist heute die gerechtere Verteilung des Vermögens und des Produktivvermögens das Ferment zur Auflösung des Absolutismus in der Wirtschaft und zur Herstellung einer demokratischen Gesellschaft. ({13}) Die Beteiligung der Belegschaften an ihren Betrieben eröffnet den Weg zu einer freieren und einer demokratischeren Gesellschaft. Wie kein anderer hat dies der leider viel zu früh verstorbene Liberale Karl-Hermann Flach formuliert - ich zitiere -: Heute sehen wir noch viel klarer, dass Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktfreiheit zu einer immer größeren Ungleichheit führen, welche die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Freiheit kleinerer Gruppen unerträglich einschränkt. Die Vermögenskonzentration in den westlichen Industriestaaten führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigender sozialer Sicherung der lohnabhängigen Massen zu einer Disparität, welche der Begründung der Besitzverhältnisse mit dem Begriff der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht. So äußerte sich ein führender Liberaler vor drei Jahrzehnten. ({14}) Ich zitiere weiter: Das Problem des Kapitalismus besteht nicht darin, dass Unternehmen Gewinne erwirtschaften, sondern darin, dass die ständig notwendige Reinvestition des größten Teiles der Gewinne nicht nur moderne Produktionsanlagen und Arbeitsplätze schafft, sondern eine ständige Vermögensvermehrung in der Hand der Vorbesitzer der Produktionsmittel. So Karl-Hermann Flach. Nun wird es spannend: Daher laste der Kapitalismus als vermeintlich logische Folge des Liberalismus auf ihm wie eine Hypothek. Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapitalismus - „Befreiung vom Kapitalismus“ ist vielleicht eine bessere Formulierung als „Überwindung des Kapitalismus“ - sei daher die Voraussetzung seiner Zukunft. Im Finanzkapitalismus heutiger Prägung wird der größte Teil der Gewinne nicht mehr in moderne Produktionsanlagen reinvestiert; vielmehr wird er im weltweiten Spielkasino verzockt, mit verheerenden Folgen für die Menschen, vor allem für die Hungernden und die Kranken dieser Welt. Der Finanzkapitalismus enteignet die Beschäftigten nicht nur dadurch, dass er ihnen den Zuwachs des Produktivvermögens vorenthält; er verschärft Jahr für Jahr die ohnehin bestehende soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit durch fallende Löhne, Renten und soziale Leistungen bei gleichzeitigen spekulationsbedingten Preissteigerungen. ({15}) Meine Damen und Herren, Art. 14 des Grundgesetzes muss neu und zeitgemäß interpretiert werden. Während die in Abs. 2 geforderte Verpflichtung, der Gebrauch des Eigentums solle auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen, in einer Gesellschaftsordnung mit einer anderen Verteilung des Vermögens und des Eigentums an Produktionsmitteln ebenso seine Gültigkeit behält, ist der Abs. 3 neu zu interpretieren. Wenn eine Enteignung nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist, dann ist die in unserem Wirtschaftsalltag Praxis gewordene ständige Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zum Nachteil der Allgemeinheit führt, schlicht grundgesetzwidrig. ({16}) Warum ist die ständige Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Nachteil der Allgemeinheit? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das höhere Haftungsrisiko tragen - sie haften mit ihrem eigenen Arbeitsplatz, also mit ihrer gesamten Existenz -, würden sie verantwortlicher mit dem Firmenkapital umgehen als Anteilseigner, die es in der Vergangenheit oft leichtfertig verzockt haben. Beispiele gibt es wahrlich genug. ({17}) Eine durch die Beteiligung der Belegschaften an den Unternehmen geprägte Wirtschaftsordnung dient auch der Erhaltung unserer Umwelt. Echte solidarische gesellschaftliche Verantwortlichkeit kann der Mensch bei seiner Arbeit nur entwickeln, wenn er im Arbeitsprozess nicht entmündigt wird. Produktive Arbeit ist Umformung der Natur zu Gebrauchsgütern. Wer im Arbeitsprozess von jeglicher Verantwortlichkeit enteignet worden ist, der wird auch gegenüber dem Gegenstand seiner Arbeit, der Natur, nicht die notwendige Verantwortung empfinden. Daher müssten diejenigen, die für einen verantwortlichen Umgang des Menschen mit der Natur plädieren, dafür eintreten, dass solidarische Verantwortlich24326 keit im Arbeitsprozess entstehen kann. Es würde nicht viel nützen, wenn es hin und wieder gelänge, ein Atomkraftwerk stillzulegen oder eine Chemiefabrik zu schließen, der Mensch in anderen Gebieten aber genauso unverantwortlich weiterproduzierte, genauso ausbeuterisch mit der Natur umginge wie bisher. ({18}) Aus dem bisher Gesagten folgt: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet uns zu einer anderen, zu einer neuen Wirtschaftsordnung. Es verpflichtet uns, mehr Freiheit und mehr Demokratie zu wagen. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 60 Jahre Grundgesetz und damit auch 60 Jahre Freiheit und Demokratie in Deutschland - das ist beides keine Selbstverständlichkeit. Als Grüne kann ich sagen: Ich bin stolz auf diese Verfassung. Manche sagen, sie seien stolz auf ihr Land. Ich sage: Wir sind stolz auf diese Verfassung. Ich weiß, weltweit werden wir darum beneidet. Wir haben eine Verfassung, die Gewaltenteilung, die demokratische Prozesse regelt, und wir haben Grundrechte. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich das Land diese Verfassung wirklich angeeignet und in die Realität umgesetzt. Ich sehe heute vor allem zwei Gründe dafür, dass unser Grundgesetz eine solche Erfolgsgeschichte ist. Der erste Grund ist, dass dieses Grundgesetz Deutschland seine Würde wiedergegeben hat, ({0}) weil es die Menschenwürde ganz konsequent an den Anfang und damit quasi in den Mittelpunkt gesetzt hat. Unser Grundgesetz ist deshalb eine Verfassung, die wirklich vom Menschen her denkt und nicht aus dem Blickwinkel des Staates: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das ist sozusagen die Botschaft des Humanismus. Der Entwurf aus Herrenchiemsee hatte es auf eine etwas andere Formel gebracht. Da hieß es: Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. Das ist sozusagen das Versprechen: Nie wieder Auschwitz! - So fängt unser Grundgesetz an. ({1}) Der zweite Grund für die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes ist sicherlich die Tatsache, dass unser Grundgesetz in Theorie und Praxis eine lernende Verfassung ist. Es wurde immer wieder versucht, dafür zu sorgen, dass die Verfassung mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt hält. Denken Sie an die Rechte der Frauen und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen oder auch an die Entwicklung bei den Möglichkeiten demokratischer Meinungsäußerung bis hin zur Ausbildung einer Protestkultur in diesem Land. Zu all dem haben wir, in der Verfassung verankert, gesagt: Ja, das gehört zu uns. Das ist normale moderne Verfassungswirklichkeit. Damit ist aber eines klar: Das sollte hier und heute nicht eine Feierstunde sein, in der man einfach in Zufriedenheit zurückschaut. Herta Däubler-Gmelin hat ja bereits gesagt, dass es nicht nur um das Erinnern geht, sondern auch darum, in der Zukunft tätig zu werden. Die Verfassung muss auch heute die Kraft der Erneuerung aufbringen, weil eine Verfassung so etwas wie ein Gesellschaftsvertrag ist, ein Grundkonsens, der ausdrückt: Nach diesen Regeln, mit diesen Werten, in dieser Ausgestaltung wollen wir miteinander leben, unseren Alltag gestalten; das sind die Rechte, die wir haben. „60 Jahre Grundgesetz“ ist ein guter Anlass für den Gesetzgeber, sich zu fragen, ob die Versprechen, die Zusagen des Grundgesetzes den Fragestellungen und Sorgen der Gegenwart gerecht werden. ({2}) Das Grundgesetz ist nicht nur Ausdruck dessen, was gestern gemeinsamer Wert war und auch heute noch ist, sondern auch dessen, wie wir in Zukunft leben wollen, wie Freiheit und Gerechtigkeit morgen aussehen. Es ist zu fragen, ob das, was 1949 im Grundgesetz theoretisch formuliert wurde, was wir nach und nach in der Praxis, zum Teil hart umkämpft - auch dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die uns über manche Hürden geholfen hat -, realisiert haben, hinsichtlich Würde, Freiheit und Gleichheit hinreichend verwirklicht wird. Die Freiheit des Grundgesetzes - das wissen wir - ist nicht die Freiheit von selbstsüchtigen Ichlingen, sondern Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit gelten immer für alle. Es ist die Freiheit zur gesellschaftlichen Teilhabe, zur Selbstverwirklichung für alle. ({3}) Schauen wir uns einmal an, in welcher Verfassung unser Land heute ist. Wir stehen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Wir erleben technologische und gesellschaftliche Veränderungen, eine globale Wirtschaft, einen globalen Wettbewerb, Dinge, die sich die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes nicht einmal im Ansatz vorstellen konnten. All diese Veränderungen berühren die FreiRenate Künast heit, die Gleichheit, die Demokratie, die Gesellschaft. Es wundert uns nicht, wenn gerade in diesen Tagen viele sagen: Diese Gesellschaft ist blockiert. Die Versprechen des Grundgesetzes werden nicht eingehalten. Ich möchte an einigen Punkten aufzeigen, wo wir in unserer Verfassung aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im 21. Jahrhundert eine Mangelsituation haben. Ich beginne mit dem Begriff der Freiheit. Die Freiheit des Grundgesetzes wird heute von zwei Seiten bedroht: erstens durch einen falsch verstandenen Freiheitsbegriff und zweitens durch die Entwicklung des Präventionsstaates in der Sicherheitspolitik. Der Begriff der Freiheit war immer hart umkämpft, von 1848 über 1918, 1949 bis 1989, jetzt vielleicht wieder. In den letzten Jahrzehnten drohte die Freiheit in erster Linie eine Freiheit der Wirtschaft zu werden - eine Freiheit der Wirtschaft von Verpflichtungen für das Gemeinwohl. Da hebe ich mahnend die Hand und sage: An der Stelle müssen wir aufpassen, dass unser Grundgesetz die Freiheit heute so gewährleistet, wie es 1949 versprochen wurde. ({4}) Es droht eine Freiheit der Wirtschaft von Verpflichtungen für das Gemeinwohl, obwohl in Art. 14 des Grundgesetzes anderes gesagt wird. Der Profit wird einbehalten. Die sozialen und ökologischen Folgen werden externalisiert; die Schulden werden auf die Zukunft verlagert. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise ist so verursacht worden. Nach diesem Prinzip löst sie ihre Probleme. Aber das entspricht nicht dem Freiheitsbegriff des Grundgesetzes. Freiheit ist die Freiheit für alle, zur vollen Teilhabe, sich entwickeln zu können und auch in Zukunft über die Grundlagen des Lebens entscheiden zu können. ({5}) Wie sieht es aus für ein Kind, das in diesem Jahr geboren wurde? Es hat qua Geburt Schulden in Höhe von mehr als 19 000 Euro. Wie viel sind das eigentlich mit Zinsen, wenn das Kind 18 Jahre alt ist? Das Kind wächst auf mit uns, die wir über unsere Verhältnisse gelebt haben, die wir die natürlichen Lebensgrundlagen, wie es in der Verfassung heißt, nicht hinreichend geschützt haben. Es wächst auf mit Klimawandel, Hunger und weltweiter Ressourcenknappheit. Welche Freiheit hat dieses Kind als Erwachsener, wenn dieser in vielleicht 25 Jahren im Deutschen Bundestag sitzt, um Politik zu machen? Welche Entscheidungsspielräume hat er dann noch, seine Zukunft und die der anderen Bürger zu organisieren? Ich glaube, dass unsere Wirtschaftsweise nicht durch den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes gedeckt ist. Wir müssen darauf achten, dass wir in der Verfassungsrealität dem Postulat der Verfassung entsprechen, und zwar bei jedem Gesetzentwurf, den wir in Zukunft hier vorliegen haben. ({6}) Vielleicht ist der Gesetzentwurf zu den Bad Banks der nächste Anlass dazu. Unsere Freiheit wird aber nicht nur durch den wirtschaftlich verengten Freiheitsbegriff bedroht. Der Angriff auf die Twin Towers in New York war zweifellos ein Angriff auf unsere Art zu leben, auf unsere Werte. Aber im Kampf gegen den Terror hat der Staat den, wie ich meine, verfassungswidrigen und gefährlichen Weg zum Präventions- und Überwachungsstaat eingeschlagen. Indem ihm jedes Mittel recht scheint, verteidigt der Staat jetzt nicht etwa die Rechte seiner Bürger, sondern bedroht ihre Freiheit im Kern. Es gibt in diesem Land eine unzulässige Verschiebung der Gewichte zwischen Sicherheit und Freiheit zulasten der Freiheit. Das müssen wir ändern. ({7}) Man könnte auch sagen: Der Gesetzgeber testet die Verfassung aus, obwohl er an sie gebunden ist. Das ist eine Art ziviler Ungehorsam von oben. Das aktuellste Beispiel dafür ist das neue BKA-Gesetz. Dieses Gesetz, zu dem wir jetzt wieder das Bundesverfassungsgericht angerufen haben, bringt Risse in die Freiheit. Alle Bürger werden verdächtig, auch derjenige, der einen kennt, der verdächtig sein könnte, weil er wiederum einen solchen kennt. Das ist die Umkehrung der Idee, dass der Staat für die Bürger da sei. Auch in diesem Sinne müssen wir die Freiheit, wie sie 1949 im Grundgesetz festgeschrieben worden ist, verteidigen. ({8}) Wenn wir uns jetzt aus Anlass von 60 Jahren Grundgesetz Gedanken über die Gefahren für das Grundgesetz in der Realität machen, stellen wir fest, dass in drei Bereichen Veränderungsbedarf besteht. Einen Bereich habe ich schon angesprochen: Diese Gesellschaft muss sich den Begriff der Freiheit zurückerobern. Die Freiheit, die ich meine, ist die Freiheit, die in der Französischen Revolution mit ihrem Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ihren Ausgangspunkt genommen hat. Die Freiheit, die ich meine, ist die, die in der friedlichen Revolution 1989 mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ aufblitzte und durch die das Volk wieder mehr entscheidet, statt dass die globale Wirtschaft Freiheit vorgibt, Zwänge schafft, Entscheidungsmöglichkeiten des Volkes reduziert und ihre Kosten und Lasten der Allgemeinheit aufbürdet. Das ist aber nicht alles. Des Weiteren müssen wir in dieser Gesellschaft neu überlegen: Wofür sind wir eigentlich im Kern verantwortlich? Seit Bestehen des Grundgesetzes 1949 hat die gesellschaftliche Entwicklung eine Pluralisierung von Lebensstilen erlebt. Was damals mit dem Begriff des Sozialstaats und mit Art. 6, „Schutz von Ehe und Familie“, geschützt wurde, existiert heute nicht mehr in der Form wie 1949. Ich kann hier nicht in 15 Minuten alle Bereiche des Sozialstaats ansprechen. Man könnte im Zusammenhang mit Solidarität und Verantwortung über die sozialen Sicherungssysteme, den Umgang mit alten und kranken Menschen und Pflege oder den Umgang mit der demografischen Entwicklung im 21. Jahrhundert reden. Ich will mich aber im Folgenden darauf konzentrieren, was in Zukunft im Zentrum des staatlichen Schutzes stehen sollte, und auf die Kinder schauen. Wir müssen erkennen: Das Grundgesetz hinkt an dieser Stelle der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. ({9}) An anderen Stellen, beispielsweise beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und beim Tierschutz, wurde das Grundgesetz aktualisiert. Eine solche Aktualisierung muss auch im Bereich „Familie und Kinder“ stattfinden. Die Familie, wie man sie sich im Jahr 1949 vorgestellt hat, existiert in dieser Form nicht mehr. Im 21. Jahrhundert gibt es alle möglichen Formen von Familie. Es gibt Familien mit Trauschein und ohne Trauschein, es gibt Patchworkfamilien. Es gibt homo- und heterosexuelle Eltern; es gibt biologische und soziale Elternschaft. Die Frauen nehmen sich ihr Recht auf Gleichstellung. Drei von zehn Kindern in diesem Land werden von alleinerziehenden Müttern oder Vätern und von Eltern ohne Trauschein erzogen. Die Antwort darauf darf nicht sein, dass man im Grundgesetz weiter an Leitbildern vergangener Zeiten festhält. ({10}) 60 Jahre Grundgesetz und Gleichheitsanspruch - und doch erfahren Kinder in dieser Gesellschaft immer mehr eine Blockade. Der Grund liegt nicht nur in der Fokussierung auf die Familie im engeren Sinne, sondern auch in den mangelhaften Bildungschancen. 83 Prozent der Studierenden in Deutschland - in einer der führenden Industrienationen mit einer Verfassung, die stark auf Gerechtigkeit und Freiheit abzielt - stammen aus höheren Schichten. 8 Prozent der Kinder verlassen die Schule ohne Abschluss. Knapp ein Viertel der 15-Jährigen ist auf Grundschulniveau. Das ist eine blockierte Gesellschaft. So haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes das nicht vorgestellt. ({11}) Auch angesichts von Vernachlässigung, Gewalt und Missbrauch, denen manche Kinder ausgesetzt sind, muss die Antwort des Grundgesetzes lauten: Die Sorge gilt den Kindern und nicht dem Trauschein. Statt Art. 6 in seiner jetzigen Form zu belassen, müssen Kinder endlich zum Subjekt der Verfassung werden; sie dürfen nicht weiter Objekt in der Beziehung zu ihren Eltern bleiben. ({12}) Wir brauchen das eigenständige Recht der Kinder auf eine gesunde und gewaltfreie Entwicklung, auf Förderung und Bildung sowie auf eine gesunde Umwelt. Mein letzter Aspekt behandelt das Thema Demokratie. Ja, wir haben die Demokratie in diesem Land ganz wunderbar aufgebaut: mit Checks and Balances, mit Gewaltenteilung und mit Gerichten, die man anrufen kann. Aber im 21. Jahrhundert sehen wir, dass Demokratie Dynamik entwickeln kann. Damit meine ich nicht nur den Ruf „Wir sind das Volk!“. Wir konnten von 1968 bis jetzt erleben, wie stark sich Bürgerinnen und Bürger engagieren wollen. Mittlerweile ist es sogar so, dass jeder internationale Regierungsgipfel einen Gegengipfel auslöst. Auch das ist eine Möglichkeit zur Meinungsäußerung. ({13}) Heute ist die Erweiterung der Instrumente politischer Willensbildung fällig. Das Angebot kann nicht nur sein, sich auf einen langen Weg durch die Parteien zu machen. Demokratie heißt auch nicht, turnusgemäß alle vier Jahre zur Wahlurne zu schreiten. Ich meine, dass wir zwei Verbesserungen brauchen: Wir brauchen in der Verfassung vorgesehene Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide sowie das aktive Wahlrecht ab 16 Jahre. ({14}) Frau Bundeskanzlerin, es ist schön, wenn Sie Migrantinnen und Migranten ihre Einbürgerungsurkunden überreichen, obwohl dies rechtlich gesehen ein irrelevanter Akt ist, weil die Einbürgerung Ländersache ist. Besser wäre es aber, wenn in dieser Gesellschaft nicht mehr aufgrund ethnischer Herkunft oder Religion ausgegrenzt würde - das ist nämlich Gift für unsere Kultur -, wenn wir also dafür sorgen würden, dass sich Migrantinnen und Migranten hier einbringen können, zum Beispiel indem wir ein kommunales Wahlrecht für sie einführen. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, Sie denken bitte an die Redezeit.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe drei Bereiche genannt, die in der Verfassung an das 21. Jahrhundert angepasst werden müssen. Ich möchte Ihnen aber eines sagen: Diese Aufgabe betrifft nicht nur uns selbst. Wir haben auch eine Vorbildfunktion für Europa. Europa ist als Friedensprojekt gestartet und wurde als Wirtschaftsprojekt weitergeführt. Nun muss es endlich ein soziales und ökologisches Europa werden. Unsere Verfassung kann die Standards dafür setzen. Sie kann begeistern und zeigen, wie man eine moderne Verfassung schreibt, in der sich alle entwickeln und ihre Lebensgrundlage halten können. Das ist unser Auftrag. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Peter Ramsauer ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. Präsident Dr. Norbert Lammert ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 60 Jahre Grundgesetz, das ist für uns alle ein Grund zur Freude. Der Deutsche Bundestag hat - man kann sagen: parteiund fraktionsübergreifend - Grund zu dieser Freude. Wir sollten diesen Tag in Einigkeit und Dankbarkeit begehen. ({0}) Wir alle stehen mit unserer politischen Arbeit und mit unserer Politik insgesamt auf einem stabilen Fundament, das unser Land und unseren Staat 60 Jahre sicher getragen hat. Noch nie zuvor in der deutschen Geschichte konnten die Menschen unseres Landes eine so lange Periode der Stabilität und des Friedens genießen, wie sie unserer und der Generation unserer Eltern zuteil geworden ist. Die Männer und Frauen, die 1948 im Parlamentarischen Rat in Bonn mit ihrer Arbeit an einer Verfassung für einen damals noch nicht einmal in Umrissen erkennbaren neuen deutschen Staat begannen, hätten sich in ihren kühnsten Visionen gewiss nicht träumen lassen, welch ein Werk von Dauer und politischer Nachhaltigkeit sie schaffen würden. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist für das deutsche Volk zu einem Dokument des Glücks geworden. Auch wenn es in den sechs Jahrzehnten seiner Gültigkeit mancherlei Ergänzungen und Veränderungen erfahren hat, blieben sein Kern und seine Substanz immer unangetastet. Ich glaube, wir alle sind gut beraten, mit demokratischer Leidenschaft dafür zu sorgen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. ({1}) Meine Fraktion erteilt allen Überlegungen, die dahin gehen, mit diffusen Begründungen grundsätzliche Veränderungen am Grundgesetz vorzunehmen und es sozusagen mit überflüssigen Zutaten zu befrachten, klipp und klar eine Absage. Nicht die Quantität, sondern die Qualität zeichnet unsere Verfassung aus. ({2}) Das Grundgesetz zog die Lehren aus den Schwächen der Weimarer Republik und stellte ein starkes und glaubwürdiges Kontrastprogramm zu jenen zwölf Jahren deutscher Geschichte und deutscher Politik dar, die aufgrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, des Krieges und des Massenmordes an den Juden in Deutschland und in Europa im bittersten Sinne des Wortes Jahre des Unheils waren. Franz Josef Strauß hat die Wurzeln allen Übels dieser teuflischen Jahre im verhängnisvollen Abfall vom christlichen Sittengesetz und dessen Normen gesehen. ({3}) Der Aufbau eines neuen und demokratischen deutschen Staates, der mit unserem Grundgesetz seinen Anfang genommen hat, fand in einer Haltung und Gesinnung statt, die politisches Handeln anderen als nur menschlichen Maßstäben verantwortlich weiß. Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, … So beginnt die Präambel unseres Grundgesetzes. Damit wird eine Orientierung jenseits von politischem Angebot und politischer Nachfrage markiert, die wir alle brauchen und uns allen guttut. Die Präambel der bayerischen Verfassung ist von einem Sozialdemokraten, dem unvergessenen Wilhelm Hoegner, im gleichen Geiste geschrieben worden: Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staatsund Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes dauernd zu sichern … Ich glaube, man kann den Irrwegen, auf die sich die deutsche Politik in den zwölf Jahren zwischen 1933 und 1945 begeben hat, keine feierlichere und beschwörendere Absage erteilen als die von Hoegner verfasste. ({4}) Das Grundgesetz hat der Politik klare Handlungsaufträge gegeben. Einen Auftrag, vielleicht den wichtigsten, haben wir erfüllt: die Einheit unseres Vaterlandes zu erreichen. Der Appell, der hierzu in der ursprünglichen Präambel stand, wurde durch den Einigungsvertrag vom 3. Oktober 1990 hinfällig. Er wurde nicht hinfällig, weil etwa das Grundgesetz, wie Sie, Herr Müntefering, neulich meinten, den Menschen in der ehemaligen DDR übergestülpt worden wäre. Herr Müntefering, nichts wurde übergestülpt. Vielmehr hat die letzte, frei gewählte Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland und damit die Übernahme des Grundgesetzes für das ganze Deutschland in Freiheit beschlossen. ({5}) Ihr Parteifreund Richard Schröder hat Ihnen zu Recht entgegengehalten, dass den Menschen in der DDR dieser Beitritt damals gar nicht schnell genug gehen konnte. Hände weg vom Namen der Bundesrepublik Deutschland und von einem überflüssigen Herumbasteln an unserem Grundgesetz! ({6}) Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass Ergänzungen und Veränderungen nicht dort vorgenommen werden können oder auch müssen, wo dies zwingend erforderlich ist. Die Ergebnisse der Föderalismuskommission II sind ein Beispiel dafür. Auch hier sollte es mehr auf die Substanz als auf die Länge des zu ergänzenden Textes ankommen. ({7}) Natürlich darf ich einen persönlichen, gewissermaßen heimatlichen Bezug zum Anlass und Thema der heutigen Debatte nicht vergessen. Zu meinem Wahlkreis - Traunstein und das Berchtesgadener Land - gehört bekanntlich der Chiemsee. Auf einer Insel im Chiemsee wurde Verfassungsgeschichte geschrieben. Liebe Frau Kollegin Künast, es freut und erstaunt mich, dass ausgerechnet Sie auf den Geist von Herrenchiemsee hingewiesen haben. ({8}) Auf Einladung der auch damals schon CSU-geführten Bayerischen Staatsregierung trat im Alten Schloss auf der Herreninsel ein Ausschuss von Bevollmächtigten der damals bestehenden elf deutschen Länder in den westlichen Besatzungszonen und des Magistrats von Berlin zusammen. Dieser Verfassungskonvent tagte vom 10. bis zum 23. August 1948. Er erstellte einen Bericht, der auch den Entwurf eines Grundgesetzes enthielt, der Grundlage der Arbeit des Parlamentarischen Rates wurde. So gesehen hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland durchaus auch bayerische Wurzeln. ({9}) Eine Verfassung lebt vom Geist, von dem sie erfüllt ist, und wird lebendig durch die Politik, die auf ihrer Grundlage gemacht wird. Hier hat meine Partei in sechs Jahrzehnten des Bestehens des Grundgesetzes ihre politische Pflicht für das ganze Deutschland erfüllt. Wir haben - auch im Wechselspiel zwischen Regierungsverantwortung und Opposition - Verantwortung getragen, haben nicht nach Bequemlichkeit, sondern nach der Richtigkeit des zu beschreitenden Weges gefragt, in allen wichtigen, weichenstellenden Fragen unseres Landes. Die politische Kompetenz einer Partei, die Richtigkeit ihres Kompasses und ihr Mut erweisen sich nicht nur in der Regierung, sondern natürlich auch in der Opposition. Die von Franz Josef Strauß durchgesetzte Klage des Freistaates Bayern zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Jahr 1973 war - das müssen wir auch und gerade am heutigen Tag im Rückblick sagen - ein deutschlandpolitischer Meilenstein. ({10}) Das Verfassungsgericht schob damals allen offenen und schleichenden Bestrebungen zur Anerkennung einer deutschen Zweistaatlichkeit oder einer eigenen DDRStaatsbürgerschaft entschlossen einen Riegel vor. Meine Partei hat sich mit dieser Klage gegen den damaligen Zeitgeist gestellt. Sie hat den zum Sturm gewordenen Gegenwind der öffentlichen Meinung nicht gefürchtet. Sie hat es ausgehalten, dass die damalige Bundesregierung die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Frage regelrecht als Anschlag auf die Entspannungspolitik bezeichnete. Wir haben uns davon nicht beirren lassen. Durch die Verfassungsklage meiner Partei wurde die deutsche Frage und damit das Tor zur deutschen Einheit offengehalten. ({11}) 60 Jahre Grundgesetz unseres Landes - dieses Jubiläum fällt in eine wirtschaftlich äußerst schwierige Zeit. Jammern hilft uns aber nicht weiter. Vielleicht hilft ein Blick zurück in jene Zeit, in der das Grundgesetz entstand und das politische Leben wieder begann. Halten wir uns die damalige Lage und die Lebensumstände der Menschen vor Augen - die Not und das Elend, den Trümmerhaufen, den Deutschland damals darstellte -, so können wir nur den Mut und die Tapferkeit sowie den Fleiß und den Willen unserer Eltern und Großeltern bewundern, anzupacken, aufzubauen und die Dinge zum Besseren zu wenden. Aus dieser Haltung, fernab von Resignation und Wehleidigkeit, gilt es auch heute zu lernen. ({12}) An dieser Stelle ist es angebracht - eine solche Bemerkung habe ich in dieser Debatte noch nicht gehört -, Dank zu sagen, Respekt zu zollen und Anerkennung zu leisten für die großartige Integrationsleistung und Aufbauarbeit, die Heimatvertriebene und Flüchtlinge in den Nachkriegsjahrzehnten geleistet haben. ({13}) Ohne diese großartige Aufbauleistung wäre Deutschland heute nicht das, was es ist. Ohne die Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahre 1950, diesen Verzicht auf Rache und Vergeltung, was eine großartige, friedensstiftende Leistung war und womit ein Zeichen gesetzt wurde, wäre auch Deutschland nicht das, was es heute ist. ({14}) Die Probleme sind groß, aber auch unsere Chancen sind groß. Besinnen wir uns auf unsere Stärken. Geben wir ihnen im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft Raum und Entfaltungsmöglichkeiten. Nur mit der bewährten Ordnung dieser sozialen Marktwirtschaft werden wir die gegenwärtige Wirtschaftskrise überwinden. Es sind falsche Propheten, die den Menschen jetzt Konzepte der Staats- und Zwangswirtschaft - ob sie nun Sozialismus oder Kommunismus heißen - als Ausweg einreden möchten; denn all diese Konzepte sind krachend gescheitert. Ich glaube, ein lebendiger und selbstbewusster Patriotismus, wie er anderen Ländern der Welt immer schon ganz selbstverständlich zu eigen war, steht auch uns Deutschen, steht auch unserem Volk zu. ({15}) Gerade in diesen Krisenmonaten muss gelten: Wir stehen zusammen. Wir wollen unserem Land, unseren Bürgerinnen und Bürgern dienen. Linke Klassenkampfrhetorik ist von gestern. Die Bereitschaft zur Verantwortung für das Große und Ganze ist das Gebot der Stunde. ({16}) Wir Deutschen stehen zu unserem Land. Umfragen aus den letzten Tagen unterstreichen das. Wir Deutsche vertrauen auf unsere Leistungsbereitschaft, wir vertrauen auf unser Pflichtbewusstsein, und wir vertrauen auf unsere Weltoffenheit. Ich finde, das alles sind exzellente Grundlagen, um die gegenwärtige Krise zu überwinden. Das gemeinsame Vaterland verbindet zu gemeinsamer Anstrengung. Ich bin überzeugt: Das Grundgesetz hat unserem Patriotismus ein verlässliches und solides Fundament gegeben. Vielen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Toncar von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Geschichte unseres Grundgesetzes ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Es gibt keine einzige historisch bedeutsame Frage in der Geschichte der Bundesrepublik, in der es nicht seine Rolle gespielt hätte. Es ist aus einer historischen Katastrophe heraus entstanden und wurde von Menschen erarbeitet, die von dem, was sie erlebt hatten, gezeichnet waren. Auch die Nachkriegsgeneration, die die schlimmste Zeit in unserer Geschichte nicht mehr selbst erlebt hat, war immerhin noch stark geprägt durch die Bewältigung der Folgen von Krieg und Diktatur. Die Menschen in Ostdeutschland haben erst 1989/90 ihre Freiheit erkämpft, sodass die meisten von ihnen noch sehr unmittelbar wissen, wie es ist, in einem Unrechtsstaat zu leben. Doch wenn in diesem Jahr der 17. Deutsche Bundestag gewählt wird, wird es in ganz Deutschland keinen einzigen Erstwähler mehr geben, der sich noch selbst an die deutsche Teilung wird erinnern können. Unsere Gesellschaft wird immer stärker geprägt werden von Menschen, die das Glück und das Privileg hatten, in Frieden in einem geeinten Europa und in einer freiheitlichen Demokratie groß zu werden. ({0}) So stellt sich an diesem 60. Jahrestag die Frage, wie es mit dem großartigen Erbe des Grundgesetzes weitergeht. Ich bin davon überzeugt, dass die jungen Deutschen die Werte unserer Verfassung tief verinnerlicht haben. Meine Generation ist in ihrer großen Mehrheit tolerant, verantwortungsbewusst und skeptisch gegenüber Extremen aller Art. ({1}) Sie ist stolz auf ihr Land, ohne sich dabei über andere zu erheben. Ihr fehlt allerdings das Erlebnis der existenziellen Bedrohung ihrer Freiheit. Freiheit und Demokratie erscheinen ihr selbstverständlich. Werner Finck sagte einmal: Es geht uns mit der Freiheit wie mit der Gesundheit: Erst wenn man sie nicht mehr hat, weiß man, was man an ihr hatte. ({2}) Diese Gefahr der Gewöhnung rechtzeitig zu erkennen und diesen Ausspruch zu widerlegen, müssen unser Ziel und unsere Aufgabe in den nächsten Jahren sein. Garantiert uns das Grundgesetz, dass die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik weitergeht? Das kann es nicht, und das war auch nicht die Absicht seiner Väter und Mütter. Der Staatsrechtler Rudolf Smend hat den Sinn und Zweck des Grundgesetzes als Integration bezeichnet und damit einen Prozess ständiger Erneuerung, dauernden Neu-erlebt-Werdens gemeint. So ist das Grundgesetz nicht statisch, sondern lebend. Der Kern seiner Werte, wie zum Beispiel die Menschenwürde, der überragende Wert des einzelnen Menschen, ist zeitlos. Aber er ist in die Zukunft offen. Er kann für zukünftige, heute noch gar nicht bekannte Herausforderungen Antworten bieten. Gegenwart und Zukunft stellen uns schon heute vor schwierige Entscheidungen. Es geht zum Beispiel um die Möglichkeiten der modernen Medizin und Fragen des Schutzes der Privatsphäre angesichts ganz neuer technischer Möglichkeiten. Es ist ohne großen Aufwand möglich, eine DNA-Analyse jedes Menschen zu erstellen und auszuwerten. Solche Entscheidungen können mit dem Grundgesetz bewältigt werden. Sie sind nicht leicht. Sie werden sicherlich auch in Zukunft nicht leichter. Aber das, was eine Verfassung leisten kann, um sie zu beantworten, liefert das Grundgesetz. Eine Restverantwortung der Gesellschaft, die Wertungen des Grundgesetzes, die Menschenwürde immer wieder neu zu definieren und auszubuchstabieren, bleibt. Das kann uns keine Verfassung dieser Welt abnehmen. ({3}) Deswegen möchte ich bezüglich aller Debatten über die Frage, ob wir eine neue Verfassung brauchen, sagen: Ich kann nicht erkennen, dass wir das, was vor uns liegt, mithilfe des Grundgesetzes nicht bewältigen können. Diejenigen, die laufend neue Vorschläge machen, was noch hineingeschrieben werden könnte oder möglicherweise fehlt, müssen sich die Frage stellen lassen, ob man die Autorität des Grundgesetzes nicht eher dadurch beschädigt, dass man ständig den Eindruck erweckt, es sei unvollständig, lückenhaft und verbesserungsbedürftig. Das ist nicht so, und das sollte man auch nicht ständig so darstellen. ({4}) Ich will aber auch auf Entwicklungen eingehen, von denen ich glaube, dass wir in Zukunft auf sie achten und vorsichtig sein müssen. Ich meine damit zum einen un24332 seren Umgang mit den Grundrechten und zum anderen die Frage der Lebendigkeit unserer Demokratie. Die Grundrechte sind der Teil des Grundgesetzes, der unsere Bürgerinnen und Bürger selber in ihrem Alltag unmittelbar betrifft. Sie stellen den Menschen in den Mittelpunkt und verpflichten den Staat, den Menschen zu dienen. Aber wie wird im politischen Alltag mit den Grundrechten umgegangen? Ich habe das Gefühl, dass Grundrechte oder zumindest das Bundesverfassungsgericht, das sie anwendet, zunehmend als lästiges Hindernis empfunden werden. Ich möchte fragen, ob es sich eine freiheitliche Gesellschaft eigentlich erlauben kann, dauernd und immer wieder das Bundesverfassungsgericht zu strapazieren, um eigentlich elementare Grundentscheidungen unserer Verfassung durchzusetzen. ({5}) So lange es so ist, dass in Parlamenten Mehrheiten immer wieder bereit sind, Grundrechte, oft aufgrund von Extremsituationen, unverhältnismäßig einzuschränken, so lange - das muss man sagen - ist das Immunsystem unserer Gesellschaft gestört. Diese Kontrolle kann nicht auf Dauer von einem Gericht wahrgenommen werden. ({6}) Entlarvend ist im Übrigen die Formulierung, die in unserer politischen Alltagssprache sehr oft auftaucht: Das Parlament müsse Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Das wird bei dem BKA-Gesetz, beim Lauschangriff und bei vielem anderen gesagt. Das Bundesverfassungsgericht macht uns überhaupt keine Vorgabe. Es definiert lediglich rote Linien, die wir nicht überschreiten dürfen. Wenn wir immer so tun, als ob die rote Linie - die letzte Möglichkeit, die das Verfassungsgericht lässt - eine Vorgabe des Gerichts sei, dann gehen wir immer wieder an die Grenzen unserer Verfassung, strapazieren sie und verschieben so die Achse unserer Grundrechte nach außen. ({7}) Ich möchte auch noch auf den Zustand unserer Demokratie eingehen. Es gibt zum Glück heute in Deutschland nur noch sehr wenige Unverbesserliche, die sich prinzipiell gegen die Idee der Demokratie wenden. Für diese brauchen wir das Konzept der wehrhaften Demokratie. Aber auch an einem Feiertag wie heute soll nicht verschwiegen werden, dass unsere Demokratie lebhafter sein könnte und dass die Lebendigkeit unserer Demokratie aus der Mitte der Gesellschaft bedroht ist, weil es Ermüdungs- und Gewöhnungserscheinungen gibt. Man kann das im Rahmen einer solchen Rede nicht abschließend analysieren, aber ich möchte einfach einige Fragen aufwerfen: Ist es einem Bürger heute eigentlich noch möglich, einen für eine Maßnahme politisch Verantwortlichen auszumachen? Haben wir nicht weiterhin ein großes Durcheinander an Zuständigkeiten von Europa über Bund und Länder bis hin zu den Kommunen, das Verantwortung systematisch verschleiert und es jeder Ebene ermöglicht, den Schwarzen Peter bei einer anderen Ebene abzuladen, und schlussendlich den Bürger ratlos zurücklässt? ({8}) Gehen wir eigentlich immer fair mit unseren Kommunen um, die an immer umfangreichere Regeln gebunden werden, dabei immer größere Finanzierungsprobleme haben und schlussendlich über den goldenen Zügel von Zuschüssen gesteuert und alimentiert werden? Ich glaube, dass man sich nicht wundern muss, dass es in vielen Kommunen immer schwerer wird, Menschen zu finden, die sich für kommunales politisches Engagement begeistern. ({9}) Teilhabe findet jedenfalls nicht ausschließlich auf parlamentarischen Abenden statt, sondern beginnt in unseren Kommunen. Ich vermisse auch eine Debatte über die Rolle und das Selbstverständnis dieses Parlaments. Wer sollte sie eigentlich anführen, wenn nicht die Abgeordneten des Bundestages selbst? Womöglich wird sie auch deshalb vermieden, weil wir uns mit dem zu erwartenden Ergebnis nicht zufriedengeben können. Ich meine, dass der Bundestag seinen Einfluss gegenüber der Exekutive dringend stärken müsste. Ich habe nichts gegen Ministerialbeamte. Die meisten von ihnen machen gute Arbeit. Aber wenn ein Ministerialbeamter Gesetzgeber sein möchte, dann möge er sich für eine Wahl bewerben, wie wir das alle auch tun müssen; er muss sich mit seinen Argumenten stellen und dann wählen und bestätigen lassen. Aber Gesetzgeber ohne vorherige Wahlen kann man nicht sein. ({10}) Wir sehen, dass EU-Rechtsakte im Ministerrat der EU von Beamten ausgehandelt werden und dass der Bundesrat in der Praxis weitgehend eine Beamtenveranstaltung ist und dass die Ministerialbürokratie leider auch auf unsere Parlamentsarbeit einen erheblichen Einfluss ausübt, ({11}) wobei das Vorbereiten von Sprechzetteln für Abgeordnete in der Regierungskoalition noch eine möglicherweise harmlose Peinlichkeit darstellt. Nicht mehr harmlos wird es dann, wenn Anträge, die im Parlament eine Mehrheit hätten, durch das Veto eines Ministeriums gestoppt werden. Ein Parlament, das so mit sich umspringen lässt, setzt sein Ansehen und seine Autorität aufs Spiel. Ich vermisse auch in diesem Hause hierfür das nötige Problembewusstsein. ({12}) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das Grundgesetz stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Es stellt in unserer Demokratie das Parlament als die direkte Vertretung dieser Menschen in den Mittelpunkt. Meine Generation hat das Glück, diese Errungenschaft zu erben. Damit fängt unsere Verantwortung aber erst an. Ich freue mich auf die Zukunft. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Franz Müntefering von der SPD-Fraktion. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Mai 1949, als das Grundgesetz entstand, war zum Feiern niemand zumute in Deutschland. Das Land lag in Trümmern, es gab Not, es gab Elend, Witwen und Waisen, Vertriebene. Da entstand das Grundgesetz. Das Grundgesetz war ein Fanal, es war eine Botschaft. Die Tage waren dominiert von den Sorgen des Alltags. Aber wir haben Schritt für Schritt begriffen: Wir haben hier ein robustes Grundgesetz für die Verfasstheit unseres Staates. In diesem Grundgesetz standen und stehen Werte, die unverzichtbar sind für ein menschliches Miteinander. Diese Werte gelten auch heute. Die Frage ist: Werden wir dem gerecht in unserer Zeit? Denn Werte müssen mit dem, was die Zeit von uns verlangt, immer wieder abgeglichen werden. Das Gerüst unseres Grundgesetzes, was die Verfasstheit des Staates angeht, steht. Die Frage ist aber: Werden wir dem gerecht, was diese Werte uns abverlangen? Etwas, was mir an der Rede des Kollegen Toncar gut gefallen hat, war der Hinweis - so habe ich ihn verstanden -, dass unsere permanente Debatte darüber, was im Grundgesetz verändert, korrigiert oder erweitert werden müsste, nicht dazu führen darf, dass wir in die Gefahr kommen, das Grundgesetz gleich um eine Gebrauchsanweisung zu erweitern. Bei all dem, was wir machen, müssen wir immer die Frage stellen: Ist das nötig, ist das unabdingbar? Das Grundgesetz muss mehr sein - und etwas anders - als das, was in Gebrauchsanweisungen üblicherweise steht. ({0}) Wenn man in Deutschland keine grundwertefreien Zonen haben will, sollte man von dem Gedanken ablassen, Leitkulturen neben das Grundgesetz zu stellen. ({1}) Alle Menschen, die in Deutschland leben, sind dem Grundgesetz verpflichtet. Wer sich an das hält, was an Werten im Grundgesetz steht, wird dem gerecht, was wir in dieser Gesellschaft von unserem Miteinander erwarten. Deshalb muss man nichts daneben oder gar darüber stellen, sondern versuchen, dem Grundgesetz gerecht zu werden. Vier Jahre nach Ende von Nazideutschland schrieben die Väter und Mütter des Grundgesetzes in die Präambel, dass sie es beschließen, „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Das war ein Zeichen von Demut, von „Wir haben verstanden und wollen es besser machen“. Das eigentlich Entscheidende war aber, dass 1952 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und 1957 mit den Römischen Verträgen die europäischen Länder auf uns zukamen, Deutschland eingeladen haben. Ich habe das, ich weiß, erst sehr spät begriffen - und viele von uns hatten es damals noch nicht begriffen -, dass uns Frankreich und Italien, die Niederlande - durch die wir dreimal mit Stiefeln gezogen waren -, Belgien und Luxemburg damals, Mitte der 50er-Jahre, die Hand gegeben haben, als sie gesagt haben: Lasst uns Europa machen! Das muss für uns alle ein Ansporn sein, Ländern, die heute den Kontakt suchen zu uns, zur Demokratie, zu Europa überhaupt, nicht zu sagen: Ihr seid noch weit jenseits von Demokratie! Auch Deutschland hatte damals keine große demokratische Tradition. Man hat uns eine Chance gegeben. Nun müssen wir mit unserer Demokratie dazu beitragen, anderen Völkern in Europa und darüber hinaus die Chance zu geben, in die Demokratie hineinzuwachsen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. ({2}) Art. 1 - „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ ist angesprochen worden. Als Johannes Rau Bundespräsident wurde, hat er gesagt: Da steht „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, da steht nicht „Die Würde des deutschen Menschen ist unantastbar“. Das gab damals eine größere Diskussion. Aber das ist der Kern dessen, was im Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ ({3}) Das heißt: Alle Menschen, die in diesem Lande wohnen, welche Hautfarbe sie haben, welchen Namen sie haben, welche Religion sie haben - oder auch nicht haben -, gehören im Sinne unseres Grundgesetzes dazu, gleichwertig, unveränderlich. Das ist die Aussage dieses Grundgesetzes und die Voraussetzung dafür, dass wir die Probleme der Integration in den nächsten Jahren in Deutschland lösen können. ({4}) In den Art. 10 und 13 des Grundgesetzes steht etwas über das Briefgeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damals kannte man noch nicht die neuen Kommunikationstechnologien, die es heute gibt. Ich bin mir aber sicher: Wenn Carlo Schmid, Theodor Heuss, Konrad Adenauer und die anderen das, was wir heute haben, gekannt hätten, dann hätten sie einen kurzen, präzisen Satz auch dazu gefunden, der deutlich gemacht hätte: Die Arroganz der totalen Kontrolle kann die Sache nicht sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Privatsphäre und die Daten des Einzelnen geschützt sind, zum Beispiel auch dann, wenn es um die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. - Es kann nicht sein, dass das so läuft, wie das im Augenblick in Deutschland der Fall ist. ({5}) „Eigentum verpflichtet“ - Art. 14 Abs. 2 -: Schöner kann man es nicht sagen. Das gilt nicht nur für die Produktionsmittel, sondern auch für das Geld; das ist überhaupt keine Frage. Darüber werden wir hier noch manches Mal zu diskutieren haben. Ich sage hier aber ganz klar: Wer im Jahre 2009 25 Prozent Gewinn auf sein Eigenkapital fordert, während Hunderttausende in Deutschland Angst um ihren Arbeitsplatz und ihr Gespartes haben, der geht mit dem Eigentum nicht vertrauenswürdig und nicht vertrauensbildend um, sondern der zerstört das Vertrauen. ({6}) Der Art. 14 Abs. 1 soll nicht vergessen sein. Danach wird Eigentum gewährleistet. Ich meine hier das geistige Eigentum. Die totale Digitalisierung bringt Gefahren für die Kunst und für die Kultur in diesem Land mit sich. Wir kennen die Debatte, und wir sind gut beraten, sie nicht einfach beiseitezuschieben. Die Freiheit der Kultur ist die Voraussetzung für die Kultur der Freiheit. Dass es Vermögen mit der Erwartung eines jährlichen Gewinns von 25 Prozent gibt, während es gleichzeitig für normal erklärt wird, dass Kulturgüter und Kunst - geistiges Eigentum - geklaut werden dürfen, ist nicht normal und nicht im Sinne unseres Grundgesetzes. Hier müssen wir ansetzen, und dagegen müssen wir etwas tun. ({7}) In den Art. 1 bis 16 stehen die Grundrechte. Es geht unter anderem um die Freiheit des Einzelnen, die Rechte und die Pflichten des Individuums, die individuellen Lebensentwürfe, in die Staat und Gesellschaft sich nicht einzumischen haben, die Freiheit, in der die soziale Gerechtigkeit gesucht wird und die in Solidarität mündet, um die Freiheit als dem ersten Wert. 1969, als Willy Brandt Kanzler wurde, hat er davon gesprochen, dass wir mehr Demokratie wagen müssen. Herta Däubler-Gmelin hat beschrieben, wie es in den 60er-Jahren gewesen ist. Beim Blick zurück tun wir im Westen manchmal so, als ob das alles schön, gut, offen, liberal und tolerant gewesen sei. Es gab aber eine ganze Menge aufzuarbeiten. Ich schaue dabei keine Fraktion besonders an, aber das ist die Wahrheit, die Erfahrung meiner Generation. Ich hatte noch Lehrer - 1946 bin ich in die Schule gekommen -, von denen in der Geschichte keiner weiter als bis zum Kaiserreich kam, weil sie alle ihre eigenen Befangenheiten hatten. Wir haben Mitte der 60er-Jahre damit angefangen, die Eltern und die anderen zu fragen, wie das eigentlich war und was geworden ist. Deshalb ist mit „mehr Demokratie wagen“ viel aufgebrochen worden. Man könnte vieles aufzählen; ich lasse das beiseite. Es war aber eine wichtige Entscheidung. Dieser Willy Brandt hat, als er als Parteivorsitzender meiner Partei ging, gesagt: Wenn ihr mich fragt, was das Wichtigste ist, dann sage ich euch: neben dem Frieden die Freiheit. ({8}) Wie immer wir das alles wenden und wie immer wir die soziale Gerechtigkeit und die Solidarität beschreiben und definieren: Es fängt bei der Freiheit des Einzelnen an, die ihre Grenze an der Freiheit des anderen findet. Das ist die Grundbedingung für alles, was in dieser Gesellschaft geschieht. Weil das so ist, sind Bildung und Erziehung so unendlich wichtig. Wenn wir wollen, dass die Menschen, die hier aufwachsen, die Kinder, Demokratinnen und Demokraten werden und nach dem Grundgesetz leben können und wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass sie Bescheid wissen und nicht für dumm verkauft werden. Es war die große Idee auch der Arbeiterbewegung, dafür zu sorgen, dass die Menschen Informationen haben und Bescheid wissen. Deshalb ist Bildung keine abgeleitete ökonomische Größe, sondern ein Grundrecht und Menschenrecht, das wir in dieser Gesellschaft umsetzen müssen. ({9}) Das führt mich zu den Art. 20 und 21. Wir sind ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Wir haben das gelernt mit dem Bundesstaat und dem Föderalismus, der seine großen Vorteile, aber auch seine Schwierigkeiten hat. Ich glaube, dass wir auf der langen Strecke nicht darum herumgekommen, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir die Aufgaben von Bildung und Integration und die Kombination von beidem - das ist eine dringende Aufgabe für die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte - lösen können, wenn wir uns in der Politik in unterschiedliche Zuständigkeiten verlieren. Alle Menschen, die in diesem Lande leben, haben das Recht, als Individuum im Ganzen wahrgenommen und geachtet zu werden, und sie haben das Recht, dass wir uns nicht auf unsere Zuständigkeiten berufen und sagen, dass eine andere Ebene zuständig ist. Denen ist es ziemFranz Müntefering lich egal, ob die Bundeskanzlerin, der Ministerpräsident oder der Oberbürgermeister es bezahlen. Sie wollen anständige Kitas, Krippen und hochqualifizierte Schulen. Das müssen wir miteinander hinbekommen und nötigenfalls auch intensiver darüber sprechen, als wir es bisher tun. ({10}) Wir dürfen nicht an dem Gefühl der Menschen vorbeigehen. Es gibt keine Versammlungen, in denen wir nicht auf diese Zusammenhänge und die Schwierigkeiten, um die es dabei geht, angesprochen werden. Wir dürfen die Kommunen bei dieser Aufgabe nicht alleine lassen, sondern wir müssen darüber sprechen, was wir tun können, damit wir eine Bildungs- und Integrationspolitik aus einem Guss bekommen. Es wird unweigerlich um das Miteinander von Europa, Bund, Ländern und Gemeinden gehen. ({11}) Art. 146 ist schon angesprochen worden: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Nun ist die Frage, ob das eine banale Aussage für Feierstunden oder ein Abgesang auf Nie und Nimmer ist oder ob es die Möglichkeit zum Handeln eröffnet. Mehr will ich nicht sagen. Ich bin überzeugt, dass wir in Deutschland gut beraten sind, wenn wir die Debatte über den demokratischen und sozialen Bundesstaat nicht nach dem Motto „Nun ist alles geklärt, und nun machen wir es so“ führen, sondern immer wieder prüfen, ob die Werte, die in diesem Grundgesetz enthalten sind, mit den Zielen und Regeln der praktischen Politik, in denen wir zurzeit stehen, übereinstimmen. Deswegen muss es erlaubt sein, darüber zu sprechen, wie sich das zueinander verhält, wie wir den Menschen erklären können, was dieses Grundgesetz für uns bedeutet, und wie wir gemeinsam aus dieser Situation heraus Politik für die Zukunft bestimmen wollen. ({12}) Ich will einige letzte Sätze zu etwas sagen, was uns auch Gedanken machen muss. Demokratie braucht informierte Menschen. Die Frage ist: Wie ist das mit der Information in unserer Gesellschaft? Was passiert hier eigentlich? Die Vielfalt, die wir haben, hat ihren Charme. Aber sie hat auch ihre Risiken. ({13}) Bei meinen Besuchen in den Lokalredaktionen der Zeitungen wird Jahr für Jahr gestöhnt - das kennen Sie auch -: wieder 3 Prozent weniger. Wie sieht es mit Kontakten und Informationen aus? Was läuft an informationellen Zusammenhängen in unserem Land? Ich habe keine Antwort darauf, aber das Problem ist da. Ein Staat, der nicht dafür sorgt, dass die Menschen - ob Heranwachsende oder andere - Zugang zu verlässlichen und belastbaren Informationen haben, wird Demokratie nicht organisieren können. Vielleicht müssen wir das Ganze umkehren. Vielleicht müssen uns die Jüngeren - die Menschen in Ihrem Alter, Herr Toncar - sagen, wie das in der Zukunft gehen könnte, wie man Menschen in den Städten und Gemeinden mit neuen Techniken an Demokratie beteiligt, sie rechtzeitig informiert und ihnen Möglichkeiten gibt, an der Meinungs- und Entscheidungsbildung in den Städten und Gemeinden, an der Politik insgesamt teilzuhaben. Meine Generation hat Lesen gelernt, nicht den Umgang mit der neuen Technik. Das gilt zumindest für mich. Aber wir müssen begreifen, dass sich das, was 1949 noch gang und gäbe war, fundamental verändert hat. Damals hat man noch wirklich gelesen. Man hat noch Bücher und Zeitungen miteinander gelesen, sodass man daraus eine gemeinsame Debatte entwickeln konnte. Wer erlebt das denn bei uns noch? Wenn man heutzutage jemanden trifft, dann sagt er beispielsweise, dass er gestern um 21.45 Uhr etwas gelesen, gesehen und gehört hat. Wo, weiß er nicht mehr. Damit ist das Gespräch zu Ende. Wir haben so wenige gemeinsame Dinge, die etwas mit unserer Demokratie vor Ort zu tun haben und über die wir gemeinsam sprechen können. Wenn wir das Grundgesetz in seinem Anspruch ernst nehmen, den Menschen die Chance zu geben und ein Angebot zu sein, wie es Gustav Heinemann gesagt hat, Bescheid zu wissen und dazu beizutragen, dass Demokratie gelingt, dann müssen wir uns Gedanken darüber machen, was in den Bereichen der Information und der Informationstechnik in diesem Land stattfindet und wie das in Zukunft in dieser Gesellschaft buchstabiert werden soll. Das ist nicht fertig. Das war es auch damals nicht. Trotzdem sind die Gedanken, die sich damit verbinden, wichtig. Demokratie braucht Partei im Sinne von Parteinahme. Es gibt in Deutschland ganz viele Menschen, die ehrenamtlich in Vereinen, Verbänden und Organisationen mithelfen, dass Demokratie gelingt. Demokratie braucht aber auch Parteien - Art. 21 des Grundgesetzes -, die bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Sie dürfen sich nicht mit Exekutive, Legislative und Rechtsprechung verwechseln. Es gibt keine Staatsparteien. Aber die Parteien sind bei der Meinungsbildung insgesamt wichtig. Die Art und Weise, wie wir zulassen, dass in diesem Land abfällig zwar weniger über Demokratie, aber über Staat, Politik und Parteien insgesamt gesprochen wird, ({14}) hat ihre Grenze. Ich empfehle uns sehr, mit ein bisschen mehr Selbstbewusstsein an die Sache heranzugehen. ({15}) Es kann sein, dass wir Fehler machen - ja, das ist ganz sicher der Fall -, aber das Engagement ist das Entscheidende. Demokratie wird nur gelingen können, wenn wir hinreichend viele Menschen haben, die bereit sind, sich zu engagieren und mitzuhelfen, Dinge zu verändern. Wenn ich nach einer Wahl abends höre, wie irgendjemand vor laufender Kamera einen anderen voller Mitleid fragt, warum er nicht habe zur Wahl gehen und abstimmen können, dann frage ich mich: Was ist eigentlich in den Köpfen los? Was können wir dafür tun, dass wieder klarer wird, dass Parteinahme und Parteien in dieser Gesellschaft und Demokratie unverzichtbar sind? Das geht vor allem dadurch, dass wir denjenigen Mut machen, die mitmachen. Deshalb sage ich stellvertretend für alle anderen, die ich meine: Denjenigen, die sich in Sozialverbänden, Sportvereinen und kommunalpolitischen Institutionen mit großem zeitlichen Aufwand und manchmal auch mit eigenem Geld engagieren und viele Stunden in Kleinigkeiten investieren, über die Golfspieler und Tennisspieler gar nicht reden mögen, weil sie etwas anderes zu tun haben, muss man sagen: Jawohl, ihr seid ein großer Teil dieser Demokratie. Das sind nicht nur wir, sondern das seid auch ihr. Wir sagen euch von hier aus ein herzliches Dankeschön. In diesem Sinne alles Gute und vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland kann man nicht sprechen, wenn man nicht wenigstens ein oder zwei Sätze zu der vorangegangenen Zeit sagt. Die Gründung eines neuen Staates wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die deutsche Gesellschaft, wenn das deutsche Volk das Naziregime verhindert hätte. Aber dieses Regime hat von 1933 bis 1945 existiert. Nicht nur seine Methoden waren in einer bis dahin nie gekannten Art und Weise verbrecherisch. Vielmehr hatte dieses Regime ausschließlich verbrecherische Ziele, keine anderen. Insofern sage ich: Der 8. Mai 1945 war - das müssen endlich alle begreifen - ein Tag der Befreiung, egal wie es damals aussah. Es konnte nur ein Tag der Befreiung sein. ({0}) Dann war Deutschland besetzt, zuerst von vier Siegermächten. Es stellte sich die Frage, was jetzt geschehen sollte. Ich glaube, dass die deutschen Politiker in Ost und West nicht die Geduld der Österreicherinnen und Österreicher hatten; denn auch Österreich war von vier Mächten besetzt, aber Österreich ist ein Land geblieben. Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze halb. - Die im Osten dachten genauso. Ich glaube, die vier Mächte hätten gar nichts machen können, wenn wir alle gesagt hätten: Nein, wir gründen nur einen Staat zusammen. - Wie hätten sie das verhindern sollen? Aber wir hatten diese Geduld nicht. ({1}) Was wäre eigentlich daran so schlimm gewesen, wenn wir diesen Weg zusammen gegangen wären? Gut, wir wären nicht in der NATO oder im Warschauer Vertrag gewesen, so wie Österreich. Na und?, kann ich nur sagen. Ich sehe darin keine Katastrophe. Wir hätten auf die Art und Weise die Spaltung verhindern können. Sie dürfen übrigens nicht vergessen, dass zuerst die Bundesrepublik Deutschland ohne den Osten gegründet worden ist und erst danach die DDR. Nachdem die vier Mächte das alles mitgetragen und mitorganisiert hatten, da waren sie sich einig, den Kalten Krieg hier zwischen beiden deutschen Staaten auszutragen. Machen wir uns nichts vor: Wäre es zu einem dritten Weltkrieg gekommen, existierte Deutschland heute nicht mehr. Das war zwischen ihnen verabredet. Es gab Politiker, auch wieder in Ost und West, die das erkannten und zu verhindern versuchten. Das ist gelungen. Wenn wir darüber reden, dann müssen wir auch sagen, dass die Besetzung Ostdeutschlands durch die Sowjetunion doch ein Zufall war. Stellen Sie sich einmal vor, die sowjetischen Truppen wären anders vorgedrungen und nach Bayern einmarschiert. Dann wäre aus Bayern eine Art DDR geworden. Herr Ramsauer würde heute die Kompliziertheit seiner Biografie erklären, und wir alle würden leicht arrogant zuhören. Das ist die Wahrheit. ({2}) Ich will damit sagen: Das, was ich nicht mag, ist, wenn jemand, der nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt hat, einer ehemaligen Bürgerin oder einem ehemaligen Bürger der DDR erklärt, wie er in der DDR gelebt hätte, wenn er dort gelebt hätte. Er kann es eigentlich nicht wissen und sollte einen gewissen Grad an Bescheidenheit diesbezüglich an den Tag legen. ({3}) Das Grundgesetz ist zweifellos eine hervorragende Verfassung. Es erstaunt mich, wie tief zwei Sätze aus dem Grundgesetz im Denken und Fühlen der Menschen verankert sind. In fast jedem zweiten Brief, den ich bekomme, wird entweder der eine oder der andere Satz zitiert. Der eine Satz lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und der zweite Satz lautet „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Immer wieder kommen diese Sätze vor. Das kriegt keiner mehr aus dem Kopf. Selbst wenn jemand heimlich darüber nachdenken würde, diese Sätze zu streichen - dafür wird es, glaube ich, in Deutschland niemals eine Zweidrittelmehrheit geben, sodass das ausgeschlossen und auch gar nicht gestattet ist. ({4}) Heute sind der zweite und der erste Satz nach wie vor von großer Bedeutung. Beide Sätze beschreiben doch keinen Istzustand. Nie kann eine Gesellschaft behaupten, das sei verwirklicht. Aber es muss ein Ringen darum geben, und in den letzten Jahren gab es mir zu wenig Ringen darum, die Würde des Menschen wirklich für unantastbar zu erklären und die soziale Eigentumsverpflichtung herauszuarbeiten. Das Gegenteil haben wir in der Krise erlebt. ({5}) Das Grundgesetz unterstreicht die politischen und demokratischen Grundrechte sehr deutlich, die sozialen Rechte werden weniger betont. Dazu ist hier schon einiges gesagt worden. Aber wir müssen in der Geschichte weitergehen. Die Mauer fiel friedlich, die deutsche Einheit kam friedlich zustande. Das ist ein großes Verdienst und ein großes Glück in unserer Geschichte, woran wir früher überhaupt nicht geglaubt hatten. Trotzdem sage ich: Seitdem gibt es einen ungeheuren Fortschritt für die ostdeutsche Bevölkerung; denn sie lebt in Freiheit und Demokratie, was sie vorher nicht kannte. Es war eine Zäsur in der Geschichte, aber die Einheit erfolgte leider durch Beitritt, nicht durch eine neue Verfassung und nicht durch Vereinigung. Es gab zwei Mängel, die sich bis heute auswirken. Es gab vielleicht noch mehr, aber ich nenne zwei, die mir wichtig sind. Eine Ursache, warum wir gesellschaftlich immer noch gespalten sind, sehe ich darin, dass die ostdeutschen Eliten in Kultur, Wissenschaft und anderen Bereichen nicht am Einigungsprozess beteiligt, sondern abgewickelt wurden. Die zweite Ursache sehe ich darin, dass das westdeutsche System eins zu eins auf den Osten übertragen wurde und Erfahrungen, die dort existierten, nicht berücksichtigt wurden. ({6}) So nahmen viele Westdeutsche die Einheit zwar erfreut zur Kenntnis, aber sie konstatieren, dass es seit der Einheit auch im Westen wirtschaftlich und sozial bergab geht. Viele glauben, schuld daran sei der Osten, der Milliarden erhalte, ohne dass sich die wirtschaftliche Lage dort und im Westen verbessere. Obendrein seien die Ostdeutschen zum Teil auch noch unzufrieden und wählten komisch. Letzteres passiert zunehmend auch im Westen, sodass wir uns diesbezüglich schon vereinigen. ({7}) Aber die gegenwärtige Krise beweist, dass die Thesen zur Wirtschafts- und Soziallage falsch sind. Der Sozialabbau im Westen und auch im Osten erfolgt doch nicht wegen des Ostens, sondern überall wegen der gigantischen Umverteilung von unten nach oben. Genau diese Umverteilung muss gestoppt und umgekehrt werden. ({8}) Nach 19 Jahren sind die Renten im Osten im Durchschnitt noch um 15 Prozent niedriger als im Westen; das ist ein Problem. Die Löhne im Osten sind durchschnittlich ein Drittel niedriger als im Westen, und zwar bei gleicher Arbeit und längerer Arbeitszeit. Der Niedriglohnsektor umfasst 41 Prozent im Osten und 19 Prozent im Westen. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist doppelt so hoch. Das größte kulturelle Defizit liegt in der häufigen Missachtung ostdeutscher Biografien. Geradezu symbolisch und massiv kommt dies in der Ausstellung „60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ zum Ausdruck: Die Geschichte der DDR wird nicht als Teil der deutschen Geschichte begriffen. Es gibt kein Bild, keine Plastik von einem Maler oder Bildhauer der DDR, nicht von John Heartfield, nicht von Wolfgang Mattheuer, nicht von Fritz Cremer, nicht von Otto NiemeyerHolstein, nicht von Jo Jastram, nicht von Bernhard oder Johannes Heisig, nicht von Hartwig Ebersbach, nicht von Willi Sitte, nicht von Werner Tübke, nicht von Albert Ebert, nicht von Wieland Förster, nicht von Arno Mohr. Das ist nach 60 Jahren Grundgesetz, nach 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland nicht vertretbar. ({9}) - Ja, das war genauso einseitig. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Gysi, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin sofort fertig. Lassen Sie mich noch eines sagen: Meine Generation hatte Schwierigkeiten mit dem eigenen Land. Das lag an der Geschichte vor 1945, mit der umzugehen so kompliziert war. Ich habe zur Fußball-Weltmeisterschaft eine neue junge Generation kennengelernt, auf die ich meine Hoffnung setze.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Gysi, bitte!

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich glaube, diese Generation will keine Nation mehr unter sich haben und auch keine über sich. Sie erfüllt damit einen Traum Brechts. Ich glaube, dass diese junge Generation die Teilung unserer Gesellschaft überwindet. Sie wird deutsch, aber auch europäisch und vor allem weltbürgerlich sein. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt von Bündnis 90/Die Grünen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, Herr Gysi, auch ich glaube daran, dass diese junge Generation in Einheit leben und die Teilung überwinden möchte. Ich glaube allerdings auch, dass Sie und die Linke etwas dafür tut und tun will, dass es möglichst nicht geschieht. ({0}) Als es nach der friedlichen Revolution um einen gemeinsamen Verfassungsentwurf ging, hatten die Menschen vermutlich andere Fragen, Sorgen und Pläne, und das wird wohl auch heute so sein. Wolfgang Ullmann und andere dürfen hier trotzdem nicht unerwähnt bleiben im Hinblick auf ihr Bemühen, über eine gemeinsame Verfassung zu diskutieren. ({1}) Es ging darum, das, was auf den Transparenten stand, in Verfassungswirklichkeit umzuwandeln. Da standen wütende Parolen wie „Stasi in die Produktion“. Da stand aber auch „Keine Gewalt“. Da wurde der Hoffnung mit den Worten „Gorbi, hilf uns!“ Ausdruck verliehen. Außerdem stand da „Wir sind das Volk“ und „Alle Macht geht vom Volk aus“. Mehr als alles andere war es dieser urdemokratische und friedlich vorgetragene Anspruch, der den SED-Staat am Ende zusammenbrechen ließ. Es lohnt sich heute, zu fragen, wie es um Freiheit und Demokratie bestellt ist. Es reicht nicht, stolz auf die Glanzpunkte von 60 Jahren zu zeigen. Demokratie ist nämlich kein Zustand; sie ist ein Prozess, in dem Mitsprache und Beteiligung immer wieder gelernt und vor allen Dingen möglich gemacht werden müssen. ({2}) Wir haben Demokratie lernen müssen und wissen, wie gefährdet sie immer wieder ist. Wir brauchen Streit. Streiten gehört zum Wesenskern in der Demokratie. Zum Glück werden Meinungen nicht verfügt wie in der DDR, sondern auf den Prüfstand gestellt. Sie müssen Gegenargumente aushalten. Unser demokratisches Zusammenleben braucht Streit. Was wir aber nicht brauchen, das ist eine Politik, die sich auf Wut, auf Ressentiments oder populistische Anbiederungen aufbaut, wenn auf Stimmungen gesurft wird. Was soll denn die Debatte um den Unrechtsstaat DDR? Dabei geht es nicht um das, was trotzdem stattfand, ein Leben, das sich immer wieder normal anfühlte, nicht nur im Persönlichen übrigens. Ich hatte auch eine ganz begeisterte Lehrerin, die kein Bonze war. Da waren Erfinder, da waren Tüftler, da waren Fußballmannschaften und Musiker. Aber alles und jedes konnte sofort aufhören, wenn es nicht systemkonform war oder schien, wenn eine Person in Ungnade fiel oder wenn ein Schiedsrichter gegen die Mannschaft pfiff, die nach Meinung des Staatsapparates zu gewinnen hatte. Nein, es ist Unrecht, wenn Grenzen dicht sind, wenn Justiz einer Parteidoktrin folgt und Zigtausende in Gefängnissen psychisch und physisch gequält werden, wenn eine Gesellschaft vom Kindergarten bis zum Alter ideologisch durchherrscht und militarisiert wird und wenn in ihr Altenheime heruntergekommene Masseneinrichtungen sind, ({3}) in der es nur eine Meinung geben darf und Abweichung bestraft wird. Wie wollen eigentlich Herr Ramelow und andere Geschichtsklitterer das denen erklären, die im Jugendwerkhof saßen oder aus der Hochschule flogen, ({4}) denen damit gedroht wurde, ihnen ihre Kinder wegzunehmen, wenn sie nicht mit der Stasi kooperierten, oder auch den Eltern von Mauertoten? Ich halte es für zynisch, wenn die DDR im Rückblick zu einer kleinen Idylle gemacht wird. ({5}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nicht umsonst standen zentrale Werte unserer Demokratie auch für den Aufbruch 1989 - Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Selbstbestimmung -, und wohl jedes zweite Transparent in dem wunderbaren Herbst 1989 bezog sich auf diese friedlichen Werte, für die die Menschen einstanden, obwohl sie sich nicht sicher sein konnten, dass sie nicht dafür im Knast landen würden. ({6}) Grundrechte sind vor allem Freiheitsrechte. Es geht um Freiheit, sich zu entfalten, mitzureden, aktiv das eigene Leben zu gestalten. Genau über diese Freiheit müssen wir auch heute reden. Dabei geht es nicht nur darum, von Steuerlasten frei zu sein. Freiheit braucht Voraussetzungen, soziale, kulturelle, wirtschaftliche und auch ökologische Voraussetzungen. ({7}) Dazu passt es auch nicht - ich sage das bewusst auch als Bürgerin der Ex-DDR, in der jeder Lebensbereich durchleuchtet wurde -, dass wir Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte heute zur Disposition gestellt sehen, zum Beispiel in der Wirtschaft. Es kann doch nicht sein, dass wir es als normal erachten, dass Verkäuferinnen quasi per se unter Verdacht gestellt und durchsucht oder von Sicherheitskräften betatscht werden, wenn sie den Laden verlassen. ({8}) Es kann nicht sein, dass Unternehmen unter dem Deckmäntelchen der Prävention Krankenakten führen und dann Mitarbeiter unter Druck setzen. Wir sind ein freies Land. Dafür müssen wir kämpfen, auch in diesem Bereich. ({9}) Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mein Sohn hat gerade seine Abiturklausur über die Geschichte der Demokratie geschrieben. Er ist ganz hingerissen von dieser Frage, ebenso seine ganze Klasse, wenn sie davon erzählen, wie großartig sie es finden, eigentlich ein bisschen in der Vorstellung, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie selbst dabei gewesen wären. Das liegt nur ein ganz kleines bisschen an elterlicher Erziehung; das liegt vor allen Dingen an einer wunderbaren Geschichtslehrerin, die erklärt, begeistert, übt und kämpft. Es ist katastrophal, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der Geschichte der Demokratie wie mit der Diktatur in unseren Schulen immer wieder hinten herunterfällt. Das müssen wir ändern, denn dort ist die Wiege der Demokratie für die Zukunft. ({10}) Diejenigen, die dafür 1989 auf die Straße gegangen sind, haben allen Grund, heute nicht damit zu hadern, dass die Demokratie nicht das Paradies ist. Sie ist aber das Beste, was uns passieren konnte. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die deutsche Wiedervereinigung als politisches Ziel aufrechterhalten hat und damit dazu beigetragen hat, zu verhindern, dass eine eigene DDRStaatsbürgerschaft anerkannt wurde, war eine der Grundvoraussetzungen für die deutsche Wiedervereinigung. Dafür bin ich ganz besonders dankbar. ({0}) Diese Tatsache bewirkte aber noch mehr: Sie hat nicht nur den Flüchtlingen, die damals die Botschaften besetzt hatten, Mut gegeben und es ihnen ermöglicht, ungeschädigt in den Westen zu gelangen, sondern sie diente auch all denjenigen, die sich damals entschlossen hatten, in der DDR zu bleiben, als letzte Zuflucht und gab ihnen Hoffnung. Das muss, wie ich glaube, noch hinzugefügt werden. Gleichwohl muss gesagt werden: Die Tatsache, dass das Grundgesetz die deutsche Wiedervereinigung als politisches Ziel beibehalten hat, ist nicht allein hinreichend dafür gewesen, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland dann zu unserer gemeinsamen deutschen Verfassung geworden ist, sondern dazu trug auch der überragende Erfolg bei, den die auf dem Fundament des Grundgesetzes gewachsene Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg hatte. ({1}) Dieser Erfolg hat die Menschen in Ostdeutschland und darüber hinaus die Menschen im gesamten damaligen sowjetischen Einflussbereich nicht eine Sekunde lang zögern lassen bei der Antwort auf die Frage, welcher Gesellschaftsaufbau die optimalen Entfaltungschancen für alle bietet und welchen man im eigenen Land anwenden soll. Insofern hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auch den Weg für die Einheit Europas bereitet. ({2}) Man muss außerdem sagen: Das lag nicht allein am Grundgesetz, sondern auch an den Personen, die damals daran gearbeitet haben, dass der Geist des Grundgesetzes in der damaligen Situation umgesetzt wurde. Da bin ich Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher ganz besonders dankbar, dass sie damals für die Einheit gearbeitet haben und sich nicht wie andere, die das zum Teil noch heute tun, gegen die Einheit gestellt haben. ({3}) Peter Ramsauer hat schon den Slogan aufgegriffen, der uns gelegentlich entgegengehalten wird, nämlich dass das Grundgesetz den Menschen in Ostdeutschland übergestülpt worden sei. Ich möchte die Kritik an diesem Slogan gerne noch etwas verstärken. Hinzuzufügen wäre etwa, dass diese Aussage eigentlich Ausdruck ungeheurer Arroganz ist, nämlich einer Arroganz gegenüber der freien Entscheidung der Menschen in Ostdeutschland. ({4}) Man versucht, diese Menschen nachträglich für unmündig zu erklären nach dem Motto: Sie wussten ja nicht, was sie taten. Aber genau das stimmt nicht. Sie wussten genau, was sie taten, und sie würden es heute wieder so tun. Man kann nur dann auf die Idee kommen, ihnen ein entsprechendes Unwissen zu unterstellen, wenn man unberücksichtigt lässt, was für ein Albtraum es für die Ostdeutschen gewesen wäre, wenn sie diese geschichtliche Stunde, die ihnen plötzlich die nicht mehr für möglich gehaltene deutsche Wiedervereinigung eröffnete, verstolpert hätten. Genau dies wollten sie unter allen Umständen vermeiden. Deshalb sind sie kein Risiko einge24340 gangen. Und, meine Damen und Herren, das war richtig so. ({5}) Um ein Stück weit zu illustrieren, wie gefährlich die Lage damals war, möchte ich einiges in Erinnerung rufen. Ich will zwar unter gar keinen Umständen alle Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei in einen Topf werfen - viele von ihnen haben Enormes für die deutsche Wiedervereinigung und auch für das Wachhalten des Gedankens daran getan; dazu zähle ich Willy Brandt, Henning Voscherau und andere -, aber doch daran erinnern, welche Auffassung Oskar Lafontaine damals vertreten hat. Oskar Lafontaine hat im Dezember 1989 gesagt, man müsse den Zugriff der Übersiedler aus dem Osten auf die Solidarsysteme im Westen einschränken. Das war seine Auffassung. Auch Herr Schröder hat gesagt: Wir müssen verhindern, dass sich die DDR-Bürger über Gebühr an den Leistungen bedienen, für die die Westdeutschen Beiträge gezahlt haben. ({6}) Das war die damalige Situation. Dies hat Herr Schröder noch am 27. Januar 1990 gesagt. Daran erkennen Sie, wie dringend es für uns gewesen ist, in dieser Frage klare Verhältnisse zu schaffen. Ich bin dankbar dafür, dass es gelungen ist. ({7}) - Selbstverständlich, Herr Lafontaine, habe ich davon etwas gehört. Zur Wahrheit hätte aber auch gehört, dass Sie heute an dieser Stelle zu Ihren damaligen Reden korrekt Stellung genommen hätten. Das haben Sie nicht getan. ({8}) Als ich hier Ihre eigentumsphilosophische Vorlesung verfolgt habe, habe ich bedauert, dass Sie in Ihrem Saarland nicht die Möglichkeit hatten, die Umsetzung Ihrer Ideen in Ostdeutschland persönlich mitzumachen und mitzuerleben. Sie wären ein hervorragender Leiter der staatlichen Plankommission des Bezirks Karl-MarxStadt geworden, Herr Lafontaine. ({9}) Meine Damen und Herren, derzeit diskutieren wir über die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht. Der Ministerpräsident des Landes MecklenburgVorpommern sagt, er wolle durch diese Diskussion die DDR gegen den Vorwurf verteidigen, es hätte in diesem Staat auch nicht das geringste bisschen Gute gegeben. Diesen Vorwurf erhebt niemand. Ich kenne überhaupt niemanden, der sagt, in der DDR habe es nicht das geringste bisschen Gute gegeben. ({10}) Diese Frage ist auch nicht relevant in Bezug darauf, ob man die DDR als Unrechtsstaat qualifiziert. ({11}) Denn wer die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet, der bestreitet nicht, dass es in dieser DDR absolut vernünftige Vorschriften gegeben hat. Die Straßenverkehrsordnung, vielleicht abgesehen von der Tempo-100-Regelung, war eine vernünftige Regelung. ({12}) Das Gleiche gilt für das Zivilrecht. Der frühere Ministerpräsident de Maizière hat allen Grund, immer wieder darauf hinzuweisen, was passiert wäre, wenn man alle Verwaltungsakte aufgehoben hätte. Dann wären nämlich alle Ehen in der damaligen DDR geschieden gewesen. Also Unsinn! Das heißt, es bestand überhaupt kein universeller Korrekturbedarf für alle Entscheidungen der DDR. Auch das besagt der Begriff Unrechtsstaat nicht. Der Begriff Unrechtsstaat besagt etwas anderes. Er besagt, dass diejenigen, die sich in der DDR das Recht zur Gesetzgebung angemaßt haben, dieses Recht nicht hatten, weil sie dazu nicht durch freie Wahlen legitimiert waren. ({13}) Deshalb war die DDR selbstverständlich ein Unrechtsstaat. Dieser Unrechtsstaat ging weit über die bloße Tatsache der Nichtlegitimation der Volkskammer hinaus. Denn er hat zusätzlich auch noch dafür gesorgt, dass es keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Gerichtsbarkeit und insbesondere keine Verfassungsgerichtsbarkeit gab, ({14}) mit der die Bürger die eigentlich in der damaligen DDRVerfassung festgeschriebenen Grundrechte gegen den Staat hätten einklagen können. Diese Tatsachen qualifizieren die DDR als einen Unrechtstaat. ({15}) Ich hatte gehofft, dass man sich dieser Tatsache gerade in der jetzigen Diskussion etwas stärker bewusst wird. In der damaligen DDR haben wir selbstverständlich im Fernsehen gesehen, wie man gleichzeitig mit dem Bestehen des Repressionsregimes in der DDR im Westen mit der Bundesrepublik Deutschland umgegangen ist. In den 70er-Jahren wurde die Bundesrepublik Deutschland als ein Polizeistaat, als alles mögliche Negative bezeichnet, unter anderem auch von Herrschaften, die hier mit im Raum sitzen. ({16}) Der Beweis dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Polizeistaat war, ist, dass man ihn einen Polizeistaat nennen durfte. ({17}) Dass die DDR ein Polizeistaat war, beweist die Tatsache, dass die Polizei kam, wenn man diesen Staat so nannte. ({18}) Das alles ist zum Glück vorbei. Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Das tut mir außerordentlich leid; denn ich habe noch eine ganze Menge mehr vorbereitet. Vielleicht kann ich das beim nächsten Mal sagen. ({19}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen im Plenarsaal des Deutschen Bundestages! Ich möchte meine Rede in dieser Debatte mit einer persönlichen Geschichte beginnen. Ich habe mir 1962 eine Ausgabe der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik gekauft. Warum, weiß ich nicht mehr. Damals war ich 15 Jahre alt. In dieser Verfassung, die ich bei der Vorbereitung auf diese Rede wiedergefunden habe, habe ich damals verschiedene Artikel und Punkte angestrichen. Im Rückblick auf das, was ich in den vergangenen 19 Jahren im Deutschen Bundestag erlebt habe, finde ich das, was ich angestrichen habe, besonders interessant und in dieser Debatte erwähnenswert. Es gab in der DDR-Verfassung von 1949, die in Teilen an die Weimarer Verfassung von 1919 angelehnt war, den Abschnitt „Rechte des Bürgers“, und zwar in einem Kapitel mit der Überschrift „Inhalt und Grenzen der Staatsgewalt“. Ich habe mir damals den Art. 9 angestrichen, der besagte, dass alle Bürger das Recht haben, „innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern“. Bereits für mich als 15-Jährige war relativ schnell klar, dass das 1962 nicht mit der Realität übereinstimmte. Auf der gleichen Seite befand sich Art. 10, den ich doppelt unterstrichen habe. Darin hieß es: „Jeder Bürger ist berechtigt, auszuwandern.“ Das war 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau. Meine Schwester hatte dieses Recht 1955 für sich in Anspruch genommen und war in die Bundesrepublik zu ihrem Liebsten ausgewandert. Das hatte zur Folge, dass sie nicht mehr in die DDR zu Besuch kommen durfte und dass auch wir nach 1961 nicht mehr die Möglichkeit hatten, mitzuerleben, wie es der Familie meiner Schwester ging. 1968 legte die DDR eine neue Verfassung vor, über die in einer Volksabstimmung entschieden werden sollte. Das war die einzige Volksabstimmung, die zu DDR-Zeiten stattfand. Damals war ich 21 Jahre alt und als Buchhändlerin im Volksbuchhandel beschäftigt. Im Vorfeld dieser Abstimmung sollte innerhalb eines jeden sozialistischen Kollektives - das betraf auch den Volksbuchhandel - unterschrieben werden, dass bei der Volksabstimmung jeder und jede von uns natürlich mit Ja stimmt. Das habe ich abgelehnt mit dem Verweis darauf, dass nach der Verfassung der DDR, die ja noch galt - das wurde dann übrigens auch in die neue Verfassung übernommen -, freie, geheime und allgemeine Wahlen durchgeführt werden müssen. Indem ich die Unterschrift verweigert habe, habe ich nicht nur das Ansehen des Kollektivs geschädigt - das war für die anderen sehr schlimm -, sondern mein Verhalten hatte auch für mich persönlich Konsequenzen. Mir wurde nach vielen Diskussionen und zähem Ringen mein Arbeitsplatz im Volksbuchhandel gekündigt. Das bedeutete faktisch Berufsverbot; denn es gab fast nur Volksbuchhandlungen und kaum noch private Buchhandlungen. Ich war zwei Jahre arbeitslos - und das in einem Staat, der mit seinen Gesetzen garantierte, dass jeder Mann und jede Frau ein Recht auf Arbeit und Beschäftigung hat. Auch die 1968 geänderte Verfassung beinhaltete Versammlungs-, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit. Außerdem galten die Unverletzbarkeit der Wohnung und das Post- und Fernmeldegeheimnis. Doch genau diese Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat hebelten die SED und die Staatssicherheit Artikel für Artikel aus. Diese Verfassung hatte keinerlei Verfassungswirklichkeit. ({0}) In den Stasiakten ist nachzulesen, wie eng die Zusammenarbeit zwischen der Staatsanwaltschaft, den Richtern, den SED- und CDU-Funktionären und der Staatssicherheit war. Sie arbeiteten Hand in Hand gegen die Bürgerinnen und Bürger. Rechtsstaatlichkeit konnte weder erlebt noch eingeklagt werden. Denn eine Trennung von Justiz und Staatsapparat, also eine Gewaltenteilung, gab es nicht. Das oberste Gericht der DDR war der Volkskammer bzw. - wenn die Volkskammer nicht tagte dem Staatsrat verantwortlich. Das sind Erfahrungen, die ich zu DDR-Zeiten mit vielen anderen teilte. Wir wollten Veränderungen in diesem Land bewirken. Wir wollten mitgestalten. Wir wollten dazu beitragen, dass in der DDR Demokratie nicht nur auf dem Papier stand, sondern auch erlebbar, fühlbar wurde. Wir waren nämlich davon überzeugt, dass Demokratie die Grundlage dafür ist, dass Menschen sich frei entfalten können. Wir hatten also ähnliche Beweggründe, als wir uns in den 80er-Jahren in der DDR in den unterschiedlichsten Gruppen engagierten. Die Rufe nach demokratischer Teilhabe und Mitgestaltung sowie danach, die in der Verfassung niedergeschriebenen Rechte durch den Staat zu garantieren, wurden immer lauter. Immer mehr Menschen, vor allem junge, fanden sich in Friedens- und Umweltgruppen zusammen. Die Folgen davon waren vermehrte Repressalien. Ein Beispiel. Obwohl in Art. 28 der Verfassung von 1968, also in der veränderten Verfassung, das Recht auf Versammlung und auf Nutzung von Versammlungsgebäuden und -plätzen festgeschrieben war, wurde es von staatlicher Seite nicht gewährt. Im Klartext bedeutete dies das Verbot jeglicher Art von Versammlungen, aber auch von Demonstrationen, obwohl die Formulierung des entsprechenden Artikels anders lautete. Denn Versammlungen außerhalb der Parteien der Nationalen Front und der sozialistischen Massenorganisationen waren nicht möglich. Die Evangelische Kirche bot Raum für Friedens- und Umweltgruppen und für die Mitarbeit am Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Das waren damals drängende Themen. Wie ich aus Nachrichtensendungen wusste, waren das auch drängende Themen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ breitete sich in den 80er-Jahren aus. Viele junge Menschen haben massiv unter den Eingriffen des Staates gelitten. Sie wurden zum Teil von der Schule verwiesen. Sie bekamen keine Berufsausbildung bzw. nicht die Berufsausbildung, die sie wollten. Sie wurden inhaftiert oder - so hieß das damals - von der Stasi zugeführt. Wer nach 1990 einmal die Möglichkeit hatte, sich den Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau von innen anzusehen, dem wurde ganz schnell deutlich, was viele junge Männer und Frauen und Minderjährige erleiden mussten, ohne dass es zuvor ein Verfahren gegeben hatte. Was die Volksbildungsministerin Margot Honecker diesen jungen Menschen angetan hat - viele leiden noch heute unter den Folgen -, wurde nie gesühnt, weil dies rechtsstaatlich sehr problematisch ist. An dieser Stelle wird für mich besonders deutlich, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. ({1}) Diejenigen, die den Mut hatten, etwas anderes zu denken und das, was sie anders gedacht haben, laut zu sagen, gerieten mehr und mehr unter Druck. Die Verfassung bot ihnen keinen Schutz, obwohl in ihr noch so etwas Ähnliches wie Grundrechte formuliert waren. Im Gegenteil: Auf die dort niedergeschriebenen Rechte zu verweisen, führte oft zu strafrechtlicher Verfolgung. Es gab zum Beispiel den Straftatbestand der Zusammenrottung, der dann erfüllt war, wenn man sich mit Gleichgesinnten getroffen hat, oder den Straftatbestand der ungesetzlichen Verbindungsaufnahme, der dann vorlag, wenn Bürger der DDR es wagten, sich mit Gleichgesinnten in der Bundesrepublik Deutschland kurzzuschließen, sich zu informieren und sich vielleicht sogar im Osten Berlins zu treffen. Meine Damen und Herren, das Engagement vieler Menschen brachte das System der DDR im Herbst 1989 zum Einsturz. In der Folge wurden Vorschläge für eine gemeinsame deutsche Verfassung erarbeitet. Das Grundgesetz wurde von seinen Müttern und Vätern im Jahre 1949 nämlich als vorläufig betrachtet und sollte bis zur deutschen Einheit Bestand haben. In Art. 146 des Grundgesetzes kommt das bis heute sehr gut zum Ausdruck. Statt eines Verfassungsrates arbeitete von 1991 bis 1994 lediglich eine Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat. Ich bedaure das noch heute - so geht es vielen -, weil das eine gute Chance gewesen wäre, unsere Erfahrungen mit einzubringen und nicht nur die Grundrechte und die Freiheiten, die wir haben, in ganz Deutschland bekannt zu machen, sondern auch deutlich zu machen, dass dies die einzig mögliche Grundlage eines demokratischen Staatsgebildes ist. ({2}) - Nein, das hat es nicht gegeben. Das hat es deshalb nicht gegeben, weil die Verfassungskommission exklusiv tagte. Was es gegeben hat, lieber Herr Kollege - hier stimme ich Ihnen zu, das war auch richtig und gut so und hat bewiesen, wie viele Männer und Frauen in der Lage gewesen wären, sehr konstruktiv mitzuarbeiten -, waren Tausende von Zuschriften zu Art. 3 des Grundgesetzes, als es darum ging, dass niemand wegen einer Behinderung diskriminiert werden darf. ({3}) Diese Formulierung war in der Verfassungskommission sehr umstritten. ({4}) Die Kolleginnen und Kollegen von der Union wollten sie nicht in das Grundgesetz aufnehmen. Ihre Begründung lautete: Wenn wir Menschen mit Behinderung erwähnen, welche anderen Personengruppen müssen wir dann noch alles aufzählen? - Es wurde also das Argument angeführt, dass eine gewisse Beliebigkeit einsetze. Ich bin sehr froh, dass die Behindertenverbände und viele Einzelpersonen dafür gekämpft haben und eine Mehrheit der Gemeinsamen Verfassungskommission damals dafür votiert hat, diesen Zusatz in Art. 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. ({5}) - Ja, da kann man auch heute noch klatschen, erst recht, weil durch die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderungen deutlich geworden ist, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Es muss ein Grundrecht sein, vor Diskriminierung geschützt zu werden. ({6}) Andere Diskriminierungverbote wurden allerdings nicht ins Grundgesetz aufgenommen. Natürlich können wir jetzt sagen: Es ist prima, dass uns die europäische Gesetzgebung eingeholt hat. - Vielleicht ist es tatsächChristel Riemann-Hanewinckel lich etwas tröstlich, dass das eine oder andere, was wir nicht in unsere Verfassung aufnehmen konnten, nun von anderer Seite beigesteuert wird. Für die Gruppen in den östlichen Bundesländern, die damals Vorschläge erarbeitet und sich sehr intensiv mit der Frage „Welchen Inhalt sollte eine gemeinsame deutsche Verfassung haben?“ beschäftigt haben, war es sehr enttäuschend, dass auf ihre Zuarbeit und Mitarbeit weitgehend verzichtet wurde. Eine entscheidende Festschreibung der Mütter und Väter des Grundgesetzes von 1949 haben wir noch immer nicht erfüllt. Ich zitiere Art. 146: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Das können wir jederzeit nachholen. Denn das heißt nichts anderes, als dass wir einen Volksentscheid durchführen und unserer Verfassung, dem Grundgesetz, in veränderter Form zustimmen; darauf komme ich noch zurück. Meine Damen und Herren, ich gratuliere dem Grundgesetz zum 60. Geburtstag. Ich habe mittlerweile 19 Jahre mit dem Grundgesetz erlebt und bin darüber sehr froh. Ich danke den Männern und vor allen Dingen den Frauen, die damals an seiner Erarbeitung beteiligt waren, für ihr Engagement und ihren Mut, nach den furchtbaren Erfahrungen mit der Nazidiktatur die Prinzipien der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichberechtigung und der Gleichheit in den Mittelpunkt zu stellen. Ich beglückwünsche die Bundesrepublik Deutschland dazu, dass sie sich auf der Basis dieses Grundgesetzes, dieses Regelwerkes organisieren konnte. Unsere Erfahrungen in der DDR waren genau umgekehrt: Der Staat hat sich konstituiert, nach seinem Bedarf bzw. seiner Interpretation eine Verfassung geschrieben und in der SED-Diktatur die Rechte ausgehöhlt. Auch das machte den Unrechtsstaat aus. Glückwünsche zum 60. Geburtstag sind heutzutage Wünsche an die jungen Alten. Ich kann das so locker sagen; denn ich habe das selbst vor zwei Jahren hinter mich gebracht. ({7}) - Vielen Dank. - Auch das Grundgesetz gehört dazu. Es hat die 60 Jahre mit Erfolg hinter sich gebracht und kann durchaus zu den jungen Alten gezählt werden. Sie wissen, dass mit 60 Jahren noch vieles offen ist: Veränderungen und Entwicklungen sind möglich und auch nötig. Das gilt genauso für das Grundgesetz. Eine Verfassung kann und muss immer wieder überarbeitet und gestaltet werden. Unsere Gesellschaft stellt sich immer wieder neuen Anforderungen; das muss sich auch im Grundgesetz widerspiegeln. Deshalb ist noch einiges zu tun. Ich möchte ein paar Anliegen nennen. Erstens. In Art. 20 Abs. 2 steht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Das bedeutet für uns als Parlamentarierinnen und Parlamentarier, dass wir unsere Aufgaben im Auftrag der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erfüllen. Das heißt für mich und für die Sozialdemokratische Partei, dass auch dem Volke eine Beteiligung zu ermöglichen ist. Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide gehören deshalb in das Grundgesetz. Bisher gab es dafür in diesem Haus keine Mehrheiten. Die zweite Volkspartei will diese Art der Beteiligung auf Bundesebene nicht. Das haben wir 1994, aber auch in der Folge, als wir entsprechende Anträge eingebracht haben, sehr deutlich gehört. Lieber Koalitionspartner CDU/CSU, welche Befürchtungen haben Sie eigentlich im Hinblick auf die unmittelbare Bürgerbeteiligung? Die Antwort auf diese Frage sind Sie dem Parlament, aber auch dem deutschen Volk bis heute schuldig geblieben. ({8}) - Das entwertet das, was ich gefordert habe, überhaupt nicht. Zweitens. Noch immer werden Kinder in Deutschland nach Art. 6 über die Rechtsbeziehung ihrer Eltern definiert. Noch immer gibt es in Deutschland den Status des nichtehelichen Kindes. Das bedeutet, dass ungefähr 45 Prozent der Kinder, die im Osten geboren werden, dieses Etikett angeklebt wird. Noch immer werden Menschen, die in Lebenspartnerschaften Verantwortung füreinander übernehmen, nicht vom Grundgesetz geachtet. Es gab entsprechende Vorschläge, die vor 15 Jahren leider auch keine Mehrheit erhalten haben. Kinderrechte gehören jetzt unbedingt ins Grundgesetz. ({9}) Sie müssen Richtschnur des politischen Handelns von Bund, Ländern und Kommunen sein. Eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz würde bedeuten, dass Deutschland endlich die 1992 erklärten Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen könnte. ({10}) Drittens. Das Grundgesetz enthält am Ende, nach Art. 146, einen Auszug aus der Weimarer Verfassung, die 1919, vor 90 Jahren, beschlossen wurde. Das bedeutet, dass diese Artikel, die praktisch als Anhang im Grundgesetz stehen, auch 90 Jahre alt sind. Diese Artikel beschreiben das Verhältnis des Staates zur Kirche. Als Mitglied der evangelischen Kirche und Theologin hatte ich 1994 die Hoffnung, dass die Gemeinsame Verfassungskommission eine neue Vereinbarung dazu vorlegen würde. Leider wurde eine solche Vereinbarung weder von weiten Teilen der Verfassungskommission noch von den beiden großen Kirchen gewünscht. Damals hät24344 ten wir zumindest eines tun können bzw. aus meiner Sicht tun müssen: Wir hätten wenigstens Begriffe wie „Reich“ und „Heer“ durch Begriffe ersetzen müssen, die unserer Realität entsprechen. Das Verhältnis des Staates zu den Kirchen muss für das 21. Jahrhundert in unserer Verfassung neu geregelt und gestaltet werden. Viertens. Kommunales Wahlrecht für Migrantinnen und Migranten aus Nicht-EU-Ländern. Wenn Integration gelingen soll - und sie muss gelingen -, dann ist dieses Wahlrecht für die betroffenen Männer und Frauen ein entscheidender Punkt. 60 Jahre lang hat sich das Grundgesetz bewährt. Es hat Veränderungen erfahren. Die Menschen aus dem Osten Deutschlands erleben seit 19 Jahren den Schutz durch Grundrechte. Deshalb kann ich sagen: Das Grundgesetz ist auch für uns zum Glücksfall geworden. Ich bedanke mich bei all denen herzlich, die 40 Jahre lang, bis vor 20 Jahren, intensiv dafür gearbeitet haben, dass wir die Chance bekommen haben, daran teilzuhaben. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkt 2 auf: 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wachstumsprogramm zur Überwindung der Rezession - Drucksache 16/12887 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Christian Ahrendt, Daniel Bahr ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Anti-Rezessionsprogramm auflegen - Drucksache 16/10867 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen noch mitteilen, dass die für 13.30 Uhr angekündigte Pause nicht stattfinden wird, sondern die Beratungen durchgehend fortgesetzt werden. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle von der FDP-Fraktion. ({3})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Stunden wird das Ergebnis der Steuerschätzung vorgetragen. Das ist eine Bankrotterklärung für die Bundesregierung und auch eine persönliche Niederlage für Herrn Steinbrück. Minister Steinbrück wird von der Financial Times Deutschland als „diplomatische Neutronenbombe“ bezeichnet; auf jeden Fall ist er der größte Schuldenmacher in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die kleinste Recheneinheit bei den Schuldenlöchern ist mittlerweile die Milliarde; man könnte auch sagen: ein Peer. Das Ergebnis der Steuerschätzung beweist: Mit Steuererhöhungen bringt man öffentliche Haushalte nicht in Ordnung. Man braucht Wachstum und Ausgabendisziplin, um sie in Ordnung zu bringen. ({0}) Drei Jahre lang hat die FDP-Fraktion gefordert: Sorgt für die mageren Jahre vor! Drei Jahre lang haben Sie uns verhöhnt und unsere liberalen Sparbücher ins Lächerliche gezogen. Sie haben den Bundeshaushalt von 260 Milliarden Euro auf 300 Milliarden Euro aufgebläht. Jetzt müssen die Bürger Ihre Rundum-sorglosPolitik teuer bezahlen. Deutschland braucht nach Auskunft der Konjunkturforscher bis 2013, um wieder das Wohlstandsniveau von 2008 zu erreichen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Schwarz-Rot hat den Aufschwung nicht genutzt, um Deutschland besser aufzustellen und auf erkennbar schwierige Zeiten vorzubereiten. Ihr Regierungsmotto war: Investieren, Sanieren und Reformieren. Das Erbe, das Sie hinterlassen, ist: Blamieren, Dilettieren und Ruinieren. Das klassische Konjunkturmuster in Deutschland war: Getrieben vom Export springt die Wirtschaft an; lässt die Exportnachfrage nach, springen die Investitionen an und dann der private Konsum. Dieser Mechanismus funktioniert in Deutschland schon länger nicht mehr. Die strukturelle Schwäche ist die Binnenkonjunktur. Der Sachverständigenrat hat immer wieder darauf hingewiesen. Für die schwache Binnenkonjunktur tragen die letzten Bundesregierungen - Grün-Rot und SchwarzRot - die Verantwortung. Das geht von den kleinen Gemeinheiten wie der Praxisgebühr bis zu den großen Hammerschlägen wie der Mehrwertsteuererhöhung. ({1}) Die Konsequenz ist: Die Unternehmen haben sich im letzten Jahrzehnt noch stärker den Auslandsmärkten zugewandt. Die Exportquote betrug ein Drittel; heute liegt sie bei rund 50 Prozent. Das hat mit unserer Produktionspalette zu tun, aber vor allen Dingen mit der Schwäche des Binnenmarktes. Die Exportquote ist aber unnatürlich hoch. Daran trägt die Bundesregierung, RotGrün wie Schwarz-Rot, eine entscheidende Mitschuld. Stellen Sie sich einen Moment vor, die 75 Milliarden Euro, die Sie mit der Mehrwertsteuererhöhung bei den Bürgern abkassiert haben, wären heute noch in den Händen der Bürger! Der Abschwung wäre dann halb so schlimm. Dies wären Kräfte, um die Binnenkonjunktur zu aktivieren. ({2}) Ich möchte mit einer Mär aufräumen, die insbesondere die Sozialdemokraten verbreiten: Die USA werden von der Rezession viel härter getroffen als Deutschland. Das ist falsch. Deutschland hat ein Minus von 6 Prozent, die Vereinigten Staaten haben ein Minus von 3 Prozent. Uns trifft es doppelt so hart wie die Vereinigten Staaten. Das hat seine Ursache in der Schwäche dessen, was in Deutschland entwickelt wurde. Wir haben schon im November letzten Jahres ein Antirezessionsprogramm vorgeschlagen; wir haben es heute wieder auf der Tagesordnung. Das haben Sie nicht zur Kenntnis genommen; Sie haben es ignoriert. Stattdessen haben Sie im Hinblick auf die Wahl in Hessen ein schuldenfinanziertes Ausgabenprogramm auf den Weg gebracht. Herausgekommen ist Murks: Abwrackprämie mit einem Volumen von 6 Milliarden Euro, Strohfeuereffekt, Vorzieheffekt, Mitnahmeeffekte. Aber das Vorziehen der Steuerentlastungen bei den Kassenbeiträgen war angeblich nicht möglich. Wir haben vorgeschlagen, sie auf den 1. Januar 2009 vorzuziehen. Das wäre eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden Euro gewesen. Von den Mitteln der Konjunkturpakete werden Fußbodenheizungen für Eisbärengehege und Radargeräte zum Abschröpfen der Autofahrer angeschafft. Das sind Sickerverluste und prozyklische Elemente. ({3}) Besonders dreist finde ich es, dass Herr Steinbrück jetzt vor der Inflation warnt. Seine Schuldenpolitik ist der größte Inflationstreiber in Deutschland. ({4}) Da legt einer selbst den Brand, um anschließend Feuerwehr zu spielen. Absurder geht es nicht mehr. ({5}) Der Finanzminister profitiert von den inflationären Entwicklungen. Die Zeche zahlen andere: Rentner, Geringverdiener und Sparer. Sie werden kalt enteignet. Die Vorboten der inflationären Entwicklung sind unübersehbar. Das ist ein Ritt auf der Rasierklinge. ({6}) Wir wissen: Wenn das Geld schlecht wird, dann kann alles ins Rutschen kommen. Das beste Konjunkturprogramm, das Deutschland passieren könnte, wäre eine andere, eine bessere Regierung. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Laurenz Meyer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich bei der FDP dafür bedanken, dass sie das Thema Wachstum auf die Tagesordnung gebracht hat. ({0}) Gleichzeitig möchte ich mich bei ihr bedanken, weil ich hoffe, dass möglichst viele - Herr Brüderle, das muss ich in allem Ernst sagen - am Fernseher und hier im Saal zugehört haben. ({1}) Schon durch den Titel Ihres Antrages wird deutlich, dass Sie in einer völligen Fehleinschätzung dessen leben, worum es hier geht. ({2}) Sie schreiben: „Wachstumsprogramm zur Überwindung der Rezession“. Das ist keine Rezession. Weil es keine normale Rezession ist, Herr Brüderle, helfen Ihre platten, einfachen Antworten, die Sie vor dieser Krise gegeben haben und die Sie heute geben, nicht weiter. Das ist leider Gottes wahr. ({3}) Wir haben es in Deutschland mit einer höchstkomplizierten Situation zu tun. Deswegen helfen keine einfachen Antworten. Die Antworten werden kompliziert sein müssen. In dieser Situation erleben wir in Teilen unserer Wirtschaft abbruchkantenartige Entwicklungen, während es in anderen Teilen kaum Auswirkungen gibt. Das ist eine höchst diffuse Lage. In dieser Situation geben Sie hier sozusagen die Standardantworten. Ich habe Ihnen das schon einmal gesagt: Ich habe den Eindruck - hier leider wieder -, dass Sie eine Reihe von richtigen Komponenten und Antworten, die Sie in Ihrem Antrag erwähnen und die ich auch mittragen würde, vom Computer per Zufallsgenerator ständig durcheinandermischen lassen, sodass es nach einem neuen Text aussieht. Dieser wird dann hier als Antrag Laurenz Meyer ({4}) eingebracht. Das geht so nicht. Das ist nicht verantwortungsbewusst; ({5}) das muss ich Ihnen wirklich sagen. Ich bin zwar in vielen Punkten nahe bei Ihnen. Aber in dieser Form geht es wirklich nicht. Seit Herbst letzten Jahres brennt es in Deutschland. Wir haben am Anfang nur gelöscht. In einem ersten Schritt haben wir, angefangen von der Erklärung der Bundeskanzlerin zur Absicherung der Sparer bis hin zum Finanzmarktstabilisierungsgesetz, gelöscht und anschließend die Schäden analysiert. Dann haben wir über das kommunale Investitionsprogramm und Anreize für Investitionen bis hin zu Regelungen zur degressiven Abschreibung sowie zu Steuern und Abgaben einen zweiten Schritt getan. Der britische Botschafter hat letztlich in einem Gespräch - ich will ihn hier nicht über Gebühr zitieren; aber das ist ein für mich ganz wichtiger Punkt - zum Ausdruck gebracht, dass es zu seinem Bedauern das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen, und damit Instrumente wie die Kurzarbeit in dem System der sozialen Absicherung in Großbritannien in dieser Form nicht gibt. Ich will an dieser Stelle für unsere Fraktion ganz bewusst sagen: Angesichts all der Unternehmerbeschimpfung, die wir in den letzten Monaten gehört haben, ist es im Zusammenhang mit der Kurzarbeit und dem verantwortungsvollen Umgang der Unternehmer mit den Arbeitnehmern in den Betrieben, besonders in den mittelständischen Betrieben, an der Zeit, für das Miteinander ein herzliches Dankeschön zu sagen. ({6}) Hier haben in den vergangenen Monaten viele sehr große Verantwortung gezeigt, sonst sähen unsere Arbeitslosenzahlen angesichts der drastischen Einbrüche ganz anders aus. Ich kann mich an ein Gespräch aus der vorletzten Woche mit einem Unternehmer eines Zuliefererbetriebes aus der Lkw-Branche erinnern. Er musste einen Auftragseinbruch von 90 Prozent verkraften. Trotzdem sagte der Mann: Wir versuchen, mit Kurzarbeit über die Runden zu kommen. Wir werden durchstarten, wenn es wieder losgeht. - Diese Haltung stelle ich in vielen Firmen fest. Davor habe ich Hochachtung. Diese Menschen haben unser System nach vorne gebracht und etwas für die Arbeitnehmer und das Land getan. Das bezeichne ich als gesunden Patriotismus und Heimatliebe. Diese Menschen identifizieren sich mit ihren Leuten vor Ort und mit der Region. Deshalb an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön. ({7}) Derzeit geht es um die Frage der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte, Stichwort Bad Bank. Dahinter steckt die Sorge um die notwendige Finanzierung mittelständischer Unternehmen. Eines ist mir in letzter Zeit - schon zu Beginn der Krise, aktuell und auch heute Morgen in der Debatte immer wieder aufgefallen: Bei einer Analyse der Lage stellen wir fest, dass es nicht darum geht, ob wir mehr Staat brauchen. Wir brauchen mehr und klarere Rahmenbedingungen, zum Beispiel für die Finanzwirtschaft. Wo ist denn das Versagen am größten gewesen? Das war doch eher bei den staatlichen Bankinstituten der Fall. Ich weiß überhaupt nicht, wie man auf die Idee kommen kann, einer Verstaatlichung dieser Systeme das Wort zu reden. Das ist doch absoluter Unsinn. Diejenigen, die das fordern, haben offensichtlich nicht richtig hingesehen. Zwei Drittel unserer Probleme sind bei staatlichen Banken aufgetreten. ({8}) Das liegt nicht an zu viel Privatwirtschaft, sondern an zu viel Staat und zu wenig Wettbewerb in diesem Land, an einer falschen Ausgangssituation und an falschen Geschäftsmodellen, die diese Leute verfolgt haben. ({9}) Wir brauchen klarere Rahmenbedingungen; das ist ein typisches Merkmal der sozialen Marktwirtschaft. Wir brauchen mehr langfristiges Denken, sowohl in den Unternehmen wie auch beim Staat. Viele Probleme, mit denen wir uns jetzt beschäftigen, sind auf zu kurzfristiges Denken und Lenkungsmechanismen, die Anlass zu kurzfristigem Handeln geben, zurückzuführen. Das fängt bei den Managergehältern an, geht über die Quartalsabschlüsse und endet bei den Investitionen des Staates in Bereichen wie Bildung und Familie. Langfristig führt das auch zu Fragen hinsichtlich der Höhe der Steuern und Abgaben. Hier geht es nicht einfach um die Frage einer Absenkung der Prozentzahlen und noch nicht einmal um die Frage, in welchen konkreten Schritten wir den Verlauf der Steuerkurve korrigieren. Es geht darum, endlich deutlich zu machen, dass dieses Land gerade in der Situation, in der wir uns befinden, die Motivation aller Leistungsträger braucht. Die normalen Arbeitnehmer - die Durchschnittsverdiener, die Handwerker, die Facharbeiter - müssen im Mittelpunkt unseres Handelns stehen. Das muss die Botschaft sein. ({10}) Wir brauchen diese Leute, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Deshalb sage ich - auch an meine Partei gewandt -: Es ist richtig, dass wir diese Diskussion führen. Wir müssen diese Diskussion vor der Wahl, bevor ein Wahlprogramm verabschiedet wird, führen, damit die Menschen vor der Wahl Klarheit bekommen, dass wir in der nächsten Legislaturperiode den normalen Arbeitnehmer in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen stellen. Laurenz Meyer ({11}) Wir brauchen langfristiges Denken. Forschung und Entwicklung sind das Thema. Bei der steuerlichen Anrechnung von Verlusten in Existenzgründungs- oder Wachstumsbetrieben, Heinz Riesenhuber, sind wir mit unserem Koalitionspartner leider nicht weitergekommen. Da sind Sperren in den Köpfen. Ich wundere mich wirklich, wie jemand, der bereit ist, der Deutschen Post jeden Monat 40 Millionen Euro Mehrwertsteuer zu schenken, bei Kleinigkeiten, die den Unternehmen wirklich helfen würden, dann, wenn es um die Zukunft des Landes geht, alles blockieren kann, was sinnvoll und notwendig ist. ({12}) Die Investitionsbremsen müssen gelockert werden im Bereich Energie, im Bereich Verkehr - bei Straße, Schiene und Flughäfen -, aber auch im Bereich Breitbandnetze. Das ist langfristiges Denken. Herr Brüderle, in Ihrem Antrag taucht wieder auf, dass Sie Veränderungen im Arbeitsrecht, Stichwort Kündigungsschutz, wollen. Ich frage Sie - darüber sollten Sie einmal nachdenken - ganz konkret: Wollen Sie wirklich in so einer Situation zusätzlich Millionen Menschen in diesem Lande in Angst und Schrecken versetzen? Da machen wir nicht mit. Das ist nicht unsere Politik. Wir wollen nicht Angst verbreiten, sondern wollen die Leute motivieren und sie in eine bessere Zukunft mitnehmen. Wir wollen Startchancen schaffen. Das ist, glaube ich, der richtige Weg. ({13}) Ein klares Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland gehört gerade in der jetzigen Situation dazu. Zusammenfassend will ich sagen: Wichtig ist jetzt, nicht die alten Antworten zu geben, sondern Mut zu zeigen, Verantwortung zu zeigen und klare Ziele nach dem Denken zu äußern. Wenn wir es schaffen, alle Kräfte zu mobilisieren, dann werden wir durchstarten können. Ich bin sicher, dass wir am Ende des Prozesses zwar in einer veränderten Situation sind; aber es muss keine schlechtere sein, wenn wir es richtig machen und die Verantwortung und den Mut zeigen, der jetzt nötig ist. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den Antrag der FDP liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass es keine Finanzkrise gibt und die Märkte auch ohne staatliche Eingriffe funktionieren. Dabei liegen die neoliberalen Glaubenssätze längst auf dem Müllhaufen der Geschichte. Die heutige Steuerschätzung geht allein für dieses Jahr von einem Steuerausfall von 45 Milliarden Euro aus. Der Finanzminister, der im Jahre 2011 eine schwarze Null schreiben wollte, muss sich so hoch verschulden, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie der Fall war. Dennoch fordert die FDP verbissen eine Politik der Steuersenkung. Das ist nicht nur weltfremd, das ist auch volksverdummend. ({0}) Diese Weltfremdheit ist kein Privileg der FDP. Auch die Kanzlerin hält trotz der katastrophalen Steuerschätzung an ihrem Vorhaben fest, die Einkommensteuersätze zu senken. In die letzte Bundestagswahl ist die Oppositionsführerin Merkel mit der Ankündigung gegangen, die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte zu erhöhen. Kaum war die Oppositionsführerin Kanzlerin, wurde gemeinsam mit der SPD der größte Wahlbetrug ({1}) in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg gebracht: Aus 2 Prozentpunkten Mehrwertsteuererhöhung wurden 3 Prozentpunkte. Wessen Steuersätze will die Kanzlerin senken, und wer soll das bezahlen? Das ist die Frage. In den letzten zehn Jahren war es immer so, dass die Steuersenkungen für die Reichen von den Geringverdienern, Rentnern, Alleinerziehenden und Arbeitslosen bezahlt wurden. ({2}) Die Wählerinnen und Wähler sollten diese dreiste Umverteilung bei der nächsten Bundestagswahl stoppen. ({3}) Wir, die Linke, wollen Geringverdiener, Arbeitslose, Alleinerziehende, Familien und Rentner entlasten, und wir sagen auch ehrlich, wie wir das finanzieren wollen, nämlich mit einer höheren Besteuerung derjenigen, die in den letzten zehn Jahren schwindelerregende Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit angehäuft haben. ({4}) Im FDP-Antrag wird die Unternehmensteuerreform angegriffen, durch die schon jetzt eine jährliche Entlastung der Unternehmen von ungefähr 10 Milliarden Euro erreicht wird. Die FDP möchte die Unternehmen noch weiter entlasten, doch sie sagt nicht, wer für diese Steuerausfälle aufkommen soll. Das ist keine seriöse Steuerund Haushaltspolitik. ({5}) Sie wollen in Ihrem Antrag, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, dass sich die Marktkräfte frei entfalten können und dass sich der Staat zurückzieht. Wenn der Staat das getan hätte, dann wären die Märkte schon jetzt komplett zusammengebrochen, und dann gäbe es heute auch keine Commerzbank und damit zum Beispiel auch keine Spenden an die FDP mehr. ({6}) Eine Forderung in dem FDP-Antrag möchte ich zitieren: Die Bundesregierung wird aufgefordert, weitere Maßnahmen einzuleiten, die den Geldkreislauf wiederbeleben mit dem Ziel, die Kreditversorgung der Wirtschaft zu sichern. Was denn nun? Wollen Sie nun, dass der Staat eingreift und Banken mit Steuergeldern rettet, oder wollen Sie plötzlich keinen freien Markt mehr, der sich ohne Staat selbst reguliert? ({7}) Es ist völlig unklar, was Sie eigentlich wollen. Die Bundesregierung gibt allerdings vor, den Bankensektor strenger regulieren zu wollen. Gegenwärtig erleben die Menschen aber nur, dass die Regierung Milliarden Euro in marode Banken steckt und nur eine kleine Gruppe von Politikern und Bankmanagern über die Vergabe von Milliarden entscheidet, ohne dass sie vom Bundestag wirksam kontrolliert werden können. Das ist ein Zustand, den wir nicht länger hinnehmen können. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bringt es auf den Punkt - ich zitiere -: … wird das Geld wahllos den Bankern hinterhergeworfen, und die zahlen sich dafür Milliarden an Boni und Dividenden aus. Wir Steuerzahler werden praktisch ausgeraubt, um die Verluste einiger sehr wohlhabender Leute zu verringern. Das muss sich dringend ändern. ({8}) Der Bundesfinanzminister verbirgt sich mit den Banklobbyisten hinter einer Mauer des Schweigens. Die Informationen, die wir als Abgeordnete bekommen, sind häufig komplett wertlos, und es werden Begriffe verwendet, die wie Nebelbomben wirken. Welche Wirkung soll zum Beispiel der Begriff „toxische Papiere“ auf die Bürger haben? Vorsicht, bitte nicht öffnen, Lebensgefahr? Ich will genau wissen, welche schlechten Kredite der Finanzminister aufkauft, für die er gute Staatsanleihen ausgeben will, und ich will auch genau wissen, wie aus diesen toxischen Krediten in 10 oder 20 Jahren durch Geisterhand wieder jungfräuliche Kredite werden. Das ist Voodoo-Ökonomie; um einmal den Sprachgebrauch von Herrn Steinbrück zu benutzen. Machen wir es doch einmal praktisch und nehmen wir an, ein Autohaus habe auf Kredit 100 Geländewagen des Typs Hummer H 2 gekauft. Dieser Geländewagen mit einem durchschnittlichen Benzinverbrauch von 22 Litern auf 100 Kilometer ist in der Krise unverkäuflich. Glauben Sie wirklich, dass der Autohändler diese Spritfresser in den nächsten 20 Jahren verkaufen kann? Diese Vorstellung ist doch abenteuerlich und hat mit Ökonomie überhaupt nichts zu tun. Dieser Kredit ist und bleibt tot. Oder betrachten Sie eine Bank, die 100 Häuser in den USA finanziert hat. Es handelt sich um Holzhäuser mit Einfachverglasung, ohne Wärmedämmung und mit einer Klimaanlage in jedem Zimmer. Glauben Sie wirklich, dass man diese Häuser in 10 oder 20 Jahren mit Gewinn verkaufen kann? Ihr toxisches Gerede hat nur einen Zweck: Sie wollen den Wählerinnen und Wählern Glauben machen, dass nicht sie, sondern die Aktionäre die Zeche zahlen sollen. Nein, es muss Schluss sein mit den unkontrollierten Milliarden für die Banken. ({9}) Eine Verstaatlichung der privaten Banken nach dem schwedischen Modell, wie sie die Linke fordert, hat mit Sozialismus übrigens nur sehr wenig zu tun, sondern ist reine Marktwirtschaft. Wer das Geld gibt, der hat das Sagen. Jetzt ist es aber so: Der Steuerzahler gibt das Geld, hat aber gar nichts zu sagen. Diese Regierung hat das Einmaleins der Marktwirtschaft noch immer nicht verstanden. ({10}) Natürlich darf bei den FDP-Forderungen auch die Flexibilisierung des Arbeitsrechts nicht fehlen. Sie meinen damit natürlich den Abbau des Kündigungsschutzes. Sprechen Sie es doch ehrlich aus und schreiben Sie es auch so auf, wie Sie es meinen! Herr Brüderle, sagen Sie mir doch bitte, welche Unternehmen, welche Banken jetzt in den Konkurs gehen, weil das Arbeitsrecht nicht flexibel war? Diese Unternehmen gibt es nicht; Sie können kein einziges nennen. Ich kann Ihnen aber genügend Unternehmen nennen, die pleitegegangen sind, weil sie von Heuschrecken überfallen wurden. Dazu steht kein Wort in Ihrem Antrag. ({11}) Das wundert mich nicht, kann man doch von der FDP, dem parlamentarischen Arm der Heuschrecken, nichts anderes erwarten. Die FDP lebt weiter in ihrer Shareholder-Value- und Boni-Welt. Wir als Linke kennen die harte Wirklichkeit und die Probleme der Menschen. ({12}) Deshalb sind wir für einen gesetzlichen Mindestlohn. Denn wir sehen, dass viele Menschen in diesem Land nicht von ihrem Lohn leben können. Wir sind für eine Börsenumsatzsteuer, weil wir sehen, wie die gierigen Finanzchaoten unsere Gesellschaft zerstören. ({13}) Wir sind für mehr öffentliche Investitionen, weil wir sehen, dass diese Regierung in den letzten Jahren die öffentliche Infrastruktur - insbesondere die Sanierung von Schulen, Hochschulen und Krankenhäusern - sträflich vernachlässigt hat. ({14}) Zum Schluss habe ich eine Frage an die SPD, Herrn Müntefering und Herrn Steinmeier. Sie schließen eine Koalition mit der FDP nicht aus. Deshalb frage ich Sie, wie Sie in einer Koalition mit der Haifisch-FDP, wie sie überall auf den Wahlplakaten zu sehen ist, Ihr Wahlprogramm durchsetzen wollen. ({15}) Am besten plakatieren Sie: Haifischfutter würde SPD wählen! ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ute Berg von der SPDFraktion. ({0})

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Ihrer Frage, Frau Lötzsch: Wir werden die FDP positiv beeinflussen. Das fällt uns sicherlich nicht schwer, Herr Brüderle. ({0}) Nachdem uns gerade Frau Lötzsch das Einmaleins der Marktwirtschaft erklärt hat, komme ich auf Ihren Antrag zurück, Herr Brüderle. Die FDP hat, wie ich finde, einen glasklaren Schaufensterantrag vorgelegt. Damit meine ich, dass Ihre Absichten leicht zu durchschauen sind: Sie brauchen noch Munition für den Wahlkampf. Bisher haben Sie nichts zur Bewältigung der Krise beigetragen. Außerdem haben Sie ein Sammelsurium von Einzelpunkten vorgelegt, das den Anspruch jeglicher Seriosität vermissen lässt. ({1}) Ganz oben auf dem Forderungskatalog steht wieder die altbekannte Forderung nach niedrigeren Steuern. ({2}) Ich kann es nicht mehr hören. Dabei müsste es sich inzwischen auch bis zu Ihnen herumgesprochen haben, dass jetzt aus einer großen Steuerreform nichts wird, weil es dafür absolut keinen Spielraum gibt. Die aktuellen Zahlen der amtlichen Steuerschätzung liegen noch nicht vor; aber Peer Steinbrück hat bereits festgestellt, dass sich die Steuerausfälle für die nächsten vier Jahre auf ungefähr 350 Milliarden Euro belaufen werden. Wer in dieser Lage Steuersenkungen fordert, hat offenbar den Schuss noch nicht gehört. ({3}) Hinzu kommen - das ist bereits absehbar - die steigenden Ausgaben bei den Sozialversicherungen und die Ausfälle durch den Bankenrettungsfonds. Klaus Zimmermann, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hat mit seiner Einschätzung unsere Position bestätigt: Der Ruf nach Steuersenkungen ist auf absehbare Zukunft unverantwortlicher Populismus. ({4}) Wir haben daher andere Konzepte zur Krisenbewältigung entwickelt. Wie Sie wissen, steuern wir mit drei Maßnahmenpaketen aktiv gegen die Krise an. Erstens haben wir einen Rettungsschirm über die Banken gespannt, um die Geldversorgung aufrechtzuerhalten. Ich weiß, dass es dabei noch ein wenig hakt. Wir sind gerade dabei, nachzujustieren. Des Weiteren haben wir die Spareinlagen der Bürgerinnen und Bürger gerettet. ({5}) Frau Lötzsch sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass wir nicht nur die Höherverdienenden, sondern auch die normalen Bürgerinnen und Bürger im Blick haben. Zweitens haben wir bereits im November 2008 das erste Konjunkturpaket in Höhe von 30 Milliarden Euro und drittens zu Beginn dieses Jahres das zweite Paket beschlossen. Damit unterstützen wir Unternehmen wie auch die Beschäftigten in einem Umfang von 50 Milliarden Euro. Das ist mit 80 Milliarden Euro insgesamt das größte Konjunkturpaket in der Geschichte der Bundesrepublik. Damit - das wiederhole ich ausdrücklich - sichern wir Arbeitsplätze. Die FDP hat uns die ganze Zeit bei allen Maßnahmen beschimpft und dagegengestimmt, aber nichts Eigenes entwickelt. Wir setzen bewusst auf einen Maßnahmenmix. Ich konzentriere mich auf vier Punkte: Wir setzen Impulse für Investitionen und stärken gleichzeitig die Binnennachfrage durch Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger von Steuern und Abgaben. Wie gesagt, mehr geht nicht. Wir helfen mit dem Wirtschaftsfonds kleinen und großen Unternehmen und sichern damit die Arbeitsplätze vieler Beschäftigter. Wir stützen mit der Abwrackprämie die von der Krise besonders betroffene Automobilbranche. In der gestrigen Anhörung ist noch einmal deutlich geworden, dass wir hier offensichtlich sehr erfolgreich sind. Wir treiben zudem den Breitbandausbau in Deutschland massiv voran. Damit nenne ich nur einige Maßnahmen, die wir beschlossen haben. Insgesamt handelt es sich um einen ausgewogenen Mix aus kurzfristig und mittelfristig wirkenden Maßnahmen, die bereits ihre Wirkung entfalten. Das zeigt nach wie vor die, wie ich finde, erstaunlich stabile Binnennachfrage in Deutschland. Zum Glück - dank der Politik aus der rot-grünen Regierungszeit - sind wir in die jetzige Krise relativ stark hineingegangen. Hinter uns liegt eine Zeit des Abbaus der Arbeitslosigkeit um etwa 2 Millionen Menschen. Es wurde damit mehr Beschäftigung aufgebaut, als nun bedroht ist. Das befriedigt nicht, ist aber ein Trost. Wenn wir nicht so gut regiert hätten, hätte es noch viel bedrohlicher ausgesehen. Auf zwei Punkte unserer Konjunkturmaßnahmen möchte ich noch detaillierter eingehen, da Sie diese zwar in Ihrem Antrag erwähnen, dabei aber vergessen, was wir bereits beschlossen haben. Ich meine erstens Investitionen in Bildung und Infrastruktur und zweitens Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger von Steuern und Abgaben. Sie scheinen wirklich vergessen zu haben, was wir hier getan haben. Beides sind wichtige und richtige Stellschrauben, um in einer Situation, in der die Exportmärkte wegbrechen, die Binnenkonjunktur zu stützen. Punkt 1, Impulse für mehr Investitionen. Mit unserem kommunalen Investitionsprogramm finanzieren wir zu zwei Dritteln Investitionen in den Bildungsbereich und zu einem Drittel Investitionen in die Modernisierung der Infrastruktur. Wir haben zusätzlich Mittel für den Ausbau und die Erneuerung der Bundesverkehrswege, aber auch im Bereich der IuK-Technik bereitgestellt. Wir haben zudem die Mittel für die Förderprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau aufgestockt, um weitere Investitionen anzustoßen, insbesondere für die energetische Gebäudesanierung. Alles in allem summieren sich die Ausgaben für Investitionen auf 25 Milliarden Euro in den kommenden zwei Jahren. Mit einer deutlichen Vereinfachung des Vergaberechts haben wir außerdem sichergestellt, dass öffentliche Aufträge schnell und unbürokratisch - auch und gerade kleinen und mittleren Unternehmen - erteilt werden können. Im Moment denken wir darüber nach, in diesem Bereich ein wenig nachzujustieren und weitere Erleichterungen für KMUs voranzubringen. Punkt 2, Entlastung von Steuern und Abgaben. Durch unsere bereits beschlossenen Maßnahmen entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger. Dabei haben wir besonders einkommensschwächere Haushalte im Blick, da hier das zusätzliche Geld direkt in den Konsum geht. Das beginnt mit der Absenkung des Eingangssteuersatzes auf 14 Prozent und der Anhebung des Grundfreibetrags auf 8 004 Euro. Das geht weiter mit dem Kinderbonus in Höhe von 100 Euro, den die Familienkassen bereits ausgezahlt haben, sowie der Erhöhung des Kinderregelsatzes beim Arbeitslosengeld II und der Sozialhilfe ab dem 1. Juli 2009. Nicht zuletzt haben wir bereits die Sozialabgaben gesenkt. Alles in allem entlasten wir die privaten Haushalte mit Augenmaß um insgesamt rund 30 Milliarden Euro. Herr Fuchs, das heißt, eine Familie mit zwei Kindern hat in diesem Jahr netto 679 Euro und im Jahr 2010 614 Euro mehr in der Tasche. Hinzu kommen die bessere Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen und verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen. Das alles sind Maßnahmen, die auch den Konsum und die Investitionstätigkeit anregen. Es geht aktuell aber auch darum, die Grundlage für den nächsten Aufschwung zu legen. Von zentraler Bedeutung sind dabei erstens gut qualifizierte Fachkräfte und zweitens die Bereitschaft und die Fähigkeit zu Innovationen. Wie Sie alle wissen, haben wir die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes von 12 auf 18 Monate verlängert und die Bedingungen unter anderem durch Qualifizierungsangebote attraktiver gestaltet. Wir sehen an der starken Annahme dieses Angebots, dass Unternehmen offensichtlich ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirklich halten und sie nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen wollen. In einem zweiten Schritt werden wir - das hat Olaf Scholz schon mit BDA und DGB vereinbart - die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf 24 Monate verlängern und die Arbeitgeber ab dem siebten Monat Kurzarbeit vollständig von den Sozialabgaben entlasten. Wir wollen die Unternehmen dabei unterstützen, gemeinsam mit ihren Beschäftigten durch die Krise zu gehen, damit sie dann, wenn diese Krise vorbei ist, mit qualifizierten Fachkräften wieder durchstarten können. Damit tun wir wirklich etwas, um Arbeitsplätze zu sichern, und handeln nicht wie Sie, meine Herren von der FDP - ich sehe, im Moment sind nur noch Herren da -, ({6}) die Sie mit Ihrer Forderung nach einem flexibleren Arbeitsrecht verschleiern, was Sie wirklich wollen. Was das nämlich im Klartext heißt, sehen wir in Ihrem Wahlprogramm: Kündigungsschutz nur für Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten und erst nach zwei Jahren Beschäftigungsdauer. Gleichzeitig wollen Sie die betriebliche Mitbestimmung deutlich einschränken und am liebsten ganz abschaffen. Das ist eine Politik gegen Beschäftigte und auch gegen Unternehmen. Gerade in der Wirtschaftskrise zeigt sich nämlich, dass Unternehmen und Beschäftigte eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die gemeinsam an einem Strang zieht. Ich gehe davon aus, dass auch Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind und hören, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesen Zeiten sehr einig sind und gemeinsam Konzepte umsetzen, die wir entwickelt haben, um die Unternehmen zu stärken und die Beschäftigten in den Unternehmen zu halten. Genauso wichtig für die Zukunft unserer Wirtschaft sind Investitionen in Forschung und Entwicklung. In diesem Bereich wird in Krisenzeiten leider häufig gespart, und zwar auf Kosten der Innovationsfähigkeit der Betriebe und des Standortes Deutschland insgesamt. Ich habe mir in der vorletzten Woche ein positives Gegenbeispiel angeschaut. Die Firma Phoenix Contact, ein mittelständischer Betrieb aus meiner Region, steuert bewusst in der Krise dagegen und verstärkt trotz Kurzarbeit in der Produktion ihre Anstrengungen im Bereich Forschung deutlich; denn, so einer der Geschäftsführer, die Firma möchte nach der Krise in der Poleposition sein. Um generell Firmen Anreize zu geben, ähnlich wie Phoenix Contact zu agieren, haben wir die Mittel für das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand um insgesamt 900 Millionen Euro erhöht und damit den Etat für Forschungsförderung im innovativen Mittelstand fast verdoppelt. ({7}) Die Regierungsfraktionen haben in der aktuellen Krise zügig und entschlossen gehandelt und Verantwortung für unser Land übernommen. Das wird auch in den kommenden Wochen das Prinzip unseres Handelns sein, wenn es nämlich darum geht, die nach wie vor bestehenden Probleme unseres Bankensystems durch die Einrichtung von Bad Banks in den Griff zu bekommen und die Kreditversorgung der Wirtschaft zu sichern. In diesem Punkt möchte ich allerdings Herrn Meyer ausdrücklich widersprechen. Es ist mitnichten so, dass der Staat zu großen Teilen der Versager war. Natürlich haben auch staatliche Banken ihren Teil dazu beigetragen, ({8}) dass das Bankensystem in Misskredit geraden ist. ({9}) Aber dass die Krise von lupenreinen Privatbanken in den USA ausging, das können Sie, Herr Meyer, wirklich nicht unter den Tisch kehren. ({10}) Insofern halte ich die Diskussion, die Sie hier führen, für falsch. Ich glaube, dass der Staat verstärkt regulierend eingreifen muss, ({11}) wobei man natürlich auch nicht auf dem „Staatsauge“ blind sein darf. Es hat hier aber in allererster Linie ein Marktversagen und kein Staatsversagen gegeben. ({12}) Die Politik ist in diesen Wochen gefordert, pragmatische Lösungen für außerordentlich schwierige Probleme zu finden. Anträge wie der Ihre sind im Moment alles andere als hilfreich. Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Brüderle, ich muss Ihnen schon eingangs Folgendes sagen: Ich finde, Sie haben hier einen akrobatischen intellektuellen Akt zur Aufführung gebracht. Ich hoffe, Sie haben sich dabei nicht verletzt. Es ist schon erstaunlich, dass Sie die gerade veröffentlichten Steuerschätzungen - die vorgelegten Zahlen sind dramatisch, was Steuerausfälle angeht - als Hinweis darauf interpretieren, dass weitere Steuersenkungen notwendig sind. Das muss Ihnen schon einmal jemand nachmachen. Das zeigt, mit welcher Ignoranz Sie mit dieser Krise umgehen. ({0}) Dazu noch eines - Sie propagieren Steuersenkungen schon seit langem; Sie haben sie vor und nach der Krise propagiert; Sie wiederholen sich ständig -: Ich kenne keine Regierung - an vielen Regierungen war die FDP jahrelang beteiligt -, der es gelungen ist, mit Steuersenkungen einen wirtschaftlichen Aufschwung auf den Weg zu bringen. Sie haben in keiner einzigen Regierung Steuersenkungen durchgesetzt. ({1}) Obwohl Sie verschiedenen Landesregierungen angehören, ist es im Bundesrat noch zu keiner Initiative gekommen, die Steuern zu senken. Ich kann nur feststellen: Das, dem Sie hier seit Jahrzehnten das Wort reden, ist Wahlbetrug. ({2}) Sie wollen über Konjunktur und Rezession, wie Sie sagen, reden. Ich denke, wir sollten hier über die Krise reden und darüber, wie wir aus dieser Krise herauskommen. Schon die von Ihnen verwendete Begrifflichkeit ist doch eine Verharmlosung. Wir erleben die weltweit größte Krise. Es geht um die Frage, welche Antworten wir als Politikerinnen und Politiker haben. Das ist der Punkt. Ich muss schon sagen: Ich wundere mich sehr, dass Sie sich vor dem Hintergrund dieser weltweiten Krise hierhin stellen und behaupten, dass sie etwas mit der Steuerpolitik in diesem Land zu tun habe. Auch die FDP müsste endlich erkannt haben, dass die Finanzkrise als systemische Krise, die die Wirtschaftskrise ausgelöst hat, überhaupt nichts mit Steuerpolitik zu tun hat, aber ganz viel mit einem wirklich völlig unbegrenzten, unregulierten Neoliberalismus, der sich auf den Finanzmärkten durchgesetzt hat. Charakteristisch für ihn ist die Abwesenheit von Regelungen. Der Zustand der Regellosigkeit im Bereich Finanzmarkt hat uns eine Krise eingebrockt, die mit Steuerpolitik nichts zu tun hat und die man mit einer anderen Steuerpolitik nicht bewältigen kann. ({3}) Vielleicht reden Sie den Zustand deswegen klein, weil Ihre Ideologien dieser Entwicklung den Boden bereitet haben. Die entscheidende Frage ist: Wie kommen wir aus den Krisen, mit denen wir es zu tun haben - Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Klimakrise -, heraus? Vor kurzem hat die Hannover-Messe stattgefunden. Auf ihr waren viele Maschinenbauer und mittelständische und kleine Unternehmen vertreten. Sie haben eines sehr deutlich gemacht: Sie haben in ihren Bereichen eine Chance, wenn sie sich auf die ökologische Modernisierung konzentrieren. Das war in Hannover Thema; das ging durch sämtliche Tageszeitungen. Gleichzeitig gibt es international - ich sprach von einer weltweiten Krise - Antworten auf die Krise. China investiert 200 Milliarden Dollar in die ökologische Erneuerung, in den Klimaschutz, in die ökologische Modernisierung. ({4}) Die USA investieren in den nächsten zehn Jahren 150 Milliarden Dollar in genau diesen Bereich, also in erneuerbare Energien, in die ökologische Modernisierung. Südkorea hat 80 Prozent der Mittel seines Konjunkturpakets genau in diese Bereiche investiert. Herr Meyer sagte eben, wir sollten hier für Deutschland Mut entfalten und nicht immer die alten Antworten geben. - Ja, Herr Meyer, das meine ich auch. Allerdings sollten Sie vor dem Hintergrund dessen, was ich hier gerade dargestellt habe, genau dies einmal Ihrer Frau Kanzlerin mitteilen. ({5}) Frau Merkel hat in der letzten Woche noch einmal darauf hingewiesen, mit ihr gebe es keine Klimabeschlüsse, die Arbeitsplätze in Gefahr bringen. Meine Damen und Herren, Entschuldigung, ich glaube, Sie haben wirklich nicht begriffen, dass umgekehrt ein Schuh daraus wird. Die Lösung ergibt sich durch Klimaschutz, durch Investitionen in ökologische Modernisierung, und zwar in allen industriellen Bereichen: Maschinenbau, Chemie, Hightech. Solche Investitionen sind notwendig und werden Arbeitsplätze bringen. Hier ist bei Ihnen Fehlanzeige. ({6}) Anders als Sie hat es beispielsweise die Wirtschaftswoche in der letzten Woche auf den Punkt gebracht. Sie titelt „Grün aus der Krise“ und schreibt, dass die deutsche Industrie mit neuen Ideen eine Million neue Jobs schaffen kann. ({7}) Damit ist Folgendes gemeint: Wir haben eine ökonomische Krise und eine ökologische Krise. Es führt kein Weg daran vorbei, beide Krisen in einem, mit ein und demselben Ansatz zu lösen. Die ökonomische Krise erfordert Investitionen; wir müssen unsere Wirtschaft in Gang bringen. Die ökologische Krise erfordert Klimaschutzmaßnahmen. Beides ist machbar. Jeder einzelne Euro, den wir hier in Deutschland für Investitionen in die Hand nehmen, muss in den Bereich der ökologischen Modernisierung fließen. Darin liegt die Chance, meine Damen und Herren. ({8}) Dazu zählen die Bereiche Bildung und erneuerbare Energien, ({9}) Biolandwirtschaft, Gesundheit und Pflege. Sie bieten Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen; aber wir brauchen sie auch für unsere Gesellschaft, um in die Zukunft gehen zu können. Das ist eine Palette von Möglichkeiten - wir werden sie Ihnen auch noch einmal überreichen -, wie man mit breit angelegten Ansätzen zur ökologischen Modernisierung eine Million Arbeitsplätze in Deutschland schaffen kann. ({10}) Herr Röttgen hat in der letzten Woche gesagt, mit Sparen könne man die Konjunktur nicht ankurbeln. Er wollte damit ein Argument für die Notwendigkeit von Steuersenkungen liefern. - Es tut mir wirklich leid; ich schätze Herrn Röttgen und insbesondere seine Argumentationen sehr, aber hier hat er definitiv einen völlig falschen Gegensatz aufgebaut. Es geht nicht darum, nicht zu investieren, sondern darum, jeden Euro richtig zu investieren, also nachhaltig für die Zukunft. Es geht nicht darum, dass wir sparen sollten und deswegen die Steuern nicht senken sollten - selbstverständlich müssen wir auch sparen -; vielmehr geht es darum, dass wir jetzt Konjunkturprogramme aufgelegt haben, die für Steuersenkungen keinen Raum mehr lassen. Eine Debatte hierüber müssen wir in diesem Hause führen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Steuerschätzung, vor dem Hintergrund der historisch größten Verschuldung Deutschlands ist es wirklich ein vorbereiteter Wahlbetrug - das gilt auch für Frau Merkel -, in dieser Situation Steuersenkungen anzukündigen. ({11}) Das ist vorbereiteter Wahlbetrug in doppelter Hinsicht: Erstens werden Sie die Steuern nicht senken können. ({12}) - Sie sagen „doch“. Prima! - Dann kommt der zweite Wahlbetrug zum Tragen: Sie werden es nur tun können, indem Sie in der Zukunft in Deutschland Sozialabbau betreiben, den Sie hier nicht thematisieren. Das ist wirklich unredlich, meine Damen und Herren! ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Ende. ({0}) - Ich glaube gerne, dass Sie das nicht hören wollen. Zum Ende möchte ich Sie auf Folgendes verweisen: Es ist richtig, zu investieren, aber stoppen Sie nicht, wie Ihre Regierung das gerade tut, Investitionen in Bereiche, wo wir sie brauchen wie beispielsweise im Bildungsbereich - Herr Steinbrück hat ja den Bildungspakt gerade auf Eis gelegt, indem er einen Haushaltsvorbehalt geltend gemacht hat -, und geben Sie das Geld nicht an der falschen Stelle aus wie zum Beispiel für die Abwrackprämie. Bei der gestrigen Anhörung im Ausschuss ist noch einmal ganz deutlich geworden, dass diese Abwrackprämie, für die Sie jetzt noch mehr Geld bereitstellen - Geld ist also offenbar da -, ökologische Kollateralschäden mit sich bringt. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Außerdem wird durch die Abwrackprämie Nachfrage vorgezogen und einem organisierten Betrug mit Altwagen Vorschub geleistet. Es gäbe an dieser Stelle noch viel zu diskutieren - das sagen die Fachleute, nicht wir. Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren: Hören Sie auf mit falschen Versprechungen und schaffen Sie mit uns zusammen 1 Million neue Arbeitsplätze über eine ökologische Modernisierung. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will in aller Kürze nur noch einmal auf den Kern dieses Antrages hinweisen. Die Situation ist: Wir haben eine Rekordrezession. Die Bundesregierung ist nicht allein daran schuld, aber sie ist auch nicht unschuldig. Sie hat in dieser Legislaturperiode die höchste Steuererhöhung durchgeführt, die wir je erlebt haben. ({0}) Über diese höhere Steuerbelastung wollte sie die öffentlichen Haushalte sanieren. Das hat sie nicht geschafft. Sie hat für die schlechten Jahre nicht vorgesorgt, die ja zu erwarten waren. Deswegen fehlt ihr jetzt das Geld. Darüber hinaus hat sie mit diesen hohen Belastungen auch noch eine Binnenrezession herbeigeführt. Das ist ja die Folge von höheren Belastungen. ({1}) Sie können doch keinem erzählen - auch der Parteitag der Grünen kann das keinem weismachen -, dass man mit höheren Steuern und höheren Belastungen die Wirtschaft beleben kann. Nein, all dieses dämpft die wirtschaftliche Entwicklung und schwächt das Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dann weniger ausgeben können. Das führt im Endeffekt auch zu geringeren Sozialabgaben und Steuereinnahmen. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung jetzt zwar einen Rekordstand bei den Schulden erreicht, aber zugleich beinahe schon höhnisch behauptet, jetzt bleibe kein Geld mehr für die Entlastung der Bürger. Es ist doch grotesk, dass sie für diese blöde Abwrackprämie plötzlich 6 Milliarden Euro in die Hand nimmt, ({2}) aber den Bürgern keine Entlastung gönnt. Wo sind wir denn hier? ({3}) Die Bürger sind der Souverän dieses Staates. Sie stehen im Mittelpunkt, und nicht die Autos. ({4}) Die Abwrackprämie ist im Übrigen ein Schuss in den Ofen, weil überwiegend Importautos verkauft worden sind; ({5}) die kleinen Reparaturwerkstätten haben nichts mehr zu tun, die Gebrauchtwagenhändler gehen pleite, und nach Auslaufen der Abwrackprämie wird es einen Nachfrageeinbruch geben. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Das sagen auch die Experten. ({6}) Ich will jetzt einmal die Vergangenheit hinter uns lassen. Die Frage ist nun: Wie kommen wir aus der Rezession heraus, und was kann der Staat dazu tun, dass wir sie überwinden? Man muss sich immer wieder in Erinne24354 rung rufen, dass 10 Prozent des Sozialproduktes im staatlichen Sektor erwirtschaftet werden, 90 Prozent aber im privaten Sektor. Also muss ich mich doch in erster Linie darauf konzentrieren, Impulse für Wachstum, für Investitionen und für Beschäftigung im privaten Sektor zu geben, damit sich dieser positiv entwickelt. Die beiden Konjunkturprogramme konzentrieren ihre Ausgaben aber allein auf den staatlichen Sektor, und auch hier nur auf einen Teil, nämlich im Wesentlichen die Bauwirtschaft. Das hilft einigen Baufirmen und einigen Kommunen - zugegeben -, aber es nutzt der wirtschaftlichen Entwicklung so gut wie nichts, sondern führt in erster Linie nur zur Erhöhung der Schuldenlast. Die Steuerentlastungen, die Sie auf den Weg gebracht haben, waren richtig. Diese haben wir unterstützt. Sie kommen nur zu spät. Die Möglichkeit, Krankenversicherungsbeiträge von der Steuer abzuziehen, besteht erst ab 2010. Wir hätten diese Regelung aber schon in diesem Jahr gebraucht. Sie hätten sie zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft setzen sollen. Sie wurden übrigens dazu genötigt, diese Möglichkeit zu schaffen, weil das Bundesverfassungsgericht das gefordert hat. Aus eigenem Antrieb hätten Sie es gar nicht getan. ({7}) Es wird jetzt darauf ankommen, zu entlasten, damit mehr investiert, mehr Arbeitsbereitschaft ausgelöst wird und damit die Bürger, die Arbeitnehmer mehr Netto vom Brutto behalten, damit sie sich wieder langlebige Gebrauchsgüter, etwa ein Auto, aus eigenem Einkommen leisten können, in ihr Haus investieren können, auch beispielsweise energiesparende Investitionen in den Gebäude- bzw. Wohnbestand tätigen können. Das ist doch die Voraussetzung dafür. Der gute Wille ist ja zu begrüßen, aber erst einmal müssen Sie den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit dafür schaffen. Frau Dückert, ich wundere mich wirklich über Ihr Gedächtnis. Erinnern Sie sich, dass Sie selbst als Grüne eine Steuerreform mitverantwortet haben. Sie haben allen Grund, Herrn Brüderle zu danken und ihn nicht zu beschimpfen; ({8}) denn er hat damals dafür gesorgt, dass Rheinland-Pfalz im Bundesrat dieser Steuerreform über die Hürde geholfen hat. ({9}) - Nein, das lag nicht an uns. ({10}) - Das haben wir natürlich gemeinsam miteinander besprochen, wie wir das immer tun. Die Steuerreform, Frau Dückert, die Sie zu verantworten haben, hat selbstverständlich positive Wirkungen erzeugt. ({11}) Warum hat es hinterher einen Wirtschaftsaufschwung gegeben? Es ist doch einfach dumm, sich davon zu distanzieren. Das war doch mit Ihre Leistung. In den 80erJahren war das genauso. 1986, 1988 und 1990 haben wir eine Steuerreform in drei Etappen durchgeführt, die dazu beigetragen hat, dass wir 1989 eine erheblich höhere Beschäftigung und einen beinahe ausgeglichenen Haushalt gehabt haben. Sonst hätten wir uns die deutsche Einheit noch weniger leisten können. Wir sind ja froh, dass wir uns in diesem Zustand befanden. ({12}) Genau das brauchen wir auch jetzt. Wenn wir aus der Rezession heraus wollen, müssen wir die Bürger, die Wirtschaftssubjekte, die kleinen Unternehmen, die Selbstständigen und die Arbeitnehmer entlasten, damit ihnen mehr Geld bleibt, um dies auszugeben, damit der 90-Prozent-Sektor, die private Wirtschaft, wieder Fahrt aufnimmt und das Wachstum finanziert werden kann. Das ist übrigens die Basis der Staatseinnahmen. Sie werden die Staatseinnahmen nur dann nachhaltig stabilisieren, wenn Sie einen viel höheren Beschäftigungsgrad erreichen. Dieser Aussage kann eigentlich niemand widersprechen. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat der Kollege Michael Fuchs für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lötzsch, etwas für Ihr Poesiealbum - schreiben Sie es mit, damit Sie es endlich begreifen -: ({0}) Hören Sie bitte mit der Umverteilungsarie auf, die Sie uns hier immer wieder vorsingen. ({1}) Es ist totaler Unsinn. Das obere Drittel der Haushalte in Deutschland zahlt 62 Prozent der Einkommensteuer. ({2}) Das untere Drittel der Einkommensteuerzahler zahlt 5 Prozent der Einkommensteuer und bezieht 60 Prozent sämtlicher Alimentierungen, sämtlicher Transfers. ({3}) Das zeigt doch wahrlich, dass wir ein Sozialstaat sind, dass die Gelder bereits in erheblichem Maße umgeleitet werden. Darüber hinaus zeigt dies, dass wir aufpassen müssen, dass diejenigen, die das erwirtschaften, auch noch Lust dazu haben. Wenn wir denen permanent das Geld wegnehmen, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass irgendwann demotivierende Faktoren hineinkommen. ({4}) Deswegen ist es unsere gemeinsame Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir für diejenigen, die morgens früh aufstehen, die arbeiten gehen, die richtig schaffen, die Polizeibeamten, Krankenschwestern, die Nachtdienst machen, ein motivierendes Steuersystem schaffen. Das tun wir nicht, indem wir permanent den Mittelstand in der Progression schlechterstellen. Genau das wollen Sie. ({5}) Liebe Kollegen von der FDP, wir freuen uns ja über Debatten zum Mittelstand. Ich kann auch verstehen, dass Sie als Opposition Forderungen aufstellen, für deren Umsetzung Sie nicht geradestehen müssen. Wir müssen aber in diesem Haushalt dafür geradestehen. Lieber Kollege Brüderle, wir befinden uns in einer Krise, wie es sie noch nie zuvor gab. Machen wir uns nichts vor: Es ist eine Weltkrise. Zum ersten Mal bricht überall die Wirtschaft zusammen. Das hat es noch nie gegeben. Es gab bislang regionale Krisen, beispielsweise 1997/1998 die Finanzkrise in Asien. Wir haben sektorale Wirtschaftskrisen erlebt, zum Beispiel die IT-Blase 2000/2001. Auch in anderen Bereichen gab es Krisen, beispielsweise im Immobilienbereich. Aber nie gab es eine Krise, bei der die Wirtschaft weltweit flächendeckend buchstäblich zusammengebrochen ist. Der Kollege Meyer spricht immer von Abbruchkanten, und er hat recht damit. Unser Export ist zurzeit das zentrale Problem. Dieser ist besonders schwierig anzukurbeln, weil wir nichts dafür tun können, dass die Wirtschaft in anderen Ländern wieder läuft. Das wäre eigentlich das Wichtigste für uns. Im Moment läuft es nirgends gut, egal ob Sie zum Beispiel nach Russland oder nach China schauen. Ich habe mit dem Außenhandel in meinem früheren Leben viel zu tun gehabt. Aufgrund der mir vorliegenden Zahlen kann ich Ihnen berichten, dass wir im Außenhandel wirklich Probleme haben. Einem großen Hamburger Exportunternehmen mit Wirtschaftsbeziehungen zu China wurden in der letzten Woche 30 Aufträge in China gecancelt. Dabei nimmt China keine Rücksicht auf bestehende Verträge. Sie haben gesagt: Wenn ihr in Zukunft mit uns zusammenarbeiten wollt, dann müsst ihr das akzeptieren. - So läuft das momentan. Das sind Abläufe, die die Bundesregierung aber nicht in der Hand hat. Sie sind der Weltkrise geschuldet, und das sollten wir alle, auch Sie, zur Kenntnis nehmen. ({6}) Wir haben eine Reihe von sinnvollen Maßnahmen ergriffen. Eine Maßnahme war, das „Schmiermittel“ der Wirtschaft, den Geldkreislauf, wieder in Ordnung zu bringen. Das ist gelungen. Wir haben erreicht, dass im Bankenbereich endlich wieder ein gewisses Maß an Vertrauen herrscht. Ich bin sehr dankbar dafür, dass uns das in Zusammenarbeit mit dem ganzen Haus gelungen ist. Dass wir damals innerhalb einer Woche das berühmte Finanzierungspaket mit über 500 Milliarden Euro geschnürt haben, war wahrlich nicht einfach, aber dringend notwendig. Ohne dieses Paket wäre der Geldkreislauf nicht wieder in Gang gekommen. Der Kollege Meyer hat allerdings völlig recht, wenn er darauf hinweist, dass es - das sollte nicht vergessen werden, und das muss auch beim Thema Bad Bank beachtet werden - im Wesentlichen die staatlichen Banken sind, die die größten Probleme haben. Die anderen Banken bekommen ihre Probleme in den Griff. Die Deutsche Bank hat eine Bilanzsumme von 1 Billion Euro und 22 Milliarden Euro Toxic Assets. Die HSH hat eine Bilanzsumme von 200 Milliarden Euro und toxische Papiere in einer Größenordnung von 135 Milliarden Euro. Dieses Unverhältnis ist ein Beispiel dafür, wie schlecht in Landesbanken gewirtschaftet wird. Deswegen ist es zwingend notwendig, dass wir im Zusammenhang mit den Bad Assets dafür sorgen, dass die Landesbanken ein Zukunftskonzept auf den Tisch legen, bevor wir ihnen helfen. Jetzt besteht die einmalige Chance, da etwas zu ändern. Auch im steuerlichen Bereich, Herr Kollege Brüderle, haben wir eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Wir haben begonnen, die Progression abzubauen. Für 2009 und 2010 haben wir steuerliche Maßnahmen - zum Teil zugegebenermaßen auf Geheiß des Bundesverfassungsgerichts - in einer Größenordnung von insgesamt circa 18 Milliarden Euro ergriffen. Das ist nicht wenig. Das sind fast drei Mehrwertsteuerpunkte, die wir den Bürgerinnen und Bürgern wieder zurückgeben. Aber das ist richtig und in dieser Krise dringend notwendig. Auch bei den Lohnzusatzkosten haben wir einiges getan. Von Rot-Grün haben wir fast 42 Prozent Lohnzusatzkosten geerbt. Zum 1. Juli dieses Jahres werden sie bei 38,65 Prozent liegen. Das heißt, wir haben die Lohnzusatzkosten um rund 3,5 Prozentpunkte gesenkt. Das hat in den letzten Jahren eine Entlastung von circa 25 Milliarden Euro mit sich gebracht. Auch das müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Ich weiß, dass wir noch einige weitere Punkte angehen müssen. Ich hoffe, dass wir mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion noch Lösungen für die schwierigen Probleme bei der Unternehmensteuerreform finden werden und da Regelungen schaffen können. Wir müssen die Zinsschranke verändern. Sie erweist sich in einer solchen Krisensituation als besonders kritisch. Ebenso erweist sich als kritisch, dass wir diverse andere Punkte nicht geregelt haben, jedenfalls nicht in dem Umfang, in dem dies erforderlich wäre. Zum Beispiel muss alles, was mit der Gewerbesteuer zu tun hat, noch einmal überprüft werden. Es kann nicht sein, dass wir hier zu einer Substanzbesteuerung kommen. Auch der Verlustvortrag bei der Übernahme von Unternehmen ist noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Ich mache auch gleich einen Gegenfinanzierungsvorschlag - das müssen wir gemeinsam angehen, liebe Kollegin Berg -: Die Kollegen, auch Herr Steinmeier, haben versprochen, dass das Postmonopol bei der Mehrwertsteuer aufgegeben wird. Da sind 500 Millionen Euro zusätzliche Einnahmen zu erwarten, und die wollen wir haben. ({7}) Das müssen wir jetzt gemeinsam auf den Weg bringen. Damit können wir die gröbsten Fehler, die wir bei der Unternehmensteuerreform gemacht haben, reparieren. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen! ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Reinhard Schultz für die SPD-Fraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon einigermaßen merkwürdig, dass in den letzten Wochen und Monaten immer wieder dieselbe Leier in unterschiedlicher Form zur besten Sendezeit vorgetragen wird. In diesem Fall wird von der FDP in der Kernzeit ein Wachstumsprogramm gefordert, das in seinen wesentlichen Bestandteilen schon längst existiert. Das ist ein wenig Markenpiraterie, die Sie da betreiben. Da ich es aber mit Ihnen gut meine und Sie nachher noch einen Parteitag haben, habe ich einmal nachgeschaut, was sonst noch auf Sie zutreffen würde. In diesem Zusammenhang habe ich ein Lied von Hildegard Knef entdeckt mit dem Titel „Lieber Leierkastenmann“. Darin gibt es sozusagen eine richtige FDP-Strophe, die ganz gut zu dem Redebeitrag von Herrn Solms passt, der das zweigesichtige Verhalten der FDP bei der Steuerreform im Bundesrat und hier, das angeblich abgesprochen war, erwähnt hat. In dem Lied heißt es: Lieber Leierkastenmann, fang noch mal von vorne an, von dem schönen Spree-Athen, wo sojar die Blinden sehn. Wo der Mann uff eenem Bein abends packt de Krücken ein; plötzlich kann er wieder loofen, denn des Abends ist er uff’n Kien, denn da jeht der Junge schwoofen, dafür stammt er schließlich aus Berlin. Das ist ein Lied, das zur FDP passt: Tagsüber spielt sie den Blinden und den Lahmen, und abends geht sie aufs Parkett. Bei Ihnen ist alles grundsätzlich möglich, wie es gerade in Ihre Vermarktung passt. Das ist bezeichnend. Ich finde Ihr Verhalten nicht unsympathisch, aber es ist leider nicht besonders ehrlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die von Ihnen immer wieder vorgetragene Kernforderung nach einer großen Steuerreform genauer anschaut, dann erkennt man, dass sich in den nächsten vier Jahren über den Daumen gepeilt eine zusätzliche Belastung für die öffentlichen Haushalte durch Einnahmeausfälle in Höhe von 152 Milliarden Euro ergibt. Dieser Betrag kommt zu den 320 Milliarden Euro Einnahmeausfälle hinzu, die von der Steuerschätzung vorhergesagt werden. Diese Relation muss man sich einmal vor Augen führen. Im gleichen Moment schwingen Sie sich aber auf - das passt ziemlich gut zu dem Blinden, der plötzlich wieder sehen kann -, eine rigide Schuldenbremse zu fordern. Das ist ausgesprochen witzig. Im ersten Satz erheben Sie Forderungen in Bezug auf eine Steuerreform, die Einnahmeausfälle in Höhe von 152 Milliarden Euro bewirkt. Im zweiten Satz fordern Sie eine rigide Schuldenbremse. Der Ausweg kann nur darin liegen, dass öffentliche Aufgaben sowohl in den Bereichen Bildung und Betreuung als auch in den Bereichen Wirtschaftsförderung und Infrastrukturausbau eingeschränkt werden. Dieser Widerspruch ist so offensichtlich, dass Sie sich schon wegen fehlender intellektueller Redlichkeit bei der Öffentlichkeit für diesen Antrag entschuldigen müssten. ({0}) Viele Punkte, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen, sind nachvollziehbar. Deswegen haben wir sie auch schon umgesetzt. Sie fordern, dass Investitionen in den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur vorgezogen werden sollen. Das haben wir gemacht. Es ist der wesentliche Bestandteil unserer Konjunkturprogramme. Das gilt für die Investitionen sowohl auf Bundesebene als auch auf kommunaler Ebene. Sie fordern, den Bürgern mehr Möglichkeiten zu geben, mehr zu investieren und zu konsumieren. Das haben wir gemacht, indem Handwerkerrechnungen besser von der Steuer abgesetzt werden können und indem wir in unsere Programme gewaltige Abgaben- und Steuersenkungen aufgenommen haben, die ihre Wirkungen entfalten werden. ({1}) Deswegen ist Ihre Analyse, die in Ihrem Antrag steht und auch in dem Vortrag von Herrn Brüderle vorkam, dass es eine Binnenwirtschaftskrise gibt, geradezu albern. Denn das Einzige, das im Augenblick einigermaßen funktioniert, ist die Binnenwirtschaft. ({2}) Die Bürger sind nach wie vor in Kauflaune. Der Einzelhandel weist ein Umsatzplus auf. In allen Bereichen der Reinhard Schultz ({3}) Binnenwirtschaft geht es eher bergauf. Problematisch ist allein der Bereich, der von der Außenwirtschaft, also vom Export, abhängig ist. Wie Herr Fuchs richtig beschrieben hat, haben wir nur wenige Möglichkeiten, darauf einen direkten Einfluss zu nehmen, es sei denn durch internationale Absprachen. Deswegen hat die Bundesregierung, insbesondere Peer Steinbrück, dafür gesorgt, dass im europäischen und im weltweiten Konzert alle Industrienationen auf der gleichen Klaviatur spielen, was die Strategien zur Bekämpfung dieser Krise angeht. Natürlich besteht immer noch das Problem, dass der auslösende Faktor, die Finanzkrise, immer noch nicht bewältigt ist. Ich gehe nicht so weit zu sagen, dass der Interbankenverkehr schon wieder grenzenlos funktioniert. Den Studien, die die KfW gestern veröffentlich hat, ist zu entnehmen, dass entgegen den Verlautbarungen von vor zwei, drei Wochen mittlerweile auch die KfW der Meinung ist, dass es bei Mittelstandsfinanzierungen allmählich wirklich eng wird. Wir müssen die Banken zwingen, sich von ihren faulen Papieren zu trennen und ihre Bilanzen im Rahmen einer längerfristigen Abschreibungsstrategie zu bereinigen; in der Zwischenzeit müssen sie natürlich genug Eigenkapital haben, um Kredite ausreichen zu können. Das werden wir auch tun, und zwar auf eine Art und Weise, die den Steuerzahler nicht belastet; das kann ich für die SPD ganz deutlich sagen. ({4}) Es wird ein Risikomanagement durchgeführt, bei dem der Staat zunächst einmal für eine bestimmte Phase als Bürge eintritt. Die Restrisiken müssen aber von den Alteigentümern der Banken selbst getragen werden. Für den Fall, dass dann immer noch Geld fehlt, muss im Gesetz ein Mechanismus verankert werden, der sicherstellt, dass diese Risiken in Form einer Umlage auf den gesamten Finanzsektor abgewälzt werden. Es kann nicht sein, dass sich die Institute, die ein Fehlverhalten an den Tag gelegt haben, letztlich zulasten des Steuerzahlers sanieren. Das ist eine klare programmatische Aussage, auch im Hinblick auf die weiteren Diskussionen über die Gesetzgebung zur Gründung einer Konsolidierungsbank. Hier ist vorgetragen worden, dass das Problem im öffentlichen Bankensektor bestehe. Das ist nicht ganz ehrlich, lieber Herr Meyer. Natürlich gibt es in der überwiegenden Zahl der Landesbanken erhebliche Probleme. Sie sind zum Teil darin begründet, dass sich die Träger der Landesbanken, insbesondere die Landesregierungen, noch vor wenigen Wochen geweigert haben, überhaupt über Fusionen, neue Geschäftsmodelle und Ähnliches nachzudenken; damit hätte man ihnen nämlich ihr Spielzeug aus der Hand genommen. Das gilt für die nordrhein-westfälische Landesregierung genauso wie für alle anderen. ({5}) Auch die politische Verantwortung ist, was die Farben angeht, ziemlich einseitig verteilt. Die Heldenstücke, die sich Hamburg und Schleswig-Holstein geleistet haben, haben dazu geführt, dass ein von mir sehr geschätzter früherer Unternehmenschef, der für kurze Zeit Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein war, aus Verzweifelung über die Inkompetenz seiner CDU-Kollegen in der Landesregierung den Bettel hingeworfen hat. Daran wird deutlich, wie dilettantisch auf dieser Ebene mit dem Thema Landesbanken umgegangen wird. Das eigentliche Problem - Stichwort: Lehman Brothers - betrifft im Wesentlichen den privaten Sektor. Auch die HRE ist keine öffentliche Bank; inzwischen ist sie es vielleicht, aber sie war es nicht, als die Probleme entstanden sind. Selbst die IKB - das wissen auch Sie war lediglich das Anhängsel eines öffentlichen Konstruktes. Sie ist uns seinerzeit sozusagen angedient worden, und zwar zur Vermeidung eines Zusammenbruchs. Vom Bund wurde erwartet, dass die KfW die damals notleidende IKB übernimmt. Dass dann mit krimineller Energie bestimmte Entwicklungen vorangetrieben wurden, deren Folgen wir jetzt mit bergmännischen Methoden sozusagen zutage fördern müssen, ist ein anderes Problem und in hohem Maße ärgerlich. ({6}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein sehr breit angelegtes Programm erarbeitet, um die Wirtschaft flottzumachen. Da die FDP heute mehr freihändige Vergaben gefordert hat, sage ich Ihnen: Das hat mit Wettbewerb nichts zu tun - darum geht es in einem anderen Kapitel -, begünstigt eher die Unter-dem-TischVergabe und ist ein Riesenproblem. Dennoch haben wir uns trotz der grundsätzlichen Reform des Vergaberechts, die wir beschlossen haben, bereit erklärt, die Schwellen für freihändige Vergaben und beschränkte Ausschreibungen anzuheben. Das ist bereits geschehen. Das, was Sie heute fordern, ist also schon längst Gesetz. Zur Breitbandstrategie. Die Bundesregierung hat eine Breitbandstrategie, die sie den Regionen wie Sauerbier anbietet. Das Problem ist, dass manche Unternehmen dieses Angebot nicht annehmen wollen. In der Region, aus der ich komme, gibt es führende Unternehmen, sogar Hightechunternehmen, die sich immer noch fragen: Brauchen wir das eigentlich? - Vielleicht scheuen sie die damit verbundenen Kosten. Hier ist auf jeden Fall noch eine Menge Entwicklungsarbeit erforderlich. Die Bundesregierung steht allerdings an der Spitze dieser Bewegung. Jetzt komme ich zur Beschleunigung des Netzausbaus, die Sie gefordert haben. Ich muss Ihnen sagen: Wir haben gerade erst das EnLAG beschlossen, mit dem der Netzausbau beschleunigt wird. Es ist wirklich sehr interessant, dass Sie heute etwas fordern, was bereits in der letzten Sitzungswoche beschlossen worden ist. Nun komme ich zum wunderschönen Thema Abwrackprämie; man kann sich lange darüber unterhalten. Gestern gab es eine Anhörung. Es waren interessante Reinhard Schultz ({7}) Figuren der Zeitgeschichte vertreten. Diejenigen, die etwas von der Abwrackprämie haben - ich nenne stellvertretend die Vertreter der Automobilindustrie, des KfzGewerbes und der IG Metall -, finden die Abwrackprämie super, weil sie Arbeitsplätze rettet und diese Branche durch die Krise bringt. Die selbsternannten Säulenheiligen, die Deutsche Umwelthilfe, der BUND und andere - auf anderen Gebieten sehr geschätzt -, behaupten in fast tibetanischer Gebetsmühlenartigkeit - „tibetanisch“ habe ich nicht gesagt, sonst gibt es wieder Probleme mit den China-Politikern -, das sei nicht das Richtige, man hätte, wenn überhaupt, für den richtigen ökologischen Impetus sorgen müssen. Tatsache ist, dass im Wesentlichen Klein- und Mittelklassewagen mithilfe der Umweltprämie gekauft wurden. Diese sind moderner als die mindestens neun Jahre alten Wagen, die abgewrackt wurden. Damit trägt die Prämie garantiert zur Minderung des CO2-Ausstoßes bei. Ein großer Gewinner ist hier das Unternehmen Opel, dem man erheblich helfen konnte, die Durststrecke zu überwinden. Auch der Verkauf von Kleinwagen der Marke VW wurde gesteigert. Die neuen Zulassungszahlen zeigen, dass weit über 50 Prozent der Autos, die mithilfe der Umweltprämie gekauft wurden, von Unternehmen stammen, die wesentliche Teile der Wertschöpfung in Deutschland erzielen; ein anderer Teil der Wagen kommt aus Europa, nur ein ganz kleiner Teil aus Asien. Lassen Sie sich nicht irre machen! Es handelt sich hier um ein Gewinnerthema, für diejenigen, die sich ein Auto kaufen konnten, für die Arbeitnehmer, die diese Autos gebaut haben, aber auch für uns, weil es uns fast nichts kostet. Die Maßnahme ist nämlich fast aufkommensneutral; fast 20 Prozent des Verkaufspreises bekommen wir über die Mehrwertsteuer wieder. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, diese Anträge sind der zweite Versuch einer Abreibung von einer ansonsten geschätzten kleineren Oppositionspartei. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Eigentlich wollte ich hier im Sinne einer Captatio benevolentiae die Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die es mit den Kolleginnen und Kollegen von der FDP hinsichtlich der Zielsetzungen unstrittig gibt. Arbeitsplatzsicherung und die Herstellung finanzwirtschaftlicher Stabilität sind sicherlich gemeinsame Ziele. Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit: Wir müssen uns sicher nicht ausgerechnet von der Linken das Einmaleins der Marktwirtschaft erklären lassen, ausgerechnet von der Partei, die in einem großen Feldversuch schon einmal gezeigt hat, wie man eine Volkswirtschaft ruiniert. ({0}) Ich will meine Ausführungen zu den Gemeinsamkeiten trotzdem nicht wie vorgesehen ausbauen; denn es hat mich schon geärgert, was die Kolleginnen und Kollegen von der FDP heute hier vorgetragen haben. Man kann doch nicht so tun, als gebe es hier eine binnenmarktbegründete Rezession, an der ausgerechnet diese Bundesregierung schuld ist. Man muss doch sehen, dass wir uns in einer tiefgreifenden Vertrauenskrise befinden, in der auch die Politik Verantwortung trägt, aber nicht dafür, dass sie ausgebrochen ist, sondern dafür, Wege zu finden, aus der Krise herauszukommen. ({1}) Es ist schon ein Unding -, was hier alles behauptet worden ist -, dass die FDP ein Versagen der Regierung konstruiert. Die Äußerungen gipfelten darin - das ist verantwortungslos -, ausgerechnet bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Inflationsängste zu schüren, obwohl wir alle wissen, wie sensibel unsere Bürgerinnen und Bürger auf dieses Thema reagieren. ({2}) Ich glaube, die FDP muss an dieser Stelle üben, Verantwortung zu übernehmen; denn ich gehe davon aus, dass sie in naher Zukunft gemeinsam mit uns regieren will. Insbesondere die schwierigen Operationen, die uns beim Thema Bad Banks bevorstehen, bieten einige Möglichkeiten, Verantwortung zu übernehmen. Bisher waren Sie beim Thema Stabilisierung des Vertrauens in den Finanzbereich nicht sehr hilfreich. Im Gegenteil: Ich erinnere mich an die letzte Rede des Kollegen Solms zum Thema HRE-Bank, in der er so getan hat, als sei es eine ernsthafte Alternative, die HRE-Bank in die Insolvenz zu schicken. Auch das ist unverantwortlich. ({3}) Ich erwarte - das sage ich auch im Hinblick auf eine denkbare Koalition -, dass Sie jetzt wieder verantwortungsvoll mit diesen Fragen umgehen. ({4}) Bei den Bad Banks geht es darum, dem Finanzsektor wieder Gestaltungsspielraum zu geben, und zwar ohne den Steuerzahler über Gebühr in eine Haftungssituation zu drängen. Das ist schwierig, wahrscheinlich die ökonomische Quadratur des Kreises - das gebe ich zu -, aber wir müssen ernsthaft etwas tun; denn sonst kommt insbesondere der Mittelstand tatsächlich in eine Kreditklemme. Dem Mittelstand hilft es nicht, wenn wir über die Definition der Kreditklemme diskutieren: Haben wir eine flächendeckende Kreditklemme, oder haben wir sie nicht? Für denjenigen, der momentan vor der Aufgabe steht, sein Unternehmen finanzieren zu müssen, gibt es eine Kreditklemme. Der steckt in der Klemme. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass er, wenn er krisenbedingt in dieser Klemme steckt, aus dieser Situation wieder herauskommt. Wir tun einiges, zum Beispiel im Bereich der KfW. Auch da geht es jetzt um die Details der Umsetzung. Es geht um die Frage, wie wir sicherstellen können, dass das Instrument, das wir geschaffen haben, in der Praxis umgesetzt werden kann und uns voranbringt. Ich breche eine Lanze für den Mittelstand, weil ich glaube, dass der unternehmerische Mittelstand eine wichtige Säule im Rahmen der Krisenbewältigung ist. Wir stellen fest, dass es in diesem Bereich ein hohes Maß an Stabilität gibt. Ich stelle fest, dass insbesondere diejenigen, die nicht sehr stark export- oder automobilwirtschaftlich orientiert sind, momentan in der Lage sind, Deutschland wirtschaftspolitisch zu stabilisieren. Deshalb verdient insbesondere der unternehmerische Mittelstand unsere Unterstützung. Das, was wir in den Bereichen Investitionen, Innovationsförderung und Bürgschaften tun, tendiert in diese Richtung. Mir geht es auch darum, dass wir in dieser Situation die Mittelschicht, die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen, die täglich arbeiten, die als Handwerker oder Facharbeiter ihren Beitrag dazu leisten, dass wirtschaftlich nicht alles zusammenbricht, nicht vergessen. ({5}) Wir haben hier eine relativ kontrovers geführte Debatte über die Frage erlebt, ob wir in der Lage sind, diese Gruppe zu entlasten. Meine Damen und Herren, dies ist aber erst die zweite Frage. Der erste Punkt, den man herausstellen muss, ist: Wir haben die Pflicht, sie jetzt zu entlasten. Die OECD ist zu dem Schluss gekommen, dass die Durchschnittsverdiener nur in zwei anderen Ländern, nämlich in Belgien und Ungarn, steuerlich stärker belastet werden als in der Bundesrepublik Deutschland. Daran erkennt man den Handlungsbedarf doch ganz deutlich. Den kann man doch nicht leugnen. Also ist es richtig, an dieser Stelle anzusetzen. ({6}) - Wenn Sie fragen, wer regiert, dann haben Sie meinen Vorrednern von der Koalition nicht zugehört, die vielfach deutlich gemacht haben, dass wir in diesem Bereich auf einem guten Weg sind ({7}) und etliche Schritte zur Entlastung - 30 Milliarden Euro schon unternommen haben. Diesen Weg müssen wir fortsetzen und gleichzeitig auf unsere Haushalte achten. Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen, der in dieser Krise ganz entscheidend ist: die Kurzarbeit. Ich glaube, dass viele noch nicht eingesehen haben, wie wichtig und zentral dieses Instrument in dieser Krisensituation ist. Dieses Instrument wird uns nach dem Durchschreiten dieses Tales, nachdem wir die Brücke der Kurzarbeit genutzt haben, in eine positive wettbewerbliche Situation versetzen und dazu führen, dass wir vorankommen. Durch Kurzarbeit können wir das Knowhow sichern und auf den Mitarbeitern, die wir nicht in die Arbeitslosigkeit geschickt haben, aufbauen. So können wir gestärkt aus dieser gefährlichen Krisensituation kommen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die Politik Vertrauen wieder zurückgewinnt; das fordere ich ein. Wir müssen Handlungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein zeigen. Deshalb eignet sich die Krise nicht, aber auch gar nicht für Wahlkampfgetöse. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/12887 und 16/10867 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/12887 soll federführend beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 e sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: 38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/12587 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die In- ternetversteigerung in der Zwangsvollstreckung - Drucksache 16/12811 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung elektronischer Anmeldungen zum Vereinsregister und anderer vereinsrechtlicher Änderungen - Drucksache 16/12813 24360 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Sportausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föderalismusreform - Drucksache 16/12882 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Europol-Gesetzes, des Europol-Auslegungsprotokollgesetzes und des Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. November 2003 zur Änderung des Europol-Übereinkommens und zur Änderung des Europol-Gesetzes - Drucksache 16/12924 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Energieforschung neu ausrichten - Deutschland, Energieland der Zukunft - Drucksache 16/10329 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Nachteile für den Forschungsstandort Deutschland aufheben - Für ein innovationsfreundliches Steuersystem - Drucksache 16/12474 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Punkte-Systematik des Verkehrszentralregis- ters in Flensburg einfacher und verständlicher gestalten - Drucksache 16/12993 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Situation von Frauenhäusern verbessern - Drucksache 16/12992 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erinnerungsprojekt „Zug der Erinnerung“ unterstützen - Drucksache 16/12991 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/12991, Zusatzpunkt 3 e, soll zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 o sowie Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 39 a: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({8}), Marieluise Beck ({9}), Alexander Bonde, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung - Drucksache 16/7134 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({10}) - Drucksache 16/12534 Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder ({11}) Dr. Matthias Miersch Christoph Strässer Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang Nešković Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12534, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7134 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen und der Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 39 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Juli 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/12589 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({12}) - Drucksache 16/12908 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({13}) Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12908, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12589 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 39 c: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. September 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Vermarkung und Instandhaltung der gemeinsamen Grenze auf den Festlandabschnitten sowie den Grenzgewässern und die Einsetzung einer Ständigen Deutsch-Polnischen Grenzkommission - Drucksache 16/12590 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({14}) - Drucksache 16/12913 Berichterstattung: Abgeordnete Günter Baumann Wolfgang Gunkel Ulla Jelpke Wolfgang Wieland Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12913, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12590 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 39 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes - Drucksache 16/12427 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15}) - Drucksache 16/13028 Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder ({16}) Dr. Carl-Christian Dressel Jörg van Essen Sevim Dağdelen Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13028, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12427 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen gegen die Stimmen der Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 39 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. November 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des grenzüberschreitenden Missbrauchs bei Leistungen und Beiträgen zur sozialen Sicherheit durch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Erwerbstätigkeit und von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit sowie bei illegaler grenzüberschreitender Leiharbeit - Drucksache 16/12588 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({17}) - Drucksache 16/13017 Berichterstattung: Abgeordneter Manfred Kolbe Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13017, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12588 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Grünen und der Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie in zweiter Lesung angenommen. Tagesordnungspunkt 39 f: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen - Drucksache 16/12592 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({18}) - Drucksache 16/13029 Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder ({19}) Christoph Strässer Jörg van Essen Sevim Dağdelen Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13029, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12592 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 39 g: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes - Drucksache 16/12853 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({20}) - Drucksache 16/13022 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({21}) Frank Schwabe Michael Kauch Hans-Josef Fell Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13022, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12853 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 39 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit Bioraffinerien in Deutschland die Biomasse effizienter nutzen und zusätzliche Ressourcen erschließen - Drucksachen 16/5529, 16/11220 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Marko Mühlstein Angelika Brunkhorst Hans-Kurt Hill Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11220, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5529 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 39 i: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ältestenrates zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Bärbel Höhn, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorbildfunktion der Politik für Klimaschutz ernst nehmen - Für eine nachhaltige Senkung verkehrsbedingter CO2-Emissionen des Deutschen Bundestages - Drucksachen 16/9009, 16/12800 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Norbert Lammert Der Ältestenrat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12800, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9009 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 39 j: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({23}) - zu der Verordnung der Bundesregierung Vierundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - zu der Verordnung der Bundesregierung Einhundertachtundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 16/12195, 16/12357 Nr. 2.1, 16/12196, 16/12357 Nr. 2.2, 16/12819 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnungen der Bundesregierung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung auf Drucksache 16/12195 und zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - auf Drucksache 16/12196 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 39 k: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({24}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr ({25}) ({26}) KOM({27}) 852 endg.; Ratsdok. 17324/08 - Drucksachen 16/11721 Nr. A.27, 16/12842 Berichterstattung: Abgeordneter Winfried Hermann Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Linken gegen die Stimmen der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkte 39 l bis 39 o. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 39 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 561 zu Petitionen - Drucksache 16/12870 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 561 ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 39 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 562 zu Petitionen - Drucksache 16/12871 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 562 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 39 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 563 zu Petitionen - Drucksache 16/12872 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 563 ist gegen die Stimmen der Grünen und mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 39 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 564 zu Petitionen - Drucksache 16/12873 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 564 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({32}) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Marieluise Beck ({33}), Volker Beck ({34}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Landrechte stärken - „land grabbing“ in Entwicklungsländern verhindern - Drucksachen 16/12735, 16/13023 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolf Bauer Dr. Sascha Raabe Dr. Karl Addicks Dr. Norman Paech Thilo Hoppe Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13023, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12735 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Grünen und der Linken bei Stimmenthaltung der FDP angenommen. Nun kommen wir wieder zu Beratungen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({35}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas Scheuer, Dirk Fischer ({36}), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rita SchwarzelührSutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mobilität zukunftsfähig machen - Elektromobilität fördern - zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich ({37}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Elektromobilität - Für einen bezahlbaren und klimaverträglichen Individualverkehr - zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich ({38}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Elektromobilität durch Änderung von immissionsschutz- und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern - zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umfassende Förderstrategie für Elektromobilität mit grünem Strom entwickeln - Drucksachen 16/12693, 16/10877, 16/12097, 16/11915, 16/12977 Berichterstattung: Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Ulrich Kasparick das Wort. ({39})

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht klug, einen Rohstoff, der in absehbarer Zeit so wertvoll wie Gold sein wird, einfach im Motor zu verbrennen. Deshalb brauchen wir eine strategische Neuausrichtung des gesamten Mobilitätssektors. ({0}) Wir müssen weg vom Öl und hin zu einer Elektrifizierung, die sich aus erneuerbaren Energien speist. Im Jahre 2004 hat die Bundesregierung die Strategie „Weg vom Öl“ beschlossen. Wir haben in den letzten Tagen und Wochen mit großen Schritten, mit einem großen Nationalen Innovationsprogramm, an dem vier Bundesministerien beteiligt sind, begonnen, das konkret umzusetzen. Am 25. April dieses Jahres hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages 500 Millionen Euro bewilligt, damit vier Bundesministerien in einer konzertierten Aktion der angeschlagenen Automobilindustrie helfen können, ein Ziel zu erreichen, von dem wir uns für die deutsche Wirtschaft einen großen Schub versprechen: Wir wollen, dass Deutschland der Leitmarkt für Elektromobilität in Europa wird. ({1}) Unser Ziel ist es, dass bis spätestens 2020 1 Million Einheiten auf den Straßen ist. Das ist die für den Massenmarkt interessante Schwelle, die es den Herstellern erlaubt, mit eigenen Mitteln die Produktion so fortzuführen, dass die Marktkräfte genügend Wind in den neuen Sektor bringen. Was die vier Häuser seit der Bewilligung der Mittel durch den Haushaltsausschuss erleben, übertrifft alle Erwartungen. Sowohl im Umweltministerium als auch im Wirtschaftsministerium als auch im Forschungsministerium als auch bei uns im Verkehrsministerium geht eine wahre Antragsflut ein. Die Menschen wollen die neue Mobilität. Sie wissen, dass Erdöl als Rohstoff für Mobilität keine Zukunft hat. Allein bei uns im Verkehrsministerium bewerben sich weit über 130 Regionen darum, Modellregion für Elektromobilität in Deutschland zu werden. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium arbeiten unter Hochdruck daran, die Anträge zu beurteilen und zu bescheiden. Wir hoffen, dass wir Ende des Monats damit durch sind, damit wir Klarheit bekommen, mit welchen Regionen wir anfangen können. Es zeichnet sich sowohl bei den Energieversorgungsunternehmen als auch bei den Stadtwerken, in den Kommunen, bei den Automobilherstellern und bei den Dienstleistern eine Aufbruchstimmung sondergleichen ab. Beispielsweise tun sich Energieversorger mit dem ADAC zusammen, um das Thema auch mental nach vorne zu bringen. Die deutsche und die französische Seite verständigen sich darüber, wie etwa die Standards für Stromabnehmer und Steckdosen aussehen sollen. Man sieht: Da ist ein Wettbewerb im Gange, der von Tag zu Tag an Schärfe zunimmt. Wir wollen vonseiten der Bundesregierung unseren Beitrag dazu leisten, dass Deutschland der Leitmarkt wird. Wir wollen die Entwicklung ganz vorne nicht nur mitvollziehen, sondern wir wollen sie bestimmen. Zunächst einmal gilt ein großer Dank dem Parlament. Sie haben uns mit diesem 500-Millionen-Euro-Programm in die Lage versetzt, gemeinsam mit der Industrie jetzt große Schritte nach vorne zu gehen. Wenn man das zu den Mitteln für die zweite Technologie addiert, die wir als Ergänzung verstehen, dann verfügen wir in Deutschland jetzt über ein Innovationsprogramm, das mit weit über 2 Milliarden Euro gefördert wird. Sie wissen, dass das Nationale Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie mit 500 Millionen Euro dotiert ist. Die Industrie gibt 500 Millionen Euro dazu. Für die Elektromobilität werden jetzt ebenfalls 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, und die Industrie ist in ähnlicher Größenordnung engagiert. Wenn Sie sich anschauen, was zurzeit in den Forschungsabteilungen der großen Automobilkonzerne passiert, dann sehen Sie, dass es eine große Bewegung hin zur Elektromobilität gibt. Dadurch werden wir in die Lage versetzt, ein nationales Programm zu starten, mit dem wir den Vergleich mit dem, was in den Vereinigten Staaten und Japan geschieht, in keiner Weise zu scheuen brauchen. Ich danke also dem Parlament. In absehbarer Zeit werden wir darüber zu diskutieren haben, wie wir die Mittel verstetigen können; denn wir kommen nicht mit einem Jahr hin. Alle Hersteller werden im nächsten bzw. übernächsten Jahr Elektrofahrzeuge einführen. Wir wollen in den Modellregionen gemeinsam mit den Energieversorgungsunternehmen die komplette Wertschöpfungskette bzw. den gesamten Technologiemix von der Batterieherstellung über die Ladestationen und die Regelungs- und Steuerungstechnik bis hin zum Recycling abbilden, um, ausgehend von den Ballungsräumen, Deutschland mit hohem Tempo auf einen neuen Pfad der Mobilität zu bringen. Das ist gut für den Klimaschutz, und dadurch werden die Beschäftigung und der Innovationsstandort Deutschland gesichert. Wir glauben, dass wir die Krise in einer unserer wichtigsten Branchen, nämlich der Automobilindustrie, die wir im Moment erleben, nutzen müssen, um durch komplexe Innovationen wirklich nach vorne zu kommen. Damit machen wir die Wirtschaft in Deutschland zukunftsfähig und tun gleichzeitig etwas für den Klimaschutz. Ich darf mich bei den Koalitionsfraktionen dafür bedanken, dass sie diesen Weg durch ihren Antrag maßgeblich mit unterstützen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Horst Friedrich für die FDP-Fraktion. ({0})

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Herr Staatssekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es gibt nur wenige Themen im Verkehrs- und im Umweltbereich, bei denen man in der Grundausrichtung einer Meinung ist. Dass wir neue Antriebsformen brauchen, ist unstrittig. Nach unseren Erkenntnissen gibt es im Wesentlichen drei Pfade, die es auszuloten gilt: Bei dem ersten Pfad wird parallel gedacht. Es geht um die Verbesserung der Effizienz der jetzigen Antriebsformen und um die Ergänzung durch biogene Treibstoffe. Der zweite Pfad ist, die Nutzung von Wasserstoff entweder als reines Antriebsmittel oder als Antriebsmittel für Brennstoffzellen zu verbessern. Der dritte Pfad ist das, was wir im Übrigen schon fünf Monate vor der Regierung vorgeschlagen haben, nämlich der Ausbau des Bereichs E-Mobility. Herr Staatssekretär, vor diesem Hintergrund wundert es mich im Umkehrschluss, dass wir es hier wieder mit dem üblichen Reflex der Regierung zu tun haben: Man lehnt zunächst einmal Anträge pauschal ab, die kein Geld kosten, wenn man die wesentlichen Forderungen umsetzt, weil sie von der falschen Seite gestellt werden. Danach legt man ein Programm auf, einen nationalen Plan, mit dem in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nichts mehr bewegt werden wird, und sagt: Ich bin dankbar, dass es mehr Geld kostet. Die fünf wesentlichen Forderungen der FDP, mit denen wir unseren Antrag vom November letzten Jahres ergänzt haben, sind nämlich geeignet, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die man dem Nutzer, nämlich dem Bürger, bieten muss. Dazu ist es nicht erforderlich, viel Geld in die Hand zu nehmen. ({0}) Was verlangt die FDP? Horst Friedrich ({1}) Wir sagen erstens, dass wir eine geeignete Anpassung der Verordnung zur Kennzeichnung von emissionsarmen Fahrzeugen brauchen. Das heißt, in der 35. Bundes-Immissionsschutzverordnung muss geregelt werden, dass Elektrofahrzeuge in eine besondere Schadstoffgruppe eingestuft werden können. Das kostet kein Geld, man muss es nur tun. Zweitens. Auf dieser Grundlage und in Anpassung der Vorgaben in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung ist sicherzustellen, dass mit entsprechenden Plaketten gekennzeichnete Fahrzeuge von Fahrverboten in städtischen Umweltzonen befreit werden. Auch das kostet kein Geld. Man muss es nur wollen. Drittens sollte durch eine geeignete Anpassung der Straßenverkehrs-Ordnung ermöglicht werden, dass die Kommunen Vorrang-Parkplätze ausweisen und entsprechende Parkzonen einrichten, in denen die Batterien während des Parkens wieder aufgeladen werden können, wenn es nicht über das Antriebsaggregat funktioniert. Auch das kostet im Wesentlichen kein Geld. Man muss es nur wollen. Viertens sollten konkrete Regulierungsschritte unternommen werden, damit Hinweisschilder für Stromladestellen einheitlich gestaltet und entsprechend normiert werden können, damit jeder weiß, wo er eine Ladestation für seine Batterie findet. Auch das kostet im Wesentlichen kein Geld. Man muss es nur machen. Als letzter Punkt sollte durch eine geeignete Anpassung der Fahrzeug-Zulassungsverordnung die Einführung von Wechselkennzeichen ermöglicht werden, damit ein Fahrzeughalter, der ein Elektrofahrzeug als Zweitfahrzeug nutzt, dasselbe Kennzeichen für beide Fahrzeuge verwenden kann; denn das eine ist besser für den innerstädtischen Bereich geeignet und das andere für die große Strecke. Das alles lehnen Sie ab, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der SPD, vermutlich weil der Antrag, wie gesagt, von der falschen Seite kommt, nämlich von der bösen Opposition. ({2}) Sie müssen uns erklären, warum Sie einen großen Nationalen Entwicklungsplan Elektromobilität mit einer erheblichen Forschungsförderung vorsehen. Die wesentlichen Fakten sind schon erforscht. Jetzt kommt es darauf an, die Akzeptanz beim Bürger zu erhöhen. Die Erfahrung mit den anderen Antriebsaggregaten hat gezeigt, dass eine Substitution der herkömmlichen Brennstoffantriebe nur dann erreicht werden kann, wenn dem Nutzer ein genauso einfaches Handling angeboten wird wie jetzt und die notwendige Infrastruktur geschaffen wird. Dazu braucht man kein staatliches Geld, sondern klare rechtliche Regeln, die auch der Industrie zuverlässig aufzeigen, in welche Richtung die Entwicklung geht. Sie machen aber dauernd das Gegenteil. Kaum hatte sich für biogene Treibstoffe ein Markt gebildet, haben Sie die Steuertatbestände geändert, mit dem Ergebnis, dass im Lkw-Bereich der komplette Markt weggebrochen ist. Das ist Ihre Politik. ({3}) Sie vertreten das Ziel, dass Deutschland der Leitmarkt für Elektromobilität wird. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. In Deutschland hat die Automobilindustrie schon 1992 die Hybridtechnologie gekannt. Doch damals war sie nicht marktkonform, und es hat an den notwendigen Begleitumständen gefehlt. ({4}) - Sicherlich war es zu teuer, aber das lag daran, dass es an den notwendigen Rahmenbedingungen fehlte. Ich habe meine erste Probefahrt mit einem Elektrofahrzeug 1991 in Bonn unternommen. Es war ein BMW 316 mit einer Batterie von Asea Brown Boveri. Das Problem war damals, dass die Batterie so teuer war, dass sie sich kaum jemand leisten konnte. Die Produktion hätte in Serie gehen müssen. Das haben Sie bisher immer krampfhaft verhindert, und das wird auch jetzt wieder passieren. Sie haben einen Masterplan „Güterverkehr und Logistik“ vorgelegt. Ergebnisse gibt es eigentlich nicht. Sie haben ein nationales Flughafenkonzept. Das Ergebnis ist eher eine große Katastrophe. ({5}) Nun setzen Sie noch einen nationalen Entwicklungsplan für Elektromobilität oben drauf. Wenn das Ergebnis dasselbe sein wird wie bei den anderen Plänen, dann kann man Ihnen nur raten: ({6}) Lassen Sie es endlich bleiben! Schließen Sie sich unserem Antrag an! Wir waren erstens schneller. Zweitens ist er besser, und drittens kostet er kaum Geld. ({7}) Vor dem Hintergrund bitte ich Sie: Fassen Sie sich ein Herz und schließen Sie sich unseren Forderungen an! Denn sonst müssten Sie der gesamten Community erklären, warum Sie unsere Anträge, die in sich schlüssig sind, ablehnen und auf Ihren neuen Plan setzen, der vielleicht irgendwann im Jahr 2012 greift. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Andreas Scheuer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003625, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe die Aufregung des Kollegen Friedrich nicht. ({0}) Wir haben im Ausschuss sehr freundschaftlich und kollegial über dieses Antragspaket diskutiert, auch vonseiten der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen und von eurer Seite, der FDP. Ich bin froh, dass du, lieber Kollege Friedrich, nicht erzählt hast, dass du schon um das Jahr 1900 eine Probefahrt im Lohner-Porsche gemacht hast. ({1}) - Davon gehe ich aus. - Wir haben im Ausschuss das Ministerium gebeten, auch die guten Vorschläge der Opposition, die wir in einem grundlegenderen Antrag der Koalition zusammengefasst haben, mit in die Elektromobilitätsstrategie aufzunehmen. ({2}) Herr Staatssekretär, Sie haben dazu Stellung genommen und Einzelpunkte genannt. Unsere Positionen liegen doch gar nicht weit auseinander, meine Damen und Herren von der Opposition. Die Koalition hat grundlegender argumentiert und gesagt: Bevor wir zu den Einzelschritten kommen können, müssen wir zuerst eine grundsätzliche Strategie festlegen, ein Marktanreizprogramm auflegen und Haushaltsmittel verstetigen. Sage und schreibe 500 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket sind für diesen Forschungsbereich vorgesehen und dienen dazu, die Vision von Elektromobilität Wirklichkeit werden zu lassen. Wir müssen aber genau definieren, was wir machen, und die Einzelmaßnahmen abstimmen. Ich nähere mich in meiner Position der FDP-Fraktion sehr stark an, wenn ich sage: Die Förderung von Wechselkennzeichen muss natürlich in ein Marktanreizprogramm und eine Elektromobilitätsstrategie eingebunden werden. Jedes Elektromobil als Zweitwagen könnte mit einem Wechselkennzeichen ausgestattet sein. Das normale Fahrzeug wird für lange Strecken genutzt, während das kleine Elektromobil für den Stadtverkehr gedacht ist. Man tauscht dann die Kennzeichen je nach Bedarf aus. Die guten Ergebnisse aus Österreich zeigen uns, dass ein Wechselkennzeichen eine gute Alternative ist. Mit Einzelmaßnahmen - Parkplätzen, Ladestationen und anderen infrastrukturellen Vorkehrungen - müssen wir zu einer Strategie kommen. Genau das ist der Punkt. Wir brauchen eine Elektromobilitätsstrategie für den Alltag der Bürgerinnen und Bürger. Erstens muss sich die Anschaffung eines Elektroautos lohnen. Zweitens muss eine entsprechende Infrastruktur vorgehalten werden. Schauen wir uns beispielsweise das Konzept der Firma Better Place an. Wenn man mit dem Elektroautomobil zum Einkaufen fährt, sind ein paar Parkplätze für das Parken solcher Autos vorgesehen. Dort kann man das Auto, wenn man zuvor einen Vertrag mit einem Anbieter abgeschlossen hat, mit einem entsprechend kodierten Stecker an eine Steckdose anschließen. Wenn das Auto wieder vollständig aufgeladen ist, wird man während des Einkaufens via SMS benachrichtigt. Eine solch hochinnovative Infrastruktur brauchen wir, Herr Staatssekretär, damit Deutschland nicht nur in Europa, sondern weltweit zum Leitmarkt für Elektromobilität wird. ({3}) Wir müssen von den fossilen Energieträgern unabhängiger werden. Natürlich müssen wir uns - dazu wird mein Kollege Vogel sicherlich noch einiges sagen - verstärkt Gedanken über die Effizienz des Verbrennungsmotors machen. Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag haben beispielsweise schon den BMW E-Mini getestet. Die Rückmeldungen lauten in der Regel: Der geht aber ab! - Das Image, dass ein Elektroauto in seiner Dynamik beschränkt ist, wird also durch den Feldversuch und das eigene Erleben widerlegt. Man sieht: Diese Technologie funktioniert. Wir müssen dafür sorgen, dass auch die Bevölkerung zu dieser Einsicht gelangt und im Alltag Elektroautos nutzt. Nehmen wir Opel als Beispiel. Das Unternehmen Magna will sich Gedanken machen, ob es als Investor bei Opel einsteigt. Das Unternehmen ist ein hocheffizienter Zulieferer und Entwickler von Teilen für Elektroautos, aber auch von ganzen Elektrofahrzeugen. Das kann eine Chance für die deutsche Automobilindustrie sein, mit solchen Produkten zum Leitmarkt in Europa und weltweit zu werden. Herr Staatssekretär, ich melde Passau, meinen Wahlkreis, hiermit als Modellregion an. Ihnen werden sicherlich noch viele Modellregionen gemeldet werden. Ich biete mich ganz selbstlos an, in der Studentenstadt Passau die Elektromobilitätsvision umzusetzen und diese Stadt zu einer Modellregion zu machen. Wichtig ist, dass erstens die Infrastruktur stimmt, dass zweitens die Batterietechnologie weiterentwickelt wird, dass drittens die Speicherqualität verbessert wird und dass viertens die Auflademöglichkeiten so flexibel gestaltet werden, dass ein Pendler sagen kann: Für mich ist ein Vertrag passend, wenn der Anbieter es mir erlaubt, mein Auto mit Nachtstrom aufzuladen. - Das heißt, er fährt früh morgens mit dem Elektromobil aus seiner Garage zum Arbeitsplatz und anschließend wieder zurück. Dann stöpselt er in der Garage ein und lädt die Batterie über Nacht wieder auf. Er lädt also nur zu Hause auf. Wenn wir diese Bedingungen für die Bürgerinnen und Bürgern schaffen, dann werden sich die Haushaltsmittel und die Mittel aus dem Konjunkturpaket in Höhe von 500 Millionen Euro bezahlt machen; denn wir werden in eine neue Generation der Automobiltechnik investieren, auch wenn das Elektroautomobil schon lange erfunden ist, Herr Kollege Friedrich. Jetzt in der Krise besteht die Chance, dass wir unsere Automobilhersteller mit staatlicher Förderung dazu bewegen, dass sie die Vision der Elektromobilität in die Realität umsetzen, die Chance am Schopfe packen und die Produkte anbieten, die für Otto Normalverbraucher interessant sind. Schauen Sie sich die Diskussionen in den Fachzeitschriften an, zum Beispiel in der Wirtschaftswoche. ({4}) Im Dossier Auto beschäftigt sich ein mehrseitiger Beitrag mit Elektromobilität und alternativen Antriebstech24368 niken. Auch die Medien müssen mithelfen. Es bringt uns nichts, wenn wir im Verkehrsausschuss und im Forschungsausschuss Visionen diskutieren, aber der Bürger diese Chance nicht ergreift und keines dieser Fahrzeuge kauft. Wenn die Medien die Visionen der Automobilhersteller und der Politik in der Öffentlichkeit bekannt machen und die Alltagstauglichkeit aufzeigen, dann wird die Diskussion eine ganz neue Qualität erhalten. Ich freue mich darauf. Die Diskussionen im Fachausschuss über Elektromobilität und alternative Antriebstechniken sind mit dem heutigen Tag nicht beendet, sondern wir bleiben dran. Herr Staatssekretär, ich freue mich darauf, dass wir in der neuen Legislaturperiode einen Bericht des Verkehrsministeriums bekommen, der den Stand der Diskussion wiedergibt. Wenn wir das Tal der Tränen, die Wirtschaftskrise, ({5}) durchschritten haben, dann muss uns die Bundesregierung am Jahresende darstellen, was sie in den nächsten Jahren plant. Auf diese Diskussion freue ich mich. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Dorothée Menzner für die Fraktion Die Linke.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Elektroautos sind eine feine Sache. Für gewisse Bereiche und für gewisse Einsatzgebiete sind sie durchaus zu begrüßen, zum Beispiel im innerstädtischen Verkehr. Sie sind leise, sie erzeugen keinen Feinstaub und keine Abgase. Aber zu glauben, sie könnten unsere grundlegenden Mobilitätsprobleme lösen, ist doch ein bisschen kurzsichtig. Wir haben darüber neulich schon einmal diskutiert. Der WWF ist nicht die einzige Institution, die sagt, dass das keine kurzfristige Lösungsstrategie ist. Das ist eben schon angesprochen worden. So weit ist die Entwicklung noch nicht. Bei der Klimabilanz und Umweltfreundlichkeit von Elektroautos kommt es entscheidend darauf an, wie der Strom erzeugt wird, mit dem sie gespeist werden. Man kann natürlich wie die FDP in ihrem Antrag den Standpunkt vertreten, die AKWs länger laufen zu lassen. ({0}) Ich sage ganz deutlich: Für uns ist das keine Lösung. Man sollte sich aber auch überlegen, ob die fossile Stromerzeugung die Lösung ist. Jeder, der sich Grevenbroich, die „Hauptstadt der Energie“, und Umgebung mit den im Bau oder schon in Betrieb befindlichen Kohlekraftwerken einmal angeschaut hat, wird ins Grübeln kommen. Wir wissen, dass wir bis heute noch nicht genug Strom auf ökologische und nachhaltige Weise bzw. aus erneuerbaren Energien erzeugen. Aber auch Fragen, die das Last- und Lademanagement, die Stromnetze und die notwendige Infrastruktur betreffen, sind zu prüfen. Daher begrüßen wir, dass 5 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung im Konjunkturpaket II dafür bereitgestellt werden. Die Strategie „Weg vom Öl“ kann aber nicht heißen, dass wir uns von der Abhängigkeit von den Ölmultis geradewegs in die Abhängigkeit von den Stromkonzernen begeben. Die Autos, die wir bisher fahren, werden sicherlich nicht die sein, die wir als Basis für Elektromobilität verwenden können. Es ist zu kurz gedacht, einen Elektromotor in einen Golf einzubauen. Es müssen andere Fahrzeuge sein. Auch unser Mobilitätsverhalten muss sich verändern. ({1}) Beispielsweise sagte letzte Woche ein Bürger aus meinem Wahlkreis zu mir: Ich wollte mein Auto verschrotten und die Abwrackprämie dafür kassieren, dass ich mir ein Elektroauto anschaffe; ich fahre nämlich nur kurze Wege und habe Solarenergiezellen auf dem Dach. - Das funktionierte aber nicht, weil das gewünschte Elektroauto drei Räder hat und die Abwrackprämie hingegen nur bei Kauf eines vierrädrigen Autos ausgezahlt wird. Wenn wir fraktionsübergreifend die Auffassung vertreten, dass Elektromobilität gefördert werden muss, dann sollten wir an dieser Stelle genauer hinschauen und etwas verändern. ({2}) Ich möchte für meine Fraktion ganz deutlich sagen: Die Linke steht für eine Verkehrspolitik, die darauf ausgerichtet ist, umweltschonender und ressourcensparender zu wirtschaften, als wir es es viele Jahrzehnte lang getan haben. Diese Verkehrspolitik muss bedarfsgerecht und sozial gerecht sein. Wir stehen nicht für Konzepte, die vorsehen - daher rührt unsere Kritik an den Wechselkennzeichen -, Menschen mit einem guten Einkommen eine umweltfreundliche Mobilität zu ermöglichen, also Menschen, die sich, um ein ökologisch reines Gewissen zu haben, als Zweit- oder Drittwagen ein Elektromobil beschaffen wollen. Wir möchten, dass Menschen unabhängig von ihrem Einkommen, unabhängig von ihrer ökonomischen Lage einen möglichst barrierefreien Zugang zu gutem Verkehr haben. ({3}) Um von dem immensen Verbrauch fossiler Rohstoffe wegzukommen, müssen der öffentliche Personennahverkehr und -fernverkehr weiter ausgebaut und attraktiver gemacht werden. Auch die Vernetzung mit dem Fahrradverkehr muss hinzukommen. Um auf diesem Gebiet voranzukommen, kann der Ausbau der Elektromobilität ein kleiner Schritt sein. Dafür sind wir sehr aufgeschlossen. Wir sehen allerdings in ihr nicht die Möglichkeit, mit der wir einfach umsteuern und alles grundlegend verändern können. Wir glauben, es werden falsche Hoffnungen geweckt. Ich danke. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Winfried Hermann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zeigt: Es hat sich im Bereich der Mobilität viel bewegt: Man schaue sich nur an, welche Zukunftsvisionen und Projekte die Autokonzerne inzwischen anbieten. Es ist noch nicht lange her, dass Personen, die dafür eingetreten sind, etwas für die Elektromobilität zu tun, mit Sätzen wie „Das geht doch nicht“ oder „Elektroautos taugen allenfalls als Boxautos auf der Kirmes“ abgespeist wurden. Inzwischen gibt es keinen großen Autokonzern, der sich nicht mit Mobilität beschäftigt und neue Konzepte zu Hybridfahrzeugen und E-Mobilität entwickelt. Das ist, wie wir finden, gut so. Ich störe mich überhaupt nicht daran, dass jetzt alle Fraktionen sagen: Das ist etwas ganz Wichtiges; das wollen wir unterstützen und fördern. Einige wichtige Gründe für die Förderung der Elektromobilität sind bereits genannt worden. Aus unserer Sicht ist bedeutsam - ich sage es noch einmal -: Elektromobilität hilft uns, weg vom Öl zu kommen. Auch der Klimaschutz ist ein zentrales Ziel der Mobilitätspolitik. Ich füge hinzu: Auch weil wir wissen, dass es einen globalen Trend zur „Mobilisierung“, vor allem zur Automobilisierung, gibt - es ist zu befürchten, dass es global in wenigen Jahrzehnten doppelt so viele Autos wie heute gibt, also statt 1 Milliarde 2 Milliarden -, ist es zwingend, dass wir Autos auf den Markt bringen, die tatsächlich umwelt- und klimafreundlich sind. ({0}) Das müssen wir fördern. Richtig ist: Nur das Elektroauto zu fördern und sonst keinerlei Mobilitätspolitik zu betreiben, das wäre die falsche Strategie. Wir teilen die Überzeugung: Wir brauchen ein Gesamtkonzept. Wir haben einen Antrag eingebracht, der auf eine umfassende Förderung der Elektromobilität abzielt. Dabei geht es nicht nur um das Elektroauto, sondern auch um den Elektroscooter. Wir denken schon weiter - wir haben schon den nächsten Antrag eingebracht -: Auch die Bahnen müssen „elektrischer“ werden; auch Dieselfahrzeuge kann man durch Stromfahrzeuge ersetzen. ({1}) Wenn überhaupt, dann sollte man, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, schon eine konsistente Strategie entwickeln. Es macht wirklich Sinn, Forschung und Entwicklung im Bereich der Batterietechnik zu fördern. Hier kann und muss die Politik etwas tun. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht das gleiche Problem wie bei den Handys entsteht. Wir haben ja beklagt, dass jedes Handy mit eigenem Ladegerät und eigenem Stecker herausgebracht wurde. Das darf im Automobilsektor nicht passieren. Wir brauchen eine einheitliche und praktische Technologie. Das können wir politisch unterstützen. Es ist allerdings ziemlich unklug, für einen Zeitraum von drei Jahren 500 Millionen Euro für Forschung und Entwicklung auszugeben und gleichzeitig mit der Abwrackprämie 5 Milliarden Euro für Fahrzeuge ohne jeden Klimaschutz rauszudonnern. Das ist inkonsistent. Das ist verspieltes Geld. ({2}) Wir wollen es anders machen. Wir wollen mit einem Marktanreizprogramm gerade die Schwierigkeiten der ersten Jahre überwinden. Heute wissen wir, dass der E-Mini von BMW einfach zu teuer ist. Er ist mindestens 5 000 Euro teurer als ein normaler Mini. ({3}) Das Gleiche gilt für alle anderen Fahrzeuge. Für die Übergangszeit brauchen wir also Fördermittel individueller Art. Wir sagen: Ab 2010 soll es eine Prämie von 5 000 Euro, die jährlich um 20 Prozent abgeschmolzen werden soll, geben. Es handelt sich also nicht um eine Subvention auf Dauer, sondern nur um eine Förderung während der Markteinführung. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass zahlreiche gute Technologien daran gescheitert sind, dass sie am Anfang zu teuer waren. Die Konzerne sind aufgrund dessen wieder ausgestiegen. Ich erinnere zum Beispiel an den Audi A2 und an den 3-Liter-Lupo, mit denen genau das passiert ist. Diesen Fehler müssen wir bei der Elektromobilität vermeiden. Wir müssen Anreize schaffen. Das Ziel der Bundesregierung - 1 Million Elektrofahrzeuge - ist zu niedrig gesteckt. Man kann heute sagen, dass eine Anzahl von 2 Millionen bis zum Jahre 2020 gut erreichbar ist. Ich finde nämlich: Zu einer Strategie gehört auch ein ambitioniertes Ziel. Welche Chancen und Möglichkeiten gibt es noch? Wir versprechen uns von der E-Mobilität, dass ein Umdenken in Bezug auf die Nutzung von Autos stattfindet. Wir erhoffen uns eine andere Qualität von Autos, nämlich Autos, die weniger Ressourcen verbrauchen und für eine geringere Geschwindigkeit ausgelegt sind, Autos für die Stadt, die die Lebensqualität erhöhen, weil sie leise sind und nicht so viel Fläche brauchen. Das alles wollen wir unterstützen. Wir wollen das, wie die FDP, mit ordnungsrechtlichen Hilfen, Vorteilen beim Parken und bei der Nutzung von Fahrbahnspuren erreichen. Auf diese vielfältige Art wollen wir zur Nutzung und zum Kauf anreizen. All dies sind Chancen und Möglichkeiten, die Mobilität insgesamt nachhaltiger zu gestalten. E-Mobilität ist also ein wichtiger Baustein für eine bessere und nachhaltige Mobilitätspolitik. Wo liegen die Risiken? Diese möchte ich nicht verschweigen. Es wäre ein Irrweg, wenn wir zukünftig mit Elektroautos fahren würden, die mit Atomstrom oder mit Strom aus Kohlekraft gespeist sind. Man sieht dann zwar nichts aus dem Auspuff herauskommen und hört auch nichts, aber der Dreck und der Lärm entstehen an ande24370 rer Stelle. Elektromobilität bedeutet die zwingende Förderung und Nutzung erneuerbarer Energien. Jegliche gebrauchte Energie muss aus erneuerbaren Energien erzeugt werden. Das ist unser Ansatz. ({4}) Es bleiben noch einige Fragen offen, die ich leider nicht alle ausführen kann. Die Speichertechnik muss verbessert werden, und das Problem der Anschlüsse muss gelöst werden; das haben wir schon besprochen. All dies, eingebettet in eine Gesamtstrategie der nachhaltigen Mobilität, ergibt Sinn. Deswegen wollen wir es fördern und unterstützen. In diesem Sinne sind Elektroautos tatsächlich grüne Autos. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Schwarzelühr-Sutter für die SPD-Fraktion.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass wir uns einig sind, dass Elektromobilität nicht mehr nur eine Vision oder ein Ausweg aus einer Struktur- und Wirtschaftskrise ist, sondern dass wir wirklich auf dem Weg sind, sie in unseren Alltag zu integrieren. Wir haben gute - ich sage sogar: beste - Autos in Deutschland. Ich bin davon überzeugt, dass wir im Jahre 2020 eines der besten Elektroautos anbieten können. Lieber Kollege Friedrich, im Jahre 1991 sind Sie bereits mit einem Elektroauto gefahren. Da ihr so lange an der Regierung wart, frage ich mich wirklich, warum es so lange gedauert hat und wir erst heute ein Elektroauto auf dem Markt haben. ({0}) Ich bin froh, dass die Bundesregierung jetzt 500 Millionen Euro zur Verfügung stellt und auch schon vorher im Rahmen des Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt hat. Es ist wichtig, dass Forschung und Innovation in Gang kommen. ({1}) Die bloße Kennzeichnung von Elektroautos, die sowieso eine grüne Plakette bekommen, löst keine Innovationen aus. Wir aber brauchen Innovationen. Schon heute umfasst der Markt von Produkten und Dienstleistungen im Zusammenhang mit nachhaltiger Mobilität weltweit 180 Milliarden Euro, ganz abgesehen von den Arbeitsplätzen, die in diesem Bereich schon existieren bzw. noch geschaffen werden. Auch vor dem Hintergrund der Debatte um CO2-Emissionen bieten Elektrofahrzeuge eine große Chance, da sie helfen, die Emissionen von CO2 sowie die Lärm- und Schadstoffemissionen in Metropolen zu reduzieren. Es gibt ja heutzutage ein Akzeptanzproblem von Verkehr aufgrund der Lärmbelästigung. Ein Nullemissionsfahrzeug, das wir anstreben, ist nur möglich, wenn es durch erneuerbare Energien angetrieben wird. Die FDP dagegen stellt die Versorgungssicherheit in den Vordergrund und versucht, nicht nur die Tür für längere Laufzeiten von AKWs, sondern gleich für den Neubau von AKWs aufzustoßen. Das ist nicht der Weg, den wir gehen wollen. Wir wollen ein Nullemissionsfahrzeug. Das geht nur auf Basis erneuerbarer Energien. ({2}) Dass endlich Bewegung in den Bereich Elektrofahrzeuge gekommen ist, liegt daran, dass die Industrie bei der Entwicklung der Batterietechnik Fortschritte erzielt hat. So rasant wie in den letzten zwei, drei Jahren ging es schon lange nicht mehr voran. Es ist auch ein Vorteil, dass hier zwei Branchen zusammenkommen, nämlich die Automobilindustrie und die Energieversorgungswirtschaft. Zwischen beiden sind noch Fragen zu klären. Ich nenne die Stichworte Schnittstellen und Standardisierungen. Es gibt auch unterschiedliche Modelle. Ein Modell wäre zum Beispiel, dass man nicht ein komplettes Elektrofahrzeug mit Batterie kauft, sondern nur das Fahrzeug kauft und die Batterie mietet. All das sind mögliche Geschäftsmodelle. Diese Geschäftsmodelle sind zugleich Zukunftsmodelle und eröffnen einen riesigen Markt. Ein französischer Hersteller möchte schon 2012 Elektrofahrzeuge zu einem Preis von 12 000 bis 14 000 Euro anbieten. Ich bin überzeugt, dass unsere Industrie da mithält und insbesondere für den Stadtverkehr Elektrofahrzeuge zur Verfügung stellt. Ich bin gestern zum ersten Mal mit dem E-Mini hier in Berlin gefahren. Das ist tatsächlich ein tolles Fahrgefühl. Man gleitet förmlich mit einem solchen Fahrzeug durch den Verkehr. Es ist leise und verhält sich beim Gasgeben nicht wie ein Autoskooter, sondern wie ein schnelles, spritziges Auto. ({3}) Ich bin überzeugt, wenn das Fahrzeugkonzept noch weiterentwickelt wird und ausgereift ist - im Moment sind die Batterien sehr groß; es gibt keinen Platz, um zum Beispiel einen Kinderwagen mitzunehmen -, bietet es eine gute Möglichkeit, um in Städten mobil zu sein. Das wäre ein Baustein für nachhaltige Mobilität in den Städten. Gerade die Verknüpfung zwischen ÖPNV, entsprechenden Elektrofahrzeugen und Fahrrädern bietet die Chance, bis zum Jahr 2020 zu emissionsfreiem Verkehr in den Städten zu kommen. Heute schon erbringen zum Beispiel einige Kurierdienste in Hamburg ihre Dienstleistungen mit ElektroRita Schwarzelühr-Sutter fahrzeugen. Das zeigt, diese Fahrzeuge sind im Kommen. Es gibt hier einen riesigen Markt. Auch angesichts der Nachfrage bei den Pilotprojekten in den Modellregionen kann ich nur sagen: Endlich haben wir den Durchbruch geschafft. Endlich wird auch das Elektrofahrzeug von seinem Image her als zukünftiger Ersatz für das Auto in der Stadt akzeptiert. Die genannten Kriterien - Unabhängigkeit vom Öl, keine Feinstaub-, SOx- und CO2-Emissionen, effiziente Energienutzung, Nutzung von erneuerbaren Energien machen dieses Konzept eigentlich zur Nummer eins. Wir wollen, dass unsere deutsche Automobilindustrie mit einem solchen Konzept im Wettbewerb auf dem weltweiten Markt der Elektromobilität besteht und vielleicht auch in diesem Bereich zur Nummer eins wird. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Volkmar Vogel von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte und auch die Debatte im Ausschuss haben gezeigt, dass wir uns im Grunde genommen über die Sinnhaftigkeit der Elektromobilität einig sind. Elektromobilität ist eine gute Sache. Ich möchte den Fokus auf einen anderen Aspekt lenken, nämlich Mobilität. Mobilität ist ein hohes Gut. Den Mobilitätsstandard, den wir in unserem Land erreicht haben, müssen wir halten und weiter ausbauen. Dieser Herausforderung müssen wir uns in den nächsten Jahren stellen, nämlich auf Dauer und nachhaltig Mobilität in unserem Land zu sichern, die ökologisch, aber gleichzeitig für jeden Bürger bezahlbar und attraktiv ist. ({0}) Aufgabe der Politik ist es, den Bedürfnissen der Menschen nach Mobilität im Privaten und natürlich auch im Geschäftlichen Rechnung zu tragen. Beweglichkeit ist ein Stück Freiheit, ist Ungebundenheit und auch Flexibilität. Mobilität bedeutet für uns wirtschaftliche Entwicklung, Wachstum und Wohlstand. Als Ostdeutscher weiß ich, wovon ich rede. Ich habe die DDR live und grau in grau erlebt. Nicht nur, dass wir in Richtung Westen und Süden plötzlich vor Mauer und Stacheldraht standen, es gehörte damals auch zum System des SED-Unrechtstaates, dafür zu sorgen, dass die individuelle Mobilität der Menschen eingeschränkt war. Schlechte Straßen und Wartezeiten von mehr als 15 Jahren auf den eigenen Pkw sind dafür beredte Beispiele. Der dadurch entstandene wirtschaftliche Schaden wurde von den Machthabern billigend in Kauf gekommen. Das wollen wir nicht. Es ist unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, die Probleme, vor denen wir stehen, in den nächsten Jahren zu lösen. Diese Probleme kann man in zwei Punkten zusammenfassen: Endlichkeit der fossilen Ressourcen sowie Kohlendioxid und Schadstoffe, die das Klima verändern. Deshalb müssen wir jetzt in Deutschland die Weichen richtig stellen. Elektromobilität ist ein wichtiger Baustein. Wir dürfen die individuelle Mobilität nicht einschränken und müssen den Bedürfnissen der Wirtschaft Rechnung tragen. ({1}) Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition ist ein gutes Instrument. Wir werden schnellstmöglich dafür sorgen, dass elektrische bzw. elektrisch unterstützte Antriebe zur Marktreife kommen und dass Deutschland - meine Vorredner haben es bereits betont - Leitmarkt für die Elektromobilität und für alternative Antriebe wird. ({2}) Klar ist - das merken wir gerade in der Krise, in der die Automobilwirtschaft steckt -: Dies sichert die Zukunftsund Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und Tausende von Arbeitsplätzen. Richtig gemacht müssen Ökologie und Ökonomie kein Gegensatz sein. Ziel ist es, bis 2020 circa 1 Million Elektrofahrzeuge auf Deutschlands Straßen zu haben, allerdings - darüber müssen wir uns im Klaren sein - vorrangig in Ballungszentren. Auch wenn wir uns an einem automobilen Wendepunkt befinden, müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir den Übergang in die mobile Zukunft ohne fossile Brennstoffe gestalten. Wir müssen der Realität ins Auge schauen: Die herkömmlichen Verbrennungsmotoren, die wir zurzeit haben, können nicht von heute auf morgen im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Verkehr gezogen werden. Wir werden sie noch viele Jahre brauchen. Sie werden noch viele Jahre Dienst tun, vielleicht weniger in den Ballungsgebieten, aber vor allem in den ländlichen Siedlungsstrukturen, in den Gegenden, wo die Infrastruktur weitläufiger ist. Wir dürfen sie für diese Übergangszeit nicht verteufeln, sondern wir müssen auch hier Anstrengungen unternehmen, um sie noch effizienter zu machen und ihre Potenziale noch weiter auszureizen. Dann können sie für diese Übergangszeit ökologisch und wirtschaftlich attraktiv bleiben. Mit dem vorliegenden Antrag der Regierungskoalition gehen wir die richtigen Schritte. Wir unterstützen die Entwicklung, sorgen für Planungssicherheit und setzen ein klares Zeichen an die Bürger und die Wirtschaft, dass Elektromobilität eine Zukunft hat. Als Ingenieur gebe ich allerdings zu bedenken - das ist heute auch von anderen Rednern schon angedeutet worden -, dass der Satz von der Erhaltung der Energie gilt; denn das ist ein Naturgesetz: Wenn ich irgendwo etwas herausholen will, dann muss ich vorher etwas hinzufügen. ({3}) Neben der Elektromobilität brauchen wir deshalb bezahlbare, nachhaltige und effektive Speichersysteme für Elektroenergie - das ist sehr richtig -, und wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir die Primärenergie, die wir zum Einsatz bringen - dabei weise ich insbesondere auf die erneuerbaren Energien hin, bei denen wir auf einem guten Weg sind -, in einer Art und Weise produzieren, dass sie für jeden von uns bezahlbar ist. Denn eines ist klar: Mobilität für alle, die wir wollen, muss auch für alle bezahlbar bleiben. Ich bitte um Unterstützung unseres Antrages, weil er aus meiner Sicht einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt, im Gegensatz zu den anderen vorliegenden Anträgen, die sich nur auf Teilaspekte beziehen, wenn auch viele richtige Hinweise von den anderen Fraktionen gekommen sind. Ich bin der Meinung, dass wir hier auf einem guten Weg sind, dass wir aber darauf achten müssen, die Entwicklung nicht nur in einer einzigen Richtung voranzutreiben; wir müssen vielmehr den gesamten Markt weiter beobachten. Es wird noch viele Entwicklungen und Ideen geben, über die wir zu gegebener Zeit zu diskutieren und zu entscheiden haben. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Drucksache 16/12977. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An- trags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12693 mit dem Titel „Mobilität zu- kunftsfähig machen - Elektromobilität fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung von FDP und Linken angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/10877 mit dem Titel „Elek- tromobilität - Für einen bezahlbaren und klimaverträg- lichen Individualverkehr“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP mit den restlichen Stimmen des Hau- ses angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12097 mit dem Ti- tel „Elektromobilität durch Änderung von immissions- schutz- und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linken gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11915 mit dem Titel „Umfassende Förderstrategie für Elektromobi- lität mit grünem Strom entwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes - Drucksache 16/12413 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 16/13025 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Blumenthal Marlene Rupprecht ({1}) Jörn Wunderlich - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/13026 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ole Schröder Petra Hinz ({3}) Otto Fricke Roland Claus Anna Lührmann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Soforthilfe zur Teilhabe-Ermöglichung für Conterganbetroffene - Drucksachen 16/11639, 16/13025 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Blumenthal Marlene Rupprecht ({5}) Jörn Wunderlich Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Ilse Falk für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({6})

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit nunmehr etwa anderthalb Jahren beschäftigen wir uns im Deutschen Bundestag intensiv mit der Lebenssituation contergangeschädigter Menschen. Ausgelöst unter anderem durch den bewegenden Spielfilm anlässlich des 50. Jahrestages der Markteinführung des Schlafmittels Contergan wurde unsere Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Betroffenen gelenkt. Hinzu kamen viele Briefe, Interviews und Reportagen, in denen uns vor Augen geführt wurde, wie schwer das tägliche Leben der contergangeschädigten Menschen ist und zunehmend wird. Verursacht durch die jahrzehntelange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken, Muskulatur und Zähnen, treten bei allen Betroffenen Spät- und Folgeschäden auf, die ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen. Ich muss zugeben: Diese Monate waren auch für mich eine große Herausforderung. Das persönliche Kennenlernen vieler Betroffener hat mich beeindruckt und bewegt. Ich habe große Achtung vor allen, die ihr Schicksal angenommen haben und denen auch mit einer solchen Bürde ein lebenswertes, glückliches Leben gelingt. Ich kann aber auch die nicht überhören, denen das nicht gelingt und die mit ihrem Schicksal hadern und uns als Vertreter und Vertreterinnen zumindest verbal heftig angreifen. Der immer wieder gestellten Frage nach Schuld und Verantwortung müssen wir uns stellen; wir müssen versuchen, sie mit Herz und Verstand zu beantworten. Weil wir Politiker - das gilt auch für den Verursacher, die Firma Grünenthal - uns diese Antwort nicht leicht machen, können wir heute einen guten Gesetzentwurf vorlegen und verabschieden, der die Betroffenen einen großen Schritt weiterbringt auf dem Weg, der sicher noch nicht zu Ende ist. In zahlreichen Gesprächen mit unterschiedlich organisierten Betroffenen und in zwei großen Expertenanhörungen des Familienausschusses haben wir miteinander diskutiert, was der Gesetzgeber tun kann, um die Lebenssituation der Conterganopfer zu verbessern. Wir haben einiges auf den Weg gebracht. In einem ersten Schritt haben wir die Conterganrenten zum 1. Juli 2008 verdoppelt. Zweitens haben wir diese Conterganrenten gegenüber anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches anrechnungsfrei gestellt. Wir haben drittens Parkerleichterungen eingeführt. Viertens hat auf unsere Bitte hin das Bundesgesundheitsministerium in Gesprächsrunden mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen für die Verbesserung der Versorgung der contergangeschädigten Menschen geworben. Es ist vereinbart worden, bestehende Verordnungsmöglichkeiten und Ausnahmetatbestände auszuschöpfen und Genehmigungen zügig und unbürokratisch zu erteilen. Ich hoffe sehr, dass diese Vereinbarung bald überall bekannt ist und dass es hier wirklich Fortschritte gibt; denn ich weiß, dass die Schwierigkeiten bei der Verordnung von Leistungen durch die Ärzte und bei der Genehmigung durch die Kassen für sehr viele ein großes Ärgernis sind. Heute wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weitere Verbesserungen auf den Weg bringen. Die Novellierung des Conterganstiftungsgesetzes hat einen wichtigen Schwerpunkt, der wesentlich mitveranlasst wurde, weil sich die Firma Grünenthal - obwohl rechtlich dazu nicht verpflichtet - bereit erklärt hat, weitere 50 Millionen Euro für die Verbesserung der Situation der Contergangeschädigten als Zustiftung in die bestehende Conterganstiftung zur Verfügung zu stellen. Der Bund stellt aus dem noch vorhandenen Stiftungskapital ebenfalls 50 Millionen Euro zur Verfügung, sodass aus einem sich aufzehrenden Stiftungsstock 25 Jahre lang eine jährliche Sonderzahlung an die Betroffenen geleistet werden kann. Mithilfe dieser Sonderzahlung sollen sie besondere Bedarfe decken und sich Wünsche erfüllen können, für die kein anderer aufkommt. Die Regelungen dieses Gesetzentwurfes wurden in einem engen Austausch mit den Betroffenen getroffen. Wir haben viele Wünsche und Anregungen aufgenommen, unsere ursprünglichen Überlegungen korrigiert und nach der Expertenanhörung in der vergangenen Woche noch weitere Änderungen berücksichtigt. So schlagen wir vor, die Ausschlussfrist für die Beantragung von Leistungen nicht nur für anderthalb Jahre, sondern vollständig aufzuheben. Außerdem soll ab diesem Jahr zu den monatlichen Conterganrenten eine jährliche Sonderzahlung geleistet werden, deren Höhe vom Grad der Schädigung abhängig ist. Die am schwersten Geschädigten erhalten dann 4 200 Euro; dies ist allerdings abhängig davon, wie viele Neuanträge nach Öffnung der Ausschlussfrist bewilligt werden. Was die jährlichen Sonderzahlungen betrifft, war uns die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen sehr wichtig, die durch einen gestreckten Auszahlungszeitraum, gespeist aus Zins und Zinseszins, viel besser erreicht wird als durch eine Einmalzahlung. Um dem Wunsch der Betroffenen nach einer Erhöhung der Zahlung entgegenzukommen, werden wir die Zahlung für 2010 nach der ersten Sonderzahlung im Spätherbst 2009 auf Januar 2010 vorziehen. Innerhalb kürzester Zeit wird somit eine größere Summe zur Deckung von Sonderbedarfen zur Verfügung stehen, für die schwer geschädigten Opfer immerhin circa 8 400 Euro. ({0}) Der ursprünglich ins Auge gefasste Auszahlungszeitraum für die jährlichen Sonderzahlungen wurde um zehn Jahre verkürzt, von 35 auf nunmehr 25 Jahre. Konkret bedeutet dies höhere Einmalzahlungen. Diese Regelung ist ein Kompromiss zwischen einer Einmalzahlung und Zahlungen über einen sehr lang gestreckten Zeitraum. Künftig werden die Conterganrenten automatisch dynamisiert, und zwar in Anpassung an die gesetzliche Rente. Künftig sollen mit den Erträgen des restlichen Stiftungskapitals nur noch Projekte gefördert werden, die den Conterganopfern zugutekommen. Dafür ändern wir den Stiftungszweck. Die Ausgaben im Zusammenhang mit Personal- und Sachkosten, die bislang nur zur Hälfte aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden, werden künftig vollständig aus dem Bundeshaushalt gedeckt und belasten nicht länger das Stiftungsvermögen, sodass dieses Geld den Betroffenen ungeschmälert zugutekommt. Wir haben noch weitere Änderungen vorgesehen. Dazu wird die Kollegin Blumenthal ausführlicher Stellung nehmen, insbesondere zur Änderung der Stiftungsstruktur. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass wir zusammen viel erreicht haben. Ganz besonders danke ich den beiden Berichterstatterinnen der Regierungskoalition, Antje Blumenthal und Marlene Rupprecht, die mit viel Herzblut und großem Einsatz sehr erfolgreich verhandelt haben, sowie den Verantwortlichen im Familienministerium, die uns zur Seite gestanden haben. ({1}) Ich freue mich sehr, dass die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen dieser Gesetzesänderung ihre Zustimmung geben wollen. Die Grünen wollen sich offensichtlich enthalten; bei ihnen hat es nicht ganz zur Zustimmung gereicht. Allerdings glaube ich, dass es ein Zeichen des guten Willens ist, dass wir alle den Weg, den wir zum Wohl und zur Verbesserung der Situation der Contergangeschädigten eingeschlagen haben, mittragen. Ich denke, so werden wir vorankommen und bei weiteren Maßnahmen möglicherweise Ähnliches erreichen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Ina Lenke für die FDPFraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte auch ich mich dafür bedanken, dass Opposition und Regierung bei diesem schwierigen Thema sehr sachlich zusammengearbeitet haben. Bei allem Streit, den wir manches Mal haben, sollte auch einmal gesagt werden: Wir können, wenn wir wollen, und dann klappt es auch. Die Firma Grünenthal hat in die Conterganstiftung eine Zustiftung in Höhe von 50 Millionen Euro eingebracht; darauf hat Frau Falk schon hingewiesen. Es ist wirklich gut, dass dieses Geld verwendet werden kann, um neben der Rente auch jährliche Sonderzahlungen für den besonderen Bedarf an contergangeschädigte Personen auszuschütten. Letzten Montag haben wir zum vorliegenden Gesetzentwurf eine Anhörung durchgeführt, aus der sich für die FDP-Bundestagsfraktion zusätzlicher Änderungsbedarf ergeben hat. Nach dieser Anhörung haben wir gemeinsam einige Vorschläge gemacht. Auch wenn der FDPBundestagsfraktion noch etwas fehlt, wird sie den geplanten Änderungen des Conterganstiftungsgesetzes ihre Zustimmung geben. Im Mittelpunkt der Änderungsanträge der Großen Koalition steht die Abschaffung der sogenannten Ausschlussfrist. Diese Forderung haben wir schon immer erhoben. Ich erinnere an das Gesetz über die Conterganstiftung für behinderte Menschen, das eine Frist - 31. Dezember 1983 - enthielt. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten sich contergangeschädigte Menschen melden; danach wurden sie nicht mehr einbezogen. Die damalige Frist war überhaupt nicht zu halten; das haben wir auch in der Anhörung gehört. Es gibt Betroffene, die diese Frist ohne Schuld versäumt haben, zum Beispiel Eltern, die sich schämten, einen solchen Antrag zu stellen, oder denen die Conterganschädigung ihres Kindes damals nicht bekannt war, weil die Schädigung nicht an den Gliedmaßen sichtbar war, sondern im Körper aufgetreten ist. Ich finde es sehr gut, dass diese Frist mittlerweile auch von der Koalition als falsch angesehen wird. Wir sind der Auffassung - das ist einer unserer Kritikpunkte -, dass diese Frist zu kurz ist. Sie soll wegfallen. Der Gesetzentwurf, über den heute abzustimmen ist, geht in die richtige Richtung. Am 22. Januar dieses Jahres haben wir über einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP abstimmen können. Wir haben das gemeinsam gemacht, um eine angemessene und zukunftsorientierte Unterstützung der betroffenen Menschen sicherzustellen. Schon damals hatten wir Sie gebeten, unsere Forderungen im Gesetzentwurf zu berücksichtigen. Hierbei ging es um folgende Forderungen: Erstens wollten wir, dass sich die neu einzuführende Dynamisierung der Conterganrenten am Dynamisierungsfaktor der Altersrente orientiert; das wurde berücksichtigt. Zweitens wollten wir, dass auf den früheren Fristausschluss verzichtet wird. Beide Forderungen wurden im Gesetzentwurf berücksichtigt. Deshalb können wir diesem Antrag zustimmen. Der vorliegende Gesetzentwurf weist noch Defizite auf. Deshalb haben wir einen Entschließungsantrag gestellt, in dem wir Sie um Zustimmung zu folgenden Punkten bitten: Erstens. Es muss sichergestellt werden, dass die Conterganrenten - es handelt sich dabei um Entschädigungsrenten, nicht um normale Renten, für die man in die Rentenkasse einzahlt - nicht unter das Vorjahresniveau fallen, wenn es dazu kommen sollte - in der letzten Plenarwoche haben wir darüber diskutiert -, dass die Altersrenten sinken. Eine solche Regelung ist bei den Conterganrenten nicht getroffen worden. Ich glaube zwar, dass wir hier einer Meinung sind; aber dieser Punkt findet sich nicht im Gesetzentwurf wieder. Zweitens. Wir sind der Meinung, dass die Conterganrenten, auch wenn sie sich an den Altersrenten orientieren, circa alle fünf Jahre überprüft werden sollten. In der Expertenanhörung haben wir gehört, dass der Hilfebedarf bei den betroffenen Menschen steigt, wenn sie - das wissen wir auch von uns selbst - älter werden. Deshalb ist es wichtig, die Renten, die in den nächsten 25 Jahren gezahlt werden sollen, alle fünf Jahre zu überprüfen. ({0}) Eine Anmerkung zum Antrag der Linken: Die FDP lehnt den Antrag der Linken ab, der unter anderem eine sofortige weitere Erhöhung der Conterganrenten vorsieht. Man muss dazu wissen, dass die Conterganrenten zum 1. Juli 2008 um 100 Prozent angehoben wurden. ({1}) Das war eine gute Erhöhung, die den Contergangeschädigten auch in den nächsten Jahren zugutekommt; Frau Falk hat es schon gesagt. Ich habe noch einen kurzen Satz zur Besetzung der zwei Geschäftsführerpositionen zu sagen: Wir haben vorgeschlagen, dass bei gleicher Eignung und Qualifikation für diese Position Contergangeschädigte ausgewählt werden. Das ist meines Erachtens nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern von grundsätzlicher Bedeutung. Deshalb legt die FDP Ihnen einen Entschließungsantrag vor. Ich bitte Sie, im Interesse der Betroffenen unserem Entschließungsantrag zuzustimmen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-Fraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich begrüße auch die Besucherinnen und Besucher, die selbst betroffen sind. Wir haben - Frau Falk hat es gesagt - anderthalb Jahre miteinander verhandelt. Wir haben versucht, uns an eine Forderung zu halten, die oft an Politiker gestellt wird - „Suchet der Stadt Bestes“, so steht es in der Bibel -: Wir haben versucht, die Anliegen der Menschen ernst zu nehmen, sie in Gesetzgebung umzusetzen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Frau Falk, ich möchte das, was Sie gesagt haben, aufgreifen: Dafür, dass wir das so hinbekommen haben, gebührt Ihnen, Frau Humme, Frau Blumenthal, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium, aber auch den Fraktionen, die dieses Thema nicht für parteipolitisches Gerangel genutzt haben, sondern in den Anhörungen ganz ernsthaft nachgefragt haben, was nicht immer der Fall ist, Dank. ({0}) Trotzdem war es schwierig, dieses Gesetz, das aus dem Jahr 1972 stammt, zu ändern. Damals wurde dieses Gesetz im guten Glauben verabschiedet. Ich will keine Boshaftigkeit oder Gemeinheit unterstellen; ich glaube vielmehr, dass man von dem damaligen Kenntnisstand ausging und glaubte, mit dem Gesetz etwas Gutes zu tun, soweit das vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grundlagen bezüglich Entschädigungs-, Opfer- und Regressfragen überhaupt möglich war. Ich glaube, es war dringend erforderlich, dass wir dieses Gesetz auf den Prüfstand gestellt haben. Ich spreche in diesem Zusammenhang immer von drei Schritten. Wir haben die Rente im letzten Jahr verdoppelt. Natürlich gab es Anfragen, warum wir sie nicht versechsfacht haben; schließlich gebe es in anderen Staaten mehr Rente als bei uns. Ich denke, Vergleiche mit anderen Staaten hinken immer dann, wenn man deren Sozialsysteme und deren Sozialleistungen nicht in Betracht zieht. ({1}) Wir haben in der Bundesrepublik ein sehr ausdifferenziertes, für die Anspruchsberechtigten oftmals fast nicht durchschaubares System der Sozialleistungen. Die Leistungen sind in zwölf Sozialgesetzbüchern geregelt. Eigentlich stellt das Sozialrecht alle Leistungen zur Verfügung. Das heißt, man hat einen Anspruch auf Leistungen gemäß den Sozialgesetzbüchern, und zwar unabhängig davon, wie hoch die Conterganrente - so haben wir sie jetzt genannt; ich denke, es ist eingängiger, wenn man von monatlich eingehenden Conterganrenten spricht - ist. Ich will nur einige dieser Sozialleistungen nennen: Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, Pflegeversicherung, Sozialhilfe, Recht auf Rehabilitation. Manchmal gibt es Schwierigkeiten, weil ein Sachbearbeiter vor Ort, dem ein Antrag eines Betroffenen vorgelegt wird, nicht weiß, dass die Conterganrente nicht auf Sozialleistungen angerechnet werden darf. Aufgrund der Tatsache, dass die Conterganrente in Deutschland nicht auf Sozialleistungen angerechnet wird, können wir die Situation in Deutschland nicht mit der in anderen Staaten vergleichen, wo mit den Renten, die gezahlt werden, alle Bedürfnisse abgedeckt werden müssen. Ich würde allerdings nicht sagen, dass es damit jetzt ein für allemal gut ist. In einem zweiten Schritt haben wir einen Antrag verabschiedet. Ich habe mir noch einmal angeschaut, welchen Auftrag wir damit erteilt haben. Vieles davon haben wir inzwischen auf den Weg gebracht. Ein wichtiger Aspekt sind die Forschungsaufgaben: Was sind Folge- und Spätschäden einer Conterganschädigung, und wie müssen sie behandelt werden? Wenn die Forschungsergebnisse vorliegen, müssen wir die Betroffenen ansprechen - so viel Transparenz müssen wir herstellen; das habe ich mit dem Ministerium geklärt - und ihnen die Ergebnisse der Forschung vorstellen. In zwei bis drei Jahren, je nachdem, wann das Ergebnis vorliegt, wollen wir das Ganze noch einmal überprüfen und das Gesetz, das wir heute verabschieden, eventuell nachjustieren. Zum jetzigen Zeitpunkt Dinge Marlene Rupprecht ({2}) zu fordern, von denen wir gar nicht wissen, ob sie passgenau, ob sie zielgenau sind, halte ich nicht für richtig. Wie gesagt: Wir nehmen die Betroffenen ernst; das war 1972 so überhaupt nicht vorgesehen. Das entspricht auch dem Leitspruch der EU zum Jahr der Behinderten: „Nichts über uns ohne uns“. Wir haben gesagt: Im Stiftungsrat muss ein Drittel der Sitze von Betroffenen belegt sein. Diese werden durch Urwahl ermittelt. Das heißt, alle werden angeschrieben und können Vorschläge machen. Aus den Vorschlägen können sie die Menschen wählen, von denen sie annehmen, dass sie geeignet sind, ihre Interessen zu vertreten. Wir wollten bewusst nicht die Verbandsebene als alleinige Ebene für Ansprechpartner; denn man weiß, dass es bei zwei Verbänden fünf Meinungen gibt. Wir wollten die Betroffenen, die nicht organisiert sind, hinzuziehen. Es war ebenfalls ein ganz wichtiges Anliegen, dass wir die Ausschlussfrist geöffnet haben. Frau Blumenthal, wir können wirklich sagen: Wir hatten am Anfang überhaupt keine Vorstellung, ob es machbar ist und was auf uns zukommt. Zahlen und Fakten lagen uns nicht vor. Wir haben nachforschen lassen; wir haben untersuchen lassen. Es ist, so wie es aussieht, überschaubar. Wir haben im ersten Entwurf die Tür ein bisschen geöffnet. Jetzt fällt die Ausschlussfrist völlig weg. Das heißt, die Frist läuft nicht am 31. Dezember 2010 aus, sondern Anträge können in den nächsten Jahren weiterhin gestellt werden, wenn Menschen entdecken, dass sie betroffen sind. Das wurde aufgrund der Anhörungen eindeutig und klar. Wir haben über die jährlichen Einmalzahlungen debattiert. Sollen wir vorneweg eine dicke Tranche geben und dann jährliche Einmalzahlungen? Das kann man natürlich machen. Ich hätte gern vorgesehen: dicke Tranchen und dann der Rest. Aber wenn Sie rechnen, sehen Sie, dass bei einer Kapitalisierung - diese nehmen wir vor; Stiftungen müssen solide angelegt sein - in der Stiftung jährlich nicht mehr viel übrig bleibt. Ich denke, es ist besser, wenn die Menschen im nächsten Jahrzehnt ganz sicher jedes Jahr im ersten Quartal eine Zahlung erhalten. Das halte ich für richtig. Damit das Geld, das in der Stiftung ist, den Contergangeschädigten wirklich zugute kommt, haben wir zugesichert, dass die Verwaltungskosten aus dem Bundeshaushalt gezahlt werden. Auch das ist ein Fortschritt. Ich denke, viele Elemente haben den Gesetzentwurf geprägt. Wir wollen all den Menschen, die sich noch nicht gemeldet haben und jetzt Anträge stellen, möglichst zügig helfen. Daher wollen wir, dass die Kommission, die das behandelt, aufgestockt werden kann. Dies war bisher begrenzt und ist jetzt möglich. Das heißt, die Kommission der Fachleute, der Fachärzte, die die Anträge beurteilen, kann nach Inkrafttreten des Gesetzes aufgestockt werden. Unser Problem wird nicht darin bestehen, dass durch das Gesetz etwas gehemmt wird. Das Hauptproblem wird vielmehr darin liegen, ob wir genügend Fachleute haben. Wir wissen inzwischen aufgrund der Behandlung der Betroffenen, dass die Ärzte, die sich in das Thema hineingearbeitet haben, genau wie wir ins Alter kommen und aus dem Beruf ausscheiden. Wir müssen - das war in unserem Antrag enthalten, den wir im Herbst vorgelegt haben - dafür sorgen, dass wir genügend Ärzte bekommen, die sich in die Thematik hineinarbeiten, solange die anderen praktizieren und ihr Wissen weitergeben können. Es nützt nichts, wenn wir hier etwas Gutes machen und die Umsetzung im täglichen Leben fehlt. Damit Menschen wissen, zu wem sie gehen können, damit die weiterempfohlen werden, sind Information und Beratung ein ganz zentraler Punkt in der Stiftung, die neu konzipiert wird. Frau Blumenthal wird sie nachher noch vorstellen. Diese Beratung und Information an einer Stelle zu gewährleisten, bedeutet ein völliges Umdenken. Das heißt, die Menschen können dort anrufen, werden informiert und erfahren eventuell auch, welche Ärzte geeignet sind, um sie zu behandeln. Vieles von dem, was wir en passant gemacht haben, zum Beispiel die Erleichterungen beim Parken, haben wir auf Zuruf gemacht, nachdem die EU-Verordnung kam. Wir haben diese Erleichterungen mit aufgenommen, weil wir hierfür sofort eine Lösung finden und nicht erst auf einen Antrag warten wollten. Das haben wir ziemlich schnell und zügig umgesetzt. Wir haben eine Petition im Bundestag, was die Mitnahme eines Behindertenbegleithundes in Verkehrsmitteln angeht. Das heißt, die Mitnahme eines Behindertenbegleithundes soll kostenfrei sein. Die Begleitung durch einen Blindenführhund ist kostenfrei. Bei den Behinderten ist das nicht der Fall. Wir haben gesagt - ich denke, dass man das so formulieren darf, ohne dass es abfällig wirkt -: Wir machen ein Gleichstellungsgesetz für die Hunde, ({3}) sodass die Blindenführhunde mit den Behindertenbegleithunden gleichgestellt werden und diese als Begleitung genauso kostenlos fahren dürfen. ({4}) Das mag für den einen oder anderen eine Nebensächlichkeit sein. Aber für denjenigen, der auf den Hund angewiesen und knapp bei Kasse ist, ist das eine wichtige Entscheidung. Deshalb sage ich: Wenn die Regierung das, was wir noch am Rande ausgehandelt haben, Information der Betroffenen, Weitergabe der Informationen, Einladung der Betroffenen, damit sie alle auf dem gleichen Sachstand sind, Weitergabe der Forschungsergebnisse, umsetzt, dann wird diese Transparenz dazu führen, dass auch in den neuen Parlamenten immer rechtzeitig gegengesteuert wird, falls Entwicklungen eintreten, mit denen wir jetzt nicht rechnen. Dieses Thema werden und müssen wir auch in den nächsten Jahren begleiten. Ich hoffe, dass wir uns alle im Haus wieder so einig sind, dass es kein parteipolitisches Marlene Rupprecht ({5}) Gezänk gibt. Vielmehr müssen wir alle schauen: Wie können wir am besten eine Lösung finden und dabei auch über den Tellerrand nach Europa schauen? Auch das steht in unserem Papier. In diesem Sinne hoffe ich auf Ihre Zustimmung. Danke. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ilja Seifert, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Rupprecht, Sie haben es immer noch nicht begriffen. Es geht eben nicht darum, dass wir irgendetwas für die Behinderten tun, sondern es geht darum, dass man sie selber etwas tun lässt. Ihr Dank am Anfang Ihrer Rede war ziemlich daneben. Sie haben nicht den Kolleginnen und Kollegen hier und erst recht nicht den Beamten im Ministerium zu danken, die irgendetwas für die Contergangeschädigten tun. Vielmehr haben Sie denjenigen zu danken, die uns gezwungen haben, endlich etwas zu tun, die nicht müde werden, uns zu zeigen, wo es langgeht. Nicht wir müssen die anderen informieren, wie ihr Leben ist, sondern wir müssen uns von ihnen informieren lassen, wie ihr Leben aussieht, damit wir wissen, was wir zu tun haben. ({0}) So wird ein Schuh daraus. ({1}) Wir feiern in diesen Tagen den 60. Jahrestag des Grundgesetzes. In Art. 1 steht - das ist das Allerwichtigste; das sollten wir nie vergessen -, dass die Würde jedes Menschen unantastbar ist. Das ist verteidigungs- und schützenswert. Aber als Contergan in den Handel kam, galt das Grundgesetz schon, auch das Würde-Konzept. Damals hat ein jämmerliches Gezerre stattgefunden. Das war ein Versagen auf allen Seiten: Die Firma hat versagt, die Pharmaindustrie insgesamt hat versagt, die Justiz hat versagt, die Politik hat versagt. Es gibt noch nicht einmal eine Entschuldigung. Damals ist ein Vertrag geschlossen worden, der sittenwidrig ist. Wir müssen jetzt retten, was zu retten ist. Wir werden dem Gesetzentwurf selbstverständlich zustimmen, auch wenn es nur kleine Verbesserungen für die Betroffenen gibt. Es wäre lächerlich, wenn wir das nicht täten. Aber wenn wir das Würde-Konzept und das Konzept der Teilhabe-Orientierung der UNO-Konvention wirklich ernst nähmen, dann, liebe Frau Rupprecht und liebe andere Kolleginnen und Kollegen, würden wir ganz andere Dinge entscheiden, und zwar schon heute. Ich habe kein Verständnis dafür, dass jetzt, wenn die Ausschlussfrist aufgehoben wird, nicht rückwirkend gezahlt wird. Wieso denn nicht? Die Menschen haben ihre Probleme seit 50 Jahren, nicht erst seit dem Tag der Antragstellung. Wenn Betroffene seit 1983 keine Möglichkeit hatten, Anträge zu stellen, gibt es keinen Grund, nicht rückwirkend zu zahlen. Das kostet natürlich etwas; aber entweder wir reden von Würde, oder wir reden von Geld; beides passt nicht zusammen. Der nächste Punkt. Sie sind jetzt freundlicherweise bereit, ein Drittel der Plätze in den Stiftungsgremien für die Betroffenen zu reservieren. Was heißt denn „Nichts über uns ohne uns“? Es heißt, die Betroffenen müssten mindestens die Hälfte der Sitze, also das Sagen in der Stiftung haben. Das wäre Selbstbestimmung. Die Betroffenen können Fehler machen, natürlich. Sie haben selbstverständlich das gleiche Recht wie jeder andere, Fehler zu machen. Wenigstens würden sie ihre eigenen Fehler machen, anstatt dass Beamte - die sich möglicherweise noch selber kontrollieren sollen - in der Stiftung das Sagen haben. ({2}) Das Menschenbild, das Ihrer Konzeption zugrunde liegt, ist immer noch das der Fürsorge - etwas für andere zu machen - und nicht das der Selbstbestimmung. ({3}) - Ich spreche jetzt nicht von Ihnen persönlich, Frau Rupprecht, ich rede jetzt von dem Konzept, das dem Gesetzentwurf der Koalition zugrunde liegt. Lassen Sie Revue passieren, was die Betroffenen gesagt haben. Sie haben gesagt: Lasst uns wenigstens selber entscheiden, ob wir einen Einmalbetrag oder ob wir das Geld über 25 Jahre oder wie viele Jahre auch immer ausgezahlt bekommen möchten. Nicht einmal das konnten Sie. Wir machen mit unserem Änderungsantrag - dem Sie nachher zustimmen können - den Vorschlag, Betroffenen die Summe wenigstens kapitalisieren zu lassen, ähnlich wie das mit der monatlichen Conterganrente möglich ist. Das wäre kein Problem, die Voraussetzungen wären schon vorhanden. Doch das soll, wie ich gestern im Ausschuss erfahren habe, nicht gehen, weil die Firma Grünenthal die 50 Millionen Euro nicht als Spende, sondern als Zustiftung gibt. Seit anderthalb Jahren bekommt die Firma Grünenthal jede Woche kostenlos Werbung, weil immer gesagt wird: Die sind großzügig und geben noch mal 50 Millionen Euro. Dass Grünenthal davon jede Menge absetzen kann, davon wird nicht geredet, auch nicht davon, dass das Geld seit anderthalb Jahren aussteht. Dass jetzt ausgerechnet die Verursacher dieser Behinderungen auch noch darüber bestimmen können, wie das Geld ausgegeben wird, das sie angeblich den Conterganopfern zur Verfügung stellen, finde ich mehr als pervers. ({4}) Lassen Sie uns Selbstbestimmung ernst nehmen! Lassen Sie die Betroffenen entscheiden, und Sie werden sehen: Sie werden gut entscheiden. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Ilja Seifert, die Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition kann man sicherlich in vielem kritisieren; aber eines kann man ihnen im Zusammenhang mit diesem Gesetzgebungsverfahren nicht vorwerfen: dass sie den Austausch, das Gespräch, den Kontakt mit den Contergangeschädigten nicht gesucht hätten. Das muss man zur Ehrenrettung einmal sagen. ({0}) Die Kolleginnen und Kollegen sind den Wünschen oder dem Rat der Contergangeschädigten natürlich nicht in allen Punkten gefolgt. Ich werde nachher einige Punkte nennen, die wir anders sehen, als es nun im Gesetzentwurf vorgesehen ist; das ist ja der Grund, warum wir uns enthalten. Aber dass es diesen Austausch gegeben hat, sollte man, finde ich, nicht in Abrede stellen. Der vorliegende Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes weist zweifellos eine ganze Reihe von Verbesserungen auf, etwa dass die Ausschlussfrist gestrichen worden ist und dass der Stiftungszweck geändert worden ist: dass das Stiftungsvermögen jetzt ausschließlich den Contergangeschädigten zugutekommt. Auch die Dynamisierung ist im Grundsatz sinnvoll, ebenso die Regelung für die Urwahl der Vertreter der Contergangeschädigten im Stiftungsrat. Ich finde, das muss man ganz klar auf der Habenseite verbuchen, und das sollte man auch nicht kleinreden. Allerdings denke ich, dass Sie trotz der Schritte in die richtige Richtung an verschiedenen Stellen leider etwas halbherzig handeln. Ich will das einmal an zwei Beispielen herausstellen. Zum einen geht es um die Dynamisierung. Es handelt sich bei der Conterganrente nicht um eine Rente, die mit der gesetzlichen Rente vergleichbar ist, sondern um eine Entschädigungszahlung, die aufgrund der Haftungsnachfolge der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist. Ich denke, da es sich um eine Entschädigungszahlung handelt, sollte man bei der Dynamisierung nicht der gesetzlichen Rente folgen. Die Anpassung der gesetzlichen Rente ist zum Beispiel politisch durch den Nachhaltigkeitsfaktor, das Verhältnis von Beitragszahlenden zu Rentnern, und den Riester-Faktor für den Aufbau der privaten Ergänzungsversorgung beeinflusst. All dies sind Dinge, die innerhalb des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung zu bewerten sind, systematisch aber nichts mit einer Entschädigungszahlung zu tun haben. ({1}) Als zweiten Punkt möchte ich die sogenannte Ausschlussfrist exemplarisch herausgreifen. Es geht um den Fall, dass sich jetzt nachträglich Personen melden, die festgestellt haben, dass etwa ihre inneren Organe Schädigungen durch Contergan erlitten haben, von denen sie bislang nichts wussten. Es gab durchaus einige Geschädigte, die schon in der Vergangenheit Leistungen beantragt hatten, aber mit Verweis auf die Ausschlussfrist keine Leistungen bekommen haben. Diese können sich jetzt wieder melden. Das ist gut so. Aber warum erhalten sie die entsprechende Entschädigung nur ab dem Zeitpunkt der Antragstellung und nicht wenigstens ab dem Zeitpunkt der Erstantragstellung, als sie damals nicht berechtigt waren? Ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie an dieser Stelle so kleinlich sind. ({2}) Ich denke auch, dass die Haftungsnachfolge eine wirklich wichtige Sache für die Contergangeschädigten ist. Die Gesamtsumme ist überschaubar. Ich will den Vergleich mit der Bankenkrise jetzt nicht überstrapazieren, aber dort geht der Staat voll ins Risiko, und er haftet mit ungleich höheren Summen. Ich finde, an dieser Stelle sollte man eindeutig für die Menschen handeln, die sich ihre Situation nun wahrlich nicht selbst ausgesucht haben. Lassen Sie mich abschließend noch sagen: Ich finde, die Spätfolgen müssten bei einer Neubegutachtung und einer anderen Festsetzung der Entschädigungssumme eigentlich auch berücksichtigt werden. Frau Rupprecht, Sie haben die Forschung angesprochen. Ich setze meine Hoffnung darauf, dass wir hier zu einem anderen Bewertungsmaßstab kommen werden, wenn die Ergebnisse in der nächsten Legislaturperiode vorliegen werden. Ich halte diesen Weg auch für systematisch sinnvoller, als alle fünf Jahre erneut zu schauen, Frau Lenke, wie der Unterstützungsbedarf aussieht. Es handelt sich ja nicht um eine Sozialleistung im klassischen Sinne. Frau Rupprecht, insofern sollte man das auch nicht mit den anderen Sozialleistungen in unserem System vergleichen. Man muss sich immer klarmachen: Das ist eine Entschädigung. ({3}) Ich finde, diese Entschädigung muss man ins Verhältnis zu dem entstandenen Schaden setzen, sodass wir systematisch sauber und auch transparent weiterhin im Sinne der Betroffenen arbeiten. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003480, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich freue mich, dass wir heute hier den Gesetzentwurf verabschieden können. Ich bin stolz auf das Erreichte, und ich möchte mich dem Dank, der hier schon ausgesprochen worden ist, anschließen. Im besonderen Maße möchte ich aber natürlich Marlene Rupprecht danken; denn was wir beide miteinander ausgehandelt haben, das durch Frau Humme und Frau Falk mit Erfolg weitergetragen wurde, ist, so denke ich, nicht ganz selbstverständlich. Gerade in Zeiten eines beginnenden Wahlkampfes zeigt das ja auch, dass es möglich ist, sich zu verständigen und eine wichtige Sache einvernehmlich auf den Weg zu bringen und vor allen Dingen auch abzuschließen. Ich denke, das ist sehr wichtig. ({0}) Herr Dr. Seifert, damit Sie auch beruhigt sind, möchte ich auch den Betroffenen, den Verbänden und den Organisationen für die guten Anregungen bzw. die Kritik, die sie an uns weitergegeben haben, danken. Uns erreichen immer noch täglich Zuschriften, in denen uns die verschiedenen Nöte und Bedarfe geschildert werden. Deshalb bin ich froh, dass wir bei der Anhörung am 4. Mai noch einmal die Möglichkeit hatten, uns mit den Betroffenen und den Sachverständigen auszutauschen und weitere Impulse zu erhalten. Die Ergänzungen zu unserem Gesetzentwurf haben Frau Falk und Frau Rupprecht bereits erläutert und begründet. Wir hatten eine diskussionsreiche Zeit, die jetzt ein Ergebnis hervorbringt, das zeigt: Wir haben die Probleme der Conterganopfer ernst genommen, uns damit auseinandergesetzt und Änderungen an dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgenommen. Um den Betroffenen zu signalisieren, dass wir die Gespräche und den Austausch nicht abreißen lassen wollen, haben wir beschlossen, den Stiftungsrat mit zwei contergangeschädigten Vertreterinnen oder Vertretern zu besetzen. Dadurch können sie direkt ihre Belange kommunizieren und an notwendigen Verbesserungen mitarbeiten. Die Betroffenen können sich selbst oder eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten für den Stiftungsrat vorschlagen und per Urwahl bestimmen, wer dann ihre Interessen vertreten wird. Ich bin gespannt, wie die Betroffenen dieses neue Verfahren nutzen werden. Auch im Stiftungsvorstand wird eine leistungsberechtigte Person vertreten sein. Forderungen nach einer paritätischen oder vollständigen Besetzung des Stiftungsrates mit Betroffenen sind sicherlich vonseiten der Betroffenen nachvollziehbar, aber ich denke, eine weitere Beteiligung von Ministeriumsvertretern im Stiftungsrat bindet die Politik direkt in die Beratungen ein und entlässt sie somit nicht aus ihrer Pflicht. ({1}) Der Stiftungsrat fungiert als Kontroll- und Aufsichtsorgan und entscheidet über grundsätzliche Fragen, die der Vorstand dann auszuführen hat. Die Stiftung kann so effizienter und wirkungsvoller arbeiten. Ich darf aber auch hierbei auf die in der Anhörung vertretene Auffassung zweier Sachverständiger hinweisen. Beide haben die Nachteile verdeutlicht, die eine vollständige Vertretung von Betroffenen - das heißt eine Selbstverwaltung beinhaltet. Der Stiftungsexperte gab zu bedenken, dass bei dieser Lösung von staatlicher Seite den Betroffenen alles selbst überlassen würde und so der Staat - das heißt die Politik die Verantwortung abwälzen könnte. Außerdem wies er darauf hin, dass die Selbstverwaltung dem Stiftungsgedanken fremd ist. Weiter sehe ich es als eine Bereicherung an, dass Wissenschaftler im Stiftungsrat vertreten sein werden. Mit ihrem Fachwissen können sie zum Beispiel helfen, auf gesundheitliche Probleme der contergangeschädigten Menschen zu reagieren und bei der Entwicklung von Hilfen zu beraten. Besonders für den Forschungsauftrag, der noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ist ihr Wissen sehr hilfreich. Aber auch bei der Gestaltung des Forschungsauftrags werden die Betroffenen einbezogen. In der Anhörung hat der Bundesverband Contergangeschädigter e. V. von einer Arbeitsgruppe berichtet, die sich aus Vertretern der Landesverbände zusammengefunden hat und die Bedürfnisse und Erwartungen der Betroffenen zusammentragen wird. Die Ergebnisse werden zusammen mit dem Familienministerium ausgewertet und in den Forschungsauftrag integriert. Schon in der Anhörung im letzten Jahr wurde über den Begriff der sogenannten monatlichen Leistungen diskutiert, wie er im ursprünglichen Gesetzentwurf zu finden ist. Die meisten Betroffenen haben den bisherigen Begriff Rente kritisiert. Die Abgrenzung gegenüber Leistungen nach anderen Gesetzen war nicht deutlich genug und bereitete oft genug Probleme bei der Beantragung von weiteren Hilfsmitteln durch die fehlerhafte Anrechnung dieser Leistungen. Wir hatten deshalb in unserem Gesetzentwurf zunächst den Begriff „monatliche finanzielle Unterstützung“ vorgeschlagen. Die Betroffenen - das hat die Anhörung gezeigt - wünschen sich jedoch eine deutlichere Begriffsbestimmung, die klarstellt, dass sie Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz erhalten und dass diese Leistungen anrechnungsfrei sind. Deshalb haben wir jetzt den Begriff Conterganrente gewählt und die Anrechungsfreiheit noch einmal herausgestellt. Meine und die von meinen Vorrednern und Vorrednerinnen aufgeführten Beispiele zeigen, dass wir in kurzer Zeit - das heißt seit unserer letzten Anhörung - eine Menge geschafft haben. Wir haben den Betroffenen zugehört und ihre Kritik und Änderungswünsche in unsere Beratungen einbezogen. Trotzdem haben einige das Gefühl, wir würden den Gesetzentwurf zu schnell verabschieden. Wenn wir aber eine Ausschüttung der Grünenthal-Gelder noch in diesem Jahr wollen, dann müssen wir den Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode verabschieden. Ein weiterer sehr entscheidender Punkt ist: Die leistungsberechtigten Conterganopfer nehmen durch die zügige Verabschiedung des Gesetzentwurfs an der Rentenerhöhung, die zum 1. Juli 2009 erfolgen wird, automatisch teil; denn wir haben festgeschrieben, dass die Conterganrenten an die gesetzlichen Renten angepasst werden. Dadurch steigen die Conterganrenten ebenfalls zum 1. Juli. Deshalb müssen wir den Gesetzentwurf heute verabschieden. Diese Entwicklung hat bei den Debatten und der Diskussion über unseren Antrag vor einem Jahr niemand für möglich gehalten. Aber wir haben es geschafft. Ich möchte den Betroffenen versichern, dass wir mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes das Thema „Contergan“ nicht abschließen. Uns ist bewusst, dass die contergangeschädigten Menschen weiter unsere Hilfe benötigen und wir, die Politik, weiter unserer Verantwortung nachkommen werden. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Con- terganstiftungsgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Se- nioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13025, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12413 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- sache 16/13030? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Linken, SPD, CDU/CSU und FDP bei Ent- haltung der Grünen und einer Gegenstimme bei Bünd- nis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit in der Schlussabstimmung mit dem glei- chen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung an- genommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13031. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und des Bündnis- ses 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Soforthilfe zur Teilhabe-Ermögli- chung für Conterganbetroffene“. Der Ausschuss emp- fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13025, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11639 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim- men der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bünd- nis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ursachen und Folgen von Armut bei Kindern und Jugendlichen - Drucksachen 16/7582, 16/9810 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Existenz von Kindern sichern - Familien stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Kind zurücklassen - Programm gegen Kinderarmut auf den Weg bringen - zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bessere Unterstützung für Alleinerziehende - Drucksachen 16/9433, 16/9028, 16/10257, 16/12201 Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Fischbach Miriam Gruß Ekin Deligöz Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke zur Großen Anfrage vor. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke. ({1})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Letzten Sommer habe ich in Brandenburg eine Gruppe von Kindern begrüßt, die das erste Mal in ihrem Leben in einem Ferienlager waren. Finanziert wurde der Aufenthalt aus Spendengeldern. Ich konnte in die glücklichen Gesichter der Kinder sehen. Sie kamen aus Familien, deren knappe Haushaltskasse einen Urlaub nicht zulässt. Es waren Kinder, zu deren Alltag Suppenküchen, Tafeln und Kleiderkammern gehören, weil der ALG-II-Regelsatz für eine gesunde Ernährung und für Kinderkleidung nicht reicht. Von all diesen Dingen scheint die Bundesregierung aber nicht viel zu wissen oder wissen zu wollen; denn die häufigste Antwort auf unsere Fragen in der Großen Anfrage lautet: Dazu liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor. ({0}) Schlimmer noch, ich glaube, Sie hatten nie vor, die Zustände ändern zu wollen. Im Koalitionsvertrag findet man das Wort „Kinderarmut“ sage und schreibe ein Mal. Auf Seite 118 heißt es: „Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren …“ Immerhin! Das Abschlusszeugnis für die Regierungsarbeit fällt aus Sicht meiner Fraktion aber denkbar schlecht aus. Die schwarz-rote Untätigkeit hat dramatische Auswirkungen auf das Leben und die Zukunft von mindestens 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichen, die der Bundesregierung und der Bundesfamilienministerin in Sonntagsreden zwar immer wieder einfallen, danach allerdings schnell wieder vergessen sind. ({1}) Im Vorspann der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum Thema Kinderarmut heißt es: Armut und soziale Ausgrenzung von Familien und Kindern sind aus Sicht der Bundesregierung bedeutende Probleme, die insbesondere für den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft von großer Relevanz sind. Das liest sich zunächst wunderbar. Diese Bundesregierung hat aber eine Politik verfestigt, die eine ganze Bevölkerungsgruppe außen vor lässt. Den letzten traurigen Beweis dieser Ausgrenzungspolitik hat die Große Koalition mit dem Schulbedarfspaket geliefert. Diese Unterstützung für Schülerinnen und Schüler sollte anfangs nur bis zur 10. Klasse ausgezahlt werden. Die Erweiterung auf die Abiturstufe ist letztlich auch auf unseren Druck hin erfolgt. ({2}) Auch wenn es der Union nicht passt: Sie waren schließlich diejenigen, die im Vorfeld Kinder im Hartz-IV-Bezug nicht beim Abitur unterstützen wollten. ({3}) Die Bundesregierung verharmlost das Ausmaß der Kinderarmut, leugnet ihren permanenten Anstieg und agiert mit Zahlen, die schlicht und ergreifend falsch sind. Wenn die Familienministerin schon ein Kompetenzzentrum für familienbezogene Leistungen einrichtet, dann sollte sie auch auf diesen Sachverstand vertrauen; denn genau dieses Kompetenzzentrum widerlegt die Zahlen der Bundesregierung, die in der Antwort auf unsere Große Anfrage genannt werden. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen - das ist der Umgang der Bundesregierung mit der Kinderarmut in Deutschland. Wenn man ein Problem nicht wahrnehmen will, dann will man es auch nicht lösen. Was haben Sie denn wirklich getan? Noch immer gibt es keine eigenständigen Kinderregelsätze. Warum auch? Wer Kindern keine eigenständigen Rechte im Grundgesetz zugestehen will, der will auch ihren eigenständigen Bedarf nicht absichern. Sie haben das Kindergeld um sage und schreibe 10 Euro erhöht. Dies gleicht aber nicht einmal annähernd den Wertverlust der letzten Jahre aus. Zudem erreicht diese Erhöhung die armen Kinder überhaupt nicht; denn das Kindergeld wird auf Hartz IV angerechnet. Unser Antrag, wenigstens diese Erhöhung von der Anrechnung auszunehmen, wurde vom ganzen übrigen Haus abgelehnt. Obendrein haben Sie den Anspruch auf Kindergeld um zwei Jahre gekürzt. Volljährigen ALG-II-Beziehenden unter 25 haben Sie dann auch noch das Recht auf eine eigene Wohnung genommen. Aus dem Konjunkturpaket bekommt eine ganze Schulklasse Neunjähriger zusammen so viel Förderung wie ein neun Jahre altes Auto. Das sind Ihre Prioritäten. Dieser Bundesregierung kann ich kurz vor Ende dieser Legislaturperiode nur ein Armutszeugnis ausstellen. Sie ist ein Armutsrisiko für Familien mit Kindern. ({4}) Ich bin mir sicher, dass Sie alle unsere Forderungen, die Sie in unserem Entschließungsantrag finden, wie immer mit Populismus, Wünsch-dir-was-Listen und Ähnlichem abtun werden. Aber mit unseren Forderungen nach einer spürbaren Erhöhung und Verbesserung des Kinderzuschlags, einem bedarfsbezogenen Kinderregelsatz im Arbeitslosengeld II, der Einführung eines Mindestlohnes und der deutlichen Beschleunigung des Ausbaus von Tagesbetreuungsplätzen für alle Kinder stehen wir in dieser Gesellschaft nicht allein. Gewerkschaften, Kinderrechtsverbände und andere stehen an unserer Seite. Ich sage: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit beim Zuhören, aber nicht für die Arbeit gegen Kinderarmut. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Golze, Ihre Rede gerade hat deutlich gemacht, dass Sie nicht verstanden haben, wo unsere Ansätze sind, um Kinderarmut zu bekämpfen. Kinderarmut hat etwas mit Familienarmut zu tun. Das ist in Ihrer Rede überhaupt nicht vorgekommen. Kinderarmut hat etwas mit der finanziellen, emotionalen und kulturellen Situation von Familien zu tun. Nur wenn wir das erkennen, haben wir die Möglichkeit, Kinder aus der Armutsfalle - da ist Ihre Sorge berechtigt - herauszuholen. Aber davon haben Sie überhaupt nicht gesprochen. ({0}) Das zeigt mir, dass Sie in dem Wünsch-dir-was-Programm, das Sie angekündigt haben, verharren. Worin drückt sich aus, dass Sie, die Linken, als Wünsch-dir-was-Trupp gesehen werden? Sie stellen zwar ständig Forderungen - sie sind an der einen oder anderen Stelle vielleicht gar nicht verkehrt -, bleiben aber immer die Antwort schuldig, wie das Ganze finanziert werden soll. Eine Milliardenforderung nach der anderen aufzustellen, das können wir auch. Wir wollen aber für eine Politik eintreten, die umgesetzt werden kann - ({1}) - Sie können eine Zwischenfrage stellen; dann gehe ich auf Sie ein. So lasse ich mich nicht darauf ein. Ich rate Ihnen: Gehen Sie doch einmal die wirklichen Ursachen an. Dann können wir gemeinsam etwas dagegen tun, dass Kinder in die Armutsfalle geraten. Wir sind uns einig: Das wollen wir nicht. Wir wollen den Kindern, die in die Armutsfalle geraten sind, heraushelfen. ({2}) Dafür werden wir etwas tun, und dafür haben wir etwas getan. Wir, Union und auch Koalition, sind uns darüber einig, dass Kinderarmut Familienarmut ist, dass diese Armut aber nicht unbedingt materielle Armut ist, sondern auch emotionale oder kulturelle, also Bildungsarmut sein kann. Dreh- und Angelpunkt ist die Bildung. Darauf wird meine Kollegin Noll gleich noch eingehen. Ich werde mich mit dem Bereich der materiellen Armut beschäftigen. Angesichts der Kürze der Redezeit werde ich mich auf eine spezielle Gruppe konzentrieren, die von Armut stark betroffen ist. Für die finanzielle Absicherung von Kindern ist unserer Meinung nach die finanzielle Absicherung der Familien wichtig. Nur wenn es den Familien gut geht, wenn alle in einer Bedarfsgemeinschaft Lebenden eine ausreichende Absicherung haben, dann haben auch die Kinder diese Absicherung und sind nicht von Kinderarmut bedroht. Deshalb geht Kinderarmut hauptsächlich auf die Armut der Eltern zurück. Deren Armut müssen wir bekämpfen. In diesem Zusammenhang ist das Stichwort Arbeitslosigkeit zu erwähnen: Die Senkung der Arbeitslosigkeit ist unser Hauptanliegen. Ich will jetzt keine Belege für das bringen, was unsere Regierungskoalition auf den Weg gebracht hat. ({3}) Man kann allerdings eines sagen: Bis zum Eintreten der von niemandem vorhergesagten Wirtschaftskrise haben wir die Arbeitslosigkeit so deutlich gesenkt wie noch nie. ({4}) Das heißt, 1,5 Millionen Menschen sind aus der Arbeitslosigkeit herausgekommen, Herr Wunderlich. Fakten und Zahlen müssen auch Sie anerkennen. Es kam zu einem Plus von 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. ({5}) Der beste Weg, Kinderarmut zu bekämpfen, ist also, Eltern in Arbeit zu bringen, es ihnen zu ermöglichen, selber für ihren Unterhalt Sorge zu tragen. Dafür zu sorgen, das ist unsere Reaktion auf Kinderarmut. Den ersten Schritt auf diesem Weg sind wir gegangen. Ich gebe zu: Durch die Wirtschaftskrise haben wir jetzt Probleme. Aber auch diese Probleme werden wir angehen und lösen. ({6}) Von Kinderarmut besonders betroffen sind Familien mit Migrationshintergrund, Mehrkinderfamilien und vor allem die Alleinerziehenden. Frau Golze, es wäre schön, wenn Sie zuhörten; sonst wissen Sie gleich wieder nicht, was die Regierung getan hat, um mit diesem Problem fertig zu werden. Wir haben einiges getan, um die Situation der Alleinerziehenden zu verbessern. Wir haben dem Kinderzuschlag, der unter Rot-Grün eingeführt worden ist, vom Ansinnen her zugestimmt. Bei seiner Einführung haben wir gesagt: Der Kinderzuschlag ist zu kompliziert; zu wenige kommen in den Genuss dieses Zuschlags. Herr Spanier, aufgrund der Evaluierungsergebnisse haben wir bei der Reform des Kinderzuschlages die Alleinerziehenden in den Fokus gerückt. Wir haben dafür gesorgt, dass mehr Alleinerziehende in den Genuss des Kinderzuschlags kommen. Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, erkennen Sie, dass sie für sich sprechen - was hier gesagt wird, ist keine Erfindung von Frau Fischbach, die es gern schönreden möchte -: Die Familienkassen berichten, dass die Zahl derjenigen, die den Kinderzuschlag beantragt haben und deren Anträge bewilligt worden sind, im Dezember 2008 bei rund 31,9 Prozent lag; vorher waren es 21 Prozent. Es ist also ein Anstieg zu erkennen. Der zweite Beleg ist, dass auch die Zahl der Kinder, deren Eltern Leistungen nach dem SGB II beziehen, im Vergleich zum Vorjahr um 6,8 Prozent gesunken ist. Dies geht aus den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit hervor.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Fischbach, die Kollegin Golze möchte gern eine Zwischenfrage stellen.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Kollegin Golze hat bereits im Ausschuss sehr viele Zwischenfragen gestellt und hat gerade erst geredet. Ich würde daher meine Rede gern fortsetzen. 132 000 Kinder weniger sind im Leistungsbezug des SGB II verzeichnet. Diese Zahl spricht für sich. Erwerbslosigkeit der Eltern und ein geringes Einkommen sind Hauptursachen für Armut. Deshalb werden wir die gute Familienpolitik, die unter Schwarz-Rot eingeleitet wurde, fortführen. Ich könnte jetzt noch die Erhöhung des Kindergeldes und die Einführung des Elterngelds nennen. Am Pult blinkt es allerdings schon unaufhörlich. Deshalb möchte ich an dieser Stelle alle bitten, sich mit den Ursachen und der Bekämpfung der Ursachen zu beschäftigen und gemeinsam dafür zu sorgen, dass in unserem Land kein Kind von Armut bedroht ist. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Golze das Wort.

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Frau Fischbach, Sie haben gerade anerkannt, dass ich eine sehr fleißige Mitarbeiterin im Ausschuss bin. Ich möchte dennoch gern auch meine Rechte im Plenum nutzen. Ich wollte Ihnen eine Frage stellen und Ihnen damit die Möglichkeit geben, mir etwas zu erklären. Ich werde Ihnen meine Meinung nun aber im Voraus mitteilen: Sie haben das Instrument des Kinderzuschlags als das bedeutende Mittel im Rahmen der Armutsbekämpfung bei Alleinerziehenden gepriesen. Ist Ihnen denn bekannt - das wollte ich Sie fragen; ich glaube aber, es ist Ihnen nicht bekannt -, dass der Kinderzuschlag zwar von mehr Menschen in Anspruch genommen wird, er aber nicht dazu führt, Armut zu verhindern? Es wird sogar ganz bewusst mit verdeckter Armut gearbeitet. Warum? Weil es jetzt folgendes Wahlrecht gibt: Entweder die Eltern beantragen Hartz-IV-Leistungen, oder sie nehmen den Kinderzuschlag in Anspruch. Viele nehmen lieber den Kinderzuschlag in Anspruch, als sich den Repressalien der Argen auszusetzen. Das bedeutet aber nicht, dass sie am Ende auch nur einen Cent mehr in der Tasche haben. Viele haben mit dem Kinderzuschlag sogar weniger, als wenn sie Hartz IV-Leistungen beziehen würden. Das ist keine Armutsbekämpfung. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Fischbach, bitte schön.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Golze, ich bin keine Mitarbeiterin im Ausschuss, sondern eine Abgeordnete. Sie sind auch eine Abgeordnete. ({0}) - Ja, aber eben nicht als Mitarbeiterin. Ich bin erstaunt darüber - dies zeigt, dass es richtig war, die Frage abzulehnen -, dass Sie sich hier hinstellen und die Einführung des Wahlrechts, also die Wahlmöglichkeiten für Alleinerziehende, kritisieren. Sie kritisieren, dass man sich zwischen dem Kinderzuschlag und dem ALG II entscheiden kann. Wenn ich mich richtig erinnere - meine Gehirnzellen funktionieren noch ganz gut -, war es Ihre Fraktion, die sich in der Anhörung sehr deutlich dafür ausgesprochen und die Frage gestellt hat, wieso es beim Kinderzuschlag bisher keine Wahlmöglichkeit gibt. Herr Wunderlich hat dies angeprangert und gesagt: Wir müssen die Wahlmöglichkeit sicherstellen. - Jetzt führen wir sie ein, und Sie sagen, dass die Armen genau das nicht wollen. Sie sollten erst einmal Ihre Gedanken sortieren und sich überlegen, was Sie wollen. Das wäre sinnvoller, als ständig hin- und herzuspringen. Wir können belegen, dass ein Großteil der bewilligten Anträge von Alleinerziehenden gestellt wurde, die vom Kinderzuschlag Gebrauch machen. Das ist gut, und das ist richtig. Dass es allein ausreicht, habe ich nicht gesagt. Hätten Sie vorhin zugehört, hätten Sie verstanden, dass dies nur ein Aspekt ist. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die FDP-Fraktion gebe ich der Kollegin Ina Lenke das Wort.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2,5 Millionen arme Kinder leben in Deutschland. Frau Fischbach sagte bereits, dass Kinder aus Zuwandererfamilien und Kinder von Alleinerziehenden ganz besonders betroffen sind. Jedes sechste Kind lebt in Armut. Das bestimmt natürlich auch den Tagesablauf dieser Kinder. Wenn ich von Armut spreche, denke ich nicht nur an das Geld, das fehlt, sondern - wir wissen alle, dass es das gibt - auch an die gesellschaftliche Verwahrlosung. Sie drückt sich zum Beispiel in zu wenig Aufmerksamkeit und zu wenig Zuwendung für die Kinder aus. Dass sich Armut wie ein roter Faden durch das Leben vieler Kinder zieht, beweisen auch die Ergebnisse der World-Vision-Kinderstudie. Es ist wirklich nicht zu fassen, dass im Vergleich zu wenig Kinder aus sozial benachteiligten Gruppen Gymnasien besuchen, dass 19 Prozent dieser Kinder eine Förderschule besuchen. Wenn das wirklich stimmt, stimmt irgendetwas nicht in unserem Staat. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie es möglich ist, dass jemand neun oder zehn Jahre in die Schule geht, aber noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss bekommt. Das ist zwar jetzt nicht unser Thema, aber hier muss uns wirklich mehr einfallen, als das heute nur zu beklagen. Selbst die Quote derjenigen Kinder, die regelmäßige Freizeitaktivitäten außerhalb des Elternhauses und außerhalb der Schule unternehmen - das ist für Kinder ganz wichtig, um Neues aufzunehmen bzw. kennenzulernen -, beträgt bei benachteiligten Kindern nur 47 Prozent, im Durchschnitt aber 73 Prozent. Auch der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte warnt vor den Folgen von Kinderarmut. Die Studien zeigen: Neben den erhöhten Gesundheitsrisiken als Folge von Fehlernährung und Bewegungsmangel besteht auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für psychosomatische und psychische Erkrankungen für diese Kinder. Liebe Kollegen und Kolleginnen, nicht die Kinder sind arm, sondern die Familien, in die sie hineingeboren wurden. Von daher ist es auch Aufgabe der Politik, die wir hier in Berlin machen, den Zyklus aus vererbter Armut und manchmal auch aus Perspektivlosigkeit zu durchbrechen. Es ist ja auch keine Chancengerechtigkeit gegeben, wenn der soziale Status der Eltern über den Bildungsweg von Kindern entscheidet. Hierdurch wird nämlich das Leben bis weit in das Erwachsenenalter hinein geprägt. Die FDP hat Vorschläge unterbreitet. Dem ersten Vorschlag können Sie, auch wenn er von der Opposition kommt, sicherlich zustimmen. Wir sind uns ja einig: Bildung, Bildung, Bildung, das ist die soziale Antwort auf diese drängende Frage des 21. Jahrhunderts. Kinder brauchen, weil sie im Elternhaus manchmal nicht ausreichend Bildung erhalten, qualitativ hochwertige Kindertagesstätten, damit sie so früh wie möglich gefördert und gebildet werden. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich es empörend, dass die Große Koalition 2013 ein Betreuungsgeld einführen will, ({0}) und zwar für Eltern von Kleinkindern als Alternative zum Besuch einer Krippe. Das ist der falsche Weg. Wenn Sie, Frau Marks, jetzt sagen, Sie wollen es nicht, dann kann ich Ihnen nur entgegnen: Es steht schwarz auf weiß geschrieben. ({1}) Sie können nicht sagen, Sie hätten damit nichts zu tun. Sie haben das gemeinsam mit der CDU/CSU beschlossen. Sie sind mitverantwortlich. Sie haben das unterschrieben. ({2}) Zweitens. In Deutschland werden im OECD-Vergleich verhältnismäßig hohe Finanzhilfen an Familien gezahlt. Aber kommt das Geld auch da an, wo es gebraucht wird? Wir als FDP-Fraktion fordern seit fast vier Jahren, seit Beginn dieser Legislaturperiode, alle 150 familienbezogenen Leistungen auf ihre Wirksamkeit und Zielgenauigkeit zu überprüfen. Die Bundesregierung denkt einfach nicht daran. Der Staatssekretär hat es abgelehnt. Er hat gesagt, wir könnten ja den entsprechenden Aktenberg an Gutachten und Informationen lesen. Was soll das denn? Es gibt ein Ministerium mit vielen Mitarbeitern, aber uns liegt bis heute keine Analyse vor. Die einmalige Zahlung von 100 Euro pro Kind im Zuge des Konjunkturpakets ist schließlich der größte Witz. ({3}) Drittens. Familien mit Kindern gehören steuerlich entlastet. Durch Ihre Steuererhöhungen ziehen Sie den Familien aber jährlich 1 400 Euro aus den Taschen. Statt jetzt aber zum Beispiel die Mehrwertsteuer bei Windeln von 19 Prozent auf 7 Prozent zu senken, haben Sie es in dieser Legislaturperiode nur geschafft, die entsprechende Mehrwertsteuer für Skiliftumsätze zu senken. Man darf gar nicht darüber nachdenken. Nach wie vor müssen die Eltern für Windeln 19 Prozent Mehrwertsteuer zahlen. Das ist wirklich ein Witz; das muss man auch in der Öffentlichkeit einmal sagen. ({4}) Ich komme zum Schluss, weil ich leider schon über die Zeit geredet habe. Wir wollen den Schwerpunkt auf frühkindliche Bildung legen. Ich glaube, das ebnet Alleinerziehenden auch einen Weg aus der Arbeitslosigkeit. Handeln statt reden, das muss die Devise sein. Die FDP hat in ihrem Antrag deutlich gemacht, was wir für richtig halten. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Wolfgang Spanier. ({0})

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Und wenn es denn gewünscht wird: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ausschuss! ({0}) Wir debattieren heute über die Große Anfrage und einige Anträge. Wir sprechen nicht über konkrete Entscheidungen oder eine konkrete Maßnahme. ({1}) Deswegen bietet diese Debatte noch einmal eine Gelegenheit, grundsätzlich etwas zu dem Thema zu sagen. Frau Golze, bei Ihrer Rede musste ich mein ansonsten überbordendes ostwestfälisches Temperament zügeln. Diese Rede beinhaltete eine Reihe manchmal bösartiger Unterstellungen und polemischer Zuspitzungen. ({2}) - Ich sage es in aller Ruhe. Ich schätze Sie als Mitarbeiterin im Ausschuss, bei allen Unterschieden und Differenzen. ({3}) Aber wenn Sie Ihre Rede später noch einmal nachlesen, werden Sie das, was ich gerade gesagt habe, bestätigen können. Ich bin froh, dass wir heute nicht über Statistiken streiten - das machen wir sonst ganz gerne, wenn es um dieses Thema geht -, sondern dass es heute um die Sache geht. Es ist schon angesprochen worden, wer in erster Linie vom Armutsrisiko betroffen ist: Frauen, Alleinerziehende und Kinder. Deswegen ist die Feststellung, dass Armut weiblich und jung ist, voll zutreffend. Wir sind uns auch einig über die Ursachen: Arbeitslosigkeit, vor allen Dingen wenn sie langanhaltend ist, die Situation als Alleinerziehende und auch Ereignisse im Leben wie schwere Krankheiten, die einen aus der Bahn werfen können. Wenn wir über die Vermeidung und Bekämpfung von Armut und - diese Ergänzung ist wichtig - sozialer Ausgrenzung sprechen, dann müssen wir natürlich bei den Ursachen ansetzen. ({4}) Wir müssen sehen, welche Möglichkeiten und Grenzen dieses Parlament hat. Nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die rasante Entwicklung im Niedriglohnsektor hat sicherlich dazu beigetragen, dass mehr Menschen vom Armutsrisiko betroffen sind. Deswegen ist die Frage des Mindestlohns an dieser Stelle eine ganz entscheidende. ({5}) - Ich will nicht nur loben, sondern an der einen oder anderen Stelle durchaus auch selbstkritische Bemerkungen machen. - Auch das rasante Anwachsen der Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse ist eine Ursache. Hier müssen ebenfalls Korrekturen vorgenommen werden. Wenn es um die finanziellen Leistungen geht, dann sind die vorgelagerten sozialen Leistungen von ganz besonderer Bedeutung. Wir haben das Kindergeld erhöht. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es nicht noch mehr sein sollte. Wir haben den Kinderzuschlag verbessert. Das ist ein Fortschritt. ({6}) Aber wir haben den Kinderzuschlag nicht - deswegen stehen in unseren Wahlprogrammen auch entsprechende Formulierungen - so verbessern können, wie wir Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker uns das gewünscht haben; das sei eingeräumt. Außerdem haben wir das Wohngeld deutlich angehoben. Das heißt, wir haben bei den vorgelagerten sozialen Leistungen eine ganze Menge getan. Nicht erreicht worden ist allerdings etwas, was die Bundesfamilienministerin, die nicht anwesend sein kann, eigentlich zugesagt hatte, nämlich eine Prüfung der Effektivität aller Familienleistungen durchzuführen und eine Bilanz zu erstellen. Ich hoffe, dass der nächste Bundestag doch noch einmal an das Thema Ehegattensplitting herangeht. ({7}) Wir sollten das Splitting nicht abschaffen, weil wir damit auch Familien treffen würden. Aber die Lösung, die wir jetzt haben, ist auf Dauer einfach nicht haltbar. Sie birgt so viele Widersprüche, dass wir uns dieses Themas noch einmal annehmen müssen. Dann hätten wir auch mehr finanzielle Möglichkeiten, Leistungen, die Kindern und Familien direkt zukommen, zu verbessern. Zu den Regelsätzen. Wir unterscheiden bei den Kindern drei Gruppen. Für die 6- bis 13-Jährigen haben wir die Regelsätze kräftig angehoben. Auch das Schulbedarfspaket sollte man in diesem Zusammenhang nicht kleinreden. ({8}) Es stellt einen ganz entscheidenden Fortschritt dar, weil bei der Ermittlung der Regelsätze Bildung nicht die Rolle gespielt hat, die ihr eigentlich zukommt. Die Regelsätze sollten vom nächsten Bundestag noch einmal überprüft und überdacht werden. Den Grundgedanken, dabei bedarfsorientiert vorzugehen, halte ich persönlich grundsätzlich für richtig. Man kann die Verbrauchsstichprobe auch so gestalten, dass eben nicht der alleinstehende Erwachsene der Maßstab ist, sondern Familien mit Kindern. Das ist jetzt geschehen. An dieser Stelle will ich noch anmerken: Das Bundessozialgericht - demnächst möglicherweise auch das Bundesverfassungsgericht - hat sich gegen die Ableitung gewandt und ausdrücklich keine Aussage zur Höhe gemacht. ({9}) Das ist eine Aufgabe für den nächsten Bundestag. ({10}) - Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe vier Jahre Erfahrung in der Opposition, sieben Jahre Erfahrung in der herzlichen Koalition mit Ihnen und jetzt vier Jahre Erfahrung in der ganz besonders herzlichen Koalition mit der Union. Sie als Fachpolitiker wissen selbst, dass in einer Koalition manches nicht durchsetzbar ist. Dieses Spielchen sollten wir uns ersparen, Herr Kurth. Es geht aber nicht nur um die materielle Bekämpfung von Armut. Es geht auch - da gebe ich Frau Lenke absolut recht - um Bildung. Bildung ist tatsächlich der Schlüssel, um Armut zu vermeiden und die Chance zu bekommen, sich langfristig aus dieser Lage zu befreien. Wir stellen bildlich gesehen Leitern auf, die es den Betroffenen ermöglichen, herauszuklettern. Wenn jemand herunterrutschen sollte, dann bekommt er eine weitere Chance; denn wir helfen ihm noch einmal auf die Leiter. Das halte ich für ganz entscheidend. Auch an dieser Stelle haben wir Fortschritte gemacht. Frühkindliche Förderung ist ein ganz entscheidendes Moment. Wir haben es geschafft, das Angebot an Betreuungsplätzen für die unter 3-Jährigen mit finanzieller Beteiligung des Bundes deutlich auszubauen. Das ist angesichts der Zuständigkeiten nicht selbstverständlich. ({11}) Dass wir den Rechtsanspruch auf Betreuung durchgesetzt haben, ist ein ganz entscheidender Fortschritt. Das wird zwar nicht von heute auf morgen, aber auf mittlere Sicht eine spürbare Verbesserung bringen. Wir haben auch die Chance, auf dem Gebiet der Integration voranzukommen. Darüber haben wir in der gesellschaftspolitischen Debatte erst sehr spät eine Verständigung erzielt. Auch da müssen wir entscheidende Schritte vorankommen. ({12}) - Dieses kleine Zugeständnis mussten wir machen, um das große Ziel zu erreichen. Wie meine Kolleginnen und Kollegen bin auch ich absolut sicher, dass dieser Unsinn nicht Realität wird. Das sage ich ganz offen. ({13}) Ich will zum Schluss - ich glaube, das ist wichtig noch einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Einkommen, Bildung und Gesundheit - über die Gesundheit habe ich noch kein Wort verloren; man kann in neun Minuten nicht alles ansprechen - sind die zentralen Dimensionen, die Armut beeinflussen. Es ist ganz entscheidend, dass wir nicht eine dieser Dimensionen herausgreifen und glauben, mit Fortschritten in diesem Bereich das schwierige Problem der Armut lösen zu können. Wir dürfen diese drei Dimensionen auch nicht gegeneinander ausspielen. Manchmal gab es solche Ansätze: hier die materiellen Leistungen oder dort mehr Geld in Infrastruktur. Das sollten wir auf jeden Fall vermeiden. Wir brauchen in der Tat ein umfassendes Konzept, in dem alle Dimensionen berücksichtigt werden. Ich gehöre zu denen, die immer misstrauisch werden, wenn von großen und umfassenden Konzepten die Rede ist. Von der Sache her ist das hier aber nötig. Wir Sozialdemokraten nennen das „Nationaler Aktionsplan“. Ich denke - das konnte ich in allen Anträgen und auch im Entschließungsantrag erkennen -, dass der Bundestag über alle Unterschiede und Fraktionsgrenzen hinweg in diese Richtung geht. Deswegen hoffe ich, dass nach der Bundestagswahl das neu zusammengesetzte Parlament im Jahr 2010, also im Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, diese umfassende Strategie entwickelt. Das halte ich für sehr wichtig, damit alle Dimensionen - Einkommen, Bildung und Gesundheit - berücksichtigt werden. ({14}) Nur dann haben wir die Chance, möglichst allen Kindern gleiche Lebenschancen zu geben; darum geht es. Selbst ökonomisch ist das richtig; denn wir brauchen jedes Kind. ({15}) Ich füge hinzu - jeder hat ja seine eigene Biografie -: Ganz besonders brauchen wir die benachteiligten Kinder. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Spanier, Sie haben wirklich schöne Worte gefunden. Wir reden heute aber leider nicht über Ihre Wünsche, sondern wir diskutieren über die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Kinderarmut. Bei diesem Thema ist die Bilanz nicht so schön, wie Ihre Worte waren. Die Bilanz ist eigentlich sehr schlecht. Denn in der Antwort der Bundesregierung wird deutlich, dass es in Deutschland Kinderarmut gibt, dass Kinder benachteiligt sind und dass sich die Kinderarmut verfestigt. Das ist die Bilanz, über die wir reden und die wir ernst nehmen müssen. Anstatt nach Lösungen zu suchen, Antworten zu geben und Ideen, wie es weitergehen kann, zu entwickeln, verwenden Sie Ihre Energie darauf, die Lage zu beschönigen und die Zahlen schönzureden; um das festzustellen, braucht man nur die Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage zu lesen. Das kann es nicht sein. So dürfen Sie mit diesem Thema nicht umgehen; hier haben die Kolleginnen und Kollegen von der Linken wirklich recht. ({0}) Es ist an der Zeit, Klartext zu reden. Jedes sechste Kind in Deutschland lebt in Armut; das ist eine Katastrophe. Armut hat in Deutschland viele Gesichter. Armut liegt nicht nur dann vor, wenn man wenig Geld hat. Es geht auch um die Teilhabe, den Bildungshunger und darum, ob ein Kind mit knurrendem Magen im Unterricht sitzen muss und ob es ein paar neue Sandalen bekommen kann. Das sind die Fragen, die die Eltern von Kindern, die von Armut betroffen sind, beschäftigen. Diese Fragen sind ganz akut. ({1}) Wir brauchen ein Umdenken. Ihr Klein-Klein bringt uns nicht weiter. Übrigens hat auch das im Bundesfamilienministerium eingerichtete Kompetenzzentrum darauf hingewiesen, dass ein Umdenken bzw. ein Systemumschwung notwendig ist, weil das jetzige Familienfinanzierungssystem ehelastig und steuerlastig ist. Es ist nicht transfer-, sondern steuerlastig. Wenn wir für Gerechtigkeit sorgen wollen, müssen wir diese Steuerlastigkeit überwinden. Wir müssen unseren Blick weg von der Definition der Ehe und hin zur Finanzierung des Lebens mit Kindern richten. ({2}) Die Grünen schlagen vor, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Dazu haben wir einen Parteitagsbeschluss gefasst. Wir wollen, dass für jedes Kind 330 Euro pro Monat zur Verfügung gestellt werden. ({3}) Das ist unser Vorschlag, um das Zusammenleben mit Kindern zu finanzieren und die Armut zu bekämpfen. Wir brauchen allerdings nicht nur eine umfangreiche Unterstützung, sondern auch die notwendige Infrastruktur. Jetzt komme ich auf Ihre Lösungsvorschläge zu sprechen. Sie sagen, es gebe den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung und den Kinderzuschlag. Sie sind wirklich nicht besonders ambitioniert. Der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, den Sie festgeschrieben haben, gilt erst irgendwann, erst ab dem Jahre 2013. ({4}) Bis dahin - auch das kommt in Ihren Antworten auf die Große Anfrage sehr gut zum Ausdruck - passiert nichts. Was unternehmen Sie dagegen, dass wir auf einen Erziehermangel zusteuern? Was unternehmen Sie dagegen, dass sich die Kommunen in einer sehr schwierigen finanziellen Situation befinden? Was unternehmen Sie in Anbetracht der Tatsache, dass die Kommunen ihre Aufgabe ernst nehmen, und zwar nicht erst im Jahre 2013, sondern schon heute? Nichts. In Ihren Antworten heißt es nur: Dieses Problem kennen wir nicht. - Das ist beschämend. ({5}) Um die Kinderarmut zu bekämpfen, brauchen wir eine Existenzsicherung für Kinder. Außerdem benötigen wir die erforderliche Infrastruktur. Das muss Hand in Hand gehen. ({6}) Wir brauchen nicht leere Versprechen, nicht schöne Worte und Wunschträume; das können wir uns nicht leisten; das ist zu wenig. Wir müssen handeln. Frau Fischbach, als Sie sagten, die Große Koalition habe sehr viel für Familien getan, habe ich mich gefragt: Was haben Sie denn für Familien getan? Mehrwertsteuererhöhung und Abwrackprämie, ist das Ihre Familienpolitik? ({7}) Das kann es doch wohl nicht sein. Wir brauchen Politiker, die Mut zum Handeln haben und nicht immer das, was da ist, schönreden. Denn Schönreden heißt: weggucken und ignorieren. Genau das können wir uns nicht leisten. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Golze, ich wende mich zunächst einmal Ihnen zu, weil Sie die erste Rednerin zu diesem Thema waren. Wenn Sie eben Frau Fischbach und Herrn Spanier aufmerksam zugehört haben und nicht, wie jetzt gerade, geschrieben haben, ({0}) dann müssen Sie zugeben, dass die Bilanz, die die Bundesregierung vorgelegt hat, eine wirklich gute ist. Ich werde gleich noch zu den einzelnen Punkten kommen. Was ich ein bisschen schade finde, weil ich Kollegin Deligöz aus der Arbeit in der Kinderkommission auch sehr schätze, ist Folgendes: Einig sind wir darin, dass Kinderarmut viele Gesichter hat und dass die materielle Armut die ist, die letztlich für uns alle am sichtbarsten ist. Aber ich habe immer dann ein Problem, wenn wir Kinderarmut allein auf finanzielle Armut reduzieren. Das reicht meiner Meinung nach nicht aus. ({1}) - Moment! Die ganze Diskussion lief im Moment in die Richtung. Das finde ich sehr schade. Frau Fischbach und Herr Spanier haben genau dargelegt, was wir erreicht haben: Wir haben eine Kindergelderhöhung durchgesetzt, wir haben die Regelung zum Kinderzuschlag erweitert, ich nenne weiter das Wohngeld und das Elterngeld. Wir haben also wirklich Leistungen für Familien auf den Weg gebracht und damit die Einkommensarmut von Eltern reduziert. Denn wir haben festgestellt: Kinderarmut ist Elternarmut. Wenn wir uns die Fakten ansehen - das ist ja auch in der Antwort deutlich geworden - und den Vergleich zu anderen europäischen Ländern ziehen, dann erkennen wir: Wir stehen nicht schlecht da. Wir haben in Deutschland mit das niedrigste Armutsrisiko von Kindern, und wir liegen weit unter dem EU-Durchschnitt. Das sind Fakten. ({2}) Trotzdem möchte ich über Kinderarmut sprechen. Denn Kinderarmut ist für mich nicht nur eine reine Geldfrage. Es geht um Chancen. Deswegen definiere ich Armut von Kindern etwas anders. Wann ist ein Kind arm? Für mich ist ein Kind dann arm, wenn es einsam aufwächst - wir sprechen von sozialer Armut -, für mich ist ein Kind arm, wenn es vernachlässigt und überfordert wird - davon hatten wir im letzten Jahr viele traurige Fälle -, und es ist arm, wenn es zu Hause keine Anregung bekommt. Da müssen wir dringend handeln. Ich möchte auch mit einem Vorurteil aufräumen: Es gibt wirklich viele Familien, die ein begrenztes Budget haben, aber sie geben ihr Bestes und ihren Kindern die beste Förderung, die möglich ist. Die Kinder kommen gut klar und werden entsprechend großgezogen. Die Kinder fühlen sich wohl, weil sich die Eltern kümmern. Wir sollten über soziale Armut sprechen. Es gibt viel zu viele Kinder, die darunter leiden. Sie leiden nicht unter Geldmangel, sie leiden unter zu wenig Zuwendung und Aufmerksamkeit, und das ist nicht unbedingt eine Frage des Geldes. ({3}) Wie können wir diesen Mangel tatsächlich beheben? Wie können wir es schaffen, dass sich diese Eltern wieder mehr kümmern? Wie können wir es schaffen, dass bei ihnen die Gleichgültigkeit gegenüber ihren eigenen Kindern abgebaut wird? Es wird immer wieder gesagt - das haben wir uns bei der Arche in Berlin selber angeschaut -: ({4}) Die Eltern haben oftmals die Fähigkeit verloren, ihren Alltag zu bewältigen. Viele Kinder gehen morgens ohne Frühstück los; viele Kinder werden nicht betreut. Aber sie müssen einmal sehen, welche Ausstattung die Kinder haben: ein Handy haben sie. Einen Fernseher haben sie; stundenlang werden sie davor „geparkt“, und wenig Wissenssendungen werden eingeschaltet. Wir müssen also mehr zum Abbau von Erziehungsarmut tun. ({5}) - Nein, das ist nicht das Billigste. - Ich möchte einfach wieder, dass wir dazu übergehen, dass Eltern ihre Vorbildfunktion tatsächlich wahrnehmen. Denn wenn ihnen der Antrieb fehlt, wenn sie nicht zu motivieren sind, ist die Gefahr groß, dass die emotionale Armut und die mangelnde Bildung weitervererbt werden. Unsere Aufgabe ist es, sie mit frühen Hilfen zu unterstützen. Mit dem KiföG haben wir die richtigen Weichen gestellt, um Kindern zu helfen. Ich wäre gern noch auf einzelne Gruppen, wie Kinder von Alleinerziehenden, Kinder von Kinderreichen, eingegangen. Ich kann aber nur noch einen Appell starten. Hier sitzen auch viele Mitglieder der Kinderkommission. Wir hatten „MoKi“ zu einer Anhörung dort. Ihr könnt euch daran erinnern: „MoKi“ ist ein Präventionsprojekt bei mir im Wahlkreis, das den Deutschen Präventionspreis bekommen hat. Das hat gezeigt, was möglich ist, wie man mit wirklich wenig finanziellen Mitteln Kindern Chancen geben kann. Wir alle waren davon angetan - überparteilich, kann ich sagen -, und ich fände es schön, wenn man diese Form der Vernetzung, diese institutionenübergreifende Zusammenarbeit ausbaute. So bekäme jedes Kind eine Chance. Es ist nicht nur eine Frage des Geldbeutels. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13001. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ab- gelehnt. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/12201. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9433 mit dem Titel „Existenz von Kindern sichern - Familien stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion Die Linke, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/ CSU bei Gegenstimmen der FDP angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9028 mit dem Titel „Kein Kind zurück- lassen - Programm gegen Kinderarmut auf den Weg bringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge- genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- tung der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10257 mit dem Titel „Bessere Unterstützung für Alleinerziehende“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- tung der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b so- wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf: 24 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksachen 16/12255, 16/12599 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksachen 16/13024, 16/13038 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach Frank Schäffler b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler, Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Reform der Anlegerentschädigung in Deutschland - Drucksachen 16/11458, 16/13024, 16/13038 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach Frank Schäffler ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Sozialisierung der Verluste verhindern - Sicherungsfonds für privaten Finanzsektor schaffen - Drucksachen 16/8888, 16/10610 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Axel Troost ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbesserung des Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen - Drucksachen 16/11185, 16/12354 Berichterstattung: Abgeordnete Ortwin Runde Dr. Barbara Höll Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller, dem ich an dieser Stelle sehr herzlich zu seinem heutigen Geburtstag gratuliere. ({4})

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An den Finanzmärkten kehrt allmählich wieder mehr Ruhe ein. Die Nervosität lässt ein Stück weit nach, allerdings weniger bei den Profis als beim breiten Publikum. Dass die Bevölkerung in Deutschland beim Umgang mit dieser Finanzkrise so viel Besonnenheit zeigt - eigentlich sogar von Anfang an gezeigt hat -, liegt zu einem guten Teil daran, dass wir in Deutschland seit langem ein sehr gutes System der Einlagensicherung bei Banken und Sparkassen haben. Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden wollen, wird in diesem Bereich noch einige Verbesserungen bringen. Aber wir haben schon heute - das will ich kurz darlegen - ein richtig gutes System der Einlagensicherung. Die Kunden von Sparkassen, aber auch die Kunden von Genossenschaftsbanken, also von Volks- und Raiffeisenbanken, sind ohne Einschränkung dadurch geschützt, dass es innerhalb dieser Institutsgruppen einen Haftungsverbund gibt. Jede Sparkasse kann sich darauf verlassen, dass im Notfall, falls sie in Schwierigkeiten sein sollte, die übrigen Sparkassen zu ihr stehen. Das ist eine sehr solide Grundlage. Bei den Genossenschaftsbanken funktioniert der Haftungsverbund ganz ähnlich. ({0}) Die Banken, die dem privaten Sektor zuzurechnen sind, gehören ganz überwiegend dem Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken an. Dort sind alle Einlagen von Nichtbanken, also nicht nur von Privatpersonen, sondern auch von Unternehmen und Gebietskörperschaften, im Individualfall bis zur Höhe von 30 Prozent des haftenden Eigenkapitals der Bank abgesichert. Das ist eine starke Absicherung. In dem extremen Fall, dass mehrere große Banken in Schwierigkeiten geraten, wäre natürlich - das ist immer so bei Sicherungseinrichtungen - die Frage zu stellen: Reichen die Mittel aus? Deswegen war es, denke ich, eine kluge Entscheidung, dass die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister im Herbst vorigen Jahres gesagt haben: Es gibt eine Patronatserklärung. Für den Fall, dass eine Einlagensicherung überfordert sein sollte, steht der Staat den Einlegern schützend bei. Das bisherige System von Anlegerschutz und Einlagensicherung - das muss man freimütig anerkennen hatte an einer Stelle Lücken. Das betrifft die Entschädigungseinrichtung für den Bereich von Wertpapierhandelsunternehmen. Es hat einen spektakulären Fall gegeben, der sehr deutlich gemacht hat, wie viele Unzulänglichkeiten in dem bisherigen System der Absicherung bestehen. Das Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetz wurde Anfang 1998 verabschiedet. Damals war nicht erkennbar, dass es eine Reihe von Schwierigkeiten geben könnte. Zum Glück muss man sagen: Es ist erst durch diesen einen spektakulären Fall - Stichwort „Phoenix“ - virulent geworden. Was wir jetzt in dem Gesetzentwurf vorsehen, ist die Umsetzung einer EU-Richtlinie im Bereich der Einlagensicherung; das betrifft Einlagen bei Banken und Sparkassen. Wir gehen über das, was bisher schon gesetzlich vorgeschrieben ist, ein Stück hinaus. Für die meisten Kunden von Banken in Deutschland wird sich dadurch faktisch nichts ändern, weil das System bisher schon voll ausreichend war. Der Fortschritt beim Lückenschluss im Bereich der Entschädigungseinrichtung für Wertpapierhandelsunternehmen besteht meiner Ansicht nach nicht in erster Linie darin - obwohl das auch wichtig ist -, dass die Regelung von Beiträgen aus diesem Geschäftsbereich sehr viel deutlicher und klarer wird als zuvor. Der eigentliche Knackpunkt scheint mir zu sein, dass eindeutig vorgeschrieben wird, dass sich auch solche Unternehmen, die dem Wertpapierhandelssektor zuzurechnen sind und dieser Entschädigungseinrichtung angehören, Prüfungen gefallen lassen müssen, nicht nur durch die BaFin, sondern auch im Auftrage der Entschädigungseinrichtung. Dort muss rechtzeitig der Finger in die Wunde gelegt werden, wenn es zu Mängeln kommt. Dort wird intensiver, als es bisher geschehen ist, geprüft. Ich bin sehr zuversichtlich, dass diese Regelung, die wir jetzt verabschieden wollen, großen Anklang finden wird. Wie gesagt: Die Anhebung der Garantiesumme auf 50 000 Euro pro Kunde bedeutet für die meisten Kunden einer Sparkasse, einer Genossenschaftsbank oder einer privaten Bank, die dem Einlagensicherungssystem des Bundesverbandes deutscher Banken angehört, faktisch keine Änderung. Das war schon vorher so. Das Ganze macht jedoch noch einmal deutlich, dass sich der eine oder andere hat verlocken lassen, wenn er nächtens vor seinem PC gesessen und geschaut hat, ob es für Tagesgeld vielleicht irgendwo anders auf der Welt ein bisschen mehr Zinsen gibt. Es gibt da eine schöne Insel im Nordatlantik, bekannt durch heißes Wasser. Wenn für Tagesgeld Zinssätze angeboten werden, wie sie eigentlich nur für eine zehnjährige Anlage zu erzielen sind, sollte man auch die Unterzeile zur Kenntnis nehmen: Zuständig ist der Einlagensicherungsfonds in Reykjavik. Das haben manche offenbar nicht so ernst genommen. Ich glaube, es wäre ein gutes Ergebnis dieser Debatte, wenn sich das Bewusstsein ausbreitete, dass es sich lohnt, seine Ersparnisse dort anzulegen, wo es ein gutes System der Einlagensicherung gibt, beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Spiller, ich finde, Sie haben am eigentlichen Thema vorbeigeredet. ({0}) Bei diesem Gesetz liegen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Es ist unbestritten, dass die Einlagensicherung im Bankenbereich in Deutschland weit über das hinausgeht, was Sie hier aufgrund europäischer Vorgaben ins Gesetz schreiben. In einem anderen Bereich, bei der Anlegerentschädigung - ich erinnere an das, was im Fall Phoenix geschehen ist -, werden Sie die Probleme mit diesem Gesetz sogar noch verschärfen. Das ist das eigentlich Erschreckende: Im Kern haben Sie aus dem Fall Phoenix nichts gelernt. Sie müssen sich grundsätzlich mit der Frage auseinandersetzen: Was machen wir im Falle Phoenix? Sie haben seit der Insolvenz im Jahre 2005 vier Jahre Zeit gehabt, den Fall Phoenix zu lösen und rechtliche Änderungen vorzunehmen. Sie haben aber seitdem nichts gemacht. Was Sie jetzt ins Gesetz schreiben, hat überhaupt nichts mit einer Problemlösung zu tun. Sie müssen sich darüber klar werden, dass der Staat an dieser Stelle unendlich versagt hat. Die 30 000 geschädigten Anleger warten mindestens seit 2005 auf eine Entschädigung. Es ist so klar wie Kloßbrühe, dass der Staat hier mithaften muss. Im Jahr 2002 hat das Bundesverwaltungsgericht Phoenix höchstrichterlich gezwungen, seine Konten zu trennen. Phoenix hatte das gesamte Geld der Anleger auf ein Konto gepackt. Dadurch wurde ein Schneeballsystem in Gang gesetzt. Die BaFin hat bis zum Insolvenzfall 2005 dieses höchstrichterliche Urteil nicht umgesetzt. Am Ende sollen jetzt rund 600 Kapitalanlagegesellschaften und Vermögensverwalter für dieses Missmanagement der Bankenaufsicht aufkommen. Ich halte es für recht und billig, dass die Vertreter dieser Gesellschaften auf die Straße gehen und sagen: Das kann doch wohl so nicht sein; hier muss auch der Staat seiner Verantwortung gerecht werden. ({1}) Ich will mit einem Zitat aus dem Jahre 2007 belegen, dass die Bundesregierung in diesem Bereich bisher nur auf Zeit gespielt hat. Frau Hendricks, die damalige Staatssekretärin, hatte gegenüber dem Finanzausschuss erklärt: Die Bundesregierung unterstützt die EdW - die Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen bei ihren Bemühungen um eine rechtzeitige und umfassende Entschädigung der Anleger im Fall Phoenix. Diese Aussage stammt vom April 2007. Nach zwei Jahren ist man gerade einmal so weit, dass von 30 000 geschädigten Anlegern 312 entschädigt werden sollen. Ausgezahlt worden ist die Entschädigung übrigens noch nicht. Da muss man schon fragen, ob Sie Ihrer Verantwortung für den Finanzplatz Deutschland gerecht werden. Es treibt das Ganze auf die Spitze, wenn die Finanzbehörden der Länder die Anleger jetzt auch noch auffordern, die Scheingewinne, die sie in der betreffenden Zeit erwirtschaftet haben - erwirtschaftet haben sollen, muss man sagen; faktisch sind die Gewinne ja nicht realisiert worden -, zu versteuern. Es ist notwendig, dass der Bundesfinanzminister hier endlich seiner Verantwortung gerecht wird. ({2}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben Sie die Anlegerentschädigungsrichtlinie in Deutschland nicht umgesetzt und keine Anlegerentschädigungseinrichtung geschaffen, die nachhaltig ist. Das will ich Ihnen mit Zahlen belegen: Die EdW - Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen - hat laufende Einnahmen von 3 Millionen Euro, bei Verwaltungskosten von 2,4 Millionen Euro. Nun soll die EdW einen Entschädigungsfall in der Größenordnung von 200 Millionen Euro bewältigen. Wie viele Jahrhunderte soll die Entschädigung der 30 000 Anleger dauern? Sie reden immer von Anlegerschutz. Sie sollten endlich handeln und vor allem dieses konkrete Problem lösen. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wort „Vertrauen“ ist wohl der Begriff, der in den letzten beiden Jahren am häufigsten gebraucht wurde. Vor allen Dingen ging es um fehlendes Vertrauen der Banken untereinander und fehlendes Vertrauen zwischen Bürger und Bank. Im Herbst letzten Jahres konnten wir auf Bildern aus England sehen, wie die Leute in Schlangen vor den Banken standen und ihr Geld abheben wollten. Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister haben damals eine Erklärung abgegeben, dass die deutschen Einlagen sicher sind. Wir haben über die Einlagensicherung, die ja ein aktuelles Thema ist, mehrere Debatten geführt. Der Finanzwissenschaftler Professor Gerke hat bei diesen Gesprächen deutlich gemacht, dass das Krisenmanagement der Bundesregierung gerade in diesem Fall besonders hohe Anerkennung verdient. Dem möchte ich mich gerne anschließen. ({0}) Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Neuordnung der Einlagensicherung in Deutschland. Was sind Einlagen? Einlagen sind Guthaben, Festgelder, Spareinlagen bei Banken. Diese sind bisher bis zu einer Summe von 20 000 Euro gesichert. Diese Summe werden wir jetzt mit der Umsetzung einer europäischen Richtlinie auf 50 000 Euro für jeden Kunden anpassen. Wir haben darüber hinaus die Absicht, diesen Betrag bis Ende nächsten Jahres auf 100 000 Euro zu erhöhen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist die Aufgabe des Deutschen Bundestages, denjenigen, die ihr Geld sicher anlegen wollen, deutlich zu machen, dass es auch gesichert ist. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass nicht nur Privateinlagen gesichert sind, sondern auch die Einlagen kleiner und mittlerer Unternehmen. Mit dieser Position hat sich Deutschland auch in Europa durchsetzen können. Ich denke, damit haben wir für unseren Mittelstand, für die kleinen und mittleren Betriebe in unserem Lande etwas Gutes getan. ({1}) Das zweite große Thema, um das es in diesem Gesetzentwurf geht, ist die Entschädigung von Anlegern. Wir haben in Deutschland, wie Herr Kollege Spiller gesagt hat, ein hervorragendes Sicherungssystem. Sie kennen die drei Säulen: Raiffeisenbanken, Sparkassen und andere öffentlich-rechtliche Banken, private Banken. Bei den Raiffeisen- und Volksbanken und bei den Sparkassen gibt es eine eigene Institutssicherung. Bei den anderen Banken gibt es einen Einlagensicherungsfonds, durch den mit bis zu 30 Prozent des Eigenkapitals der betroffenen Bank für jeden einzelnen Kunden gehaftet wird. Im Zusammenhang mit der Einlagensicherung von Wertpapierhandelsunternehmen begleitet uns aber natürlich auch der Fall Phoenix. Hier sind 30 000 Anleger, die jeweils im Durchschnitt 20 000 Euro angelegt haben, be24392 troffen. Insgesamt wird ein Schaden von voraussichtlich 200 Millionen Euro entstehen. Herr Schäffler, ich stimme Ihnen zu: Hier haben die Wirtschaftsprüfer, die Banken, die Aufsichtsräte und die Aufsichtsbehörde in der Tat versagt. Es hat genügend Vorschläge dafür gegeben, die Neuordnung der Anlegerentschädigung in Deutschland in dieser Phase von der Neuordnung der Einlagensicherung zu trennen. In den Fachgesprächen und Anhörungen hat sich aber ergeben, dass wir das nicht voneinander trennen dürfen, sondern jetzt Regelungen dafür finden müssen, die Einlagensicherung und die Anlegerentschädigung in Deutschland deutlich zu verbessern. ({2}) Die Frage war, ob wir auf Regelungen seitens der Europäischen Union warten sollen. Dort wird dieses Thema natürlich nach wie vor diskutiert. Es gibt Konsultationsprozesse, und es wird bald auch wieder eine neue Vorlage geben. Seit 1998 sind neben dem Phoenix-Fall - Phoenix war das größte Unternehmen in der Einlagensicherung - etwa 19 weitere Schäden aufgetreten. Das Wichtigste bei diesem Gesetzentwurf ist meines Erachtens, dass wir jetzt Vorgaben für die Prüfung eines jeden einzelnen Unternehmens machen und dass wir auf die Erfahrung und die Kenntnis der Bundesbank zurückgreifen können. Die Bundesbank wird in Zukunft jedes einzelne Unternehmen prüfen. Meines Erachtens ist der Hinweis der Bundesbank, dass sie die großen und systemrelevanten Unternehmen mit hohen Erträge, aber möglicherweise auch großen Schadenspotenzialen prüfen will, besonders wichtig. Sie will die kleinen Unternehmen nicht mit Bürokratie und Kosten, die höher sind als deren Erträgen, überziehen. Ich denke, das ist sehr wichtig. Ein weiterer Punkt, der in diesem Gesetzentwurf einen großen Raum einnimmt, ist, dass in Zukunft risikoorientierte Beiträge gezahlt werden und dass auch eine Regelung für Sonderbeiträge gefunden worden ist. Wir müssen daran denken: Jedes einzelne Mitgliedsunternehmen bei der EdW, der Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunternehmen, muss wissen, was auf das einzelne Unternehmen zukommt. Von den 790 Mitgliedsunternehmen sind 600 Kleinstbetriebe. Dies sind zum Beispiel Vermögensverwalter und Portfolioverwalter und keine großen KAGs, also Kapitalanlagegesellschaften. Gerade für die Kleinen ist es wichtig, zu wissen, was auf sie zukommt. ({3}) Ein wichtiges Thema in diesem Gesetzentwurf - das hat uns alle bewegt - ist die Struktur der Mitgliedsunternehmen; Herr Schäffler, Sie haben auf das Thema hingewiesen. Wenn von 790 Unternehmen 600 kleine Unternehmen sind, dann stellt sich die Frage, ob es richtig sein kann, dass diese 600 kleinen Unternehmen für die großen Schäden der wenigen großen Unternehmen haften müssen. Es ist insbesondere wichtig, zu wissen, dass diese kleinen Unternehmen normalerweise im Rahmen einer Vermögensschadenhaftpflicht- oder einer Vertrauensschadenhaftpflichtversicherung haften können; denn diese würde genügen, um mögliche Schäden abzudecken. Ich glaube, dieses Thema wird uns auch in Zukunft bewegen. Wir müssen aber natürlich auch die europäische Ebene betrachten. Die Struktur der Entschädigungseinrichtungen ist auch in den anderen Ländern nicht anders als in Deutschland. Ich glaube, wir gehen einen Schritt nach vorne, wenn für die kleinen Unternehmen eine Versicherungslösung angeboten wird, sodass sie nur geringe Beiträge in diese Entschädigungseinrichtung einzahlen müssen. Die Frage ist natürlich, ob die Diskussion über die Einlagensicherung und die Entschädigung in Deutschland mit diesem Gesetzentwurf zu Ende ist. Ich sage deutlich, nein. Das Thema Phoenix wird uns selbstverständlich weiterhin begleiten. Dabei geht es aber natürlich auch um die Belastbarkeit einer Entschädigungseinrichtung: Wenn pro Jahr Beiträge in Höhe von 3 Millionen Euro gezahlt werden, mit denen ein Schaden von 200 Millionen Euro gedeckt werden soll, dann ist das ein krasses Missverhältnis. Ich denke, auch in den Fachgesprächen hat sich gezeigt, dass die Entschädigungseinrichtung nicht jederzeit für solche Großereignisse haften kann - das gilt auch für andere Risiken, die wir derzeit erleben -, sondern dass dieser Fall getrennt betrachtet werden muss und dass eine Entschädigungseinrichtung in erster Linie für kleine und mittlere Unternehmen vorgesehen ist, dass also Kapital zur Verfügung gestellt wird, wenn kleine und mittlere Unternehmen in die Insolvenz gehen. Ich möchte ein Fazit zu dem Gesetzentwurf ziehen. Ich denke, dass ein solches Gesetz in der jetzigen Phase sehr wichtig ist; denn es geht um die Sicherheit von Anlagen in Deutschland. Die Bundesbürger wollen wissen, was mit ihrem Geld passiert, wenn sie es auf die Bank bringen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass als sicher geltende Einlagen wie Termineinlagen, Spareinlagen und Sparbriefe tatsächlich ausreichend gesichert sind. ({4}) Aber dort, wo es große Risiken gibt, müssen wir in Zukunft auch auf Prävention setzen. Es muss geprüft werden, wo mögliche Risiken liegen. Das ist im Gesetzentwurf vorgesehen. Darin liegt seine Stärke. ({5}) Letztendlich hängt der Finanzplatz Deutschland davon ab, dass die Anleger Vertrauen in ihn haben. Es kommt vor allem auf ein funktionierendes Finanz- und Bankensystem an. Ich glaube, mit dem Gesetzentwurf sind wir diesem Ziel ein Stück nähergekommen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Deswegen rufe ich den Kollegen Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen, auf.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Gesetzentwurf zu betrachten. Die eine ist, sich zu fragen, ob das, was darin formuliert ist, gut ist. Ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt, dass die Umsetzung einer EU-Richtlinie vorgesehen ist, wozu wir verpflichtet sind, und dass einige technische Fragen richtig gelöst werden. Es wird eine Kreditaufnahmeregelung geschaffen; die Überwachungspflichten werden verbessert. Insofern könnten wir meinen, es sei alles wunderbar. Es gibt aber noch eine andere Perspektive, die, glaube ich, wichtiger ist. Dabei geht es um die Frage, ob es mit dem Gesetzentwurf gelingt, auf Fehler, die in der Realität zu erkennen sind, richtig zu reagieren. ({0}) An dieser Stelle kommen wir leider zu einem ganz anderen Fazit. In dem Themenbereich der Anlegerentschädigung bzw. der Einlagensicherung, um den es heute geht, hatten wir es mit drei großen Problemfällen zu tun. Einer ist schon angesprochen worden: Das ist der Fall Phoenix, der ziemlich lamentabel ist. Vier Jahre danach ist zwar ein Gutachten in Auftrag gegeben und ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht worden, aber die zentralen Probleme, die im Zusammenhang mit dem Fall Phoenix offengelegt wurden, der Zehntausende betroffen hat, sind nicht gelöst worden. Denn nach wie vor ist eine Entschädigungseinrichtung für viel zu viele unterschiedliche Unternehmen zuständig, und die Überforderung der EdW, die bei Phoenix zutage kam, würde sich bei einem vergleichbaren Fall in der Zukunft erneut zeigen. ({1}) Wir müssen also konstatieren, dass es der Politik nicht gelungen ist, vier Jahre nach dem Entschädigungsfall Phoenix eine wirkliche Antwort auf diese Problematik zu geben. Das Gutachten hat einige sinnvolle Vorschläge enthalten. Wie aber einer der Gutachter in seiner Stellungnahme ganz nüchtern festgestellt hat, wurden zentrale Empfehlungen zur Strukturänderung nicht im Gesetzentwurf aufgenommen. Warum lassen wir denn ein Gutachten erstellen, wenn wir die zentralen Vorschläge nicht aufgreifen? ({2}) Der zweite Fall ist der Fall Lehman Brothers. Als die große amerikanische Bank Lehman Brothers pleiteging, mussten wir mit ansehen, dass auch ihre kleine deutsche 1) Anlage 3 Tochter pleiteging. Kaum war das der Fall, zeigte sich, dass die Einlagensicherungseinrichtung der deutschen Banken nicht in der Lage war, das zu stemmen. Die deutsche Tochter von Lehman Brothers war kein riesiges Institut. Aber bereits in dieser Situation war eine Sonderlösung über eine Anleihe im Rahmen des Finanzmarktstabilisierungsfonds nötig, um das aufzufangen. Das ist in Deutschland nicht groß diskutiert worden, aber es zeigt, dass das System auch in diesem Fall nicht das geleistet hat, was wir versprochen haben. Ich meine, darauf müsste man reagieren. Das ist aber bei diesem Gesetzentwurf nicht der Fall. ({3}) Das dritte Beispiel ist Kaupthing. Herr Spiller, Sie haben so schön gesagt, die Leute hätten das Kleingedruckte lesen müssen. Das ist richtig. Man muss schon wissen, dass man es mit Reykjavik zu tun hat. Es stellt sich aber die Frage, warum Betroffene in anderen Ländern nach 14 Tagen oder 3 Wochen eine Entschädigung aus der Einlagensicherung bekommen, während das in Deutschland nach Monaten noch nicht geschehen ist; es gibt ein ewiges Hin und Her zwischen den Behörden. Ich meine, die Bürger in einem modernen Europa mit einem Binnenmarkt, der für die Verbraucherinnen und Verbraucher geschaffen worden ist, sollten sich darauf verlassen können, dass die amtlichen Institutionen von verschiedenen befreundeten Ländern so zusammenarbeiten, dass der Bürger nicht nachher der Dumme ist. ({4}) Auch dieses Problem wird in dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht gelöst. Sie haben aus den drei großen Problemfällen der letzten vier Jahre nichts gelernt. Wenn ich einen Schlussstrich ziehe und mir vorstelle, dass das die Blaupause dafür ist, wie die Politik auf andere große Probleme, die in der letzten Zeit zutage getreten sind, reagieren wird, dann komme ich zu dem Ergebnis: Wir haben Besseres zu tun und dürfen uns nicht mit der Umsetzung einer EU-Richtlinie zufriedengeben. Wir sollten die aufgetretenen Probleme wirklich lösen, sodass die Systeme in Zukunft besser sind. Wir sind mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zufrieden und lehnen ihn daher ab. Danke. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksachen 16/13024 und 16/13038, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/12255 und 16/12599 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Reform der Anlegerentschädigung in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13024, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11458 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialisierung der Verluste verhindern - Sicherungsfonds für privaten Finanzsektor schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10610, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8888 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Verbesserung des Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12354, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11185 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Linken angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Priska Hinz ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Problem der ungenutzten Studienplätze in zulassungsbeschränkten Studiengängen umgehend lösen - Staatsvertrag jetzt vereinbaren - Drucksache 16/12476 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die Vorstellung, die völlige Deregulierung, das freie Spiel aller Kräfte, könne zum Erfolg führen, nicht nur im Hinblick auf die Finanzmärkte ein Irrglaube ist, sondern offensichtlich auch nicht die Zauberformel ist, um gesamtstaatliche Ziele im Hochschulbereich zu erreichen, wird offenkundig, wenn wir uns anschauen, wie Studienbewerberinnen und -bewerber unter dem Bewerbungs- und Zulassungschaos, das wir schon seit langem in Deutschland erleben, leiden. ({0}) Was ist denn der Ausgangspunkt bei den gesamtstaatlichen Zielen? Alle sind sich einig: Wir wollen und müssen die Studierendenquote in Deutschland dringend erhöhen. Alle wissen: Das Zeitfenster, bis der demografische Wandel die Hochschulen erreicht, ist denkbar klein. Alle sind sich einig: Angesichts der steigenden Zahl von Studierenden und Studienbewerbern und der doppelten Abiturientenjahrgänge wollen wir allen Studienplätze zur Verfügung stellen. Alle sagen: Dafür müssen Länder und Bund gemeinsam das nötige Geld in die Hand nehmen. Was passiert jetzt? Wie ist die Situation, vor der wir stehen? Studienwillige verzweifeln reihenweise angesichts des Bewerbungs- und Zulassungschaos, weil auf der einen Seite zulassungsbeschränkte Studienplätze frei bleiben und auf der anderen Seite junge Menschen schlichtweg nicht mit Studienplätzen versorgt werden. ({1}) Damit werden die gesamtstaatlichen Ziele, die wir uns gesetzt haben, unterminiert. Allein in Baden-Württemberg blieben im letzten Wintersemester 2 487 NC-Studienplätze unbesetzt. Das sind 12,4 Prozent. Das ist nicht nur ein hochschulpolitischer Skandal, sondern das ist auch Politikversagen und Verantwortungsverweigerung in der Politik. Diejenigen, die geglaubt haben, man müsse nur die ZVS abschaffen und dann werde alles gut, haben zwar auf der Zeitgeistwelle gesurft, stehen jetzt aber als naive, blauäugige Irrläufer da. Das hat offensichtlich nicht funktioniert. Ich bin absolut für die Hochschulautonomie. Ich habe die Hochschulautonomie immer befördert, wo ich es konnte. Aber die Hochschulautonomie reicht nur so weit wie die Handlungsspielräume und der Einfluss der Hochschule. Die einzelne Hochschule ist nicht dafür verantwortlich, dass wir bei der Studierendenquote in Deutschland gerade einmal dort stehen, wo wir 2003 schon angekommen waren. ({2}) Was muss also passieren? Es muss Schluss damit sein, dass die Politik die Hochschulautonomie benutzt, um sich in deren Windschatten aus der Verantwortung zu stehlen. Wird denn jetzt alles gut, nachdem es nach endlosen Diskussionen eine Verständigung über ein Eckpunktepapier zur Umsetzung eines dialogorientierten Serviceverfahrens gibt? Nein, es ist noch lange nicht alles gut. Warum? Bis dieses Verfahren möglicherweise überhaupt in Gang kommt, werden noch mindestens zwei Jahre vergehen. Bis dahin wird den Studierwilligen in Deutschland weiter weiße Salbe in Form einer freiwilligen Internetbörse verpasst. ({3}) Das ist keine Lösung. Es bleibt weiter unklar, ob sich die Länder und auch die Hochschulen tatsächlich an diesem Verfahren beteiligen werden. Was ist also nötig? Wir brauchen Verbindlichkeit, und wir brauchen Klarheit. Deswegen muss es eine verbindliche Verständigung über ein Verfahren geben, das gewährleistet, dass alle zulassungsbeschränkten Studienplätze transparent, gerecht und effizient vergeben werden. ({4}) Dazu sollte der Bund einen Vorschlag machen. Dann sollte es darüber einen Staatsvertrag geben, nicht weil wir Staatsverträge schön finden, sondern weil wir nicht wollen, dass einzelne Länder abweichende Regelungen treffen. Die Länder müssen in die Pflicht genommen werden und ihrerseits die Hochschulen im Rahmen ihrer Ziel- und Leistungsvereinbarungen zu der Teilnahme an diesem Verfahren verpflichten. ({5}) Es geht nicht, dass einzelne Hochschulen durch besonders hohe lokale Numeri clausi Plätze frei halten, obwohl Studierwillige unversorgt bleiben. Der Bund muss dafür sorgen, dass es dann, wenn auf diese Art und Weise Studienplätze in zulassungsbeschränkten Studiengängen frei gehalten werden, Studierende unversorgt bleiben und man sich die Studierenden vom Halse hält, zur Rückzahlung von Mitteln aus dem Hochschulpakt kommt und nicht noch Geld dafür kassiert wird. ({6}) In diesem Sinne: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Wir brauchen wirklich Klarheit und Verbindlichkeit. Hochschulautonomie ist zwar gut, aber politische Verantwortungslosigkeit ist schlecht. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Grütters, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Kollegin Sager, ich habe den Eindruck, Sie surfen hier ein wenig auf der Oppositionswelle. Was wir hier machen, ist bezeichnend. Wir haben dieses Thema ausführlich im Ausschuss besprochen. Danach haben Sie sich diesen Antrag - als hätten Sie nicht zugehört - ausgedacht, und jetzt zwingen Sie uns, im Plenum darüber zu reden. Das sind Oppositionsrituale - ja, geschenkt; aber bitte mit etwas mehr Substanz. ({0}) - Vielleicht wollen auch die Grünen hören, was andere ihnen zu ihrem Antrag zu sagen haben. Herr Gehring, der diesen Antrag verfasst hat, ist auf einer Podiumsdiskussion; deshalb sitzen Sie stellvertretend hier. Tut mir leid für Sie. Wir alle sind uns einig - wir können das gerne hier immer wieder mal sagen -: Die Situation der Studierenden mag in vielerlei Hinsicht unbefriedigend sein. Was mich stört, ist, dass Sie so tun, als wäre das der vorherrschende Eindruck, den deutsche Hochschulen machen. Das ist zumindest unzutreffend. ({1}) Wir reden also zum wiederholten Mal über das Detail Hochschulzulassung. Wir sind uns einig: Schöner wäre es, alle Studierenden bekämen genügend Studienplätze. Die dafür zuständigen Länder - ich betone: die Länder; wir sind Abgeordnete des Bundestages; man muss das immer wieder mal sagen - geben leider immer noch nicht genug Geld für Bildung und Wissenschaft aus. Es wäre auch schön, wenn alle Studierenden den Studienplatz, den sie haben wollen, an dem jeweiligen Ort bekämen. Das ist - auch das wissen wir; dafür bräuchten wir die heutige Debatte nicht - ein Problem in Deutschland. Man hat immer wieder versucht, es zu lösen. Ich verweise auf die Praxis der „Kinderlandverschickung“ der ZVS. Wir sind jetzt auf einem anderen Weg. Auf diesem Weg, der immer wieder mit Holprigkeiten verbunden ist, hat der Bund mehr als einmal und stets entgegen seiner eigentlichen Nichtzuständigkeit moderierend und übrigens auch finanzierend eingegriffen. Bei der Feinsteuerung der Hochschulzulassung soll der Bund nun nach Ihrer Meinung nicht nur - ähnlich wie beim Hochschulpakt - moderierend und mit Geld tätig werden, sondern er soll auch die Hochschulen zwingen, etwas zu machen, was sie bisher freiwillig getan haben. Diese absurde Logik müssen sie mir einmal erklären: Warum haben Sie so wenig Vertrauen in die Hochschulen, dass Ihnen deren freiwillige Bekundung, ein solches Verfahren durchzuführen, nicht ausreicht? Sie wollen vielmehr, dass wir, der Bund, die Hochschulen zwingen, dass wir also über die Länderzuständigkeit hinweggehen. Das machen wir nicht mit. ({2}) Es ist zwar schön, dass Sie, die Grünen, auf diese Weise indirekt das Instrument des Hochschulpaktes anerkennen - das hat sich in Ihren früheren Reden ganz anders angehört; ({3}) mittlerweile sehen Sie ein, dass eine bundesunmittelbare finanzielle und moderierende Mitwirkung, geregelt in einem Staatsvertrag, sinnvoll ist -; aber Ihr Vorschlag hat nicht den Charakter einer Notlösung, sondern bedeutet einen unmittelbaren Zugriff auf die Hochschulen. Was mich neben dem permanenten Ignorieren der Zuständigkeiten von Bund und Ländern ebenfalls irritiert, ist die Tatsache, dass die Grünen ihren Antrag erst nach dem Gespräch formuliert haben, das wir im Bildungsausschuss mit der Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz - Sie waren dabei, Frau Sager - geführt haben. Nach diesem Gespräch müssten auch Sie den Sachstand genau kennen. Es mag sein, dass Sie ihn immer noch nicht für befriedigend halten, vor allen Dingen für die Studierenden; aber mit dem in Ihrem Antrag geforderten Staatsvertrag ist diesem Sachverhalt nicht beizukommen. Sie wissen ganz genau: Das Hauptproblem ist die Softwareentwicklung. Sie wird weder durch eine solche Debatte noch durch einen Staatsvertrag beschleunigt. Das dürften Sie wissen. Angesichts des zwischenzeitlich erreichten Sachstandes bei der Etablierung eines - Frau Sager, ich zitiere nicht Sie, sondern Sie haben die Hochschulrektorenkonferenz zitiert - transparenten, unbürokratischen, nutzerfreundlichen und effizienten Hochschulzulassungsverfahrens besteht jedenfalls auf der rechtlichen Ebene kein Regulierungsbedarf, so wie Sie ihn beschreiben. Das Problem bei der Zulassung in örtlich zulassungsbeschränkten Studiengängen ist kein Problem des Zulassungsrechts, sondern der Anwendung des Zulassungsrechts, ganz konkret: der Gestaltung des Verfahrensablaufs. Änderungen im Zulassungsrecht können hier deshalb nichts bewirken. Erforderlich ist jetzt, dass das angestrebte dialogorientierte Verfahren sobald wie möglich technisch realisiert wird. Auch der von Ihnen, verehrte Kollegin, geforderten In-die-Pflicht-Nahme der Hochschulen bedarf es nicht, da die Unis und Fachhochschulen am 21. April - das war, kurz nachdem Sie Ihren Antrag formuliert hatten; aber man hätte ihn noch ändern können - im Rahmen der HRK-Mitgliederversammlung fast einstimmig erklärt haben, das dialogorientierte Verfahren nutzen zu wollen und sich in der Übergangszeit - das haben Sie in dieser Debatte unterschlagen - an den zur Verbesserung der Zulassungssituation verabredeten Maßnahmen zu beteiligen, nämlich einheitliche Fristen und eine Studienplatzbörse einzuführen. Sie wissen, dass das beschlossen wurde. Sie wissen, dass es ab diesem Wintersemester, also in wenigen Monaten - schneller geht es gar nicht -, eine einheitliche Bewerbungsfrist geben wird. Bewerbungsschluss ist der 15. Juli. Ende August werden die Zulassungsbescheide versendet. Danach wird es eine Börse geben, sodass sich Studierwillige, die noch keinen Studienplatz erhalten haben, unmittelbar an den jeweiligen Hochschulen auf freie Plätze bewerben können. Auch das ist eine einstimmige Erklärung aller Universitäten. ({4}) Sie haben den Antrag ein bisschen früher formuliert und dann keine Lust gehabt, ihn der tatsächlichen Regelung anzupassen. ({5}) Das KMK-Plenum hat außerdem beschlossen, dass auf die Länder eingewirkt werden soll, damit sie die Bundesanschubfinanzierung später fortführen. Das ist auch nötig, weil die Länder zuständig sind. Insgesamt sind damit Verfahren etabliert worden, bei denen Dezentralität und unterstützender Service der ZVS ineinandergreifen. Die Vergabe von Studienplätzen wird übersichtlich und zuverlässig koordiniert. Frau Sager, Sie haben eben gesagt, Sie seien eine Verfechterin der Hochschulautonomie. Auf diese Weise wird die Autonomie gewahrt. Anders ist es bei Ihrem Vorschlag eines Durchgriffszwangs. Zu Ihrer Forderung, die Fortschreibung des Hochschulpaktes entsprechend zu nutzen, darf ich Sie daran erinnern, dass wie in der laufenden Programmphase des Hochschulpakts 2020 und auch bei der Ausgestaltung der zweiten Programmphase durch den neuen Hochschulvertrag bereits sicherstellt ist, dass die Bundesmittel an die Zahl der tatsächlich zusätzlich aufgenommenen Studienanfänger gekoppelt sind und dass das - so sagen wir immer - spitz abgerechnet wird. Es gibt auch Sonderregelungen für die neuen Länder, die dazu dienen, die Studienanfängerkapazitäten tatsächlich aufrechtzuerhalten und nicht abzubauen. Den Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen wird demnach bereits im Vereinbarungsentwurf für die nächste Programmphase des Hochschulpakts 2020 Rechnung getragen. Da wir darüber im Ausschuss ausführlich gesprochen haben, müssten Sie es besser wissen, als es Ihr Antrag vermuten lässt. ({6}) Abschließend möchte ich sagen: Der Bund ist ganz sicher nicht für die Lösung von Zulassungsproblemen zuständig. Der Meinung der CDU/CSU nach sollten nicht die Länder, sondern die Universitäten zuständig sein, da wir Hochschulautonomie nicht nur behaupten, sondern auch praktizieren. ({7}) Das ist auch beim Thema Studienplatzvergabe der Fall. Tatsächlich gibt es einen Studierendenüberhang, und Studienplätze bleiben viel zu lange frei. Diese Plätze bleiben aber nicht dauerhaft frei, sondern werden erst sehr spät nachbesetzt; das erkennen wir an. Deshalb hat sich Ministerin Schavan mit der Hochschulrektorenkonferenz und der KMK zusammengesetzt. Genau deshalb hat sie, die nicht zuständig ist, die Moderation an diesem Punkt übernommen. Erfolgreich haben sie ein gemeinsames Vorgehen beschlossen, das ab Juli greift. Ich bin sicher, dass sich die Lage an den Universitäten sehr bald entspannen wird. Ich hoffe, dass Sie bei der nächsten Bildungsausschusssitzung ein bisschen besser zuhören. Dann könnten wir uns solche Anträge und die Debatte darüber beinahe sparen. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP spricht der Kollege Patrick Meinhardt. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem uns heute zur Beratung vorliegenden Antrag zeigen die Grünen einmal mehr, welch Geistes Kind sie sind. Sie glauben ganz offensichtlich, durch Regulierung und Staatsbürokratie zum besten Ergebnis zu kommen. ({0}) Frau Sager, es wird Sie nicht verwundern, dass wir Liberale dem ein anderes Modell entgegenhalten. Nicht mehr bundeseinheitliche Regelungen, die Universitäten und Studenten eigener Kompetenzen und eigener Wahlfreiheiten berauben, sind der Schlüssel zum Erfolg, sondern Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Wahlmöglichkeiten. ({1}) Worüber reden wir eigentlich konkret? Es ist erst wenige Wochen her - es war am 25. März -, dass den Mitgliedern aller Fraktionen, auch den Mitgliedern der Grünen, im Bildungsausschuss das neue Modell zur Regelung des Hochschulzugangs vorgestellt wurde. Alle anwesenden Sachverständigen von der Hochschulrektorenkonferenz bis hin zur KMK waren zuversichtlich, dass das neue Instrumentarium die derzeitigen Probleme löst. Das vorgestellte Verfahren scheint tatsächlich in der Lage zu sein, alle Interessen zu vereinen. Verantwortungsvoller Umgang mit Kapazitäten und finanziellen Mitteln wird mit freier Wahlmöglichkeit und mit Wettbewerb verbunden. Das ist ein sinnvoller Ansatz. Dieses innovative Konzept hat drei Komponenten: Erstens. In einem ersten Schritt bewerben sich Studenten um ein Studienfach ihrer Wahl an einer oder mehreren Hochschulen. Dies betont die Eigenverantwortlichkeit, und das ist auch gut so. In einem zweiten Schritt findet, sobald ein Platz gefunden ist und sich der Studierende immatrikuliert hat, ein Abgleich im System statt. In einer Nachrückphase werden für die unberücksichtigt gebliebenen Bewerberinnen und Bewerber die jeweils optimale Zulassungsmöglichkeit nach ihren eigenen Prioritäten ermittelt und wiederum freie Plätze unterbreitet. Im zweiten Schritt werden also alle Interessen berücksichtigt. Dritter Schritt. Für diejenigen, die dann noch immer nicht zum Zuge gekommen sind, bietet ein abschließendes Clearingverfahren die Chance, nicht besetzte Studienplätze zu besetzen. Dieser dritte Schritt gewährleistet eine optimale Auslastung. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich gefällt staatsgläubigen Fraktionen eine solche untergesetzliche, pragmatische Lösung nur wenig. ({2}) Deren Bauchgefühl verlangt nach zentral gesteuerten Strukturen und Planverfahren. Die im Jahre 1972 ins Leben gerufene ZVS war eine solche Planbehörde, ganz nach dem Geschmack der Grünen. Hier durften Beamte noch über das Studienschicksal von jungen Menschen entscheiden. Nicht umsonst hatte das ZVS-Verfahren auch den Namen „Studentenlandverschickung“. Von Bürokraten geliebt, von Studenten zutiefst gehasst - so stellen wir uns eine studentennahe Bildungspolitik nicht vor! ({3}) Nun wollen die Grünen Wahlmöglichkeiten zugunsten von Bequemlichkeit und Fremdbestimmung aufgeben. Wettbewerb und Hochschulautonomie sollen Staatsdirigismus und Planwirtschaft weichen - und dies ohne jedwede Notwendigkeit. ({4}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, stellen wir uns doch einmal wirklich die Frage, welches Menschenbild hinter solch einer Staatsgläubigkeit steht. ({5}) Trauen wir es jungen Menschen, angehenden Akademikern, nicht zu, eigenverantwortlich nach ihren eigenen Bedürfnissen, also selbstbestimmt, einen Studienplatz zu finden? Wir Liberale trauen das unseren Abiturientinnen und Abiturienten durchaus zu. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, die Kollegin Sager würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne, Frau Kollegin Sager.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Meinhardt, halten Sie es für einen Erfolg, dass im letzten Wintersemester allein in BadenWürttemberg 2 487 NC-Studienplätze, also zugangsbeschränkte Studienplätze - das entspricht 12,4 Prozent aller Studienplätze -, unbesetzt geblieben sind?

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Sager, Sie wissen ganz genau, dass bei einem Verfahren, das in Baden-Württemberg zu solchen Ergebnissen geführt hat, wie Sie sie beschrieben haben, eine Nachjustierung notwendig ist. ({0}) Deswegen führen wir ja diese Debatte, Frau Sager. Wir haben genau deswegen im Bildungsausschuss darüber beraten, damit wir eine bessere Variante hinbekommen. Es stimmt, dass in Baden-Württemberg Studienplätze freigeblieben sind. Ich stelle aber die von Ihnen genannte Zahl infrage. Mir ist diese Zahl nämlich nicht zugänglich. Ich gebe allerdings zu, dass es letztendlich unbesetzt gebliebene Studienplätze gegeben hat. Aber es ist doch logisch, dass so etwas passiert ist und passieren wird, wenn der Zugang zu den Universitäten von diesen geregelt wird. Ich möchte - es ist meine feste Überzeugung, dass das der richtige bildungspolitische Weg ist -, dass sich Studenten ihre Universitäten aussuchen können und Universitäten ihre Studenten. ({1}) Der vorliegende Antrag der Grünen lässt sich knapp zusammenfassen: Probleme werden dort erzeugt, wo vorher keine waren, und dafür Lösungen feilgeboten, welche das Potenzial besitzen, ernste Verwerfungen herbeizuführen. Sie werden sehen, dass sich das vermeintliche Problem ohne politischen Interventionismus, ohne Hyperaktivität und Firlefanz fast von alleine durch die betroffenen Akteure bewältigen lässt. ({2}) Es gibt Situationen, in denen die Politik gehalten ist, die Beine still und den Ball flach zu halten. Genau dies ist solch ein Fall. Deswegen können wir diesen Antrag nur ablehnen. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Swen Schulz spricht jetzt für die Fraktion der SPD. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Meinhardt, so kommen wir, glaube ich, nicht zusammen. ({0}) Bei der Vergabe von Studienplätzen herrscht leider - da haben die Grünen vollkommen recht - schon seit langem ein Durcheinander und ein ziemlich heftiges Hickhack darüber, wie dieses Problem gelöst werden kann. ({1}) Ich will jetzt darauf verzichten, die Schuldfrage zu erörtern. Das führt nicht weiter. Aber eines ist klar, und darüber sollten wir uns hier alle einig sein: So wie es ist, darf und kann es nicht bleiben. ({2}) Wie ist die Situation? Die Hochschulen haben die Freiheit, nach eigenen Kriterien Studierende zuzulassen. Der Abiturnotendurchschnitt ist nicht mehr das einzige Kriterium, wie es früher der Fall war, sondern es sind auch andere Kriterien anwendbar. So können gewichtete Schulnoten, Bewerbungsgespräche und Vorqualifikationen einbezogen werden. Das hat Vorteile. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass der simple Abiturnotendurchschnitt den Menschen, ihren Fähigkeiten und ihren Leistungen nicht gerecht wird und diese nicht vernünftig abbildet. ({3}) Doch das Fehlen jeder Steuerung bei der Studienplatzvergabe, Herr Meinhardt, resultiert in der Praxis im blanken Chaos. Die Bewerberinnen und Bewerber müssen sich mühsam Informationen darüber beschaffen, welche Unterlagen sie bei den einzelnen Hochschulen einzureichen haben und welche Kriterien diese überhaupt anwenden. Sie bewerben sich an mehreren Hochschulen, weil sie nicht sicher sein können, dass sie an der von ihnen bevorzugten Hochschule tatsächlich genommen werden. Da die Hochschulen unterschiedliche Zeitabläufe und Fristen haben - wie es jedenfalls bisher der Fall war -, wissen die Bewerberinnen und Bewerber nicht, ob sie die Zusage einer Hochschule annehmen sollen, wenn sie noch auf den Bescheid der von ihnen bevorzugen Hochschule warten. Die Hochschulen wiederum können sich nicht sicher sein, ob die Bewerberinnen und Bewerber, denen sie eine Zusage geben, tatsächlich das Studium bei ihnen aufnehmen; denn es gibt ja Leute, die durchaus mehr als eine Zusage erhalten. Im Resultat bleiben zwischen 10 und 20 Prozent der Studienplätze unbesetzt. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Während wir uns mit großem Aufwand, viel Engagement und einer Menge finanzieller Mittel im Rahmen des Hochschulpaktes daran beteiligen, das Angebot an Studienplätzen auszubauen, bleiben viele Studienplätze unbesetzt, obwohl Leute dringend auf eine Zusage warten. So können wir mit den Swen Schulz ({4}) Menschen nicht umgehen, und so können wir mit der Zukunft des Landes nicht umgehen. Das muss geändert werden. ({5}) Früher wurde auf die ZVS geschimpft. Es war die Rede von Bürokratie und Zentralismus. Heute sind es andere Begriffe, die im Zusammenhang mit der Studienplatzvergabe fallen: Pokerspiel, Lotterie, Basar. Diese Art der Studienplatzvergabe kann angesichts der Tatsache, dass wir einem Fachkräftemangel entgegensehen, nicht unsere Lösung sein. Bündnis 90/Die Grünen beantragen nun, dass ganz schnell etwas gemacht wird, dass ein Staatsvertrag von Bund und Ländern geschlossen wird und ein neues Verfahren schon zum Sommersemester 2010 in Kraft tritt. Das wäre natürlich toll; ({6}) aber es ist unrealistisch. Eine Oppositionsfraktion weist auf ein bestehendes Problem hin, will es sofort ändern und hofft auf den Beifall der Bürgerinnen und Bürger; doch ich fürchte, das ist Augenwischerei. Ich glaube, Sie wissen ganz genau, dass es so schnell leider nicht geht. Lassen Sie uns das lieber seriös betrachten. Nach dem ganzen Theater, das es bei der Suche nach der richtigen Lösung gegeben hat, ist nun endlich mit Ländern, Hochschulen und unter Einbeziehung einer umgestalteten ZVS der Weg gefunden worden, dass zum Wintersemester 2011/2012 ein sogenanntes dialogorientiertes Serviceverfahren eingeführt wird. ({7}) Dieses Verfahren soll dazu dienen, dass Bürokratie abgebaut wird; es soll transparent und übersichtlich sein, und alle Beteiligten sollen schnell Klarheit bekommen. ({8}) Leider geht es kaum schneller, weil allein für die Entwicklung der dafür nötigen Software vom FraunhoferInstitut schon anderthalb Jahre angesetzt werden. Schon damit wären wir über der von Ihnen gesetzten Zielmarke. Zeit brauchen auch die Entwicklungsphase, die Prüfung, der Probelauf. Eine vernünftige Einführung des Verfahrens ist wichtig; denn schließlich soll es gut funktionieren. Ich bin, ehrlich gesagt, froh, wenn es tatsächlich - wie geplant - zum Wintersemester 2011/2012 klappt. Dieser eingeschlagene Weg macht trotzdem Hoffnung, zumal in der Zeit, bis das neue Verfahren greift, eine Übergangsregelung existieren wird. Die Bewerberinnen und Bewerber werden nicht hängen gelassen. Für diese Übergangszeit wird eine Zwischenlösung realisiert mit einer bundeseinheitlichen Bewerbungsfrist und mit einer Studienplatzbörse im Internet für noch offene Angebote. Der Bund ist mit dabei und übernimmt Verantwortung. Das ist auch richtig so. Er trägt auch finanzielle Lasten: bis zu 15 Millionen Euro. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat erst in der letzten Woche die Mittel für die Entwicklung des Softwaresystems freigegeben. Wir von der SPD haben dabei - das war uns wichtig Bedingungen durchgesetzt. Erstens. Das Bewerbungsverfahren muss für diejenigen, die sich um Studienplätze bemühen, gebührenfrei sein. Wir wollen nicht, dass die Leute für ihre Bewerbung auch noch Geld zahlen müssen. ({9}) Zweitens. Das angesprochene Übergangsverfahren muss vernünftig laufen. Die Selbstverpflichtung der Hochschulrektorenkonferenz muss eingehalten werden. 92 Prozent der Hochschulleitungen haben erklärt, dass sie sich beteiligen werden. ({10}) Diese Quote muss mindestens gehalten werden. Wir werden nicht akzeptieren, dass wir mit großem Aufwand ein neues System etablieren, die Hochschulen sich aber hintenrum vom Acker machen. Ich sage dazu: 92 Prozent der Hochschulen - das ist gut. Aber es sind nicht 100 Prozent. 8 Prozent fehlen. Dem Vernehmen nach soll bei der Abstimmung auf der Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonferenz unter den 8 Prozent auch eine der großen Universitäten gewesen sein. ({11}) Wir werden das genau im Auge behalten. Aus unserer Sicht ist das ein Hinweis darauf, dass wir eigentlich eine bundeseinheitliche gesetzliche Regelung benötigen. ({12}) Die jetzige Vereinbarung ist ein guter Weg - zweifelsohne. Aber besser wäre ein Bundeszulassungsgesetz, auf das sich alle dauerhaft verlassen können und bei dem keiner mehr ausbüxen kann. ({13}) Letztlich muss es uns darum gehen, liebe Frau Grütters, die Hochschulen für alle zugänglich zu machen, die willens und in der Lage sind, zu studieren. Dazu müssen soziale Hindernisse wie etwa Studiengebühren aus dem Weg geräumt werden. Es ist völlig unerträglich, dass auf der einen Seite der Bund das BAföG verbessert, um den Studierenden über soziale Hürden hinwegzuhelfen, und auf der anderen Seite einige Bundesländer durch Studiengebühren neue soziale Hürden aufstellen. ({14}) Swen Schulz ({15}) Wir brauchen Studienplätze in ausreichender Zahl, damit die Zulassungsbeschränkungen einmal komplett wegfallen. Das muss unser Ziel sein. Dazu benötigen wir ein vernünftiges Verfahren für die Vergabe von Studienplätzen. Wir wollen nicht, dass der Geldbeutel, der bessere Anwalt oder vielleicht einfach nur das Glück darüber entscheiden, ob jemand studieren kann. Wir wollen, dass alle Menschen den gleichen Zugang zu Bildung haben. Herzlichen Dank. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Cornelia Hirsch spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Sager, in der Problembeschreibung besteht auch vonseiten der Linken durchaus Einigkeit. Das betrifft sowohl die aktuelle Situation an den Hochschulen mit dem Bewerbungschaos und mit den Tausenden unbesetzten Studienplätzen wie auch die bisherige Reaktion der Bundesregierung, die zum einen komplett unzureichend ist und zum anderen viel zu spät erfolgte. An dieser Stelle besteht kein Dissens. Es wird den Interessen der Studienbewerber bestimmt nicht gerecht, wenn man nach monatelangen Debatten, die einfach nichts bewirkt haben, eine Internettauschbörse auf freiwilliger Basis anbietet. Das kann nun wirklich nicht die Lösung für das Problem sein. ({0}) Was allerdings die Grünen in ihrem Antrag als Lösung vorschlagen, nämlich einen Staatsvertrag abzuschließen, halten wir vonseiten der Linken auch nicht für den praktikabelsten und erfolgversprechendsten Weg. Wenn wir uns anschauen, welche Lösungen sich aus einer Diskussion über einen Staatsvertrag ergeben haben, dann müssen wir sagen, dass es auf die Schnelle keine wirklich umfassenden und verbindlichen Regelungen geben wird, auf die man sich verlassen kann. Das ist aus unserer Sicht nicht der richtige Weg. Vor allen Dingen wird bei der Lösung des Staatsvertrages komplett übersehen, dass der Bund eigentlich viel mehr Möglichkeiten hätte, im Hinblick auf die Hochschulzulassung tätig zu werden. Erinnern wir uns: Im Rahmen der Föderalismusreform I wurde in bildungspolitischer Hinsicht sehr großer Unfug betrieben. Zumindest wurde festgehalten, dass die Kompetenzen für die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse beim Bund verbleiben. Das wäre ein möglicher Ansatzpunkt. Traurig und zu kritisieren ist aber, dass seit dieser Entscheidung vonseiten der Bundesregierung auf diesem Gebiet überhaupt nichts getan wurde. An genau dieser Stelle müsste man aber ansetzen. Deshalb sagt die Linke - Kollege Schulz, hier sind wir uns einig -: Es wäre schön, wenn die SPD eine Initiative auf den Weg bringen würde. Dann wären wir gleich mit dabei. ({1}) Wir brauchen keinen Staatsvertrag, sondern ein Bundesgesetz für die Hochschulzulassung. Hier muss etwas getan werden. ({2}) Mit einem Bundesgesetz könnte man nicht nur das Zulassungschaos und die Situation, dass viele Studienplätze unbesetzt sind, beenden, sondern man könnte auch viel mehr festschreiben, als es im Rahmen eines Staatsvertrages jemals möglich wäre. In einem Bundesgesetz könnte man zum Beispiel - anders als nur unverbindlich an die Länder zu appellieren - die Öffnung der Hochschulen für Menschen aus dem Bereich der beruflichen Bildung regeln. Man könnte für Menschen aus dem Bereich der beruflichen Bildung den Rechtsanspruch auf Zugang zur Hochschule schaffen. Das gilt auch für das Problem der Gebühren. Man könnte dafür sorgen, dass der Zugang zur Hochschule bundesweit gebührenfrei ist, damit die Campusmaut Studieninteressierten ohne Geld nicht den Weg an die Hochschule versperrt. ({3}) Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung, wenn Sie es schaffen würden, die Mittel für den Hochschulpakt deutlich aufzustocken, anstatt sie, wie gerade geschehen, unter Haushaltsvorbehalt zu stellen und die Studierenden und Studieninteressierten im Unklaren zu lassen, dann hätten Sie große Schritte in die Richtung, in die wir eigentlich gehen müssen, gemacht. Es sollte unser gemeinsamer Anspruch sein, allen Studieninteressierten einen Studienplatz zu garantieren. Bisher ist vonseiten der Bundesregierung aber leider so gut wie gar nichts getan worden. Besten Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12476 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts - Drucksache 16/10798 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 16/13027 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Joachim Stünker Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Jerzy Montag Es ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Herren im Präsidium! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir beraten heute eine gute und zeitgemäße Änderung des Familienrechts. Der Gesetzentwurf lässt das Grundprinzip des Zugewinnausgleichs - darum geht es - unberührt. Die Einfachheit und Klarheit des Ausgleichsmodus, der für die Praxis elementar wichtig ist, bleibt erhalten. Der Gesetzentwurf sieht allerdings Neuerungen vor, die die Schwachstellen des geltenden Zugewinnausgleichs beseitigen. Dadurch sorgt der Gesetzentwurf für mehr Gerechtigkeit, vor allem nach einer Scheidung. Die meisten Ehepartner leben im gesetzlichen Güterstand. In diesem Güterstand wird der sogenannte Zugewinn bei Ende der Ehe ausgeglichen. Das bedeutet, bei einer Scheidung kann der Ehegatte, dessen Vermögen während der Ehe einen geringeren Zuwachs erfahren hat als das des anderen Ehegatten, von diesem einen Ausgleich in Geld verlangen. Ziel des Zugewinnausgleichs ist es, dass beide Eheleute an dem während der Ehe Erworbenen gerecht, also grundsätzlich zu gleichen Teilen, beteiligt werden. Diese gleichberechtigte Teilhabe der Ehegatten kann nach geltendem Recht dann nicht vollständig zum Tragen kommen, wenn ein Ehepartner bei der Eheschließung mehr Schulden als Vermögen hat. Hier schafft der Gesetzentwurf Abhilfe. Nach der Neuregelung wird auch das sogenannte negative Anfangsvermögen berücksichtigt und bei der Berechnung des späteren Ausgleichsanspruchs in die Bilanz der Ehe eingestellt. ({0}) Dadurch wird auch der zur Schuldentilgung verwandte Vermögenszuwachs ausgeglichen und der Grundgedanke des Zugewinnausgleichs konsequent zu Ende gedacht. Das gilt übrigens demnächst auch für die Ehen, bei denen ein Ehegatte oder beide Schulden in Form eines Darlehens für die Finanzierung der Studiengebühren mit in die Ehe bringen. Ich erinnere einmal daran. Für den ausgleichsberechtigten Ehegatten macht es keinen Unterschied, ob das während der Ehe erworbene Vermögen zur Schuldentilgung oder zum Erwerb von Aktien eingesetzt wird. Allerdings wird der Ausgleichsanspruch grundsätzlich auf das vorhandene Vermögen beschränkt. Das bedeutet, grundsätzlich muss sich kein Ehegatte zusätzlich verschulden, um die Ausgleichsforderungen des anderen zu bedienen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt allerdings für den Ehegatten, der sein Vermögen zur Schädigung des anderen Ehegatten verschwendet oder verschenkt hat. ({1}) - Das wollten wir ja auch so. - Er muss notfalls einen Kredit aufnehmen. Künftig werden auch Vermögensverschiebungen zulasten des ausgleichsberechtigten Ehegatten effektiv verhindert. ({2}) Der Gesetzentwurf sieht hierfür folgende Neuerungen vor: Für die Berechnung der konkreten Höhe der Ausgleichsforderung soll künftig bereits der Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags maßgeblich sein. Bisher war dafür erst der spätere Zeitpunkt der Rechtskraft der Scheidung maßgeblich. In der Zwischenzeit bestand in der Praxis die Gefahr, dass der ausgleichspflichtige Ehegatte Vermögen beiseiteschaffte. Darüber hinaus wird der ausgleichsberechtigte Ehegatte vor Vermögensverschiebungen mit Schädigungsabsicht in der Phase zwischen Trennung und Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags geschützt. Dies gelingt durch den zusätzlichen Auskunftsanspruch über das Vermögen zum Zeitpunkt der Trennung. Dadurch ist es dem ausgleichsberechtigten Ehegatten nunmehr möglich, Vermögensminderungen zwischen der Trennung und dem Stichtag für das Endvermögen aufzudecken. Die damit verknüpfte neue Beweislastregel führt dazu, dass sich der Ausgleichsschuldner dazu erklären muss, warum es zu einer Vermögensminderung zwischen Trennung und Stichtag gekommen ist. Das ist auch gerecht. Denn er, der Ausgleichsschuldner, hat den besseren Einblick in seine Vermögensbewegungen und kann einen unverschuldeten Vermögensverlust darlegen, während der andere Ehegatte diese Möglichkeiten eben nicht hat. ({3}) Schließlich wird es für beide Ehegatten einfacher, die Zugewinngemeinschaft ohne Auflösung der Ehe zu beenden. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte soll künftig seinen Anspruch auf vorzeitigen Zugewinnausgleich unmittelbar geltend machen und seinen Geldanspruch im vorläufigen Rechtsschutz durch Arrest auch direkt sichern können. Damit kann der Ehepartner, dem Schaden droht, mithilfe des Gerichts verhindern, dass der andere sein Vermögen ganz oder in Teilen beiseiteschafft. Der Entwurf führt ergänzend die Pflicht ein, bei einer Auskunft auch Belege über das Vermögen vorzulegen. Die Reform schafft also ausreichend Schutzvorschriften, damit der Ausgleichsanspruch eines Ehegatten nicht durch schädigendes Verhalten des anderen Ehegatten vereitelt oder geschmälert wird. ({4}) Ein weiteres wichtiges Anliegen betrifft die Rechtsbereinigung. Die aus dem Jahr 1944 - notabene! - stammende Hausratsverordnung wird der Vergangenheit angehören. ({5}) Die notwendigen materiell-rechtlichen Regelungen werden in das Bürgerliche Gesetzbuch integriert und zugleich modernisiert. Der Gesetzentwurf sieht eine weitere wichtige Neuerung vor, die allerdings nicht den Zugewinnausgleich betrifft, sondern die Verfügung eines Vormunds oder Betreuers über das Guthaben auf einem Giro- oder Kontokorrentkonto. Bisher musste der Betreuer, der am automatisierten Giroverkehr teilnahm, alles, was über 3 000 Euro ging, genehmigen lassen. Künftig kann er genehmigungsfrei darüber verfügen. Die Schutzvorschriften des Vormundschaftsrechts sind auch ohne die bisherige Genehmigungspflicht ausreichend, um das Vermögen von Mündeln und Betreuten vor ungerechtfertigten Abflüssen zu bewahren. Der Gesetzentwurf sorgt damit vor allem für einen gerechten und effektiven Zugewinnausgleich. Die Reform soll zum 1. September 2009 in Kraft treten und gleichzeitig mit der Reform des Familienverfahrensrechts und der Reform des Versorgungsausgleichs anwendbares Recht sein. Dies ist der vierte Gesetzentwurf zum Familienrecht, den wir hier behandeln. ({6}) - Ja, in dieser Legislaturperiode. - Ich möchte mich sehr herzlich bei Ihnen allen bedanken; denn wir haben fast immer in großer Einmütigkeit gearbeitet. Ich denke, das wird auch bei der heutigen Abstimmung zum Ausdruck kommen. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir in der Rechtspolitik wirklich etwas vorangebracht haben. ({7}) - Ich lobe euch gleich noch viel mehr. Passt mal auf. Hinzu kommt Folgendes: Heute Morgen hat sich ein junger Kollege etwas herablassend über Ministerialbeamte ausgelassen. Ich denke, diese vier Gesetzentwürfe zum Familienrecht haben zwei Dinge gezeigt: Erstens. Ministerialbeamte können sehr gut und vernünftig mitarbeiten. ({8}) - Mitarbeiten! Gut, mein lieber Uwe: Zuarbeiten. - Deswegen gilt mein Dank meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesjustizministerium. ({9}) Zweitens. Sie alle haben hervorragend mitgearbeitet. Ich möchte Sie ermuntern, vor allen Dingen Sie, meine Damen, die Sie einen zweiten Beruf neben dem des Bundestagsabgeordneten ausüben - Frau Präsidentin, das darf ich jetzt noch sagen, oder? -:

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vertreter der Bundesregierung dürfen so lange reden, wie sie wollen. Die Zeit wird später abgezogen.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Sie haben bewiesen, dass das Gerede, Abgeordnete sollen nur einen Beruf haben, nicht in Ordnung ist. Durch Ihre fachliche Qualifikation, die Sie, vor allen Dingen Sie, Frau Granold und Frau Lambrecht, in diese Debatten eingebracht haben, haben Sie bewiesen, dass es gut ist, wenn weiterhin eine Verzahnung zwischen Abgeordneten und Beruf besteht. ({0}) Kämpfen Sie auch in der nächsten Legislaturperiode dafür, dass das so bleibt. Ich werde Ihnen dabei freundlich zuschauen. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Weil die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ihre Rede zu Protokoll gibt,1) hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Parlamentarische Staatssekretär Hartenbach hat die wesentlichen neuen Bestandteile dieses Gesetzentwurfs zum Familienrecht zutreffend dargelegt. Er hat auch ge- sagt, dass dies inzwischen das vierte Gesetz in dieser Le- gislaturperiode ist, mit dem die zum Teil unangenehmen Nebenfolgen einer Scheidung neu geregelt werden und versucht wird, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu minimieren. Ich möchte hier nicht nach dem Motto agie- ren: Es ist schon alles gesagt worden, aber noch nicht von jedem. Ich könnte im Grunde nur Gesagtes wieder- holen. Ich freue mich über die erfolgreichen, sachlichen Be- richterstattergespräche, auch über das erweiterte Bericht- erstattergespräch, in dem letztlich die Anträge der Op- position, egal von welcher Fraktion sie kamen, in den Gesetzentwurf einflossen. Daher können wir diesem Gesetzentwurf mit gutem Gewissen zustimmen und fest- stellen, dass eine deutliche Verbesserung auf den Gebie- ten des Zugewinnausgleichs und des Vormundschafts- rechts erreicht worden ist. Hinsichtlich der Konten 1) Anlage 4 passen wir das Recht ja nur an die tatsächlichen Gegebenheiten an. Jetzt habe ich noch knapp vier Minuten Redezeit. Luftgitarre möchte ich nicht spielen. Ich schenke die restliche Zeit dem Parlament. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Ute Granold das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke schon, dass wir einige Punkte dieses wichtigen Gesetzentwurfs hier erwähnen sollten. Es geht um ein Thema, das viele Menschen berührt. Ich danke dem Herrn Staatssekretär ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit, für die Zuarbeit des Justizministeriums. Ich danke auch dafür, dass Sie erwähnt haben, dass hier Praktiker am Werk waren. Wenn ein Gesetz geändert wird, nachdem Praktiker ihren Sachverstand eingebracht haben, dann ist das eine gute Sache. Ich finde, das muss man nicht unbedingt schlechtreden. ({0}) Herr Staatssekretär - Sie haben es bereits gesagt -, wir haben in dieser Legislaturperiode vier große Baustellen im Familienrecht bearbeitet. Die ersten drei waren das Unterhaltsrecht, die Strukturreform des Versorgungsausgleichs und das Familienverfahrensgesetz. Das Unterhaltsrecht ist seit dem 1. Januar 2008 in Kraft. Die beiden anderen Gesetze werden ebenso wie das jetzt zu behandelnde eheliche Güterrecht, sofern das Haus das heute beschließt, zum 1. September 2009 in Kraft treten. Das eheliche Güterrecht ist eine Folgesache im Rahmen einer Scheidung, die nicht zu vernachlässigen ist, aber auch ein Rechtsgebiet, in dem sehr viel getrickst wird. Deshalb haben wir uns berufen gesehen, einige Korrekturen vorzunehmen, um Ungerechtigkeiten und Vermögensverschiebungen in Zukunft zu verhindern. Das ist nicht gänzlich möglich, aber zu einem großen Teil. Die Mehrzahl der Eheleute in Deutschland lebt im Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Bei der Scheidung wird der Zugewinn ausgeglichen. Das, was die Eheleute während der Ehezeit erwirtschaftet haben, wird hälftig geteilt. Hier gilt das sogenannte Stichtagsprinzip. Die Berechnung ist sehr stark schematisiert, weil der Güterstand klar und leicht handhabbar getrennt werden soll. Das hat sich in der Vergangenheit grundsätzlich bewährt. Wir wollen mit der jetzigen Reform wesentliche Fehlentwicklungen und Ungerechtigkeiten korrigieren. Es geht zum einen - das wurde schon angesprochen - um Schulden, die in die Ehe eingebracht werden. Diese werden in Zukunft berücksichtigt. Denn auch der Abbau von Schulden ist ein wirtschaftlicher Vorteil, ein Vermögenszuwachs, an dem der andere Ehepartner teilhaben sollte. Es geht auch um Vermögensverschiebungen, die in der Vergangenheit nur schwer von demjenigen, der Ansprüche geltend macht, bewiesen werden konnten. Wir versuchen mit diesem Gesetzentwurf, diese Beweisproblematik zu beseitigen. Der Entwurf wurde den Verbänden, den Bundesländern und den Fachkreisen im November 2008 vorgelegt. Diese Praxis der Einbindung des außerparlamentarischen Bereichs hat sich beim Unterhaltsrecht und beim Familienverfahrensrecht bewährt. Deshalb wurde auch hier darauf zurückgegriffen. Die erste Lesung des Gesetzentwurfes fand im November 2008 statt. Im Februar 2009 wurde ein sogenanntes erweitertes Berichterstattergespräch durchgeführt. Diese Gespräche haben sich in der Vergangenheit als sehr praxisorientiert und intensiv dargestellt. Es war auch hier sehr fruchtbar. Das Ergebnis des Berichterstattergesprächs hat die Koalition dazu veranlasst, einige wesentliche Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf vorzunehmen. Es freut uns insbesondere, dass die dann folgenden Berichterstattergespräche mit der Opposition dazu geführt haben, dass wir in diesem Haus heute - ebenso wie bei anderen Reformen im Familienrecht hoffentlich einen einstimmigen Beschluss herbeiführen können. An dieser Stelle herzlichen Dank dafür! Im Regierungsentwurf bereits festgelegt und auch in der Empfehlung des Rechtsausschusses vom Mittwoch bestätigt ist das sogenannte negative Anfangsvermögen. Das heißt, wenn ein Ehepartner heute mit Schulden in die Ehe geht und während der Ehe die Schulden abbaut und gar noch Vermögen dazu erwirtschaftet, muss das dem anderen Ehepartner zugute kommen. Das war bislang nicht der Fall. Bislang wurde der Ehepartner bei der Berechnung des Zugewinns auf null gestellt. Es gab bisher kein negatives Anfangsvermögen. Das ist, denke ich, gut; denn es schafft ein Stück weit Gerechtigkeit. Eine weitere Regelung ist der Schutz vor Vermögensmanipulationen. Zukünftig wird sowohl für die Berechnung des Zugewinns als auch für die Höhe der Ausgleichsforderung der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrages maßgeblich sein. Damit rentiert es sich nicht mehr, Vermögensverschiebungen zum Nachteil des Ausgleichsberechtigten in der Zeit zwischen der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags und der Fälligkeit der Forderung selbst, also mit Rechtskraft der Scheidung, vorzunehmen. Ich nenne ein Beispiel. Der Mann reicht die Scheidung ein - dieses Beispiel kann natürlich auch für eine Frau gelten - und hat nach der Berechnung einen Zugewinn in Höhe von 20 000 Euro. In dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Scheidungsschrift und der Rechtskraft der Scheidung vergehen in der Regel mehrere Monate. In dieser Zeit fährt er mit seiner Freundin in den Urlaub. Das kostet 8 000 Euro. Dann verliert er noch 12 000 Euro an der Börse. Er hat dann mit Beendigung der Ehe 0 Euro. Das heißt, der Ausgleichsanspruch der Ehefrau - die Hälfte von 20 000 Euro, sprich 10 000 Euro - steht auf dem Papier, kann aber nicht realisiert werden. Das kann nicht sein. Deshalb sagen wir: Für die Berechnung des Ausgleichsforderungsanspruches ist der Zeitpunkt des Scheidungsantrages maßgeblich. Das ist gut so. ({1}) Wir haben auch festgelegt, dass die Möglichkeit bestehen muss, drohenden Vermögensverschiebungen rechtzeitig Einhalt zu gebieten, indem ein vorzeitiger Anspruch auf Ausgleich in Form einer sogenannten Leistungsklage besteht. Bislang war das nur mit einer Gestaltungsklage möglich. Das war eine Klage auf Beendigung der Zugewinngemeinschaft. Heute kann man direkt auf Leistung klagen. Der Anspruch kann bei einer drohenden illoyalen Vermögensverschiebung bereits durch Arrest vorläufig gesichert werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich denke, das haben wir richtig auf den Weg gebracht. ({2}) Der Ehepartner hat - auch das ist neu - einen Auskunftsanspruch und einen Beleganspruch über die Höhe des Anfangsvermögens, also das Vermögen, das jeder Ehepartner hat, wenn er heiratet. Dies ist im Unterhaltsrecht ähnlich. Der Staatssekretär hat es erwähnt: Die Hausratsverordnung aus dem Jahre 1944 wird aufgehoben; die wesentlichen Vorschriften werden in das BGB übernommen. Hier haben wir auch die Stellungnahmen des Bundesrates - da gab es einige Korrekturen - berücksichtigt. Das Gleiche gilt für die Änderung des Vormundschaftsrechts. Hier geht es darum, dass bei der Verwaltung von Girokonten durch Betreuer Vereinfachungen im Rechtsverkehr durchgeführt werden. Wichtig ist auch das Vorsorgeregister, das wir in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben. In diesem Register sind die Vorsorgevollmachten registriert. Nun soll es auch möglich sein, dass Betreuungsverfügungen - hier gibt es eine Reihe von Verfügungen in das Register aufgenommen werden. Es ist gut, dass das nun festgelegt wird. Nach dem von mir schon eingangs erwähnten Berichterstattergespräch gab es Ergänzungen, die uns sehr wichtig sind. Zum einen soll an der bisherigen Kappungsgrenze festgehalten werden. Hier sah der Regierungsentwurf vor, die Ausgleichsforderung auf die Hälfte des Vermögens des Ehepartners zu begrenzen. Wir sagen nun, dass das ganze Vermögen für den Ausgleichsanspruch haftet. Allerdings muss der Ausgleichsverpflichtete nicht ein Darlehen aufnehmen, um die Ausgleichsforderung erfüllen zu können. Eine Ausnahme: Wenn der Pflichtige illoyale Vermögensverschiebungen vornimmt, dann muss er sich auch gefallen lassen, dass er die Ausgleichsforderung notfalls mit einem Darlehen finanzieren muss. Dies fördert den Schutz des Berechtigten. Das Wichtigste ist die Neuregelung - sie kommt aus der Praxis -, dass ein Anspruch auf Auskunft über den Bestand des Vermögens künftig bereits mit der Trennung der Ehegatten besteht. Das heißt also, dass zum Zeitpunkt der Trennung Auskunft über den Bestand des Vermögens zu erteilen ist. Dieser Auskunftsanspruch ist mit der Verpflichtung unterlegt, den Vermögensbestand zu belegen. Auch das ist eine Regelung, die dem Unterhaltsrecht entspricht. Damit kann Missbrauch weitestgehend verhindert werden. Natürlich gibt es auch den Fall, dass ein Ehepartner den Ausstieg aus der Ehe vorbereitet, während der andere Ehepartner noch denkt, alles sei okay. Wenn dann alles soweit organisiert ist - das Vermögen ist weggeschafft, die Konten sind geplündert -, dann sagt dieser Ehepartner: Jetzt gehe ich aus der Ehe heraus und gebe Auskunft. In solch einem Fall ist das, was wir jetzt auf den Weg bringen, nicht ausreichend. Der Gesetzgeber kann aber auch nicht alles regeln. Die lange Zeit zwischen Trennung und Scheidungsantrag von immerhin einem Jahr - das Zerrüttungsprinzip besagt, dass man ein Jahr in Trennung leben muss, bevor die Scheidung eingereicht werden kann - kann nun genutzt werden, um stichtagsbezogen und -gerecht Auskunft zu verlangen. Wenn jemand zum Stichtag der Trennung die Auskunft erteilt, er besitze 50 000 Euro, und später, wenn es zur Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags kommt, sagt, er besitze 10 000 Euro, dann muss derjenige, der eine Vermögensminderung darlegt, beweisen, wie es zu dieser Vermögensminderung kam. Wenn ihm dies nicht gelingt - es also eine illoyale Vermögensminderung war -, dann wird er gestellt, als hätte er zum Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags das Geld noch besessen. Wenn die Vermögensminderung nicht illoyal ist, wird anders gerechnet. Ein Beispiel: Mit der Trennung kauft jemand seiner Freundin einen Porsche. Dadurch wird das Vermögen um - ich habe keine Ahnung, was ein Porsche kostet 70 000 Euro gemindert. ({3}) - Weiß ich nicht. Es handelt sich um einen gebrauchten Porsche, okay? - Das Geld ist dann weg, wenn der Scheidungsantrag anhängig ist. Wenn er allerdings zwischen Trennung und Rechtshängigkeit des Scheidungsantrages durch eine riskante Geldanlage einen Teil seines Vermögens verliert, dann handelt es sich nach der derzeitigen Rechtsprechung um keine illoyale Vermögensverschiebung. Demzufolge ist sie dem Ausgleichsverpflichteten nicht anzurechnen. Zusammenfassend möchte ich sagen: Mit diesem Gesetz können wir nicht alle illoyalen Vermögensverschiebungen und Beweisschwierigkeiten beseitigen. Wir denken aber doch, dass wir Wesentliches ändern konnten und ein effektives Instrumentarium geschaffen haben, um nach Beendigung der Ehe einen fairen und interessengerechten Zugewinnausgleich zu gewährleisten. Ich möchte dem BMJ und den Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen für die konstruktive Zusammenarbeit bei diesem Gesetzentwurf danken. Ich würde mich freuen, wenn das Gesetz heute in diesem Hause einstimmig verabschiedet werden könnte. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Irmingard Schewe-Gerigk hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Reform ist überfällig. Die Zahl der Scheidungen ist hoch, und nicht immer geht es bei der Trennung fair und transparent zu. Die Leidtragenden sind überwiegend die Frauen. „Scheiden soll weniger weh tun“, titelte heute die tageszeitung. Zumindest finanziell, kann man da nur sagen; denn bisher gab es viele Schlupflöcher, um Vermögen beiseitezuschaffen. Außerdem gab es eine große Ungerechtigkeit: Brachte ein Partner hohe Schulden mit in die Ehe, musste er bei der Scheidung nicht unbedingt einen entsprechenden Ausgleich zahlen, und das, obwohl der andere Partner - meist muss man sagen: die Partnerin - durch Geld oder Familienarbeit an der Rückzahlung der Schulden mitgewirkt hatte. So konnte zum Beispiel der Aufbau einer Selbstständigkeit als gemeinsamer Lebensgrundlage zum einseitigen Vorteil werden. Wenn man gleiche Teilhabe am Vermögenszuwachs will, muss man aber berücksichtigen, wo der Startpunkt lag. Wir haben schon unter Rot-Grün, Herr Staatssekretär, mit den Vorarbeiten für notwendige Korrekturen begonnen. Die Große Koalition hat dieses Vorhaben fortgeführt. Der Gesetzentwurf, den das Bundesjustizministerium vorgelegt hatte, ging in die richtige Richtung, ließ aber noch Luft für Verbesserungen. Was sich verbessern lässt, haben wir in der ersten Debatte im Plenum benannt. Nach intensiven Berichterstattergesprächen und nach Gesprächen mit den Sachverständigen - denen ich an dieser Stelle ebenfalls danken möchte - haben wir uns beraten. Das Ergebnis, das heute vorgelegt wird, zeigt: Es hat sich gelohnt, um die bestmögliche Lösung zu ringen. Eine solch offene und konstruktive Zusammenarbeit aller Beteiligten würde man sich auch bei anderen Themen manchmal wünschen. ({0}) Die Reform kommt den finanziell meist schwächergestellten Frauen zugute. Viele Frauen wissen bis heute weder, was der Ehemann verdient, noch, wie hoch der Kontostand ist. Die alten Geschlechterrollen sind eben immer noch sehr lebendig. Dies macht die heutige Reform umso notwendiger. Ansatzpunkte - das wurde gesagt - sind ein besserer Schutz vor Vermögensmanipulation und die Einbeziehung von Anfangsschulden in den Zugewinnausgleich. Im vorliegenden Gesamtpaket sind mehrere Instrumente vorgesehen, um im Rahmen des Möglichen vor einer Aushöhlung des Zugewinnausgleichs zu schützen. Die Möglichkeiten, bei drohender illoyaler Vermögensverfügung eine vorzeitige Ausgleichszahlung durchzusetzen und zu sichern, werden verbessert. Die Auskunftsansprüche zur Klärung des Vermögensbestands werden erheblich erweitert. Nun können auch Belege wie Kontoauszüge verlangt werden. Die rückblickende Startbilanz wird einfacher, Mauscheleien zwischen Trennung und Scheidung können leichter aufgedeckt werden, und wundersamer Vermögensschwund nach der Trennung - gerade wurde das Beispiel mit dem Porsche genannt muss erklärt werden. Die Umkehrung der Beweislast ist eine gute Lösung, die eine weitere Vorverlegung des Stichtages für die Abrechnung entbehrlich macht. Durch die Berücksichtigung getilgter Anfangsschulden wird der Zugewinnausgleich gerechter. Für mich war es wichtig, dass die sogenannte Kappungsgrenze für den Ausgleichsanspruch auf null gesetzt wurde. Ursprünglich war vorgesehen, dass nicht mehr als die Hälfte des verbleibenden Vermögens für die Ausgleichszahlung eingesetzt werden muss. Das war nicht einzusehen. Nun kann ein Ausgleichsanspruch bis zum Wert des gesamten restlichen Vermögens realisiert werden. Lediglich neue Schulden muss niemand aufnehmen. Ich hätte es befürwortet, wenn auch für die ausgleichsberechtigte Person eine Billigkeitsklausel eingebaut worden wäre. Meines Erachtens hätte sich eine eng formulierte Lösung für etwas mehr Einzelfallgerechtigkeit finden lassen - der Herr Staatssekretär nickt -, ohne den bewährten Mechanismus des Zugewinnausgleichs aufzuweichen. Schließlich gibt es schon eine Billigkeitsklausel, und zwar für die ausgleichsverpflichtete Person. Aber dieser Punkt war nicht entscheidend. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Transparenz und Verwirklichung gleicher Teilhabe, diese Ziele haben wir erreicht. Die ersten Rückmeldungen aus der Fachwelt sind sehr positiv. Ich unterstütze allerdings die Forderung des Deutschen Juristinnenbundes, den gesetzlichen Güterstand insgesamt zu ändern. Ich denke, die EU wird uns demnächst dazu auffordern. Trotzdem ist heute ein guter Tag, insbesondere für die Frauen. Deshalb stimme ich dem Gesetzentwurf aus voller Überzeugung zu. Ich habe noch etwas Zeit und würde in dieser gerne darauf eingehen, dass der Herr Staatssekretär mit seiner letzten Äußerung diejenigen gelobt hat, die neben ihrem Bundestagsmandat noch einen zweiten Beruf, als Anwältin, haben. Herr Staatssekretär Hartenbach, ich stelle mir manches Mal die Frage, wie das gehen kann. Ich übe mein Mandat als Vollzeitberuf aus. Viele meiner Arbeitstage haben 16 Stunden. Ich wüsste nicht, wie ich einen zweiten Beruf damit in Einklang bringen könnte. Diese Debatte sollten wir zu einem späteren Zeitpunkt einmal führen. Ich danke allen, die an diesem guten Gesetzentwurf mitgewirkt haben, und sage den Koalitionsfraktionen zu, dass wir ihn voll unterstützen werden. Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Helga Lopez hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Schewe-Gerigk hat eben über die Zahl der Ehescheidungen gesprochen. Laut Statistischem Bundesamt - ich habe heute einmal nachgesehen - waren das in 2007 rund 187 000, das heißt, in Deutschland wird derzeit jede dritte Ehe geschieden. Die Mehrzahl der Ehepaare lebt nach wie vor im gesetzlichen Güterstand, also im Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Hier sei mir eine persönliche Bemerkung gestattet, die ich auch gestern im Ausschuss schon gemacht habe: Die Zugewinngemeinschaft ist fair bei Beendigung der Ehe, insbesondere deswegen, weil dann das in der Ehe zusätzlich erworbene Vermögen fair geteilt wird. Während der Ehe hängt der wirtschaftlich schwächere Partner aber doch sehr - ich sage es einmal so - am Tropf des wirtschaftlich stärkeren Partners. Das liegt daran, dass der gesetzliche Güterstand vereinfacht ausgedrückt im Grunde genommen eine Gütertrennung während der Ehe bei Ausgleich des Mehrvermögens am Ende der Ehe ist. ({0}) Ich persönlich würde mir wünschen, dass in der 17. Legislaturperiode nach dieser wirklich guten Reform, durch die der gesetzliche Güterstand deutlich verbessert und deutlich fairer gemacht wird, vielleicht noch einmal darüber nachgedacht wird, ob nicht auch eine Regelung gefunden werden kann, durch die die Fairness während der Ehe erhöht wird. ({1}) Als Stichwort - aber auch nur als Stichwort - sei hier der Güterstand der Errungenschaftsgemeinschaft genannt, den es ja in vielen anderen europäischen Ländern gibt. Zurück zum Thema, zum gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Bei Beendigung der Zugewinngemeinschaft - wir haben das hier jetzt schon mehrfach gehört - erhält jeder Partner die Hälfte des zusätzlich in der Ehe erworbenen Vermögens. An diesem Grundsatz halten wir fest; denn durch ihn wird für einen fairen und praxistauglichen Ausgleich gesorgt. In der Praxis zeigen sich aber Gerechtigkeitslücken. Diese werden wir mit dieser Reform bestmöglich schließen. ({2}) Eine Gerechtigkeitslücke ist, dass bei der Berechnung des Zugewinns Schulden vor der Ehe bislang unberücksichtigt geblieben sind. Das ist hier auch schon ausgiebig erläutert worden. Wir werden sie künftig berücksichtigen. Das ist in der Tat gerechter. Einen besonderen Schwerpunkt legen wir darauf - auch das wurde ausreichend erläutert -, den schwächeren Partner künftig deutlich besser vor sogenannten illoyalen Vermögensverschiebungen zu schützen. Das gelingt uns mit der Fixierung eines festen Zeitpunktes für die Auskunftspflicht, mit dem der Zeitraum deutlich verkürzt wird, die der stärkere Partner heute noch für diese illoyalen Transaktionen zur Verfügung hat, mit einer deutlich verstärkten Auskunftspflicht und mit einer Belegpflicht. Es ist hier auch schon gesagt worden - ich glaube, von der Kollegin Schewe-Gerigk -, dass nicht etwa die vermögenden Ehepaare im Besonderen davon profitieren, sondern gerade die vielen Ehepaare, die nicht so viel Vermögen haben. Denn gerade dort tut es besonders weh, wenn zwischen der Trennung und der Scheidung noch mal eben 10 000 Euro beiseitegeschafft werden. Wie gesagt, wir haben gute Regelungen gefunden, um hier zu deutlich besseren Ergebnissen zu kommen. Auch ich will noch einmal den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BMJ wie auch den Sachverständigen im Namen meiner Fraktion herzlich für die erneut exzellente Zuarbeit und Mitarbeit danken. Ganz herzlichen Dank! ({3}) Frau Granold hat schon darauf hingewiesen, dass im Zuge der Beratungen über viele Teilbereiche intensiv mit den Sachverständigen diskutiert worden ist. Ich erinnere mich noch an ein Thema, das wir neben der Härtefallklausel auch sehr intensiv erörtert haben, nämlich die Anrechnung von eheneutralem Erwerb. Die Berichterstatterinnen und Berichterstatter sind mit den Sachverständigen aber eindeutig zu dem Ergebnis gekommen, dass wir besser keine Korrekturen vornehmen, weil wir per se keine Besserstellung und auch keine größere Praxisnähe bei der Bearbeitung hinbekommen. Über die Aufhebung der Hausratsverordnung und die Änderungen im Vormundschaftsrecht ist bereits ausgiebig informiert worden. Ich persönlich freue mich, dass die Reform des Zugewinn- und Vormundschaftsrechts zusammen mit der FGG-Reform am 1. September dieses Jahres in Kraft treten kann. Als Familien- und Frauenpolitikerin freue ich mich ganz besonders, dass auch diese Reform eine große Bedeutung für die Gleichstellung von Männern und Frauen hat. ({4}) Zwar profitieren noch deutlich mehr Frauen von den Verbesserungen, aber die Zahl der Männer, die in der Ehe ganz, teilweise oder zeitweise in die wirtschaftlich schwächere Position kommen - etwa während der Elternzeit - wächst ständig. Die Reform trägt maßgeblich dazu bei, dass Partner, die wegen Kindererziehung, Pflege von Angehörigen oder Arbeitslosigkeit ganz oder zeitweise in der wirtschaftlich schwächeren Position sind, am Ende der Ehe nicht auch noch ohne wirkliche Hürden über den Tisch gezogen werden. Abschließend nochmals ganz herzlichen Dank für die guten Beratungen innerhalb der Fraktionen. Die taz titelte „Scheiden soll weniger weh tun“. Eine Trennung ist fürwahr ein schmerzlicher Vorgang. Damit hat die taz meines Erachtens ganz recht. Mit dieser Reform wird der Vorgang vielen künftig ein bisschen weniger weh tun. Das ist gut so. Danke schön. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13027, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10798 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen. ({0}) Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({1}), HansMichael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Arbeitsplätze im Transportgewerbe sichern Mauterhöhung bis Ende 2009 aussetzen - Drucksache 16/12731 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Wilhelm Josef Sebastian, Uwe Beckmeyer, Jan Mücke, Lutz Heilmann und Dr. Anton Hofreiter.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12731 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Eduard Lintner, Eckart von Klaeden, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Lothar Mark, Gert Weisskirchen ({4}), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Eine starke Partnerschaft - Europa und Lateinamerika/Karibik - Drucksachen 16/9072, 16/9466 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Marina Schuster Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({5}) Hierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich gebe als Erstem das Wort dem Kollegen Lothar Mark für die SPD-Fraktion.

Lothar Mark (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003190, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ist über ein Jahr alt. Er bezog sich ursprünglich auf das Gip- feltreffen am 16./17. Mai 2008 in Lima. Wir hatten da- mals als Themen Armut und soziale Kohäsion sowie die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in den Berei- chen Umwelt- und Klimaschutz und im Energiesektor. Das Ziel war, insgesamt eine stärkere Intensivierung der Beziehungen zwischen Lateinamerika und der Europäi- schen Union herbeizuführen. Quasi am Jahrestag dieses Gipfeltreffens findet nun das Ministertreffen der EU- Rio-Gruppe in Prag am 13./14. Mai statt. Bei diesem Treffen wurde gestern der Beschluss gefasst, dass die Europäische Union und Lateinamerika im Bereich der erneuerbaren Energien noch intensiver zusammenarbei- ten und sich gegenseitig fördern sollen. Des Weiteren wurde der Beschluss gefasst, dass diese beiden Blöcke die Weltklimakonferenz im Dezember in Kopenhagen Hand in Hand vorbereiten wollen. Es gibt ein unendlich breites Feld der Zusammenar- beit zwischen Lateinamerika und der Europäischen Union. Die Europäische Union hat einige Aufträge zu 1) Anlage 5 erledigen, die bisher nicht zu Ende geführt wurden. Unter anderem verhandeln wir seit vielen Jahren mit Mercosur, dem Wirtschaftsblock aus Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und neuerdings Venezuela, sowie der Andengemeinschaft und den zentralamerikanischen Ländern über ein Assoziierungsabkommen bzw. Abkommen im Handelsbereich. Wir kommen im Grunde genommen nicht so voran, wie es für beide Seiten von Vorteil wäre. Ich persönlich bedauere das sehr, weil für die europäische und insbesondere für die deutsche Wirtschaft, aber auch für die lateinamerikanische Wirtschaft wesentlich mehr erreichbar wäre, als derzeit auf bilateraler Ebene möglich ist. Ich weise besonders darauf hin, dass die Europäische Union es in der Phase, in der die Vereinigten Staaten Lateinamerika nicht so intensiv als Partner ansahen, versäumt hat, in die Lücke hineinzustoßen. Nun hat Präsident Barack Obama erklärt, dass er mit Zentralamerika und Südamerika wieder intensiver zusammenarbeiten wird. Es wird für uns insgesamt schwieriger werden, in die entsprechenden Bereiche vorzudringen. In den derzeit laufenden Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit Ländern der Andengemeinschaft hat die Europäische Union zudem meines Erachtens den Fauxpas begangen, mit der Andengemeinschaft nicht mehr en bloc, sondern nur noch mit Kolumbien, Peru und Ecuador zu verhandeln. Bolivien hat sich separiert, weil es mit der Agenda nicht einverstanden ist. Ich denke, dass es falsch war, dass die Europäische Union, die immer mit Wirtschaftsblöcken und politischen Blöcken insgesamt verhandeln und deren Integration fördern wollte, dieses Prinzip verlassen hat. Es wird gesagt, dass, wenn diese Einzelverhandlungen über ein Wirtschaftsund Handelsabkommen zu einem Ergebnis kommen, dieses dann später in einem umfassenden Assoziierungsabkommen zusammengeführt werden soll, das von allen beteiligten Ländern mitgetragen wird. Ich denke, das wird ein Trugschluss sein. Die Europäische Union als Block wird mit der Andengemeinschaft auf diesem Wege nicht weiterkommen. Die Verhandlungen mit Zentralamerika laufen gut. Die Verhandlungen mit Mercosur sind auf dem Stand des letzten und vorletzten Jahres geblieben. Es gibt keine allzu großen Fortschritte, wenngleich diese dringend notwendig wären. Es gäbe zu Lateinamerika und den bilateralen Beziehungen unendlich viel zu sagen, ({0}) sowohl zu Brasilien als auch zu Venezuela, zu Bolivien, zu Kolumbien und zu Kuba. Ich will ein Wort zu Kuba sagen - ich tue das nicht, um etwa Kuba besonders hervorzuheben -: Es ist ermutigend, dass der neue amerikanische Präsident zumindest einige Erleichterungen gegenüber Kuba veranlasst hat. Jetzt können die Exilkubaner wieder öfter nach Kuba reisen, und sie dürfen mehr Geld nach Kuba überweisen. Ich glaube, es wäre ungemein wichtig - das haben alle übrigen lateinamerikanischen Länder auf dem OAS-Gipfel im April in Trinidad und Tobago gefordert -, dass das US-Embargo gegen Kuba aufgehoben wird. Ich muss meine kurze Rede beenden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und darf an dieser Stelle sagen: Das wird aller Wahrscheinlichkeit nach meine letzte Rede zu Lateinamerika im Deutschen Bundestag gewesen sein, weil ich nicht wieder kandidieren werde. Danke. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Mark, herzlichen Dank. Der Respekt des ganzen Hauses für Ihre Arbeit hier im Parlament soll Ihnen ge- wiss sein. Als nächste Rednerin rufe ich, weil Marina Schuster von der FDP-Fraktion ihre Rede zu Protokoll gegeben hat,1) wegen des Wechsels zwischen Regierung und Opposition jetzt die Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Die Linke auf. ({0})

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Ich bitte um Entschuldigung. Ich bin hierhergerannt und habe kaum noch Luft. - Herr Lothar Mark, ich bedauere sehr, dass Sie nicht noch einmal den Weg ins Parlament gewählt haben; denn Sie sind - das darf ich auch für die anderen Fraktionen sagen - ein ausgezeichneter Vertreter nicht nur der deutschen Interessen in Lateinamerika, sondern auch der lateinamerikanischen Interessen in Deutschland. ({0}) An dem Bericht und der Beschlussempfehlung, die wir heute diskutieren, ist mir aufgefallen, dass bestimmte, ganz wichtige Länder gar nicht genannt sind. Dazu möchte ich Venezuela, Bolivien, Ecuador und vielleicht auch Paraguay zählen, Länder, in denen sich durch demokratische Wahlen und verfassungsgebende Prozesse, an denen die Bevölkerung teilgenommen hat, hervorragende Entwicklungen vollzogen haben. In einer beispielhaften Weise sind neue Regierungen an die Macht gekommen, die sich zum Ziel gesetzt haben - ich nenne das Beispiel Bolivien -, endlich die Rechte der indigenen Bevölkerung zu wahren, zu sichern und auszubauen und dieser Bevölkerung die Macht in der Regierung zu geben. ({1}) Mein Gespräch, das ich gerade mit dem boliviani- schen Botschafter geführt habe, hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir darauf achten, dass diese Länder 1) Anlage 6 ihre eigenen Entwicklungspotenziale nutzen können und nicht durch Freihandelsabkommen, von denen das letzte ohnehin gescheitert ist, daran gehindert werden, eigene Produktlinien zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen, eine unabhängige Wirtschaft aufzubauen. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass das internationale Verbot, Kokapflanzen anzubauen, diesem Land ganz schweren Schaden zufügt. Sonst könnte das Land eine Nutzpflanze entwickeln, die ihm zu wirtschaftlicher Prosperität verhelfen würde. Über eine solche Veränderung der Politik muss Deutschland dringend nachdenken, gerade auch im Hinblick auf Europa. Ich kann diesem Antrag überhaupt nicht folgen. Man setzt auf bilaterale Verträge und erkennt die neue wirtschaftliche Realität nicht an. Gewollt wird eben keine marktradikale, keine neoliberale Ordnung; vielmehr will man eine Gesellschaft aufbauen, die über das, was wir als soziale Marktwirtschaft kennen, hinausgeht. Das ist eine Demokratie, die es zu unterstützen gilt. Deshalb wundert es mich sehr, dass Sie die Länder in Lateinamerika, die diesen demokratischen Weg gehen, hier mit keinem Wort erwähnen. Ganz wichtig ist mir auch das Thema Klimawandel; Sie haben es angesprochen. In Ecuador gibt es ein sehr unterstützenswertes Projekt, den Regenwald nicht auszubeuten und die Ölvorkommen nicht zu nutzen. Die europäische Seite sollte es unterstützen. Wir sollten unser Know-how dafür zur Verfügung stellen, dass diese Länder nicht den falschen Weg gehen, die Ressourcen auszubeuten. Die neue Regierung dort orientiert sich am Ziel einer nachhaltigen Wirtschaft. Wir müssen sie dringend unterstützen. ({2}) Ich möchte auch auf die neue Agentur IRENA hinweisen. Sie fördert solche Maßnahmen. Diese Agentur ist von unserem Abgeordnetenkollegen Hermann Scheer maßgeblich mit ins Leben gerufen worden. Die Unterstützung dieser Agentur ist eine wichtige Hilfe, die wir im Rahmen von Kooperation, von Entwicklungszusammenarbeit geben können. Eines zum Schluss - die Zeit rast -: Angesichts der katastrophalen Entwicklungen im Bereich der Bekämpfung der Drogenkriminalität in Mexiko sind Deutschland und andere europäische Länder als die Konsumenten der illegalisierten Drogen dringend aufgefordert, einmal gründlich darüber nachzudenken, wie viel Elend, Leid, Gewalt und Tod der Krieg gegen Drogen in Lateinamerika gebracht hat. Ich vertrete hier die Auffassung: Wir müssen im nächsten Deutschen Bundestag dringend eine EnqueteKommission zur Drogenpolitik mit Blick auf das Problem der Prohibition einrichten. Dieses Netz von Gewalt, Korruption und Menschenrechtsverletzungen, das sich im Zuge des sogenannten Krieges gegen Drogen - ich verweise auf den „Plan Columbia“ in Kolumbien entwickelt, ist mit einer Politik der Menschenrechte und der Achtung der indigenen Bevölkerung nicht mehr in Einklang zu bringen. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Erich Fritz das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Lothar Mark, es macht immer Freude, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die wissen, worüber sie sprechen. Deshalb herzlichen Dank für die Zusammenarbeit in Sachen Lateinamerika! Es ist schade für den Deutschen Bundestag, dass du als Abgeordneter nicht weitermachen wirst. Man kann unterschiedliche Vorstellungen zu den Entwicklungen in Lateinamerika haben. Das alles mit den Worten „demokratische und eigenständige Entwicklung“ darzustellen, scheint mir doch etwas einäugig zu sein. ({0}) Das, was durch die Bilder von Oppositionellen aus Venezuela zum Ausdruck kommt - man hat dort sozusagen mit der Pistole am Kopf gewählt -, ist meinem Verständnis von Demokratie genau entgegengesetzt. ({1}) Das ist nicht das, was wir uns wünschen. Die Neigung, diese Art von Caudillotum in Lateinamerika wieder hoffähig zu machen, ist sicher nicht gut für die Zukunft dieses Kontinents. ({2}) Wir bedauern ausdrücklich, dass alle Anstrengungen zur Integration in Lateinamerika - sowohl in Zentralamerika als auch in den Anden als auch in Mercosur stecken geblieben sind. Warum sind sie stecken geblieben? Weil sich die Erkenntnis, dass es ein Vorteil für alle ist, wenn man selbst ein wenig zurücksteckt, für die anderen mitdenkt und Nachteile in Kauf nimmt, nicht durchgesetzt hat. Wir, die Europäische Union, sind für diese Länder durchaus ein Vorbild, was Integration angeht. ({3}) Man will aber nicht wahrhaben, was es heißt, dass man von seinen Souveränitätsrechten ein Stück abrücken muss, dass man auch einmal akzeptieren muss, etwas hinzugeben, um dem anderen zu helfen. Wie lange hat es in Mercosur gedauert, bis es zum ersten Mal einen wirklich mickrig ausgestatteten Fonds gab, mit dem kleineren Ländern geholfen werden sollte? Das ist ein Anfang. Man hat jetzt so etwas wie eine parlamentarische Versammlung gegründet. Das ist der richtige Ansatz. Wenn Sie sich aber anschauen, was jetzt während der Krise in Argentinien geschieht, dann erkennen Sie, dass es nur zulasten der Nachbarländer, insbesondere der klei24410 nen Nachbarländer, geht. Die Schikanen innerhalb einer Region - etwa zwischen Argentinien und Paraguay führen beispielsweise zur Verhinderung des Exports von Agrarprodukten wie Rindfleisch nach Chile. Paraguay ist auf diese Exporte aber angewiesen und hat keine andere Möglichkeit, als sie über das Nachbarland zu transportieren. Dies zeigt, dass das Verständnis davon, dass man den Wohlstand über eine supranationale Integration gemeinsam fördern kann, nicht ausgeprägt ist. Immer dann, wenn es in einer Krise schwierig wird, fällt man leicht in eine Haltung zurück, die in Lateinamerika dazu geführt hat, dass Gewalt die Politik bestimmt. Zehn Jahre nach dem ersten EU-LAK-Gipfel ist es deshalb Auftrag der europäischen Politik, dafür zu sorgen, dass es nicht zu Brüchen in den Beziehungen zu diesen Ländern kommt. Dies muss unabhängig davon geschehen, wo diese einzelnen Länder im Augenblick stehen. Im Hinblick auf die jetzigen Prozesse - Lothar Mark hat sie einzeln dargestellt; ich muss sie nicht wiederholen - müssen wir alles dafür tun, zur Schaffung möglichst gemeinschaftlicher Initiativen beizutragen und den Bruch, den es in den Beziehungen zu den Andenstaaten gegeben hat, zu kitten. Wir müssen die Basis so gestalten, dass die anderen Länder sich schnell wieder anschließen. Die Europäer haben in diesen Prozessen wahrlich viele Angebote zugunsten dieser Länder gemacht. Wir überziehen Lateinamerika nicht mit einer Ideologie und bestimmten Konsensvorstellungen, wie das andere tun. Wir sind Partner, und als solche werden wir auch wahrgenommen. Die Ausrichtung und der Wunsch, dass wir strategischer Partner der Region und auch der großen Länder - diese wollen natürlich immer besondere Beziehungen haben - sein sollen, zeigen die enge Verbundenheit im Denken und in den Werten. Der Glaube, dass die Europäer eine ehrlichere Beziehung zu Lateinamerika als andere Länder auf dieser Welt zu pflegen bereit sind, stellt für uns eine Chance dar. Sie kann aber nur dann genutzt werden, wenn auch in Lateinamerika ein Umdenken stattfindet. Ich weiß, dass es in unseren Partnerländern viele Menschen gibt, die daran arbeiten und daran glauben, dass es nur auf diese Weise geht. Ansonsten würde wiederum der Effekt einsetzen, dass man nur den eigenen Vorteil - auch wenn es sich für den Nachbarn nachteilig auswirkt - sieht; nach der Argentinienkrise war dies deutlich zu sehen. In der jetzigen Krise hat weder in Asien noch in Nordamerika noch in Europa und noch nicht einmal in Afrika der Protektionismus Einzug gehalten. In Lateinamerika dagegen ist das der Fall. Das sollte uns zu denken geben, da es unmittelbare Folgen für diejenigen hat, die von der Ausfuhr von Agrarprodukten abhängig sind; an dieser Stelle möchte ich noch einmal Paraguay nennen. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Deshalb glaube ich - unabhängig davon, über welchen Antrag wir gerade reden -, dass jetzt eine Welle von Beeinträchtigungen über diese Länder hinwegrollen wird. Die Krise ist jetzt auch in Lateinamerika angekommen. Wir wissen, dass wir um die Rohstoffe dieser Regionen einen Wettbewerber haben - ich meine China -, dass Indien zunehmend Interesse entfaltet, dass es aber nicht der größte Wunsch Lateinamerikas ist, solche Beziehungen zu den asiatischen Ländern zu pflegen. Gerade sich entwickelnde Länder wie Mexiko und Brasilien sehen China als Konkurrenten an. Sie sehen das Land nicht nur als wichtigen Investor, auf den man sich in vielen Bereichen verlassen kann - das ist ganz unbestritten -, sondern auch als Wettbewerber. Sie konkurrieren in dem gleichen industriellen Segment mit diesen beiden großen Ländern. Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zu den Energiebeziehungen sagen. Wir haben nicht die intensivsten Beziehungen zu den Ölländern und den Gasländern Lateinamerikas. Was sich dort abzeichnet, ist ein Beispiel für den inneren Zustand dieser Länder, nämlich die Unfähigkeit und mangelnde Bereitschaft, Wege zu finden, die außerhalb der eigenen Vorstellungen liegen, um dafür sorgen zu können, dass ihre Rohstoffeinkommensbasis erhalten bleibt. Wir erleben jetzt in Venezuela wie in Mexiko - beides wichtige Länder aufgrund ihrer Vorräte -, dass die Produktionsraten von Jahr zu Jahr sinken und dass die Investitionen weit hinter dem zurückbleiben, was notwendig wäre, um auf Dauer die Basis für diese Volkswirtschaften zu sichern. Schließlich sollte man sich auch anschauen, wie die Ölgewinne in Venezuela verteilt werden. Dem Verfahren, dass ein kleiner Anteil im Staatshaushalt landet und ein großer Anteil zur freien Verfügung des Präsidenten steht, der darüber nicht rechenschaftspflichtig ist, schon gar nicht gegenüber dem Parlament, können doch auch Sie, Frau Knoche, nicht zustimmen. ({4}) Das kann doch kein Vorbild sein für die Art von Partner, mit denen wir in Lateinamerika zusammenarbeiten wollen. ({5}) Als Partner kommen vielmehr diejenigen infrage, die sich bereit erklären, die Idee des freiheitlichen Staates hochzuhalten. Mit diesen Staaten wollen wir zusammenarbeiten; diese Zusammenarbeit muss sich für sie dann auch deutlich vorteilhaft auswirken. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte für die Grünen unser Bedauern aussprechen, dass Herr Mark uns verlässt. Auch ich habe ihn im Rahmen der südamerikanischen Partnerschaftsgruppen kennen- und schätzen gelernt. Ich bedauere es sehr, nicht mehr weiter mit ihm hier im Bundestag diskuUte Koczy tieren zu können. Ich wünsche ihm natürlich viel Glück und viel Erfolg auch außerhalb der Politik. Meine Damen und Herren, die letzte große Debatte zu Lateinamerika hier im Haus liegt schon ein Jahr zurück. Seitdem ist eine ganze Menge in Bewegung geraten. Vor einem Jahr - wir erinnern uns - verhalfen die hohen Rohstoffpreise den lateinamerikanischen Staaten zu neuer Handlungsfähigkeit und großem Selbstbewusstsein. Ein Jahr später sind die Rohstoffpreise gefallen, und alle Länder sind in den Sog der weltweiten Rezession geraten. Wer hätte aber vor einem Jahr gedacht, dass ein neuer US-Präsident den Beginn einer neuen Kuba-Politik einläuten würde oder - auch das ist neu - dass Präsident Chávez gerne ein Freund des US-Präsidenten sein möchte? Wir wissen natürlich: Diese Entwicklungen sind nicht der strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Lateinamerika zu verdanken. Schade eigentlich, denn die EU steht weiterhin nur am Spielfeldrand. Sie schaut nur zu, wie sich die Beziehungen zwischen Lateinamerika und Asien bzw. den USA entwickeln. Ich befürchte, die EU wird auch später noch am Spielfeldrand stehen und sich wundern, wenn sich die Beziehungen zwischen Washington und den Staaten der Region verändert haben. Dann wird sich die EU fragen, warum man all das verpasst hat. ({0}) - Diese Zustimmung überrascht mich jetzt. Aber der Kollege hat, wie ich meine, auch recht. Eigentlich wollte die EU ja die regionale Integration stärken und biregionale Assoziierungsabkommen abschließen, also Abkommen, bei denen es nicht nur um Freihandel, sondern auch um politischen Dialog, Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte gehen sollte. ({1}) Man wollte zeigen, dass die EU anders reagiert als die USA. Doch wir mussten registrieren: Die guten Vorsätze sind schnell über Bord gegangen. Kolumbien und Peru konnten sich nicht mit Bolivien und Ecuador einigen; das wurde schon gesagt. Man gab dann dem dringenden Wunsch Kolumbiens nach und einigte sich darauf, die Handelsfragen bilateral zu behandeln, und zwar nur die Handelsfragen. Das heißt, es fehlt ein ganz gewaltiger Bestandteil, den die EU eigentlich auch in die Abkommen integriert sehen wollte. ({2}) Da fragen wir jetzt: Wo ist denn die europäische Strategie gegenüber Lateinamerika? Der US-Kongress hat wegen der desaströsen Menschenrechtslage in Kolumbien ein Freihandelsabkommen mit diesem Land blockiert. Aber wir Europäer verhandeln weiter über ein Abkommen, das keinen Bezug zu Menschenrechtsstandards hat, ja noch nicht einmal eine Demokratieklausel enthält. Entspricht das dem viel beschworenen Wertefundament der EU? So darf es doch nicht weitergehen. Hier hat Frau Merkel falsch verhandelt. ({3}) Ich glaube nicht, dass wir Kolumbien einen Vertrag an die Hand geben, mit dem die Regierung dann nach dem Motto hausieren gehen kann: Schaut mal her, wenn selbst die Europäer mit uns einen Freihandelsvertrag abschließen, kann es doch mit den Menschenrechten bei uns nicht so schlimm bestellt sein. Es wurde schon darauf hingewiesen: Gestern haben sich in Prag die EU-Außenministerinnen und -minister mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Lateinamerika und der Karibik getroffen. Sie haben beraten, welche gemeinsamen Antworten sie geben. Es klingt gut, wenn man sich dabei auf erneuerbare Energien konzentriert. Aber die Verpflichtungen sind vage; es gibt nur ein unverbindliches Dokument. Man merkt ganz deutlich, dass die Außenminister nicht begriffen haben, dass es jetzt einen Stopp bei den fossilen Energieträgern und eine Stornierung der Atomverträge mit Brasilien geben muss. ({4}) Es gibt Bausteine in der Region; Kollegin Knoche hat darauf hingewiesen. Die von den Grünen angeregte und vom Parlament gemeinsam unterstützte ITT-Initiative ist ein positiver Vorschlag. Schade, dass wir es versäumt haben, auf EU-Ebene solche hervorragenden Beispiele zu unterstützen und zu forcieren. Danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Niels Annen hat das Wort für die SPD-Fraktion.

Niels Annen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich darüber, dass bezüglich der Einschätzung dieses wichtigen Kontinents in dieser Debatte viele übereinstimmende Punkte festzuhalten sind. Deswegen habe ich mein Manuskript an meinem Platz gelassen. Statt der ursprünglich geplanten Rede möchte ich - nachdem wir heute in diesem Parlament schon eine wichtige Debatte zum Thema „60 Jahre Grundgesetz“ hatten - auch in Bezug auf Lateinamerika etwas zur Frage der Demokratie sagen. Kollege Fritz, sosehr ich Ihnen zustimme, dass es die eine oder andere Entwicklung gibt, die uns besorgt stimmen muss - Venezuela ist ein Beispiel, aber auch andere Länder, die in der Debatte genannt worden sind -, bin ich doch der Meinung, dass wir die großartige Leistung Lateinamerikas in den letzten Jahrzehnten hervorheben sollten. Denn dieser Kontinent, der in weiten Teilen beherrscht war von Militärdiktaturen, hat es geschafft, die Epoche der Diktaturen nachhaltig hinter sich zu lassen, auch wenn nach wie vor unglaubliche soziale Gegensätze existieren, soziale Spannungen, Unterschiede zwischen Arm und Reich - bis hin zu anderen Problemen, die uns Sorgen bereiten und die wir miteinander besprechen müssen: nämlich Korruption, Drogenhandel, auf den Sie hingewiesen haben, die Zersetzung ganzer Gesellschaften durch den „narcotráfico“. ({0}) An dieser Stelle sollte auch darauf hingewiesen werden, dass auf einige der aufgrund der Finanzkrise und der Fehlentwicklungen an den internationalen Märkten bestehenden Probleme, über die wir in Deutschland zurzeit mit großer Intensität diskutieren, in einigen Ländern Lateinamerikas in gewisser Weise in Form einer - man muss es fast so nennen - revolutionären politischen Entwicklung bereits reagiert worden ist. Viele Regierungen in wichtigen lateinamerikanischen Ländern sind abgewählt worden. Traditionelle Partner, auch der Sozialdemokratie und der Christdemokratie, sind als politische Parteien, als Bewegung quasi von der Bildfläche verschwunden. Deswegen sollten wir in dieser Zeit, in der wir über grundlegende Konsequenzen aus den Fehlentwicklungen auf den internationalen Märkten reden, unseren Blick auch einmal nach Lateinamerika wenden und schauen, welche Reaktionen es dort bei der Zivilgesellschaft und der Politik gegeben hat. Wir sind uns in diesem Hause nicht immer einig hinsichtlich der Entwicklungen in Lateinamerika. Es ist schwierig, in einer relativ kurzen Debatte das Bild eines gesamten Kontinents zu entwerfen. Lateinamerika ist sehr vielfältig, und es gibt diverse und zum Teil auch widersprüchliche Entwicklungen. Aber eines ist, glaube ich, klar: Die Menschen in Lateinamerika haben die demokratischen Freiheiten nicht nur zu schätzen gelernt, sondern sie haben sich auch, zum Teil unter großen persönlichen Risiken und zu einem hohen Preis, dafür eingesetzt, dass ihre Länder weiterhin demokratisch regiert werden. Auf der anderen Seite haben die Menschen deutlich gemacht, dass sie nicht mehr bereit sind, die Art und Weise zu akzeptieren, in der die internationale Gemeinschaft ihnen in den letzten Jahrzehnten über Instrumente des Internationalen Währungsfonds oder auch der Weltbank ohne Sensibilität für die sozialen Probleme in vielen Bereichen eine bestimmte Politik aufgezwungen hat. Bei allen Schwierigkeiten - Frau Knoche hat in einer positiven Konnotation über Venezuela geredet; Herr Fritz hat dies in einer etwas kritischeren Art und Weise getan - bin ich der Überzeugung, dass wir mit diesen Regierungen und mit diesen Bewegungen im Gespräch bleiben müssen. Die europäische Lateinamerika-Politik muss sich sehr genau anschauen, was in Trinidad passiert ist. Wir müssen die Signale der neuen amerikanischen Administration ernst nehmen. Wir dürfen ihr aber nicht hinterherlaufen, sondern müssen mit einer eigenständigen und selbstbewussten Politik der lateinamerikanisch-europäischen Partnerschaft einen neuen Impuls verleihen. Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Antrag und hoffe gleichzeitig, dass dieses Parlament und auch der neu gewählte Bundestag in der Lage sein werden, mehr als eine halbe Stunde am Abend über dieses Thema zu diskutieren, und dass dann alle heute Anwesenden wieder dabei sind. Herzlichen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An- trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Eine starke Partnerschaft - Europa und Latein- amerika/Karibik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9466, den An- trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Druck- sache 16/9072 anzunehmen. Wer stimmt für die Be- schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalition und bei Ablehnung durch die Oppositionsfrak- tionen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf: 25 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Otto ({1}), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Klare Rahmenbedingungen für den dualen Rundfunk im multimedialen Zeitalter - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeitalter - zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({2}), Ekin Deligöz, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Besondere Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach EU-Kompromiss sicher- stellen - Drucksachen 16/5959, 16/6773, 16/5424, 16/ 7343 - Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Jörg Tauss Christoph Waitz Grietje Bettin b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ({3}) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Elke Reinke, Dr. Lothar Bisky, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Neuregelung der GEZ-Befreiungstatbestände - Neuverhandlung des Rundfunkgebühren- staatsvertrages - Drucksachen 16/5140, 16/7345 - Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Jörg Tauss Christoph Waitz Grietje Bettin c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({4}) - zu der Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2008 - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({5}), Christoph Waitz, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2008 - Drucksachen 16/11570, 16/12135, 16/12909 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Monika Griefahn Hans-Joachim Otto ({6}) Grietje Staffelt Hier ist interfraktionell vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Reinhard Grindel, Marco Wanderwitz, Monika Griefahn, Hans-Joachim Otto, Lothar Bisky und Grietje Staffelt.1) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/7343. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5959 mit dem Titel „Klare Rahmenbedingungen für den dua- len Rundfunk im multimedialen Zeitalter“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegen- stimmen der FDP-Fraktion und Zustimmung im übrigen Haus angenommen. 1) Anlage 7 Unter Buchstabe b der Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6773 mit dem Titel „Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeitalter“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ablehnung der Fraktion Die Linke und bei Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7343 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5424 mit dem Titel „Besondere Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach EU-Kompromiss sicherstellen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 25 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Neuregelung der GEZBefreiungstatbestände - Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7345, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5140 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 25 c. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf Drucksache 16/12909. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Medien- und Kommunikationsberichts der Bundesregierung 2008 auf Drucksache 16/11570 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/ Die Grünen und Die Linke bei Enthaltung der FDP angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12135 zu der eben genannten Unterrichtung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen. Die FDP hat dagegen gestimmt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes - Drucksache 16/12593 24414 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({7}) - Drucksache 16/13015 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Werner Kammer Christian Ahrendt Silke Stokar von Neuforn Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll gegeben: Jochen-Konrad Fromme, Maik Reichel, Christian Ahrendt, Ulla Jelpke und Silke Stokar von Neuforn.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem 8. Änderungsgesetz zum Bundesvertriebenengesetz unterstreichen wir heute am Tag der Debatte um 60 Jahre Grundgesetz die Kontinuität der Verantwortung Deutschlands für die deutschen Minderheiten und die Spätaussiedler. Das Bundesvertriebenengesetz bedarf im nunmehr 57. Jahr seines Bestehens einiger Änderungen, die der Rechtsklarheit und einer Vereinfachung dienen. Das wichtige Ziel dabei ist es, das Verfahren zur Ausstellung einer Spätaussiedler- oder Angehörigenbescheinigung erheblich zu beschleunigen. Dies ist eine gute Neuregelung, denn hierzu werden nach den Vorschlägen des Bundesinnenministers die Fristen bei der Überprüfung von Ausschlussgründen verkürzt, und das Verfahren wird künftig anstatt zwei bis drei Monate regelmäßig nur noch zwei bis drei Wochen betragen. Damit kann eine Bescheinigung als Spätaussiedler oder Angehöriger zügig nach der Einreise ausgestellt werden. Mit diesem Gesetz wird zudem die rückwirkende Aufhebung von Spätaussiedler- und Angehörigenbescheinigungen parallel zur Rücknahme von Einbürgerungen im Staatsangehörigkeitsgesetz geregelt. Die Rücknahme einer Bescheinigung wird auf den Zeitraum von fünf Jahren beschränkt und der Schutz der Ehegatten und Abkömmlinge des Spätaussiedlers berücksichtigt. Weiterhin wird die Befristung der vertriebenenrechtlichen Altbescheide von EU-Bürgern aufgehoben. Kein Betroffener soll aufgrund einer Befristung veranlasst werden, vorzeitig auszureisen. Ein weiterer wesentlicher Punkt des Gesetzes ist schließlich eine effektive Gestaltung der Verwaltungspraxis: Das Bundesverwaltungsamt, das bereits jetzt die zentrale Behörde im Verfahren zur Aufnahme von Spätaussiedlern ist, wird zukünftig ebenfalls für die Erteilung von Bescheinigungen in Altfällen zuständig. Die Bundesländer werden insofern von parallelen Verwaltungsstrukturen entlastet. Weitaus wichtiger als die Verfahrensbeschleunigungen ist aber das politische Bekenntnis unserer dauerhaften und historischen Verantwortung gegenüber den Deutschstämmigen, die in diesem Gesetz seinen Ausdruck findet. Denn das Bundesvertriebenengesetz bestätigt im Grundsatz den bestehenden rechtlichen Rahmen auch für eine künftige Aufnahme deutscher Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland: Die Tür für die deutschen Spätaussiedler ist und bleibt offen. Art. 116 des Grundgesetzes und dessen Ausführungsbestimmungen gelten fort. Dabei ist es von außerordentlicher Bedeutung, dass wir uns auch künftig zu einem allgemeinen Kriegsfolgenschicksal für die Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bekennen. Denn eine vollständige Rehabilitation dieser Schicksalsgruppe hat bis heute nicht stattgefunden. Über drei Millionen deutsche Spätaussiedler sind seit der Wende in Europa zu uns in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Die allermeisten von ihnen sind sehr gut integriert und stellen eine erhebliche Bereicherung unserer insgesamt älter werdenden Gesellschaft dar. Die jüngste Studie „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der Integration in Deutschland“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung hat eindrucksvoll belegt, dass die Gruppe der Spätaussiedler - im Gegensatz zu den türkischstämmigen Migranten - besonders gut abgeschnitten hat. Eine deutliche Diskrepanz dazu ergibt sich in der öffentlichen Wahrnehmung, vor allem durch die mediale Aufbereitung von Straftaten, die die Gruppe dann insgesamt in ein schlechtes Licht rücken. Dabei belegen solide Statistiken und Untersuchungen anderes. So hat die Hamburger Polizeibehörde schon vor einiger Zeit eine Untersuchung veröffentlicht, die nachweist, dass Spätaussiedler keine höhere Kriminalitätsneigung haben als einheimische Deutsche; häufig ist sogar das Gegenteil der Fall. Ähnliche Untersuchungen und Ergebnisse gibt es auch aus anderen Bundesländern. Das alles kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einen kleineren Teil innerhalb der Gruppe gibt, bei dem die Integration in unsere Gesellschaft bis heute noch nicht gut funktioniert hat. Dort, wo Integrationsprobleme bestehen, sind vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene betroffen, die erst in den vergangenen Jahren und häufig gegen ihren Willen zu uns nach Deutschland gekommen sind. Dort, wo zu geringe Sprachkenntnisse den Weg in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt versperren, da ist auch der Weg in die Gesellschaft versperrt und da treten fast schon zwangsläufig Probleme zutage. Ich will offen ansprechen, dass sich in manchen Gemeinden, wo wie etwa im niedersächsischen Cloppenburg jeder fünfte Einwohner aus einer Spätaussiedlerfamilie stammt, eine Parallelgesellschaft gebildet hat. Laut einer dort tätigen Sozialpädagogin funktioniere das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Aussiedlern nur deshalb, weil sich die Spätaussiedler in einer eigenen Welt eingerichtet haben. Die deutsche Gesellschaft, der deutsche Staat dürfen auf gar keinen Fall in dieselbe Gleichgültigkeit verfallen, wie es in Cloppenburg bereits der Fall ist. Hier ist die Politik gefordert! Denn nur die Politik, so das Fazit der besagten Sozialpädagogin, könne die Parallelgesellschaft von „Russland-Deutschen und Deutschland-Deutschen“ noch aufbrechen. Wie sich auch am Beispiel Cloppenburg zeigt, sind und bleiben die deutschen Sprachkenntnisse das Fundament für eine erfolgreiche Integration. Den Weg, den die Bundesregierung mit dem Nationalen Integrationsplan eingeJochen-Konrad Fromme schlagen hat, weist in die richtige Richtung: Die „Ausländerpolitik“ soll endlich professionalisiert werden, wobei die Integrations- und Sprachkurse ein zentrales Element sind. Die Spätaussiedler haben über Jahrzehnte in ihren Herkunftsgebieten dafür gelitten, dass sie sich als Deutsche verstanden und versucht haben, als Deutsche zu leben. Sie wollen hier unter uns als Deutsche leben; und so sollten wir ihnen auch begegnen. Aus zahlreichen Gesprächen mit Spätaussiedlern bin ich auf zwei Probleme gestoßen, die momentan als die schwerwiegenden Hindernisse wahrgenommen werden: zum einen die Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsabschlüssen und zum anderen die im Rahmen der Familienzusammenführung aufgetretenen Härtefälle. In beiden Fällen muss rasch eine Lösung gefunden werden, was sich die Union auf ihre Fahnen geschrieben hat! „Integration leidet in Deutschland nicht in erster Linie an einem Mangel an Angeboten und erst Recht nicht an zu wenig Regeln und Gesetzen“, äußerte jüngst die Journalistin Merle Hilbk, die selbst Nachfahrin von RusslandDeutschen ist, in einem bemerkenswerten Beitrag in der „taz“, „sondern,“ so Hilbk weiter, „vor allem an einer fehlenden Vorstellung davon, wie das gemeinsame Zusammenleben aussehen könnte - einem Leitbild, das dem Rückzug in Parallelgesellschaften entgegenwirken könnte“. Auch wenn es noch so verpönt ist, von Leitbildern zu sprechen, kommt die deutsche Gesellschaft, vor allem die deutsche Politik, nicht um diese Diskussion herum. Ich erinnere an die gewalttätigen Unruhen in den Vororten von Paris, bei denen vor gerade mal vier Jahren 2 500 Randalierer festgenommen wurden. Heinz Buschkowsky, der Bürgermeister von Neukölln, Berlins Zuwandererhochburg, sagte damals, dass die Ausschreitungen in Frankreich ein Hinweis auf das sein könnten, was uns in 10 bis 15 Jahren drohe. Mehr denn je ist die Gesellschaft, ist die Politik gefordert, stärkere Integrationsbemühungen umzusetzen. Die heute zu beschließende gesetzliche Grundlage ist ein weiterer Schritt in diese Richtung, und daher bitte ich um Ihre Zustimmung.

Maik Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben heute über das 8. Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes zu befinden. Die Vertreibungen infolge des Zweiten Weltkrieges sind ein Thema, das - obwohl seine realen Ereignisse mehr als 60 Jahre zurückliegen - in vielen Aspekten noch Gegenwart ist. Wer das abstreitet, verschließt die Augen zum Beispiel vor den vielfältigen Debatten und Reflexionen in unserer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, ganz unabhängig von Interessenverbänden oder Parteigruppierungen. In neuen Buchpublikationen, Filmen, Presseartikeln findet eine öffentliche Aufarbeitung statt, die sich zunehmend offener und differenzierter mit diesem Kapitel deutscher und europäischer Geschichte befasst. Das Thema Vertreibung betrifft - wie historische Ereignisse überhaupt - ja nicht nur die Menschen, die dies noch selbst unmittelbar erlebt haben, sondern in mancher Weise die nachfolgenden Generationen, unter anderem auch Kinder und Enkel der Betroffenen, die sich zum Beispiel mit psychischen Traumata auseinandersetzen müssen. Wie in vielen Aspekten der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit können nachfolgende Generationen mit dem wachsenden zeitlichen Abstand unaufgeregter, oft genauer und unabhängiger von ideologischen Frontstellungen die Geschichte aufarbeiten. Wir haben zum Beispiel in diesem Hause im vergangenen Jahr über die Errichtung einer Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ entschieden. Die Diskussion um die Gestaltung eines „sichtbaren Zeichens gegen Vertreibungen“ ist noch lange nicht zu Ende - und ebenso das Bestreben, dies im europäischen Zusammenhang, gemeinsam mit unseren betroffenen Nachbarstaaten, zu realisieren. Auch das Bundesvertriebenengesetz hat seine Bedeutung nicht verloren. Es hat seit 1953 vielen Millionen Menschen ermöglicht, nach Deutschland einzureisen und hier zu leben. Die Zahl der Antragsteller nimmt dabei stetig ab. Waren es im Jahre 2005 noch mehr als 35 000, so sank die Zahl im Folgejahr bereits auf 7 700, im Jahre 2007 auf knapp 6 000 und im vergangenen Jahr gingen nur circa 4 400 Anträge ein. Sicher wird sich diese Tendenz so fortsetzen. Dennoch stehen wir weiterhin in der Verantwortung, so wie wir es im Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU formuliert haben: „Wir bekennen uns auch weiterhin zu der Verantwortung sowohl für diejenigen Menschen, die als Deutsche in Ost- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten haben und in ihrer jetzigen Heimat bleiben wollen, als auch für jene, die nach Deutschland aussiedeln.“ Ich darf auch besonders die Kulturförderung betonen, die einerseits der Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in unsere Gesellschaft dient, andererseits aber nach 1989 auch neu ausgerichtet wurde. Denn es gehört zu unserem Selbstverständnis als Kulturnation, dass das kulturelle Erbe der ursprünglichen Siedlungsgebiete von Vertriebenen und Aussiedlern bewahrt wird, ebenso wie die Erinnerung an diese schreckliche Epoche der Flucht und Vertreibung. Das Bundesvertriebenengesetz ist im Laufe der Jahre den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend angepasst worden. Vor zwei Jahren haben wir hier über das 7. Änderungsgesetz debattiert. Damals war über etwa ein Dutzend wesentliche Änderungen zu befinden. Sie betrafen einerseits die nötigen Anpassungen an die fortschreitende Erweiterung der Europäischen Union. Andererseits ging es um die Erweiterung und Modifizierung von Ausschlussgründen für eine Anerkennung nach dem BVG und um entsprechende Regelungen für eine Abfrage bei den Sicherheitsbehörden. Zudem wurden Vereinfachungen und Regelungen für effektivere und unbürokratischere Verwaltungsprozesse festgelegt, die zunehmend von den Ländern auf den Bund, das heißt das Bundesverwaltungsamt, übertragen wurden. Erleichterungen bei der Integration und Regelungen für die jüdische Zuwanderung gehörten ebenfalls zu den Änderungen, die wir damals hier beschlossen haben. Zu Protokoll gegebene Reden Das heute zum Beschluss vorliegende 8. Änderungsgesetz ist von geringerem Umfang. Die vorgeschlagenen Änderungen sollen der Rechtsklarheit und -bereinigung dienen sowie die Verwaltungspraxis weiter vereinfachen. In weiten Teilen beziehen sich die Neuregelungen auf eine Änderung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach es nicht dem Grundgesetz, Art. 16 Abs. 1, widerspricht, einem Spätaussiedler und dessen Angehörigen die Staatsangehörigkeit wieder abzuerkennen, wenn diese durch Täuschung oder wissentlich falsche Angaben erworben wurde. Dies kann mit diesem Gesetzentwurf nunmehr auf fünf Jahre rückwirkend geschehen. Die Antwortfristen der überprüfenden Sicherheitsbehörden im Verfahren werden dabei von bisher mitunter drei Monaten auf nun drei Wochen verkürzt. Damit wird für berechtigte Antragsteller schneller Rechtssicherheit über ihren Status geschaffen, Unberechtigten kommt weiterhin ein quasi vorbehaltliches Aufenthaltsrecht zu. Bei ihnen wird im Verfahren eine Einzelfallprüfung über ihren Status vorgesehen. In den Kreis der zu befragenden Institutionen wird nunmehr auch die Bundespolizei aufgenommen, da sie zu den zentralen Sicherheitsorganen zählt. Ferner wird die vor zwei Jahren festgelegte Befristung für die Geltungsdauer von Übernahmegenehmigungen und vor 1993 erteilten Aufnahmebescheiden wieder aufgehoben. Damit soll verhindert werden, dass ein Druck zur vorzeitigen Ausreise bei Personen entstehen könnte, deren Verbleib in ihren Herkunftsstaaten in unserem Interesse wäre. Besonders sind damit Menschen gemeint, die eine herausgehobene Stellung innerhalb der deutschen Minderheit in diesen Ländern einnehmen. Der weiteren Effektivität der Verwaltungsprozesse dient die Neuregelung, dass das Bundesverwaltungsamt nunmehr auch für die Ausstellung von Altfallbescheinigungen zuständig ist und die Länder weiter von unnötigen parallelen Behördenstrukturen entlastet werden. Eine zusätzliche Neuregelung betrifft die Erweiterung von Möglichkeiten für Integrationshilfen. Zukünftig sollen die Zusatzangebote der Integrationsmaßnahmen auch den sogenannten weiteren Familienangehörigen nach § 8 offenstehen. Damit soll die Integration unter Wahrung der Familieneinheit erleichtert werden. Mit den in diesem Änderungsgesetz zu beschließenden durchaus unspektakulären Neuregelungen wird das Bundesvertriebenengesetz in der nötigen Weise an die aktuellen Bedürfnisse angepasst. Ich denke, dass diese Neuregelungen nachvollziehbar und schlüssig sind. Für die Betroffenen - die Spätaussiedler und ihre Angehörigen bedeuten sie weitere Verbesserungen; sie dienen damit dem sinnvollen Funktionieren des Gesetzes entsprechend den gesellschaftlichen Anforderungen. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir befassen uns heute mit dem Achten Gesetz zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Im Folgenden möchte ich vier Aspekte näher beleuchten, weil sie meines Erachtens besonders wichtig sind. Es geht um die neu geschaffene Rücknahmevorschrift, die Verkürzung von Bearbeitungszeiten, die Ausweitung der Integrationsleistungen sowie die Einbeziehung der Bundespolizei in die Sicherheitsbehörden, die bereits nach der siebten Änderung erweiterte Abfragemöglichkeiten bekamen. Insgesamt enthält der Gesetzentwurf viele sinnvolle Regelungen, jedoch sind die Informationsübermittlung an Sicherheitsbehörden und neuerdings die Erweiterung des Kreises zuständiger Behörden der Grund, warum die FDP ihre Zustimmung verweigern muss. In der Tat ist es gelungen, mit den Änderungen des Bundesvertriebenengesetzes Rechtsklarheit und Vereinfachung der Verwaltungspraxis zu bringen. Die nunmehr geschaffene Regelung zur Rücknahme von Spätaussiedler- und Angehörigenbescheinigungen ist zwar bereits im Staatsangehörigkeitsrecht zu finden, dient jedoch der Verständlichkeit und ist daher zu begrüßen. Die entsprechende Regelung im Staatsangehörigkeitsgesetz hat die FDP lediglich abgelehnt, weil sie mit einer völlig unnötigen Strafvorschrift verbunden wurde. Dies ist hier glücklicherweise nicht geschehen. Die Verkürzung des Verfahrens zur Ausstellung einer Spätaussiedler- oder Angehörigenbescheinigung von derzeit zwei bis drei Monate auf zwei bis drei Wochen gibt nicht nur den Betroffenen schneller Rechtssicherheit, sondern dient auch der Disziplinierung der Behörden. In dem Änderungsantrag der Großen Koalition wurden zusätzliche Integrationsleistungen für die Familien einbezogen, was nun auch Gegenstand des Regierungsentwurfs ist und voll und ganz zu unterstützen ist. Die FDP begrüßt ausdrücklich alle Maßnahmen, die zu einer weiteren Verbesserung der Integration beitragen. Jetzt ist aber Schluss mit den Lobgesängen. Bedauerlicherweise enthält der Gesetzentwurf eine Regelung, die wir schon bei der letzten Änderung des Bundesvertriebenengesetzes gerügt haben. Damals wurden erweiterte Abfragemöglichkeiten für Sicherheitsbehörden zur Feststellung von Ausschlussgründen geschaffen, insbesondere für die Fälle von Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Nun wird auch noch die Bundespolizei in den Katalog der zu beteiligenden Sicherheitsbehörden aufgenommen. In dem begründenden Teil des Gesetzentwurfs heißt es, der Entwurf diene der Rechtsklarheit und -bereinigung. Das hört sich gut an. Das hört sich harmlos an. Und fast überliest man, dass jetzt auch die Bundespolizei an dem Informationsfluss beteiligt werden soll. Erstens erschließt sich mir nicht die Notwendigkeit einer solchen Vorschrift. Zweitens kann ich noch weniger nachvollziehen, warum diese Befugnisse weiter ausgedehnt werden. Der unbegründete Verdacht terroristischer Tendenzen bei Spätaussiedlern wird fortgesetzt, was mir äußerst befremdlich erscheint. Sie erlauben mir den Hinweis darauf, dass laut der Kriminalitäts- und Integrationsstatistiken Spätaussiedler keine besondere Problemgruppe darstellen und sich insgesamt gut in unsere Gesellschaft integrieren. Noch weniger kann man behaupten, dass vertriebenenrechtliche Aufnahmeverfahren als Einfallstor für Extremisten und Terroristen gelten. Zu Protokoll gegebene Reden Und falls doch, wäre die Bundesregierung schon bei der letzten Gesetzesänderung in der Pflicht gewesen, zu begründen, wie viele Extremisten oder Terroristen in der Vergangenheit versucht haben, über das Verfahren nach dem Bundesvertriebenengesetz Aufnahme in Deutschland zu erlangen. Es bestehen jedoch keine Zweifel daran, dass der Zuzug von Schwerkriminellen gesetzgeberisch verhindert werden muss. In diesem Zusammenhang möchte sich die FDP einer vernünftigen Lösung selbstverständlich nicht verschließen. Allerdings lehnen wir strikt ab, wenn hinterrücks Abfragemöglichkeiten und der damit verbundene Ausbau des Informationsaustausches eingefügt werden. Aus diesen Gründen muss sich die FDP leider enthalten.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir beraten heute abschließend den Entwurf für die 8. Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Im Wesentlichen geht es dabei um drei Änderungen: die Bundespolizei soll in die Sicherheitsüberprüfung von Spätaussiedlern miteinbezogen werden. Zugleich werden die Fristen, innerhalb derer die Sicherheitsbehörden der Anerkennung der Spätaussiedlereigenschaft widersprechen können, deutlich verkürzt. Und es wird nun eine gesetzliche Grundlage für die Rücknahme der Bescheinigung über die „Spätaussiedlereigenschaft“ geschaffen. Lassen Sie mich mit dem letzten Punkt beginnen. Zunächst einmal ist eine gesetzliche Regelung für die Rücknahme der Bescheinigung ein Fortschritt gegenüber der aktuellen Situation. Denn es wird in dieser Frage überhaupt erst mal eine klare Rechtslage geschaffen. Analog zum Staatsangehörigkeitsgesetz wird die Möglichkeit der Rücknahme auf einen Zeitraum von fünf Jahren beschränkt. Wir stellen uns allerdings die Frage, warum es überhaupt eine Regelung zur Rücknahme der Spätaussiedlereigenschaft geben muss. Die Bundesregierung sagt in der Begründung nichts darüber, ob es in der Vergangenheit etwa eine signifikante Anzahl an Bescheinigungen gegeben hat, die im Nachhinein umstritten waren. Die Regelung über den Widerruf der Spätaussiedlereigenschaft wurde gleich ganz gestrichen, weil sie nie zur Anwendung kam. Ob diese neue Regelung je zur Anwendung kommen wird, ist also völlig offen. Zur Überprüfung durch Polizei und Geheimdienste: Die Linksfraktion lehnt die pauschale und verdachtsunabhängige Durchleuchtung der Spätaussiedler im Rahmen des Anerkennungsverfahrens generell ab. Nun müssen die Sicherheitsbehörden allerdings wesentlich schneller ihre Bedenken äußern als nach der alten Rechtslage. Das finden wir richtig, weil es die Betroffenen entlastet. Allerdings hätten Sie auch hier in der Begründung etwas mehr liefern können, was die bisherigen Ergebnisse dieser Überprüfungen angeht. Nun soll auch noch die Bundespolizei beteiligt werden, laut Gesetzesbegründung, um die Übersiedlung von „Schwerkriminellen und gewaltbereiten Extremisten“ zu verhindern. Damit wird der Eindruck erweckt, unter den Spätaussiedlern seien in so großer Zahl Kriminelle und Extremisten, dass deren ungebremste Einwanderung verhindert werden muss. Das ist doch wohl eindeutig nicht der Fall. Der gesetzgeberische Handlungsbedarf ist nicht überzeugend dargelegt. Deshalb wird sich die Linksfraktion enthalten. Ich will noch zu einem Nebenaspekt dieses Gesetzes etwas sagen. Menschen aus osteuropäischen Staaten konnten sich früher einen Aufnahmebescheid der Bundesrepublik ausstellen lassen, auch wenn sie gar nicht direkt übersiedeln wollten. Diese Aufnahmebescheide gelten unbefristet. Da mit der Möglichkeit der Übersiedlung das Kriegsfolgenschicksal der Betroffenen gelindert werden sollte, hat der Gesetzgeber 2007 zu Recht gesagt: Wer in einem EU-Mitgliedstaat lebt, der muss sich bis Ende 2009 entscheiden, ob er nun übersiedeln will oder nicht. Danach verfällt der Bescheid, der die Spätaussiedlereigenschaft bestätigt. Ein Kriegsfolgenschicksal muss ja nun nicht mehr ausgeglichen werden. Aber jetzt, keine zwei Jahre später, soll diese Befristung wieder aufgehoben werden. Die Bundesregierung begründet dieses Ansinnen auf eine höchst fragwürdige Art und Weise: … damit hierdurch nicht Personen, deren weiterer Verbleib in ihren Herkunftsstaaten im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegt, zu einer vorzeitigen Ausreise veranlasst werden. Dies betrifft insbesondere Personen, die eine herausgehobene Stellung innerhalb der deutschen Minderheiten im Herkunftsgebiet haben. Diese Sätze klingen in meinen Ohren doch sehr nach „Fünfter Kolonne“ und nach Sicherung von Einfluss in den osteuropäischen Staaten, indem man die dort lebenden deutschen Minderheiten instrumentalisiert. Unter dem Deckmantel des Minderheitenschutzes will man hier anscheinend einen Fuß in der Tür halten. Das zeigt, dass die deutsche Politik gegenüber den deutschen Minderheiten in Osteuropa noch immer nicht von den Überresten einer überkommenen Volkstumspolitik entschlackt ist. Die Koalitionsfraktionen hätten gut daran getan, solchen Quatsch aus der Gesetzesbegründung herauszustreichen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden den Änderungen im Bundesvertriebenen- gesetz zustimmen, weil wir eine tatsächliche Verbesse- rung für die von dem Gesetz betroffenen Menschen sehen. Die bislang völlig unangemessene Wartezeit von meh- reren Monaten für die Prüfung der Spätaussiedlerbe- scheinigungen und der Angehörigenbescheinigungen soll erheblich verkürzt werden. Wir werden prüfen, ob damit das im Gesetz angekündigte Ziel, eine verbindliche Ent- scheidung innerhalb von drei Wochen zu treffen, in der Praxis wirklich erreicht wird. Insbesondere die Sicher- heitsbehörden sollten eigentlich in der Lage sein, Sicher- heitsbedenken innerhalb einer kurzen Frist vorzutragen. Es kann nicht sein, dass die Sicherheitsüberprüfungen, die in der Regel ein Routinevorgang sind, zu so erhebli- chen Verfahrensverzögerungen führen. Die Aufhebung der Befristung von vertriebenenrecht- lichen Altbescheiden fordern wir seit langem. Wir begrü- ßen, dass dies jetzt umgesetzt wird. Ob wir die Regelung Zu Protokoll gegebene Reden zur Rücknahme der Bescheinigungen wirklich brauchen, muss die Praxis zeigen. Wir halten sie nicht für erforder- lich. Das ist für uns aber kein hinreichender Grund, den Gesetzentwurf abzulehnen. Entscheidend für unsere Zustimmung ist allerdings der Änderungsantrag, den die Koalitionsfraktionen noch in den Innenausschuss eingebracht haben. Wir brauchen weitere Anstrengungen bei der Integration der Spätaus- siedler. Es ist nicht vernünftig, einzelne Personen oder Personengruppen von dem Zugang zu Sprach- und Inte- grationskursen auszuschließen. Diejenigen, die kommen und bleiben dürfen, ganz gleich, ob als Spätaussiedler oder im Rahmen des Familiennachzuges, müssen glei- chermaßen Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben. Es kann nicht sein, dass in Familienverbünden ein Teil Deutsch lernen soll und der andere Teil nicht an Deutsch- kursen teilnehmen darf. Es ist zu begrüßen, dass wir für die Aufnahme von Spät- aussiedlern und deren Angehörigen klarere Regelungen schaffen, dass wir durch die Zusammenfassung von Zu- ständigkeiten zu einer Verfahrensbeschleunigung kom- men und den Zugang zu Integrationsmaßnahmen verbes- sern. Wenn die Große Koalition vernünftige Vorschläge macht, gibt es keinen Grund, dagegen zu stimmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/13015, den Gesetzentwurf der Bundesregie- rung auf Drucksache 16/12593 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Da- mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu- stimmung der Koalitionsfraktionen und des Bündnis- ses 90/Die Grünen angenommen. Gegenstimmen gab es nicht. Enthalten haben sich FDP und Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetz- entwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmer- gebnis wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth ({1}), Volker Beck ({2}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Unterwasserlärm stoppen - Drucksachen 16/5117, 16/7168 Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Angelika Brunkhorst Undine Kurth ({3}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Undine Kurth ({5}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einführung eines Europäischen Tags der Meere - Drucksachen 16/8213, 16/12654 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Kaster Michael Link ({6}) Alexander Ulrich Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll gegeben: Bernhard Kaster, Ingbert Liebing, Christoph Pries, Kurt Bodewig, Hans-Michael Goldmann, Eva Bulling-Schröter und Rainder Steenblock.

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bereits vor ziemlich genau einem Jahr haben wir uns hier im Plenum in erster Lesung mit dem zweiten Teil der heutigen Tagesordnung, dem Grünen-Antrag für die Einführung eines Europäischen Tages der Meere, näher befasst. Ich will das damals Gesagte an dieser Stelle nur nochmals kurz skizzieren und mich nicht in Wiederholungen ergehen. Faktum jedenfalls ist und bleibt, auch nach der Behandlung dieses Antrags in den Ausschüssen: Er ist natürlich gut gemeint. Indes: Gut gemeint genügt oftmals nicht. So verhält es sich auch hier. Politisch wird - dies ist an dieser Stelle erneut zu unterstreichen - der allgemeinen Stoßrichtung des Antrags der Grünen längst gefolgt. Ich verweise in diesem Zusammenhang etwa auf die Anstrengungen während der deutschen EU-Präsidentschaft vor bereits zwei Jahren, als mit der „Bremer Erklärung zur Zukunft der Meerespolitik in der EU“ wesentliche Impulse für eine integrierte Meerespolitik gegeben wurden. Es folgte dann eine Mitteilung der Europäischen Kommission zur integrierten Meerespolitik der EU mit einer ganzen Reihe interessanter Anstöße. Die Reihe lässt sich weiter fortsetzen. Längst werden weitere, ergänzende Bereiche behandelt, wird die ganze Thematik vertieft, ergänzt und ausgeweitet. Ganz aktuell etwa hat sich erst vor wenigen Wochen der Rat der EU-Agrarminister mit einer Mitteilung der Kommission zur nachhaltigen Zukunft der Aquakultur befasst, zu denen möglicherweise noch unter tschechischer Präsidentschaft entsprechende Schlussfolgerungen verabschiedet werden können. Mit der Vorlage des Grünbuchs der Europäischen Kommission zur Gemeinsamen Fischereipolitik steht zudem auch dieser für den Zustand der Meere ganz wesentliche und bekanntermaßen schwierige Bereich vor einer grundlegenden Neuausrichtung. Die Diskussion im Rat dazu hat begonnen, und Deutschland wird sich dazu konstruktiv einbringen. Daran zeigt sich: Die von den Grünen eingeforderte Politik für die Meere findet längst statt, in einem umfassenden, nachhaltigen Sinne. Auf vielen Ebenen - europäisch, national, regional, lokal - wird intensiv an einer integrierten und in sich stimmigen Politik für die Zukunft unserer Meere gearbeitet. Der mit der „Bremer Erklärung“ begonnene Prozess hat eindrucksvoll Gestalt angenommen. Natürlich betrifft, darüber sind wir in der CDU/CSUFraktion uns völlig im Klaren, vor allem uns Deutsche als Anrainer von Nord- und Ostsee die Gefährdung der Weltmeere ganz konkret. Das heißt für uns etwa, insbesondere das sensible Ökosystem Wattenmeer zu schützen. Zugleich, das will ich ausdrücklich nochmals für meine Fraktion hier hervorheben, kommt es ganz entscheidend darauf an, alle politischen, gesetzgeberischen wie administrativen Maßnahmen, gleich ob auf europäischer, nationaler oder regionaler Ebene, stets in Kooperation mit den Bewohnern der Küsten zu ergreifen. Es sind die Menschen vor Ort, deren unschätzbares Erfahrungswissen wir uns - und dies halte ich anlässlich dieser Debatte im europäischen Maßstab für sinnvoll - zunutze machen müssen. Keine Frage: Wir dürfen uns nicht auf dem bereits Erreichten ausruhen. Die europäische Politik für die Meere, von Deutschland ganz entscheidend initiiert und weiter vorangetrieben, muss fortgeführt und ausgestaltet werden. Genau darauf, auf das konkrete Handeln, die konkrete Tat im Austausch mit den Menschen vor Ort, die an den Meeren und vielfach als Fischer auch von den Meeren leben, kommt es an.

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute hier debattieren, ist schon mehr als zwei Jahre alt. Die seismischen Untersuchungen im Naturschutzgebiet Doggerbank, deren sofortiger Stopp gefordert wird, waren im Mai 2007 bereits abgeschlossen. Jetzt haben wir Mai 2009. Auch über den Einsatz von US-Kriegsmarineschiffen mit Mittelfrequenzsonar in der Ostsee zur Bewachung des im Juni 2007 stattfindenden G-8-Gipfels in Heiligendamm, der in dem Antrag kritisiert wird, brauchen wir wohl nicht mehr zu sprechen. Damit ist der Antrag der Grünen nicht nur alt, sondern auch veraltet und überholt. Ebenfalls vor zwei Jahren, am 27. März 2007, haben die Fraktionen CDU/CSU und SPD in dem gemeinsamen Antrag „Schutz der Wale sicherstellen“ - Drucksache 16/48431 - unter anderem konkrete Maßnahmen zum verbesserten Schutz aller Walarten, inklusive kleinerer Wale und Delfine, gefordert. Hierin wurde besonders auch vor den negativen anthropogenen Einflüssen wie zum Beispiel Verschmutzung, Beifang und Lärm gewarnt. Am 10. Mai 2007 hat der Deutsche Bundestag diesen Antrag inklusive der Forderung nach einem wirksamen Monitoring dieser Maßnahmen angenommen. Dies macht deutlich, dass wir als Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung das Thema Unterwasserlärm längst aufgegriffen haben und es einer Aufforderung durch die Grünen nicht bedarf. Dennoch gibt es durchaus positive Ansätze in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Dazu gehören unter anderem die Forderungen nach einer stärkeren Forschung über Umweltauswirkungen von Unterwasserlärm. Auch stimme ich der Entwicklung und Erprobung von Vermeidungs- und Minimierungsmaßnahmen zu. Das ist auch eine Aufgabe der europäischen Ebene. Die Bundesregierung hat - nicht zuletzt aufgrund unseres eben angesprochenen Antrages auch diesbezügliche Aktivitäten ergriffen, etwa im Rahmen des am 10. Oktober 2007 vorgelegten Blaubuchs zur integrierten EU-Meerespolitik mit dem dazugehörigen Aktionsplan und im Rahmen der EU-MeeresstrategieRichtlinie. Beim Unterwasserlärm ist eine Vielzahl von Faktoren zu beachten. Neben militärischen Aktivitäten sind hier der Schiffsverkehr, der Bau und Betrieb von OffshoreWindparks, die maritime Erdöl- und Gasförderung und auch die Sand- und Kiesgewinnung zu nennen. Auch seismische Untersuchungen im Zusammenhang mit maritimen Erdöl- und Erdgasquellen gehören dazu. Diesen vielfältigen Faktoren wird man mit Pauschalurteilen nicht gerecht, wie wir sie im Antrag der Grünen lesen. Als Beispiel ist hier ihr Wunsch zu nennen, „anthropogenen Unterwasserlärm in Schutzgebieten und in hochfrequentierten Aufenthaltsgebieten von geschützten maritimen Arten nicht mehr zu genehmigen“. Würden wir dieser Forderung zustimmen, wäre eine Genehmigung von Offshore-Windparks in wesentlichen Bereichen der Nordund Ostsee ausgeschlossen. An diesem Beispiel wird die widersprüchliche Politik der Grünen deutlich. Der erste Offshore-Windpark in der Nordsee ist in der Amtszeit von ihrem eigenen Bundesumweltminister Jürgen Trittin zur Genehmigung vorbereitet worden. Im Anschluss daran sind genau in den genehmigten Gebieten FFH-Schutzgebiete ausgewiesen worden. Und erst jetzt erfolgt die Raumplanung für die AWZ, die eigentlich am Anfang hätte stehen müssen: der zweite Schritt vor dem ersten. Raumplanerisch ist das ein Riesenblödsinn. Einerseits wollen sie den Ausbau regenerativer Energien, andererseits behindern sie ihn zum Beispiel durch einen derartigen Forderungskatalog in ihrem Antrag. Wenn sie es dennoch tun, können sie kaum Zustimmung erwarten. Sie setzen sich dann nämlich dem Verdacht aus, ihre Hausaufgaben nicht ordentlich erledigt zu haben. Politik muss immer eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte berücksichtigen und in sich stimmig sein. Ich weiß, Kompromisse sind nicht immer leicht zu finden, aber gegensätzliche Forderungen aus der gleichen Fraktion werden der Anforderung an eine seriöse Politik nicht gerecht. Die Bundesregierung engagiert sich beim Thema Unterwasserlärm. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt sie dabei. Das Bundesumweltministerium führt derzeit mehrere Forschungsaufträge zum Thema Unterwasserlärm durch. Es laufen Aufträge über die Lärmbelästigung im Zusammenhang mit Offshore-Windanlagen. Im Zusammenhang Zu Protokoll gegebene Reden mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee arbeiten die verschiedenen beteiligten Ministerien zusammen. Darüber hinaus benötigen wir dringend wissenschaftliche Grundlagen für fundierte Standards zum Meeresschutz. Daher unterstütze ich ausdrücklich den Einsatz des BMU und des Bundesamtes für Naturschutz, mit dem in konkreten Fällen die Lärmbelastungen heimischer Wale bereits minimiert werden konnten. Dafür können auch neue technologische Entwicklungen genutzt werden. Ich hoffe, dass auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Forschung so bald wie möglich konkrete Verbesserungen bei der Lärmbelastung von Walen, insbesondere des heimischen Schweinswales, erreicht werden können. Dafür sind wir auf einem guten Weg - auch ohne den längst überholten und veralteten Antrag der Grünen, den wir nur ablehnen können.

Christoph Pries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003874, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir diskutieren heute über den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen „Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Unterwasserlärm stoppen“. In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich national und international für die Bekämpfung der anthropogenen Verlärmung der Meere einzusetzen. Das Problem ist seit langem bekannt und fraktionsübergreifend grundsätzlich wenig umstritten. Dies wurde auch in der Debatte zum Walschutz am 10. Mai 2007 deutlich. Damals haben wir uns einstimmig für einen verbesserten Schutz der Wale ausgesprochen. Unter anderem enthält der damals angenommene Antrag „Schutz der Wale sicherstellen“ die Forderung an die Bundesregierung, sich für „konkrete Maßnahmen zum verbesserten Schutz aller Walarten vor negativen anthropogenen Einflüssen, wie zum Beispiel Verschmutzung, Beifang oder Lärm“ einzusetzen. Wir unterstützen diese Forderung, sehen aber auch die Schwierigkeiten bei der Umsetzung im Rahmen einer „Technischen Anweisung ({0}) Unterwasserlärm“ auf nationaler und im Rahmen völkerrechtlich bindender Vereinbarungen auf internationaler Ebene. Die pauschalen und zum Teil bereits überholten Forderungen in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden der komplexen Problematik nicht gerecht. Darüber hinaus sind einige Forderungen bereits erfüllt worden. Wir lehnen den Antrag daher ab. Trotzdem möchte ich betonen, dass die zunehmende Verlärmung der Meere auch für die SPD-Bundestagsfraktion ein wichtiges Thema ist. Wir begrüßen deshalb die Forschungsförderung des Bundesumweltministeriums zum Thema Unterwasserlärm. Die Bundesregierung trägt damit dazu bei, die dringend notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen für fundierte Standards zu legen. Darüber hinaus begrüßen wir den Einsatz des BMU und des Bundesamtes für Naturschutz, um in konkreten Fällen die Lärmbelastungen für die heimischen Wale zu minimieren, so zum Beispiel beim G-8-Gipfel in Heiligendamm - Vermeidung von Sonareinsatz durch amerikanische Kriegsschiffe - oder bei der Minenräumung vor der Ostseeküste. Besonders erfreulich ist auch, dass es gelungen ist, auf der 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention zum Schutz wandernder Tierarten ({1}) Anfang Dezember 2008 eine Resolution zum Thema Unterwasserlärm zu verabschieden. Darüber hinaus werden im Rahmen des Abkommens zum Schutz der Kleinwale in Nord- und Ostsee, ASCOBANS, derzeit Leitlinien zur Minderung von Unterwasserlärm entwickelt, die auf der nächsten Vertragsstaatenkonferenz im Jahr 2010 vorgestellt werden sollen. Die SPD-Bundestagsfraktion hofft, dass auf der Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Forschung und der Diskussionen im Rahmen von CMS und ASCOBANS baldmöglichst konkrete Verbesserungen hinsichtlich der Lärmbelastung von Walen und insbesondere des heimischen Schweinswales erreicht werden können. Wir unterstützen das BMU bei den diesbezüglichen Anstrengungen auf nationaler und internationaler Ebene.

Kurt Bodewig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003051, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Am 20. Mai 2009 feiert der „Europäische Tag der Meere“ seinen ersten Geburtstag. Dessen Einführung wurde im letzten Jahr in einer gemeinsamen Dreiererklärung von den Präsidenten der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union beschlossen und wird nun jedes Jahr feierlich begangen. Hintergrund ist, Bewusstseinsbildungs- und Netzwerkaktivitäten zu organisieren, die den Menschen die Bedeutung der Meere näherbringen und die Sichtbarkeit maritimer Angelegenheiten in Europa stärken. Deshalb ist an der grundsätzlichen Idee der Grünen in ihrem vorliegenden Antrag nichts auszusetzen. Durch die Einführung eines „Europäischen Tages der Meere“ in Deutschland einen konkreten öffentlich wahrnehmbaren Schritt zu unternehmen, um ein Bewusstsein für das gemeinsame maritime Erbe zu schaffen, ist ja grundsätzlich nicht falsch. Aber ich muss an dieser Stelle fragen, warum es hier explizit eines deutschen europäischen Tages der Meere bedarf? Ich denke, dass es nicht zielführend ist in Zeiten, in denen wir ein gemeinsames Europa anstreben, in jedem Land einen nationalen Tag zu zelebrieren. Ein gemeinsamer „Europäischer Tag der Meere“, der europaweit in allen Mitgliedstaaten an vielen Orten begangen wird, ist nach meiner Ansicht die bessere Lösung. So habe ich die Freude, am kommenden Dienstag als Chairman des internationalen „Baltic Sea Forums“ in der Landesvertretung Hamburg diesen Tag mit einer Veranstaltung zum Thema „Die EU-Ostseestrategie - das Meer als Chance“ zu begehen. Weitere Veranstaltungen anlässlich des „Europäischen Tags der Meere“ fanden im Vorfeld und in den Tagen um den 20. Mai allein in Deutschland in Berlin, Kiel, Hamburg, Rostock und Bremen statt. Warum sollten wir dies auf eine einzige Bundesveranstaltung eindampfen? Manche könnten sich fragen, warum ein europäischer Mitgliedstaat wie beispielsweise Österreich den „Europäischen Tag der Meere“ feiern sollte. Die Antwort darauf ist einfach. Denn der maritime Sektor beschränkt sich keineswegs nur auf Küstenregionen. Die ZuliefererZu Protokoll gegebene Reden industrie für die maritime Wirtschaft ist auch weit weg von den Küsten angesiedelt. Deshalb und weil die Meere und das maritime Erbe von unschätzbarem Wert für die Bevölkerung Europas sind, sollte der „Europäische Tag der Meere“ als europäischer und nicht als nationaler Feiertag betrachtet werden. Mir gefällt der Gedanke, dass sich europaweit in den Mitgliedstaaten Veranstaltungen mit der Bedeutung der Meere auseinandersetzen und diese auch der breiten Öffentlichkeit vermitteln. Denn wir alle sollten die vielfältige Bedeutung der Meere nicht unterschätzen. Europa ist von 70 000 Kilometern Küste umgeben. Mehr als zwei Drittel seiner Grenzen sind Küsten, und mehr als 40 Prozent von Europas BIP wird in Küstenregionen erwirtschaftet. Zudem leben mehr als 50 Prozent der europäischen Bevölkerung in Küstenregionen. Eine gemeinsame europäische Meerespolitik ist also wirklich wichtig, wenn Europa weiterhin so erfolgreich sein möchte, wie es ist. Denn 90 Prozent des Außenhandels und 40 Prozent des Binnenhandels erfolgen über den Seeweg. Trotz der aktuellen Finanzkrise bewältigen europäische Häfen jährlich 3,5 Milliarden Tonnen Fracht, und etwa 350 000 Menschen sind in der Hafenwirtschaft beschäftigt. Im Fischsektor sind es weitere 526 000 Arbeitnehmer. Und auch der Küstentourismus bringt jährlich 72 Milliarden Euro in Europas Kassen. Die Meere und Ozeane haben also eine strategische Bedeutung für die europäische Wirtschaft. Die unterschiedlichen Sektoren Schiffbau und Schifffahrt, Häfen und Fischerei, Offshoreenergie, Fremdenverkehr, Umwelt und maritimes Erbe sind jeder für sich von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Ergänzt wird dies durch die Synergien zwischen diesen Sektoren. Im Blaubuch der KOM vom 10. Oktober 2007 „Eine integrierte Meerespolitik für die Europäische Union“ wurde auf die strategische Bedeutung der Meere und Ozeane für die europäische Wirtschaft hingewiesen. In Zeiten der Globalisierung, der Finanzkrise und der Piraterie, aber auch des technologischen Fortschritts und des Klimawandels ist eine gemeinsame europäische Meerespolitik ein Muss. Ich habe das Gefühl, dass sich auch im technologischen Bereich in den kommenden Jahren einiges bewegen wird. Die Meere sind ein noch in weiten Teilen unentdeckter Forschungsbereich, und die Potenziale, die die europäischen Mitgliedstaaten hier gemeinsam noch entwickeln und nutzen können, sind groß. Gerade - aber nicht nur - für den Bereich der erneuerbaren Energien wird hier sicher noch ein großer Nutzwert entstehen, der auch unserem Klima zugutekommen wird. Jeder Mitgliedstaat für sich wäre wahrscheinlich mit der Ausschöpfung dieser Potenziale überfordert. Doch durch die Kombination ihres Wissens und ihrer Technologien kann Europa wettbewerbsfähig sein. Der Zusammenschluss bzw. die Kooperation von Universitäten und Unternehmen aus elf Staaten im Ostseeraum ist ein gutes Beispiel. Auch für den logistischen Bereich entwickeln sich die Meere zu einer unverzichtbaren Alternative zur Schiene. Wie bereits erwähnt, erfolgen 90 Prozent des europäischen Außen- und 40 Prozent des Binnenhandels auf dem Seeweg. Die Frachtmengen, die an europäischen Häfen bewältigt werden, sind immens. Dass die Europäische Union zukünftig verstärkt auf die Schifffahrt setzt, um die bevorstehenden Verkehrszuwächse ökologisch verträglich und kostengünstig bewältigen zu können, begrüße ich. Problembereiche wie der Klimaschutz und der Schutz der Meeresumwelt und die Bekämpfung von Piraterie lassen sich, wie man an der erfolgreichen Arbeit der Organisation HELCOM im Bereich der Umwelt und der Atalanta-Mission der Europäischen Union zur Bekämpfung der Piraterie vor den Küsten Somalias sieht, am besten gemeinsam bekämpfen und lösen. Gerade deshalb plädiere ich noch einmal dafür, den „Europäischen Tag der Meere“ dort zu belassen, wo er hingehört: auf der europäischen Ebene. Dort wird er auch in diesem Jahr in großem Stil begangen. Ich selbst freue mich sehr darauf, auf der Stakeholder Conference, die anlässlich dieses Tages am 20. Mai in Rom stattfindet, zu Gast zu sein. In einer Vielzahl von Paneldiskussionen, Workshops und Gesprächen, aber auch bei den vielen Veranstaltungen, die anlässlich des „Europäischen Tages der Meere“ in ganz Rom stattfinden werden, wird es öffentlichkeitswirksam um die Bedeutung der Meere für Europa gehen. Die Meerespolitik ist ein europäisches Anliegen.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die wirtschaftliche Nutzung der Meere hat stark zugenommen, wobei auch neue Interessen wie Seewindkraft, Meeresbergbau, Meeresschutzgebiete etc. an Bedeutung gewinnen. Verschiedene Nutzungsansprüche entwickeln sich teilweise gegenläufig und geraten in Konkurrenz zueinander. Die FDP-Bundestagsfraktion hat im Februar 2007 eine öffentliche Anhörung zur Meerespolitik der EU durchgeführt, deren Ergebnisse in unseren Antrag „Schutz und Nutzung der Meere - Für eine integrierte maritime Politik“, Drucksache 16/4418, eingeflossen sind. Nutzung und Schutz müssen sich nicht ausschließen. Es gilt jeweils eine sinnvolle und vernünftige Abwägung divergierender Interessen vorzunehmen. So enthält der Antrag zum Schutz der Meeresumwelt durch Unterwasserlärm durchaus viel Richtiges. Die FDP unterstützt sowohl die Forderung nach Verstärkung der Forschungsanstrengungen als auch die Forderung nach der Intensivierung der Entwicklung und Erprobung von Vermeidungs- und Vergrämungsstrategien. Wie sich aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage „Schutz der Meeresumwelt beim Bau deutscher Offshore-Windparks“, Drucksache 16/10959, ergibt, besteht im Hinblick auf das Ziel Konsens, und es wird auch schon manches unternommen, um die Meeresumwelt vor Unterwasserlärm zu schützen. Da der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen teilweise veraltet ist, enthalten wir uns insoweit der Stimme. Bei vielen Bürgern ist die dynamische Entwicklung der Meere und des maritimen Bereichs noch nicht angekommen. Vielfach ist noch unklar, welche Bedeutung die Zu Protokoll gegebene Reden Meere haben, dass sie nicht nur für das Weltklima und die Umwelt insgesamt von entscheidender Bedeutung sind, sondern auch für unseren wirtschaftlichen Wohlstand. Während der Nutzen der Meere, der Nutzen ökologisch intakter Meere immerhin den meisten Menschen an der Küste schon lange klar ist, haben die Binnenländer hier noch einiges aufzuholen. Es fängt schon bei etwas so Profanem an, dass zwei Drittel der Wertschöpfung im Schiffbau gar nicht in den Küstenländern, sondern bei Firmen im Binnenland erfolgen. Die FDP begrüßt deshalb, dass die EU-Kommission mit dem 20. Mai den „Europäischen Tag der Meere“ aus der Taufe gehoben hat. Die Meeresregionen mit ihren vielfältigen Ökosystemen sind unterschiedlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt. Trotz einiger Erfolge ist der Schutz der Meere und Küsten nach wie vor eine große Herausforderung. Die Schäden, die den Küstenregionen durch Schadstoffeinträge durch die Flüsse, auch aus dem Binnenland, zugefügt werden, sind oft irreparabel. Ein Beispiel ist ein immer noch zu hoher Nährstoff- und Schwermetalleintrag. Die politische Entscheidungsfindung zum Schutz der Meere kann nur unter der Betrachtung des ganzen Ökosystems erfolgen, und dafür bedarf es eines umfassenden Verständnisses von der Bedeutung der Meere. Ein solcher Tag muss mit Leben gefüllt werden, wenn er einen Sinn ergeben soll. Dieser Tag könnte Anlass für deutsche Regionen und Städte sein, sich ein Programm zu überlegen, das einerseits die Bürger aufklärt und andererseits touristische Akzente setzt. Schulen und Hochschulen könnten ihn künftig sinnvoll begleiten. Ob es Aufgabe gerade der Bundesregierung ist, ein Konzept vorzulegen, wie mit einem Tag der Meere ein Bewusstsein für das maritime Erbe auch auf europäischer Ebene geschaffen werden kann - wie dies von den Grünen gefordert wird -, ist zweifelhaft. Wegen der Kultushoheit der Länder wäre es sinnvoll, wenn die Bundesländer Konzepte erarbeiten, wie sie diesen Tag durch entsprechende Angebote und Anreize gestalten können. Insofern enthalten wir uns auch bei diesem Antrag der Stimme.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linksfraktion unterstützt den Antrag der Grünen, der auf einen Vorschlag der Europäischen Kommmission, des Rates und des EU-Parlaments zurückgeht. Ein „Europäischer Tag der Meere“, der festlich begangen wird, könnte dazu beitragen, ein Bewusstsein für das gemeinsame maritime Erbe zu schaffen. Ein solches Bewusstsein wäre auch mehr als notwendig. Schließlich ist die Bilanz der menschlichen Eingriffe in die unterseeische Welt katastrophal. In den letzten hundert Jahren sind die Bestände vieler Fischarten um fast 90 Prozent zurückgegangen, schätzen Wissenschaftler. Weil sich das Ganze jedoch fernab und unter der Wasseroberfläche abspielt, wird es für viele Menschen wenig greifbar. Das ist beispielsweise beim Waldsterben anders. Lichte Kronen und Mittelgebirge mit Baumstümpfen sind sichtbar. Sie haben viele Bürgerinnen und Bürger für den „sauren Regen“ und Luftschadstoffe sensibilisiert. Der öffentliche Druck war es vor allem, der zur Verschärfung der entsprechenden Grenzwerte für Industrie- und Verbrennungsanlagen geführt hat. Genau solch ein öffentlicher Druck für den Schutz der Meere fehlt, wenn man einmal von Walen und Delfinen absieht. Kabeljau, Sprotte und Tunfisch haben keine Lobby. Sie werden gnadenlos überfischt. Dabei geht es nicht nur um den Artenschutz, sondern - wie beim Klimaschutz - auch um Solidarität. Denn während Millionen Tonnen wertvoller Meerestiere als Beifänge ungenutzt und tot über Bord gehen, sitzen Millionen von Küstenbewohnern in Afrika vor leeren Tellern. Die Trawler der Industriestaaten saugen ihnen die Meere leer, legal und illegal. Es geht aber nicht nur um Fische. Das Ökosystem Meer als Ganzes zu begreifen und endlich behutsam zu nutzen, das ist die eigentliche Aufgabe, die vor der Menschheit steht. Schließlich sind die Ozeane neben der Überfischung auch durch organische Überfrachtung und Schadstoffeinträge bedroht. Die Überdüngung der Flüsse aus der Landwirtschaft führt in den Meeren zu gefürchteten Algenblüten. Schwermetalle und hormonelle Stoffe, neuerdings auch nukleare Belastungen reichern sich in den Organismen an. Zunehmend wird auch Lärm zu einem Problem, insbesondere für Großsäuger. Wie mangelhaft die europäische Meeresschutzpolitik ist, zeigen Grünbuch und Blue-Paper der EU-Kommission genauso wie die Entwicklung der europäischen Meeresschutzrichtlinie. Die Gesetzgebung und die Zuständigkeiten in Bezug auf den Meeresschutz bleiben zersplittert. Ein ganzheitlicher ökosystemarischer Ansatz ist nicht erkennbar. Die Ozeane werden vorrangig als Wirtschaftsgut betrachtet. Meeresschutz ist aber deutlich mehr, als konkurrierende Nutzungsansprüche aus Fischerei, Bergbau, Seefahrt und Tourismus abzugleichen. Doch noch ein Blick nach vorn, der zeigt, dass sich moderner Meeresschutz und Meeresnutzung auch gegenseitig befruchten können. In Neuseeland waren die Fischer einst die stärksten Gegner, als es darum ging, Schutzgebiete einzurichten. Nunmehr gehören die Fischer zu den Verteidigern dieser ökologischen Oasen. Die dort rasant anwachsenden Bestände wandern nämlich aus den Schutzgebieten aus und füllen wieder die Netze. Greenpeace und andere fordern seit langem, auch in anderen Teilen der Welt Meeresschutzgebiete einzurichten, in denen Fischerei und Rohstoffabbau verboten werden. Konkrete Vorschläge gibt es für Nord- und Ostsee sowie für die außereuropäischen Meere. Vielleicht kann ein „Europäischer Tag der Meere“ dazu beitragen, solche Visionen Wirklichkeit werden zu lassen. Was den zweiten Antrag betrifft, so halten wir den steigenden Unterwasserlärm für eine große Bedrohung der maritimen Lebenswelt. Mit Sicherheit gefährdet er Wale und Tümmler. Entsprechende Untersuchungen liegen vor. Deshalb muss die Bundesregierung einerseits national Maßnahmen gegen anthropogenen Unterwasserlärm ergreifen und sich andererseits konsequent für internationale Maßnahmen gegen den Unterwasserlärm einsetzen. Insbesondere in Schutzgebieten und hochfrequentierten Aufenthaltsgebieten dieser Tiere müssen Tätigkeiten des Menschen, die starken Lärm entwickeln, weitgehend verZu Protokoll gegebene Reden boten werden. Das betrifft insbesondere die Sonaraktivitäten von U-Booten sowie Sprengungen. Für Deutschland müssen darum seismische Untersuchungen, wie sie im Naturschutzgebiet Doggerbank stattgefunden haben, künftig unterbunden werden.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Meere sind für alle Länder Europas von zentraler ökonomischer und ökologischer Bedeutung: Circa zwei Drittel der europäischen Außengrenzen werden von Küstenlinien gebildet, 22 der 27 EU-Mitgliedsländer sind Insel- oder Küstenstaaten, und die Fläche der EU-Hoheitsgewässer ist größer als das kontinentale Hoheitsgebiet der EU. Fast die Hälfte aller EU-Bürger lebt in Küstenregionen. Sowohl ihre Lebensqualität als auch ihr Lebensstandard sind abhängig vom Zustand der Meere und einer nachhaltigen Nutzung dieser Ressource. Der Rückgriffsmöglichkeit auf die Ressource Meer haben wir einen erheblichen Teil unseres heutigen Wohlstandes auf dem europäischen Kontinent zu verdanken. Andererseits war es genau diese Nutzung, die große Teile der sensiblen maritimen Ökosysteme an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Unsere Meere sehen sich heute mannigfaltigen Bedrohungen ausgesetzt: Zunehmende Schadstoffund Lärmemission durch die Schifffahrt, eine Überdüngung und Überfischung, eine zunehmenden Verbauung der Küsten etc. haben bereits heute zu teilweise irreparablen Schäden geführt. Durch die exzessive Nutzung unserer Meere laufen wir Gefahr, den erst durch sie ermöglichten Standard einer hohen Lebensqualität zu gefährden. Mit dem „Europäischen Tag der Meere“ macht die EU deutlich, dass sie die Herausforderungen, unsere Meere effektiv zu schützen, erkannt hat und die Herausforderung ernst nimmt. Der „Europäische Tag der Meere“ ist elementarer Bestandteil der Strategie für „eine integrierte Meerespolitik für die Europäische Union“. Diese lässt sich im gleichnamigen Blaubuch und dem darauf aufbauenden Aktionsplan der Kommission vom 10. Oktober 2007 finden. Dort heißt es: Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, der Schutz der Meeresumwelt und die Interessen und Lebensgrundlagen derjenigen, die von der maritimen Wirtschaft abhängig sind oder an der Küste wohnen, sollen integrale Bestandteile einer ganzheitlichen Betrachtungsweise sein. Dementsprechend enthalten Blaubuch und Aktionsplan folgende Aktionsbereiche: Optimale Nachhaltigkeit bei der wirtschaftlichen Nutzung der Meeresressourcen, Aufbau einer Wissens- und Innovationsgrundlage, verbesserte Lebensqualität in den Küstenregionen, Ausbau der Position Europas in den internationalen Organisationen und Abkommen und größere Aufmerksamkeit für ein maritimes Europa in der Öffentlichkeit. Um die Bedeutung unserer Meere für unser tägliches Leben stärker ins Bewusstsein zu rufen und vor allem dem letzten Punkt, einer größeren Aufmerksamkeit für ein maritimes Europa, gerecht zu werden, haben Europäische Kommission, Rat und Parlament vor zwei Jahren den „Europäischen Tag der Meere“ ins Leben gerufen. Zugleich wurden alle, ich betone, alle Mitgliedstaaten, Regionen, nichtstaatliche Organisationen, Wissenschaftseinrichtungen sowie alle Organisationen und Institutionen, die irgendwie mit dem Meer zu tun haben, aufgerufen, sich mit eigenen Aktionen an dem „Europäischen Tag des Meeres“ zu beteiligen. Dieser Aufforderung sind viele Mitgliedstaaten, etliche Regionen, unzählige nichtstaatliche Organisationen und Wirtschafts- und Forschungseinrichten nachgekommen. Auch viele deutsche Bundesländer begehen in Kooperation mit Universitäten, Meeresforschungsinstituten und Organisationen den „Europäischen Tag der Meere“ am 20. Mai 2009. Nur die Bundesregierung weigert sich bislang beharrlich, einen solchen „Europäischen Tag der Meere“ auch in Deutschland einzuführen und angemessen zu gestalten. Das ist mehr als traurig: Als Exportnation haben gerade wir besonders von der Bedeutung der Meere profitiert. Gerade wir sind es, die ein besonderes Interesse daran haben sollten, auch unseren zukünftigen Wohlstand zu sichern. Womit die Weigerung der Bundesregierung, einen solchen Tag auch in Deutschland einzuführen, zu begründen ist, bleibt weiter unklar. Der Hinweis darauf, man sei nicht imstande, einen solchen Tag in Deutschland zu begehen, da man sich auf europäischer Ebene so stark engagiere, ist peinlich und kann wohl kaum der Grund sein. Für mich bleiben nur zwei mögliche Erklärungen: Entweder hat die Bundesregierung die Bedeutung der Meere bisher nicht erkannt, womit sie sich ein Armutszeugnis ausstellen würde -, oder der wahre Grund ist der, dass es sich nach Meinung der Bundesregierung um die Initiative einer Oppositionsfraktion handelt, der man schon aus Prinzip nicht zustimmen will. Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, um das noch einmal klarzustellen: Die Annahme, dass es sich hier ausschließlich um eine Initiative der Opposition handele, ist falsch. Wir, die Vertreterinnen und Vertreter der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen sind es lediglich, die Sie, die Bundesregierung, einmal mehr an die Bedeutung der Meere für unser Land und die von Ihnen eingegangenen Verpflichtungen innerhalb der EU erinnern müssen. Hiermit fordern meine Fraktion und ich sie noch einmal mit Nachdruck dazu auf, den 20. Mai als den „Europäischen Tag der Meere“ auch in Deutschland einzuführen und angemessen zu gestalten. Ansonsten läuft die Bundesregierung nicht nur Gefahr, die gemeinsame Empfehlung der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 zu missachten, sondern vergibt zudem die Chance, ein Bewusstsein für das maritime Erbe auf deutscher und europäischer Ebene zu schaffen und der Notwendigkeit des Schutzes der Meere den Platz einzuräumen, welche die Meere als unsere natürliche Lebensgrundlage verdienen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Tagesordnungspunkt 27 a. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Un24424 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt terwasserlärm stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7168, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5117 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Die FDP hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einführung eines Europäischen Tages der Meere“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12654, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 16/8213 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die FDP hat sich enthalten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk - Drucksache 16/12854 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 16/13016 Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp Hartfrid Wolff ({1}) Silke Stokar von Neuforn Hier haben Beatrix Philipp, Gerold Reichenbach, Hartfrid Wolff, Petra Pau und Silke Stokar von Neuforn ihre Reden zu Protokoll gegeben.

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sprechen heute über das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk, kurz THW-Helferrechtsgesetz. Angesichts der Bedeutung des THW für alle Menschen in Deutschland und zunehmend auch im Ausland ist es fast verwunderlich oder ein Zeichen besonderer Qualität und Güte des THW, dass das derzeit gültige THW-HelfRG bisher Akzeptanz gefunden hat, obwohl es eigentlich anders hätte heißen müssen. Es beinhaltete nämlich von Anfang an auch Regelungen zum Einsatz und zur Organisation des THW, ohne dass sich dies in der Gesetzesbezeichnung wiedergefunden hätte. Der 15. Mai 2009 ist der Tag des THW. So ist es also kein Zufall, wenn wir heute nicht nur eine Namensänderung vornehmen, sondern auch das regeln, was eindeutig - vor allem im Interesse der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, besonders aber für die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer - dringend geboten ist. Das THW als Einrichtung des Bundes ist elementarer Bestandteil des Zivil- und Katastrophenschutzes. Trotz des zweigliedrigen Aufbaus des Zivil- und Katastrophenschutzes zwischen Bund und Ländern ist eine scharfe Grenzziehung in der Praxis oft schwierig, wenn es um die eindeutige Kompetenzzuweisung geht. Dies zeigten bereits die Debatten zur Änderung des Zivilschutzgesetzes vom 29. Januar dieses Jahres und die Diskussionen im Rahmen der Föderalismusreform. So kommt dem Bund nicht nur die Funktion des Zivilschutzes, sondern mittlerweile auch eine ergänzende Funktion im Bereich des Katastrophenschutzes zu. Aufgrund der immer umfassender werdenden zunehmenden Herausforderungen an die Leistungsfähigkeit und das Spektrum der Einsätze wird deutlich, dass ein funktionierendes Zusammenspiel von Bund und Ländern unabdingbar ist. Dies zeigte sich zuletzt bei den Bergungsarbeiten nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs oder bei Aufräumarbeiten nach Verkehrsunfällen und Autobahnsperrungen, wie dies noch in dieser Woche auf der A2 in Brandenburg der Fall war. Wenn nun alles fast reibungslos läuft, warum ist denn dann die Änderung des bestehenden Gesetzes notwendig? Seit der Gründung des THW in den 50er-Jahren haben sich, wie gesagt, die Einsatzarten stark verändert. Die bisher gesetzlichen Regelungen entsprechen zum Teil nicht mehr den Einsatzerfordernissen. Daher besteht gesetzlicher Anpassungsbedarf. So findet sich nun im neuen THW-Helferrechtsgesetz, welches 1990 den Erlass über die Errichtung des Technischen Hilfswerkes als nichtrechtsfähige Bundesanstalt ablöste, eine genauere und zum Teil auch erweiterte Aufgabenskizzierung. Wer sich im Zivil- und Katastrophenschutz auskennt, weiß, wie schwierig sich in der Vergangenheit die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern oft gestaltete. Es ist der Praxisbezogenheit der handelnden Personen und dem Wunsch, den Menschen zu helfen, zu verdanken, dass es zu so vielen erfolgreichen Einsätzen und beeindruckenden Bilanzen kommen konnte. Allein im Jahr 2008 gab es circa 390 000 Einsatzstunden, waren Tausende von Helferinnen und Helfern im Einsatz. Der Verweis von § 1 Abs. 4 auf die landesrechtlichen Vorschriften erlaubt es nun den THW-Einsatzkräften, gleichberechtigt wie Einsatzkräfte von Feuerwehr und anderen Hilfsorganisationen zu handeln. Darunter fällt zum Beispiel, dass THWler nun berechtigt sind, einen Einsatzort abzusperren, Absperrungen gegenüber Schaulustigen durchzusetzen, betroffene Grundstücke zu betreten usw. Das sind Beispiele, die zeigen, dass wir uns - im Gegensatz zu manch anderen Gesetzesvorhaben - im absoluten praktischen und nicht im theoretischen Bereich der Anwendung dieses Gesetzes bewegen. Die Gleichstellung von THW und Feuerwehr war angesichts der zunehBeatrix Philipp menden Bedeutung des Technischen Hilfswerkes in unserer heutigen Gesellschaft mehr als geboten. Immer häufiger können wir die blauen Fahrzeuge des THW auf den Straßen sehen, wenn sie von einem Einsatzort zum nächsten unterwegs sind, und es wirkt irgendwie „beruhigend“. Das Besondere daran ist, dass bei diesen Einsätzen ein hoher Anteil der Kräfte ehrenamtlich tätig ist. Dafür möchte ich allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern danken. Mit gut 80 000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern ist das THW mit eine der bekanntesten Hilfsorganisationen in Deutschland, in der sich Helferinnen und Helfer ehrenamtlich engagieren. Ehrenamtliche Arbeit hat in unserem Land eine lange Tradition. Wir sind in Deutschland zwar immer noch weit davon entfernt, dem Ehrenamt so viel Bedeutung und Anerkennung beizumessen, wie dies in den USA der Fall ist, aber es gibt ermutigende Anzeichen dafür, dass wir auf einem guten Weg sind. Zweifellos hat sich auch die Arbeitswelt in den letzten Jahren so verändert, dass ehrenamtliches Engagement immer schwieriger wird. Umso mehr ist es berechtigt, nicht nur den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern Dank zu sagen, sondern auch den Arbeitgebern, die sich bereitfinden, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während ihrer Arbeitszeit freizustellen. Das ist nicht selbstverständlich. Also auch ihnen ein herzliches Dankeschön! Eine weitere wichtige Änderung ist die Schaffung einer Rechtsgrundlage für das THW zur Durchsetzung eigener entstandener Kosten in § 6. Demnach kann das THW künftig Gebühren und Auslagen gemäß § 14 des Verwaltungskostengesetzes geltend machen. Die Besonderheit liegt darin, dass dem THW ein Erstattungsanspruch zukommt, wenn die anfordernde Behörde nicht gegenüber dem Begünstigten kostenrechtlich tätig wird, das heißt konkret, wenn die anfordernde Behörde einfach nicht abrechnet oder sich die Abrechnung über die Behörde aus anderen Gründen nicht umsetzen lässt. Die technische Hilfe des THW ist nach § 6 Abs. 1 grundsätzlich gebühren- und auslagenpflichtig. Wie hoch die Gebühren sein werden, richtet sich nach dem Kostendeckungsprinzip. Dieses Prinzip geht aus § 3 Verwaltungskostengesetz hervor, wonach die Gebühren so bemessen sein müssen, dass das geschätzte Gebührenaufkommen den auf die Amtshandlung entfallenden durchschnittlichen Personal- und Sachaufwand für den betreffenden Verwaltungszweig nicht übersteigt. Eine Erwirtschaftung von Überschüssen ist ebenfalls nicht möglich. Gemäß § 6 Abs. 1 werden die näheren Bestimmungen zur Gebührenhöhe durch Rechtsverordnung des Bundesministers des Innern getroffen. Wie gestern im Ausschuss erläutert wurde, ermöglicht dies eine flexible Handhabung und schnelle, angemessene Reaktionen, sollte es zu ungewöhnlichen oder unvorhergesehenen Ereignissen kommen. Gemäß Satz 3 ist aber auch ein Erlass der Kostenerstattung aus Gründen der Billigkeit oder des öffentlichen Interesses möglich, das heißt, es werden dann keine Kosten in Rechnung gestellt, wenn es nach allgemeinen Gesichtspunkten nicht hinnehmbar wäre - aufgrund der Gesamtumstände -, dem Begünstigten die Kosten aufzuerlegen. Dies erlaubt eine Fortsetzung des bereits praktizierten Verwaltungshandelns. Sofern die zuständige Behörde die Kosten nicht an den Begünstigten weiterleiten kann, hat das THW seinerseits die Möglichkeit, auf eine finanzielle Belastung gegenüber der anfordernden Behörde zu verzichten. Mit der Rechtsgrundlage der Kostenstellung des neuen THW-Gesetzes findet insgesamt eine Kostenentlastung des THW statt. Weiterhin ist diese Regelung nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 19. Juli 2007 mehr als geboten. Diese Rechtsgrundlage ist wichtig, um die Tätigkeit des THW zu unterstützen. Mit Schaffung dieser Rechtsvorschrift ist das Risiko einer Kostenbelastung beseitigt. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese gesetzlichen Klarstellungen an der vielzitierten Basis gerne aufgenommen werden; sie sind ein Zeichen dafür, dass der Gesetzgeber sehr wohl in der Lage ist, Anregungen aus der Praxis wahrzunehmen und umzusetzen.

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie mich zu Beginn feststellen, dass wir in Deutschland ein gut funktionierendes Bevölkerungsschutzsystem haben, das auf einer breiten Basis von Freiwilligen ruht. Der Schutz der Bevölkerung ist eine der wichtigsten Aufgaben unseres Staates. Sie wird durch die vielen Tausend vor allem ehren- und hauptamtlichen Helferinnen und Helfer der Hilfsorganisationen, der Feuerwehren und des THW wahrgenommen. Viele Länder, sowohl in Europa als auch weltweit, beneiden uns um dieses System. Deutschland hat in dem Bereich der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr traditionell ein vertikal gegliedertes, auf Ehrenamtlichkeit und Freiwilligkeit beruhendes Sicherheitssystem aufgebaut. Dieses System hat sich im Alltag und bei größeren Schadenslagen bisher im Großen und Ganzen bewährt. Ich erinnere hier nur an die Oderund Elbeflut. Aber insbesondere in Zeiten der wachsenden Bedrohungen für die Bevölkerung durch Klimawandel, Pandemien, aber auch durch den Zusammenbruch kritischer Infrastrukturen wird die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Das aktuellste Beispiel ist die sogenannte Schweinegrippe. Durch die Globalisierung und die weltweite Vernetzung hat sie sich, von Mexiko ausgehend, in rasantem Tempo zu einem pandemischen Geschehen entwickelt - bisher zum Glück mit weltweit geringen Opferzahlen. Das muss aber nicht so bleiben. Aus all diesen Gründen werden die Aufgaben der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr weiter wachsen, und sie werden einen noch höheren Stellenwert in der Sicherheitsarchitektur unseres Landes einnehmen müssen. Lassen Sie mich deshalb auch an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, besonders den Helferinnen und Helfern der Zu Protokoll gegebene Reden im Bevölkerungsschutz tätigen Hilfsorganisationen herzlich zu danken für Ihr unermüdliches Engagement bei der Erfüllung dieser wichtigen Aufgabe. Das sind die Feuerwehren, die Sanitäts- und Rettungsorganisationen und natürlich, im Verantwortungsbereich des Bundes, das Technische Hilfswerk. Aus meiner eigenen Erfahrung als ehrenamtlicher Helfer weiß ich, was eine solch ehrenamtliche Tätigkeit an zeitlichen, aber auch physischen und psychischen Belastungen im Einsatz mit sich bringen kann. Nicht zuletzt deshalb ist es unsere klare Pflicht, den Helferinnen und Helfern eine ordentliche Grundlage für ihre Arbeit zu schaffen. Dazu gehören eine vernünftige, moderne Ausstattung und ihre Finanzierung. Hier haben wir in den letzen Jahren, beginnend unter Rot-Grün, Fortschritte erzielt. Der Haushalt des THW etwa wurde kontinuierlich gesteigert. Ich erinnere auch an die Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern zur „Neuen Strategie im Bevölkerungsschutz“ und an das Konjunkturpaket, von dem in den Ländern die Feuerwehren und auf Bundesebene das THW mit profitieren werden. Wir müssen als Gesetzgeber aber auch dafür sorgen, dass die gesetzlichen Grundlagen den Herausforderungen gerecht werden. Denn diese Normen dienen dem Schutz der Bevölkerung vor besonderen Gefahren - ebensolchen Gefahren, vor denen sie sich aus eigener Kraft nicht schützen kann. Einen ersten Teilschritt haben wir gemacht: Wir haben die rechtlichen Grundlagen an die Gefährdungsentwicklung - im Rahmen dessen, was dem Bund möglich war - im neuen Zivilschutzgesetz-Änderungsgesetz angepasst. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung des THW-Helferrechtsgesetzes gehen wir jetzt einen weiteren Schritt. Auch dieses aus dem Jahre 1990 stammende Gesetz, das die Rechtsverhältnisse der Helferinnen und Helfer im THW regelt, muss rechtlich weiterentwickelt werden. Das neue THW-Gesetz wird der immer stärkeren Einbindung des THW in die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr und die Amtshilfe sowie seiner immer wichtigeren Rolle in der humanitären Auslandshilfe Rechnung tragen. Wir definieren die Aufgaben des THW als technische Bevölkerungsschutz- und Katastrophenhilfeorganisation des Bundes. Das THW nimmt zum einen Aufgaben nach dem Gesetz über den Zivilschutz und zum anderen über die Katastrophenhilfe des Bundes wahr. Es wird im Rahmen des Art. 35 des Grundgesetzes für technische Hilfeleistungen bei Katastrophen und Unglücksfällen im Wege der Amtshilfe tätig und ist damit mit seinen über 80 000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern und seinen 800 hauptamtlichen Mitarbeitern ein wichtiger Bestandteil im Sicherheitssystem der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus ist es die humanitäre Auslandshilfeorganisation des Bundes. Es leistet im Auftrag der Bundesregierung humanitäre und technische Hilfe im Ausland und hat sich als „Botschafter Deutschlands“ einen hervorragenden Ruf im Ausland erworben. Die vielfältigen Anfragen aus dem Ausland - zuletzt aus China -, beim Aufbau eines eigenen am Vorbild des THW orientierten Bevölkerungsschutzsystems Beratungs- und Aufbauhilfe zu leisten, sind ein beredtes Beispiel dafür. Mit der Gesetzesänderung sorgen wir dafür, dass landesrechtlich geregelte Befugnisse nun auch für das THW gelten, wenn es im Rahmen der Amts- oder Katastrophenhilfe eingesetzt wird. Bisher war es dem THW unter anderem nicht erlaubt, im Einzelfall ein nicht vom Schadensereignis betroffenes Grundstück zu betreten, um so bei einem Unglücksfall oder einer Katastrophe effektive Hilfe zu leisten oder eine drohende Gefahr abzuwehren. Gleiches galt für die Durchsetzung einer Absperrung am Unglücksort vor Schaulustigen oder die Heranziehung von Hilfsmitteln, die in fremdem Eigentum stehen. Diese Befugnisse besitzen bereits die anerkannten Hilfsorganisationen sowie die Feuerwehren gemäß den jeweiligen Landesgesetzen. Um einen erfolgreichen Einsatz und die lückenlose Zusammenarbeit bei gemeinsamen Einsätzen sicherzustellen, wird mit dem vorliegenden Gesetz diese Lücke geschlossen. Mit der Änderung des Gesetzes wollen wir auch eine Rechtsgrundlage schaffen, um aufgetretene Probleme im Rahmen der Kostenerstattung bei Inanspruchnahme des THW zu lösen. Grundsätzlich ist die Hilfe des THW gebühren- und auslagenpflichtig. Dort, wo im Wege der Amts- oder Katastrophenhilfe die jeweils anfordernde Behörde aus gesetzlichen Gründen selbst keine Gebühren oder Kostenersatz erheben kann, wird dies auch das THW weiterhin nicht tun. Dort, wo dies aber der Fall ist, wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Erstattung möglichst unkompliziert und ohne erheblichen zusätzlichen Aufwand für die anfordernde Behörde erfolgen kann. Das Bundesinnenministerium wird mit dem Gesetz ermächtigt, eine entsprechende Rechtsverordnung zu schaffen, die die Gebühren- und Auslagenerhebung durch das THW regelt. Mit dieser Rechtsverordnung soll auch eine direkte Kostenerstattung durch den letztendlich Kostenpflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein. Die Rechtsverordnung des Innenministeriums wird sich dabei im verfassungs- und verwaltungsrechtlich vorgegebenen Rahmen bewegen müssen. Und last, but not least werden wir in dem neuen Gesetz - so, wie dies bereits im Vorgängergesetz der Fall war die Mitgestaltungsmöglichkeiten der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer im THW verankern. Das Nähere wird dann eine Verordnung des Innenministers regeln. Das THW-Gesetz selbst ist übrigens ein gutes Beispiel für die Anerkennung von Fachkompetenz im Ehrenamt. So waren im Vorfeld nicht nur, wie üblich, die zuständigen Behörden, sondern eben auch die Ehrenamtlichen im THW fachlich beteiligt. Beim Schutz unserer Bevölkerung wird es in der Zukunft noch mehr darauf ankommen, dass alle Akteure reibungslos zusammenarbeiten. Das neue THW-Gesetz leistet seinen Beitrag dazu. Und es ist auch ein Beitrag zur Stärkung des ehrenamtlichen Fundaments. Darum bitte ich um Ihre Zustimmung. Zu Protokoll gegebene Reden

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP ist überzeugt: Die ehrenamtlichen und die professionellen Helferinnen und Helfer von THW und Feuerwehren, von Rettungsdiensten, DLRG und anderen Hilfsorganisationen leisten ausgezeichnete Arbeit. Sie müssen deutlich mehr gewürdigt und unterstützt werden, als es bisher der Fall war. Effiziente Strukturen, einfache Entscheidungswege, an Risiken ausgerichtete Reaktionsmöglichkeiten helfen auch und gerade denjenigen, die selbst schnell helfen wollen. Die Herausforderungen im Bevölkerungsschutz sind sehr groß. Deshalb ist es gut, dass den Helferinnen und Helfern im THW endlich mehr Rechtssicherheit für ihre verantwortungsvolle Aufgabe eingeräumt wird. Dem THW werden im vorliegenden Gesetzentwurf Befugnisse zuteil, die einen erfolgreichen Einsatz sicherstellen sollen. Dem THW werden nun die gleichen Befugnisse eingeräumt wie den anerkannten privaten Hilfsorganisationen. Auch die Landesgesetze für Feuerwehren und Hilfsorganisationen enthalten ähnliche Befugnisse. Die FDP unterstützt also das vorliegende Gesetz. Wir weisen aber auf die immer noch offenen grundlegenden Fragen des Bevölkerungsschutzes in Deutschland hin. Naturkatastrophen und Großunfälle machen nicht an Ländergrenzen halt. Überregionale Stromausfälle wie vor einigen Jahren im Münsterland oder verursacht durch die Ems-Durchfahrt eines großen Schiffsneubaus, Pandemien wie etwa die Vogelgrippe oder von bestimmten Gruppen ausgehende Gefahren, etwa durch organisierte Kriminalität oder terroristische Aktivitäten, erfordern ein länderübergreifendes Sicherheitskonzept. Hierfür ist ein von Bund und Ländern gemeinsam getragenes, einheitliches Bevölkerungsschutzsystem am besten geeignet - mit allein am Schadensausmaß und an den schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausgerichteten klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des Staates. Das kürzlich verabschiedete Zivilschutzgesetz war überfällig, aber erscheint nicht als ausreichend. Neue Herausforderungen an die öffentliche Sicherheit sind nicht allein mit tagespolitischen Aktivitäten zu beantworten. Der Bund muss im Katastrophenschutz Verantwortung übernehmen und darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen. Der Bundesrechnungshof hat wiederholt die Bundesfinanzierung kritisiert. Katastrophenschutz ist laut Grundgesetz Ländersache. Eine Nachjustierung ist dringend erforderlich. Es ist befremdlich, dass Innenminister Schäuble dem Bundeswehreinsatz im Innern Tür und Tor öffnen will, aber sich einer zeitgemäßen Neudefinition der grundgesetzlichen Bevölkerungsschutzkompetenzen verweigert. Es gilt aber, die zivilen Kräfte zu stärken. Die bestehende Zweiteilung in den Zivilschutz im Verteidigungsfall und den Katastrophenschutz im Frieden ist überholt und macht aus Sicht der meisten Experten so keinen Sinn mehr. Die bislang praktizierte Zuweisung von Zuständigkeiten nach der Schadensursache wird der Lage nicht länger gerecht. Zum Zeitpunkt einer notwendigen Gefahrenabwehr kann nicht die Ursachenforschung höchste Priorität haben, um Zuständigkeitsfragen zu klären. Hier muss einfach und schnell anhand des Schadensausmaßes geholfen werden. Daher ist eine Aufgabenverteilung anzustreben, bei der die Zuständigkeit für lokale Schadensereignisse im Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr bei den Kommunen bzw. beim Land, die Zuständigkeit für Großschadensereignisse innerhalb eines Bundeslandes ohne weitere Auswirkungen auf das Bundesgebiet bei den Ländern und die Zuständigkeit für außerordentliche bundesweite Schadenslagen sowie für länderübergreifende Großschadenslagen beim Bund liegt. Innerhalb dieses Rahmens ist die Ressourcenverantwortung zu regeln, um effektiv und schnellstmöglich helfen zu können. Deshalb scheint eine grundgesetzlich verankerte bundesweite Koordinierungskompetenz im Katastrophenschutz unverzichtbar zu sein. Darüber hinaus sind die ehrenamtlichen Strukturen im Katastrophenschutz mindestens im bisherigen Umfange unbedingt aufrechtzuerhalten. Das ehrenamtliche Engagement ist die bürgerschaftliche Grundlage für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und die tragende personelle Infrastrukturkomponente des Bevölkerungsschutzes. Gerade im Bereich des THW sind die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer das Rückgrat der Arbeit für den Bevölkerungsschutz. Dieses Engagement muss unterstützt und anerkannt werden.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Erstens. Das Gesetz, das heute beschlossen werden soll, heißt: „Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk“. Schon die Überschrift ist ein Text schlichter Schönheit. Glückwunsch! Worum geht es also wirklich? Um Zweierlei! Erstens: Das Technische Hilfswerk erhält Rechte, die ähnliche Einrichtungen, zum Beispiel Feuerwehren, längst haben. So soll auch das THW Straßen sperren dürfen, wenn das im Katastrophenfall geboten scheint. Es geht um weitere Befugnisse für das THW, die sinnvoll und verhältnismäßig sind. Dem stimmt die Linke zu. Und ich füge hinzu: Das Technische Hilfswerk wird demnächst 60 Jahre alt. Ich wünsche dem THW noch weitere erfolgreiche 60 Jahre, hierzulande und weltweit. Zweitens. Auch die zweite Absicht dieses Gesetzes ist im Sinne der Fraktion Die Linke. Der Gesetzestext soll der Realität angepasst werden, und die heißt: Nicht nur Männer oder Jungs schultern die Arbeit im Technischen Hilfswerk, sondern zunehmend auch Frauen und Mädchen. Also wurde der Gesetzestext geändert oder neudeutsch „gegendert“. Überall, wo vordem „Helfer“ geschrieben wurde, steht nunmehr „Helferinnen und Helfer“. Mit einer wesentlichen Ausnahme: In der Überschrift geht es noch immer nur um die „Helfer“ des THW. Nun können wir raten, ob hier schlicht sozialdemokratischer Schlendrian am Werk war oder ob die CSU subversiv ihren Mannesgeist verewigen wollte. Wie auch immer: Wichtiger ist, dass die THW-Helferinnen und -Helfer in Zu Protokoll gegebene Reden der Not, zumeist ehrenamtlich im besten Sinne, präsent sind.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Technische Hilfswerk ist die bedeutendste Katastrophenschutzorganisation des Bundes, und lassen Sie mich gleich zu Beginn sagen: Wir wünschen dem THW auf der Tagung in Chemnitz viel Erfolg. Der „Tag des THW“ der vom 15. bis 17. Mai in der Stadthalle von Chemnitz stattfinden wird, steht unter dem Motto „Zukunft gemeinsam gestalten“, und in den vier Foren wird sich die Tagung mit den wichtigen Themen „Bevölkerungsentwicklung“, „Beruf und freiwilliges Engagement“, „Risiko und Sicherheit“ und „Technischer Fortschritt“ befassen. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse dieser Foren, und ich stelle hier diesen Tag des THW an den Anfang meiner Rede, weil ich deutlich machen will, dass wir hier zwar heute richtige Entscheidungen zur Verbesserung der Rechtsverhältnisse der Helferinnen und Helfer des THW treffen, dass es aber nicht ausreicht, bei dieser kleinen Gesetzesänderung stehen zu bleiben. Wir müssen die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk fit machen für die Zukunft, und ich würde es begrüßen, wenn die fraktionsübergreifende Arbeit beim Thema Katastrophenschutz auch in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt wird. Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken bei den über 80 000 ehrenamtlichen THW-Kräften, die im In- und Ausland mit großem persönlichen Einsatz eine unverzichtbare Arbeit leisten, und ich freue mich ganz besonders, dass das Erfolgsmodell THW in den vergangenen Jahren so erfolgreich auf die neuen Bundesländer übertragen werden konnte. Ganz besonders erwähnen möchte ich die THW-Jugend, die an vielen Orten neben der freiwilligen Feuerwehr und den Sportvereinen jungen Menschen Orientierung und sinnvolle Beschäftigung bietet. Es ist überfällig, dass mit dem Gesetzentwurf der Großen Koalition jetzt die rechtlichen Befugnisse der Helferinnen und Helfer des THW eindeutig geregelt werden. Während des Einsatzes muss schnell und effektiv gehandelt werden, rechtliche Streitigkeiten und Unklarheiten der Befugnisse führen zu Reibungsverlusten in den Einsätzen und verunsichern diejenigen, die helfen wollen. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Helferinnen und Helfer des THW bei innerdeutschen Einsätzen im Katastrophenfall und Zivilschutz mit denen der öffentlichen Landesfeuerwehren gleich. Unter Vorbehalt landesrechtlicher Regelungen wird dem THW nun ein eindeutiger Rechtsrahmen zur Verfügung gestellt, und ich hoffe, dass auch die Länder bereit sind, weiter an einheitlichen Rechtsstandards zu arbeiten. Es gibt keine Konkurrenz zur freiwilligen Feuerwehr, sondern die Notwendigkeit einer gemeinsamen, vernetzten Arbeit. Auch das Problem der Finanzierung von THW-Einsätzen soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelöst werden. Über eine noch zu schaffende Rechtsordnung soll das Bundesinnenministerium in Absprache mit dem Bundesministerium der Finanzen dazu ermächtigt werden, gebührenpflichtige Tatbestände und deren Bemessung sowie feste Sätze festzulegen. Wir sehen hier Auswirkungen auf den Haushalt, die nicht am Parlament vorbei entschieden werden sollten, und wollen die Gebühren in das Gesetz aufnehmen. Die jetzt vorgeschlagene Rechtsverordnung ist zwar eine Verbesserung gegenüber der bestehenden ungeregelten Verfahrensweise, wir wollen hier aber keine Entscheidungen am Parlament vorbei. Dennoch werden wir dem Gesetzentwurf der Großen Koalition zustimmen. Die Änderungen gehen in die richtige Richtung, und sie sind eine Verbesserung gegenüber dem jetzigen Zustand.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13016, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12854 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen wollen, mögen sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 29 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Krankenversicherung für Selbständige bezahlbar gestalten - Drucksache 16/12734 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegen Max Straubinger, Karl Lauterbach, Daniel Bahr, Birgitt Bender, Frank Spieth und die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst möchte ich für meine Fraktion ein gewisses Erstaunen darüber nicht verhehlen, dass die Linke im Titel ihres heute zu debattierenden Antrags suggeriert, das Wählerpotenzial der Selbstständigen entdeckt zu haben. Schließlich lautet der Antrag: „Krankenversicherung für Selbständige bezahlbar gestalten“. Doch um privat versicherte Selbstständige geht es der Linken ja auch gar nicht. Vielmehr geht es ihr einmal mehr darum, Hartz-IV-Versicherte in der GKV und solche, die lediglich aus systematischen Gründen der PKV zuzuordnen sind, vor finanzieller Überforderung durch Beitragspflichten zu schützen. Womit ich ausdrücklich nicht sagen möchte, dass dort, wo es tatsächlich Ungereimtheiten oder Ungerechtigkeiten bei gesetzlich auferlegten BeiMax Straubinger tragspflichten gibt, nicht tatsächlich auch Korrekturen erfolgen sollten. Ich komme gleich darauf zurück. Zuvor stelle ich fest: Der Antragstitel ist also trügerisch. Denn tatsächlich selbstständige Unternehmer oder Freiberufler sind gar nicht der Adressat. Alles andere wäre ja auch höchst verwunderlich. Für diese Zielgruppe hat die Linke ja auch nicht wirklich viel übrig. Im Gegenteil! Nehmen wir das Thema Steuern: Was die Linke dort an Daumenschrauben in ihrem Sammelsurium steuerpolitischer Belastungen für Selbstständige und Freiberufler bereithält, ist mehr als beachtlich - oder besser: abschreckend. Doch zurück zum eigentlichen Inhalt des Antrages und der von der Linken angeführten Ungerechtigkeit bei der Bemessung von Beiträgen für freiwillig Versicherte. Die unterschiedliche Beitragsbelastung freiwillig gesetzlich versicherter Grundsicherungsempfänger und gesetzlich pflichtversicherter Grundsicherungsempfänger ist tatsächlich schwer nachvollziehbar. Die beklagten Folgen sind ganz offenbar Ergebnis des Bemühens der Bundesgesundheitsministerin, die Attraktivität der privaten Krankenversicherung so weit wie möglich zu schmälern. Warum? Weil die Betroffenen als Ausweg ja schließlich zumindest theoretisch in den neu geschaffenen Basistarif der PKV wechseln könnten. Doch auch dort hat man die Schwellen entsprechend hoch gehängt. Schließlich liegt auch in der PKV der von Hilfebedürftigen aufzubringende Beitrag bei knapp 300 Euro. Im Unterschied zu pflichtversicherten GKV-Mitgliedern kommt für Beitragsausfälle infolge von Hilfebedürftigkeit bei der PKV nur nicht die Allgemeinheit auf. Dies wird vielmehr der übrigen Versichertengemeinschaft zugemutet. In der GKV leistet die Gemeinschaft der Steuerzahler über die Träger der Grundsicherung Hilfe. Auch dieses Beispiel zeigt, dass zwischen und sogar innerhalb der beiden Krankenversicherungssysteme mit den Neuregelungen im Bereich des SGB V manche Ungereimtheiten geschaffen wurden, die es zu korrigieren gilt. Eine Anmerkung zum Punkt zwei des Antrages, in dem die Linke fordert, dass hilfeberechtigte Hartz-IV-Empfänger und Sozialhilfeempfänger nicht mehr für den Basistarif der PKV zahlen müssen, als sie vom Träger der Grundsicherung dafür erhalten: Nach geltendem Recht würde dies bedeuten, dass die PKV-Gemeinschaft und eben nicht die Allgemeinheit dauerhaft für die Differenz zwischen notwendigem Beitrag und geleistetem Beitrag geradestehen müsste. Die Linke wird anführen, dass dies bei der GKV ja nicht anders sei, weil schließlich der von der Bundesagentur für Arbeit bzw. den Sozialämtern abgeführte Beitrag an die Krankenkassen auch deutlich unter dem eigentlich erforderlichen Beitrag liegt. Und tatsächlich bin auch ich an diesem Punkt der Meinung, dass dies nicht auf Dauer gerechtfertigt sein kann. Nur, erstens scheitert eine Korrektur in dieser ja gerade auch von der Bundesgesundheitsministerin forcierten Frage bisher vor allem am Widerstand ihres Parteifreundes, des Bundesfinanzministers. Und zweitens darf darauf verwiesen werden, dass wir uns gerade erst auf den Weg gemacht haben, einen dauerhaften und mehr als nennenswerten GKV-Bundeszuschuss aus Steuermitteln zu etablieren, mit dem gesamtgesellschaftliche Aufgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung geschultert werden. Zu diesen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben des Steuerzahlers zählt zweifelsfrei auch der Schutz Hilfebedürftiger vor finanzieller Überforderung durch Krankenversicherungsbeiträge. Und auch dieser Hinweis sei erlaubt: Einen solchen Bundeszuschuss für gesamtgesellschaftliche Aufgaben kennt die PKV nicht, wobei uns doch eigentlich auch dort etwa der Versicherungsschutz von Kindern genauso viel wert sein müsste wie in der gesetzlichen Krankenversicherung. In der GKV jedenfalls finanziert der Steuerzahler die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern. Der in der PKV versicherte kleine Beamte muss hierfür selbst Beiträge entrichten. Auch dies wäre ein Thema, dem sich die Linke einmal widmen könnte. Ich darf zusammenfassen: Unbestreitbar existieren bei der Ausgestaltung der Beitragspflichten zur Krankenversicherung für eng begrenzte Personengruppen Ungereimtheiten, die von den Betroffenen als ungerecht und tatsächlich auch als korrekturbedürftig empfunden werden. Nur sollte man diese Ungereimtheiten nicht jeweils einer isolierten Lösung zuführen. Denn mit jeder vermeintlichen Gerechtigkeitslücke, die wir schließen, reißen wir neue auf. Im Steuerrecht ist dies nicht anders. Ich plädiere deshalb mit Nachdruck für eine umfassende Bestandsaufnahme. Danach sollten wir uns gemeinsam um Korrekturen bemühen, die allen betroffenen Gruppen gerecht werden, selbstverständlich auch den freiwillig GKV-versicherten Selbstständigen. Gerade in dieser Gruppe von Versicherten vollziehen wir mit der Rolle rückwärts beim Krankengeld ja gerade eine höchst pragmatische Kehrtwende. Die Quasirückkehr zum alten Recht, in dem freiwillig GKV-versicherte Selbstständige ihren Krankengeldanspruch durch Leistung des allgemeinen Beitragssatzes erwerben, ist ein Gebot der Vernunft und der Gerechtigkeit. Auch in dieser Frage zeigt sich, dass pragmatische Regelungen im Interesse der Betroffenen allemal besser und gerechter sind als ideologisch gefärbte Versuche, freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung verbliebene Selbstständige zu vergraulen.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bei den privat versicherten ALG-II-Empfängern und Sozialgeldempfängern besteht in der Tat eine Regelungslücke. Dies hat die SPD-Fraktion auch frühzeitig erkannt. Allerdings konnte hier mit dem Koalitionspartner noch keine befriedigende Lösung erreicht werden. Der Antrag der Linken greift hier aber dennoch deutlich zu kurz. Das grundlegende Problem unseres Gesundheitssystems ist nicht die finanzielle Überforderung privat versicherter Arbeitsloser, sondern die willkürliche Zweiteilung des Krankenversicherungssystems in gesetzliche und private Kassen mit der Konsequenz einer zunehmenden Zweiklassenmedizin. Ein gesetzlich Versicherter mit einem Höchstbeitrag von 550 Euro im Monat zahlt davon circa 250 Euro für Zu Protokoll gegebene Reden die Krankenversicherung der Einkommensschwachen. Wechselt er in die private Krankenversicherung, muss er dies nicht mehr bezahlen, weil die private Krankenversicherung am Finanzausgleich der Krankenkassen zwischen gering Verdienenden und gut Verdienenden nicht teilnimmt. Nur aus diesem Grunde können die privaten Krankenversicherungen trotz höherer Honorare für die Ärzte und mehr als doppelt so hohen Verwaltungsausgaben billiger als die gesetzlichen Kassen sein. Wer bei hohem Einkommen gesetzlich versichert bleibt, zahlt nicht nur mehr, sondern muss dazu beim Arztbesuch warten, bis der privat Versicherte behandelt wurde, leistet dann die Praxisgebühr und zahlt selbst für ein Arzneimittel im Wert von zehn Euro fünf Euro beim Apotheker dazu. Über die Jahrzehnte zahlt er mehrere Hunderttausend Euro Beitrag. Wird er dann krank, steht ihm die Privatsprechstunde eines Universitätsprofessors nicht zu, der dagegen den privat versicherten Studenten empfängt. Dieses System ist mittlerweile nicht nur einzigartig in Europa, sondern auch einzigartig ungerecht. In Zukunft müssen wir sicherstellen, dass alle Bürger einen Solidarbeitrag zur Gesundheitsversorgung leisten und umgekehrt Anspruch auf die Solidarität der Gesellschaft haben. Alle Bürger sollen die Pflicht zur Versicherung haben und einkommensabhängige Beiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen, die an den Gesundheitsfonds abgeführt werden, wobei zu prüfen ist, ob die Beitragsbemessungsgrenze angehoben wird. Einer Versicherungspflichtgrenze bedarf es dann nicht mehr. Die Pflicht zur Versicherung sollte sowohl bei gesetzlichen Krankenkassen als auch bei privaten Krankenversicherungsunternehmen realisiert werden können. In dieser neuen Pflichtversicherung sollte Kontrahierungszwang herrschen, und Risikozuschläge sollten unzulässig sein. Alle Krankenversicherer, die die Pflichtversicherung durchführen, erhalten dann pauschalierte Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich. Nur auf dieser Grundlage eines einheitlichen Versicherungssystems können wir auch die Lösung der weiteren zentralen Probleme, die unser Gesundheitssystem leider prägen und eine gute medizinische Versorgung für die Menschen in Deutschland gefährden, angehen. Denn das deutsche Gesundheitssystem ist leider insgesamt schlechter als sein Ruf: in der Welt hoch angesehen wegen seiner Solidarität zwischen den Versicherten und wegen der hohen Qualität der Ärzte, Pfleger und der Einrichtungen. In Wahrheit allerdings verschärft sich die Zweiklassenmedizin immer mehr, was jeder gesetzlich Versicherte - und das sind 90 Prozent der Bevölkerung am eigenen Leib spürt. Im Vergleich zu privat Versicherten müssen gesetzlich Versicherte dreimal so lange beim niedergelassenen Facharzt warten, und das auch bei wichtigen diagnostischen Leistungen, die für die Abklärung einer ernsthaften Erkrankung notwendig sind. Aber auch wenn er einen Termin bekommt, ist eine adäquate Versorgung keineswegs gewährleistet. Auch wenn die Beitragszahler so viel Geld wie in kaum einem anderen Land für die medizinische Versorgung bereitstellen, ist die Qualität meist nur Mittelmaß. Mehrere Ursachen führen zu diesem Befund: Erstens ist unser ganzes System zu wenig auf Vorbeugemedizin ausgerichtet. Über 95 Prozent unserer Gesundheitsausgaben gehen in die rein kurative Versorgung. Dabei ist es mittlerweile wissenschaftlich gesichert, dass rund 80 Prozent aller Krankheitsfälle durch eine bessere Vorbeugung vermieden, aufgeschoben oder gelindert werden können. Zweitens. Uns gehen die Hausärzte aus. Wir haben zwar immer noch eine hohe Ärztedichte, aber leider nicht mehr bei den Hausärzten. In kaum einem anderen Land gibt es so viele Fachärzte pro Hausarzt, nämlich zweieinhalb Mal so viel, wie in Deutschland. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Hausärzte jedes Jahr weiter ab. Das ist besonders bitter, weil die Hausärzte diejenigen wären, die verstärkt die Vorbeugemedizin anbieten könnten, weil sie oft ihre Patienten über lange Zeiträume hinweg versorgen. Drittens. Die einzelnen Akteure arbeiten nicht gut genug zusammen. Kein Gesundheitssystem der Welt trennt so streng die Aufgaben der Krankenhäuser von den Aufgaben der niedergelassenen Ärzte wie unseres. Für die schweren Fälle ist das Krankenhaus zuständig, für die leichten der niedergelassene Hausarzt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass wir eines der wenigen Länder sind, das Fachärzte sowohl in der Praxis als auch im Krankenhaus vorhält. So kommt es, dass in vielen Fällen die niedergelassenen Fachärzte sogar mit den Klinikärzten um denselben Patienten konkurrieren anstatt zu kooperieren. Viertens. Die Fortbildung unserer Ärzte ist zu schlecht organisiert und zu gering vergütet. In kaum einer Disziplin ist der Fortschritt so rasant wie in der Medizin. Täglich erscheinen Hunderte medizinische Studien. Es gibt mehrere Zehntausend medizinische Fachzeitschriften. Ein Allgemeinarzt müsste jeden Tag 17 Artikel lesen, um sich über die in seinem Fachgebiet gewonnenen Erkenntnisse zu informieren. Die jetzt vorgeschriebene ärztliche Fortbildung wird meistens von der Pharmaindustrie gesponsert und ist mit einfachsten Anforderungen im Internet zu bewältigen. Das System belohnt Ärzte, die es sich so einfach wie möglich machen, und bestraft diejenigen, die viel Geld und Zeit in ihre Fortbildung investieren. Fünftens. Wir haben zwar viele Fachärzte, aber wenig Spezialisten. Ein Facharzt für Chirurgie beispielsweise, der auch Knieverletzungen operiert, ist längst noch kein Meniskusspezialist. Daher kommen bei uns für viele Krankheiten mehr Fachärzte, aber weniger Spezialisten auf 1 000 Einwohner als in anderen Ländern. Dies ist eine direkte Folge des falschen Honorarsystems, in dem eine konsequente Spezialisierung für viele Fachärzte das wirtschaftliche Aus bedeutet hätte. So kommt es, dass die wenigen Spezialisten in Deutschland vorwiegend privat Versicherte behandeln, weil sie dort ein höheres Honorar generieren können. Das Nachsehen hat auch hier die große Mehrheit der gesetzlich Versicherten, die entweder gar nicht beim Spezialisten drankommt oder sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen muss. Die Lösung dieser Probleme hat die SPD in ihrem Programm vorgelegt. Das werden wir in der WahlauseinanZu Protokoll gegebene Reden dersetzung deutlich machen, und das werden wir auch nach der Wahl umsetzen. Wir brauchen einen dritten Weg jenseits von Marktradikalisierung und Staatsmedizin. Das zentrale Anliegen dabei muss die Überwindung des zweigeteilten Versicherungssystems sein. Wir brauchen eine Versicherung von allen, von allem für alle. Damit einher geht auch eine einheitliche Gebührenordnung für privat wie gesetzlich Versicherte gleichermaßen. Dies wäre der wirkungsvollste Ansatz im Kampf gegen die Zweiklassenmedizin. Die Kliniken sollten stärker als bisher für die ambulante Versorgung geöffnet werden. Auch hier sollte eine einheitliche Gebührenordnung für niedergelassene Fachärzte und Kliniken gelten. In diesem Fall belebt Konkurrenz nicht nur das Geschäft; die stärkere Öffnung der Krankenhäuser kann auch zu mehr Kooperation und damit zu einer Qualitätssteigerung führen. Wir müssen Hausärzte deutlich besser bezahlen als heute. Heute ist es so, dass diejenigen Ärzte am meisten verdienen, die kaum einmal einen Patienten lebend oder am Stück zu Gesicht bekommen, wie Pathologen oder Laborärzte. Die Hausärzte hingegen waren in den letzten beiden Jahrzehnten fast immer die Verlierer bei den innerärztlichen Honorarverteilungskonflikten. So kommt es, dass heutzutage ein Hausarzt nur noch die Hälfte dessen verdient wie beispielsweise ein Röntgenarzt. Eine bessere Honorierung der Hausärzte, die diesen Beruf wieder so attraktiv macht, wie er es verdient, ist auch der Schlüssel zu mehr Vorbeugemedizin. Der dritte Weg in der Gesundheitspolitik wäre in der Tat der beste, würde man ihn auch konsequent gehen. Er verbindet die Vorteile des Marktes mit denen eines starken Sozialstaates. Die Rolle des Marktes ist es dabei, Innovation und Wirtschaftlichkeit zu stützen. Dazu muss der Verbraucher gestärkt werden. Weil er ohne Hilfe nicht erkennen kann, was echte Innovationen sind und was nur als Innovation verkauft wird, müssen die Krankenkassen und die Verbraucherschützer die Qualität der Tätigkeit von Ärzten und Kliniken auswerten und öffentlich machen. Ärzte müssen ohne Einfluss der Pharmalobby fortgebildet und nach der Qualität ihrer Leistungen honoriert werden, nicht nach der Zahl der Privatpatienten. Zum besseren Wettbewerb gehört auch eine bessere Bezahlung von Vorbeugeleistungen, die besonders von Hausärzten angeboten werden. Es ist unsinnig, die Vorbeugung zu vernachlässigen, nur um unser Überangebot an Fachärzten auszulasten. Daher müssen die Wettbewerbsbedingungen so geändert werden, dass man mit dem Erhalt der Gesundheit so gut verdienen kann wie mit ihrer Wiederherstellung. Eine gute Gesundheitspolitik kann dafür sorgen, dass alle, ob arm oder reich, von einem Gesundheitssystem, das sich durch Qualität und Wirtschaftlichkeit auszeichnet, profitieren. Sie muss garantieren, dass genug Geld in die Aus- und Weiterbildung von Ärzten fließt, und die Forschung in Deutschland gezielt fördern. Dann könnte das deutsche Gesundheitssystem international an die Spitze zurückkehren. Das Potenzial dafür hat Deutschland, und die Bürger werden in den kommenden Jahren die Politik unterstützen, die dafür sorgt, dass dieses Potenzial endlich ausgeschöpft wird. Sie können sicher sein, dass die SPD genau diese Politik vertritt und gestalten wird.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Linke macht mit ihrem Antrag auf einen Missstand aufmerksam, den auch die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag stets kritisiert hat. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung - GKV-WSG - wird die Höhe der Prämie für hilfebedürftige Versicherte im Basistarif einer privaten Krankenversicherung halbiert. Diese Halbierung muss durch die Versichertengemeinschaft der privaten Krankenversicherung getragen werden. Zu der dann noch verbleibenden Prämie erhält der hilfebedürftige Versicherte zwar einen Zuschuss aus Steuermitteln, es bleibt jedoch eine für viele nicht schulterbare Finanzierungslücke. Diese Finanzierungslücke von über 155 Euro ist der schwarz-roten Koalition nicht nur bereits seit dem Gesetzgebungsverfahren zum GKV-WSG bekannt, sie hat sie sogar bewusst ignoriert, wie Frau Dr. Reimann, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, dies im „Tagesspiegel“ vom 4. Mai 2009 auch offen zugibt. Damit sollte ganz bewusst eine Situation geschaffen werden, die darauf hinausläuft, dass die anderen PKV-Versicherten diese Finanzierungslücke durch eine Verteuerung ihrer Tarife schließen müssen. Das ist nicht nur inhaltlich falsch. Das ist auch unverantwortliches politisches Handeln. Eine solche Irreführung der Parlamentarier, die über das Gesetz abzustimmen hatten, und auch der Bürger, die diesen Prozess aufmerksam beobachtet haben, ist dem Ansehen des Gesetzgebers und der Politik nicht förderlich. Für Frau Dr. Reimann stellt dies, so ihre Äußerungen im genannten Beitrag des „Tagesspiegels“, „kein Problem“ dar. Es handle sich ja nicht um besonders viele Fälle. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist dies jedoch ein weiterer Schritt in das Aufweichen der politischen Sitten. Und es ist die Fortsetzung des Versuchs, die private Krankenversicherung zu schwächen, um beim Marsch in ein staatlich gelenktes, zentralistisches Einheitskassensystem wieder ein Stück voranzukommen. Die Linke greift mit ihrem zur Debatte stehenden Antrag zwar dankenswerterweise ein berechtigtes Anliegen auf. Nichtsdestoweniger ist die Lösung, die Finanzierungslücke durch die Versichertengemeinschaft der privaten Krankenversicherung tragen zu lassen, falsch. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es zwar eine Selbstverständlichkeit, dass derjenige, der seine Prämie aus eigenen Kräften nicht schultern kann, unterstützt werden muss. Aus den Regelsätzen für Hartz IV bzw. der Grundsicherung kann die Finanzierungslücke bei der Prämie nicht bestritten werden. Dies ist für die FDP-Bundestagsfraktion jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die damit nicht über die Versichertengemeinschaft, sondern über das Steuer- und Transfersystem gelöst werden muss. Auch in unserem Antrag „Für ein einfaches, transparentes und leistungsgerechtes Gesundheitswesen“, der im Plenum des Deutschen Bundestages bereits beraten wurde, schlagen wir einen sozialen Ausgleich Zu Protokoll gegebene Reden Daniel Bahr ({0}) über das Steuer- und Transfersystem vor. Denn dort ist er transparenter und zielgenauer.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

„Alle Menschen werden krankenversichert“ ließ die Bundesregierung 2007 republikweit plakatieren. Ein ehrgeiziges Ziel, ein richtiges Ziel! Aber daran muss sich die Bundesregierung auch messen lassen. Werden alle Menschen krankenversichert? Nein! Es gibt etwa eine Million papierlose Flüchtlinge - manche nennen sie „Illegale“ -, die in aller Regel keine Absicherung im Krankheitsfall haben. Das haben wir schon mehrfach in Anfragen thematisiert, und die Bundesregierung hat abgewunken. Aber auch nicht alle „legalen“ Einwohner Deutschlands haben einen Krankenversicherungsschutz. Darum geht es bei unserem Antrag. Es gibt eine große Gruppe von geringverdienenden Selbstständigen, die nicht krankenversichert waren und die immer noch unversichert sind. Ihr Problem vor der Gesetzesänderung 2007 war, dass sie sich die Krankenversicherung schlicht nicht leisten konnten. Seit April 2007 haben nun die zuletzt gesetzlich versicherten Selbständigen zwar die Pflicht, sich zu versichern. Sie haben jedoch - das ist das Kernproblem immer noch nicht das Geld dazu. Im Gegensatz zu geringverdienenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen Selbstständige mit gleich niedrigem Einkommen relativ hohe Krankenkassenbeiträge zahlen. Mindestens 300 Euro müssen sie monatlich der Krankenkasse überweisen. Nur unter gewissen Voraussetzungen wird dies auf 200 Euro Mindestbeitrag gesenkt. Das entspricht dem Beitrag bei einem Einkommen von 1 890 Euro bzw. 1 260 Euro. Viele Selbstständige - der Döner-Verkäufer, der Handwerker, die Friseurin oder die Kioskbesitzerin - haben oft nur um die 900 Euro Gewinn. Davon sollen sie dann 200 oder 300 Euro Krankenkassenbeiträge zahlen. Das entspricht einer Beitragsbelastung von bis zu 33 Prozent. Zum Vergleich: Der normale Arbeitnehmer zahlt zusammen mit seinem Arbeitgeber 15,5 Prozent, alleine aus seinem Einkommen 8,2 Prozent. Ein Bundestagsabgeordneter zahlt wegen der Beitragsbemessungsgrenze nur einen Eigenanteil von 3,9 Prozent! Dies ist eine Riesen-Ungerechtigkeit! Eine Call-Center-Telefonistin auf Selbstständigen-Basis zahlt prozentual zehn Mal mehr als ein gutverdienender Bundestagsabgeordneter. Wir wollen eine allgemein verbindliche Untergrenze von 840 Euro. Unterhalb dieser Summe tritt in der Regel Hilfebedürftigkeit ein und die ARGE zahlt die Krankenversicherung. Darüberliegende Einkommen sind in ihrer realen Höhe zur Beitragszahlung heranzuziehen. Die bisherigen fiktiven Mindesteinkommen werden abgeschafft. Im Ergebnis zahlen die betroffenen Selbstständigen mit 840 Euro Monatseinkommen also nicht mehr 300 oder 200 Euro, sondern nur 130 Euro. Das ist völlig ausreichend, finden wir. Das gilt für alle Selbstständigen, die gesetzlich krankenversichert sind. Bei der Gruppe der privat Versicherten gibt es ein anderes Problem, welches wir lösen wollen. Ist ein Selbstständiger, der arbeitslos wird, Mitglied in einer privaten Krankenversicherung, dann hat er Pech: Seit Anfang 2009 ist er gesetzlich gezwungen, in der privaten Krankenversicherung zu bleiben. Die private Krankenversicherung darf im Basistarif von Hilfebedürftigen 284,81 Euro verlangen. Die ARGE zahlt aber nur 129,54 Euro. Es bleibt also eine Differenz von 155,27 Euro. Wer zahlt das? Die Bundesregierung sagt: Das muss der Hilfebedürftige selbst zahlen. Seit Monaten erinnere ich die Bundesregierung an diesen sozialpolitischen Mangel und erhalte immer die gleiche abweisende Antwort: Man sehe hier durchaus Handlungsbedarf und man habe eine Arbeitsgruppe gegründet, die Lösungen erarbeiten soll. Ich habe die Hoffnung ja noch nicht aufgegeben, dass die Ministerien für Soziales und Gesundheit - beide SPD-geführt hier nicht nur heiße Luft produzieren, sondern Politik für die Betroffenen machen. Auf meine Fragen hat die Bundesregierung zudem geantwortet, die privaten Krankenversicherungen müssten bei Hilfebedürftigen alle Leistungen erbringen - auch wenn diese nicht zahlten. Das ist richtig. Jedoch bauen die Hilfebedürftigen damit Schulden bei ihrer Versicherung auf. Nach derzeit geltendem Recht bedeutet das: Wer zum Januar 2009 arbeitslos wurde und immer nur die 129,54 Euro weiterreicht, die die ARGE für eine Krankenversicherung zur Verfügung stellt, bekommt zwar alle Leistungen. Er hat aber Ende 2009 bereits knapp 1 900 Euro Schulden. Falls er dann wieder Arbeit findet, wird er erstens sofort zahlungspflichtig und zweitens kann die Versicherung die Leistungen dann so lange auf ein Mindestmaß kürzen, bis alles beglichen ist. Das ist absurd. Betroffene haben sich an mich gewendet. Sie wollen mittlerweile ihre Krankenversicherung kündigen, obwohl sie krank sind und dringend eine Versicherung brauchen. Sie haben genug von der immer bedrückenderen Verschuldung und genug von dem Rechtsstreit mit der Versicherung. Mit jedem Tag, an dem wir hier im Bundestag mit der Entscheidung warten, wird das Problem drängender. Daher bitte ich Sie, dieses Gesetz noch vor der Bundestagswahl zu ändern.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

„Ganz Deutschland ist versichert!“ - so jubelte es aus den Anzeigen der Bundesregierung nach der Gesund- heitsreform. Die allgemeine Versicherungspflicht wurde als sozialpolitische Großtat dargestellt und sollte so über die vielen Defizite der Reform hinwegtäuschen. Doch schon nach kürzester Zeit erweist sich das als bloßes Illusionstheater. Tatsächlich hat die Gesundheitsreform nichts daran geändert, dass für viele Selbstständige der Krankenversicherungsschutz nicht finanzierbar ist. Das betrifft insbesondere solche Selbstständigen, die als Ein- Mann- bzw. Ein-Frau-Unternehmen tätig sind. Diese Gruppe macht inzwischen mehr als die Hälfte aller Selbstständigen aus. Doch das Krankenversicherungs- recht geht nach wie vor von einem überholten Selbst- ständigenbild aus. Demnach sind Selbstständige typi- scherweise in der Lage, selbst für die Kosten ihrer Gesundheitsversorgung aufzukommen, und deshalb nicht auf den Schutz der Solidargemeinschaft angewiesen. Die- Zu Protokoll gegebene Reden ses Selbstständigenbild ist aber überholt. Viele der über 2,3 Millionen Solo-Selbstständigen verfügen über deut- lich geringere Einkommen als vergleichbar qualifizierte Angestellte. Der Basistarif in der PKV ist für sie zu teuer, die Mindestbemessungsgrundlage in der GKV zu hoch. Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken schlagen deshalb vor, den Basistarif und die Mindestbemessungs- grundlage weiter abzusenken. Ich halte diesen Vorschlag für begründet. In der gesetzlichen Krankenversicherung werden die Beiträge einkommensabhängig erhoben. Min- destbeiträge sind innerhalb dieses Solidarsystems eigent- lich ein Fremdkörper. Schade ist allerdings, dass der An- trag mit keinem Wort auf die wesentliche Ursache dieses sozialpolitischen Problems eingeht. Und das ist die Zwei- teilung unseres Krankenversicherungssystems in GKV und PKV und der Umstand, dass sich ausgerechnet die wirtschaftlich leistungsstärksten Bevölkerungsgruppen dem Solidarausgleich innerhalb der GKV entziehen kön- nen. Es ist dieses „Ausstiegsprivileg“, das innerhalb der GKV eine Mindestbemessungsgrundlage für freiwillig Versicherte erforderlich macht. Ohne eine solche Grenze würden sich für die gesetzliche Krankenversicherung vor allem einkommensschwache Selbstständige mit hohen Gesundheitsrisiken entscheiden, die keine kostengünstige Aufnahme in die PKV finden. Die meisten anderen Selbst- ständigen würden sich auch weiterhin privat versichern. Damit würden aber die gesetzlich Krankenversicherten weiter belastet. Und das ist auch schon dann der Fall, wenn man auf die Mindestbemessungsgrundlage nicht verzichtet, sondern sie deutlich reduziert. Der von den Kolleginnen und Kollegen der Linken angestrebte Min- destbeitrag von 125 bis 130 Euro würde die entstehenden Leistungsausgaben im Durchschnitt nicht decken. Damit ist für mich die Forderung nach einer Reduzierung des Mindestbeitrags nicht vom Tisch. Aber diese Überlegung zeigt auch, dass eine wirklich gute Lösung nur mit einer umfassenden Reform zu finden sein wird. Erst durch die Weiterentwicklung unseres Krankenversicherungssys- tems in eine Bürgerversicherung, an der alle Bevölke- rungsgruppen beteiligt sind, werden sich die vielen Sys- tembrüche und Ungerechtigkeiten, die heute zwischen GKV und PKV stattfinden, beheben lassen.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Lassen Sie mich zu dem vorliegenden Antrag der Frak- tion Die Linke eines feststellen: Die Bundesregierung hat bedürftigen Selbstständigen bereits eine wichtige Hilfe gegeben. Selbstständige, die nur ein geringes Einkommen haben, zahlen 30 Prozent weniger Beiträge als im Nor- malfall. Das haben wir mit der letzten Gesundheitsreform realisiert. Allen Selbstständigen geringere Beitragszah- lungen ermöglichen zu wollen, halte ich aber für zu weit gegriffen. Nicht nur die Selbstständigen, sondern alle Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung sind daran interessiert, möglichst geringe Beiträge zur gesetz- lichen Krankenversicherung zu zahlen. Ein verständli- ches Anliegen. Beitrag und Leistung müssen jedoch immer in einem angemessenen Verhältnis zueinanderste- hen, die Krankenversicherung macht hier keine Aus- nahme. Besondere Mindestbeiträge für Selbstständige haben schon deshalb einen Sinn, weil das Steuerrecht den Selbstständigen, anders als Arbeitnehmern, eine gewisse Gestaltbarkeit des Einkommens erlaubt. Diese steuer- rechtlichen Möglichkeiten dürfen sich aber nicht in Form ungerechtfertigt niedrigerer Beiträge auf die gesetzliche Krankenversicherung auswirken. Zudem belasten Versi- cherte, die keine oder nur geringe Beiträge zahlen, die übrigen Beitragszahler der Solidargemeinschaft, da Bei- tragsfreiheit oder geringe Beiträge immer von den übri- gen Beitragszahlern mitfinanziert werden müssen. Das kann nicht richtig sein. Zum zweiten Punkt Ihres Antrags will ich betonen: Mit der Gesundheitsreform haben auch Menschen mit gerin- gerem Einkommen die Möglichkeit erhalten, in der PKV versichert bleiben zu können; denn seit dem 1. Januar 2009 dürfen die Versicherungsunternehmen niemandem mehr kündigen, der Beitragsrückstände aufweist. Sie müssen zudem Notfallleistungen in jedem Fall bezahlen. Und bei Hilfebedürftigen im Basistarif müssen die Versi- cherer die Leistungen sogar in vollem Umfang gewähren. Es kann also keine Rede davon sein, dass - wie Sie schrei- ben - die Betroffenen keinen Krankenversicherungs- schutz garantiert bekämen. Zu dem Problem, um das es Ihnen konkret geht - die Beitragslücke, die nur bei Per- sonen entstehen kann, die bereits ALG II beziehen und privat versichert sind -, habe ich bereits im Gesundheits- ausschuss Stellung genommen. Die Bundesregierung prüft derzeit verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Das Ergebnis dieser Prüfung werden Sie abwarten müssen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12734 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD Sicherheit, Stabilität und Demokratie im Süd- kaukasus fördern - Drucksachen 16/12102, 16/12726 - Berichterstattung: Abgeordnete Eduard Lintner Markus Meckel Harald Leibrecht Dr. Norman Paech b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Marieluise Beck ({2}), Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bündnis 90/DIE Grünen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Demokratie und Sicherheit im Südkaukasus stärken - Drucksachen 16/12110, 16/12727 - Berichterstattung: Abgeordnete Eduard Lintner Markus Meckel Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Hierzu haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre Reden zu Protokoll gegeben: Manfred Grund, Eduard Lintner, Markus Meckel,1) Dr. Bärbel Kofler, Michael Link, Dr. Hakki Keskin und Rainder Steenblock.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unsere Sicht auf den Südkaukasus wird noch von dem Eindruck des Georgienkrieges vom letzten August domi- niert. Allerdings sind damit auch einige positive Entwick- lungen aus dem Blickfeld geraten. Ich nenne nur einige vorsichtigen Zeichen der Annäherung zwischen Arme- nien und der Türkei wie auch zwischen Armenien und Aserbaidschan. Allerdings sind nach wie vor 20 Prozent aserbaidschanischen Territoriums besetzt, festigt Russ- land seine Präsenz in den abtrünnigen georgischen Ge- bieten. Der Georgienkrieg hat die Abspaltung Abchasiens und Südossetiens zwangsläufig nur vertieft. Wir werden noch abzuwarten haben, wie sich die innenpolitische Aufarbei- tung der damaligen Ereignisse in Georgien selbst voll- zieht. Hier sind im Augenblick noch Klärungsprozesse im Gange, deren Ausgang mit darüber entscheiden wird, wie sich unsere Zusammenarbeit mit Georgien weiter entwi- ckeln sollte. Ich begnüge mich an dieser Stelle mit dem Hinweis, dass das Verhalten des georgischen Präsidenten im Zusammenhang mit dem Krieg im August für mich un- sere Skepsis gegenüber einem möglichen Membership Action Plan der NATO für Georgien bestätigt hat. Die Krisenpräventionsmechanismen haben offensicht- lich versagt. Allerdings war der Friedenswille auf beiden Seiten begrenzt. Russland war auf den Krieg anscheinend vorbereitet. Letztlich hat jedoch nicht Moskau, sondern Georgien den Konflikt bewusst eskalieren lassen. Wenn es einmal soweit kommt, helfen natürlich auch keine Prä- ventionsmechanismen mehr. Welche Schlüsse ergeben sich daraus? Erstens sollten sich alle Beteiligten von der Vorstellung verabschieden, es ließen sich im Kaukasus heute effektive Sicherheits- strukturen ohne Einbeziehung Russlands aufbauen. Umso wichtiger ist gerade deshalb der Ausbau der re- gionalen Zusammenarbeit. Das Konzept der Schwarz- meersynergie ist in dieser Hinsicht nach wie vor wegwei- send. Und gerade auch die „Östliche Partnerschaft“ bietet den Ländern der Region eine Chance, bestehende Trennlinien durch kooperative Ansätze zu überwinden. 1) Lag bei Redaktionsschluss nicht vor. Die Rede wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt. Aber auch im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland, zwischen der EU oder der NATO einerseits und Russland andererseits zeigte sich, wie unterentwickelt die Mechanismen für die Krisenbewältigung sind. Zwar möchte ich ausdrücklich hervorheben, dass die französische Ratspräsidentschaft insgesamt sehr positiv agiert hat, trotz aller Schwierigkeiten und Kritik. Demgegenüber war es in meinen Augen jedoch ein Fehler, den NATO-Russland-Rat auszusetzen. Welche Gremien haben wir denn sonst für den Krisenfall? Deshalb sollten wir auch auf die Vorschläge Präsident Medwedews zur Ausgestaltung einer umfassenden Sicherheitsarchitektur in Europa ernsthaft eingehen. Es kommt nur darauf an, dass hierbei nicht einfach nur eine Art Einspruchsrecht gegenüber EU- oder NATO-Entscheidungen gemeint ist. Russland ist jetzt gefordert, seine bislang recht vagen Vorschläge zu konkretisieren. Auf Präsident Medwedews Vorschläge eingehen zu wollen, bedeutet nicht, die bestehende Sicherheitsarchitektur in Europa infrage zu stellen. Aber das seit dem Ende des Kalten Krieges ungelöste Problem dieser Sicherheitsarchitektur ist die mangelnde Einbindung Russlands gewesen. Solange Russland in einer Art Außenseiterrolle verbleibt, wird es seine auch machtpolitische Selbstbestätigung in Form innen- und außenpolitischer Sonderwege suchen. Natürlich muss die Anerkennung von Südossetien und Abchasien auf unsere Ablehnung stoßen. Aber Russland hat bereits zur Kenntnis nehmen müssen, wie isoliert es in dieser Angelegenheit geblieben ist. Auch die russische Politik sieht sich in dieser Hinsicht ja in einem Dilemma. Moskau weiß sehr wohl, wie angewiesen Russland auf ein kooperatives Verhältnis gegenüber dem Westen ist. Und die wirtschaftlichen Folgewirkungen des Krieges in Georgien haben dies ja auch noch einmal sehr deutlich gemacht. Russland sollte deshalb auch selbst daran interessiert sein, Zeichen des guten Willens und der Zusammenarbeit gegenüber Europa zu setzen. In diesem Zusammenhang haben Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy im Februar in einem gemeinsamen Artikel auf das Beispiel Transnistrien verwiesen. Inwieweit Russland hier zu Konzessionen bereit oder fähig ist, wird sich zeigen. Grundsätzlich hat aber auch die Finanzkrise gegenseitige Abhängigkeiten beleuchtet. Und ebenso verbinden sich mit der neuen Administration in Washington Aussichten auf eine engere Zusammenarbeit, nicht nur im russisch-amerikanischen Verhältnis. Auch innerhalb der EU dürften so kooperative Ansätze gestärkt werden. Beide Seiten sollten darin eine Chance sehen. Auch auf den Kaukasus werden diese Entwicklungen nicht ohne Einfluss bleiben. Alle Länder werden sehr viel stärker davon profitieren, wenn sie sich auf ihre innere Entwicklung konzentrieren können, anstatt auf innere und äußere Konflikte. Die EU bietet bereits im Rahmen ihrer bestehenden Instrumente ein breites Spektrum an Transformationshilfen an. Es kommt allerdings entscheidend darauf an, dass sie von den Regierungen in der Region entsprechend angenommen werden; und dass Reformen auch dann effektiv implementiert werden, wenn sie die Macht der jeweils Herrschenden zu beschneiden drohen. Der Kaukasus behält für Europa seine strategische Bedeutung, nicht zuletzt im Blick auf unsere Energieversorgung. Deshalb ist es auch richtig, dass wir an der politischen Unterstützung für die Nabucco-Pipeline festhalten. Für unsere Versorgungssicherheit, aber auch für Sicherheit und Stabilität in Europa insgesamt bleibt der Kaukasus eine Schlüsselregion. Deshalb kann auch der Georgien-Krieg uns nur in unserer Absicht bestärken, die Transformations- und Friedensprozesse in der Region zu unterstützen.

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist sehr begrüßenswert, dass wir trotz des engen Zeitplans des Parlaments in den letzten Wochen vor der Sommerpause doch noch einmal die Zeit finden, über den Südkaukasus zu sprechen. Denn dort liegt einer der weltpolitischen Brennpunkte, und aus der jüngsten Vergangenheit wissen wir, wie schnell sich dort schwelende Konflikte in kriegerische Feuer verwandeln können. Dagegen gilt es politische Vorkehrungen zu treffen. An erster Stelle ist hier die Gründung der „Östlichen Partnerschaft“ der EU zu nennen, zu der nun auch alle drei südkaukasischen Republiken gehören. Die „Östliche Partnerschaft“ macht deutlich, dass diese Staaten zu Europa gehören und dass sie für die Außenpolitik der EU künftig eine wichtige Rolle spielen sollen. Die Bundeskanzlerin hat mit ihrer persönlichen Anwesenheit in Prag ein deutliches Zeichen dafür gesetzt und so bekundet, dass Deutschland an der Entwicklung der „Östlichen Partnerschaft“ großes Interesse hat. Aber jetzt muss der durch die Partnerschaft geschaffene Rahmen entschlossen und zügig mit konkreten Projekten gefüllt werden. Im Anschluss an den Gründungsgipfel der „Östlichen Partnerschaft“ fand noch ein Energiegipfel der EU statt, der für die Realisierung der Nabucco-Pipeline wichtige Fortschritte gebracht hat. So hat die Türkei ihr Junktim zwischen der Teilnahme an dem Pipelineprojekt und den EU-Beitrittsverhandlungen aufgehoben, und gleichzeitig hat Aserbaidschan die Belieferung von Nabucco mit Gas zugesagt. Damit ist dieses Projekt, das für die künftige sichere Energieversorgung Europas so wichtig ist, hoffentlich auf gutem Wege. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Projekt noch weitere positive Impulse für die gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung der Region und für die Bindungen zwischen dem Südkaukasus und Europa auslöst. Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn noch möglichst viele andere Staaten aus Zentralasien und dem Mittleren Osten als Gaszulieferer für Nabucco gewonnen werden könnten. Die positiven Ergebnisse von Prag werden noch dadurch unterstrichen, dass auch die Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans zu Gesprächen über die Beilegung des Konflikts um die Region Berg-Karabach zusammenkamen. Diese auf Vermittlung der USA und der Türkei zustande gekommenen Gespräche bieten nun eine weitere Chance, diesen seit anderthalb Jahrzehnten schwelenden Konflikt einer Lösung näher zu bringen. Die Gespräche müssen nun in einen Prozess münden, in dem die Wahrung und Wiederherstellung der territorialen Integrität der beteiligten Staaten sowie die Rückführung der Flüchtlinge oberste Priorität haben müssen. Die Bundesregierung kann dabei in ihrer Rolle als Mitglied der Minsk-Gruppe wertvolle Hilfestellungen leisten und sollte die neuen Impulse im armenisch-aserbaidschanischen Verhältnis entschlossen nutzen, um einen abermaligen Stillstand in den Verhandlungen zu verhindern. Wie entscheidend es für das friedliche Miteinander von Staaten ist, den Anspruch jedes Landes auf Respektierung seiner territorialen Integrität zu achten, zeigen die gravierenden Folgen der Verletzung dieses zentralen Völkerrechtsprinzips. Regelmäßig sind Tod und Leid für die betroffene Bevölkerung, die Vertreibung und Heimatlosigkeit Tausender, wenn nicht Millionen von Menschen die Folge, wird mit der vorhandenen Infrastruktur auch die Basis für sicheres Auskommen und wachsenden Wohlstand zerstört. Die Chancen für eine friedliche Zukunft werden oft für Generationen vernichtet. Wachsende Verzweiflung, unbändige Wut und Hass belasten die Beziehungen auf Jahrzehnte hinaus. Das zu verhindern ist eine überaus wichtige humane Pflicht der Politik vor allem jener Staaten, die wie zum Beispiel Russland entscheidenden Einfluss auf das Geschehen haben. In Georgien gibt es nach Wochen der Konfrontation zwischen Regierung und Opposition nun Anzeichen für eine neue Dialogbereitschaft auf beiden Seiten. Georgien braucht nach den verheerenden Ereignissen des vergangenen Sommers wahrlich keine neuen Konflikte. Daher ist die am Montag begonnene Runde von Gesprächen zwischen Präsident Saakaschwili und Vertretern der Opposition ein gutes Zeichen. Die georgische Politik braucht aber auch die Gewissheit, dass sie von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Daher war es gut und richtig, das schon lange geplante NATO-Manöver in der vergangenen Woche trotz der Kritik aus Moskau abzuhalten. Die Äußerungen des Bundesministers des Auswärtigen vom vergangenen Wochenende in dieser Sache sind mir vor diesem Hintergrund nicht verständlich. Es mag vielleicht sein, dass das Manöver die Gefahr einer Reizung Moskaus mit sich gebracht hat. Eine kurzfristige Absage hätte aber als ein Hinweis darauf missverstanden werden können, dass die westliche Staatengemeinschaft tatsächlich den Anspruch Moskaus, das Land als seine exklusive Interessensphäre zu behandeln, hinnimmt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass das in letzter Zeit gezeigte große Interesse Europas am Geschehen im Südkaukasus und den dortigen Staaten nicht, wie schon so oft in der Vergangenheit, wieder nachlässt. Dafür ist die Region mit ihren Menschen, ihrer Kultur, ihrem Engagement, den Vorkommen an wichtigen Rohstoffen und der Funktion als Brücke von Europa nach Asien und dem Mittleren und Nahen Osten zu bedeutsam. Deutschland und Europa müssen in verlässlicher Weise engagiert bleiben.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Länder des südlichen Kaukasus - Armenien, Aserbaidschan und Georgien - haben nach der Auflösung der Zu Protokoll gegebene Reden Sowjetunion einen dramatischen Zusammenbruch ihrer Wirtschaft und ihrer sozialen Sicherungssysteme erfahren. Die desolate wirtschaftliche Situation verknüpfte sich mit ethnischen und religiösen Konflikten, die ihre Wurzeln in der Geschichte der Region Südkaukasus haben. Gleichzeitig gibt es derzeit in allen drei Ländern einen großen Bedarf am Aufbau von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen. Das Verhältnis Georgiens zum Nachbarstaat Russland ist durch die noch offene Regelung der Abchasien- und Südossetien-Frage seit Jahren spannungsreich. Auch der ungelöste Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan beunruhigt die Region. Seit 1994 gibt es einen fragilen Waffenstillstand zwischen beiden Staaten, jedoch keinen Kompromiss, der den Frieden ermöglicht. Die Krise zwischen Russland und Georgien erreichte im vergangenen Jahr eine Zuspitzung und zeigte zugleich die internationale Dimension des südkaukasischen Konflikts. Die Region des südlichen Kaukasus ist als Schnittstelle zwischen Europa und Asien von großer politischer Bedeutung. Die drei Südkaukasus-Länder streben eine engere Bindung an Europa und die westliche Staatengemeinschaft an. Davon erhoffen sie sich einen Beitrag zur Lösung ihrer gegenwärtigen Problemsituation. Alle drei Staaten sind seit einigen Jahren Mitglieder im Europarat, sind Partnerstaaten der Europäischen Nachbarschaftspolitik, und Georgien strebt zudem eine NATO-Mitgliedschaft an. Frieden und Entwicklung in dieser Region sind mithin für die internationale Gemeinschaft von großem Interesse. An erster Stelle aber ist eine demokratische und wirtschaftliche Entwicklung für die Völker des Südkaukasus, für die Menschen vor Ort von besonderer Dringlichkeit. Immer noch leben die Hälfte der Männer und Frauen in diesen Ländern unterhalb der Armutsgrenze. Hinzu kommen die schrecklichen Erfahrungen von Krieg und Bürgerkrieg. Die gesundheitliche Situation ist durch die grenzüberschreitende Gefahr der Tuberkulose überschattet. Eine Kultur der gewaltfreien Konfliktlösung bedarf ebenso der Förderung wie der Schutz für Minderheiten. Um die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Südkaukasus zu stärken, den Menschen vor Ort Perspektiven zu geben und eine regionale Kooperation zwischen den Ländern des Südkaukasus zu erreichen, leistet auch die deutsche Entwicklungspolitik ihren Beitrag. Die Eckpfeiler der Entwicklungszusammenarbeit mit der Region des südlichen Kaukasus sind der Ausbau des demokratischen Rechtssystems sowie die Stärkung der kommunalen Demokratie und der Zivilgesellschaft. Die Förderung der Privatwirtschaft und des Energiesektors sowie der Aufbau von grenzüberschreitenden Nationalparks gehören ebenso dazu wie die Bekämpfung der Tuberkulose. Beispielsweise wird durch die deutsche Technische Zusammenarbeit in allen drei Ländern Beratung für den Aufbau unabhängiger und funktionsfähiger Justizsysteme bereitgestellt. Seit 1999 werden in Georgien daher fachliche Richterprüfungen durchgeführt. Bereits amtierende Richter mussten sich ebenfalls dieser Prüfung unterziehen. Sie findet zudem unter Beteiligung externer Beobachter aus Europa und den USA statt. Gesetzesreformen im Bereich des Zivil- und Handelsgesetzes sowie der Zivilprozessordnung tragen zu einer verbesserten Rechtssicherheit für wirtschaftliche Akteure in den drei Ländern bei. In Georgien unterstützt die deutsche Finanzielle Zusammenarbeit ein Projekt zur Errichtung eines funktionierenden Kataster- und Grundbuchwesens. 1991, nach der Unabhängigkeit Georgiens, wurde aus staatlichem Besitz faktisch über Nacht Privateigentum. Überprüfungen alter Eigentumsrechte fanden nicht statt, die neuen Besitzer wurden wiederum nirgendwo eingetragen. Gemeinden konnten keine Grundsteuern erheben, weil sie die Eigentümer nicht kannten, und die mangelnde Rechtssicherheit im Grundbuchwesen führte zu Konflikten in der Gesellschaft. Der Erfolg des Projekts macht sich inzwischen bemerkbar, denn überall im Land gibt es nun verlässliche Grundbücher. Das ist die Basis für wirtschaftliche Entwicklung und für sozialen Frieden, aber auch die Grundlage für ein Verantwortungsbewusstsein von Eigentümern; denn Eigentum verpflichtet. In Aserbeidschan hemmen gravierende Strukturprobleme die weitere Entwicklung des Energiesektors außerhalb des Ölsektors. Das führt trotz des Ölreichtums zu einer schlechten Energieversorgung des Landes. Übertragungsnetze sind veraltet, häufig überlastet und daher instabil. Hier setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit einem Reformprojekt der Elektrizitätsübertragungsanlagen an. Auch hier sind erste Erfolge zu verzeichnen, denn das Projekt führt zu einer besseren Energieeffizienz und einer erhöhten Versorgung des Landes. Dadurch wird zum einen die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gesteigert, zum anderen der Klimaschutz gefördert. Zum Klimaschutz trägt zudem das „Ökoregionale Naturschutzprogramm Südlicher Kaukasus“ bei, welches unter anderem mit deutschen Entwicklungsgeldern finanziert wird. Der südliche Kaukasus besitzt eine einzigartige biologische Vielfalt, die durch Wilderei, Überweidung und Holzeinschlag akut bedroht ist. Der mit unserer Unterstützung gegründete Umweltstiftungsfonds finanziert die Entwicklung und Umsetzung einer regionalen Naturschutzstrategie. Mit solchen Beispielen könnte ich im Bereich der Förderung des Klein- und Mittelstandes fortfahren, wo durch Mikrokredite nicht nur die Wirtschaft belebt wird, sondern auch der Korruption im Kreditwesen der Kampf angesagt wird. Aber lassen sie mich noch ein besonderes Augenmerk auf die Friedensarbeit und Konfliktprävention der Entwicklungszusammenarbeit werfen. Hier arbeiten die deutschen Durchführungsorganisationen Hand in Hand mit unseren politischen Stiftungen. Sie fördern den Erfahrungsaustausch zwischen politischen Entscheidungsträgern, Mediatoren und Multiplikatoren, Vertretern von Menschenrechtsgruppen sowie Medien. Dabei wird Themen wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und religiöser Toleranz sowie dem Schutz von Minderheiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das Besondere an den konfliktpräventiven Initiativen ist ihre regionale Dimension. Zu Protokoll gegebene Reden Sie sind als grenzüberschreitende Kooperationen angelegt und arbeiten mit unterschiedlichen Akteuren und Entscheidungsträgern aller drei Länder. Die Kaukasus-Initiative der deutschen Entwicklungspolitik ergänzt in vielen Punkten die deutsche Außenpolitik sowie Europapolitik. Gerade Letztere wurde mit der „Östlichen Partnerschaft“ in der vergangenen Woche noch einmal vertieft. Hierbei soll unter anderem die Kooperation der Länder untereinander gefördert werden. Die langfristige und nachhaltige Begleitung der Transformationsprozesse in der Region des südlichen Kaukasus wird seit 2001 mit 50 Millionen Euro jährlich aus dem entwicklungspolitischen Bundeshaushalt finanziert. Die bereits geschilderten Maßnahmen und Investitionen unserer Entwicklungszusammenarbeit zeigen eines besonders deutlich: Entwicklung fördern heißt auch immer Frieden sichern. Grenzüberschreitende Projekte regen fachlichen und zwischenmenschlichen Austausch auf vielen Ebenen der Gesellschaft an. Gegenseitiges Verständnis für gemeinsame Probleme führt zu besserer Verständigung. Mit unserer Entwicklungspolitik stellen wir uns dem Anspruch, Verständnis zu ermutigen und Frieden zu fördern.

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigen erneut, dass eine Aussprache über den Südkaukasus nur unter dem Bezug zu den regionalen Akteuren Russland und Türkei geschehen kann. Die Reaktion Russlands auf das NATO-Manöver im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden und die Reaktionen Aserbaidschans auf die türkisch-armenische Annäherung zeigen, wie stark die verschiedenen Problemlagen innerhalb der Region miteinander verzahnt und verflochten sind. Dies mag mancher von uns bedauern, zumal Akteure in allen Staaten der Region gleichermaßen eine Lösung der Konflikte in die Geiselhaft eigener partikularistischer und aggressiver Politiken nehmen. Man kann über den ungünstigen Zeitpunkt des Militärmanövers in Georgien diskutieren, auch wenn dieses Manöver prinzipiell berechtigt und langfristig geplant und angekündigt war. Die Reaktion Russlands zeigt jedoch erneut deutlich seine Haltung in der Südkaukasus-Frage. Die Begrifflichkeiten mögen sich geändert haben, die russische Politik des sogenannten Nahen Auslands als seiner von ihm so definierten exklusiven Einflusszone ist geblieben. Die teils reflexhafte Politik Russlands richtet sich gegen jeden, der vermeintlich in diese Einflusszone vordringt. Russland hat leider noch immer nicht verinnerlicht, dass es sich bei den Nachfolgestaaten der UdSSR um unabhängige Staaten handelt. Dieser rückwärtsgewandte Ansatz schadet jedoch letztendlich auch Russland selbst. Im Gegensatz zur EU hat das Land leider noch nicht begriffen, dass es sich bei internationaler Kooperation nicht um ein Nullsummenspiel handelt. Die zwanghafte Einteilung in Freunde und Feinde schadet hingegen allen Seiten und behindert Entwicklung, Frieden und Wohlstand. Diese Lektion haben wir in Europa bitter lernen müssen, und deshalb besteht für die FDP deutsche Außenpolitik immer zuerst aus einer Selbstverpflichtung zur Kooperation. Eine solche Selbstverpflichtung zur Kooperation erwarten wir auch von Russland - und natürlich von den südkaukasischen Staaten. Verpflichtung auf Kooperation ist auch ein integraler Teil der Botschaft, die in der „Östlichen Partnerschaft“ steckt, die am 7. Mai 2009 in Prag offiziell initiiert wurde. Das geringe Interesse mancher Mitgliedstaaten an der Inauguration war allerdings, das muss man leider deutlich sagen, ein Armutszeugnis. Leider ist der Mangel an Vertrauen und gegenseitiger Achtung anscheinend ein prinzipielles Problem im Südkaukasus. Dies zeigt sich innerhalb der Länder im Umgang mit der politischen Opposition. So sind die beständige Diffamierung der Protestbewegung in Georgien und eine fast zwanghafte verschwörungstheoretische Aufladung der Probleme in Georgien nicht hilfreich. Die Regierung Saakaschwili muss sich endlich der Kritik an der eigenen verfehlten Politik der vergangenen Monate stellen und sich konstruktiv mit der Oppositionsbewegung auseinandersetzen. Eine substanzlose Diffamierungsrhetorik ist der falsche Weg. Aber auch die georgische Opposition muss mehr bieten als den Druck der Straße. Eine langfristige Stabilisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien macht die Einbindung Aserbaidschans in den Annäherungsprozess notwendig. Die Lösung dieser Konflikte darf kein Land auf dem Altar rein nationaler Interessen opfern. Die berechtigten Ansprüche Aserbaidschans auf eine Rückgewinnung der von Armenien besetzten Gebiete dürfen aber nicht dazu dienen, die türkisch-armenische Annäherung zu torpedieren. Im Gegenteil sollte Aserbaidschan, statt diesen Prozess mit allen Mitteln zu bekämpfen, ihn verstärkt nutzen. Bedauernswert ist aber auch die Reaktion der Opposition in Armenien. Trotz der Unterdrückung durch die aktuelle armenische Regierung sollte die Opposition ihr Heil nicht in strammen nationalen Tönen suchen. Auch wenn die Bearbeitung der Konflikte im Südkaukasus - von einer Lösung kann man leider wohl erst in ferner Zukunft sprechen - die Einbeziehung aller Konfliktparteien verlangt, darf dies nicht dazu führen, dass die armenischtürkische Annäherung in die Geiselhaft ultra-nationalistischer Propaganda auf beiden Seiten genommen wird. Bezüglich der Konflikte im Südkaukasus hat sich die internationale Gemeinschaft klar zum Prinzip der territorialen Integrität bekannt. Die internationale Gemeinschaft ist aber zuallererst einer friedlichen Lösung verpflichtet, die langfristig nur unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Parteien erreicht werden kann. Der russisch-georgische Krieg hat gezeigt, wie Gewalterfahrungen das Vertrauen, das für eine erfolgreiche und friedliche Konfliktbearbeitung unabdingbar ist, nachhalZu Protokoll gegebene Reden Michael Link ({0}) tig zerstören. Dieser Vertrauensverlust betrifft beileibe nicht nur Georgien, sondern bedroht die gesamte Region. Kaukasusexperten betonen, wie sehr der Augustkrieg den Begriff der Frozen Conflicts infrage gestellt hat. Dies stellt das „Arrangement“, mit dem man sich bisher begnügt hat, infrage. In Zukunft bedeutet dies, dass die Konfliktbearbeitung von der EU und auch von Deutschland aktiver angegangen werden muss, und zwar auf allen Ebenen, insbesondere aber auf der Ebene der zivilgesellschaftlichen Akteure. Dialog ist das Gebot der Stunde! Neben vielen internationalen Nichtregierungsorganisationen leisten insbesondere die politischen Stiftungen hier gute Arbeit, die gestärkt werden muss. Die deutsche Politik ist gefordert, die im Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“ geplante Annäherung des Südkaukasus an Europa aktiv zu begleiten. Viele betonen, dass dies nicht ohne gleichzeitige Einbindung Russlands geschehen kann - das stimmt -, aber nicht durch ein Mitspracherecht oder Vetorecht Russlands bei der „Östlichen Partnerschaft“ , sondern durch die zügige und vordringliche Verabschiedung eines neuen Partnerschaftsund Kooperationsabkommens mit Russland. Nur ein solches neues PKA wird der besonderen Bedeutung Russlands gerecht. Abschließend hebe ich für die FDP hervor, dass wir dem gelungenen Antrag der Grünen zustimmen und uns beim Antrag der Großen Koalition enthalten werden, da er leider auf die kritische innenpolitische Situation und die Unterdrückung der demokratischen Opposition nicht eingeht.

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Heute debattieren wir abschließend über die Anträge der Regierungskoalition und der Grünen zum Thema Südkaukasus. Lassen Sie mich zunächst auf eine aktuelle Entwicklung eingehen. Erst vor wenigen Tagen wurde zwischen der EU und einigen Anrainern, darunter die Südkaukasus-Staaten, die sogenannte Östliche Partnerschaft ins Leben gerufen. Die Linke ist für eine engere Zusammenarbeit mit den östlichen Nachbarn der EU. Entscheidend ist, ob es sich um eine echte Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe handelt und dass Russland nicht ausgegrenzt wird. Die Linke hat hierzu bereits Anfang 2008 in ihrem eigenen Südkaukasus-Antrag detaillierte Vorschläge unterbreitet. Die Stichwörter lauten: Armutsbekämpfung, sozialer Ausgleich, Demokratieförderung, Stärkung der Binnenwirtschaften, fairer Handel und Öffnung des EU-Binnenmarktes für Exportprodukte aus den SüdkaukasusStaaten über Erdöl und Erdgas hinaus. Ich finde es sehr bedenklich, wenn die Partnerländer im Südkaukasus, wie insbesondere im Koalitionsantrag vorgesehen, auf die Rolle einer Nachschubbasis für den fossilen Energiehunger Europas reduziert werden. Diese Politik ist kurzsichtig und wird den Ansprüchen einer fairen und gleichberechtigten Partnerschaft nicht gerecht. Da unser eigener Antrag deutlich über die Anträge der Koalition und der Grünen hinausgeht und weitaus umfassendere und präzisere Antworten formuliert, kann die Linke beiden Anträgen nicht zustimmen. Völlig vage bleiben die Antragsteller von der Koalition beispielsweise bei den Themen Sicherheitspolitik und Lösung der ethno-territorialen Konflikte. Wir sollten uns daran erinnern, dass Georgien und Russland erst im August letzten Jahres wegen Südossetien einen Krieg gegeneinander geführt haben, der tiefe Wunden hinterlassen hat. Dies betrifft vor allem die bis zu 2 000 Getöteten und die schwierige Lage der Kriegsflüchtlinge und Binnenvertriebenen in Georgien. Ihr Recht auf Rückkehr in die früheren Wohnorte muss in vollem Umfang gewährleistet werden. Zahlreiche Binnenvertriebene, circa 100 000 Menschen, konnten bereits in ihre Wohnorte in den ehemaligen sogenannten Pufferzonen zurückkehren. Der Wiederaufbau von Wohnungen und Infrastruktur in Georgien kommt zügig voran. Zahlreiche ehrenamtliche Helferinnen und Helfer aus der örtlichen Bevölkerung sowie humanitäre und technische Hilfsorganisationen aus den EU-Mitgliedstaaten unterstützen aktiv den Aufbauprozess. Auch die Verdienste russischer Aufbauhelfer in Süd- und Nordossetien gilt es zu würdigen. Ihnen allen gebührt an dieser Stelle Dank für ihren unermüdlichen Einsatz. In der Praxis dürfen sich die Rückkehrmöglichkeiten für die Flüchtlinge jedoch nicht nur auf kerngeorgische Gebiete beschränken, sondern müssen auch für Südossetien und Abchasien gelten. Dies gilt für die Flüchtlinge des letzten Krieges, aber auch für diejenigen aus früheren Konflikten. Ebenso benötigen zivile Hilfsorganisationen dringend einen ungehinderten Zugang zu den Konfliktgebieten. Eine neue Beobachtermission der OSZE für ganz Georgien inklusive Südossetien ist dringend notwendig. Es ist auch in russischem Interesse, die Rolle der OSZE zu stärken. Schließlich hat sich Russland als OSZE-Mitglied jahrelang aktiv engagiert und wertvolle Arbeit geleistet. Die OSZE ist nicht die NATO. Die OSZE hat sich in der Vergangenheit sehr bewährt und könnte zur Grundlage für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa werden, die Russland nicht ausgrenzt, sondern integriert. Die militärische Einkreisungspolitik, die die NATO gegenüber Russland immer noch praktiziert, entspricht der Geisteshaltung des Kalten Krieges. Sie verschärft die Konfrontation und muss deshalb umgehend beendet werden. Vor diesem Hintergrund ist es politisch unverantwortlich, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag ausgerechnet die NATO-Beitrittsoption für Georgien ausdrücklich bekräftigen. Auch im Antrag der Grünen wird die Aufnahme Georgiens in die NATO nur für den Moment ausgeschlossen, jedoch nicht für die Zukunft. Einzig die Linke lehnt die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder ab. Frieden und Sicherheit in Europa bedürfen der Partnerschaft mit Russland und nicht seiner Ausgrenzung. Dies würde ebenso die Lösung der Konflikte im Südkaukasus erleichtern. Es ist sehr zu begrüßen, dass sich in jüngster Zeit die Anzeichen für Fortschritte bei der Lösung des Berg-Karabach-Konflikts mehren. BergKarabach bildet den potenziell gefährlichsten Krisenherd im Südkaukasus. Als Folge der seit 1994 anhaltenden Besetzung von circa 20 Prozent des Staatsterritoriums der Zu Protokoll gegebene Reden Republik Aserbaidschan durch die Nachbarrepublik Armenien wird die Rückkehr von über 1 Million Binnenflüchtlingen blockiert. Armenien leidet umgekehrt unter den Auswirkungen der Wirtschaftsblockade und den geschlossenen Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei, die zur Massenauswanderung insbesondere von gut ausgebildeten Fachkräften beigetragen haben. Die Linke unterstützt den Friedensplan, den die OSZE den Konfliktparteien bereits 1997 unterbreitet hat. Demnach gilt es, die armenisch besetzten Gebiete um BergKarabach schnellstmöglich zu räumen, damit der Großteil der Flüchtlinge zurückkehren kann. Erst im Anschluss daran sollte über den endgültigen Status der abtrünnigen Provinz entschieden werden. Die Linke befürwortet hierbei eine Autonomielösung innerhalb der territorialen Integrität Aserbaidschans, die den legitimen, völkerrechtlichen Interessen aller Konfliktbeteiligten nach unserer Auffassung am besten entspricht. Die EU und die deutsche Bundesregierung sind aufgerufen, ihre diplomatischen Anstrengungen für eine friedliche Konfliktlösung im Südkaukasus zu erhöhen, um möglichen erneuten kriegerischen Konfliktzuspitzungen vorzubeugen. Dies gilt für Abchasien und Südossetien ebenso wie für Berg-Karabach.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die alltägliche Vorstellung der Region des Südkaukasus wird bis heute geprägt vom Krieg in Georgien im August 2008 und seinen Folgen. Wenn man sich die Situation an den Grenzen von Südossetien und Abchasien anschaut, dann stellt man fest, dass sie dramatischer ist, als es häufig in Westeuropa wahrgenommen wird. Vor zwei Wochen begann Russland, dauerhaft Truppen an diesen Grenzen zu Georgien zu stationieren. Zu Recht kritisierte die Europäische Union dies als eine weitere Verletzung der Waffenstillstandsvereinbarung. Wir brauchen eine Deeskalation, weil sich an den Grenzen Georgiens ein neuer Konflikt aufbaut. Wir müssen sehr viel sensibler als in der Vergangenheit darauf achten, dass dieser Konflikt nicht wieder heißläuft. Das heißt unter anderem auch, dass wir ein großes Interesse daran haben müssen, dass dort internationale Beobachtungsstrukturen aufgebaut werden, die mehr Eingriffsmöglichkeiten bieten, als es bei unserer EU-Monitoringmission bisher der Fall ist. Wir brauchen dort eine sehr viel bessere Präsenz. Noch bis Mitte Juni 2009 läuft derzeit das Mandat für die unbewaffnete UN-BeobachterMission UNOMIG in Abchasien. Sie sollte verlängert und auf Südossetien ausgedehnt werden. Denn die UN und ihr Sicherheitsrat sollten dafür zuständig sein. Vermittlung erfordert Neutralität und Ergebnisoffenheit auf den Grundlagen des Völkerrechts. Ungeachtet der notwendigen Beobachtung des Konfliktgebietes und der diplomatischen Suche nach einer dauerhaften Lösung steht noch immer die Klärung der Vorgänge im August 2008 aus. Mit Aufmerksamkeit erwarten wir die demnächst anstehenden Ergebnisse der auch von uns geforderten unabhängigen Untersuchungskommission unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini. Unsere, die Beziehungen der Europäischen Union zu den Ländern des Kaukasus sind eng und intensiv. Die „Östliche Partnerschaft“ wird sie noch vertiefen, und die Erwartungen vieler dieser Länder gerade an Deutschland sind hoch. Deshalb begrüßen wir es, dass die Bundeskanzlerin im Gegensatz zu vielen anderen westeuropäischen Regierungschefs an diesem Treffen teilgenommen hat. Wir haben allerdings kein Verständnis dafür, dass diese Länder in der Abschlusserklärung nicht, wie ursprünglich im Entwurf vom Ratsvorsitz vorgesehen, als europäische Länder bezeichnet werden. Falls dies mit aktiver deutscher Beteiligung bzw. aufgrund deutscher Intervention verändert wurde, war es ein schwerer Fehler, den wir scharf verurteilen. Diese Länder sind unsere europäischen Partner, und die Beziehungen beruhen auf den Werten der gemeinsamen Mitgliedschaft im Europarat. Und die Einhaltung dieser Werte ist die Grundlage für Frieden und Stabilität in dieser Region. Territoriale Integrität ist eine zentrale Säule des Völkerrechts. Das gilt für die Lösung des Konflikts zwischen Russland und Georgien genauso wie für den Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien. Aber wir werden diese Konflikte nur lösen können, wenn die Selbstbestimmungsrechte von Minderheiten sichergestellt werden und wenn die Bereitschaft zu sehr weitgehenden Autonomieregelungen ehrliches Anliegen aller Konfliktpartner ist. Solange es Hunderttausende Flüchtlinge gibt, vor allem in Georgien und Aserbaidschan, bleiben die Wunden offen. Für sie muss mehr investiert werden, und vor allem muss die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht werden. Die jüngsten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien geben Anlass zu der Hoffnung, dass dies auch positive Wirkung auf den direkten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, aber auch für die Region als Ganzes, entfalten kann. Eine Schlüsselrolle zur Lösung all dieser Konflikte wird Russland spielen. Deshalb ist die Integration Russlands in internationale Konfliktlösungsstrategien notwendig. Die EU muss dabei in allen Verhandlungen mit Russland aber deutlich machen: Es geht nicht um die Aufteilung in Einflusszonen. Es geht um die eigenständige, freie und demokratische Entscheidung jedes dieser Länder über seine eigene Zukunft. Dabei ist ökonomischer Druck genauso fehl am Platz wie politische oder militärische Provokation. Deshalb ist es richtig, die Art der russischen Militärpräsenz in Südossetien zu kritisieren, aber deshalb war es zumindest unklug, jetzt ein Manöver der NATO in Georgien abzuhalten. Das NATO-Argument langer Planung und Bekanntheit zieht nicht, denn inzwischen hat immerhin ein Krieg stattgefunden. Die Manöver geben zum jetzigen Zeitpunkt, noch nach einem angeblichen oder vermeintlichen „Militärputsch“ in Georgien, unnötige Gelegenheit zur politischen Instrumentalisierung. Alle Länder des Südkaukasus verdienen unsere Unterstützung. Sie ist ebenso notwendig wie die eigenen Anstrengungen der Menschen in den drei Ländern, damit die Wertegemeinschaft des Europarates und die Werte der Europäischen Union dort auch erfolgreich und dauerhaft wirksam werden können. Zu Protokoll gegebene Reden

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Tagesordnungspunkt 32 a. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Sicherheit, Stabilität und Demokratie im Südkaukasus fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12726, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12102 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen gestimmt haben die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 32 b. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Demokratie und Sicherheit im Südkaukasus stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12727, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12110 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke angenommen. Dagegen gestimmt haben die Fraktionen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Krankenhausinfektionen vermeiden - Multi- resistente Problemkeime wirksam bekämpfen - Drucksachen 16/11660, 16/12925 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Konrad Schily Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie- ren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Hans Georg Faust, Dr. Carola Reimann, Dr. Konrad Schily, Dr. Harald Terpe und der Parlamentarische Staatssekretär Rolf Schwanitz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Frank Spieth für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema er- schließt sich nicht sofort, wenn man den Begriff „multi- resistente Keime“ hört. Aber stellen Sie sich folgende 1) Anlage 8 Situation vor: Eine rüstige Rentnerin stürzt und bricht sich den Oberschenkelhals. Im Krankenhaus wird dieser Bruch genagelt, und alles scheint in Ordnung zu sein. Doch dann kommt es zu einer Infektion, und innerhalb von zwei Wochen verstirbt die Frau. 2006 starben in Deutschland 40 000 Patienten an Krankenhausinfektionen, so das Bundesministerium für Gesundheit in seiner Deutschen Antibiotikaresistenzstrategie. Krankenhausinfektionen sind die mit Abstand häufigste Form ernsthafter Infektionskrankheiten in Deutschland. In Deutschland werden jährlich rund 17 Millionen Patienten behandelt, von denen sich rund 500 000 bis 800 000 mit Krankenhauskeimen infizieren. Auch dies ist dem Gesundheitsbericht der Bundesregierung zu entnehmen. Die Hygienefachleute, die wir vor kurzem in einer Anhörung zurate gezogen haben, haben klipp und klar gesagt: Es ist an der Zeit, dass endlich gehandelt und nicht mehr weiter nur appelliert wird. ({0}) Ich sage Ihnen: Auch der gesunde Menschenverstand verlangt, dass endlich gehandelt wird. Seit 14 Jahren wird in Deutschland Jahr für Jahr in allen Berichten festgestellt, dass es einen ständigen Anstieg der Verkeimung gibt. Die Antwort darauf sind in der Regel Appelle. Es werden, wie von den Fachleuten in der Anhörung gesagt wurde, „Papiertiger“ produziert. Seit Mitte der 70erJahre sind die Bundesländer aufgefordert, Hygieneverordnungen zu erlassen. Ganze vier Bundesländer sind dieser Aufforderung nachgekommen. Zwölf Bundesländer haben keine Hygieneverordnung. Ich finde, das allein ist schon ein Skandal. ({1}) Die vom Robert Koch-Institut vorgeschlagene Richtlinie zur Bekämpfung von Infektionen ist aus unserer Sicht sehr brauchbar. Sie ist aber ohne Fachpersonal - auch das wurde in der Anhörung von allen Fachleuten deutlich formuliert - nicht umsetzbar. Die Linke hat mit diesem Antrag den Versuch unternommen, Krankenhausinfektionen vermeidbar zu machen und multiresistente Problemkeime zu bekämpfen. Leider hat unser Antrag im Ausschuss keine Mehrheit gefunden. Die Koalition hat ihn abgelehnt, und die beiden anderen Oppositionsfraktionen haben sich enthalten. Wir bedauern dies sehr. Jeder Mensch, der in Deutschland in einem Krankenhaus wegen einer vermeidbaren Infektion verstirbt, ist ohne Wenn und Aber ein Toter zu viel. ({2}) Angesichts der Kürze meiner Redezeit habe ich nicht die Möglichkeit, alle unsere Forderungen darzustellen. Wir haben uns auf wesentliche Punkte konzentriert. Drei davon will ich nennen: Erstens. Wir brauchen endlich wirkungsvolle, verbindliche Regelungen, um mit geeigneten Maßnahmen Infektionen nicht nur zu einem späteren Zeitpunkt erfassen und heilen zu können, sondern sie sofort, schon in der Entstehung, durch Präventionsmaßnahmen bekämpfen zu können. ({3}) Zweitens. Wir fordern den Einsatz von Ärztinnen und Ärzten für Hygiene und Hygienefachkräften in Krankenhäusern, und zwar in allen Bundesländern. Berlin, Sachsen und Bremen sind hier vorbildlich. ({4}) Drittens. Wir fordern die konsequente Umsetzung der bestehenden Richtlinie des Robert Koch-Instituts zur Prävention von MRSA, also multiresistenten Keimen. Meine Damen und Herren, es ist in der Tat Zeit, zu handeln. Wir haben keine Zeit für weitere Verzögerungen. Ich bedauere sehr, dass wir mit diesem Antrag heute nicht durchdringen. Ich setze aber darauf, dass wir in weiteren parlamentarischen Beratungen möglicherweise gemeinsam im Interesse der Menschen, der Patienten in diesem Land zu vernünftigen Lösungen im Sinne unserer Vorschläge kommen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Krankenhausinfektionen vermeiden - Multiresistente Problemkeime wirksam bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12925, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11660 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen angenommen. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben sich enthalten. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 33 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ - Drucksache 16/12230 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) - Drucksache 16/12976 Berichterstattung: Abgeordnete Monika Grütters Hans-Joachim Otto ({1}) Katrin Göring-Eckardt Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika Grütters, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Hans-Joachim Otto, Dr. Lukrezia Jochimsen und Volker Beck zu Protokoll gegeben.

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Absicht zur Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas und die angemessene Würdigung anderer Opfergruppen erfordert einen breiten politischen Konsens. Das gilt hier mehr als bei irgendeiner anderen politischen Auseinandersetzung. Darauf hat schon damals unser heutiger Bundestagspräsident, Dr. Norbert Lammert, in der Debatte um die Gründung der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ hingewiesen. Ich freue mich, dass wir zu diesem überfraktionellen Konsens bei der Entscheidung über die Aktualisierung und Ergänzung des Stiftungsgesetzes auch jetzt im Kulturausschuss kommen konnten. Dennoch kam dieses Ergebnis nicht einhellig und ohne Bedenken zustande. Die Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen haben ihre Einwände trotz Zustimmung zur Gesetzesänderung in jeweils eigenen Änderungsanträgen niedergelegt. Das Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ diente dazu, den Bundestagsbeschluss zur Errichtung dieses Denkmals umzusetzen und es später auch zu unterhalten. Der von Beginn an im Stiftungszweck formulierte gesetzliche Auftrag, den Entwurf des Stelenfeldes von Peter Eisenman und den ergänzenden Ort der Information zu verwirklichen, wurde umgesetzt. Als neue Aufgabe der Stiftung hat inzwischen die Betreuung der Denkmäler für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen und für die ermordeten Sinti und Roma konkrete Gestalt angenommen. Im Mai vergangenen Jahres ist das Denkmal für die homosexuellen Opfer der Naziherrschaft der Öffentlichkeit übergeben worden, und im Laufe dieses Jahres kommt das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma hinzu. Diesen neuen Aufgaben wollen wir mit der Änderung des Stiftungsgesetzes Rechnung tragen. Die Organisationsstruktur der Stiftung soll dazu vergleichbaren Einrichtungen angepasst werden. Die Stiftung erhält nun den Auftrag, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas mit dem Ort der Information zu unterhalten und zu betreiben. Darüber hinaus obliegt ihr im Rahmen der Erinnerung an alle Opfergruppen des Nationalsozialismus die Betreuung der beiden neuen Denkmäler für die Sinti und Roma sowie für die ermordeten Homosexuellen. Die FDP sowie die Grünen wollen in diesem Zusammenhang auch den Namen der Stiftung ändern. Aus mehreren Gründen sind wir da skeptisch. Schon in der ursprünglichen Gesetzesfassung, in der man sich auf den heutigen Stiftungsnamen geeinigt hatte, wurde im Stiftungsgesetz die Aufgabe verankert, an der angemessenen Würdigung anderer Opfergruppen mitzuwirken. Die Stiftungsgründung verdankt sich zudem einer privaten Initiative, die ausschließlich den jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Terrors gewidmet war. Der Förderkreis „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ hat eine politisch-moralische Aufgabe der Nation zum Gegenstand einer gesellschaftlichen Initiative gemacht, die der Staat sich dann selbst zur Aufgabe machte. Erst mit dem Eintreten des Staates für dieses Erinnerungsprojekt ist neben der Debatte um ein eigenständiges Mahnmal zum Gedenken an den Holocaust auch die Diskussion um den Namen entbrannt. Diese private Initiative und ihre Motive verdienen unseres Erachtens Dank und Respekt, der sich eben auch in dem Namen der operativen Stiftung ausdrückt. Entscheidend aber ist auch hier der Verweis auf die Singularität der Verbrechen der Nazis gegen die Juden. Die Beibehaltung des Namens hat daher nicht nur ihre Berechtigung, es spricht auch nichts dagegen. Faktisch betreut die Stiftung bereits die beiden neuen Denkmale, so wie es seit ihrer Gründung geplant war. Angesichts der Stiftungsarbeit in den letzten vier Jahren, deren erfolgreiches und international anerkanntes Wirken ich schon in meiner letzten Rede ausgeführt habe, sehe ich in ihrer Verantwortung für die Erinnerungsarbeit der neuen Denkmäler einen echten Gewinn. Für das Denkmal der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen wurde die Feier zur Übergabe an die Öffentlichkeit am 27. Mai 2008 von der Stiftung organisiert. Technisch unterstützt sie die dort im Rahmen des Berliner Christopher Street Days und des Gedenktages am 27. Januar stattfindenden Veranstaltungen. Darüber hinaus zeichnet die Stiftung für Begleitmedien verantwortlich und bemüht sich, das Denkmal in Zusammenarbeit mit dem „Schwulen Museum Berlin“ und dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland in die Bildungsarbeit der Stiftung einzubeziehen. Für das Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma wurde der offizielle Baubeginn am 19. Dezember 2008 von der Stiftung organisiert. Ein entsprechendes Faltblatt zum Denkmal erstellt sie in Absprache mit dem BKM und dem Künstler Dani Karavan bis zur Eröffnung. Trotz der Betreuung der Aktivitäten dieser Denkmale durch die Stiftung werden jedoch alle drei Mahnmale in der öffentlichen Berichterstattung völlig eigenständig wahrgenommen. Bei allem Verständnis auch für das Anliegen, den Namen der Stiftung - nicht des Denkmals! - an die nunmehr faktisch erweiterte Aufgabe anzupassen, spricht meines Erachtens doch nach wie vor vor allem eines dagegen: Jede neue Bezeichnung impliziert neue Ausgrenzungen und Konflikte, oder sie wird so allgemein, dass ihre Pauschalität verharmlost. Ein Denkmal für alle „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ gibt es in der Neuen Wache. Es gibt seit 1953 in Berlin-Charlottenburg sogar ein weiteres, am Steinplatz, mit der Inschrift „Den Opfern des Nationalsozialismus“. Die Grünen haben frühzeitig eine Namensänderung gewollt, vor der ersten Lesung dieses Gesetzes. Aber sie haben keinen Vorschlag zur Formulierung gemacht. Die FDP kam mit ihrer Formulierung so spät, dass bereits Gespräche mit vielen Betroffenen stattgefunden hatten. Abgesehen davon gibt es nach wie vor eine Mehrheit für die Beibehaltung des Namens aus den oben genannten Gründen. Dieser Auffassung hat sich in der vergangenen Woche dann auch das Kuratorium der Stiftung „Mahnmal für die ermordeten Juden Europas“ einstimmig angeschlossen. Der zweite Diskussionspunkt war die Besetzung der Stiftungsgremien nach der Erweiterung der Aufgaben der Stiftung. Gegenwärtig umfasst das Kuratorium insgesamt 23 Mitglieder. Dem wissenschaftlichen Beirat gehören zurzeit 13 Sachverständige an. Die Grünen fordern in ihrem Änderungsantrag die zusätzliche Vertretung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma sowie des Lesbenund Schwulenverbandes im Stiftungskuratorium. Die FDP möchte darüber hinaus die „Sinti Allianz Deutschland“ und die Initiative „Der homosexuellen NS-Opfer gedenken“ in diesem Gremium vertreten wissen. Immerhin kommt sie in der Begründung ihres Änderungsantrages zu dem Schluss, dass die bisherige Mitgliederzahl nicht überschritten werden sollte, da sonst die Arbeitsfähigkeit des Gremiums geschwächt sei. Daher soll die Zahl der Kuratoriumsplätze der Mitglieder des Bundestages, der Bundesregierung und des Landes Berlin reduziert werden. Darin, dass die Mitgliederzahl des Kuratoriums nicht weiter erhöht werden darf, um die Arbeitsfähigkeit zu gewährleisten, stimmen wir völlig überein. Anliegen der Gesetzesänderung ist es, die Stiftungsstruktur den Erfordernissen eines Dauerbetriebes anzupassen. Vergleichbare Einrichtungen sollten dazu als Maßstab dienen. Auf Bundesebene wurde der vor allem in der neu gegründeten selbstständigen Stiftung „Deutsches Historisches Museum“, DHM, und in der unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibungen, Versöhnung“ gesehen. Das Kuratorium der DHM-Stiftung besteht laut Gesetz aus 15 Mitgliedern, der Stiftungsrat „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, der sich gestern konstituiert hat, besteht aus 13 Mitgliedern. Dem wissenschaftlichen Beirat des DHM gehören mindestens 12 und höchstens 25 Sachverständige an. In den wissenschaftlichen Beraterkreis der unselbstständigen Stiftung sollen bis zu neun Mitglieder berufen werden. Das Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden“ ist im Vergleich dazu personell bereits großzügig besetzt. Die von der FDP vorgeschlagene Reduzierung der Sitze von Parlament sowie Bundes- und Landesregierung lehnen wir ab. Die Mitgliedschaft von derzeit sieben gewählten Volksvertretern im Kuratorium, die auch die Mehrheitsverhältnisse des Parlamentes widerspiegelt, sowie der Regierungsvertreter entspricht der besonderen Bedeutung, die dem systematischen Völkermord an den europäischen Juden in der deutschen Erinnerungskultur zukommt. Erinnern und Gedenken sind weder Privatsache noch rein bürgerschaftlich zu bewältigen. Sie sind immer eine öffentliche Angelegenheit, und das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Die Politik darf sich hier nicht allein auf die Verantwortung für die Rahmenbedingungen zurückziehen, sondern muss die Zu Protokoll gegebene Reden Form des Gedenkens mitprägen. Die Art und Weise, wie eine Nation, wie ein Staat dies öffentlich tut, gibt Auskunft über sein Selbstverständnis und prägt seine Identität. So, wie es das Stiftungsgesetz vorsieht - die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen -, ist es durchaus denkbar, dass ihr auch künftig noch weitere Aufgaben in diesem Rahmen zufallen. Wollen Sie dann eine erneute Auseinandersetzung über die Verteilung der Kuratoriumssitze? Wir wollen das nicht. Es ist richtig, Vertreter der Opfergruppen der neuen Denkmale in den Stiftungsbeirat zu integrieren. Über diese Fragen ist mit den Vertretern aller jetzt zur Debatte stehenden Opfergruppen gesprochen worden. Die Zustimmung aller Fraktionen im Ausschuss für Kultur und Medien trotz eigener Änderungsanträge bestätigt den Entwurf zur Änderung des Stiftungsgesetzes. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen, dass sie ihre Einwände und Bedenken zugunsten der Signalwirkung zurückstellen konnten, die von einem überfraktionellen Beschluss für die Erinnerungspolitik der Bundesrepublik Deutschland ausgeht. Das ist eine wichtige Botschaft für alle Betroffenen, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch für unsere europäischen Nachbarn.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Änderung des Stiftungsgesetzes ist notwendig, weil - mit großem Erfolg - der bisherige Stiftungszweck umgesetzt ist, nämlich die Errichtung des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas. Das Denkmal erfährt große nationale und internationale Anerkennung; ein Besuch steht regelmäßig bei Staatsgästen auf dem Programm. Das Stiftungsgesetz wird jetzt in einigen Punkten aktualisiert. Erstens wird der bisherige Stiftungszweck - die Errichtung des Denkmals - geändert. Dafür heißt es nun: „Zweck der Stiftung ist die Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas. Die Stiftung trägt dazu bei, die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen.“ Zweitens wird der Stiftungszweck erweitert um die Betreuung der Denkmäler für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma und die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Im Übrigen war auch bisher schon im Stiftungsgesetz verankert, dass die Stiftung dazu beiträgt, „die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen.“ Drittens wird der dreiköpfige Vorstand abgeschafft, der als Gremium neben dem weiter bestehenden Kuratorium nicht mehr erforderlich ist. Ziel bei dieser Änderung ist die Angleichung der Stiftungsstruktur an vergleichbare Einrichtungen. Deshalb werden viertens die Aufgaben des bisherigen Vorstands und der Geschäftsführung in dem neuen Organ „Direktorin oder Direktor“ zusammengefasst. Da ein Ziel der Änderung des Stiftungsgesetzes die Anpassung der Struktur an vergleichbare Einrichtungen ist, haben wir im Kulturausschuss zwei Änderungen eingebracht. Zum einen haben wir festgeschrieben, dass der bisherige Geschäftsführer auch der künftige Direktor wird, um die Kontinuität der hervorragenden Arbeit der Stiftung zu gewährleisten. Zum Zweiten wird der Direktor für fünf Jahre bestellt und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, für vier Jahre. Eine Änderung des Stiftungsnamens halten wir nicht für sinnvoll. Bisher wurde kein plausibler, überzeugender Namensvorschlag unterbreitet. Bereits unter dem jetzigen Namen der Stiftung war die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus Aufgabe der Stiftung. Unter dem jetzigen Namen wurden das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma und die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen errichtet; und unter dem jetzigen Namen betreut die Stiftung bereits das Homosexuellendenkmal. Auch angesichts der internationalen Bedeutung des Denkmals sollte der Name nicht verändert werden. Außerdem bleibt trotz der Betreuung der beiden neuen Denkmäler der Betrieb des Denkmals für die ermordeten Juden Europas die Hauptaufgabe der Stiftung. Aus den gleichen Gründen sind wir gegen eine Veränderung der Besetzung des Kuratoriums. Schon jetzt ist der Lesben- und Schwulenverband im Beirat der Stiftung vertreten. Hier können auch Vertreter der Sinti und Roma mitarbeiten. Wir sollten den Streit, der im Vorfeld des Baus der Denkmäler geführt wurde, nicht wieder führen. Der Argumente sind genug gewechselt worden. Es freut mich, dass der Gesetzentwurf im Kulturausschuss einstimmig beschlossen wurde und der breite Konsens bei wichtigen Entscheidungen zur Erinnerungskultur in Deutschland weiterhin trägt.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Anpassung des Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung ist grundsätzlich richtig und sinnvoll. Denn die Stiftung hat im Laufe der Zeit einen Teil ihrer Aufgaben bewältigt - insbesondere den Bau des Holocaust-Mahnmals -, aber auch neue Aufgaben übernommen, sodass ihre Struktur renoviert werden muss: Die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ wurde vor neun Jahren errichtet, Mitte 2008 konnte das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen der Öffentlichkeit übergeben werden, und im Sommer 2009 wird das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma hoffentlich vollendet sein. Die Struktur der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ musste also auf diese geänderte Aufgabenstellung ausgerichtet werden. Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Aus Sicht der FDP gebietet es jedoch die Logik, dass sowohl der Name der Stiftung, die nunmehr drei Denkmäler betreut, als auch die Zusammensetzung des Kuratoriums der Stiftung an die neue Situation angepasst werden. Selbstverständlich ist von einer Namensänderung nicht das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal für die erZu Protokoll gegebene Reden Hans-Joachim Otto ({0}) mordeten Juden Europas“ berührt. Eine Namensänderung des organisatorischen Rahmens halten wir jedoch für geboten. Unser Vorschlag - „Stiftung Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus“ - wurde leider im Ausschuss mehrheitlich abgelehnt, mit wenig überzeugender Begründung. Wir gehen deshalb davon aus, dass eine solche Namensänderung in naher Zukunft erneut auf der Tagesordnung stehen wird. Wie kann denn eine Stiftung, die sich um drei Denkmäler kümmert, nur nach einem der Denkmäler benannt werden? Keiner käme doch auf die Idee, die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ „Stiftung Pergamonmuseum“ zu nennen oder die „Stiftung Preußische Schlösser und Gärten“ als „Stiftung Schloss Sanssouci“ firmieren zu lassen. Aus Sicht der FDP gebietet es ebenfalls die Logik, aber auch der Respekt vor den Opfergruppen, die Zusammensetzung des Kuratoriums um die neuen Opfergruppen zu erweitern. Um das jetzt schon 23-köpfige Gremium aber nicht noch zu erweitern, hatte die FDP-Fraktion vorgeschlagen, die Zahl der Mitglieder aus dem politischen Raum - Bundestag, Bundesregierung und Land Berlin zugunsten von Vertretern der Homosexuellen und der Sinti und Roma zu reduzieren. Damit hätte man den neuen Opfergruppen Sitz und Stimme im Kuratorium ermöglicht, und das Kuratorium wäre dennoch arbeitsfähig geblieben. Die vorgesehene Repräsentation dieser beiden Opfergruppen lediglich im Stiftungsbeirat ist unseres Erachtens nicht angemessen. Bei allem Respekt vor den Mitgliedern und der Bedeutung des Beirates gibt es doch von den Aufgaben her wichtige Unterschiede zwischen dem Beirat und dem Kuratorium. Die Hauptaufgabe des Beirates liegt nach § 8 Abs. 3 der Satzung der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden darin, das Kuratorium und den Direktor bei grundsätzlichen Fragen, insbesondere im Hinblick auf die Würdigung der anderen Opfergruppen und die authentischen Stätten des Gedenkens, zu beraten. Allein das Kuratorium beschließt hingegen über alle wichtigen Fragen, die zum Aufgabenbereich der Stiftung gehören, wie die Berufung des Direktors, die Feststellung des Haushaltsplans und die Berufung der Mitglieder des Beirates; so steht es in § 6 Abs. 2 der Satzung der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden. Auch hier gilt: Warum sollte eine Opfergruppe, deren Denkmal durch die Stiftung betreut wird, nicht auch Vertreter in das höchste Organ der Stiftung entsenden können? Aus diesem Grund schlugen wir vor, das Kuratorium um je einen Vertreter des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma sowie der Sinti-Allianz Deutschland und je einen Vertreter des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland und der Initiative „Der homosexuellen NSOpfer gedenken“ zu erweitern, die Zahl der Politiker dort jedoch zu reduzieren. Die Koalition erweckte im Ausschuss den Eindruck, dass alle Änderungen zuvor mit den Betroffenen ausgiebig erörtert worden seien. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Wir halten es für wenig sensibel, dass die Opferverbände im Vorfeld dieser Reform nicht ausreichend einbezogen wurden. Dem heute vorliegenden Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen können wir deshalb nicht zustimmen, weil das ohnehin schon zu große Kuratorium weiter aufgebläht und in seiner Effektivität beeinträchtigt würde. Trotz der von mir erwähnten Kritikpunkte stimmen wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, da das Grundanliegen mehr als berechtigt ist. Wir hoffen, dass unsere Vorschläge in der nächsten Legislaturperiode aufgegriffen werden und dann einvernehmlich umgesetzt werden.

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Gesetz über die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zu ändern, ist richtig und notwendig, da sie neue Aufgaben - die Betreuung der Denkmäler für die ermordeten Sinti und Roma sowie für die verfolgten Homosexuellen - zu leisten hat. Diese neuen Aufgaben verlangen allerdings eine Namensänderung. Da die Stiftung nun nicht mehr nur für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zuständig ist, kann sie aus Sicht der Fraktion die Linke nicht mehr unter dem alten Namen firmieren. Wir halten den Namensvorschlag im Änderungsantrag, den die FDP im Kulturausschuss eingebracht hatte, für sehr gut: „Stiftung Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus“. Allerdings ist ebenso zu bedenken, wie im Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen im Kulturausschuss vorgeschlagen und mittlerweile zurückgezogen, ob es nicht noch besser wäre, mit den Opferverbänden gemeinsam einen Stiftungsnamen zu finden. Ich frage, wieso diese beiden Anträge im Ausschuss für Kultur und Medien beraten wurden, nur um sie im Plenum nicht mehr zur Abstimmung zu stellen? Soll nun doch alles beim Alten bleiben? Schon im März 2009 hat der Lesben- und Schwulenverband Deutschlands eine Prüfung des Stiftungsnamens gefordert. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, hat ergeben, dass er bisher nicht in dieser Frage konsultiert wurde. Er widerspricht eindeutig der Aussage der Koalitionsfraktionen, die im Ausschuss für Kultur und Medien behauptet haben, alles sei mit den Betroffenen erörtert worden. Der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma würde die Namensänderung in „Stiftung Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus“ unterstützen, wenn er denn gefragt werden würde. Insofern übergeht der Antrag der Koalitionsfraktionen klar den Willen von zwei Opfergruppen. Das ist für die Fraktion Die Linke inakzeptabel. Für wen wird diese Stiftung denn eingerichtet und betrieben? Trotzdem wollen wir natürlich, dass die Stiftung ihre Arbeit leisten kann, und stimmen deshalb wie schon im Ausschuss für Kultur und Medien dem Gesetzentwurf und dem Änderungsantrag der Koalition zu.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ hat Großartiges geleistet: bei der Realisierung dieses Gedenkortes und bei der inhaltlichen und organisatorischen Betreuung. Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist zu einem der eindrucksvollsten Orte Zu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({0}) unserer Hauptstadt geworden. Zu Recht zieht es Jahr für Jahr zahlreiche Menschen an. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung ist herzlich für ihr großes Engagement zu danken, stellvertretend für alle insbesondere dem Geschäftsführer, Herrn Uwe Neumärker. Es ist eine gute Entscheidung, dass der bisherige Geschäftsführer nach der Strukturreform der erste Direktor wird. Das unterstützen wir sehr nachdrücklich. Bündnis 90/Die Grünen unterstützt ausdrücklich die Erweiterung des Stiftungszweckes um die Betreuung des entstehenden Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma sowie des Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, das vor einem Jahr der Öffentlichkeit übergeben wurde. Es ist aber sehr schade, dass die Koalition nicht bereit war, aus dieser Aufgabenerweiterung auch strukturelle Konsequenzen zu ziehen. Wir beantragen deshalb, dass die Verbände, die das Sinti- und Roma-Denkmal wie das Homosexuellendenkmal maßgeblich iniitiert haben und diese Bevölkerungsgruppen repräsentieren, auch Sitz und Stimme im Entscheidungsgremium der Stiftung, dem Kuratorium, erhalten sollen. Denkmalsbetreuung ist schließlich nicht allein eine technische Frage von Reinigung oder Instandhaltung, sondern beinhaltet auch gedenkpolitische Grundsatzentscheidungen zu den jeweiligen Gedenkorten. Dafür sollten aber die Verbände und Initiatoren, die das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma und das Denkmal für die verfolgten Homosexuellen gesellschaftlich tragen, mit am Entscheidungstisch sitzen und nicht von außen als Bittsteller auftreten müssen. Das Kuratorium beschließt laut Stiftungsgesetz über alle grundsätzlichen Fragen, die zum Aufgabenbereich der Stiftung gehören. Nach der ausdrücklichen Aufgabenerweiterung ist es einfach unangemessen, dass Sinti und Roma sowie Homosexuelle draußen bleiben müssen. Mir ist es gänzlich unverständlich, warum man sie nicht dabei haben will. Mir ist ebenso unververständlich, warum der Kulturstaatsminister und die Regierungsfraktionen nicht mit allen Beteiligten ein klärendes Gespräch über die Kuratoriumsfrage geführt haben. Insbesondere diese Gesprächsverweigerung grenzt an Missachtung. Diese Debatte kann mit der Verabschiedung des heutigen Gesetzes nicht zu Ende sein. Eine offene Frage bleibt auch der Name der Stiftung. Gewiss, Namen sollte man nicht leichtfertig ändern. Der bisherige Name ist gut eingeführt. Er bringt die weltgeschichtliche Einzigartigkeit des Verbrechens des Holocaust einprägsam auf den Punkt. Aber dennoch trägt er nicht mehr der nun existierenden, veränderten Denkmalssituation Rechnung. Ich bin nicht der Meinung, dass wir hier einen neuen Namen von oben dekretieren sollten. Namensänderungen sollte es nur im Einvernehmen geben. Mein Vorschlag ist daher nach wie vor, dass sich der Kulturstaatsminister mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, dem Lesben- und Schwulenverband und weiteren Interessierten zusammensetzt und im Gespräch Lösungsvorschläge für einen Stiftungsnamen entwickelt, der der neuen Situation Rechnung trägt. Lange Jahrzehnte haben in Deutschland NS-Verfolgte aus bestimmten Opfergruppen darunter gelitten, dass sie im öffentlichen Gedenken nicht beim Namen genannt wurden, dass sie dabei immer wieder „vergessen“, in Wahrheit aber ausgrenzt wurden. Diese Phase sollte endgültig vorbei sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12976, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12230 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/13002? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion und die Fraktion Die Linke abgelehnt. Dagegen haben die übrigen Fraktionen des Hauses gestimmt. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf stimmt, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Vorsorge für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ ({0}) - Drucksache 16/12233 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) - Drucksache 16/12905 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Carsten Schneider ({2}) Otto Fricke Alexander Bonde Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt ebenfalls zu Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Jochen-Konrad Fromme, Bernhard Brinkmann, Otto Fricke, Roland Claus und Alexander Bonde.1) 1) Anlage 9 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12905, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12233 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Enthalten hat sich die FDP. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor angenommen. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 35 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ({3}) - Drucksache 16/12594 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4}) - Drucksache 16/12914 Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Hartfrid Wolff ({5}) Silke Stokar von Neuforn Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Clemens Binninger, Gerold Reichenbach, Hartfrid Wolff, Jan Korte und Silke Stokar von Neuforn.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sicherheit zu gewährleisten gehört zu den vornehmsten Aufgaben des Staates überhaupt. Zu diesem Feld zählt auch die Sicherheitsinfrastruktur. Die Polizeien, die Feuerwehren, die Rettungsdienste und die übrigen Sicherheitsbehörden in Deutschland benötigen für ihre wichtige und nicht selten auch gefährliche Arbeit eine einwandfreie und technisch moderne Ausstattung und Infrastruktur. Dazu gehört ein modernes und leistungsfähiges Funknetz, wie es im Augenblick mit dem Digitalfunk in Deutschland aufgebaut wird. Im Jahr 2006 hat der Gesetzgeber mit dem Beschluss für die Einrichtung der Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben den Startschuss für ein modernes Funknetz in Deutschland gegeben. Die Bundesanstalt hat die Aufgabe, für Bund und Länder den Digitalfunk BOS aufzubauen, seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Die Bundesanstalt nimmt gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen die Auftragsvergabe wahr. Dazu musste ein Verwaltungsabkommen mit den Ländern geschlossen werden, es musste ein Vergabeverfahren durchgeführt werden und die Bundesbehörde aufgebaut werden. Im April 2007 hat die Bundesanstalt für den Digitalfunk ihre Arbeit aufgenommen. Der Roll-out-Plan sieht vor, dass bis Ende 2010 rund 90 Prozent des Digitalfunknetzes aufgebaut sind. Aktuell zeichnet sich ab, dass sich die Realisierung um anderthalb bis zwei Jahre verzögern wird. Auch wenn es hier - leider wieder einmal - zu Verzögerungen kommen kann, gilt: Es ist zwar wichtig, dass wir die Digitalfunktechnologie möglichst schnell einsetzen können - noch wichtiger ist aber, dass sie zuverlässig funktioniert. Störungen des Funknetzes können schwerwiegende Folgen für die öffentliche Sicherheit und speziell für die Einsatzkräfte haben. Die wesentlichen Änderungen, die wir heute am Gesetz über die Errichtung der Bundesanstalt für den Digitalfunk beschließen, betreffen genau diesen Punkt: Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit und Sicherheit bei der eingesetzten Technik. Die Beschaffung von Endgeräten für den Digitalfunk liegt nicht im Aufgabenbereich der Bundesanstalt, sondern wird dezentral von Bund und Ländern vorgenommen. Deshalb ist ein klarer rechtlicher Rahmen notwendig, mit der die Bundesanstalt sicherstellen kann, dass die von den zuständigen Bundes- und Landesstellen angeschafften Endgeräte und Funkgeräte die für den störungsfreien Betrieb des Netzes notwendigen Leistungsmerkmale haben. Daher steht im Zentrum des vorliegenden Gesetzentwurfs die Zertifizierung von Endgeräten durch die Bundesanstalt für den Digitalfunk geregelt in dem neuen § 15 a bis c BDBOS-Gesetz. Die technische Überprüfung der Funkgeräte wird zukünftig durch sachverständige Prüfstellen vorgenommen. Auf der Grundlage der Prüfberichte und verschiedener Nachweise entscheidet die Bundesanstalt für den Digitalfunk auf Antrag des Herstellers oder Lieferanten, ob ein Zertifikat vergeben wird und das Gerät damit zugelassen ist. Ein solches Zertifikat wird dann Voraussetzung dafür sein, dass Funkgeräte im BOS-Digitalfunknetz eingesetzt werden dürfen und entsprechend dezentral angeschafft werden. Übergangsregelungen ermöglichen eine schrittweise Migration zu Funkgeräten mit Zertifikat. Die Einzelheiten des Zertifizierungsverfahrens und der Inhalt der Zertifikate werden in einer Verordnung geregelt, die im Grundsatz vom Bundesinnenministerium erlassen wird. Auch wenn hier keine formale Einbeziehung der Länder bei der Gestaltung der Verordnung vorgesehen ist, halte ich es für wichtig, dass die zuständigen Landesbehörden auf der Arbeitsebene ausreichend einbezogen werden und bei der Zertifizierung und der Festlegung von Standards eingebunden werden. Ich will noch einmal daran erinnern: Das Projekt „Digitalfunk BOS“ ist eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern; daran muss sich die Zusammenarbeit der beteiligten Stellen orientieren. Landesweite, auf dem sogenannten TETRA-Standard basierende Funknetze errichten auch andere europäische Staaten wie Österreich, Schweden, Norwegen und Dänemark. Das deutsche Digitalfunknetz, das wir zukünftig einer halben Million Mitarbeitern von Polizei, Feuerwehr, Rettungsdiensten und weiteren Sicherheitsbehörden zur Verfügung stellen werden, ist das weitaus größte Projekt seiner Art. Die Einführung des Digitalfunks bedeutet für unser Land einen Zugewinn an innerer Sicherheit. Mit dem vorliegenden Gesetz tragen wir dazu bei.

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das heute vorliegende Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ist ein weiterer Schritt bei der schwierigen und sich zäh gestaltenden Aufgabe, das in Deutschland bereits bestehende integrierte BOS-Funknetz von der analogen in die modernere digitale Funktechnik zu überführen. Die Gesetzesänderung ist notwendig, weil das Großprojekt - seit der Verabschiedung des dafür zuständigen Gesetzes im Juni 2006 - nun in ein Stadium getreten ist, in dem wir endlich die Voraussetzungen für die Beschaffung der Endgeräte festzulegen haben. Entscheidend für die Realisierung und auch die künftige Weiterentwicklung des BOS-Funknetzes ist, dass entsprechende Endgeräte von den Herstellern angeboten werden und sich ein entsprechender Markt entwickelt. Dabei wollen wir einerseits einen breiten Wettbewerb bei den Endgeräten gewährleisten. Das ist einer der Gründe, warum wir Netz- und Systembetrieb getrennt vergeben und dafür gesorgt haben, dass die Schnittstellen zu den Endgeräten offengelegt werden müssen. Andererseits müssen wir als Gesetzgeber darauf achten, dass eine sicherheitsrelevante Infrastruktur wie der BOS-Digitalfunk die notwendigen Sicherheitsstandards einhält. Die von den Nutzern dezentral beschafften und verwendeten Endgeräte müssen störungsfrei und interoperabel mit den sonstigen Komponenten des Digitalfunknetzes und mit anderen Endgeräten eingesetzt werden können. Zudem müssen die Endgeräte bestimmte elektromagnetische und mechanische Eigenschaften sowie bestimmte Anforderungen an die Bedienbarkeit erfüllen. Deshalb muss es eine Zertifizierung der Endgeräte geben. Sie ist zum einen wichtig für die Benutzer. Sie müssen sich im Ernstfall, in dem es durchaus um Menschenleben gehen kann, darauf verlassen können, dass die beschafften Geräte technisch und funktionell alle Anforderungen erfüllen und störungsfrei betrieben werden können. Sie ist aber auch wichtig für die Hersteller, um sie vor unlauterem Wettbewerb zu schützen. Eine unabhängige Zertifizierung durch die Bundesanstalt bietet für beide diese Sicherheit. Nicht zuletzt dient eine unabhängige, allgemeine Zertifizierungsmöglichkeit auch der Vielfalt und Konkurrenz auf dem Markt. Konkurrenz bei Preis und Qualität ist wichtig für die kommunalen Gebietskörperschaften und Organisationen, die die Endgeräte beschaffen, auch in Anbetracht der Gerätekosten. Wir wollen keine Monopolstellung eines einzelnen Anbieters mit allen Marktverzerrungen, die sehr wohl bekannt sind. Wir verpflichten die Hersteller, die eine Zertifizierung anstreben, dazu, zwei Endgeräte unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, die von unabhängigen, externen Testplattformen geprüft werden. Dies gilt nicht für die Hersteller von mobilen oder stationären Funkleitstellen. Weil diese Anlagen hohe Stückpreise haben, hätte dies für die Zertifizierungswilligen unverhältnismäßig hohe Kosten zur Folge, die sich nicht marktkonform auf den Verkaufspreis umlegen ließen. Bei den Endgeräten fällt dies wegen der geringeren Stückpreise und den höheren Marktchancen dagegen kaum ins Gewicht. Durch einen Änderungsantrag haben die Koalitionsfraktionen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sichergestellt, dass bei kleineren Veränderungen keine aufwendigen Folgezertifizierungen notwendig sind. Nur bei Änderungen, die wesentlich sind, die also Auswirkungen auf Betriebs- und Funktionsfähigkeit haben muss nachzertifiziert werden. Für unwesentliche Änderungen, also zum Beispiel im Design, gilt dies nicht. Die konkrete Unterscheidung trifft letztlich die Bundesanstalt innerhalb einer Frist von drei Monaten. Des Weiteren stellen wir mit der Gesetzesänderung noch einmal klar, dass die Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ausschließlich in öffentlichem Interesse tätig wird. Weil die Debatte über den Digitalfunk angesichts der drohenden weiteren Verzögerungen und Kostensteigerungen erneut aufflammt, lassen Sie mich anlässlich der heutigen Gesetzesberatung noch zwei grundsätzliche Feststellungen treffen: Erstens. Unbefriedigend ist, dass sich erneut herausstellt, dass der bereits mehrfach in die Länge gezogene Zeitplan für den Aufbau des flächendeckenden BOS-Digitalfunks wieder nicht eingehalten werden kann. Entsprechend unserer föderalen Struktur im Sicherheitsbereich müssen wir diesen Prozess kontinuierlich mit einer Vielzahl von Aufgabenträgern abstimmen: mit dem Bund, den Ländern und auf den jeweiligen Ebenen unter den Behören und Organisationen in der polizeilichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. Das erweist sich stellenweise immer noch als zäh, zumal die einzelnen Länder unterschiedlich und unterschiedlich schnell vorgehen. Allerdings können wir uns auch nicht - wie manche Neunmalkluge immer wieder suggerieren mit vermeintlich erfolgreicheren Nachbarländern vergleichen. Dort wurde der Digitalfunk bisher entweder als Insellösung oder als Teilfunknetz angelegt. Erst jetzt werden auf dieser Basis integrierte Gesamtlösungen geplant. Wir müssen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern, den kommunalen Gebietskörperschaften und den jeweiligen Organisationen der polizeilichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr ein bereits bestehendes integriertes Netz komplett transferieren. Der Verzicht auf den einheitlichen Ausbau eines Kernnetzes durch den Bund und der steigende Koordinierungsbedarf tun ein Übriges. Zum Zweiten: Beunruhigend sind die stark steigenden Kosten, die die ursprünglichen Ansätze jetzt schon erhebZu Protokoll gegebene Reden lich übersteigen. Die Zahlen, die jetzt gehandelt werden, sind ein Vielfaches dessen, was ursprünglich beim Aufbau des Kernnetzes durch die DB-Telematik in Rede stand. Damals führte der Aufschlag von 500 Millionen Euro dazu, dass der DB-Telematik das Gesamtprojekt entzogen wurde, und zwar mit der Begründung: zu teuer. Inzwischen haben wir das Mehrfache der damals in Rede stehenden Kostensteigerung erreicht. Wir erinnern uns, dass der Bund unter Rot-Grün zugesagt hatte, das Kernnetz zu finanzieren. Das entspricht 50 Prozent des gesamten Netzes, und das obwohl der Bund weniger als 10 Prozent der Nutzer stellt. Mit diesem „unausschlagbaren“ Angebot, das einem Kostenteil des Bundes von rund 30 Prozent entsprach, hatte der damalige Bundesminister Schily das Kostenkarussell zwischen Bund und Ländern beenden und endlich den Weg für den Digitalfunk frei machen können. Die Länder und Innenminister Wolfgang Schäuble haben dann von dem Modell es Ausbaus des Kernnetzes durch den Bund mithilfe eines einheitlichen Dienstleisters Abstand genommen, unter anderem mit Verweis auf die avisierte Kostensteigerung von 500 Millionen Euro. Dagegen wurde - vereinfacht dargestellt - vereinbart, dass der Bund zwar mit der Bundesanstalt die Verantwortung für die Koordinierung und die Gesamtnetzplanung übernehmen soll, die Länder aber in ihrem Bereich den Gesamtausbau des Netzes eigenständig vornehmen können, wobei sie dies auch wahlweise der Bundesanstalt übertragen können. Das wurde damals von allen Beteiligten als kostengünstigere und schnellere Lösung gefeiert. Die Realität sieht heute leider ganz anders aus. Es ist nicht redlich, alle Probleme die jetzt im Projekt- und Kostenmanagement entstehen, dem Vorgängerminister in die Schuhe zu schieben und jegliche Verantwortung für die jetzige - für uns alle unbefriedigende Situation - von sich zu weisen. Im Gegenteil: Wir müssen aufpassen, dass das von Innenminister Schäuble mit den Ländern vereinbarte jetzige Vorgehen nicht zu einem reinen Optionsmodell wird, bei dem alle Kostenrisiken auf den Bund abgewälzt werden. Denjenigen, die jetzt die Kostensteigerungen als Gelegenheit nutzen wollen, verlorene Schlachten erneut zu schlagen und nach einer Privatisierung hoheitlicher Aufgaben in Form einer Konsortiumslösung zu rufen, möchte ich nur das Beispiel Maut entgegen halten. Es kann nicht die Rede davon sein, dass diese Lösung kostengünstig sei oder gewesen wäre. Das vorliegende Gesetz ist notwendig, um die Voraussetzung für die Zertifizierung und damit die Markteinführung und Beschaffung der Endgeräte zu schaffen. Die Bundesländer, die Gemeinden, aber insbesondere die Nutzer warten darauf ungeduldig; nicht zuletzt auch deshalb, um endlich marktreife Geräte und verlässlichere Zahlen für ihre Planungen zu erhalten. Wir stehen ohnehin im Verzug. Die Frauen und Männer, die bei den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, bei den Polizeien, den Feuerwehren, den Hilfsorganisationen und beim THW sich täglich für unser aller Sicherheit einsetzen und dabei oft Risken für Leib und Leben in Kauf nehmen, haben nicht nur unser aller Dank dafür verdient, sie haben auch Anspruch darauf, dass wir alles tun, damit ihnen endlich eine modernere Funktechnik für die Erfüllung ihrer schwierigen Aufgaben zu Verfügung steht. Darum sollten wir die jetzige Gesetzesänderung nicht in Haftung für andere Debatten nehmen. Ich bitte um ihre Zustimmung.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir brauchen schnellstmöglich den Digitalfunk in Deutschland. Das Projekt ist zu wichtig, als dass sein Scheitern auf Dauer riskiert werden darf. Gegenstand des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfes ist insbesondere die Einführung einer Vorschrift zur Zertifizierung von Endgeräten durch die Bundesanstalt für Digitalfunk. Die technische Überprüfung verbleibt grundsätzlich bei sachverständigen Prüfstellen. Die Endabnahme soll durch die Bundesanstalt durchgeführt werden. Eine Zertifizierung soll dann erteilt werden, wenn die zwingend erforderlichen Leistungsmerkmale vorhanden sind, das Gerät nicht gegen andere öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt und der Erteilung des Zertifikats keine überwiegenden öffentlichen Interessen, insbesondere sicherheitspolitische Belange der BRD, entgegenstehen. Die FDP-Bundestagsfraktion macht sich bereits seit Jahren für die Einführung des Digitalfunks stark. Allerdings hatte sie sich bereits bei der Errichtung einer Bundesanstalt für Digitalfunk enthalten, da grundsätzlich die Notwendigkeit einer Behördenlösung in diesem Bereich zweifelhaft ist. Alternativen hatte die Bundesregierung nicht ernsthaft geprüft. Diese Kritik wirkt auch jetzt fort, vor allem, wenn ich über das Kostencontrolling und die Informationspolitik der Bundesregierung nachdenke. Innerhalb des Bundesrates wurde Kritik daran geäußert, dass die Mitspracherechte der Länder bei der Festlegung des Zertifizierungsverfahrens und des Inhalts der Zertifikate zu gering seien. So solle die Zertifizierungsverordnung des BMI nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Da das Projekt Digitalfunk ein Gemeinschaftsprojekt von Bund und Ländern ist, muss dies tatsächlich kritisch hinterfragt werden. Das bisherige Auftrags- und Vergabeverfahren der Bundesregierung für den BOS-Digitalfunk ist unverantwortlich und undurchsichtig. Die dringend erforderliche Einführung wurde unnötig verzögert und verteuert. Der ursprünglich geplante Weg, über eine Dienstleistungsausschreibung das Digitalfunknetz zu errichten, wurde von der Bundesregierung Ende Januar 2005 verlassen. Der Betrieb wurde ohne Ausschreibung an die Bahntochter DB-Telematik vergeben - einfach so mit einem telegenen Handschlag von Otto Schily und Herrn Mehdorn. Und dann passierte Folgendes: Für den Betrieb des BOSDigitalfunks legte die DB-Telematik am 31. Juli 2006 ein Angebot in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vor. Der im Haushalts- und Finanzplan für den Bund veranschlagte Kostenrahmen beträgt aber nur rund 1,1 Milliarden Euro. Jetzt ist eine erneute Kostensteigerung um rund 1 Milliarde Euro bekannt geworden. Die Kosten für den Bund betragen jetzt inzwischen fast das Dreifache. Zu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) Die Kostenentwicklung wie die Gesamtumstände der Digitalfunkeinführung in Deutschland sind skandalös. Die Rolle der Minister Schily und Schäuble ist mit „undurchsichtig“ noch sehr behutsam ausgedrückt. Obwohl die Bundesregierung immer wieder das Gegenteil behauptet, ist der Eindruck unabweisbar, dass die Kosten für den Steuerzahler als eine zu vernachlässigende Größe angesehen werden. Ein wirksames Controlling fehlt. Die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der Bundesregierung ist durch ein hohes Maß an Intransparenz und Undurchsichtigkeit geprägt. Gegen daraus resultierende Mutmaßungen und Verdächtigungen helfen nur Offenheit und Transparenz. Die Finanzierung des gesamten Projekts für den Bund, aber auch die Finanzierungsbedingungen für jedes einzelne Bundesland sind völlig aus dem Blick geraten. Ein Vertrag zulasten Dritter, zulasten der Länder ist unzulässig. Die FDP hat erhebliche Bedenken gegen die Art und Weise, wie die Bundesregierung die Einführung des Digitalfunks betreibt. Das unklare und intransparent wirkende Vergabeverfahren zum Digitalfunk hat bislang neben immensen Kosten nur grandiose Zeitverzögerungen verursacht. Wir sollten im Interesse der Sicherheit der Bürger, aber auch der Haushaltslage schnellstmöglich die beste, aber auch wirtschaftlichste Technik in Deutschland umsetzen. Und wir wollen, dass alle Entscheidungen nachvollziehbar und transparent sind. Denn an dem, was und wie bislang in diesem Zusammenhang entschieden wurde, sind erhebliche Zweifel angebracht - sachlich, rechtlich und finanziell.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir debattieren heute über eine Gesetzesänderung, vorgeschlagen durch die Bundesregierung, zu einem Gesetz, das die Regierung selber vor kaum drei Jahren durch das Parlament gedrückt hat. Die Rede ist vom Gesetz zur Einrichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben. Bereits in den Debatten 2006 hat sich die Fraktion Die Linke gegen die Einrichtung einer solchen Bundesanstalt ausgesprochen, jedoch nicht, wie uns aus der Koalition immer wieder vorgeworfen wurde, weil wir gegen eine über die Ländergrenzen hinweg funktionierende Kommunikation beispielsweise zwischen den Feuerwehren, dem Katastrophenschutz oder der Polizei waren. Im Gegenteil, wir, Die Linke, sprechen uns seit langem dafür aus, die vorsintflutartigen Kommunikationsmittel auf analoger Basis durch digitales Gerät auszutauschen. Seit Jahren wird nun an Geräten, Funkmasten und Zertifizierungen für diese herumgedokter - ohne messbaren Erfolg. Die bundesweite Inbetriebnahme des Digitalfunks steht aus und wird wohl noch einige Jahre auf sich warten lassen. Ein deutsches Novum in der europäischen Sicherheitsarchitektur! Da werden Datenbanken aufgebaut, millionenfach Personendaten ausgespäht, auf Vorrat gesammelt und international weitergegeben, Geheimdienste und Militär in die Polizeiarbeit eingebunden, der Kampf gegen den Terrorismus medienwirksam inszeniert, und woran krankt unsere Sicherheitsarchitektur wirklich: an Funkgeräten. Das ist ein Schildbürgerstreich ohne Beispiel. Das Vorgehen der Regierung ist so peinlich, dass man sich sogar als Oppositionspolitiker für die Koalitionsmehrheit fremdschämen muss. Neben den Knoten in der Sicherheitskommunikation gehört deshalb auch das Fremdschämen aufgehoben. Nun will die Bundesregierung mit ihrer heute vorliegenden Gesetzesänderung ihr eigenes Gesetz von 2006 nachbessern. Plötzlich werden Kritikpunkte an der zuständigen Bundesanstalt, die erst 2007 eingerichtet wurde, aufgegriffen, welche die Opposition bereits zum damaligen Zeitpunkt öffentlich machte. Es bleibt aber dabei: Der Nachbesserungsversuch der Regierung ist ein hilfloser Versuch, denn nun, nachdem die Bundesländer bereits Geräte für den Digitalfunk angeschafft haben, stellt die Regierung fest, dass die Bundesanstalt mit der Zertifizierung und der Prüfung der Geräte auf länderübergreifende und störungsfreie Nutzung und Kompatibilität hin überfordert ist. Deshalb soll es zukünftig möglich sein, diese Aufgaben abzugeben, das heißt externe Prüfstellen damit zu betrauen. Mit der Änderung des von § 13 Abs. 2 BDBOS-Gesetz sollen gleichzeitig der Bundesanstalt zusätzliche Befugnisse gegenüber Behörden anderer Bundesministerien übertragen werden. Ganz schlau ist im Übrigen auch, dass die Bundesregierung jetzt - über den neuen § 15 b und c - drei Jahre nach Gesetzeseinführung und zwei Jahre nach der Einrichtung der Bundesanstalt definiert, wie die Zertifizierungsverfahren und Einzelheiten des Zertifikats auszugestalten sind. Der Opposition hätte die Große Koalition bei einem Gesetzentwurf, welcher derart viele Defizite aufweist, jedwede politische Kompetenz abgesprochen. Bis heute ist die Bundesanstalt ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachgekommen. Laut Gesetz hat die Bundesanstalt die Aufgabe, im Öffentlichen Interesse ein bundesweit einheitliches digitales Sprech- und Datenfunksystem für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben aufzubauen, zu betreiben und seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen“. Weder wurde bis heute ein solches System aufgebaut, noch ist die Funktionsfähigkeit gesichert; denn die Kompatibilität der bisher angeschafften Geräte und der Aufbau der notwendigen Funkmasten stehen weiter in den Sternen. Der Digitalfunk in Deutschland ist ein weiteres Millionengrab der Großen Koalition. Die daraus folgenden Kommunikationsschwierigkeiten von Sicherheitsbehörden verschärfen die Sicherheitslage in Deutschland. Die Linke wird der Gesetzesänderung nicht zustimmen und fordert die Regierung auf, endlich im Sicherheitsinteresse der Bürgerinnen und Bürger zu handeln.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der BOS-Digitalfunk kommt später, und er wird wesentlich teurer als bislang geplant - das ist die zweifach schlechte Botschaft, die sich hinter diesem Gesetzentwurf verbirgt. Was ganz Europa kann, bringt das Hightechland Deutschland mit seinem föderalen Wahnsinn nicht zustande, und ich kann dieser Bundesregierung noch nicht einmal die alleinige Schuld in die Schuhe schieben. Zu Protokoll gegebene Reden Wir erinnern uns noch an das großspurige Versprechen von Otto Schily: Der Digitalfunk kommt pünktlich zur Fußball-WM 2006. Dann gab es Alleingänge des ehemaligen Bundesinnenministers, Verträge per Handschlag und einen festgefahrenen Konflikt mit allen Bundesländern, die nun einmal zu beteiligen sind, weil es bei der Föderalismusreform I nur um das BKA ging und nicht darum, dass der Aufbau eines einheitlichen, bundesweiten Digitalfunks als Aufgabe des Bundes definiert wird. Jetzt haben wir eine schwerfällige Bund-Länder-Behörde, die mit der Bewältigung dieses Großprojektes schon aufgrund ihrer Organisationsstruktur überfordert ist. Nach Presseberichten - „Handelsblatt“ vom 6. Mai; der Sachstandsbericht liegt den Mitgliedern des Innenausschusses nicht vor - sind die Gesamtkosten um 30 Prozent auf 3,625 Milliarden Euro gestiegen, die Einführung verzögert sich nach derzeitigem Stand bis 2012. Es werden mehr Funkstationen gebraucht als ursprünglich geplant, und in der Bevölkerung gibt es ganz offensichtlich Widerstand gegen immer neue Sendemasten, deren Strahlung nicht genau eingeschätzt werden kann. Die unendliche Geschichte der Einführung des BOS-Digitalfunks in Deutschland wird auf jeden Fall weiter geschrieben, und bis dahin funken wir weiter analog oder bauen parallel Insellösungen auf und ab. Es ist prima, dass die Bundesregierung jetzt beginnt, verbindliche Standards zu setzen, und ich kann nur hoffen, dass die Länder, inklusive Bayern, hier zustimmen können. Die Klarstellung, dass die BDBOS ihre Aufgaben und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt und die vorgesehene Klärung der Zuständigkeiten auf, dem Gebiet der Versorgung sind Selbstverständlichkeiten, die nicht erneut eine Welle der Debatte auslösen sollten. Dass es eine Zertifizierung der Endgeräte geben muss, sollte auch für alle nachvollziehbar sein. Wir haben gegen diese Änderungen keine Einwände. Wir sind allerdings nicht bereit, die Verantwortung für weitere Kostensteigerungen und Verzögerungen mit zu übernehmen. Es mangelt an Transparenz gegenüber dem Parlament, und es ist den Abgeordneten kaum möglich, hier gestaltend einzugreifen. Der Murks beim BOS-Digitalfunk ist der Murks der Innenminister. Otto Schily wollte seinen Alleingang, und Schäuble geht den falschen Weg weiter. Für das Projekt BOS-Digitalfunk lehnen wir die Mitverantwortung ab. Beim Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten wir uns, weil einige Regelungen durchaus vernünftig sind, aber insgesamt das verkorkste Verfahren damit nicht gerettet werden kann. Der BOSDigitalfunk braucht eine Evaluierung, ein transparentes Kosten-Controlling und eine Neuausrichtung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12914, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12594 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, mögen bitte die Hand heben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 36 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung - Drucksache 16/12814 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Zu Protokoll gegeben haben hier ihre Reden die Kolleginnen und Kollegen Marco Wanderwitz, Klaus Uwe Benneter, Mechthild Dyckmans, Sevim Dağdelen, Dr. Gerhard Schick und der Parlamentarische Staatsse- kretär Alfred Hartenbach.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist so beschlossen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 37 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Sibylle Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Konrad Schily und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Strafbarkeit der Genitalverstümmelung - Drucksache 16/12910 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Ute Granold, Christine Lambrecht, Sibylle Laurischk, Dr. Kirsten Tackman und Irmingard Schewe-Gerigk.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir diskutieren heute in erster Beratung einen Gesetz- entwurf zur Strafbarkeit von Genitalverstümmelungen. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Genitalverstümmelung bei Mädchen und Frauen als Fall der schweren Körper- verletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Zudem soll die Verjährung der Strafbarkeit erst mit Vollendung 1) Anlage 10 des 18. Lebensjahres des Opfers einsetzen. Mittels einer Ergänzung der Vorschriften zur Auslandsstrafbarkeit soll außerdem sichergestellt werden, dass die Genitalverstümmelung bei einem lediglich vorübergehenden Aufenthalt außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik dem deutschen Strafrecht unterliegt. Ich möchte zunächst feststellen: Die Union unterstützt ausdrücklich das Anliegen, Mädchen und Frauen besser vor Genitalverstümmelungen zu schützen. Die Genitalverstümmelung stellt eine schwere Menschenrechtsverletzung und Diskriminierung der betroffenen Mädchen und Frauen dar, die auch mit Blick auf einen etwaigen besonderen kulturellen oder religiösen Hintergrund unter keinen Umständen toleriert werden kann. Die Koalition hat sich der Problematik der Genitalverstümmelung bereits seit langem angenommen und den Antrag „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen“ mit einem 20-PunktePlan eingebracht, der im Juni letzten Jahres vom Bundestag verabschiedet wurde. Darin wird eine Reihe von Maßnahmen genannt, die aus unserer Sicht erforderlich sind, um Mädchen und Frauen wirksamer vor Genitalverstümmelungen zu schützen. Die zentrale Forderung des heute zur Beratung anstehenden Entwurfs zielt auf die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes hin. Zur Begründung wird angeführt, es sei unklar, ob eine Genitalverstümmelung den Straftatbestand der schweren Körperverletzung erfülle. Deshalb sei die vorgeschlagene Gesetzesänderung notwendig. Mit der ausdrücklichen Erfassung als schwere Körperverletzung und der damit verbundenen Strafandrohung werde der besondere Unrechtsgehalt dieser Tat erfasst. Eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung würde hingegen den schlimmen Folgen für die Opfer nicht hinreichend Rechnung tragen. Es dürfte weitestgehend unstreitig sein, dass die Genitalverstümmelung, da sie in der Regel mit einem Messer, Skalpell oder ähnlich scharfem Gegenstand geschieht, schon jetzt nicht nur eine einfache Körperverletzung darstellt, sondern in der Regel den Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 des Strafgesetzbuchs erfüllt. Mit Blick auf die damit verbundene Höchststrafe von zehn Jahren Freiheitsentzug wäre eine Aufnahme in den Katalog der schweren Körperverletzung, wie hier vorgeschlagen, somit wegen des Strafmaßes nicht erforderlich und im Übrigen auch nicht zu rechtfertigen. Soweit es jedoch um die unterschiedliche Mindeststrafe geht, die bei der schweren Körperverletzung bei absichtlicher Verstümmelung der Genitalien drei Jahre und bei der gefährlichen Körperverletzung sechs Monate beträgt, gibt es ein Problem, auf das der vorliegende Entwurf nicht eingeht: Der Familienausschuss hat die Problematik der Genitalverstümmelung im Rahmen einer Anhörung im September 2007 intensiv erörtert. Es wurden nicht nur Experten, sondern auch Betroffene angehört. Die Koalition hat sich nach dieser Anhörung bewusst gegen einen eigenen Straftatbestand entschieden. Ausschlaggebend war hierfür vor allem der Einwand der Sachverständigen, dass die vorgeschlagene Strafverschärfung mit ihrer Mindestfreiheitsstrafe von drei Jahren ausländerrechtlich stets die Ausweisung der Täter - also insbesondere der Eltern oder anderer Familienangehöriger - zur Folge hätte. Für die betroffenen Opfer wäre deshalb nach eigener Aussage die Strafverschärfung wegen der damit verbundenen Regelausweisung keine Lösung. Es besteht daher aus unserer Sicht die Gefahr, dass eine Strafverschärfung sogar kontraproduktiv wirkt: Sie könnte die Opfer wegen der damit verbundenen Ausweisung ihrer Familienangehörigen von einer Anzeige abhalten. Dies kann von uns nicht gewollt sein. Was die angesprochene Symbolwirkung einer erweiterten Strafbarkeit angeht, so teile ich die Einschätzung, dass leider einem beträchtlichen Teil der Öffentlichkeit immer noch das Bewusstsein der Strafbarkeit von Genitalverstümmelungen fehlt. Es ist allerdings auch festzustellen, dass sich in diesem Bereich in den vergangenen Jahren schon vieles zum Positiven entwickelt hat. Den Menschen ist inzwischen weitgehend bekannt, dass es - auch hierzulande - Genitalverstümmelungen gibt. Auch müsste sich in den relevanten Migrantengruppen mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass unsere Rechtsordnung diese menschen- und frauenverachtenden Praktiken nicht duldet. Hier hat die vielfältige Aufklärungsarbeit seitens des Staates und privater Organisationen bereits zu einer Veränderung in den Köpfen der Menschen geführt. Unabhängig von der Frage der strafrechtlichen Bewertung werden wir unsere Anstrengungen in diesem Bereich weiter forcieren. Die Bundesregierung setzt sich bereits seit Jahren kontinuierlich für die Bekämpfung der Genitalverstümmelung ein. So ist etwa der Aktionsplan II zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vom September 2007 zu nennen. Die Koalition hat mit ihrem Antrag aus dem vergangenen Jahr nun eine Reihe weiterer wichtiger und guter Maßnahmen beschlossen, die es jetzt umzusetzen gilt. So wollen wir durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit darauf hinwirken, dass die Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien als Körperverletzung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere auch bei den Migranten bzw. Migrantenorganisationen noch stärker bekannt gemacht wird und sich hier ein entsprechender Mentalitätswechsel vollzieht. Darüber hinaus - hierin sehen wir die zentrale Herausforderung - muss es uns gelingen, Mädchen und Frauen umfassend über ihre Rechte sowie Beratungsund Zufluchtsmöglichkeiten aufzuklären. Dabei wollen wir auch die mit diesem Thema befassten Akteure - zum Beispiel Ärzte, Sozialarbeiter, Polizei und andere Behörden - weiter sensibilisieren und auch bei den Ländern darauf hinwirken, dass sie die erforderliche Infrastruktur bereitstellen. Vordringlich sind dies Mädchen- und Frauenhäuser sowie Beratungsstellen. Wir wollen zudem einen besonderen Schwerpunkt in die Aufklärung und Prävention bei der Vergabe von Forschungsaufträgen setzen. Dazu zählt auch eine Evaluierung von sogenannten Best Practices in Herkunftsländern und europäischen Migrationsländern. Gelingen uns dabei keine Fortschritte, sind alle gesetzlichen MaßnahZu Protokoll gegebene Reden men reine Symbolpolitik, die den betroffenen Mädchen und Frauen nicht helfen. Hier müssen wir also unsere Prioritäten setzen. Das tun wir auch. Schließlich haben auch wir uns in unserem Antrag dafür ausgesprochen, die Verjährungsfrist für Opfer, die zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig waren, zu verlängern, sodass die Betroffenen auch noch nach dem Erreichen der Volljährigkeit die Möglichkeit haben, selbst Anzeige zu erstatten. In diesem Punkt stimmen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich überein. Aus diesem Grund habe ich bereits gemeinsam mit dem Kollegen Arnold Vaatz die Bundesregierung - namentlich die Justizministerin - aufgefordert, die Vorgaben des Bundestages umzusetzen und einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Dabei haben wir auch ausdrücklich um Prüfung gebeten, inwieweit eine Verlängerung der Verjährungsfrist auch ohne die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes für Genitalverstümmelung zu realisieren ist, und für den Fall, dass dies nicht geht, welche Lösungen sich aus rechtspolitischer Sicht ergeben, um diese Forderung des Bundestages umzusetzen. Eine Antwort bzw. den Gesetzentwurf erwarten wir in Kürze. Vor diesem Hintergrund lehnen wir es - zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt und wegen der noch ausstehenden rechtlichen Prüfung durch das Bundesjustizministerium - ab, die Genitalverstümmelung als Fall der schweren Körperverletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Schnellschüsse verbieten sich angesichts der Sensibilität dieses Themas. Da uns als Union dieses Thema - vor allem auch im Interesse der betroffenen Mädchen und Frauen - sehr wichtig ist, drängen wir darauf, dass die noch offenen rechtlichen Fragen zeitnah geklärt werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir hier schon in Kürze einen eigenen Gesetzentwurf auf den Weg bringen werden.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der hier behandelte Gruppenantrag beschäftigt sich mit einem sehr wichtigen und ernst zu nehmenden Thema. Die Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung und eine schwere Diskriminierung der Frau. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes und der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes Menschenrechte für die Frau e.V.“ sind in Deutschland etwa 30 000 Frauen und Mädchen von der Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht. Richtig ist, dass der Eingriff weder mit Religion noch mit Tradition zu rechtfertigen ist. Auf der Grundlage internationaler Verträge liegt auch unbestritten eine rechtsverbindliche Verpflichtung Deutschlands vor, aktiv gegen die weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland vorzugehen. Leider vermengt der Gruppenantrag von Dr. Konrad Schily aber das Anliegen, die Genitalverstümmelung zu bekämpfen und diesen Frauen und Mädchen zu helfen, mit einer Reihe von Halbwahrheiten. Das ist schade. So beschäftigt uns das Thema „Kampf gegen die Genitalverstümmelung“ hier im Bundestag schon seit Jahren. Es gab diverse Anträge von allen Fraktionen und eine öffentliche Anhörung zu dem Thema. Wir als Koalitionsfraktionen haben schließlich am 26. Juni 2008 einen sehr ausführlichen und dezidierten Antrag verabschiedet. Dies zeigt, dass dieses Thema nicht neu von einigen Abgeordneten, unter anderem der FDP, aufgegriffen wurde. Wir haben uns mit allen Aspekten, die der Gruppenantrag aufwirft, bereits sehr ausgiebig und intensiv auseinandergesetzt. Fälschlicherweise erweckt der Gruppenantrag den Eindruck, das Thema sei neu auf der Tagesordnung. Über eine ausdrückliche Strafbewehrung als schwere Körperverletzung haben wir immer wieder diskutiert. In den Beratungen zu unserem Antrag haben wir uns aus guten Gründen gegen die Einführung eines ausdrücklichen Straftatbestandes entschieden. Entgegen dem Gruppenantrag bestehen keine rechtlichen Unsicherheiten bei der exakten strafrechtlichen Einordnung. Es gibt hier keine Strafbarkeitslücke. Für Mädchen und Frauen, denen die Genitalverstümmelung droht, gilt, dass Genitalverstümmelung bereits jetzt strafbar ist und in den meisten Fällen auch als gefährliche oder schwere Körperverletzung geahndet werden kann. Selbst bei einer Einwilligung des Mädchens oder der Frau zu dem Eingriff bleibt die Tat strafbar, da sie nach unserem Strafrecht gegen die guten Sitten verstößt. Die Schaffung eines Straftatbestandes wäre daher ein rein symbolischer Akt. Auch das Problem der Ferienbeschneidung ist strafrechtlich ausreichend erfasst. Das bestätigen die Antworten der Bundesregierung auf entsprechende Anfragen, zum Beispiel in der Drucksache 14/6682 unter Frage 15. Die Unterstützer eines solchen Eingriffs, beispielsweise Verwandte, die in Deutschland leben, machen sich in diesem Fall als Beihelfer oder Mittäter schuldig. In einer Strafrechtsänderung sehe ich zudem keine Problemlösung. Sie würde keinesfalls die Wurzel des Problems beheben. Trotz der existierenden Strafbarkeit der Genitalverstümmelung gibt es bei uns bislang keine einzige Verurteilung. Es liegt das Problem vielmehr in der Nachweisbarkeit einer solchen Straftat. Denn es werden derzeit leider solche Vorgänge von niemandem aus dem Umfeld der Betroffenengruppe zur Anzeige gebracht. Unser Anliegen bei der Verabschiedung des Koalitionsantrags war es immer, für die Prävention von Genitalverstümmelung gemeinsam mit den betroffenen Familien an einem Unrechtsbewusstsein für diese lebenslangen Verstümmelungen ihrer Kinder zu arbeiten. So haben wir uns bereits mit unserem Koalitionsantrag für eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit bei den entsprechenden Migrantenorganisationen eingesetzt, die deutlich macht, dass die Genitalverstümmelung mit unserem Strafrecht geahndet wird und ein großes nicht wiedergutzumachendes Unrecht darstellt. Wir haben uns mit dem Koalitionsantrag für die Sensibilisierung von Polizei, Justiz, Lehrern und Ärzten eingesetzt, um für mehr Aufklärungs- und Präventionsarbeit zu sorgen. In dieser Arbeit und entsprechenden Sensibilisierungskampagnen sehe ich den einzigen Lösungsansatz für das Problem. Zu Protokoll gegebene Reden Für viel wichtiger als eine Strafrechtsverschärfung halte ich eine Änderung des Ausländerrechts in der Form, dass es nicht zur Abschiebung der Eltern bzw. gefährdeten Mädchen im Fall einer Anzeige kommt. Bei Straftaten in solchen Fällen kommt es auch deshalb nicht zur Anzeige, weil den Eltern mit ihren Kindern im Falle einer Verurteilung die Ausweisung droht. Wir haben außerdem mit dem Koalitionsantrag beschlossen, eine Verlängerung der Verjährungsfrist sicherzustellen, damit die Opfer ausreichend Zeit haben, solche schrecklichen Verbrechen auch zur Anzeige zu bringen. Hier besteht zutreffend Handlungsbedarf. Seitens des Justizministeriums gibt es aber die Erklärung, dieses auch zügig vorzubereiten. Alle unsere Bemühungen und der Einsatz von Ärzten, Lehrern und Polizisten sowie Justiz zeigen, dass die Wahrnehmung von Herrn Dr. Schily, die Genitalverstümmelung würde in der deutschen Politik verharmlost, völlig falsch ist. Durch einen symbolischen Akt der Strafrechtsverschärfung kommen wir dem Problem keinesfalls bei. Setzen wir uns deshalb dafür ein, dass wir gemeinsam mit den Migrantenorganisationen und den betroffenen Familien weiter an einem Unrechtsbewusstsein arbeiten, damit diese Straftaten in Zukunft zur Anzeige kommen und geahndet werden können.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dieser Gruppenantrag hat eine lange Vorgeschichte. Zuletzt haben wir uns im Juni letzten Jahres mit der Genitalverstümmelung befasst. Er ist das Ergebnis einer Anhörung vor dem Familienausschuss und langer innerund interfraktioneller und fachlicher Diskussionen. Ich hoffe sehr, dass er einen guten Abschluss und eine klare Mehrheit in diesem Hause finden wird. Alles andere wäre ein Rückschlag für den Schutz der Menschenrechte in Deutschland. Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist, unabhängig davon, wo und warum dies geschieht, eine schwere Verletzung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit von Frauen und Mädchen. Die genitale Verstümmelung von Frauen - international ist die Abkürzung FGM für „female genital mutilation“ gebräuchlich - wird seit der 4. UN-Weltkonferenz zu Frauen in Peking 1995 weltweit als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung geächtet. Bereits 1977 hatte ein Artikel in der Zeitschrift „Emma“ das Problem deutlich gemacht. Die genitale Verstümmelung verletzt die Frauen nicht nur an ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Es ist eine frühe Traumatisierung; die sexuelle Erlebnisfähigkeit und partnerschaftliche Bindungsfähigkeit wird lebenslänglich und unwiderruflich beschädigt. Es ist eine tiefe Verletzung ihrer Menschenwürde. Alle Formen der Verstümmelung erhöhen die Sterblichkeit der Frauen und die Komplikationen auch für die Kinder während der Geburt um 50 Prozent. Die genitale Verstümmelung stellt einen besonderen, nachhaltigen und menschenrechtswidrigen Auswuchs von Gewalt gegen Frauen dar. Weltweit sind nach Schätzungen von UNICEF 140 Millionen Frauen genital verstümmelt, zu denen 3 Millionen Frauen und Mädchen jedes Jahr neu hinzukommen. In Deutschland leben nach Schätzungen der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes rund 20 000 von Genitalverstümmelung betroffene und 4 000 bis 5 000 von genitaler Verstümmelung bedrohte Mädchen und Frauen. Genitalverstümmelung ist in Deutschland also nicht etwas Exotisches, für deren Bekämpfung im Ausland etwas getan werden muss, sondern sie ist auch bei uns existent. Um es klar zu sagen: Genitalverstümmelung ist in Deutschland bereits strafbar; man wird es unter den Straftatbestand der Körperverletzung subsumieren müssen. Jedoch unterliegt sie nach der bisherigen Rechtslage der bis zu zehnjährigen Verjährung. Der Bundestag hat mit Beschluss vom 26. Juni 2008 die Bundesregierung aufgefordert, sicherzustellen, dass die Verjährung bis zur Volljährigkeit der Betroffenen zu ruhen hat, also bis das Opfer das 18. Lebensjahr erreicht hat. Wir begrüßen diesen Beschluss und nehmen das ureigene Recht des Parlaments wahr, diesen Beschluss Gesetz werden zu lassen. Wir können ein Ruhen der Verjährung bis zum Erreichen der Volljährigkeit der Betroffenen nicht anders regeln, als im materiellen Strafrecht einen ausdrücklichen Anknüpfungstatbestand zu schaffen, auf den sich § 78 StGB beziehen kann. Von meiner bisherigen Ablehnung einer ausdrücklichen Strafbarkeit bin ich daher abgerückt. Die Auslandsstrafbarkeit von im Inland lebenden Tätern oder Betroffenen soll sogenannte Ferienbeschneidungen ahnden und ein strafloses Ausweichen in die Herkunftsländer unmöglich machen. Für die Aufnahme eines ausdrücklichen Straftatbestandes spricht darüber hinaus noch eine Vielzahl von anderen Gründen. Im Jahr 2001 forderte das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten auf, bei der Ausarbeitung spezifischer Rechtsvorschriften zusammenzuarbeiten, um FGM „im Namen der Rechte der Person auf Unversehrtheit, Gewissensfreiheit und Gesundheit zu unterbinden.“ Eine ausdrückliche Strafbarkeit erleichtert nach bisherigen Erfahrungen aus Frankreich auch die Strafverfolgung; dort haben seit 1983 36 Prozesse wegen Genitalverstümmelung stattgefunden. Die ausdrückliche Strafbarkeit stärkt zudem den Dialog mit den Ländern, in denen Genitalverstümmelung noch stattfindet. Sie stärkt die Glaubwürdigkeit deutscher Entwicklungspolitik im Ausland. Die Migrantenorganisationen selbst fordern eine ausdrückliche Strafbarkeit, um in ihren Kreisen besser die Strafbarkeit in Deutschland kommunizieren zu können. Die eindeutige juristische Benennung wird auch die Aufklärungsarbeit im Inland verbessern. Ärzte und Ärztinnen, Juristen, Sozialarbeiter, Lehrer, Verwaltungsmitarbeiter, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen, Jugendämtern, Ausländerbehörden, Erzieher und all diejenigen, die mit betroffenen oder gefährdeten Mädchen und Frauen zu tun haben können, ist der Zugang zu diesem Thema durch die ausdrückliche Benennung im Strafgesetzbuch erleichtert. So wird auch die gemeinhin geforderte Doppelstrategie von Strafverfolgung und Aufklärung umgesetzt. Zu Protokoll gegebene Reden Ich bin sehr froh, dass die Wichtigkeit der ausdrücklichen strafrechtlichen Regelung auch von so vielen meiner Kolleginnen und Kollegen mitgetragen wird, ganz unabhängig von ihrer Partei- und Fraktionszugehörigkeit. Ich bin sicher, dass sich noch mehr Kolleginnen und Kollegen anschließen werden. Damit ist aber der Kampf gegen Genitalverstümmelung leider noch nicht am Ende. Notwendig sind Präventionsmaßnahen und Aufklärungsarbeit. Gleichzeitig ist die Entwicklungshilfe für die Entwicklungsländer zu überdenken, die noch nicht den Kampf gegen die Genitalverstümmelung aufgenommen haben, wie dies auch Dr. Guido Westerwelle unlängst in einem „SPIEGEL“Interview vom 12. Mai 2009 gefordert hat. Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 26. Juni 2008 ist auch in sofern umzusetzen, als die interministerielle Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Nichtregierungsorganisationen noch nicht effizient arbeitet. Überdies ist es fragwürdig, warum das BMZ hier die Federführung haben sollte, geht es doch überwiegend um die Koordinierung der Präventionsarbeit im Inland. Dieser Gruppenantrag ist ein klares Bekenntnis zur Wahrung der Menschenrechte. Er soll auch Grundlage für präventive Arbeit gegen die traumatisierende Praxis der Genitalverstümmelung sein, hier wie in der Welt.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte mit dem Verbindenden beginnen. Die grundsätzliche Position der Linken zur weiblichen Genitalverstümmelung ist eindeutig: Sie ist eine schwere Körperverletzung, die sowohl in der Bundesrepublik als auch als Auslandsstraftat verfolgt werden muss. Das ist unstrittig. Sie ist weder mit Tradition, Kultur noch Glauben zu rechtfertigen, sondern stellt eine schwere Menschenrechtsverletzung dar, unter deren physischen und psychischen Folgen die betroffenen Frauen ein Leben lang leiden. Da eine Genitalverstümmelung fast immer im Kindesalter vorgenommen wird, ist auch das Ziel ausdrücklich unstrittig, den Beginn der Verjährungsfrist auf das 18. Lebensjahr zu verschieben. Aber damit enden auch schon die Übereinstimmungen zwischen den Positionen der Linken und dem vorliegenden Gesetzentwurf. Auch wenn wir eine ausdrückliche Aufnahme der Genitalverstümmelung als Straftatbestand wollen: Aus unserer Sicht wäre es für die angestrebte Schließung rechtlicher Schutzlücken eindeutiger, die Genitalverstümmelung als gesonderten Tatbestand bei den Tatbeständen gegen die sexuelle Selbstbestimmung Schutzbefohlener anzusiedeln, wie das ja auch zum Beispiel von Kollegin Laurischk ausgedacht worden war. Das wäre dem angegriffenen Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen in seinen unterschiedlichen Formen auch angemessen. Es würde ehrlich beim Namen genannt, was mit Genitalverstümmelungen in Wirklichkeit erreicht werden soll: Frauen dauerhaft der sexuellen Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit zu berauben. Aber diese Diskussion zur rechtlichen Einordnung ist nicht unser größtes Problem. Viel schwerer wiegen für uns die aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen des vorliegenden Gesetzentwurfs. Als Gesetzgeber haben wir selbstverständlich auch die Pflicht, die Folgen unserer Regelungen für Opfer und Tatbeteiligte im Blick zu behalten. Im vorliegenden Fall bedeutet das, die Folgen einer Verurteilung der Eltern wegen Beihilfe oder Anstiftung zur Genitalverstümmelung zu bedenken. Die betroffenen Familien werden nach einer solchen Verurteilung mit hoher Wahrscheinlichkeit abgeschoben, vermutlich sogar in das Land der Tat - getrennt von ihren Töchtern oder mit diesen gemeinsam. Beides ist kaum im Interesse des Kindeswohls. Deshalb fordern wir die Autorinnen und Autoren des Antrags erneut auf, den Gesetzentwurf so zu ändern, dass in § 56 Aufenthaltsgesetz eine Abschiebung infolge einer Verurteilung wegen Genitalverstümmelung ausgeschlossen wird. Sonst ist der Gesetzentwurf für uns nicht zustimmungsfähig. Sie werden sich sicher erinnern, dass meine Fraktion vor zwei Jahren einen Antrag zur Genitalverstümmelung eingebracht hat, der einen besonderen Schwerpunkt auf Prävention und Hilfe für die Betroffenen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene gesetzt hat. Leider wurde dieser Antrag damals von allen anderen Fraktionen abgelehnt. Es ist aus Sicht der Linken aber nach wie vor allzu kurz gedacht, vor allem auf Abschreckung durch Strafe zu setzen. Aufklärung, Kooperation mit Organisationen, die sich vor Ort gegen Genitalverstümmelung engagieren, und die Schaffung einer zentralen Stelle zur Koordination und Vernetzung der Initiativen gegen Genitalverstümmelung in der Bundesrepublik bleiben deshalb weiter wichtige Forderungen der Linken. Denn wo bestraft werden muss, kommen wir für das Opfer ohnehin zu spät. Es gehört zu einer ernsthaften Diskussion zu bedenken, dass die Maßnahmen gegen die Täterinnen die Zugänge zu den Gemeinschaften nicht versperren dürfen. Wir brauchen ihre Unterstützung für ein wirksames gemeinsames Handlungskonzept. Im vorliegenden Gesetzentwurf fehlt dieser Ansatz der Verhinderung von Genitalverstümmelungen durch Hilfe, Aufklärung und Beratung und der Hilfe für Betroffene vollständig. Deshalb werden wir unsere Vorschläge in die kommenden Debatten im Ausschuss und die zweite und dritte Lesung im Plenum erneut einbringen, denn sie sind dringender denn je.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Grünen haben im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes 1999 durchgesetzt, dass drohende Genitalverstümmelung als eigenständiger Asylgrund anerkannt werden kann. 1997 haben wir die Diskussion in der Öffentlichkeit mit einer großen Fachanhörung im Bundestag überhaupt erst in Gang gesetzt und mit einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen dafür gesorgt, dass das Thema im Parlament behandelt wurde. Vor über zwei Jahren haben wir Grünen die Bundesregierung mit unserem Antrag „Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen“ dazu aufgefordert, endlich wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz vor Genitalverstümmlung in Deutschland zu ergreifen. Dieser wurde von der Großen Koalition abgeZu Protokoll gegebene Reden lehnt. Doch wir haben nicht aufgegeben, parteiübergreifend über dieses Thema zu diskutieren und gemeinsames Handeln voranzubringen. Genitalverstümmlung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. Sie hinterlässt lebenslange irreparable körperliche und seelische Schädigungen bei den Mädchen und jungen Frauen. Es handelt sich hierbei auch um ein deutsches Problem. Durch Migration und Flucht leben heute immer mehr Frauen in Europa, die in ihren Herkunftsländern beschnitten wurden. Und es gibt Eltern, die auch hier glauben, diese grausame Praxis sei für ihre Töchter unbedingt notwendig. In Deutschland leben nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes mindestens 20 000 von Genitalverstümmlung betroffene Frauen sowie 4 000 bis 5 000 Mädchen, die davon bedroht sind. Die erlittenen Verletzungen sind niemals revidierbar. Weder Religion noch Tradition können diesen Eingriff rechtfertigen. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf fordern wir eine ausdrückliche Aufnahme der grausamen Praktik in den Straftatbestand der schweren Körperverletzung. Auch die Mehrzahl der Sachverständigen in der Ausschussanhörung sah dies als notwendig an. Ich möchte hierfür eindringlich werben. Eine ausdrückliche Aufnahme als einfache Körperverletzung würde den schrecklichen Folgen der Verletzung nicht gerecht werden. Als eine einfache Körperverletzung ist Genitalverstümmelung ohnehin anzusehen. Es kann aber nicht angehen, dass der Verlust eines wichtigen Körpergliedes oder der Fortpflanzungsfähigkeit eine schwere Körperverletzung darstellen, aber eine teilweise oder vollständige Amputation eines weiblichen Geschlechtsorgans „nicht so schlimm“ sein soll. Hier müssen wir konsequent sein. Mit der Gesetzesänderung wird Rechtsklarheit und Transparenz bei allen Beteiligten wie medizinischem und juristischem Fachpersonal, Lehrerinnen und Lehrern und Eltern hergestellt. Für die Betroffenen wird eine rechtliche Schutzlücke in aktuellen Gefährdungslagen endlich geschlossen. Die meisten Betroffenen sind zum Zeitpunkt der Beschneidung minderjährig, und der Weg bis zu einer Strafanzeige wegen des innerfamiliären Konflikts ist schwierig und langwierig. Daher wollen wir, dass die Verjährungsfrist erst mit dem 18. Lebensjahr der Mädchen einsetzt. Dies ist bereits bei der gesetzlichen Regelung des sexuellen Missbrauchs so vorgesehen. Aufgrund der hohen Anzahl „Ferienbeschneidungen“ im Ausland - ich nenne das nur in Anführungszeichen, denn die Bezeichnung beschönigt die Brutalität solcher Vorgänge - muss darüber hinaus die Genitalverstümmlung in den Katalog der Auslandsstraftaten im StGB aufgenommen werden. Somit kann sichergestellt werden, dass eine Genitalverstümmelung während eines vorübergehenden Aufenthalts im Ausland trotzdem dem deutschen Strafrecht unterliegt. Mehrfach habe ich dazu aufgefordert, bei dem Thema Genitalverstümmlung parteiübergreifend zu arbeiten. Nach den vielen Gesprächen und Verhandlungsrunden liegt nun ein Gruppengesetzentwurf vor, mit dem Genitalverstümmlung ausdrücklich ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden soll. Dies wäre ein klares Signal an Ärzte und Ärztinnen, Eltern und Opfer: Eine solche Menschenrechtsverletzung wird von unserem Staat nicht geduldet. Es ist endlich an der Zeit, bei dem Thema Genitalverstümmlung nicht länger auf die Zustände in anderen Ländern zu verweisen, sondern vor Ort tätig zu werden. Der Staat hat die Pflicht, gefährdete Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmlung zu schützen. Im Übrigen fordert uns auch das Europäische Parlament dazu auf. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag hierzu und soll ein klares Zeichen setzen. Es gibt noch viele Vorbehalte. Ich stehe weiter bereit, die Zweifler in Gesprächen zu überzeugen. Eine Ablehnung wäre ein denkbar schlechtes Signal. Ich fordere Sie auf: Unterstützen Sie den Gesetzentwurf!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12910 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den restlichen Abend. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 27. Mai 2009, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.