Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
begrüße Sie alle herzlich.
Wie meistens am Donnerstagvormittag gibt es einige
Mitteilungen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten.
Zunächst möchte ich den Kollegen Walter Kolbow,
Dr. Hermann Scheer und Dr. Gernot Erler zu ihren
65. Geburtstagen gratulieren, die sie vor einigen Tagen
begangen haben.
({0})
Es gibt auch zwei 60. Geburtstage, und zwar der Kollegen Dr. Hans Michelbach und Rüdiger Veit. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich den Jubilaren
nachträglich auch auf diesem Wege herzlich und wünsche alles Gute.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die in der weiteren Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Stärkung der Rechte von Verletzten und
Zeugen im Strafverfahren ({3})
- Drucksache 16/12812 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer
der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk
- Drucksache 16/12854 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus
- Drucksache 16/12855 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({7}), Ekin
Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Streichung des Optionszwangs aus dem Staatsangehörigkeitsrecht
- Drucksache 16/12849 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Frank Schäffler, Michael Kauch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Steuerprivilegien öffentlich-rechtlicher Unternehmen abschaffen - Fairen Wettbewerb auch
in der Abfallwirtschaft ermöglichen
- Drucksache 16/5728 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Detlef Parr, Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Datei „Gewalttäter Sport“ auf verfassungsmäßige Grundlage stellen
- Drucksache 16/11752 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Thilo Hoppe, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Milch-Exportsubventionen sofort stoppen Weitere Zerstörung der Märkte in Entwicklungsländern verhindern
- Drucksache 16/12308 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Max Stadler, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gemeinsames Internetzentrum auf gesetzliche
Grundlage stellen
- Drucksache 16/12471 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({12})
Rechtsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({13}), Gisela Piltz, Dr. Max
Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Europarechtskonformes und nachvollziehbares Nachzugsrecht schaffen - Metock-Urteil
des EuGH sofort gesetzlich verankern
- Drucksache 16/12732 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({14})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Marie-Luise Dött, Peter Bleser, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Mechthild Rawert,
Christoph Pries, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Delfinschutz voranbringen
- Drucksache 16/12868 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({16})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Grütters, Wolfgang Börnsen ({17}), Peter
Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU, der Abgeordneten Steffen Reiche
({18}), Monika Griefahn, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
sowie der Abgeordneten Hans-Joachim Otto
({19}), Christoph Waitz, Burkhardt Müller-
Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Schutz des Klosters Mor Gabriel sicherstellen
- Drucksache 16/12866 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Cornelia
Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Dauerhaften Schutz des Klosters Mor Gabriel
sicherstellen
- Drucksache 16/12848 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({20}), Ekin Deligöz, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz des Klosters Mor Gabriel sicherstellen
- Drucksache 16/12867 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({21}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und
zur Änderung der Verordnung ({22}) Nr. 2006/
2004 über die Zusammenarbeit zwischen den
für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden
({23})
({24})
KOM({25}) 817 endg.; Ratsdok. 16933/08
- Drucksachen 16/11721 Nr. A.10, 16/12897 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD:
Präsident Dr. Norbert Lammert
Gemeinsam gegen Gewalt - Ächtung der Ausschreitungen und schweren Gewaltstraftaten
am 1. Mai
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth,
Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erwerbsminderungsrente gerechter gestalten
- Drucksache 16/12865 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({26})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 38 f wird abgesetzt.
Sind Sie damit einverstanden? - Das sieht so aus.
Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen dann zu den Tagesordnungspunkten
15 a und 15 b:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung ({27})
- Drucksache 16/12852 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({28})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({29})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD
Steuerhinterziehung bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Dr. Hermann Otto Solms, CarlLudwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Steuervollzug effektiver machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Otto Solms, Dr. Volker Wissing, Frank
Schäffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Umstellung der Umsatzsteuer von der Sollauf die Istbesteuerung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert
Schui, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bundesverantwortung für den Steuervollzug
wahrnehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Dr. Gregor Gysi, Oskar
Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE
Steuermissbrauch wirksam bekämpfen Vorhandene Steuerquellen erschließen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Wolfgang Nešković, Ulla Lötzer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Steuerhinterziehung bekämpfen - Steueroasen austrocknen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Scheel, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Hintertür für Steuerhinterzieher
- Drucksachen 16/11389, 16/11734, 16/9836,
16/9479, 16/9166, 16/9168, 16/9421, 16/12826 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({30})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
({31})
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland brauchen keine
Steuern zu zahlen. Von den Bürgerinnen und Bürgern,
die Steuern zahlen müssen, sind viele sehr fair; denn sie
zahlen ihre Steuern korrekt. Es gibt aber einzelne Steuerbürger, die denken, sie brauchten sich nicht daran zu erinnern, dass sie, nachdem sie Gewinne gemacht und
hohe Einkommen erzielt haben, auch Steuern zu zahlen
haben. Diesem unfairen Verhalten und der daraus entstehenden Ungerechtigkeit wollen wir mit diesem Gesetz
zur Steuerhinterziehungsbekämpfung begegnen.
Wir glauben, dass es sehr gut ist, dass unser Staat
Doppelbesteuerungsabkommen zum Schutz der Bürger
trifft. Wenn jemand zum Beispiel in den USA ein Einkommen hat, soll er es dort versteuern. Wenn es dort versteuert wird, ist dieses Einkommen des Deutschen in
Deutschland steuerfrei gestellt. Oder: Wenn er in den
USA eine Steuer von zum Beispiel 10 Prozent zahlt, es
bei uns aber 30 Prozent wären, dann soll er hier
20 Prozent nachversteuern, sodass insgesamt immer die
Steuern gezahlt werden sollen, die auch derjenige zu
Lothar Binding ({0})
zahlen hat, der in dem Land wohnt, in dem derjenige, der
auch im Ausland Steuern zahlen muss, steuerpflichtig
ist.
Jetzt können sich vor dem Hintergrund dieser
100 Abkommen aber manche Länder so verhalten, dass
sie sich mit Menschen verbünden, die die Zahlung von
Steuern hintergehen, die Steuern hinterziehen wollen.
Nun kann man sagen: Das ist kein Problem. Man könnte
mit diesen Ländern ja einfach einen Informationsaustausch verabreden und damit die Steuerbürger zu einer
korrekten Steuerzahlung motivieren.
Jetzt stoßen wir auf das erste Problem, wenn manche
Länder sagen: „Lasst uns den Betrug bekämpfen! Betrug
ist schlecht“ und wir feststellen: Da betrügt jemand, weil
er Steuern hinterzieht. - Wenn man nun das andere Land
bittet, zu helfen, diesen Steuerbetrug zu bekämpfen,
dann wird in diesem Land gesagt: Da habt ihr Pech;
denn Steuerbetrug ist bei uns kein Betrug. Auch Steuerhinterziehung ist bei uns kein Betrug. Erst in Verbindung
mit einer Urkundenfälschung zum Beispiel wird es zu einem Betrug. - Der Steuerbürger zieht sich glücklich zurück und sagt: In diesem Land halte ich mich gerne auf,
weil dort etwas kein Betrug ist, was in Deutschland Betrug ist.
So etwas macht die Sache extrem kompliziert. Deshalb können wir Peer Steinbrück nur gratulieren, dass er
im Rahmen der G 20 und auch in Zusammenarbeit mit
der OECD Regeln gefunden hat, wie wir Steuerbetrüger
international in ihre Schranken weisen und sie motivieren, in ihren eigenen Ländern ihre Steuern fair zu zahlen.
({1})
Wir bezeichnen die von mir geschilderte Situation so,
dass Staaten ihren Auskunftspflichten nicht nachkommen und nicht mit unseren Steuerbehörden kooperieren.
Tatsächlich ist es aber so, dass es diese Staaten ganz bewusst darauf anlegen, deutsche Steuerbürger mit bestimmten Einkünften in ihr Land zu locken, um sie steuerfrei zu stellen. Damit lassen sie den anderen
Steuerbürgern aus Deutschland Unfairness angedeihen.
Das wollen wir natürlich nicht. Deshalb sind wir sehr
froh, dass uns die OECD jetzt intensiv unterstützt.
Gelegentlich wird Kritik an dem vorgelegten Gesetzentwurf geübt. Erst kürzlich hat ein Kollege von der
FDP gesagt, er sei überflüssig, weil die OECD-Liste inzwischen sehr kurz sei und die schwarze Liste gar keine
Staaten mehr enthalte. Wer aber genauer hinsieht, merkt,
dass auch andere Länder unserer Meinung sind. Nehmen
Sie Griechenland, Italien,
({2})
Kanada, Spanien, Polen und Portugal. All diese Länder
gehen einen ähnlichen Weg, weil sie das gleiche Problem haben und Steueroasen diesen Ländern einen großen Schaden zufügen. Wer diesen Schaden bekämpfen
will, muss sich überlegen, ob er anders kooperiert als
bisher. 17 OECD-Mitgliedstaaten verfolgen übrigens die
gleiche Idee wie wir.
Für jemanden, der mit den Einzelheiten nicht sehr
vertraut ist, möchte ich es an einem Beispiel klarmachen.
Wenn zum Beispiel eine GmbH in München Gewinnanteile von einer ausländischen Tochter in einer Steueroase
bekommt, dann ist es üblicherweise so, dass diese Gewinnanteile, also die Dividenden, in Deutschland steuerfrei gestellt sind. Jetzt kann man fragen: Wieso ist die
Dividende eigentlich steuerfrei gestellt? Das ist eine
Frechheit. Dividenden müssen doch besteuert werden. Das stimmt, aber erst dann, wenn die Dividenden in die
private Sphäre übernommen werden. Solange diese
Dividenden oder Gewinnanteile in der unternehmerischen Sphäre verbleiben - wir befürworten es ja, wenn
die Unternehmer investieren -, werden diese Gewinne
steuerfrei gestellt.
Das neue Gesetz funktioniert ganz einfach: Wenn ein
Steuerbürger mit den deutschen Steuerbehörden kooperiert und ihnen sagt, zu welchem Zweck er in einem anderen Land engagiert ist und wie seine Geschäftsbeziehungen mit diesem Land organisiert sind, bleibt die
Steuerfreiheit erhalten. Wenn der Steuerbürger aber
meint, er müsse das alles geheim halten und alles solle
unter der Decke bleiben - das wird ja von vielen als Kavaliersdelikt bezeichnet -, dann ist die Idee dieses Gesetzes, dass gesagt wird: Wenn das so ist, dann fällt die
Steuerfreiheit weg. Es wird also ein Vorteil genommen,
wenn man nicht kooperiert.
Das ist natürlich eine sehr gute Sache. Das ist ähnlich
der Situation, dass ein Dieb befürchten muss, dass er inhaftiert wird. Ein Mensch aber, der nicht stiehlt, braucht
diese Befürchtung nicht zu haben. Insofern ist es völlig
klar: Wer keinen Diebstahl begeht, hat nichts zu befürchten.
Im anderen Fall wollen wir allerdings nicht nur drohen, sondern auch ernst machen, allerdings nicht unmittelbar sofort und per Gesetz, sondern wir wollen die Regierung ermächtigen, im richtigen Zeitpunkt den
richtigen Erlass zu formulieren, um dieser Drohung bei
Bedarf Wirkung zu verschaffen. Das ist natürlich eine
sehr gute Sache,
({3})
weil wir damit niemanden unter Generalverdacht stellen.
Die Exekutive kann sehen, ob die Kooperation mit anderen Staaten funktioniert oder nicht, und die Steuerbehörden können unmittelbar sehen, wer kooperiert und wer
nicht. Bei Bedarf können sofort Maßnahmen in Kraft gesetzt werden, um die Steuerbürger ehrlich zu machen.
Ich glaube, ein Gesetzentwurf, mit dem den Menschen geholfen wird, sich ehrlich zu machen, ist ein sehr
guter Gesetzentwurf. Deshalb bin ich auch sehr optimistisch, dass wir einen großen Schritt auf dem Weg zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung weitergekommen
sind. Ich glaube, dass es schon lange an der Zeit war, das
zu tun. Manche Skandale, durch die den Bürgern die
Dringlichkeit verdeutlicht wurde, sind uns dabei sehr zupassgekommen.
Lothar Binding ({4})
Ich möchte jeden Steuerbürger, der seine Steuern ehrlich zahlt, beglückwünschen. Nun sind wir mit diesem
Gesetzentwurf dabei, auch alle anderen in diese Richtung zu bewegen.
Schönen Dank.
({5})
Dr. Hermann Otto Solms von der FDP-Fraktion ist
der nächste Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesregierung legt uns heute den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung vor. Wer wollte etwas dagegen haben? Natürlich
muss Steuerhinterziehung bekämpft werden.
({0})
- Einen Moment! Sie müssen auf den Inhalt achten.
Wenn man sich den Inhalt ansieht, muss man sagen:
Das ist kein Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung, sondern ein Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Steueroasen. Das genau ist der Inhalt. Steueroasen sind Länder, die sich nicht bereit erklären, den
Steuerstandards der OECD zu folgen. So ist es definiert.
Sie müssen dann in der Liste der OECD nachschauen,
welche Länder gemeint sind. Diese Liste aus dem Internet können Sie sich ausdrucken lassen. Sie stellen dann
fest, dass auf der sogenannten schwarzen Liste kein einziges Land steht. Alle Länder, die früher draufstanden,
haben offiziell erklärt und zugesagt, dass sie sich diesen
Standards unterwerfen und dass sie mitarbeiten und bei
der Verfolgung von Steuerhinterziehung kooperieren.
({1})
Sie haben also einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung
von etwas gemacht, was gar nicht vorhanden ist.
({2})
Ich habe gelernt, dass man Gesetzentwürfe dann vorlegen soll, wenn es notwendig ist. Wenn es nicht notwendig ist, soll man keine Gesetzentwürfe vorlegen, weil
man sie nicht braucht.
({3})
Im Übrigen: Im internationalen Umgang und im Umgang mit Nachbarstaaten, also mit befreundeten Staaten
wie Österreich, Luxemburg, der Schweiz, Liechtenstein
usw.,
({4})
ist es doch besser - das war immer unsere gemeinsame
Politik -, zu verhandeln, um zu Ergebnissen zu kommen,
statt mit Kraftmeierei zu drohen und Verbalradikalismus
an den Tag zu legen,
({5})
der dem Bundesfinanzminister leider zu eigen ist. Das
Bedauerliche an seiner Wortwahl ist, dass dahinter häufig ein völlig unklares Geschichtsbild steht.
Er hat zum Beispiel gesagt, die 7. Kavallerie in Fort
Yuma solle man ausreiten lassen. Die Indianer müssten
wissen, dass es sie gibt. - Mit den Indianern meinte er
offenkundig die Schweizer und mit der 7. Kavallerie die
deutschen Ermittlungsbehörden. Wenn Sie die Geschichte richtig in Erinnerung haben würden, dann wüssten Sie, dass die 7. Kavallerie unter General Custer am
Little Big Horn in eine Falle der Indianer gegangen und
vernichtet worden ist. Wollen Sie also, dass die Schweizer den deutschen Ermittlungsbehörden Fallen bauen,
um sie zu vernichten? Wollen Sie sie in das Unglück hineinreiten lassen?
Jetzt haben Sie einen anderen Vergleich gebracht,
nämlich den mit Burkina Faso. Sie haben gesagt, Luxemburg, Liechtenstein, die Schweiz, Österreich und
Ouagadougou stünden unter Verdacht. Nun sollten Sie
aufgrund Ihrer Geografiekenntnisse wissen, dass Ouagadougou kein Land, sondern die Hauptstadt von Burkina
Faso ist. Dieses Land steht überhaupt nicht auf der Liste
der OECD und auch nicht auf der grauen Liste. Wahrscheinlich haben Sie es mit Liberia verwechselt; denn
das steht auf der grauen Liste. Dieses Land liegt allerdings tausend Kilometer entfernt.
({6})
Es wäre gut, wenn Sie Ihre Bilder richtigstellen und
von diesen Verbalradikalismen Abstand nehmen würden. Es wäre besser, Sie würden mit befreundeten Ländern verhandeln, statt sie zu bedrohen.
({7})
Das gilt insbesondere gegenüber der Schweiz, die ihren
Demokratieprozess bereits 1291 begonnen hat, also gegenüber einem Land mit einer langen demokratischen
Tradition. Die Schweiz könnte auch heute noch Vorbild
für uns sein; denken Sie nur an die Instrumente der direkten Demokratie in der Schweiz. Wir haben den
Schweizern keine Vorschriften zu machen. Wir haben sie
nicht zu belehren, sondern im Zweifelsfall mit ihnen zu
verhandeln, um zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen.
({8})
Entscheidend ist aber nicht der Umgang - auch wenn
er eine unschöne Sache ist -, sondern die Frage nach den
Ursachen der Steuerhinterziehung und der Steuerflucht.
({9})
Warum entziehen sich deutsche Steuerbürger der deutschen Besteuerung?
({10}) [SPD]:
Weil sie charakterlos sind! - Weitere Zurufe
von der SPD)
Sie tun das, weil das deutsche Steuerrecht unsäglich
kompliziert, unüberschaubar und unverständlich ist.
({11})
Wenn Sie erreichen wollen, dass die deutschen Bürger
auf Schwarzarbeit und Steuerflucht verzichten, wenn
Sie wollen, dass sie darauf verzichten, Investitionen ins
Ausland zu verlagern, dann müssen Sie in Deutschland
ein Steuerrecht schaffen, das vom Bürger akzeptiert
wird; denn der Bürger ist der Souverän des Staates. Der
Staat hat den Bürger nicht zu bevormunden, sondern Gesetze zu erlassen, die der Bürger zu akzeptieren bereit
ist.
({12})
Deswegen ist eine große Steuerreform in diesem Land
überfällig.
({13})
Sie ist dringend notwendig. Dabei geht es nicht in erster
Linie um die Steuersätze, sondern darum, ein einfaches
und verständliches Steuerrecht zu schaffen, welches bewirkt, dass die Bürger auf einen fairen Steuerstaat vertrauen. Wenn Sie das geschaffen haben, werden Sie mit
die Steuerbekämpfung nur noch die geringste Mühe haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Eduard Oswald für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jedem muss klar sein: Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt.
({0})
Wer keine Steuern zahlt, beteiligt sich nicht an der Finanzierung der Gemeinschaft.
({1})
Ohne Steuern ist kein Staat zu machen. Das Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft wäre nicht zu
organisieren.
Steuerhinterziehung zu bekämpfen, ist auch ein Anliegen, wenn es darum geht, Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen. Mit den Mehreinnahmen können die
Steuersätze für ehrliche Steuerbürger gesenkt werden.
({2})
Davon würde der ehrliche Steuerbürger also profitieren.
Steuerhinterziehung führt zu Wettbewerbsverzerrungen.
Unternehmen, die ihre Einnahmen nicht ordnungsgemäß
versteuern, haben einen Wettbewerbsvorteil, und Staaten, die Steuerhinterziehung ermöglichen, haben einen
Standortvorteil. Diese ungerechtfertigten Vorteile sollen
durch die Bekämpfung der Steuerhinterziehung beseitigt
werden.
({3})
Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ist bereit, Steuern zu zahlen. Sie wollen - und das zu Recht -,
dass der Staat mit den Einnahmen verantwortungsbewusst umgeht und dass die Steuermittel sinnvoll für die
Gemeinschaft eingesetzt werden. Darum muss das Steuerrecht so gestaltet sein, dass es von den Menschen als
gerecht empfunden wird.
Wir dürfen nicht zulassen - auch das muss klar sein -,
dass Bürgerinnen und Bürger mit einem höheren Einkommen automatisch im Verdacht stehen, Steuern hinterziehen zu wollen. Wir gehen vom ehrlichen Bürger
und vom ehrlichen Steuerzahler aus.
({4})
Wir werden es auch keinesfalls zulassen, dass ein Unternehmer, der mit dem Ausland Geschäfte macht, schon
allein deswegen der Steuerhinterziehung verdächtigt
wird. Wer eine Antipathie gegen die sogenannten Reichen entwickelt und suggeriert, sie würden Steuern hinterziehen, spaltet unsere Gesellschaft. Das wäre verhängnisvoll.
({5})
Christlich-demokratische und christlich-soziale Politik ist, sich für ein Steuersystem einzusetzen, das einfach, gerecht und, wenn es die Finanzlage zulässt, mit
möglichst niedrigen Sätzen gestaltet ist. Trotzdem ist
klar: Ohne Steuereinnahmen kann kein Staat, kein Gemeinwesen existieren; ohne Steuern kann eine ausreichende Daseinsfürsorge für all unsere Bürgerinnen und
Bürger nicht zur Verfügung gestellt werden. Es ist aber
auch immer Aufgabe von uns, den politisch Handelnden,
deutlich zu machen, wofür die Steuereinnahmen in
Kommunen, Ländern und Bund - wiederum im Interesse
der Gemeinschaft - verwendet werden.
Wir stehen inmitten einer sehr schweren und dramatischen weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise. Alle Beteiligten betonen immer wieder, wie wichtig es ist, aus
Fehlern zu lernen, die die aktuelle Finanzkrise verursacht haben. Daher hat die Schaffung einer neuen Finanzmarktarchitektur Priorität. Es ist eine Chance in
der Krise, dass die Welt hier zusammensteht. Eine bessere
Regulierung und Überwachung der Finanzmärkte, -produkte und -akteure ist dringend erforderlich, um die
Wiederholung einer solchen Krise zu verhindern. Niemand darf sagen: Nach der Krise gehen wir wieder zur
Tagesordnung über und machen es wie vorher.
({6})
Zu diesem Thema gehört auch die gemeinsame - ich
betone: gemeinsame - strenge Ahndung von Steuerflüchtlingen und Staaten, die möglicherweise die Steuerhinterziehung begünstigen. Im Umgang mit unseren befreundeten Ländern empfehle ich aber allen, sprachlich
abzurüsten.
({7})
Auch die Lebenserfahrung wohl von uns allen zeigt
nicht nur, dass man sich immer zweimal begegnet,
({8})
sondern auch, dass es besser ist, mehr miteinander zu reden als übereinander.
({9})
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Steuerhinterziehung soll die Hinterziehung von Steuern
durch Nutzung von Staaten und Gebieten erschwert werden, die die Standards der OECD möglicherweise nicht
akzeptieren. Zugleich wollen wir die Akzeptanz der
OECD-Standards im Bereich des Steuervollzugs fördern. Damit werden die Möglichkeiten eines zeitnahen
und flexibleren Handelns im Rahmen eines international
abgestimmten Vorgehens verbessert. Wir beschäftigen
uns heute mit diesem Gesetzentwurf in erster Lesung.
Diese Maßnahmen stehen nunmehr umfassend - Kollege Lothar Binding hat dies gesagt - unter dem Vorbehalt einer später noch zu verabschiedenden Rechtsverordnung. Der Bundesregierung ist es hierdurch
möglich, vor Erlass der Rechtsverordnung zu prüfen, in
welchem Zeitraum und Umfang die Staaten ihre Ankündigungen umsetzen, den OECD-Standard beim Informationsaustausch einzuführen. Die mit diesem Gesetz angedrohten Maßnahmen werden dazu führen, dass die
Staaten ihre Ankündigungen nun auch in die Tat umsetzen. Einerseits wird also der internationale Druck aufrechterhalten; andererseits kann den Staaten, die sich
erst kürzlich bereit erklärt haben, den OECD-Standard
einzuführen, die Zeit eingeräumt werden, diesen einzuführen. Ebenso bleibt es möglich, die angedrohten Maßnahmen dann und so anzuwenden, wie es möglicherweise international noch konkreter abgesprochen wird.
Für meine Fraktion sage ich aber: Es muss gewährleistet sein, dass die Bundesregierung mit Zustimmung
des Bundesrates von den Verordnungsermächtigungen
nur Gebrauch macht, wenn die Anwendung der mit dem
Gesetz angedrohten Maßnahmen das letzte noch erfolgversprechende Mittel ist.
({10})
Zuvor müssen alle, insbesondere auch internationale und
bilaterale Möglichkeiten ausgeschöpft worden sein, um
die Staaten dazu zu bewegen, einen hinreichenden Informationsaustausch zu gewährleisten. Also: miteinander
reden, nicht übereinander!
({11})
Sanktionsmaßnahmen können nur dann vorgenommen werden, wenn der Steuerpflichtige seinen erhöhten
Mitwirkungs- und Nachweispflichten nicht nachgekommen ist. Diese treffen den Steuerpflichtigen bei der Ermittlung von steuerlich relevanten Sachverhalten des
Steuerpflichtigen im Zusammenhang mit Geschäftsbeziehungen zu Staaten und Gebieten, mit denen kein Auskunftsaustausch durchgeführt werden kann, der dem
OECD-Standard entspricht. Es wird also nicht das Unterhalten von Geschäftsbeziehungen in unkooperativen
Staaten und Gebieten sanktioniert, sondern das unkooperative Verhalten der Steuerpflichtigen. Dies ist übrigens
auch europarechtlich gut vertretbar.
Wir haben heute Punkte in einem Bereich zu verabschieden, in dem wir bereits Maßnahmen auf den Weg
gebracht haben, um Verbesserungen bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung zu erreichen. So wurden
die Möglichkeiten einer Telefonüberwachung beim bandenmäßigen Umsatzsteuerbetrug eingeführt und bei der
Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen - gerade auch im Bandenbereich - die Frist für die strafrechtliche Verjährung auf zehn Jahre verdoppelt. Mit
diesen Maßnahmen geben wir den Bürgerinnen und Bürgern das Signal: Niemand darf sich der gesellschaftlichen Pflicht, sich am Gemeinwesen zu beteiligen, entziehen.
Globale Finanzströme haben das Thema Steuer und
Steuerhinterziehung zu einem globalen Problem gemacht. Unsere Maßnahmen signalisieren auch: Der Ehrliche darf nicht der Dumme sein.
({12})
Der ehrliche Steuerzahler darf nicht geschädigt werden.
Wir werden im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens über den heute vorliegenden Gesetzentwurf ausführlich in einer öffentlichen Anhörung mit den Sachverständigen diskutieren. Einzelne Regelungen müssen
ohne Zweifel überprüft und auf ihre Angemessenheit hin
abgeklopft werden.
Das Ziel der Union ist, erstens das Steuerrecht einfach
und gerecht zu gestalten, zweitens die Steuerbelastungen, wo immer dies möglich ist, abzusenken, um den
Steuerwiderstand zu vermeiden und Steuerbetrug zu verhindern, und drittens es zu einer Daueraufgabe zu machen, den Steuervollzug so zu gestalten, dass ihn die
Bürgerinnen und Bürger nachvollziehen können. Das ist,
glaube ich, eine Daueraufgabe, der sich alle in diesem
Parlament stellen sollten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf sieht bescheidende Verbesserungen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung vor. Dies
ist zu begrüßen.
({0})
Die Verbesserungen sind zwar nur sehr bescheiden;
gleichwohl sind sie zu unterstützen. Dass die Verbesserungen so bescheiden ausfallen, ist ein Ergebnis der
koalitionsinternen Auseinandersetzungen. Die Presse
schreibt, dass hier eine abgespeckte Form vorgelegt worden ist. Dies ist sicherlich keine unsachgemäße Beurteilung.
Im Übrigen ist hinzuzufügen, dass wir es nicht für gut
halten, dass hier im Grunde genommen nur eine Rechtsverordnung der Regierung erlaubt wird. Wir sind der
Auffassung, dass der ständige Drang, das Parlament
nicht an wichtigen Entscheidungen zu beteiligen, auch
an dieser Stelle falsch ist. Es wäre besser gewesen, das
Parlament direkt zu beteiligen.
({1})
Für uns ist das Thema Steuerhinterziehung ein Unterthema des allgemeinen Themas Steuergerechtigkeit.
Wer Steuerhinterziehung glaubwürdig und glaubhaft bekämpfen will, muss glaubwürdig und glaubhaft sein,
wenn es darum geht, Steuergerechtigkeit in diesem
Lande herzustellen.
({2})
Wenn man die Bilanz der Großen Koalition an dieser
Stelle betrachtet, dann sieht man, dass die Mehrwertsteuererhöhung rund 25 Milliarden Euro ausmacht, dass
die Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung rund 25 Milliarden Euro ausmacht - davon entfällt
die Hälfte auf die Unternehmerseite - und dass eine Unternehmensteuerreform durchgeführt worden ist; unterschiedliche Schätzungen beziffern hier Entlastungen
zwischen 8 und 10 Milliarden Euro. Das ist keine Steuergerechtigkeit, sondern eine Umverteilung von unten
nach oben. Daran hat sich überhaupt nichts geändert.
Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache.
({3})
Es geht aber nicht nur um diese Steuerpolitik, sondern
auch um die Behandlung einzelner Themen. Ich habe
vorhin Herrn Solms genau zugehört, als er gefragt hat,
wer etwas gegen die Bekämpfung der Steuerhinterziehung haben wollte. Es ist klar: Wenn wir einen Antrag
gegen Steuerhinterziehung einbringen, werden alle zustimmen. Die entscheidende Frage ist aber, wie glaubwürdig das verbale Bekenntnis ist und ob entsprechend
gehandelt wird.
({4})
In der Diskussion über das Bankgeheimnis wird sofort klar, dass zumindest Teile dieses Hauses überhaupt
nicht bereit sind, Steuerhinterziehung zu bekämpfen.
({5})
Der Normalbürger versteht unter Bankgeheimnis, dass
der Nachbar nicht einfach nachschauen kann, was man
auf dem Konto hat, um dies in der ganzen Nachbarschaft
herumzuerzählen oder sonst etwas mit dieser Information zu tun. Dem Normalbürger kommt aber nicht in den
Sinn, dass das Bankgeheimnis bedeutet, dass man es Finanzbeamten verbietet, im Zuge ihrer Pflichten Steuerehrlichkeit zu überprüfen, und dass man ihnen keine Informationen über das Bankkonto gibt. Für uns sind
Leute, die unter Bankgeheimnis verstehen, dass das Finanzamt keine Kontrollmöglichkeit hat, Hehler der Steuerhinterziehung.
({6})
An der Situation hat sich noch nichts geändert, um das
einmal in aller Klarheit zu sagen.
Insofern möchte ich sagen: Wenn der Finanzminister
beispielsweise verbale Attacken gegen die Länder reitet,
die Hehler der Steuerhinterziehung sind, dann hat er unsere Unterstützung. Wir würden uns nur wünschen, dass
die kräftigen Worte auch von kräftigem Handeln begleitet werden. Dann würden wir Ihnen noch viel mehr zustimmen, Herr Bundesfinanzminister.
({7})
Was die Steuerpolitik betrifft, fand allerdings nicht
nur eine leidige Diskussion über das Bankgeheimnis
statt. Bis vor einiger Zeit gab es sogar noch eine Amnestie für Steuersünder. Wer vor einiger Zeit eine Amnestie
für Steuersünder befürwortet hat, der ist wenig glaubhaft, wenn er ihnen jetzt auf einmal mit Strafe droht. Wir
begrüßen diesen Gesinnungswandel. Daran, dass es
überhaupt einmal eine Amnestie für Steuersünder gab,
die natürlich weit weniger gebracht hat, als damals erwartet worden ist, wird aber deutlich, dass hier einiges in
Schieflage geraten ist. Aufgrund einer jahrzehntelang
verfehlten Politik ist das Empfinden für SteuergerechtigOskar Lafontaine
keit insbesondere bei denjenigen, die dieses Empfinden
eigentlich haben müssten, verloren gegangen.
({8})
Wenn wir Steuerhinterziehung und Steueroasen bekämpfen wollen, dann dürfen wir beim Steuerdumping
in Europa nicht Vorreiter sein. Davon, dass dies der Fall
ist, ist aber nie die Rede. Zugespitzt formuliert könnte
man sagen: Bei der Vermögensteuer und der Körperschaftsteuer ist Deutschland in Europa eine Art Steueroase. Hinzu kommt, dass wir die anderen europäischen
Länder praktisch zwingen, diesen Weg auch zu gehen
und die Vermögenden immer weniger zu besteuern. Das
ist ein Widerspruch: Wer die Steuerhinterziehung von
Personen mit hohem Einkommen bzw. großem Vermögen bekämpfen will, der darf bei der Vermögensteuer
nicht an der Spitze der Steuerdumper in Europa stehen.
({9})
Meine Damen und Herren, nun nenne ich Ihnen die
neuesten Zahlen, die jedermann zugänglich sind. Der
Anteil der Einnahmen aus der Vermögensteuer am Bruttosozialprodukt beträgt in Deutschland 0,9 Prozent, in
Großbritannien 4,6 Prozent. Wenn man diese Differenz
auf das deutsche Bruttosozialprodukt umrechnet, stellt
man fest: Allein aufgrund der laxen Vermögensbesteuerung entgehen dem deutschen Staat, wie die internationale Statistik zeigt, über 90 Milliarden Euro pro Jahr.
({10})
Auch das muss in dieser Debatte, die immer völlig losgelöst von Zahlen und Fakten geführt wird, einmal erwähnt werden.
Jetzt komme ich auf die Körperschaftsteuer zu sprechen; denn auch dieses Thema ist von Bedeutung. In der
Tabelle, in der die Körperschaftsteuersätze ausgewiesen
sind, steht Deutschland fast ganz unten. Etwas geringere
Körperschaftsteuersätze gibt es nur in der Schweiz, in
Bulgarien, Zypern und Irland. In allen anderen Staaten
wird eine viel höhere Körperschaftsteuer als in Deutschland erhoben. Auf diesem Gebiet haben Sie Steuerdumping betrieben. Solange Sie hier nach wie vor an vorderster Front stehen, sind Sie unglaubwürdig, wenn Sie
vom Austrocknen der Steueroasen sprechen.
({11})
Abgesehen von der Politik, die man im Inland betreibt, gibt es zwei verschiedene Vorgehensweisen, um
Steueroasen trockenzulegen. Die erste Methode besteht
darin, auf internationaler Ebene entsprechende Bemühungen anzustoßen. Herr Solms hat recht, dass der Hinweis auf die OECD-Liste natürlich lächerlich ist, weil
mittlerweile alle entsprechenden Länder von dieser Liste
verschwunden sind. Wer also unter Verweis auf diese
Liste einen Gesetzentwurf einbringt, der macht sich zumindest etwas unglaubwürdig.
({12})
Denn es ist wahr, dass alle Länder, um die es geht, inzwischen von dieser Liste verschwunden sind.
Mit Blick auf diejenigen in der SPD-Fraktion, die
noch zweifeln, möchte ich auf einen Aufsatz des ehemaligen Bundesfinanzministers Eichel, der heute erschienen ist, aufmerksam machen. Herr Eichel stellt darin zu
Recht fest: Wer glaubt, dass durch die wenigen verbalen
Bekundungen, die abgegeben worden sind, schon irgendetwas gewonnen sei, der irrt gewaltig. Die Methode,
nach der derzeit vorgegangen wird, lautet: Man erklärt
freundlich, man wolle sich bemühen. In Wirklichkeit
passiert aber so gut wie gar nichts. - Der ehemalige Bundesfinanzminister hat recht.
Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommt zu
dem Ergebnis, dass sich zwar gewisse Anfangserfolge
einzustellen scheinen; ob sie dauerhaft sein werden,
bleibe aber völlig offen. Außerdem schreibt die FAZ,
dass die Bundestagswahl wohl der Hauptgrund für den
von Steinbrück veranstalteten Lärm ist.
({13})
Ich möchte es etwas anders formulieren: Lassen Sie Ihren kräftigen Worten Taten folgen, Herr Bundesfinanzminister. Dann haben Sie die Linke auf Ihrer Seite. An
Ihren Taten mangelt es leider.
({14})
Das wird auch deutlich, wenn man sich ansieht, wie
Sie Steueroasen bekämpfen wollen. Natürlich kann man
mit viel Temperament und vollmundig vortragen, dass
man mit der Insel Jersey ein Abkommen getroffen hat.
Wenn man dabei aber unterschlägt, dass dieses Abkommen überhaupt nichts wert ist, weil die Informationen,
die erforderlich sind, überhaupt nicht vorliegen, da es
keine Bücher und keine Unterlagen gibt, dann täuscht
man die Öffentlichkeit.
({15})
Wer bei der Bekämpfung der Steueroasen auf diese Art
und Weise vorgeht, der ist nicht besonders glaubwürdig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt noch
eine andere Methode, wie man gegen Steueroasen vorgehen kann - wir haben immer wieder gefordert, diesen
Weg einzuschlagen -: Man muss sicherstellen, dass im
Inland, also hier in Deutschland, keine kriminellen Geschäfte, wie Herr Eichel sie in seinem Aufsatz bezeichnet, getätigt werden können. Wäre der Bundesfinanzminister auf diesem Gebiet genauso tapfer und mutig, wie
er es in verbaler Hinsicht gegenüber der Schweiz und gegenüber Luxemburg ist, dann würden wir ihn erst recht
unterstützen. Hier fehlt es ihm aber an jeglichem Elan.
({16})
Einen einfachen Weg, wie man hier vorgehen kann, hat
der ehemalige Bundeskanzler Schmidt vorgezeichnet. Er
hat - wir haben das als Antrag eingebracht - schlicht und
einfach gesagt: Wenn jemand krumme Geschäfte, krimi23978
nelle Geschäfte - ich zitiere den ehemaligen Bundesfinanzminister Eichel - in großem Umfang macht, dann
ist das strafzubewehren. Das ist der sicherste und verlässlichste Weg. Wer kriminelle Geschäfte mit Steueroasen
macht, muss bestraft werden.
({17})
Sie lehnen das ab und deuten hier nur bescheidene
Sanktionen an, zum Beispiel eine verschärfte Nachweispflicht. Mit der Nachweispflicht sind ja in den vergangenen Jahrzehnten Erfahrungen gesammelt worden. Jetzt
heißt es - ich formuliere das einmal so, dass es einigermaßen verständlich ist -: Wenn ihr der Nachweispflicht
nicht nachkommt, könnt ihr bestimmte Dinge nicht mehr
absetzen. Im Grundsatz ist das - ich wiederhole es durchaus zu begrüßen; aber ob das der entscheidende
Schlag gegen diese Praktiken ist, daran haben wir ernsthafte Zweifel.
Im Übrigen komme ich nicht daran vorbei, darauf hinzuweisen, dass, wer solche krummen Geschäfte ernsthaft
untersagen will, auch bei den Hedgefonds glaubwürdig
handeln sowie Zweckgesellschaften, mit denen Geschäfte außerhalb der Bilanz getätigt werden, und den
Handel mit Giftpapieren verbieten müsste. Was nützen
große Ankündigungen, dass man Steueroasen bekämpfen
wolle, wenn beispielsweise die mit 18 Milliarden Euro
gesponserte Commerzbank weiterhin mit Giftpapieren
handeln, Geschäfte außerhalb der Bilanz tätigen und
krumme Geschäfte mit Hedgefonds und anderem unterstützen kann?
({18})
Entscheidend ist letztendlich, dass die Bestimmungen
auch auf der internationalen Ebene eher in die andere
Richtung gehen. Ich habe schon bei der Diskussion über
den Europavertrag, den sogenannten Lissabon-Vertrag, mehrfach darauf hingewiesen, dass nach diesem
Vertrag Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit Staaten der Europäischen Gemeinschaft, aber auch mit Drittstaaten untersagt sind. Das ist doch völlig unzeitgemäß.
Wie passt diese Passage zu dem Vorhaben, Steueroasen
auszutrocknen?
({19})
Wenn man Steueroasen austrocknen will, indem man
Geschäfte mit Steueroasen verbietet, darf man nicht einem Vertrag zustimmen, der Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit Drittstaaten ausschließt. Das alles ist völlig widersprüchlich; doch dazu hören wir kein einziges
Wort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich fasse zusammen: Steuerhinterziehung zu bekämpfen, ist sicherlich eine ehrenvolle Absicht. Aber Glaubwürdigkeit vermittelt sich nicht über Worte, sondern ausschließlich
über Taten. Man muss die Praxis sehen, wie wo was in
diesem Lande sanktioniert wird. Eine Gegenüberstellung
des Falls Zumwinkel und des Falls Emmely zeigt die
wirkliche Situation in unserer Gesellschaft: Auf der einen Seite ist ein Steuerhinterzieher, der mit 20 Millionen
Euro Abfindung, wenn man so will, auch noch prämiert
wird.
({20})
- Sie mögen das so sehen, Herr Poß. - Auf der anderen
Seite ist eine Frau, die angeblich 1,30 Euro unterschlagen hat, entlassen worden. Das ist eine Ungerechtigkeit.
Wir sehen das so, und die große Mehrheit der Bevölkerung sieht das ganz genauso.
({21})
Das ist die Lage in unserem Lande: Der Steuerhinterzieher lebt in Schlössern, während einer Frau, die angeblich
1,30 Euro unterschlagen hat, die Existenz vernichtet
wird.
Hier stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit. Nur
wenn Gerechtigkeit in unserem Lande wieder Grundlage
des Handelns wird, kann man Steuerhinterziehung
glaubwürdig bekämpfen.
({22})
Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Solms, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Wenn
man die Konsequenz aus Ihrer Rede zieht, dann heißt
das: Die Ursache der Steuerhinterziehung ist, dass Steuern erhoben werden. Mit dieser Logik, lieber Herr
Solms, haben Sie sich außerhalb der Seriosität katapultiert. Das wäre eher eine Bewerbungsrede als Honorarkonsul in Hessen für das Fürstentum Liechtenstein.
({0})
Lieber, Herr Binding, auch Ihnen habe ich aufmerksam zugehört. Sie haben gesagt, dass gegen Steuerhinterziehung etwas geschehen soll. Wir kennen diese Ankündigung schon aus der Debatte um den G-20-Gipfel
Anfang April. Wir haben allerdings festzustellen, dass
sich an der Praxis in Guernsey oder auf den Cayman-Inseln bis heute nichts geändert hat. Das ist das Problem,
wenn man den Versuch macht, mit Gordon Brown Steueroasen trockenzulegen: Das ist ungefähr so erfolgversprechend, als versuchte man, mit Silvio Berlusconi die
Mafia zu bekämpfen.
({1})
- Außer Herrn Westerwelle mit seinen großen internationalen Kenntnissen hat das hier jeder verstanden.
({2})
Wenn Sie jetzt etwas für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung tun wollen, dann frage ich Sie, Herr Finanzminister, warum es so lange gedauert hat, bis dieser
Gesetzentwurf den Weg in den Bundestag gefunden
hat. Ich habe einige Regierungserfahrung; aber ich habe
es noch nie erlebt, dass ein Gesetzentwurf so oft auf der
Tagesordnung stand und wieder abgesetzt worden ist wie
dieser. Wie erklären Sie sich das? Wie erklären Sie es
sich, dass Herr Kauder an vorderster Stelle für die CDU/
CSU darangegangen ist, etwas, das angeblich in diesem
Hause Common Sense ist - nämlich die Bekämpfung der
Steuerhinterziehung -, mit Unterstützung der Kanzlerin
mehrfach bzw. regelmäßig von der Tagesordnung des
Kabinetts abzusetzen?
({3})
Dabei sagen Sie, Herr Oswald, dass Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt ist. Wenn es ein ernstes Problem ist, dann dürfen Sie es nicht in dieser Form des
Vertagens, Verzögerns und Verwässerns behandeln, wie
Sie es praktiziert haben.
({4})
Ich verstehe, dass dem Finanzminister angesichts der
Langsamkeit irgendwann der Geduldsfaden gerissen ist.
Anders kann ich mir die verbalen Entgleisungen an
dieser Stelle nicht erklären. Dazu zählen Vergleiche wie
der mit einem Land, das übrigens nicht auf der grauen
Liste steht, oder der Vergleich mit der Kavallerie, mit der
man die Schweizer wie einst die Indianer erschrecken
wollte. Das ist übrigens eine Beleidigung - nicht für die
Schweizer Banken, sondern für die Indianer.
({5})
Die Indianer haben immer versucht, im Einklang mit den
natürlichen Ressourcen zu leben. Mir ist kein Indianer bekannt, der dadurch richtig groß Geld gemacht hat, dass er
allein bei den Schweizer Banken Vermögen aus der Bundesrepublik Deutschland im Wert von ungefähr 120 Milliarden Euro dem Fiskus entzogen hätte. Beides auf eine
Stufe zu stellen, war in der Tat beleidigend für die Indianer, aber nicht für die Schweizer Banken, Herr Steinbrück.
({6})
Denn deren Geschäftsmodell ist in der Tat Hehlerei mit
Schwarzgeld. Diese Praxis muss beendet werden.
Deswegen ist es, denke ich, richtig, dass wir einen
solchen Gesetzentwurf diskutieren. Dabei stellt sich aber
die Frage, ob dieser Gesetzentwurf geeignet ist, der Praxis der legalen Steuerkürzungen der Müllermilchs und
Boris Beckers in der Schweiz und der illegalen Steuerhinterziehung der Zumwinkels und anderer wirklich einen Riegel vorzuschieben. Daran habe ich Zweifel. Ich
habe Zweifel an einer Gesetzeskonstruktion, die vorsieht, dass Steuervergünstigungen nur dann in Anspruch
genommen werden können, wenn kooperiert wird. Das
ist übrigens nichts Skandalöses. Das erwarten wir von
jedem normalen Lohnsteuerpflichtigen.
({7})
Ich verstehe die Aufregung an dieser Stelle nicht.
({8})
Man kann doch nicht auf der einen Seite zu Recht mit
erhobenem Zeigefinger anmahnen, dass Menschen, die
Unterstützung vom Staat bekommen - etwa Arbeitslosengeld II -, wahrheitsgemäß über ihre Vermögensverhältnisse Auskunft geben müssen, aber auf der anderen
Seite bei solchen Fällen für Intransparenz plädieren. Das
ist in der Tat extrem ungerecht und verletzt das Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen.
({9})
Wird dieser Gesetzentwurf jemals in die Praxis umgesetzt werden? Sie haben die Anwendung des Gesetzes
für jeden Einzelfall explizit daran gebunden, dass es eine
Rechtsverordnung gibt. Diese Rechtsverordnung muss
mit Zustimmung des Bundesrates verabschiedet werden.
Das ist eine interessante Konstruktion, wenn man bedenkt, wie einzelne Bundesländer mit der Steuerkontrolle und Steuereintreibung gerade in diesem Bereich
umgehen.
Wir wissen heute, dass in bestimmten Bundesländern,
insbesondere südlich der Mainlinie - also dort, wo Herr
Seehofer die Verantwortung trägt -, insbesondere bei
Einkommensmillionären außerordentlich zurückhaltend
mit der Prüfung von Einkommen vorgegangen wird. Wir
wissen, dass in diesem Bereich - weil man diesen Personenkreis am Starnberger See halten möchte - schlicht
und ergreifend lasch kontrolliert wird. Das ist einer der
Gründe, warum wir sagen: Wir hätten schon längst eine
wirkliche Bundessteuerverwaltung schaffen müssen, um
aus diesem Mechanismus herauszukommen.
({10})
Lieber Herr Steinbrück und liebe Christdemokraten,
das hieße, mit einer Politik gegen Steuerhinterziehung
Ernst zu machen und Steueroasen im eigenen Land aufzuheben. Wir könnten das übrigens auch ohne Bundessteuerverwaltung schaffen. Wir müssten den Ländern
dann zugestehen, dass ihnen die Ergebnisse der Steuerfahndungen uneingeschränkt zur Verfügung stehen.
Lassen Sie uns hier doch einen föderalen Wettbewerb
machen und tatsächlich dafür sorgen, dass diejenigen,
die über große Vermögen und Einkommen verfügen und
nicht der Quellenbesteuerung unterliegen wie jede normale Arbeitnehmerin und jeder normale Arbeitnehmer
und jeder Beamter in diesem Land, vom Fiskus anständig kontrolliert werden!
Letzte Bemerkung.
({11})
Lieber Herr Steinbrück, Sie haben gesagt, Sie wollten
das sehr ernst nehmen und dagegen vorgehen. Ich habe
aber gelegentlich den Eindruck: Manchmal spielen Sie
auch selber gerne Indianer und sind nicht die Kavallerie.
Es gibt inzwischen eine Reihe von Banken in diesem
Land, die mit massiven Bürgschaften von Steuergeldern
daran gehindert werden, in die Insolvenz oder in Konkurs zu gehen. Es gibt inzwischen auch Banken, die teilverstaatlicht sind, darunter zum Beispiel die Commerzbank. Sie gehört uns zu 25 Prozent plus einer Aktie. Es
ist interessant, zu sehen, was die Commerzbank zusammen mit ihrer leidenden Tochter Dresdner Bank macht.
Diese Bank findet es nach wie vor hoch attraktiv, mit
Standorten und Tochterunternehmen in der Schweiz, in
Luxemburg, auf den Kanalinseln und den Cayman-Inseln aktiv zu sein. Das alles sind Orte, die auf der grauen
Liste der OECD stehen. Lieber Herr Steinbrück, wo ist
denn da Ihre Kavallerie? Habe ich die an dieser Stelle
schon einmal gesehen?
({12})
Ist schon einmal ein Beamter des Bundesfinanzministeriums an dieser Stelle aktiv geworden? Die Commerzbank gehört Ihnen doch quasi. Stattdessen wird in den
Prospekten dieser Bank mit „attractive tax laws“ um vermögende Privatkunden geworben. Es wird beteuert: „All
bank employees in the Principality of Monaco are required to observe strict banking secrecy.“ In einer teilweise bundeseigenen Bank werden solche Produkte angeboten. Lieber Herr Steinbrück, Sie sind bei der
Commerzbank gegen unsere Empfehlung nur stiller Gesellschafter. Das heißt aber für mich, zurzeit sind Sie
trotz aller Lautstärke, die Sie in der Politik an den Tag
legen, stiller Gesellschafter an Geschäftsmodellen, die
deutschen Steuerzahlern Milliarden erlassen. Das, lieber
Herr Steinbrück, macht Ihren Kampf gegen Steueroasen
unglaubwürdig.
({13})
Ich empfehle Ihnen eines: leiser sprechen, strikter und
konsequenter handeln. Dann müssen Sie sich nicht dem
Vorwurf aussetzen, zu langsam, zu laut und zu lax zu
sein, und das alles zugleich.
({14})
Das Wort erhält nun der Bundesfinanzminister Peer
Steinbrück.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zuerst möchte ich mich bei Herrn Solms bedanken,
dass er weite Teile seiner Redezeit dazu genutzt hat, sich
mit mir zu befassen. Ich habe mich ein bisschen darüber
gewundert, wie wenig er sich mit dem eigentlichen Phänomen oder Problem der Steuerhinterziehung bzw. des
Steuerbetruges befasst hat. Aber ich danke ihm herzlich;
denn er hat sich zum ersten Mal positiv mit den Roten
befasst. Allerdings hat er dabei die Indianer gemeint.
Genauso freue ich mich, dass dieses Bild die Beiträge
meiner Vorredner durchgängig begleitet hat. Insofern ist
das ein Bild, mit dem sich viele befassen. Ich gebe gerne
zu: Das Steuerhinterziehungsphänomen war bei den Indianern nicht sehr verbreitet. Daher habe ich damit nicht
die schlechteste Gruppe ausgewählt.
Was den Hinweis von Herrn Solms betrifft, dass Steuerhinterziehung und Steuerbetrug in Deutschland betrieben würden, weil die Steuergesetzgebung hier zu scharf
und zu komplex sei, so ist dies, wie ich finde, eine Verharmlosung des Phänomens.
({0})
Das erklärt auch nicht, warum Deutschland von anderen
Ländern maßgeblich unterstützt wird, in denen nach Ihrer Wahrnehmung das Steuergesetzgebungssystem offenbar sehr viel weniger komplex und einfacher ist.
Ich weise auf die Unterstützung hin, die wir innerhalb
der OECD von Ländern wie den USA bekommen. Ähnliches gilt auch für Frankreich: gleiche Phänomene und
gleiche Erscheinungsformen. Offenbar ist weltweit die
Besteuerung so hoch, dass deshalb Steuerhinterziehung
und Steuerbetrug betrieben werden. Ich glaube, dass
man dieses Phänomen nicht damit entschuldigen oder
verharmlosen kann, indem man auf die Steuergesetzgebung in Deutschland verweist. Im Übrigen bewegt sich
die Steuerquote in Deutschland im Durchschnitt der
OECD- und der 27 EU-Länder.
Wenn Sie darauf hinweisen, dass die Bundesregierung hier tatenlos sei, dann verstehe ich nicht die Aufregung und die Reaktion im Ausland auf unsere Aktivitäten.
({1})
Es ist maßgeblich diese Bundesregierung gewesen, die
innerhalb der OECD, der G 7 und der G 20 tätig geworden ist. Es ist maßgeblich dieser Bundesregierung und
ihren Aktivitäten zu verdanken, dass sich inzwischen
eine ganze Reihe von Steueroasen, Jurisdiktionen und
auch Nationalstaaten mit uns in Verbindung setzen, die
den Art. 26 des OECD-Musterabkommens anerkennen
wollen. Insofern lasse ich mir nicht vorwerfen, dass hier
Tatenlosigkeit oder Laxheit vorherrscht, wie auch immer
Herr Trittin das genannt hat. Wir sind in den letzten Monaten mit Blick auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug vielmehr deutlich vorangekommen; das freut mich.
Ich nenne es beim Namen: Steuerhinterziehung und
erst recht Steuerbetrug sind schlicht und einfach kriminell.
({2})
Schätzungen des Internationalen Währungsfonds weisen aus, dass sich die verlorenen Einnahmen für die
verschiedenen Fisci weltweit in der Größenordnung
von 2 bis 12 Billionen US-Dollar bewegen dürften. GeBundesminister Peer Steinbrück
mäß den Schätzungen für Deutschland verlieren die öffentlichen Haushalte durch Steuerhinterziehung und
Steuerbetrug wahrscheinlich weit über 100 Milliarden
Euro. Das ist der Punkt. Darüber reden wir diplomatisch
nicht mehr hinweg. Vielmehr ist dieses Phänomen beim
Namen zu nennen und zu bekämpfen.
({3})
Sie haben recht, Herr Trittin: Das gilt auch für die Aktivitäten von deutschen Banken, allerdings nicht nur
dort, wo der Bund beteiligt ist, etwa bei der Commerzbank, sondern insbesondere auch bei staatseigenen Banken.
({4})
Deshalb bin ich sehr dankbar, wenn die Grünen dort, wo
sie in der Regierung sind und wo Landesbanken ebenfalls betroffen sind, dieselben Aktivitäten wie wir entfalten.
({5})
Insofern sollte man immer vorsichtig sein, mit einem
Finger auf jemanden zu zeigen, wenn drei Finger auf einen selbst zeigen.
({6})
Warum ist der Verlust von Einnahmen von so großer
Bedeutung? Erstens. Man könnte mit diesen Einnahmen
in der Tat - ich glaube, Herr Oswald hat das gesagt - in
Deutschland die Steuersätze senken. Zweitens. Wenn
wir diese Einnahmen hätten, dann könnten wir in
Deutschland Investitionen in die Zukunft tätigen.
({7})
Drittens. Viele Menschen - das ist noch wichtiger - fühlen sich, wenn sie ihre Steuern ehrlich zahlen, als die
Dummen. Das berührt in der Tat - das will ich nicht vom
Tisch wischen - die Steuergerechtigkeit und die Notwendigkeit, dass der Staat die Anerkennung und Erfüllung der Steuergesetzgebung in Deutschland herbeiführt.
Das ist der Grund, warum dieses Thema sehr hochrangig
zu veranschlagen ist.
Mein Eindruck ist auch, dass nicht zuletzt vor dem
Hintergrund der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise viele Menschen umso eher erwarten, dass wir Steuerbetrug und Steuerhinterziehung sehr ernsthaft und ehrgeizig verfolgen. Das spielt in der Wahrnehmung von
Gerechtigkeit, Balance und Ausgleich in dieser Situation
eine große Rolle. Ohnehin haben schon viele Menschen
den Eindruck, dass Verluste sozialisiert werden, nachdem vorher exorbitante Gewinne privatisiert worden
sind, und dass darüber eine Unwucht in unser Wirtschafts- und Sozialsystem hineingekommen ist.
({8})
Darüber hinaus habe ich keine Veranlassung, meine
Bilder zu wiederholen oder meine Erfahrungen aus dem
Anschauen von irgendwelchen Filmen, insbesondere
von Western, zum Besten zu geben. Sehr nüchtern gesprochen: Wir wollen nicht verharmlosend darüber hinweggehen, dass es Jurisdiktionen, Steueroasen und Nationalstaaten gibt, die nicht nur billigend in Kauf
nehmen, sondern vorsätzlich dazu einladen, dass deutsche Steuerzahler ihr Geld mit der klaren Absicht dort
hintransferieren, Steuerhinterziehung und Steuerbetrug
zu betreiben. Das darf man diesen Ländern auch sagen.
({9})
- Ich behaupte, dass das im Fall der Schweiz ganz klar
der Fall ist. Gleiches gilt für Liechtenstein.
({10})
- Selbstverständlich ist es das.
({11})
- Luxemburg ist zusammen mit Österreich dabei, das zu
tun, was wir für richtig erachten: Diese Entwicklung haben wir mit ausgelöst, indem wir diese Länder gebeten
haben - dem werden sie entsprechen -, dass sie auf der
Basis des Art. 26 des OECD-Musterabkommens mit uns
verhandeln. Mit Luxemburg und Österreich führen wir
bereits solche Gespräche. Damit haben wir den Informationsaustausch, den wir herbeiführen wollen; und in diesen Fällen ist das Problem beseitigt. Im Fall der Schweiz
warte ich darauf, dass wir über Sondierungen hinaus, die
wir bereits durchgeführt haben, konkrete Verhandlungen
aufnehmen. Ich werde den Standpunkt einnehmen, dass
diese nicht jahrelang dauern dürfen, sondern dass sie relativ schnell zum Abschluss gebracht werden müssen,
und zwar auf der Basis des Musterabkommens der
OECD, und ich hoffe, dass der Informationsaustausch
dann erfolgt.
({12})
Im Übrigen beobachte ich sehr genau, wie andere
Staaten, insbesondere die USA, damit umgehen, Herr
Westerwelle. Mit einer gewissen Bewunderung stelle ich
fest, wie weit die Amerikaner in der Schweiz vorangekommen sind, um die Informationen über US-Steuerbürger zu bekommen, die sie benötigen, um Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Ich denke insbesondere an eine
konkrete Bank. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch Sie
persönlich bei Ihren Besuchen in der Schweiz mich darin
unterstützen würden, dass wir diesen Fortschritt bei der
Schweiz erreichen.
({13})
Ich denke dabei gerade auch an Ihre Vorträge, wo immer
in der Schweiz diese stattfinden. Es wäre gut, wenn Sie
sich weniger in Bezug auf meine Person mit Stilfragen
aufhalten würden - über die kann ich gerne reden -, wir
sollten vielmehr zur Substanz dieses Themas kommen,
und die Substanz heißt: Steuerhinterziehung und Steuerbetrug.
({14})
Mit Blick auf das, was in London und auf OECDEbene verabredet worden ist, bedanke ich mich ausdrücklich bei meinem französischen Kollegen Éric
Woerth, der verantwortlich dafür ist, dass wir im Herbst
letzten Jahres eine folgenreiche Konferenz zusammen
mit der OECD in Paris haben veranstalten können. Ich
werde eine Nachfolgekonferenz im Juni in Deutschland
einberufen. Selbstverständlich werden die Länder eingeladen, die OECD-Mitglieder sind. Bei der Pariser Veranstaltung sind leider einige von diesen nicht gekommen,
aber sie waren herzlich eingeladen. Sie hätten sich gerne
an dem Prozess beteiligen können. Es ist ihre souveräne
Entscheidung, das nicht getan zu haben. Ich bitte aber
darum, sich nicht hinterher zu beklagen, dass keine einladende Offerte ihnen gegenüber gemacht worden sei.
Ich strebe, wie ich unterstreichen möchte, die maßgebliche Unterstützung aus anderen Ländern an, insbesondere aus den USA. Ich freue mich über die inzwischen ergriffene Initiative der EU-Kommission, auch die
EU-Zinsrichtlinie zu erweitern, und zwar materiell wie
auch geografisch. Das soll dahin gehend erfolgen, dass
wir uns nicht nur auf die Zinseinkünfte beziehen, sondern auf Kapitaleinkünfte jedweder Art, angefangen bei
Veräußerungsgewinnen über Dividenden bis hin zu den
Zinsen. Weiterhin sollen nicht nur persönliche Stiftungen, sondern auch juristische Stiftungen ins Visier genommen werden. Mit der EU-Zinsrichtlinie soll allen
EU-Mitgliedstaaten zur Auflage gemacht werden, dass
sie bei den Verhandlungen über Doppelbesteuerungsabkommen mit Drittstaaten, will sagen: mit außereuropäischen Staaten, den Art. 26 des OECD-Musterabkommens zugrunde legen. Ich wäre sehr dankbar, wenn diese
Bemühungen der EU-Kommission auch vom Europäischen Parlament, namentlich von der EVP, unterstützt
würden; denn das ist wichtig, um zu Steuerehrlichkeit in
Deutschland beizutragen.
({15})
Insofern kann ich den Vorwurf des Attentismus, der
indirekt von Herrn Trittin, massiv von Herrn Lafontaine
- das gehört offenbar zu seinem Auftritt - kam, keineswegs nachvollziehen. Ich weise den Vorwurf mit Blick
auf die Anstrengungen der Bundesregierung, die in den
vergangenen Monaten gemacht worden sind, zurück.
Richtig ist, dass wir uns nicht nur auf internationaler
Ebene einsetzen können; wir müssen uns vielmehr auch
auf nationaler Ebene einsetzen. Das ist der Grund des
vorliegenden Gesetzentwurfes, von dem jeder steuerehrliche Bürger in Deutschland nichts zu befürchten hat,
rein gar nichts.
({16})
Insofern sind der Vorwurf des gläsernen Steuerbürgers
und diese ganzen Horrorgemälde völlig unangebracht.
Sie haben mit den Fakten nichts zu tun.
({17})
Es geht vielmehr darum, dass diejenigen, die Geschäftsbeziehungen zu einem Staat haben, der den
OECD-Standards nicht entspricht, besondere Mitwirkungs- und Informationspflichten haben. Wenn jemand diesen Mitwirkungs- und Informationspflichten
entspricht, hat er nichts zu befürchten. Wenn er diesen
besonderen und erhöhten Nachweis- und Mitwirkungspflichten allerdings nicht entspricht, dann gibt es Sanktionsmechanismen, auf die ich im Einzelnen nicht eingehe. Insofern glaube ich, dass dieses abgestufte
Verfahren völlig richtig ist. Es gilt: Je mehr ein anderer
Staat kooperiert und für die Besteuerung notwendige
Auskünfte erteilt, umso weniger Nachweise muss der
betroffene Geschäftspartner hier in Deutschland erbringen.
Im Übrigen sage ich mit Blick auf diejenigen, die uns
außerhalb Deutschlands zuhören: Das betrifft ausschließlich deutsche Staatsbürger, deutsche Steuerbürger, nicht etwa die Bürger in anderen Ländern, die
selbstverständlich einer anderen souveränen Sphäre zuzuordnen sind.
({18})
Besteht mit dem jeweiligen Staat bzw. Gebiet ein Abkommen, das die Übermittlung der Auskünfte nach dem
Standard der OECD gewährleistet, oder ist sonstige Auskunftsübermittlung sichergestellt, entstehen keine besonderen Mitwirkungs- und Informationspflichten für die
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Dies halte ich
für richtig und notwendig.
Ich will abschließend darauf hinweisen, dass diese
OECD-Liste in dieser Debatte etwas unvollkommen, jedenfalls nicht vollständig dargestellt worden ist. Sie besteht aus drei Kategorien. In der einen Kategorie sind
Nationalstaaten aufgeführt, die darüber teilweise sehr
verwundert, aufgeregt oder erbost sind. Insofern kann
ich Ihre Bewertung über die Wirkungskraft dieser Liste
nicht nachvollziehen, Herr Trittin.
({19})
- Ja. Nehmen wir es mit Humor, Herr Westerwelle. Der
ist Ihnen doch auch zu eigen.
({20})
- Sie müssen es wieder bemühen. Keine Frage, man
kann es auch anders ausdrücken, aber wir wollen hier
nicht alles so gestanzt von uns geben.
Ich war stehen geblieben bei der Bemerkung, dass
diese Liste aus drei Kategorien besteht. Ich gestehe den
Kritikern außerhalb Deutschlands gern zu, dass diese
Liste nicht widerspruchsfrei und an manchen Stellen
nicht vollzählig ist. Andere Gebiete hätten auch mit aufgeführt werden müssen. Aber mir war wichtig, dass
diese Liste eine Wirkungskraft entfaltet, und das tut sie.
Das sage ich übrigens auch mit Blick auf die von jemanBundesminister Peer Steinbrück
dem - ich glaube, von Herrn Trittin - zitierten Jurisdiktionen im Bereich des Vereinigten Königreiches in Bezug auf die Inseln Jersey und Guernsey. Eine dieser
Inseln hat bereits den OECD-Standard akzeptiert, andere
sind dazu bereit, haben sich dementsprechend erklärt.
Bei diesem Thema geht es um alles andere als ein
Räuber-und-Gendarm-Spiel der Politik. Ich glaube, es ist
die unbedingte Pflicht der Politik, gegen diejenigen vorzugehen, die in Deutschland Steuern hinterziehen; denn
Steuerhinterziehung - da stimme ich dem zu, was Herr
Oswald gesagt hat - ist kein Kavaliersdelikt. Jeder in
Deutschland hat die Pflicht, Steuern zu zahlen, auch und
gerade diejenigen, die am ehesten in der Lage sind, Kapital in andere Länder zu transferieren. Das ist erkennbar
nicht der Metallarbeiter in der untersten Tariflohngruppe, das ist erkennbar nicht die alleinerziehende Verkäufern, die mit 1 000 Euro netto oder weniger nach
Hause kommt, sondern die Forderung richtet sich in der
Tat an andere Bevölkerungs- und Einkommensschichten. Auch dies darf beim Namen genannt werden, ohne
dass daraus immer wieder eine Neiddebatte geboren
wird.
({21})
Gerade diesen Einkommensschichten, sehr stark vertreten auch in den Funktionseliten unserer Gesellschaft,
verlange ich gerade in dieser Zeit eine besondere Vorbildfunktion ab. Je stärker sie glauben, dass Steuerhinterziehung und Steuerbetrug Kavaliersdelikte sind, desto
stärker tragen sie in dieser Krise dazu bei, dass das
bewährte Ordnungsmodell der sozialen Marktwirtschaft
in seinen Legitimationsgrundlagen hinterfragt wird. Es
sind nicht diejenigen, die dieses System verändern wollen, sondern es sind die Protagonisten selber, die durch
Steuerhinterziehung und Steuerbetrug, durch Korruption
und andere Erscheinungsformen wie Maßlosigkeit, Exzesse, Übertreibungen dieses Wirtschafts- und Sozialmodell infrage stellen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Finanzminister, es geht nicht darum, dass wir
nicht gegen Steuerbetrug sind. Es geht hier um den Stil,
den Sie an den Tag legen. Der eigentliche Skandal ist,
dass die Bundeskanzlerin daneben sitzt und nichts dazu
sagt und dass der Außenminister, also Ihr Kanzlerkandidat, ebenfalls schweigt,
({0})
während Sie gleichzeitig einen Flurschaden in Europa
und international anrichten. Das ist der Skandal.
({1})
Auf die Länder, die Sie genannt haben, wirkt es beleidigend, wenn Sie sie mit den ärmsten Ländern dieser Welt
auf eine Stufe stellen. Das ist in diesen Ländern mit
Recht kritisiert worden. Nachdem Sie das afrikanische
Land Burkina Faso als Beispiel genannt hatten, habe ich
gestern im Finanzausschuss nachgefragt, ob Ouagadougou
tatsächlich auch zu dieser Konferenz eingeladen wird.
Da hat Ihnen Ihre eigene Staatssekretärin widersprochen: Ouagadougou bekommt keine Einladung zu Ihrer
Konferenz. Man ist sich also innerhalb Ihres eigenen Ministeriums nicht einig, wen man zu dieser Konferenz
einladen will. Das zeigt die Zerrissenheit in Ihrem eigenen Ministerium.
({2})
Man darf nicht immer nur herausposaunen, sondern man
muss am Ende auch zu dem stehen, was man öffentlich
gesagt hat.
({3})
Herr Minister, Sie messen mit zweierlei Maß. Sie tun
so, als wenn Sie als Minister und Ihre Regierung sauber
und ehrlich gegenüber dem Steuerbürger in Deutschland
wären. Das Gegenteil ist der Fall - das will ich Ihnen
ganz deutlich sagen -: In dieser Legislaturperiode hat
diese Bundesregierung allein 51 Nichtanwendungserlasse veröffentlicht.
({4})
Höchstrichterliche Urteile zur betrieblichen Altersvorsorge, zu Dienstwagen etc. wurden nicht in Rechtskraft
umgesetzt. Diese Urteile sind also nicht auf die Allgemeinheit angewandt, sondern nur im Einzelfall berücksichtigt worden. Herr Minister, Sie haben die Finanzbehörden angewiesen, den Menschen nicht zu gewähren,
was ihnen zusteht. Das ist ein Skandal, der an dieser
Stelle ebenfalls diskutiert werden muss.
({5})
Sie können nicht immer nur auf andere zeigen, sondern
müssen auch in Ihrem eigenen Haus aufräumen und Vertrauen unter den Steuerbürgern schaffen. Das Misstrauen, das Sie - mit Recht - beklagen, haben Sie teilweise selbst erzeugt.
Der Bundesrat hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass Sie mit diesem Gesetz über das Ziel hinausschießen. Davon betroffen sind nämlich nicht nur diejenigen, die Sie erreichen wollen; vielmehr greifen Sie
ganz massiv in die Angelegenheiten von Unternehmen
und Bürgern ein, die mit den genannten Ländern ganz
normale Geschäfte betreiben. Ich will aus der Empfehlung der Ausschüsse des Bundesrates zitieren:
Die erhöhten Mitwirkungspflichten treffen auch
den steuerehrlichen Unternehmer, der Geschäftsbeziehungen zu einem Staat unterhält, der der deutschen Steuerverwaltung keine Auskünfte in Steuersachen erteilt.
Sie sehen, selbst die Landesregierungen sind skeptisch, was das von Ihnen avisierte Maß angeht.
Meine große Sorge ist, dass Sie an dieser Stelle das
Kind auch insofern mit dem Bade ausschütten, als Sie
eine Politik des Protektionismus befördern. Ähnliches
machen Sie schon bei den Staatsfonds, indem Sie potenzielle ausländische Investoren dadurch abschrecken,
dass Sie deren Investitionen von der Zustimmung der jeweiligen Regierung abhängig machen. Hinzu kommt,
dass Sie durch dieses Gesetz auch die inländischen Unternehmen abschrecken, weil Sie sie dazu zwingen, hier,
in unserem Land, Geschäfte zu betreiben.
Meine Erkenntnis ist: Sie haben aus der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts nichts gelernt. Diese Weltwirtschaftskrise wurde
nämlich durch Abschottung, durch Steuererhöhungen
und durch Protektionismus unnötig verlängert.
Hören Sie endlich auf, eine Symbolpolitik zu betreiben, die letztendlich auf den Wahlkampf im Inland ausgerichtet ist! Dadurch hinterlassen Sie außenpolitisch einen Scherbenhaufen. Die Kanzlerin muss Einhalt
gebieten, wenn es der Finanzminister selbst nicht merkt.
Es ist Zeit, dass sowohl die Kanzlerin als auch der Außenminister, der ja Ihr Kanzlerkandidat ist, den politischen
Amoklauf des Finanzministers stoppen.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Manfred Kolbe ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Steuerehrlichkeit und Bekämpfung der Steuerhinterziehung stehen seit der spektakulären Verhaftung
des Exvorstandsvorsitzenden der Post, Klaus Zumwinkel,
im Mittelpunkt des öffentliches Interesses, und - das
sage ich ganz deutlich - das ist auch gut so.
Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Steuerhinterziehung muss von uns energisch bekämpft werden.
Deshalb verabschieden wir heute den Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Steuerhinterziehung bekämpfen“. Wir bringen zudem den Koalitionsentwurf eines Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes ein.
Ich sage aber auch deutlich an beide Seiten des Hauses: Wie bei jeglicher Kriminalitätsbekämpfung besteht
die Bekämpfung auch hier aus Prävention und Repression. Das eine geht nicht ohne das andere. Das gilt für
Drogendelikte genauso wie für Steuerhinterziehung.
Deshalb müssen wir durch unsere Steuergesetzgebung präventiv die Steuerehrlichkeit fördern. Wir haben
das zum Teil auch schon getan. Wir haben eine international wettbewerbsfähige Abgeltungsteuer und eine
Steuerentlastung für thesaurierte Gewinne eingeführt.
Dies gilt es fortzusetzen. Ein einfaches und verständliches Steuerrecht sowie international wettbewerbsfähige
Steuersätze sind notwendige Bestandteile eines Konzepts zur Vermeidung der Steuerflucht.
Nun ist aber keiner von uns so naiv, zu glauben, dass
Herr Zumwinkel deshalb nach Liechtenstein gegangen
ist, weil ihm das deutsche Steuerrecht zu kompliziert
war.
({0})
Das sagt auch niemand. Es gibt leider auch Bürgerinnen
und Bürger, die bewusst Steuern hinterziehen und die
Lasten der Gemeinschaft nicht mittragen wollen. Das
können wir nicht tolerieren. Deshalb muss das Risiko,
dass Steuerdelikte aufgedeckt und geahndet werden, erhöht werden. Der ehrliche Steuerzahler darf nicht der
Dumme sein.
({1})
Herr Bundesminister, bei allen gesetzgeberischen
Notwendigkeiten: Die Steuerfahndung in Deutschland
war grundsätzlich erfolgreich. Wir haben Jahr für Jahr
40 000 Verfahren, 17 000 Strafverfahren und Mehreinnahmen in Milliardenhöhe.
Steuerhinterziehung kann auch hart bestraft werden,
nämlich mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren. Ich
glaube nicht, dass wir diesen Strafrahmen erhöhen müssen. Das Problem liegt vielleicht eher in der Ausschöpfung dieses Strafrahmens durch die Gerichte. Der Bundesgerichtshof hat in einem Grundsatzurteil vom 2. Dezember 2008 klargestellt, dass bei einer Steuerhinterziehung die Höhe des Hinterziehungsbetrags ein ganz
entscheidendes Strafzumessungskriterium ist. Das heißt
klipp und klar: Diejenigen, die Steuern in Millionenhöhe
hinterziehen, wandern künftig tatsächlich ins Gefängnis,
und das ist auch gut so.
({2})
Wir waren bei der Gesetzgebung aktiv. Diese Große
Koalition war erfolgreicher als ihre rot-grüne Vorgängerin, was die gesetzgeberische Bekämpfung der Steuerhinterziehung betrifft.
({3})
Wir haben den verunglückten § 370 a der Abgabenordnung abgeschafft, der nicht rechtsstaatlich fassbar war,
und haben die Qualifizierungen rechtsstaatsfest neu geregelt. Wir haben die Verjährungsfrist für besonders
schwere Fälle der Steuerhinterziehung von fünf auf zehn
Jahre verlängert. Wir haben erstmals die Möglichkeit der
Telekommunikationsüberwachung bei Steuerhinterziehung geschaffen: Bei der bandenmäßigen Umsatz- und
Verbrauchsteuerhinterziehung ist künftig eine Telekommunikationsüberwachung möglich. Diese Bundesregierung war also aktiv, und sie wird das auch in Zukunft
sein.
Wir haben gemeinsam den Antrag „Steuerhinterziehung bekämpfen“ eingebracht, der eine Vielzahl von
Maßnahmen enthält. Ich greife einmal die wichtigsten
heraus. Wir wollen eine Überarbeitung und umfassende
Erweiterung der Europäischen Richtlinie zur Zinsbesteuerung. Diese Richtlinie muss für alle Kapitaleinkünfte gelten, und sie muss alle Personen erfassen. Wir
brauchen einen verbesserten Informationsaustausch auf
internationaler Ebene. Wir können nur international erfolgreich sein.
Herr Bundesminister Steinbrück, deshalb frage ich
Sie auch: Waren Äußerungen, wie ich sie vor zwei Tagen
gelesen habe, in denen Luxemburg, Liechtenstein, die
Schweiz, Österreich sowie Ouagadougou sozusagen auf
eine Stufe gestellt wurden, wirklich nötig? Der alte
Cicero hat einmal gesagt: Suaviter in modo, fortiter in re.
Das heißt: Moderat im Ton, hart in der Sache. Ich
glaube, das ist der richtige Weg, um bei der Bekämpfung
der Steuerhinterziehung mehr Erfolge zu erzielen.
({4})
Herr Trittin, als stellvertretender Vorsitzender der
deutsch-italienischen Parlamentariergruppe muss ich
Ihre Äußerung von vorhin aufgreifen. Ich habe das so
verstanden: Mit XY die Steuerhinterziehung zu bekämpfen ist genauso vergeblich, wie mit Berlusconi die Mafia zu bekämpfen. Vielleicht können Sie sich dazu noch
einmal erklären. Ich halte diese Äußerung für äußerst
problematisch.
({5})
- Wir werden uns darüber noch unterhalten. Ich bin auf
Ihre Erklärung sehr gespannt.
In unserem Antrag geht es neben internationalen Maßnahmen aber auch um Maßnahmen auf nationaler Ebene.
Wir wollen eine wohl bestehende gesetzgeberische Lücke bei den Hinterziehungszinsen schließen. Bisher
wird der Hinterzieher mit einem Strafzins von 6 Prozent
bestraft. Derjenige, der brav seine Steuererklärung abgibt, dann aber vergisst, pünktlich zu bezahlen - seine
Überweisung geht zwei Tage später heraus -, zahlt 1 Prozent Zinsen pro Monat, also 12 Prozent per annum. Dies
ist unserer Ansicht nach ein Wertungswiderspruch. Auch
dies werden wir prüfen und gegebenenfalls ändern.
Lassen Sie mich abschließend zum Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz kommen. Dieser Gesetzentwurf
soll die Steuerhinterziehung durch Nutzung von Staaten,
die nicht die OECD-Auskunftsstandards akzeptieren, erschweren bzw. verhindern. Insbesondere will es die
Informationsdefizite der Finanzverwaltung bei der Aufklärung grenzüberschreitender Besteuerungssachverhalte beseitigen. Hierzu sieht es zweierlei vor: erstens
verbesserte Möglichkeiten der Finanzverwaltung zur
Aufklärung grenzüberschreitender Sachverhalte durch
erweiterte Mitwirkungs- und Aufklärungspflichten, und
zweitens die Eröffnung der Sanktionsmöglichkeit durch
Rechtsverordnung, nicht kooperativen Steuerpflichtigen
den Betriebsausgabenabzug, die Entlastung von Kapitalertrag- oder Kapitalabzugsteuer oder eine Steuerbefreiung für Dividenden zu versagen.
Auch hierzu ist klar zu sagen: Die Union weiß, dass
maßgebliche Teile der Steuerhinterziehung im internationalen Bereich stattfinden. Wir müssen deshalb hier
aktiv werden. Beachtliche Erfolge, Herr Bundesminister
Steinbrück, sind auf dem letzten G-20-Gipfel und darüber hinaus erzielt worden.
Wir sagen aber auch ganz klar: Die Bekämpfung der
internationalen Steuerhinterziehung darf nicht auf dem
Rücken derer ausgetragen werden, die im grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr tätig sind. Dies muss in den kommenden Beratungen noch
in der einen oder anderen Hinsicht verifiziert werden.
Hier gilt das Struck’sche Gesetz: Der Deutsche Bundestag entscheidet souverän.
Zu diesem Gesetzentwurf mache ich deshalb noch
drei Anmerkungen: Zunächst war dessen Einbringung in
die politische Diskussion ungewöhnlich. Im Herbst haben wir über viele Wochen den gemeinsamen Antrag
„Steuerhinterziehung bekämpfen“ beraten; er stand kurz
vor der Verabschiedung. Völlig überraschend und unabgestimmt kam dann über Weihnachten der Referentenentwurf aus dem Bundesfinanzministerium. Dies kann
man so machen; aber man setzt sich dann dem Verdacht
aus, dass es einem eher um die Publicity als um Inhalte
geht. Uns geht es um die Inhalte.
({6})
Zweitens zäumt der Gesetzentwurf das Pferd von hinten auf. Er geht den indirekten Weg über die Ausübung
von Druck auf den Steuerpflichtigen. Das, was man auf
politischem Wege mit nicht auskunftswilligen Staaten
noch nicht erreicht hat, versucht man auf dem Wege über
Druck auf die Steuerpflichtigen zu reparieren, die mit
diesen Staaten Handel und Dienstleistungsaustausch
treiben. Dies ist nicht der Königsweg.
Drittens halten wir es für nicht ganz unproblematisch,
vom Einkommensteuergesetz gewährte Abzüge - Werbungskosten, Betriebskosten - durch Rechtsverordnung
einzuschränken. Auch dies werden wir uns in der Anhörung genau anschauen müssen.
Trotzdem werden wir diesen Weg mitgehen und prüfen, was möglich ist. Die internationale Steuerhinterziehung muss genauso energisch bekämpft werden wie die
Steuerhinterziehung auf nationaler Ebene. Deshalb werden wir diesen Gesetzentwurf beraten und sicherlich
auch noch verbessern.
Danke.
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Lydia Westrich,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir
ist in dieser Debatte wichtig, deutlich zu machen, dass
Deutschland ein Land mit einer relativ hohen Steuermoral ist. Ich bin Finanzbeamtin und habe sehr viele Bürgerinnen und Bürger im Laufe meines Berufslebens begleitet,
({0})
die zwar nicht gerade freudig, aber doch pflichtbewusst
ihre Steuern gezahlt haben.
Die meisten unserer Bürgerinnen und Bürger erbringen - das müssen wir konstatieren - steuerehrlich entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit ihren Beitrag zum
Gemeinwohl. Steuermoral und Steuerehrlichkeit haben
einen hohen Stellenwert in unserem Land, das sich als
Sozialstaat versteht und für alle Bürgerinnen und Bürger
einen guten Weg in die Zukunft gestalten will. Das heißt,
wir brauchen einen starken Staat.
({1})
Umso sensibler müssen wir Politiker mit der Pflanze
Steuerehrlichkeit und Steuermoral umgehen. Es gibt bei
uns natürlich auch die anderen; über die haben wir schon
gesprochen. Wenn unsere ehrlichen Steuerzahler in stärkerem Maße davon ausgehen müssen, dass diese anderen, eventuell ihre Nachbarn, ihre Chefs, die Eliten unseres Landes, relativ problemlos Steuern hinterziehen
können, ohne dass sie nennenswert bestraft bzw. ohne
dass sie überhaupt erwischt werden, dann können wir
Politiker zusehen, wie die Steuermoral in diesem Land
rapide sinkt. Das können wir uns einfach nicht erlauben.
({2})
Deshalb sind für mich zwei Dinge in dieser Debatte
äußerst wichtig. Der erste Punkt ist: Alle Fraktionen haben sich in Anträgen dem Ziel verschrieben, Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Das ist auch verbal geschehen; selbst Herr Schäffler hat es hier noch einmal
deutlich gemacht.
({3})
Das ist ein klares Signal an die Bürgerinnen und Bürger,
dass wir Steuerhinterziehung als Diebstahl an uns allen
ansehen. Dabei geht es nicht um eine Stilfrage, Herr
Schäffler, sondern um mehr. Wir alle verurteilen Menschen, die alles nutzen, was der Staat an Infrastruktur zur
Verfügung stellt, aber nicht daran denken, sich an der Finanzierung dieser Infrastruktur zu beteiligen, ob das
Straßen, Schulen oder Krankenhäuser sind, ob das die
innere oder äußere Sicherheit oder unser Rechtssystem
betrifft. Dass all das zur Verfügung steht, ist selbstverständlich, und deswegen müssen es auch alle mitbezahlen.
Wir stellen in den vorliegenden Anträgen, die Herr
Kolbe zum Teil beschrieben hat, parteiübergreifend
Überlegungen an, wie wir dem Diebstahl am Allgemeingut begegnen können. Jede Fraktion tut das nach ihrer
ureigenen Art. Die Wege sind verschieden; wir haben
uns hier im Plenum über das eine oder andere schon sehr
heftig gestritten. Aber wichtig ist, dass wir ein gemeinsames klares Ziel haben. Die Koalitionsfraktionen haben
sich in einem sehr intensiven Prozess auf einen wirklich
guten Antrag geeinigt. Das war teilweise ein bisschen
mühsam; Herr Binding kann dazu etwas erzählen.
({4})
Nun hoffe ich, dass aus diesem Antrag, den Herr Kolbe
hier vorgestellt hat, tatsächlich Gesetzesinitiativen erwachsen. Denn nur dann ist ein solcher Antrag, der mühsam erarbeitet worden ist, wirklich glaubhaft.
Der zweite für mich wichtige Punkt ist, dass die Regierung einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der sehr
selbstbewusst, wie ich finde, die internationale Solidarität einfordert und der Steuerverwaltung endlich ein
scharfes Schwert in die Hand gibt, wie es die Deutsche
Steuer-Gewerkschaft schon lange fordert. Die Koalitionsfraktionen haben sich diesen Gesetzentwurf zu eigen gemacht. Er darf im anstehenden parlamentarischen
Beratungsprozess nicht verwässert werden. Was ich hier
gehört habe, macht mir ein bisschen Sorgen.
Die Liechtenstein-Affäre hat in unserer Bevölkerung
einen tiefen Eindruck hinterlassen. Wenn Sie mit den
Menschen reden, zeigt sich immer wieder Unverständnis
darüber, dass die Politik nicht in der Lage ist, dieser kriminellen Praktiken Herr zu werden. Steuerbetrug ist
Diebstahl an uns allen. So sehen es die meisten unserer
Bürgerinnen und Bürger, die sich aufgrund ihrer Ehrlichkeit unfair behandelt fühlen. Gerade sie erwarten von
uns Politikerinnen und Politikern, dass wir das Anrecht
auf eine gerechte Besteuerung für alle durchsetzen und
keine Schlupflöcher lassen, auch nicht, wenn sie in befreundete Staaten führen.
Ich als Sozialdemokratin kann es nicht akzeptieren,
wenn Länder ihre Wirtschaftskraft dahin gehend entwickeln, Bürger anderer Staaten beim Steuerbetrug zu unterstützen und zu beschützen. Hehlerei nennt es der
Deutsche Gewerkschaftsbund. Von Oskar Lafontaine haben wir Ähnliches gehört. Das ist starker Tobak. Aber es
ist konsequent, wenn Steuerhinterziehung als Diebstahl
am Gemeinwohl betrachtet wird, wie das von allen bestätigt worden ist. Deshalb muss der Gesetzentwurf der
Koalition in die parlamentarischen Beratungen als starkes Schwert der Steuerverwaltung einfließen und diese
auch wieder als starkes Schwert verlassen. Wir dürfen
diesen Gesetzentwurf nicht verwässern lassen.
({5})
Wir haben in den letzten Jahren viele Kontrollmöglichkeiten zur Verhinderung und Bekämpfung von Steuerkriminalität in Gang gesetzt. Die Sozialdemokraten,
Herr Kolbe, haben sich immer an die Spitze dieser Bewegung gestellt. Von uns gingen die meisten Initiativen
aus. Jede einzelne Maßnahme, Herr Schäffler, die wir
der Finanzverwaltung und der Steuerfahndung an die
Hand gegeben haben, mussten wir gegen den teilweise
sehr erbitterten Widerstand von Fraktionen, aber auch
von Interessenverbänden durchsetzen. Aber wir haben es
mithilfe unseres Partners, der CDU/CSU-Fraktion, getan. Dies war der Mühe wert.
({6})
Wir werden nicht lockerlassen. Zuerst muss die dem Staat
zustehende Steuerbasis gesichert werden, bevor man
neue Einkommensquellen erschließt oder neue Schuldenberge aufhäuft. Das sind wir auch den Kindern schuldig.
Steuerkriminalität hat ganz gravierende Auswirkungen auf die Volkswirtschaft. Sie führt häufig zu Wettbewerbsverzerrungen und vernichtet damit reguläre Arbeitsplätze. In der Wirtschaftskrise können wir es uns
überhaupt nicht erlauben, keine Maßnahmen zu ergreifen, um Arbeitsplätze zu erhalten. Das können und wollen wir nicht hinnehmen. Ihren Antrag zur Umstellung
der Umsatzsteuer von der Soll- auf die Istbesteuerung,
der zwar ein Tor zum Steuermissbrauch schließt, aber
gleichzeitig ein Scheunentor zum Missbrauch öffnet,
können wir leider nicht annehmen.
({7})
Denn Sie wollen natürlich nicht, dass die Istbesteuerung
von einem bürokratischen Monstrum wie dem CrossCheck-Verfahren begleitet wird, sondern wollen dies der
Beliebigkeit anheimfallen lassen. Das ist der falsche
Weg. Deswegen werden wir Ihren Antrag, so gut er auch
gemeint ist, ablehnen müssen.
Wir sehen den Föderalismus in Deutschland sehr positiv. Deswegen können wir dem Antrag der Linken zur
Bildung einer Bundessteuerverwaltung ebenfalls nicht
zustimmen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen und
ich würden eine Bundessteuerverwaltung gerne sehen.
Ich respektiere aber die Ablehnung der Länder, die ihre
Verwaltungshoheit behalten wollen und gut mit uns zusammenarbeiten.
Deshalb ist der Antrag der CDU/CSU und der SPD
der praktikabelste. Wenn wir das alles in Zukunft durchsetzen könnten, was wir in diesem Antrag formuliert haben, dann wären wir im Kampf für Steuergerechtigkeit
ein gutes Stück weitergekommen. Ich appelliere an die
Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, dass sie diesen Kampf mit uns fortführen. Die sozialdemokratische
Fraktion ist da der beste Partner.
Vielen Dank.
({8})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Otto Bernhardt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Verlauf dieser Debatte hat gezeigt, dass alle
Fraktionen des Deutschen Bundestages der Meinung
sind, dass Steuerhinterziehung eine kriminelle Handlung
ist und mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Die
Große Koalition hat in dieser Richtung manches getan;
die Kollegen haben darauf hingewiesen. Zum Beispiel
wurde die Verjährung von Steuerhinterziehung auf zehn
Jahre verdoppelt und bei besonders schwierigen Fällen
sogar die Telefonüberwachung zugelassen, was eine
wirklich sehr harte Maßnahme ist.
Der Bundesgerichtshof hat als Maßstab formuliert,
dass ab einer Steuerhinterziehung von 50 000 Euro entsprechende Freiheitsstrafen zu erteilen sind - in der Regel ab 1 Million Euro sogar nicht mehr zur Bewährung.
Das zeigt, wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun,
das für die Gemeinschaft natürlich schädlich ist. Ich
stimme allen Rednern zu, die gesagt haben: Jeder, der
seine Steuer nicht ordnungsgemäß zahlt, belastet damit
die anderen Steuerzahler.
Zugleich muss man natürlich auch sehen - das gilt
auch bei diesem Thema -, dass die Wege, um ein Ziel zu
erreichen, unterschiedlich sein können. Ich sage auch
das mit aller Deutlichkeit.
({0})
Der Tatbestand, dass zwar schon im Januar ein Referentenentwurf vorgelegt wurde, aber erst heute die erste
Lesung stattfindet, ist darauf zurückzuführen, dass wir
den Ansatz des Referentenentwurfes für nicht richtig
hielten. Ich glaube, es ist nicht der richtige Ansatz, wenn
man zunächst einmal alle Bürger, die mit Ländern, die
bestimmte Standards nicht erfüllen, in einen wirtschaftlichen Kontakt treten, unter einen Generalverdacht stellt.
Das kann nicht unsere Lösung sein.
({1})
Die Union geht von dem ehrlichen Steuerzahler aus. Zu
einem Generalverdacht sagen wir Nein.
Mit dem Weg, der jetzt gefunden worden ist, können
wir leben. Es wird nämlich gesagt: Für Länder, die den
OECD-Standard nicht einhalten, können Verordnungen,
die bestimmte Auflagen enthalten, erlassen werden.
Diese Auflagen können die Betroffenen etwa durch die
Gewährung von Informationsrechten erfüllen, sodass
entsprechende Strafmaßnahmen nicht durchgeführt werden.
Ich vermisse einen Ansatz, den die Vereinigten Staaten verfolgen und den ich für viel wichtiger halte. Vielleicht lebt er im Rahmen der parlamentarischen Beratungen noch auf. Man sollte sich die Kreditinstitute ein
bisschen mehr als andere Unternehmen anschauen. Ich
sage nur: Der Tatbestand, dass fast alle großen Kreditinstitute in Deutschland und, um auch das deutlich zu sagen, alle Landesbanken in diesen Steueroasen Töchter
haben, sollte uns zumindest nachdenklich stimmen; denn
irgendwann müssen dem ja Politiker zugestimmt haben.
In den Verwaltungsräten sitzen ja Politiker aller Fraktionen. Ich halte fest: Der Ansatzpunkt Kreditinstitute
scheint mir ein sehr wichtiger zu sein.
({2})
Es gibt allerdings einen Dissens, der einer der Gründe
dafür ist, dass das Thema so schwer zu behandeln ist.
Zunächst einmal bin ich froh, dass dieser Gesetzentwurf
erst nach dem G-20-Gipfel in London diskutiert wird;
denn dort hat sich einiges verändert. In London hat man
sich darauf geeinigt, dass für alle Länder dieser Welt der
OECD-Standard Maßstab sein soll. Das heißt ganz
schlicht: Wenn ein Land konkrete Anhaltspunkte dafür
hat, dass einer seiner Bürger über ein entsprechendes
Land Steuern hinterzieht, dann muss die Steuerverwaltung dieses Landes behilflich sein.
({3})
Die meisten Länder in der Welt tun das - völlig klar -,
einige wenige aber nicht. Mein Eindruck ist nun, Herr
Minister, dass Sie gerne weitergehen wollten und Ihr
Haus nicht in den gleichen Bahnen wie die anderen europäischen Länder denkt. Ich glaube, Sie hätten am liebsten weltweit ein solches Kontoabfrageverfahren, wie wir
es in Deutschland haben.
In Deutschland gibt es ja nur noch ein sehr begrenztes
Bankgeheimnis. Schweden kennt gar keines mehr. Wir
müssen aber berücksichtigen, dass es Länder gibt, die
hinsichtlich des Bankgeheimnisses eine andere Erwartung haben. In Österreich hat es nun einmal Verfassungscharakter, und auch in der Schweiz hat es eine besondere
Bedeutung. Das heißt, wir werden es nicht erreichen,
dass die Schweiz anhand einer Liste der deutschen
Staatsbürger nachschauen wird, wer dort ein Konto hat.
Das bekommen wir nicht hin. Wer das Ziel erreichen
will, der ist auf dem Holzweg. Wir haben nur eine
Chance über den OECD-Standard.
Sie von der FDP haben natürlich recht: All die Betroffenen haben inzwischen erklärt, dass sie das tun. Einige
haben mir erklärt, sie würden das sogar sehr schnell tun,
aber die Verhandlungen mit dem Ministerium über Doppelbesteuerungsabkommen - es stehen dafür ja nur wenige Mitarbeiter zur Verfügung - würden relativ lange
dauern. Das kann ich verstehen. Die Verhandlungen laufen.
({4})
Die Frage, ob wir das Gesetz nachher überhaupt noch
brauchen, ist jetzt also offen. Ich argumentiere hier aber
ähnlich wie beim Enteignungsgesetz: Wir werden das
Enteignungsgesetz Gott sei Dank wohl nicht anwenden
müssen, weil wir die notwendige Mehrheit bei der Hypo
Real Estate wahrscheinlich auch ohne eine Enteignung
erreichen.
({5})
Aber ohne das Gesetz wären wir vielleicht nicht so weit
gekommen. Deshalb müssen wir auch hier weitermachen, damit die Ankündigung der Länder, sie würden
den OECD-Standard beachten, dann auch wirklich Realität wird.
({6})
Ob das Gesetz angewendet werden muss, ist also fraglich; dennoch brauchen wir dieses Gesetz.
Herr Minister, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze,
aber die Art und Weise, wie Sie sich öffentlich zu einigen unserer Freunde äußern, macht mir zu schaffen und
ist nicht in Ordnung.
({7})
Ich habe mich vor kurzem in einem Interview mit dem
Schweizer Fernsehen für das Verhalten „meines Ministers“ - so habe ich das gesagt - entschuldigt. Das kam in
der Schweizer Tagesschau. Ich habe unwahrscheinlich
viele Briefe bekommen, in denen stand: Endlich einmal!
Die Äußerungen des Ministers stellen nämlich eine
enorme Belastung dar. Sie werden sehen: Insbesondere
für die Bürger in Bayern und Baden-Württemberg, die
sehr enge Beziehungen zu Österreich, zur Schweiz
und zu Liechtenstein haben,
({8})
ist das eine unerträgliche Belastung.
({9})
Ich finde, diesen Weg darf man nicht gehen.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Wir werden
das Gesetz verabschieden, aber es ist nicht hilfreich,
wenn Sie, Herr Steinbrück, jetzt schon wieder in Zeitungen und nicht in internen Gesprächen sagen, dass Sie,
sobald das Gesetz verabschiedet ist, die Verordnung in
Gang setzen werden. Das können Sie gar nicht, Herr Minister.
({10})
Wir müssen diesen Ländern ein paar Monate Zeit geben,
um sich anzupassen.
({11})
Gott sei Dank haben wir den Bundesrat, und diese Verordnungen bedürfen der Zustimmung des Bundesrates.
Ich sage sehr deutlich: Es macht doch keinen Sinn, Staaten, mit denen wir seit Jahrhunderten freundschaftlich
zusammenarbeiten, mit solchen Drohungen zu kommen.
({12})
In diesem Sommer werden sehr viele Deutsche Urlaub in Österreich und der Schweiz machen. Sie sollen
dort weiterhin freundlich aufgenommen werden.
({13})
Voraussetzung dafür ist, dass wir mit diesen Ländern
weiterhin anständig und diplomatisch umgehen. Darauf
legen wir größten Wert.
({14})
Abschließend sage ich für meine Fraktion in aller
Deutlichkeit: Wir werden weiterhin alles tun,
({15})
um den ehrlichen Steuerzahler vor dem Steuerhinterzieher zu schützen, aber wir werden uns nicht dazu hinreißen lassen, andere Länder und deren Bürger zu beleidigen, und wir werden auch nicht zulassen, dass andere
Länder unter Druck gesetzt werden.
Ich habe den Eindruck, dass wir international auf einem vernünftigen Weg sind. Wir werden in diesem Zusammenhang unseren Beitrag leisten. Aber bitte keine
Drohungen gegenüber befreundeten Staaten und kein
Generalverdacht gegen unsere Bürger!
Danke schön.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 16/12852 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses auf der Drucksache 16/12826.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf der
Drucksache 16/11389 mit dem Titel „Steuerhinterzie-
hung bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Dann ist diese Beschlussempfehlung mit der Mehrheit
der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der Oppo-
sitionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11734 mit dem Ti-
tel „Steuervollzug effektiver machen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Weiter empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf der Drucksache 16/9836 mit
dem Titel „Umstellung der Umsatzsteuer von der Soll-
auf die Istbesteuerung“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
breiter Mehrheit angenommen.
Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9479 mit dem Ti-
tel „Bundesverantwortung für den Steuervollzug wahr-
nehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrages der Fraktion Die Linke auf der Druck-
sache 16/9166 mit dem Titel „Steuermissbrauch wirk-
sam bekämpfen - Vorhandene Steuerquellen erschlie-
ßen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe f der Beschlussempfehlung wird die
Ablehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/9168 mit dem Titel „Steuerhinterziehung
bekämpfen - Steueroasen austrocknen“ empfohlen.
Auch über diese Beschlussempfehlung lasse ich abstim-
men. Wer ist dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe g der genannten Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/9421 mit dem Titel „Keine
Hintertür für Steuerhinterzieher“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehr-
heit angenommen.
Damit haben wir diesen Tagesordnungspunkt abge-
schlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 16 a
und 16 b:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze
- Drucksache 16/10491 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 16/12898 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Josef Fell
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt
Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Präsident Dr. Norbert Lammert
Stromübertragungsleitungen bedarfsgerecht
ausbauen - Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung sowie Energiewende umfassend berücksichtigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef
Fell, Kerstin Andreae, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Stromnetze zukunftsfähig ausbauen
- zu dem Entwurf einer Entschließung in der
Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Neuregelung des Rechts der Erneuerbaren Energien im Strombereich und zur Änderung damit zusammenhängender Vorschriften
- Drucksachen 16/10842, 16/10590, 16/8148,
16/8393, 16/9477 Ziffer II, 16/12898 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Josef Fell
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein
Änderungsantrag der Fraktion der FDP sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für
die Bundesregierung das Wort dem Parlamentarischen
Staatssekretär Hartmut Schauerte.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Gestern haben wir in erster Lesung über das
CCS-Gesetz beraten. Heute beraten wir über ein Energieleitungsausbaugesetz, das den Ausbau der Hochspannungsnetze beschleunigen soll. Das zeigt: In Zeiten der
Finanz- und Wirtschaftskrise gibt es keinen Stillstand in
der Energiepolitik. Im Gegenteil: Wir handeln und tun
alles für eine sichere, nachhaltige und bezahlbare Stromversorgung.
Insbesondere im Hinblick auf die Versorgungssicherheit sind der Ausbau und die Modernisierung der
Netze wichtige Themen. Die Zukunft wird sehr wahrscheinlich zeigen, dass der Energiemix bei der Stromerzeugung eine noch größere Rolle spielen wird als heute.
Auch deswegen haben wir allen Anlass, rechtzeitig zu
handeln. Wir brauchen moderne und leistungsfähige
Netze. In diesem Bereich stehen wir vor besonderen
Notwendigkeiten.
Im Norden Deutschlands entstehen große, leistungsfähige Windparks; gerade die Offshore-Windenergie
wird massiv ausgebaut. Viel neuer Strom wird im Norden hergestellt, der bisher nicht zentraler Standort für
Energiegewinnung war. Nordrhein-Westfalen wird hier
- wenn ich das so sagen darf - ein Stück weit abgelöst.
Die Verbrauche finden aber im Süden und in der Mitte
des Landes statt. Sie können sich vorstellen, dass wir
deswegen neue Übertragungskapazitäten brauchen.
Daneben nimmt EU-weit der grenzüberschreitende
Stromhandel zu. Auch hierauf müssen wir unsere Netze
ausrichten.
Was bedeutet das für Deutschland? Wir müssen das
bestehende Netz optimieren; das ist eine Daueraufgabe.
In einigen Bereichen brauchen wir einen Ausbau des
Netzes. Die ehrliche Botschaft an die Menschen ist: Wer
die Klimaschutzziele erreichen will, muss auch für den
Netzausbau sorgen. Damit auch das klar ist: Die Kosten,
die hier entstehen, sind nicht normale Kosten eines
wachsenden Strommarkts, die aufgrund steigenden
Stromverbrauchs über den normalen Kilowattstundenpreis finanziert werden könnten - es findet also keine
messbare Erhöhung statt -, sondern sind Zusatzkosten,
die im Prinzip über das bestehende Mengengeschäft finanziert werden müssen. Deswegen ist große Sorgfalt
darauf zu lenken, dass dieser Ausbau kostengünstig erfolgt; denn er führt - das muss man immer im Auge haben - zu einer Verteuerung des Stroms für alle Endabnehmer.
Allein für die Integration des Stroms aus Windenergie
in die Netze brauchen wir nach den Berechnungen der
Deutschen Energie-Agentur 850 Kilometer neue Leitungen, und zwar bis zum Jahr 2015. Darüber hinaus hat die
Europäische Union in ihren Leitlinien den transeuropäischen Energienetzen einen erheblichen und dringenden
Ausbaubedarf attestiert.
Unser Gesetzentwurf sieht nun vor, für 24 dringliche
Vorhaben die energiewirtschaftliche Notwendigkeit im
Sinne der Planfeststellung und -genehmigung durch Gesetz festzustellen. Das ist der entscheidende Punkt. Für
die durch Gesetz festgestellten Notwendigkeiten wollen
wir ein verkürztes Verfahren. Das können wir verantworten; denn wir haben die Notwendigkeit dieser Maßnahmen in gesetzlicher Beratung vorweggenommen.
Das erleichtert die Durchführung und Durchsetzung.
Das Ob dieser dringlichen Maßnahmen ist damit geklärt. Die Behörden werden hiermit entlastet und können
sich auf das Wie konzentrieren, also auf die Fragen der
konkreten Trassenführung, der angewandten Methodik
und der Ausbauqualität. So wird dies seit langem im
Rahmen des Fernstraßenausbaugesetzes und des Bundesschienenwegeausbaugesetzes praktiziert. Diese Vorgehensweise ist angesichts der Eilbedürftigkeit geboten.
({0})
Ferner gilt für die 24 Vorhaben eine Rechtswegverkürzung auf eine Instanz, nämlich das Bundesverwaltungsgericht. Ich weiß, dass wir mit einer Rechtswegverkürzung behutsam umgehen müssen. Aber wir halten sie
angesichts der Dringlichkeit der Vorhaben für geboten.
Wir sind uns der Belastungen bewusst, die sich aus
dem Bau neuer Hochspannungsleitungen für die Betroffenen vor Ort ergeben können. Deswegen experimentieren wir beim Netzausbau zum Beispiel mit der immer
wieder geforderten Ausbauvariante Erdkabel. Das ist
sicherlich konfliktfreier, aber ganz eindeutig viel teurer.
Damit bin ich wieder bei der Preisrelevanz, die wir bei
diesen Ausbaumaßnahmen sorgfältig im Auge haben
müssen.
Wir ermöglichen im Rahmen von vier Pilotprojekten den Einsatz von Erdkabeln. Das geschieht auf der
380-kV-Ebene. Diese vier Musterpilotprojekte, auf die
wir uns verständigt haben, kosten immerhin über
1 Milliarde Euro mehr, als wenn normale Hochspannungstechnik verwendet würde. Die Kosten sind ein
wichtiger Grund, warum wir bei den Erdkabeln eine Pilotphase vorschalten. Diese haben nämlich erhebliche
Relevanz für den Strompreis in Deutschland. Wir sind
uns aber auch der Wirtschaftslage bewusst. Ich darf nur
an die NE-Metallindustrie erinnern. Hier stehen viele
Betriebe kurz vor der Schließung, wenn wir nicht bestimmte Maßnahmen einleiten. Das ist also eine hochrelevante Fragestellung. Deswegen wollen wir die Erdkabel in Pilotmodellen ausprobieren.
Es gibt daneben eine große Anzahl von technischen
Problemen, die noch nicht erkannt und gelöst sind. Da
die Stromnetze im Grunde der Kreislauf der deutschen
Volkswirtschaft sind, hätte eine fahrlässige Operation
und Veränderung in diesem Kreislaufsystem existenzielle Auswirkungen auf den Standort Deutschland. Deswegen brauchen wir eine vorsichtige Herangehensweise.
Wir wollen darüber hinaus regeln, dass neue Leitungen auf der 110-kV-Ebene unter bestimmten Voraussetzungen als Erdkabel errichtet werden können. Das war
insbesondere ein Anliegen der SPD. Wir haben uns allerdings auch hier unter Kostengesichtspunkten darauf verständigt, dass das nur dann gemacht wird, wenn diese
Art der Leitungsverlegung nicht mehr als das 1,6-Fache,
also bis zu 60 Prozent, der normalen Struktur kostet.
Wir müssen uns in der Politik ein bisschen zurückhalten. Wir neigen ja dazu, Maßnahmen, die am Ende nicht
über Steuern, sondern durch Preiserhöhungen, also
durch die Bürger, bezahlt werden, etwas großzügiger zu
behandeln als steuerfinanzierte Maßnahmen.
({1})
Deswegen ist hier allergrößte Vorsicht geboten. Die
Deckelung der Mehrkosten ist absolut notwendig. Wir
verlieren die Wirtschaftlichkeit in der Stromversorgung
nicht aus dem Auge.
Wir wollen moderne Netze, die den Strom aus erneuerbaren Energiequellen und aus neuen hocheffizienten
konventionellen Kraftwerken abtransportieren können.
Wir müssen sie zudem fit für den EU-weiten Stromhandel machen. Hierzu ist keine Staatsbeteiligung an den
Netzen nötig - ich komme zum Schluss meiner Rede -,
so willkommen auch eine einheitliche Netzgesellschaft
für die Übertragungsnetze wäre. Wir setzen auf vertragliche Gestaltung und auf unternehmerische Lösung, aber
nicht auf Staatsbeteiligung.
Wir haben bereits durch das Energiewirtschaftsgesetz
und durch Anreizmaßnahmen für entsprechende Regulierung gesorgt. Dies ist die Alternative. Wer Staatsnetze
hat, braucht keine intelligente Regulierung; denn er
könnte es selbst regulieren. Wer in diesem Zusammenhang auf private Netze setzt, braucht eine intelligente
und wirkungsvolle Regulierung.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf fügt einen weiteren Baustein in dieses Gesamtpaket ein. Er beschleunigt
die Investitionen in die Netze, was dringend nötig ist.
Zum Schluss: Immerhin rechnen wir damit, dass mit
diesem Maßnahmenpaket Investitionen in Höhe von
etwa 30 Milliarden Euro in einem überschaubaren Zeitraum auf den Weg gebracht werden. Das ist in Zeiten der
Finanz- und Wirtschaftskrise sicherlich eine gute Botschaft an alle, die in diesen Unternehmungen in Brot und
Arbeit sind oder in diesem Bereich Geschäfte machen
und Umsatz erzielen wollen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Gudrun Kopp, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Lieber Herr Schauerte, Sie haben richtig dargestellt, wie wichtig es gerade in Zeiten der Finanz- und
Wirtschaftskrise ist, all jene privaten Investitionen zu tätigen, die, ohne einen einzigen Cent Steuergelder auszugeben, allein dadurch möglich sind, dass die Politik die
notwendigen Rahmenbedingungen, auch die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen, schafft. Darum
ging es in der gestrigen Debatte über die CO2-Abscheidung bei der Kohleverstromung, und darum geht es
heute bei der Diskussion über das Gesetz zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze. Eigentlich hätte dieses Ziel auch mit der Umsetzung des Energieeffizienzgesetzes verfolgt werden sollen. In diesem
Fall konnten sich die beiden beteiligten Häuser, das Bundesumweltministerium und das Bundeswirtschaftsministerium, aber wieder einmal nicht einigen. Das ist bedauerlich.
({0})
Immerhin liegt jetzt, ein Jahr nach dem entsprechenden Kabinettsbeschluss, endlich der Entwurf eines Gesetzes zum Ausbau der Höchstspannungsnetze vor. Dieses
Gesetz ist auch notwendig. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um ein Strukturpaket - nicht um ein
Konjunkturpaket, sondern um ein Strukturpaket -, mit dem
die notwendigen milliardenschweren Investitionen in
die Netze ermöglicht werden. Herr Schauerte hat bereits
darauf hingewiesen, dass es in den nächsten Jahren um einen Betrag in der Größenordnung von 10 Milliarden Euro geht. Insgesamt werden mittelfristig Investitionen in einem Umfang von 30 Milliarden Euro getätigt;
auch das ist notwendig.
Wir stellen ja fest, dass die Energie- bzw. Stromproduktion mittlerweile verstärkt im Norden Deutschlands
stattfindet, während zugleich im Süden des Landes immer mehr Kernkraftwerke abgeschaltet werden.
({1})
Auch diese Entwicklung impliziert, dass neue Leitungen
gebaut werden müssen. Hier besteht unserer Meinung
nach ein Ungleichgewicht. So möchte ich das Augenmerk darauf richten, dass der Netzausbau auch deswegen
erforderlich ist, da die Bundesregierung in der Vergangenheit eine unausgewogene Energiepolitik betrieben
hat und - das tut sie leider nach wie vor - selektiv vorgegangen ist.
({2})
Darüber hinaus muss man bedenken, dass die Verfahren zur Genehmigung von Fernstromleitungen derzeit
acht bis zwölf Jahre dauern; das ist nicht akzeptabel.
({3})
Auch auf diesem Gebiet müssen wir vorankommen.
Ebenso sind größere Kapazitäten bei den Grenzkuppelstellen erforderlich. Wir müssen sie weiter ausbauen und
dabei auch die Entwicklungen auf europäischer Ebene
berücksichtigen.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb, dass
wir beim Ausbau der Energienetze vorankommen. Dabei
handelt es sich quasi um eine Operation am Rückgrat unserer Wirtschaft; denn wo keine Energie fließt, kann
nicht gewirtschaftet werden. Insofern ist dieses Thema
sehr wichtig.
({4})
Wie hoch die Mehrkosten sind, die durch die im vorliegenden Gesetzentwurf aufgeführten vier Pilotprojekte zur Erdverkabelung entstehen, wurde bereits erwähnt. Sie betragen circa 1 Milliarde Euro. Wir sind
gespannt, was diese Pilotprojekte bringen. In der Tat ist
es so: Wir wollen keinen Automatismus. Wir wollen
nicht, dass künftig alle Leitungen, selbst die Mittel- und
Niederspannungsleitungen, in der Erde verbuddelt werden, weil wir auch die Kosten im Blick haben. Wir müssen jedoch zur Kenntnis nehmen, dass für den Neubau
oberirdischer Stromleitungen nicht genug Akzeptanz
vorhanden ist. Um in diesem Bereich Erfahrungen machen zu können, ist es erforderlich, die vier aufgeführten
Pilotprojekte durchzuführen. Deswegen sagen wir zu
den geplanten Erdverkabelungen Ja. Zu gegebener Zeit
werden wir Bilanz ziehen und entscheiden, ob sie sich
bewährt haben oder nicht.
Schließlich gibt es nach wie vor große technische
und ökologische Probleme. Noch ist nicht alles hundertprozentig ausgereift.
({5})
Man muss bedenken, dass für unterirdische Stromleitungen ab einem Steigungsgrad des Geländes von 20 Prozent massive Betonpisten gebaut werden müssen, die die
Grundwasserproblematik berücksichtigen usw. Ich will
jetzt nicht alles erwähnen, aber festhalten, dass wir diese
Erprobung mitbestimmen möchten. Deshalb werden wir
dem Gesetzentwurf zustimmen.
Wir hätten uns allerdings gewünscht, dass die Bundesregierung angesichts des Ausbaubedarfs, den wir haben, nicht nur für den Bau neuer Stromleitungen, sondern auch - auch das ist wichtig - für die Ertüchtigung
und den Ausbau von wichtigen bestehenden Stromleitungen ein verkürztes Verfahren ermöglicht hätte.
({6})
Als Beispiel für die Mehrkosten nenne ich die Trasse
Lauchstädt-Redwitz an der Rodach als Teil der Trasse
von Halle ({7}) nach Schweinfurt. Diese Trasse würde
in konventionellem Freileitungsbau rund 220 Millionen
Euro kosten. Bei kompletter Erdverkabelung betrügen
die Kosten circa 1 Milliarde Euro. Das nur, um einmal
die Relationen darzustellen. Wir Liberale wollen Bürgerakzeptanz gewinnen und die Bürger beteiligen. Wir wollen die Rechte der Bürger nicht willkürlich beschneiden.
Aber wir sehen auch die Notwendigkeit, kostengünstig,
also wirtschaftlich vorzugehen. Gleichzeitig müssen wir
dafür sorgen, dass es hier keinen Investitionsstau gibt.
Deshalb warnen wir an dieser Stelle vor enormen Kosten. Die Bundesnetzagentur ist ja seit zwei Jahren dabei,
die Netzkosten nach unten zu regulieren. Wir aber treffen jetzt politische Entscheidungen, die hier wieder einen Kostenaufwuchs nach sich ziehen werden. Das ist
nicht unproblematisch. Dennoch werden wir dem diesmal zustimmen.
Herr Schauerte, Sie haben gesagt, dass Sie sich auch
bei Mittelspannungsleitungen eine häufigere Erdverkabelung vorstellen könnten. Wir prüfen das und behalten
das im Auge. Aber ich sage Ihnen: Wenn die Bundesnetzagentur jetzt gezwungen wird, 60 Prozent der entstehenden Mehrkosten auf die Netzentgelte umzulegen, wird
das die Kosten enorm in die Höhe treiben. Ob die Bürger
das akzeptieren werden, ist fraglich. Ich gebe nur noch
einmal zu bedenken: Die Netzkosten machen ein Drittel
des Strompreises aus. Das ist keine Petitesse, sondern
sehr wohl relevant.
({8})
Ich komme zum Schluss: Wir sind gegen jegliche Verstaatlichung, wie sie in den Anträgen der Linken gefordert wird. Wir möchten vorankommen mit Investitionen.
Wir wollen Deutschland strukturell nach vorne bringen.
Deshalb sehen wir das Gesetz zur Beschleunigung des
Ausbaus der Höchstspannungsnetze positiv und werden
ihm zustimmen - in der Hoffnung, dass die Kostensituation und die Versorgungssicherheit weiterhin auf der Tagesordnung bleiben. Wir werden jedenfalls sehr genau
darauf achten, dass es hier nicht zu einer Kostenexplosion kommt.
Vielen Dank.
({9})
Rolf Hempelmann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir sind uns offenbar einig, dass Investitionen in den Ausbau unserer
Stromnetze dringend nötig sind. Die Tatsache, dass die
FDP dem Gesetzentwurf zustimmen wird, macht das
noch einmal deutlich. Offenbar wird damit auch anerkannt, dass wir mit diesem Gesetz einen Beitrag leisten
zu mehr Versorgungssicherheit, zu einer umwelt- und
klimaverträglicheren Energieversorgung, zu mehr Wettbewerb und letztlich, durch die technischen Innovationen, die geplant sind, auch zu einer Erneuerung unserer
Energieinfrastruktur. Insofern ist es in der Tat gut - das
ist auch der Koalition zu verdanken -, dass dieses Gesetz
noch vor Ende der Legislaturperiode fertiggestellt wurde
und nun hier und heute zur Verabschiedung ansteht.
Das erste Stichwort war ein Beitrag zu einer klimaund umweltfreundlichen Energieversorgung. Ich erinnere daran: Eine der Grundlagen für das Energieleitungsausbaugesetz war die Einigung auf sehr ehrgeizige
Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien. Mit
der EEG-Novelle haben wir attraktive Rahmenbedingungen insbesondere für den Ausbau der Windkraft geschaffen. Dieser Ausbau wird vorrangig an küstennahen
Standorten in Nord- und Ostdeutschland sowie offshore
vor der Küste erfolgen.
Die Energieverbrauchszentren - das ist angesprochen
worden - liegen eher im Süden und im Westen. Deswegen brauchen wir die zusätzlichen Kapazitäten auf der
Höchstspannungsebene, um den Stromtransport von den
Erzeugungs- zu den Verbrauchsstandorten zu gewährleisten. Das derzeitige Netz, das in den vergangenen Jahrzehnten im Wesentlichen von verbrauchsnaher Stromerzeugung geprägt war, ist darauf nicht vorbereitet. Dies
hat die dena-Netzstudie bestätigt, die 2005 einen erheblichen Ausbaubedarf des Höchstspannungsnetzes zur
Ableitung des Windstroms ermittelt hat.
Bis 2015 müssen für die Integration des Anteils erneuerbarer Energien an der Stromversorgung von
20 Prozent in das Verbundnetz 850 Kilometer Höchstspannungsleitungen neu gebaut und weitere 400 Kilometer verstärkt werden. Wir müssen aufpassen, dass dieser ambitionierte Zeitplan realisierbar bleibt. Deswegen
haben wir darauf zu achten, dass der Ausbau der Netze
zügig erfolgt.
Es gibt viele weitere Gründe, warum der Ausbau der
Netze notwendig ist. Wir haben es mit einem überalterten Kraftwerkspark zu tun, und zwar nicht nur verbunden mit der anstehenden Schließung von Kernkraftwerken, sondern auch mit der notwendigen Erneuerung des
fossilen Kraftwerkparks. Auch hier gilt, dass die neuen
Kraftwerke nicht unbedingt immer an den alten Standorten gebaut werden. Insofern ist klar, dass diese Investition in die Netze nicht nur für die Netze selbst, sondern
für die gesamte Wertschöpfungskette notwendig ist.
Eine weitere Aufgabe des Stromnetzes ist es - das hat
eine zunehmende Bedeutung -, die Bereitstellung von
Kapazitäten für den europaweiten Stromhandel und
Stromtransport sicherzustellen. Damit komme ich, wie
Sie merken, zu dem zweiten Ziel: mehr Wettbewerb. Gerade um den Wettbewerb innerhalb Europas zu beflügeln, brauchen wir den Netzausbau bzw. den Ausbau
von Kuppelkapazitäten, Interkonnektoren und Höchstspannungsleitungen, um den Stromtransit zu ermöglichen.
Wir haben dazu auf der EU-Ebene prioritäre Trassen
- die transeuropäischen Energienetze - identifiziert, und
wir haben in der dena-Netzstudie prioritäre Strecken bestimmt. Diese werden jetzt in einem Bedarfsplan zusammengefasst.
Wir haben dabei nicht nur die in den Bedarfsplan aufgenommenen prioritären Projekte definiert, sondern
auch - das ist bereits angesprochen worden - den
Rechtsweg auf eine Instanz, das Bundesverwaltungsgericht, verkürzt. Außerdem haben wir ein Planfeststellungsverfahren für Offshore-Anbindungsleitungen und
für Seekabel vorgesehen.
Ich glaube, dass das zusammen mit der Verkürzung
der Überprüfungsfrist hinsichtlich des Bedarfsplans auf
drei Jahre dazu beitragen wird, dass wir auch auf die
kommenden Entwicklungen rechtzeitig reagieren können. Die dena-Netzstudie II kündigt sich bereits an. Wir
werden in der Zukunft wahrscheinlich noch vor weiteren
Herausforderungen stehen. Das ist noch deutlicher, als
es in der ersten Studie zum Ausdruck gekommen ist.
Wir gehen davon aus, dass die Beschleunigungswirkung, die wir durch den Gesetzentwurf beabsichtigen,
eintreten wird. Wir glauben, dass dabei ein erster Schritt
hin zur Erdverkabelung auf der 380-kV-Ebene hilfreich sein kann. Das Stichwort Akzeptanz ist in diesem
Zusammenhang genannt worden. Ich glaube, dass wir
uns durchaus auch darin einig sind, dass es sehr auf die
Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber solchen Leitungsprojekten ankommt.
({0})
Ich gebe aber auch denen recht, die in dem Zusammenhang das Kostenargument anführen. Natürlich hat
die Akzeptanz zwei Seiten. Der Bürger akzeptiert das,
was nach seiner Auffassung ökologisch, aber auch optisch vernünftig ist. Er akzeptiert aber auch das, was seinen Geldbeutel nicht überstrapaziert. Es ist unsere Aufgabe, hier eine entsprechende Abwägung vorzunehmen.
Das war einer der Gründe, warum wir uns zunächst auf
vier Pilotprojekte auf der Höchstspannungsebene beschränkt haben. Aber das ist nur einer der Gründe. Neben den Kosten spielte vor allem die Tatsache eine
Rolle, dass die Verkabelungstechnologie auf der 380-kVEbene noch nicht ausgereift ist und dass wir hier noch
Erfahrungen sammeln müssen, insbesondere in Sachen
Zuverlässigkeit und Versorgungssicherheit; denn in der
Tat gibt es bisher weltweit - das war vielen von uns neu kaum Erfahrungen mit längeren Verkabelungsstrecken.
Wir haben einen Schritt - dieser war ursprünglich im
Gesetzentwurf nicht vorgesehen - auf der 110-kVEbene gemacht. Das ist die Ebene, die uns allen aufgrund unserer Wohnorterfahrung am bekanntesten ist.
Wir sind es gewohnt, dass hier in der Regel Erdverkabelung stattfindet. Allerdings gibt es noch eine Menge
Spielraum für zusätzliche Erdverkabelungen. Interessanterweise ist der Kostenabstand auf der 110-kV-Ebene
wesentlich geringer. Das heißt, die Erdverkabelung ist
nicht so viel teuerer als die Freileitung. Aber es gibt
- das muss man eingestehen - Kostenunterschiede. Wir
haben deswegen - um einen abgewogenen Ansatz zu
wählen - den Regulierungsrahmen für die Bundesnetzagentur konkretisiert und deutlich gemacht, dass dann,
wenn der Kostenabstand 60 Prozent nicht überschreitet,
die Mehrkosten durch die Bundesnetzagentur anzuerkennen sind. Wir versprechen uns davon, dass eine
Reihe von Projekten schneller von den Netzbetreibern in
Angriff genommen wird, weil sie erkennen, dass der
Return on Investment für sie gesichert ist. Gleichzeitig
haben wir mit der Begrenzung der Mehrkosten auf
60 Prozent das Interesse des Verbrauchers an bezahlbarer Energie im Auge gehabt.
({1})
Um dem Thema Innovation ein paar Sätze zu widmen: Es ist deutlich geworden, dass wir uns gerade auf
dem Gebiet der Erdverkabelung technologische Fortschritte versprechen. Wir haben aber auch Rahmenbedingungen für die Einführung der HochspannungsGleichstrom-Übertragungs-Technologie, HGÜ, geschaffen. Wir gehen davon aus, dass bald erste Pilotprojekte
im deutschen Stromübertragungsnetz auf der Basis dessen, was wir hier formuliert haben, realisiert werden
können. Insofern ist sichergestellt, dass wir Anreize für
technologische Entwicklungen schaffen, die wir in den
nächsten Jahren im Netzbereich benötigen.
Sie sehen also: Wir haben in der Tat einen Beitrag für
mehr Umwelt- und Klimaverträglichkeit, Versorgungssicherheit, Wettbewerb und Innovation mit diesem Gesetz im Auge gehabt.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, betrifft die
stromintensive Industrie. Wir alle, denke ich, haben
das Ziel, dass die Industrie in unserem Land eine Perspektive, eine Zukunft hat. Wir stellen gerade in diesen
Zeiten fest, dass industrielle Arbeitsplätze, die eine
ganze Wertschöpfungskette und Arbeitsplätze in anderen
Bereichen - auch im Dienstleistungssektor - quasi nach
sich ziehen, wichtiger sind, als man das möglicherweise
noch vor Jahren eingeschätzt hat. Deswegen ist es wichtig, dass wir bei allem, was wir tun, darauf achten, dass
die Energiekosten gerade der energieintensiven Unternehmen im Rahmen bleiben. Wir haben daher die Stromnetzentgeltverordnung angepasst, und zwar so, dass
grundsätzlich der Kreis der Begünstigten erweitert werden kann und dass das Instrument krisenfest ist. Die Unternehmen können dieses Instrument also auch in Jahren
der Rezession in Anspruch nehmen. Ich denke, dieser
Schritt ist in der Branche ausgesprochen positiv aufgenommen worden.
Ich mache dennoch zum Abschluss darauf aufmerksam, dass all dies nicht ausreichen wird, um sicherzustellen, dass stromintensive Unternehmen in diesen schwierigen Zeiten durchhalten und auch in der Zukunft in
Deutschland weiter produzieren. Deswegen werden wir
uns in den nächsten Tagen weiter damit beschäftigen
müssen, wie wir die Rahmenbedingungen für diese sehr
stromintensiven Industrien weiter verbessern. Dazu gibt
es Gespräche zwischen den Fraktionen und auch mit den
Ministerien, insbesondere mit dem Wirtschaftsministerium.
Ich mache nur darauf aufmerksam, dass insbesondere
durch Aluminiumerzeugung mittels Elektrolyse - diese
Unternehmen können jederzeit vom Netz genommen
werden - Regelenergiekraftwerke in einer unglaublichen
Größenordnung ersetzt werden können. Sie können sie
sogar mehr als ersetzen. Sie sind sogar besser als Regelenergiekraftwerke, weil sie unmittelbar abgeschaltet
werden können und sich die Auswirkung sofort einstellt,
was auch bei den besten Regelenergiekraftwerken so
nicht der Fall ist. Das müssen wir im Auge behalten. Das
kann man auch honorieren. Darüber sollten wir zeitnah
ins Gespräch kommen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Der nächste Redner ist Hans-Kurt Hill für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Chance, die Energienetze zukunftsgerecht auszurichten, wurde nach meiner Meinung von Ihnen vertan.
Sie greifen dabei mit der Gesetzesvorlage massiv in die
Mitbestimmungsrechte der Bürgerinnen und Bürger ein.
({0})
Es wundert mich, Herr Obermeier, dass sich die
CDU/CSU und die SPD in der Großen Koalition überhaupt noch auf sachliche Inhalte einigen konnten. Bei
der Entwicklung der Energienetze haben Sie offensichtlich erkannt, dass wir nicht alles den Stromkonzernen
überlassen dürfen. Ich sage Ihnen voraus, liebe Kolleginnen und Kollegen: So wie Sie sich mittlerweile viele Anträge der Linken zu eigen machen und eins zu eins übernehmen,
({1})
zum Beispiel bei der Enteignung von wild gewordenen
Banken, so werden Sie über kurz oder lang unserer Forderung nach Überführung der Energienetze in die öffentliche Hand ebenfalls folgen.
({2})
Einzelne Inhalte des Entwurfs zeigen durchaus in die
richtige Richtung. Erdkabel werden bei Hochspannungstrassen gegenüber Freileitungen bei den Netzentgelten
bessergestellt. Das macht die unterirdische Verlegung
bei 110 000-Volt-Leitungen wirtschaftlich. Neu errichtete Stromspeicher werden für den Zeitraum von zehn
Jahren von den Netzentgelten befreit, und die Anbindung von Offshorewindparks wird vereinfacht. Das
war es aber leider schon. Das reicht einfach nicht aus.
Ich habe es anfangs bereits gesagt: Sie haben die
Chance, die Energienetze zukunftsgerecht auszurichten,
absolut vertan. Sie reden davon, Deutschland sei ein
Stromtransitland, ignorieren dabei aber Zukunftstechniken wie Gleichstromübertragungen komplett. Immerhin
redet man schon davon. Dabei ist bekannt, dass gerade
diese Technologien bei der Übertragung über weite Strecken die höchste Effizienz aufweisen. Sie haben sich der
Stromlobby gebeugt. So dürfen im Prinzip Hochspannungstrassen mit 380 000 Volt weiter uneingeschränkt
als Freileitung gebaut werden. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger
und die Natur. Dabei ist gerade hier der Elektrosmog
sehr hoch, und riesige Masten zerschneiden die Landschaft.
({3})
Pilotvorhaben für die Erdverkabelung von
380 000-Volt-Trassen werden nicht nach fachlichen Kriterien ausgewählt. Es ist für mich nicht zu erkennen, warum die Uckermarkleitung, wie von uns und auch von
den Kolleginnen und Kollegen der CDU vor Ort gefordert, nicht in das Vorhaben aufgenommen wird.
({4})
Die Linke fordert deshalb eine grundsätzliche Prüfung
der Erdkabelverlegung in jedem Einzelfall.
Es ist ein Skandal, dass die Beteiligungsrechte betroffener Bürgerinnen und Bürger und Gemeinden massiv eingeschränkt werden und sie somit der Willkür der
Energieversorger ausgesetzt sind. Deshalb ist dieses Gesetz vom Grundsatz her nicht zustimmungswürdig.
({5})
Sie arbeiten Hand in Hand mit den Energiekonzernen
gegen die Bürgerinnen und Bürger, und das ist in vielen
Fällen typisch für diese Koalition.
Es gibt weitere Lücken im Gesetz. Es fehlen Vorschriften, die den Netzausbau auf das erforderliche Maß
mindern. So könnten bestehende Stromleitungen durch
besseres Management und technische Modernisierung
bis zu 50 Prozent mehr Strom, erzeugt auch aus Wind
und Sonne, aufnehmen. Auffällig ist, dass an den jetzt
geplanten Stromtrassen - Herr Hempelmann hat es eben
angesprochen - zufällig auch riesige Kohlekraftwerke
geplant sind. Damit bremsen die Energiekonzerne den
schnell wachsenden Ausbau der Nutzung erneuerbarer
Energien gezielt aus. Erklären Sie, Herr Hempelmann,
den Thüringern, wieso Kohlestrom aus Lubmin oder
Stendal durch den Thüringer Wald bei Zerstörung des
Naturraums nach Bayern oder weiter transportiert werden soll!
({6})
So können Sie in der Bevölkerung keine Akzeptanz für
Stromtrassen erreichen. Das ist ein Gesetz, das die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger massiv beschneidet
und nur den Energiebossen dient. Ginge es nach Vattenfall und Co., würden riesige Strommasten durch das
Land gezogen, um noch mehr Kohlestrom in die Nachbarstaaten zu exportieren. Die Folgen, nämlich ein
Scheitern im Bereich Klimaschutz und weiter steigende
Strompreise, haben Sie zu verantworten. Da ich gerade
von den Strompreisen rede: Natürlich entlasten Sie noch
einmal die stromintensive Industrie mithilfe des hier
vorliegenden Gesetzentwurfes bei den Netzgebühren.
({7})
Das tun Sie auf Kosten der übrigen Netzkunden und
ohne jede Gegenleistung für mehr Energieeffizienz.
Stichwort Gegenleistung - auch das sollten die Bürgerinnen und Bürger wissen -: Damit die Union das Energieleitungsausbaugesetz überhaupt mitträgt, musste die
SPD vollständig auf die Einbringung eines Energieeffizienzgesetzes verzichten. Noch schlimmer aber ist in
diesem Zusammenhang, dass die zwingend erforderliche
Verbesserung der Energieeffizienz in Deutschland damit
von der Bundesregierung selbst blockiert wird.
({8})
Um die Defizite in der Gesetzesvorlage der Bundesregierung zu heilen, hat die Linke einen Antrag zum bedarfsgerechten Ausbau der Energienetze eingebracht.
Der Energieleitungsausbau muss den Anforderungen
einer klimafreundlichen und dezentralen Energieversorgung Rechnung tragen. Dazu müssen bestehende Stromtrassen zügig dem neuesten Stand der Technik angepasst
werden. Ein Leitungstemperaturmonitoring für das
Übertragungsnetz ist gesetzlich festzuschreiben. Für den
Verbundbetrieb mehrerer Erneuerbare-Energien-Anlagen über das Leitungsnetz, sogenannte virtuelle Kraftwerke, müssen die Netzgebühren entfallen, um eine intelligente und dezentrale Stromproduktion zu fördern.
Zur weiteren Entlastung der Übertragungsnetze sind dezentrale Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen gegenüber
neuen fossilen Großkraftwerken besserzustellen.
({9})
Der Netzausbau auf 110 000-Volt-Ebene ist ausschließlich in Form der Erdverkabelung durchzuführen. Dem
Netzausbau auf 380 000-Volt-Ebene muss eine Erforderlichkeitsprüfung vorausgehen, bei der die Erdkabelvariante verpflichtender Teil der Betrachtung sein muss.
Fazit: Der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung ist Flickschusterei, vernichtet Rechte von Bürgerinnen und Bürgern und beinhaltet deutlich zu wenig, um
den künftigen Anforderungen im Energiebereich gerecht
zu werden. Wir werden ihn deswegen ablehnen.
Vielen Dank.
({10})
Der nächste Redner ist Hans-Josef Fell für das
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Ausbau erneuerbarer Energien kann und
muss beschleunigt werden. Die erfolgreiche industrielle
Entwicklung ist ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung
der Wirtschaftskrise. Der Ausbau ist dynamisch und mit
exponentiellen Wachstumsraten sehr wohl in der Lage,
bis 2030 eine hundertprozentige Versorgung mit erneuerbaren Energien im Stromsektor zu realisieren.
Den vielen Zweiflern in der Großen Koalition und in
der FDP sei deutlich vor Augen geführt, dass auch in anderen industriellen Zweigen solche Ausbaugeschwindigkeiten zunächst für unmöglich gehalten, dann aber dennoch realisiert wurden. Noch vor 20 Jahren hatte
faktisch niemand einen Laptop, und in 15 Jahren eroberten Mobilfunkgeräte die Welt. Können Sie mir einen vernünftigen Grund nennen, warum die Branchen Windenergie, Fotovoltaik, Biogas oder Geothermie nicht
ähnliche industrielle Erfolgsgeschichten schreiben könnten?
({0})
Der Bundesverband Erneuerbare Energien hat angekündigt, bis 2020 47 Prozent der Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien abzudecken. Statt diese gigantische
Chance für Klimaschutz und zur Sicherung unserer
Energieversorgung zu ergreifen, hält die Bundesregierung ängstlich an ihrem nicht ambitionierten Ziel von
30 Pro-zent bis 2020 fest. Die SPD setzt lieber auf den
Ausbau der klimaschädlichen Kohlekraftwerke und die
Union auf die Laufzeitverlängerung von Atomreaktoren.
Beides wird den Ausbau erneuerbarer Energien bremsen
statt beschleunigen.
Aber immerhin haben wir von Frau Kopp heute etwas
Neues gehört. Sie hat gesagt: Wenn die Atomreaktoren
im Süden abgeschaltet werden - dort trägt die FDP ja
Regierungsmitverantwortung -, dann brauchen wir den
Ausbau neuer Netze. - Gut, dass Sie endlich die Notwendigkeit des Atomausstiegs anerkennen.
({1})
Meine Damen und Herren, ein beschleunigter Ausbau
erneuerbarer Energien ist natürlich nur dann möglich,
wenn die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu gehört unter anderem
die Anpassung der Netzinfrastruktur an die Erfordernisse einer Vollversorgung mit Strom aus erneuerbaren
Energien. Notwendig sind zum Beispiel Speichersysteme zum Ausgleich der Angebotsschwankungen bei
Sonne und Wind und der Ausbau neuer Hoch- und
Höchstspannungsnetze, um das reichliche Windstromangebot aus Nord- und Ostdeutschland mit den städtischen
Regionen in der Mitte, im Süden und im Westen zu verbinden.
Längst haben sich die Blockaden der großen Netzbetreiber beim Ausbau der Netze als Bremse für den
schnellen Ausbau der Ökostromerzeugung erwiesen.
Zum Teil blockieren sie, um die ungeliebte Konkurrenz
der erneuerbaren Energien zurückzuhalten, zum Teil
scheitern sie aber auch an langwierigen Genehmigungsverfahren für den Ausbau von Höchstspannungsnetzen
und an Widerständen in Teilen der betroffenen Bevölkerung.
Wir Grünen stehen hinter dem Ziel der Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze. In unserem heute zur Abstimmung vorgelegten Antrag haben
wir die notwendigen Bedingungen dazu formuliert. Leider bleibt der Gesetzentwurf der Koalition weit hinter
den erforderlichen Notwendigkeiten und Möglichkeiten
zurück. Vor allem kritisieren wir, dass er die Handschrift
der Interessen der großen Stromerzeuger trägt.
Viele Bürgerinitiativen, die vor Ort gegen den Ausbau
der Höchstspannungsleitungen kämpfen, sind nicht gegen den Ausbau der Netzinfrastruktur. Zu Recht verlangen sie Erdverkabelungen, womit den Aspekten des
Landschaftsschutzes und den Bürgerängsten vor Elektrosmog Rechnung getragen werden könnte.
({2})
Doch statt Erdverkabelungen flächendeckend zu ermöglichen, wollen Sie nur fünf willkürlich ausgewählte
Pilotregionen zulassen. Es gibt überhaupt keinen
Grund, warum Sie beispielsweise die Uckermark nicht
in die Liste der Pilotregionen aufgenommen haben.
({3})
Statt den Forderungen von berechtigten Bürgerinteressen entgegenzukommen, setzen Sie in Ihrem Gesetzentwurf auf den Abbau von Bürgerbeteiligungsrechten.
Meine Damen und Herren von Union und SPD, Sie sollten sich nicht beschweren, wenn in diesen Regionen die
Politikverdrossenheit erneut zunimmt. Ihre Argumente
gegen Erdkabel gleichen denen, die von den großen
Stromversorgern vorgetragen werden. Sie behaupten,
Erdkabel seien zu teuer und technisch nicht ausgereift.
In der Anhörung des Wirtschaftsausschusses wurde das
vom Verband der europäischen Kabelhersteller ganz anders dargestellt.
({4})
Oftmals können die wesentlich niedrigeren Betriebskosten von Erdkabeln die höheren Investitionskosten ausgleichen. Ihre Blockade gegen die flächendeckende Zulassung von Erdkabeln ist damit ein erneuter Beweis für
Ihre Politik des Schutzes der Interessen der Kohle- und
Atomkonzerne.
({5})
Mit den Kampagnen pro Atom und für neue Kohlekraftwerke haben diese Konzerne längst bewiesen, dass sie
den schnellen Ausbau erneuerbarer Energien behindern
wollen.
Wir verkennen nicht, meine Damen und Herren von
der Koalition, dass Sie als Parlamentarier durchaus wichtige Verbesserungen am Regierungsentwurf vorgenommen haben. Die Möglichkeiten für Erdkabel in 110-kVLeitungen finden unsere Zustimmung. Auch begrüßen
wir, dass Pumpspeicherkraftwerke von Netzentgelten
befreit werden. Leider soll diese Befreiung aber nur für
neue Projekte und nur für zehn Jahre gelten. Das reicht
als Anreiz für den dringend erforderlichen Bau von Speichern bei weitem nicht aus. Sinnvoll ist auch die Möglichkeit des Anschlusses an moderne HGÜ-Leitungen.
Dies alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass
dieses Gesetz die Handschrift der Stromkonzerne trägt
und wegen des Abbaus der Bürgerbeteiligungsrechte
eine bedenkliche antidemokratische Komponente aufweist. Den Ausbau der erneuerbaren Energien wird dieses Gesetz nicht beflügeln; vielmehr bleibt das Problem
bestehen, dass Investoren für Windparks weiterhin jahrelang auf Leitungen warten müssen, und das nicht wegen
der Proteste der Bürger, sondern weil die Energiekonzerne wenig Interesse haben, die Konkurrenten ans Netz
anzuschließen.
Hier liegt das Kernproblem. Die Koalition blendet
völlig aus, dass die Energiekonzerne selber die dringend
notwendigen Investitionen in die Stromnetze verzögern.
({6})
Dieses Problem muss gelöst werden, und zwar durch die
baldige Gründung einer unabhängigen Netzgesellschaft.
Nur mit „neutralen“ Netzen wird es die erforderlichen
Investitionen in den zukunftsfähigen Ausbau der Stromnetze geben.
({7})
Aber dazu ist in der Koalition keine Aktivität erkennbar.
So werden Sie den Anforderungen an Klimaschutz und
Versorgungssicherheit leider nicht gerecht.
({8})
Der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Netze sind nicht alles; aber ohne Netze ist fast
alles nichts, weil dann nämlich nichts funktioniert. Wir
bekommen das leider öfter vorgeführt, wenn es - aus
verschiedenen Gründen - zu Blackouts kommt. Die
Wahrscheinlichkeit, dass es zu Blackouts kommt, wird
steigen, wenn wir nicht schnell und engagiert reagieren.
Genau das tun wir mit diesem Gesetz zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze.
Wir stehen, was das Stromnetz angeht, vor Herausforderungen, die sich in den letzten 50 Jahren in Deutschland und in Europa so nicht gestellt haben. Deutschland
ist mittlerweile Stromtransitland Nummer eins in Europa. Wir wollen den europäischen Binnenmarkt. Wenn
wir den europäischen Binnenmarkt im Bereich Strom
genauso wie in den Bereichen Schiene und Straße wollen - dort knüpfen wir transeuropäische Netze -, dann
müssen wir Interkonnektoren, also Verbindungen zwischen den Ländern, schaffen. Ich verweise auch auf die
Möglichkeit, Seekabel, beispielsweise durch die Nordsee, zu legen, und zwar schnell, damit der binnenökonomische Blutkreislauf funktionieren kann.
Wir stehen vor Herausforderungen bei der Integration
des Systems der erneuerbaren Energien. Es ist ganz klar:
Wer Ja zu erneuerbaren Energien sagt, der muss auch Ja
zu einem beschleunigten Netzausbau sagen.
({0})
Nur so wird die Nutzung erneuerbarer Energien gestärkt.
Wir stehen auch vor einer bisher nie dagewesenen
Veränderung der Erzeugungsstruktur. Durch die Nutzung der Windkraft onshore und zukünftig offshore werden zusätzlich Zehntausende Megawatt Strom erzeugt
und ins Netz eingespeist; darüber hinaus entstehen zunehmend konventionelle Kraftwerke, beispielsweise
Steinkohlekraftwerke in Küstennähe. Man wird so unabhängig von Stromimporten, etwa aus dem Ruhrgebiet.
Ich betone: Wir brauchen in Deutschland den Netzausbau.
({1})
Was tun wir? Wir stellen einen Bedarfsplan auf - er
ist dem ähnlich, den wir von der Schiene und von der
Straße her kennen -, in dem wir die von mir beschriebenen Entwicklungen antizipieren, um so einen strukturierten Netzausbau vornehmen zu können.
Die Verkürzung des Instanzenwegs hat sich in den
neuen Bundesländern bewährt, Stichwort „Infrastrukturbeschleunigung“; das Bundesverwaltungsgericht ist nunmehr die einzige, also gleichermaßen erste und letzte Instanz.
({2})
Wir beschleunigen mit diesem Gesetz die Planfeststellung für internationale Seekabel, um die Interkonnektoren zu schaffen. Wir ermöglichen mit diesem
Gesetz Pilotprojekte im Höchstspannungsnetz, um
Stromautobahnen in Deutschland zu bekommen. Dazu
gibt es aber noch viele offene Fragen. Neben der Kostenfrage - zum Teil sind die Kosten bis zu zehnmal höher
als sonst üblich - stellen sich auch die Fragen der Technologie und der Landschaftsverträglichkeit; es geht um
Eingriffe in die Natur. Deshalb müssen wir Erfahrungen
sammeln.
Von manchen, von Herrn Fell und Konsorten, wird
hier der Eindruck erweckt, als wären Erdkabel die Lösung aller Probleme. Das Gegenteil ist der Fall. Ich will
das am Beispiel der Uckermarkleitung darlegen. Es
wird gesagt, wir seien gegen die Erdverkabelung in der
Uckermark. Jawohl, wir sind dagegen, aber nicht deshalb, weil wir gegen die Bürger oder gegen den Schutz
der Landschaft sind; das Gegenteil ist der Fall. Wir haben uns das ganz genau angeschaut. Was wäre, wenn wir
in der Uckermark ein 380-kV-Erdkabel verlegen würden? Das Ergebnis wäre ein 20 Meter breiter Straßenund Steppenstreifen durch das Biosphärenreservat. Ist
das die Landschaftsverträglichkeit, die Sie wollen?
({3})
Durch die 380-kV-Freileitung in der Uckermark
könnte die 220-kV-Freileitung von 37 Kilometern
Länge, die bisher durch das Gebiet geht, abgebaut wer23998
den. Das wäre beim Erdkabel nicht möglich. Das ist
praktizierter Landschaftsschutz.
({4})
Wir haben uns das sehr genau angeschaut. Dabei sind
nicht allein die Kosten entscheidend. Beim Erdkabel
wäre der Eingriff in die Landschaft weitaus größer und
wäre auch die zusätzliche Belastung für das Biosphärenreservat größer als bei einer Freileitung, die über 400 bis
500 Meter sozusagen an der Ecke des Biosphärenreservats vorhanden wäre.
({5})
- Erzählen Sie hier nichts wider besseres Wissen!
({6})
Wir haben im parlamentarischen Verfahren beispielsweise auch noch das Verursacherprinzip gestärkt. Wir
haben den Umlageschlüssel geändert, sodass die Gesamtkosten für die Pilotprojekte nicht bundesweit umgelegt werden. Nur die Mehrkosten, die für die Pilotprojekte zur Erdverkabelung verursacht werden, werden
umgelegt. Das führt auch zu mehr Effizienz im gesamten
Verfahren. Das ist der richtige Weg, den wir nicht nur bei
den Pilotprojekten, sondern auch bei anderem beschreiten müssen.
Das Thema „110 kV“ ist angesprochen worden. Wir
wollen mit einer moderaten Begrenzung von 60 Prozent
arbeiten. Das ist nicht nichts; wir reden unter Umständen
über Milliardenbeträge. Die fallen nicht vom Himmel,
sondern die muss über eine Umlage der Stromverbraucher aufbringen.
({7})
Wir sind aber bereit, diesen Weg zu gehen, wenn wir hier
zu einer Beschleunigung kommen.
Zu dem 20 Kilometer breiten Küstenstreifen gibt es
eine Klarstellung, sodass das dort schneller und besser
geht.
Wenn wir hier nicht schneller vorankommen, liegt das
daran, dass über Gerichtsverfahren, Einsprüche usw.
verzögert wird. Da sind die Opportunitätskosten oftmals
höher als einmalig höhere Investitionskosten im 110-kVBereich. Auch dazu schlagen wir eine Lösung vor.
Anders als im Höchstspannungsbereich brauchen wir
im 110-kV-Bereich keine großen Erfahrungen mehr zu
sammeln. Auch der Eingriff in die Natur ist nicht so
groß. Sie sollten hier nicht Äpfel mit Birnen vergleichen
und nicht wider besseres Wissen reden.
({8})
Wir befreien die neuen Speicher, und zwar technologieoffen - denkbar sind nicht nur Pumpspeicher, sondern
auch Druckluftspeicher und anderes im Bereich der erneuerbaren Energien -, für zehn Jahre von den Netznutzungsentgelten, um Anreize zu setzen. Neben den Netzen verbessern wir gleichzeitig die Speicherung und
bringen die Integration der erneuerbaren Energien nach
vorn.
({9})
Herr Kollege, können Sie sich vorstellen, zum Ende
zu kommen?
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin; vielen
Dank für den freundlichen Hinweis.
Die Große Koalition beweist auch heute wieder
Handlungsfähigkeit. Wir machen also nicht nur Wahlkampf, sondern wir regieren. Der Gesetzentwurf zu CCS
wurde gestern eingebracht. Auch das werden wir noch
abschließen. Mit der zweiten und dritten Lesung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze machen wir den Weg
frei. Wir legen den Grundstein für einen beschleunigten
Netzausbau. Ich hoffe auf große Zustimmung - nicht nur
der Koalitionsfraktionen -, sodass die Stromautobahnen
mit Energie ausgebaut werden können.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention, der Kollege Hill.
({0})
Keine Angst, Herr Hempelmann! - Herr Kollege
Pfeiffer, sind Sie mit mir einer Meinung, dass eine
70 Meter breite Schneise durch ein Biosphärenreservat
einen starken Eingriff in die Naturlandschaft darstellt,
dass sich die Bevölkerung dort mit Recht dagegen wehrt
und dass es unverständlich ist, dass sich die CDU vor
Ort für die Erdverkabelung ausspricht und selbst die
SPD sich dafür aussprach, meine Ausschussvorsitzende
dann aber gesagt hat, weil die CDU nicht mitmache,
werde man unserem Antrag nicht zustimmen? Ich
meine, hier wurde die Unwahrheit gesagt. Dies hat
nichts mit Wahlkampf zu tun, sondern das ist eine sachliche Feststellung von Fakten.
Zweitens haben Sie davon gesprochen, dass Kraftwerke an der Küste gebaut werden sollen. Sprechen Sie
einmal mit den Menschen vor Ort, die insbesondere vom
Tourismus leben und auf saubere Luft angewiesen sind.
Sie aber sagen, wir brauchten Kohlekraftwerke an der
Küste, weil wir Importkohle verfeuern müssten. Hier
verstehe ich Ihre energiepolitischen Vorstellungen nicht.
Danke schön.
({0})
Herr Pfeiffer, zur Antwort!
Herr Kollege Hill, unser Bundestagskollege, der dort
seinen Wahlkreis hat, hat sich vor Ort ganz klar gegen
die Erdverkabelung ausgesprochen. Insofern weiß ich
nicht, wie sich die CDU vor Ort anders verhalten haben
sollte, als sie es hier im Plenum tut.
Die von Ihnen genannten 70 Meter kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Die Freileitung überbrückt
diesen Naturraum mit Masten. Im Gegensatz dazu zerschneidet das Erdkabel das Biosphärenreservat mit einem 20 Meter breiten Streifen.
({0})
- Ja, in der Erde; das wird aber nicht per Tunnel hindurchgebohrt. Es wird eine Schneise durch das Biosphärenreservat angelegt, und hinzu kommen Sonderbauwerke wie Tunnel und Brücken über Straßen und Flüsse.
Der Eingriff in die Natur ist hundertfach höher als bei einer Freileitung. Das sind die Fakten, nicht das, was Sie
hier behaupten, Herr Hill.
({1})
Jetzt gebe ich Marko Mühlstein das Wort für die SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als im Jahre 2000 in diesem Hohen Hause das Erneuerbare-Energien-Gesetz verabschiedet wurde, hat man sich zum Ziel gesetzt, im Jahre 2010
einen Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromproduktion von 12,5 Prozent zu haben. Im Jahr 2008 hatten
wir bereits einen Anteil von 15 Prozent am Stromverbrauch.
({0})
Im ersten Quartal 2009 lag der Anteil schon bei
17 Prozent. Die Kritiker von damals reiben sich die Augen, Herr Fell.
Im Bereich der erneuerbaren Energien haben wir bis
heute über 275 000 Arbeitsplätze geschaffen. Im Jahre
2020 - so sind die Prognose und unser Ziel - werden sogar 500 000 Arbeitsplätze durch unsere gute Klimapolitik geschaffen sein.
({1})
Deutschland ist Exportweltmeister auch im Bereich
der Umwelttechnologie nicht zuletzt durch die erneuerbaren Energien.
({2})
Unser Ziel ist es, im Jahre 2020 einen Anteil der erneuerbaren Energien von 30 Prozent im Strombereich zu haben und im Jahre 2030 die Hälfte, 50 Prozent, der
Stromproduktion in der Bundesrepublik durch erneuerbare Energien zur Verfügung zu stellen.
Um diesen erfolgreichen Weg fortsetzen zu können,
brauchen wir in Deutschland nicht nur gut ausgebaute Verkehrsadern und leistungsfähige Datenautobahnen - übrigens auch im ländlichen Raum -, sondern hierfür ist auch
ein zukunftsfähiges Stromnetz auf allen Spannungsebenen notwendig. Dafür ebnen wir heute mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus
der Höchstspannungsnetze den Weg.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen,
dass besonders für den Transport von Wind- und Solarstrom der Ausbau der 110-kV-Ebene eine große Bedeutung hat. Ich will nicht verschweigen - Herr Schauerte hat
das ebenfalls ausgeführt -, dass sich die SPD dafür in vielen Verhandlungsrunden starkgemacht hat. Ich kenne die
Herausforderung vor allem deshalb besonders gut, weil
ich aus einem Land, nämlich Sachsen-Anhalt, komme,
das gelegentlich von der Bundesregierung als das Land
der erneuerbaren Energien bezeichnet wird und in dem
heute bereits 20 Prozent der Stromerzeugung durch erneuerbare Energien bereitgestellt werden.
Ich denke, es ist sehr sinnvoll, dass wir uns über den
Regierungsentwurf hinaus auf die Erdverkabelungsregelung für 110 kV einigen konnten. Ich glaube, es macht
auch Sinn, dass die Mehrkosten, die übrigens in der Zukunft von der Bundesnetzagentur anrechenbar sind, auf
den Kostenfaktor 1,6 begrenzt werden.
Gerade im Bereich der 110-kV-Ebene liegen uns zahlreiche Erfahrungswerte aus 25 Jahren vor, die wir in der
Zukunft im Blick haben müssen, um die weiteren gesetzlichen Regelungen in diesem Bereich sinnvoll zu gestalten.
Ich bin mir sicher, dass die Beschleunigung des Netzausbaus aufgrund einer höheren Akzeptanz in Bezug auf
Erdkabel gegenüber Freileitungen erfolgen kann. Mit
den vier Pilottrassen im Bereich der 380-kV-Ebene machen wir einen guten Anfang. Ich will nicht verschweigen, dass - da möchte ich an die Diskussion von eben
anschließen - die SPD sich durchaus für die Uckermarkleitung ausgesprochen hat und wir durchaus einen
Sinn in dieser Leitung als zusätzliche Pilottrasse sehen.
Regierungshandeln ist aber immer auch von Kompromissen geprägt. Das kann eine Oppositionspartei nicht
verstehen; aber Sie befinden sich ja noch in einem Lernprozess.
({4})
Ich hoffe zumindest, dass Sie sich in einem Lernprozess
befinden, Herr Hill.
({5})
- Die Hoffnung stirbt zuletzt, genau.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Windkraft auf See, die sogenannte Offshorewindkraft, ist in
Zukunft eine wichtige Säule der erneuerbaren Energien.
Nach der Offshorestrategie der Bundesregierung sollen
im Jahre 2020 10 000 Megawatt Leistung offshore installiert sein. Im Jahre 2030 können das sogar 25 000
Megawatt sein. Mit der Konkretisierung der Anbindungspflicht des Energiewirtschaftsgesetzes durch die
Bundesnetzagentur wird eine Initiative der Koalition berücksichtigt, nämlich die Erleichterung der Anbindung
von Offshoreanlagen zu gewährleisten. Dank dieser Initiative und der Konkretisierung ist es möglich, die Offshorestrategie umzusetzen und zu realisieren.
Die temporären Energiequellen Sonne und Wind stellen uns vor Herausforderungen. Wir wissen, dass wir
auch in Zukunft einen hohen Bedarf an Speicherkapazitäten und Pufferung im Gesamtnetz haben werden. Deswegen ist es eine wichtige Entscheidung, Pumpspeicherkraftwerke und andere Speicher vom Netzentgelt zu
befreien. Das ist ein bedeutender Schritt, um in Zukunft
die Speicherkapazitäten ausbauen zu können.
Um ein modernes und leistungsfähiges Stromnetz in
Deutschland zu schaffen, brauchen wir ein europäisches
Verbundnetz. Dafür legen wir heute den Grundstein.
Mit der heutigen Verabschiedung des Energieleitungsausbaugesetzes werden unabdingbare Weichen auf dem
Weg zu mehr Versorgungssicherheit, Netzstabilität und
einem kontinuierlichen Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland gestellt. Kurzum, es ist ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige, dezentrale und zukunftsweisende Energieversorgung.
({6})
Ich möchte die verbleibende Zeit nutzen, um den Kollegen Rolf Hempelmann und Herrn Dr. Pfeiffer für die außerordentlich konstruktive Zusammenarbeit zu danken.
Um mit den Worten eines Fußballfreundes zu sprechen,
lieber Rolf Hempelmann: Ich denke, die Beratungen waren ein faires Spiel mit zahlreichen Verlängerungsrunden;
aber am Ende gibt es einen Sieger, und das ist die zukünftige Energieversorgung Deutschlands.
Ganz herzlichen Dank.
({7})
Franz Obermeier hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bis vor einigen Jahren galt das bundesdeutsche Stromnetz sowohl in der Niederspannungsebene als auch in
der Hoch- und Höchstspannungsebene als vorbildlich in
Europa. Die Veränderungen in der Erzeugungsstruktur haben uns schon in den 90er-Jahren vor Augen geführt, dass ein Leitungsausbau dringend notwendig ist.
Dieser Leitungsausbau muss möglichst rasch vollzogen
werden, weil sich völlig veränderte Strukturen dadurch
ergeben, dass sich der Verbrauch überwiegend im Westen und Süden und die Erzeugung im Norden konzentriert hat. Ich kann mich an einen Fall aus den 90er-Jahren erinnern. Da hat ein Stromversorgungsunternehmen
versucht, eine Höchstspannungsleitung in SchleswigHolstein zu bauen. Nach einem zehnjährigen Prozess hat
es aufgegeben und diese Leitung nicht gebaut.
Aufgrund dieser Situation hat die Bundesregierung
einen Gesetzentwurf vorgelegt, den wir schleunigst beschließen sollten. Wir sollten möglichst alle Hemmnisse
im Vollzug ausräumen; denn in den zurückliegenden
Jahren hat sich die Situation durch die verstärkte Erzeugung von Strom über Windkraft und fossile Energien
dramatisch verändert. Wenn es wirklich so weit kommen
sollte, dass die Stromerzeugung für die Grundlast im Süden stillgelegt werden muss, dann muss jemand die
Frage beantworten, wie der hohe Stromverbrauch in
Bayern und Baden-Württemberg zumindest in der
Grundlast - dies betrifft weniger die Mittel- und Spitzenlast - gewährleistet werden soll.
({0})
Wir sollten uns nicht die Köpfe darüber zerbrechen,
wie schnell der Ausbau der Erdverkabelung stattfindet.
Klar ist - das richte ich an Sie, Herr Fell -: Jeder Leitungsbau hat einen erheblichen Eingriff in die Natur zur
Folge. Allen, die hier sehr locker davon gesprochen haben - insbesondere Herr Hill -, empfehle ich, sich einmal die Erdverkabelung in Berlin anzusehen, damit sie
wissen, welche Bauwerke in die Natur gestellt werden
müssen und dass bestimmte Streifen nicht bebaut, nicht
genutzt und nicht bepflanzt werden dürfen, weil sie unterhalten werden müssen.
Unabhängig davon müssen wir natürlich berücksichtigen, dass die Erdverkabelung erheblich teurer ist. Herr
Hill, ich habe an der gleichen Anhörung zur Erdverkabelung teilgenommen wie Sie. Ich habe nicht gehört, dass
einer der Vertreter der Protagonisten der Erdverkabelung
gesagt hätte - sie waren anwesend; selbstverständlich
möchten sie ihre Kabel verkaufen -, dass sich die bei der
Investition entstehenden Mehrkosten durch geringere
Unterhaltungskosten aufheben würden. Fest steht - das
steht auch in der Begründung des Gesetzentwurfes -,
dass wir bei der Erdverkabelung mit nicht unbeträchtlichen Mehrkosten zu rechnen haben. Deswegen ist es
sehr wohl gerechtfertigt, in Form von Pilotprojekten an
die Sache heranzugehen, um entsprechende Erfahrungen
zu sammeln.
Ich sage dies auch deswegen, weil wir, gerade was
Gleichstromleitungen betrifft, sehr geringe Erfahrungen
haben. Da ist es sehr wohl angebracht, behutsam an die
Sache heranzugehen, um nicht mehr Geld als unbedingt
notwendig zu verbrauchen. Denn das alles - darauf muss
man immer wieder hinweisen - zahlt der Verbraucher.
Herr Kollege, Sie hätten die Chance, eine Zwischenfrage des Kollegen Hill zuzulassen.
({0})
Möchten Sie das?
Selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Obermeier, ich gebe Ihnen vollkommen recht,
dass der Ausbau der Erdverkabelung teurer ist. Die Gelehrten streiten sich ja über die Schaffung eines Ausgleichs für die Wartung und die Verluste.
Sie haben hier mit Ihrem bayerischen Akzent gesprochen und geben mir doch bestimmt recht, dass es für die
Energieversorgung - insbesondere die in Bayern - wichtig wäre, dass man dort mit Windenergie endlich richtig
„pushen“ würde.
Zweiter Punkt. Sie geben mir doch bestimmt auch
vollkommen recht, dass es wesentlich weniger Einschnitte in die Natur geben würde, wenn wir mit HGÜLeitungen arbeiten würden. Wir könnten die vorhandenen Leitungen entsprechend optimieren. Durch ein Temperaturmonitoring könnten wir wesentlich mehr Strom
über die vorhandenen Netze leiten. Warum setzen wir
denn nicht dort an?
Ich gebe Ihnen insofern recht, als die HGÜ-Leitungen, nach allem, was wir jetzt wissen, hinsichtlich des
gesamten Unterhaltungsaufwandes erheblich günstiger
sind. Bei den Gleichstromleitungen haben wir aber so
gut wie keine Erfahrungen hinsichtlich großer Übertragungsnetze.
({0})
Das führt uns dazu, zu sagen: Das probieren wir.
Herr Hill, ich habe mir bei Ihrer Rede im Übrigen notiert, dass Sie meinen, wir sollten in Bayern auf Windkraft setzen. Dafür müssten Sie schon den Wind dorthin
bringen.
({1})
Wenn Sie es mit Ihrer linken Politik schaffen, dass der
Wind in Bayern so wie in der norddeutschen Tiefebene
oder an der Nordsee- oder Ostseeküste bläst, dann bauen
wir die Windkraftanlagen auch in Bayern, ohne dass wir
unser schönes Land dort verschandeln.
({2})
Herr Kollege, es gibt einen weiteren Wunsch, eine
Zwischenfrage zu stellen, und zwar den des Kollegen
Hans-Josef Fell. Möchten Sie die auch noch zulassen?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön. Das wird hier jetzt quasi ein Bayern-Duell.
Herr Kollege Obermeier, ich spreche von Bayer zu
Bayer oder von Franke zu Bayer.
Das ist auch Bayern.
Ist Ihnen bekannt, dass mit den modernen großen
Windrädern, die eine Nabenhöhe von über 120 Meter
haben, auch in Bayern 90 Prozent des Windangebotes
geerntet werden können, das mit der gleichen Anlage an
der norddeutschen Küste geerntet werden kann? Es gibt
beim Windangebot Bayerns nur einen kleinen, zehnprozentigen Unterschied im Vergleich mit dem der norddeutschen Tiefebene.
({0})
Dass dies nicht ausgenutzt wird, liegt an einer verfehlten
Genehmigungspraxis in Bayern, wo vielfach nur Nabenhöhen bis 100 Meter zugelassen werden, wodurch man
eben nicht in der Lage ist, das hohe bayerische Windangebot ausnutzen zu können.
Stimmen Sie nicht mit mir überein, dass wir diese Genehmigungspraxis in Bayern endlich beenden sollten,
damit auch dort der CO2-freie Strom der Windkraft endlich stark ausgebaut werden kann? Das entsprechende
Windpotenzial ist sehr wohl vorhanden.
({1})
Herr Fell, ich stimme Ihnen überhaupt nicht zu. Wenn
Sie sich den Windatlas von Bayern anschauen - unabhängig von Nabenhöhen, neuen Techniken und Ähnlichem - und ihn mit dem Windkataster für die norddeutsche Tiefebene und die Nordsee vergleichen, dann sehen
Sie auch als Laie, dass hier völlig andere Verhältnisse
gelten.
({0})
Im Übrigen will ich Ihnen Folgendes sagen: Ich
kenne sehr viele Regionen in Bayern - im Übrigen auch
in Ihrem schönen Franken -, die es sich überhaupt nicht
vorstellen können, dass Windkraftanlagen mit hohen Nabenhöhen und großen Durchmessern bei ihnen errichtet
werden. Sie wollen das nicht und setzen auf andere
Dinge.
({1})
Stromtrassen sind etwas anderes als Windparks im schönen Frankenland. Viele Leute wollen das nicht, und wir
richten uns schon nach dem Nutzen und dem Schaden.
Das ist für meine Begriffe die richtige Politik.
({2})
Zum Abschluss noch ein paar Sätze zu Ihnen, Herr
Hill, weil Sie sich über die Gesundheit und den Schutz
der Gesundheit der Menschen ausgelassen haben.
({3})
Ich weiß, dass Sie Saarländer sind, und ich werfe Ihnen
Ihren Dialekt nicht vor, aber wenn Sie studieren wollen,
wie man den Schutz der Gesundheit der Menschen missachten kann, dann führen Sie sich vor Augen, was im
Ursprungsland Ihrer kommunistischen Partei stattgefunden hat.
({4})
Ich habe 1990 in ein paar Gemeinden in der Nähe von
Lauchhammer gesehen, wie man im kommunistischen
Ursprungssystem mit der Gesundheit der Menschen umgegangen ist. Sie sollten dieses Beispiel nicht bringen. In
Deutschland wird auf die Gesundheit der Menschen sehr
wohl Rücksicht genommen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Als Thüringerin stelle ich fest, dass hier Dialekte jeder Art erlaubt sind, soweit sie für andere verständlich
bleiben.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Be-
schleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze.
Zur Abstimmung liegen drei Erklärungen nach § 31 un-
serer Geschäftsordnung vor, und zwar von den Kollegen
Dr. Hans Georg Faust, Hans Peter Tuhl und Jochen-
Konrad Fromme.1)
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt unter Nr. 1 Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12898, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10491 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der FDP vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Ände-
rungsantrag auf Drucksache 16/12901? - Die Gegen-
stimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Ände-
rungsantrag bei Zustimmung durch die einbringende
Fraktion, bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und Ablehnung im übrigen Haus abgelehnt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustim-
1) Anlage 2
mung durch CDU/CSU, SPD und FDP, Gegenstimmen
der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke
sowie einer Gegenstimme aus den Reihen der SPD und
einer Enthaltung aus den Reihen der SPD angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wer für diesen Gesetzentwurf
ist, möge sich bitte erheben. - Die Gegenstimmen? - Die
Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-
vor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/12902. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
- Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Entschließungsantrag bei Zustimmung durch Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke bei Ge-
genstimmen im übrigen Haus abgelehnt.
Unter Nr. 1 Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/12898 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Damit ist die Entschließung bei Zustimmung
durch die Koalition angenommen. Dagegen hat die Frak-
tion Die Linke gestimmt. Die Fraktion der FDP hat sich
enthalten.
Wir setzen jetzt die Abstimmungen zu der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 16/12898 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/10842 mit dem Titel „Stromübertra-
gungsleitungen bedarfsgerecht ausbauen - Bürgerinnen-
und Bürgerbeteiligung sowie Energiewende umfassend
berücksichtigen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch
CDU/CSU, SPD und FDP bei Gegenstimmen der Frak-
tion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/10590 mit dem Titel „Stromnetze zu-
kunftsfähig ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch
CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Dagegen hat
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Wir kommen nun zu Nr. 4 der Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu der
Entschließung des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit unter Ziffer II auf Druck-
sache 16/9477. Die Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen haben im Ausschuss der vorgeschla-
genen Erledigterklärung widersprochen, sodass wir inso-
weit nicht über die Beschlussempfehlung abstimmen. In-
terfraktionell wird Abstimmung in der Sache über den
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Entschließungsvorschlag des Ausschusses für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit gewünscht. Wer
stimmt für den Entschließungsvorschlag des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dafür stimmen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, dagegen stim-
men CDU/CSU, SPD und FDP, Enthaltungen gibt es
keine. Dann ist der Entschließungsvorschlag abgelehnt.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 38 a bis e so-
wie 38 g bis l sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 j auf:
38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und
der Landschaftspflege
- Drucksache 16/12785 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Wasserrechts
- Drucksache 16/12786 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Schutzes vor nichtionisierender Strahlung
- Drucksache 16/12787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
- Drucksache 16/12788 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Satzung vom 26. Januar 2009 der Internationalen
Organisation für erneuerbare Energien
- Drucksache 16/12789 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes
- Drucksache 16/12853 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
HIV/AIDS-Forschung vorantreiben
- Drucksache 16/11673 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Ausschuss für Gesundheit
i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2008 - Vorlage der Haushaltsund Vermögensrechnung des Bundes - ({9})
- Drucksache 16/12620 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verbraucherinformationsgesetz umgehend
überarbeiten
- Drucksache 16/12847 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({11}), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Einführung einer Positivliste zur Haltung von
Tieren im Zirkus
- Drucksache 16/12864 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, Winfried
Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Carsharing-Stellplätze baldmöglichst privilegieren
- Drucksache 16/12863 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 4a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen
im Strafverfahren ({14})
- Drucksache 16/12812 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({15})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk
- Drucksache 16/12854 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({16})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus
- Drucksache 16/12855 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({17})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({18}), Ekin
Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Streichung des Optionszwangs aus dem Staatsangehörigkeitsrecht
- Drucksache 16/12849 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Frank Schäffler, Michael Kauch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Steuerprivilegien öffentlich-rechtlicher Unternehmen abschaffen - Fairen Wettbewerb auch
in der Abfallwirtschaft ermöglichen
- Drucksache 16/5728 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({20})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Detlef Parr, Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Datei „Gewalttäter Sport“ auf verfassungsmäßige Grundlage stellen
- Drucksache 16/11752 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({21})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Thilo Hoppe, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Milch-Exportsubventionen sofort stoppen Weitere Zerstörung der Märkte in Entwicklungsländern verhindern
- Drucksache 16/12308 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({22})
Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Max Stadler, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gemeinsames Internetzentrum auf gesetzliche
Grundlage stellen
- Drucksache 16/12471 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({23})
Rechtsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({24}), Gisela Piltz, Dr. Max
Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Europarechtskonformes und nachvollziehbares Nachzugsrecht schaffen - Metock-Urteil
des EuGH sofort gesetzlich verankern
- Drucksache 16/12732 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({25})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Marie-Luise Dött, Peter Bleser, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Mechthild Rawert,
Christoph Pries, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Delfinschutz voranbringen
- Drucksache 16/12868 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Es handelt sich hier um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zu den Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 39 a:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung und anderer
Gesetze
- Drucksache 16/8696 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({27})
- Drucksache 16/12896 Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Dr. Carl-Christian Dressel
Christine Lambrecht
Mechthild Dyckmans
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12896, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/8696 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer möchte für den Gesetzentwurf stimmen? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland, Bonn
- Drucksache 16/12229 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({28})
- Drucksache 16/12829 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Swen Schulz ({29})
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12829, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 16/12229 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP angenommen. Gegenstimmen gab es keine.
Enthalten haben sich die Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, bitte ich, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis
wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
6. November 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiete der Erbschaftsteuern bei Erbfällen, in denen der Erblasser nach dem 31. Dezember 2007 und vor dem 1. August 2008 verstorben ist
- Drucksache 16/12236 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({30})
- Drucksache 16/12899 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({31})
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12899, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12236 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Absicherung von Zivilpersonal in internationalen Einsätzen zur zivilen Krisenprävention
- Drucksache 16/12595 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- Drucksache 16/12889 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Uta Zapf
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller ({1})
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12889, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/
12595 anzunehmen. Ich möchte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen bitten. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmt, möge sich bitte erheben. - Die Gegenstimmen? Die Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 e:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Frank Schäffler, Martin Zeil, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Interventionistische Industriepolitik bei der
Verwertung von indirektem Bundesvermögen
wie der Deutschen Postbank AG wirksam unterbinden
- Drucksache 16/8411 Wer stimmt für diesen Antrag? - Die Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Antrag gegen die Stimmen der Fraktionen FDP und Bündnis 90/Die Grünen
mit den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 39 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Petra Sitte,
Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Energieverbrauch von Computern senken
- Drucksachen 16/8374, 16/9089 Berichterstattung:
Abgeordnete Kerstin Andreae
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9089, den Antrag auf Drucksache 16/8374 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 39 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Katrin Kunert, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Fördergelder nur als Unternehmensbeteiligung
- Drucksachen 16/8177, 16/9090 Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9090, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/8177 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Tarifflucht verhindern - Geltung des Günstigkeitsprinzips bei Betriebsübergängen nach
§ 613 a BGB sicherstellen
- Drucksachen 16/10828, 16/11984 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Pothmer
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11984, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/10828 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Dagegen haben die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen gestimmt. Es gab keine Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 39 i:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({5})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen
Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Ausschuss der Regionen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ein aktualisierter strategischer Rahmen für
die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung
({6})
({7})
KOM({8}) 865 endg.; Ratsdok. 17535/08
- Drucksachen 16/11819 Nr. A.28, 16/12827 Berichterstattung:
Abgeordnete Carsten Müller ({9})
Willi Brase
Patrick Meinhardt
Cornelia Hirsch
Priska Hinz ({10})
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Die
Linke hat dagegengestimmt. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkte 39 j bis 39 q. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 39 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 553 zu Petitionen
- Drucksache 16/12701 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 554 zu Petitionen
- Drucksache 16/12702 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 555 zu Petitionen
- Drucksache 16/12703 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Die Linke hat
dagegengestimmt. Bündnis 90/Die Grünen haben sich
enthalten.
Tagesordnungspunkt 39 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 556 zu Petitionen
- Drucksache 16/12704 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 557 zu Petitionen
- Drucksache 16/12705 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des übrigen
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 558 zu Petitionen
- Drucksache 16/12706 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und FDP. Dagegengestimmt hat die Fraktion Die Linke. Bündnis 90/Die
Grünen haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 39 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 559 zu Petitionen
- Drucksache 16/12707 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Dagegen haben
die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
gestimmt. Enthaltungen gab es nicht.
Tagesordnungspunkt 39 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 560 zu Petitionen
- Drucksache 16/12708 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD angenommen. Dagegen haben die
übrigen drei Fraktionen gestimmt.
Zusatzpunkt 5 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Grütters, Wolfgang Börnsen ({19}), Peter
Albach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU, der Abgeordneten Steffen Reiche
({20}), Monika Griefahn, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Joachim
Otto ({21}), Christoph Waitz, Burkhardt
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Schutz des Klosters Mor Gabriel sicherstellen
- Drucksache 16/12866 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 b:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Cornelia
Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Dauerhaften Schutz des Klosters Mor Gabriel
sicherstellen
- Drucksache 16/12848 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses ablehnt.
Zusatzpunkt 5 c:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth ({22}), Ekin Deligöz, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz des Klosters Mor Gabriel sicherstellen
- Drucksache 16/12867 -
Hierzu liegt eine Erklärung zur Abstimmung der Kol-
leginnen Claudia Roth und Dr. Thea Dückert vor.1) Eine
weitere Erklärung der Kollegin Luc Jochimsen wird
mündlich vorgetragen. Die mündliche Erklärung werden
wir nach der Abstimmung hören.
Jetzt bitte ich diejenigen, die für diesen Antrag stimmen wollen, die Hand zu heben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Antrag gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen
abgelehnt. Die FDP hat sich enthalten.
Frau Jochimsen, bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe dem Antrag der Koalitionsfraktionen zuge-
stimmt, weil er wichtig und richtig ist und obwohl ich
mich und die Arbeit meiner Fraktion durch diesen An-
trag auf das Äußerste diskriminiert sehe. Ich habe zuge-
stimmt, obwohl der Antrag der Koalitionsfraktionen ur-
sprünglich von mir initiiert und zum großen Teil verfasst
worden ist, nachdem ich mich zusammen mit den Kolle-
ginnen Claudia Roth und Monika Griefahn im Kloster
Mor Gabriel erkundigt habe.
Ich habe dem Antrag zugestimmt, weil wir uns in der
Sache vollkommen einig sind. Die Koalitionsfraktionen
1) Anlage 3
haben ja durch die Einladung an FDP und Bündnis 90/
Die Grünen den fraktionsübergreifenden Charakter des
Antrags betont. Ich frage mich allerdings: Warum werden wir ausdrücklich ausgeschlossen? Warum wurde ein
vollkommen gleichlautender Antrag von uns, der sich in
nichts von dem Antrag der Großen Koalition unterscheidet, in diesem Hause abgelehnt? Ich habe dem Antrag
zugestimmt, obwohl ich mich frage, welche parlamentarische Kultur hier eigentlich zum Ausdruck kommt.
Wieso grenzt man diejenigen aus, deren Idee und Text
man sich zu eigen macht? Die drei Anträge hätten gut einer sein können, gerade um der Hilfe für Mor Gabriel
willen. Ein schlechtes Schauspiel.
({0})
Zusatzpunkt 5 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und
zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 2006/
2004 über die Zusammenarbeit zwischen den
für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden
({2})
({3})
KOM({4}) 817 endg.; Ratsdok. 16933/08
- Drucksachen 16/11721 Nr. A.10, 16/12897 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer ist für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Dagegen
gestimmt hat niemand. Enthalten haben sich Bündnis 90/
Die Grünen und die Fraktion Die Linke.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Gemeinsam gegen Gewalt - Ächtung der Ausschreitungen und schweren Gewaltstraftaten
am 1. Mai
Das Wort als erster Redner in dieser Debatte hat der
Kollege Hartmut Koschyk für die CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU-Fraktion hat auf der Durchführung dieser
Aktuellen Stunde bestanden, weil es für uns nicht erklärbar und nicht akzeptabel wäre, wenn sich die Menschen
in ganz Deutschland über die Eskalation der Gewalt am
1. Mai hier in Berlin und anderenorts zu Recht empören,
im Deutschen Bundestag aber kein Wort darüber verloren wird.
({0})
Deshalb ist es richtig, dass diese Aktuelle Stunde heute
stattfindet.
Gestern Abend hat die Berliner Polizei das traurige
vorläufige Resümee dieser Maikrawalle mitgeteilt: Insgesamt wurden 479 Polizeibeamte zum Teil schwer verletzt. 27 von ihnen sind bis heute nicht wieder dienstfähig. An Verletzungen haben die Polizeibeamten schwere
Prellungen erlitten; sie haben schwere Hämatome an den
Beinen und am Oberkörper, verursacht durch Treffer von
Wurfgeschossen. Die schwereren Verletzungsbefunde
reichen von Bänderrissen am Fuß über Kopfplatzwunden, Brüche, Augenverletzungen durch Glassplitter bis
hin zu Knalltraumata durch Böller.
Den verletzten Polizistinnen und Polizisten und ihren
Angehörigen gehört unser Mitgefühl. Wir danken ihnen
dafür, dass sie hier in Berlin und anderenorts, Leib und
Leben gefährdend, ihren Dienst für Rechtsstaatlichkeit
und Demokratie geleistet haben.
({1})
Wir danken der Berliner Staatsanwaltschaft, die klar
ausspricht, was Sache ist, und Verfahren wegen versuchten Mordes eröffnet. Ich sage sehr deutlich: Wir hätten
uns eine so klare Benennung der Sachverhalte nicht nur
von der Berliner Staatsanwaltschaft, sondern auch von
anderen, von den politisch Verantwortlichen, gewünscht.
({2})
Es ist der Kernauftrag moderner Staatlichkeit, Gewalt
und vor allem die Eskalation von Gewalt durch das staatliche Gewaltmonopol verlässlich zu unterbinden. Im
Rechtsstaat darf es keine rechtsfreien Räume geben. Die
Demokratie, der Rechtsstaat darf den öffentlichen Raum
auch nicht ansatzweise extremistischer Randale überlassen.
({3})
Es ist völlig egal, ob bei solchen Eskalationen und Gewaltausbrüchen rechte oder linke Parolen gebrüllt werden: Gewalteskalationen dieser Art müssen mit allen legitimen Mitteln des Rechtsstaates entschieden bekämpft
werden.
({4})
Es ist interessant, sich die Biografien und Lebensläufe
derjenigen, deren Identität bei den Aufgriffen und Verhaftungen festgestellt wurde, anzusehen. Die wenigsten
sind Berliner; es sind Gewalttouristen und Chaoten, die
aus der ganzen Republik zusammenkommen und meinen, den 1. Mai für eine solche Eskalation der Gewalt
missbrauchen zu dürfen.
({5})
Wir müssen aber auch diejenigen zur Verantwortung
ziehen, die solche Demonstrationen mit anmelden und
befürworten. Das gilt auch für Kirill Jermak, der für die
Linke Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung ist
und diese Demonstration angemeldet hat.
({6})
Verehrte Frau Kollegin Lötzsch - Sie werden ebenfalls in dieser Aktuellen Stunde sprechen -, Sie können
es sich nicht so einfach machen, lapidar festzustellen, die
Anmeldung dieser Demonstration durch Herrn Jermak
sei dessen Privatangelegenheit gewesen und es handele
sich um einen noch sehr jungen Mann, mit dem man
jetzt mal richtig reden müsse.
Dieser junge Mann ist 21 Jahre alt. Er ist von Ihrer
Fraktion aufgestellt worden und Mitglied einer Bezirksverordnetenversammlung in Berlin. Sie können dessen
Agitation im Hintergrund nicht als die Privatsache eines
verirrten jungen Menschen abtun, der erst auf den richtigen Weg gebracht werden muss.
({7})
Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Ich habe in Spiegel
Online vom 24. April dieses Jahres ein interessantes Zitat von Oskar Lafontaine gefunden: „Wenn die französischen Arbeiter sauer sind, dann sperren sie Manager mal
ein.“ Dann sagt er weiter: Das würde ich mir auch hier
wünschen.
({8})
Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kommen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
wer einen Vorturner hat, der solche Äußerungen macht,
der muss sich nicht wundern, wenn manche aus Ihren Reihen meinen, Demonstrationen anmelden zu müssen,
Herr Kollege.
- die in einem solchen Gewaltchaos enden wie am
1. Mai dieses Jahres in Berlin.
({0})
Markus Löning hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Lassen Sie mich mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin,
einige Aussagen von beteiligten Polizisten zitieren. Zwei
Polizisten der Bereitschaftspolizei Hamburg haben Folgendes vorgetragen:
Die Nacht des 1. Mai in Kreuzberg gehört mit zu
den schlimmsten Einsätzen unserer Laufbahn.... Es
flogen Steine und Flaschen. Vor uns waren Berliner
Kollegen, die in kleinen Gruppen vorgehen mussten. Das war wie ein Opfergang. Die hatten keine
Rückendeckung, wurden von allen Seiten beworfen. Uns fehlten die Wasserwerfer. Es gab keinen
Schutz an den Flanken. Neben mir fielen Kollegen
um, die von Wurfgeschossen getroffen wurden …
Feuerwerksraketen wurden auf uns abgeschossen…
Der Einsatz in Berlin war eine Frechheit. Wir wurden verheizt. Die Festnahmen sind kein Erfolg. Sie
sind wegen der Planlosigkeit und der Inkonsequenz
der Polizeiführung teuer erkauft.
Ein weiterer Polizist:
Wir kamen uns vor wie ein Bauernopfer … Die
Stimmung auf der Demo war aufgeladen, bald flogen die ersten Steine und Flaschen. Über Funk riefen Kollegen bereits um Hilfe, doch es gab die Anweisung, keine Festnahmen zu machen … Kollegen
von mir flüchteten über einen Zaun, ich habe es
nicht geschafft und rannte um mein Leben.
Ein anderer Polizist:
Als der Umzug bei uns auftauchte, wurden wir sofort bespuckt, beleidigt, beworfen, bedroht. Plötzlich flogen Steine auf uns … Der Einsatzleiter gab
den Befehl: Umzug passieren lassen! Keine Festnahmen! Wir waren entsetzt. Die Straftäter marschierten an uns vorbei und lachten uns aus. Verletzte Kollegen wurden nach 20 bis 30 Minuten
behandelt …
Die Feuerwehr musste warten. Weiter sagt dieser Polizist:
Die Polizei hat an diesem Tag rechtsfreie Räume
zugelassen … Ich habe keine Lust mehr, für politische Idioten den Hampelmann zu spielen!
({0})
Ich könnte weitere Zitate vortragen. Das, was wir hier
hören, ist erschütternd. Es ist die Frage nach der politischen Verantwortung zu stellen. Es ist ganz klar, wer
hier die politische Verantwortung trägt: Das ist der Berliner Innensenator.
({1})
Er hat dieses verfehlte Einsatzkonzept zu vertreten. Wir
hören, dass 479 Kolleginnen und Kollegen von der Polizei verletzt sind. Ich möchte von dieser Stelle aus diesen
Kolleginnen und Kollegen die besten Genesungswünsche übermitteln.
({2})
Ich möchte all denjenigen Polizisten Anerkennung aussprechen, die an diesem sehr schweren Einsatz teilgenommen haben.
Eines ist klar: Die Gewalttäter meinen uns alle. Sie
zielen auf Demokratie, sie zielen auf Rechtsstaatlichkeit,
und sie zielen auf Freiheit. Was wir dort erleben mussten, ist ein Angriff auf unseren freiheitlichen Rechtsstaat
und offenbart ein menschenverachtendes Denken.
({3})
Wer Steine wirft, wer in Kauf nimmt, dass Menschen
verletzt werden, und wer letzten Endes das Risiko eingeht, dass Menschen getötet werden, offenbart totalitäres
Denken. Dem treten wir mit aller Entschiedenheit entgegen.
({4})
Frau Lötzsch, Sie kommen hier nicht so billig davon.
Es ist mir unverständlich, dass Sie mit großer Empörung
auf die Straße gehen, wenn Rechtsradikale Gewalt ausüben; Sie empören sich zu Recht darüber. Aber was machen Sie, wenn ein Mitglied und ein Mandatsträger Ihrer
Partei nicht nur eine solche Versammlung anmeldet, wissend, was dann dort passieren wird, sondern das hinterher auch noch legitimiert? Er sagte im Fernsehen: Es ist
schade, wenn Unbeteiligte betroffen sind. - Was heißt
denn das? Das heißt doch, dass er es in Ordnung findet,
wenn Polizisten verletzt werden. Ich frage mich, wie die
Linkspartei damit leben kann und umgehen will. Sie
wollen nun ein pädagogisches Gespräch mit diesem
Mann führen. Das ist doch nicht in Ordnung.
({5})
In Ordnung wäre es gewesen, wenn Sie gesagt hätten:
Der Mann fliegt aus unserer Partei. - Das wäre eine
deutliche Distanzierung gewesen. Ich vermisse Ihre Distanzierung von diesem totalitären und menschenverachtenden Denken in Ihrer Partei.
Wir, die Liberalen, verteidigen unseren Rechtsstaat.
({6})
Wir stellen uns gegen jeden - egal ob Gewalt und totalitäres Denken mit rechten oder linken Parolen verbrämt
werden -, der den Rechtsstaat, die Freiheit und die Demokratie angreift. Ich fordere alle anderen Demokraten
auf, dies ebenfalls zu tun und ohne Unterschied Gewalt
und Angriffe auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu verurteilen.
Vielen Dank.
({7})
Sebastian Edathy spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich vor
dem Hintergrund der beiden bereits erfolgten Debattenbeiträge zwei Vorbemerkungen machen. Erstens. Ich
glaube, es wäre dem Thema nicht angemessen, wenn wir
nun dazu übergingen, es parteipolitisch zu instrumentalisieren.
({0})
Zweitens. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken,
dass der Bundestag aus 612 potenziellen Demonstrationseinsatzführern besteht. Ich habe grundsätzlich Vertrauen darin, dass diejenigen, die in der Exekutive und in
leitender Polizeifunktion tätig sind, ihrer Verantwortung
durchaus gerecht werden.
({1})
Man sollte ihnen nicht Böswilligkeit oder Fahrlässigkeit
unterstellen.
Gemeinsam gegen Gewalt, so lautet der Titel der heutigen Aktuellen Stunde. Dieser Satz gilt nicht nur mit
Blick auf den 1. Mai, sondern 365 Tage im Jahr. Man
muss im Zusammenhang mit dieser Diskussion zwei
Dinge klar im Auge behalten. Erstens. Die Demonstrationsfreiheit ist ein fundamentales Grundrecht. Zweitens.
Selbst wenn es manchmal schwerfällt - mir fällt es oft
schwer, das zu bejahen -: Dazu gehört, dass auch Extremisten zunächst einmal Grundrechtsträger sind. Die
Wahrnehmung der Grundrechte findet natürlich ihre Beschränkung dort, wo die Rechte anderer verletzt werden.
Das hat am 1. Mai in Hannover dazu geführt, dass eine
Demonstration wegen zu erwartender massiver Gewalttätigkeit aus den Reihen von Rechtsextremisten - wie
ich finde: völlig zu Recht - verboten wurde.
({2})
- Darüber entscheiden nicht die Landesregierungen,
sondern die Gerichte in unserem Land.
({3})
Für Berlin gilt: Das Geschehen vom 1. Mai sollte zum
Anlass genommen werden, künftig möglicherweise
ebenso zu verfahren, zumindest aber strengere Auflagen
zu machen.
({4})
Mehr als 100 Bundespolizisten wurden am 1. Mai in
der Hauptstadt verletzt. Diese Beamten und ihre Länderkollegen stehen für das Gewaltmonopol des Staates ein.
Es ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker,
sicherzustellen, dass sie diese Aufgabe unter zumutbaren
Bedingungen erfüllen können.
({5})
Die Polizei schützt den Rechtsstaat, und sie hat umgekehrt einen Anspruch darauf, durch den Rechtsstaat geschützt zu werden.
({6})
Die Verantwortung für ein friedliches Demonstrationsgeschehen liegt, was das Verhalten der Demonstranten betrifft, in erster Linie bei den Veranstaltern.
Aufgabe der Polizei ist es im Wesentlichen, Störungen
von außen zu verhindern. Bei Anhaltspunkten dafür,
dass sich gewaltbereite Teilnehmer an einer Demonstration beteiligen wollen, sind Vorkontrollen von Demonstrationsteilnehmern unabdingbar, um zum Beispiel das
Mitführen gefährlicher Gegenstände zu verhindern. Die
Veranstalter müssen für Ordnungskräfte sorgen, die ordnungsgemäße Zustände im Demonstrationszug gewährleisten. Sie müssen sich von gewaltbereiten Demonstranten eindeutig und unmissverständlich distanzieren.
Einen Bedarf an Gesetzesänderungen, wie er zum Teil
im Hamburger Senat gesehen wird, kann ich nicht erkennen, wohl aber einen Bedarf dafür, das geltende Recht
tatsächlich zur Anwendung zu bringen. Klar ist: Wer einen Polizisten angreift, greift das Gemeinwesen insgesamt an.
({7})
Der bestehende Strafrahmen reicht allerdings für die
Ahndung solcher Straftaten völlig aus.
({8})
Wichtig erscheint mir, die gerichtliche Aburteilung zeitnah erfolgen zu lassen. Dazu ist es nicht zuletzt erforderlich, dass vor Ort eine ausreichende Zahl an Staatsanwälten vorhanden ist.
Sorge macht mir, dass wir am 1. Mai in Dortmund,
aber auch im Nachgang zu einer Neonazidemonstration
in Dresden am 14. Februar gewaltsame Übergriffe von
Rechtsextremisten erleben mussten. Wir hatten es mit
marodierenden Banden zu tun, die zum Teil auf der Anreise oder der Abreise zu oder von einer Demonstration
waren. Es gehört zur Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze dazu, dass wir die Polizei in die Lage versetzen,
solche umherziehenden Gruppierungen stärker zu beobachten und im Einzelfall auch zu begleiten.
1 937 Personen wurden nach der jüngst vorgestellten
Polizeilichen Kriminalitätsstatistik im Jahr 2008 Opfer
von politisch motivierten Körperverletzungen. Lassen
Sie mich für meine Fraktion zwei Dinge unmissverständlich sagen:
Erstens. Diese Zahlen - auch die Zahl der Opfer, die
wir im Nachgang dieser unsäglichen Demonstration vom
1. Mai in Berlin feststellen mussten - sind Realität. Aber
wir dürfen niemals dazu kommen, diese Zahlen als Normalität zu betrachten.
({9})
Zweitens. Wir feiern in diesem Jahr das 60-jährige
Bestehen unserer Verfassung. Es gilt, immer wieder dafür zu sorgen, dass die Grundsätze unserer Demokratie
verteidigt und auch durchgesetzt werden können. Dazu
gehört zuallererst die Unantastbarkeit der menschlichen
Würde. Dazu gehört auch, die Versammlungsfreiheit
nicht einzuschränken, aber zugleich, ihren Missbrauch
nicht zuzulassen. Das gilt in diesem Land nicht nur am
1. Mai. Das gilt in diesem Land an jedem Tag.
({10})
Dr. Gesine Lötzsch hat jetzt für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir führen hier eine Debatte, die eigentlich in
das Berliner Landesparlament gehört.
({0})
Aber ich habe nach den Beiträgen der Abgeordneten von
CDU/CSU und FDP den Eindruck, dass nicht nur der
Bild-Zeitung, sondern auch einigen politischen Vertretern diese Unruhen und Krawalle wie gerufen kommen.
({1})
Stellen Sie sich doch nur einen Moment vor, es hätte
diese Ausschreitungen nicht gegeben! Dann hätten wir
heute über die Sicherung von Arbeitsplätzen bei Opel,
die Forderung der Gewerkschaften und der Linken nach
einem dringend notwendigen 100-Milliarden-Euro-Konjunkturprogramm,
({2})
die Forderung unserer Fraktion nach einer Millionärsabgabe oder über die gewalttätigen Ausschreitungen der
Nazis gegen friedliche Demonstranten am 1. Mai in der
gesamten Bundesrepublik sprechen müssen.
({3})
Um es ganz klar zu sagen: Die Linke ist gegen Gewalt. Das weiß jedes Kind; aber ich sage es hier noch
einmal ganz deutlich.
({4})
Wir sind gegen Gewalt gegen Demonstranten, wir sind
gegen Gewalt gegen Polizisten, und wir sind natürlich
auch gegen Gewalt gegen Unbeteiligte. Wir, Die Linke,
sind sogar die einzige Partei im Bundestag, die Gewalt
als Mittel der Politik weder im Inland noch im Ausland
billigt. Sie lehnt Gewalt strikt ab.
({5})
Die Bild-Zeitung forderte nun - das klang in der Debatte schon an -, dass man den Anmelder der 1.-MaiDemo sofort wegsperren solle. Damit zeigen die BildZeitungsredakteure, dass sie das Grundgesetz nicht kennen.
({6})
Ich darf Ihnen Art. 8 des Grundgesetzes zitieren:
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
versammeln.
({7})
Die Anmeldung einer 1.-Mai-Demonstration ist also beileibe kein Grund, jemanden einzusperren, wie es die
Bild-Zeitung gefordert hat, sondern ein Grundrecht, das
in unserem Grundgesetz festgelegt ist.
({8})
Der 21-jährige Kirill Jermak hat diese Demonstration
weder im Auftrag noch mit Wissen von Gremien der
Partei Die Linke angemeldet.
({9})
Aber, verehrter Kollege Löning, wir lassen uns von der
FDP nicht vorschreiben, ob wir jemanden aus unserer
Partei ausschließen, um das ganz klar zu sagen.
({10})
Herr Jermak hat einen Fehler gemacht, weil er sich so
verhalten hat, wie es unsere politischen Gegner gewollt
haben, um von den Problemen in unserem Land abzulenken. Er hat für eine Demonstration Verantwortung übernommen, die er nicht tragen konnte. Das ist der Fehler,
den er gemacht hat. Ich sage Ihnen aber noch einmal klar
und deutlich: Wir lassen uns hier im Bundestag keine
Parteiausschlussdebatten aufzwingen. Da sind Sie an der
völlig falschen Adresse.
({11})
Ein Skandal sind die Überfälle am 1. Mai in Dortmund, Rotenburg und vielen anderen Städten auf friedliche Demonstranten.
({12})
In der Dortmunder Innenstand gingen 300 Neonazis mit
Holzstangen und Steinen auf Teilnehmer einer DGBKundgebung los. In Berlin demonstrierten Bürger friedlich und erfolgreich gegen eine Demonstration der NPD
in Treptow-Köpenick.
({13})
Abgeordnete der Linken waren vor Ort und berichteten
über die Brutalität des Polizeieinsatzes.
({14})
Es ist für mich völlig unverständlich, dass der Aufstand
der Anständigen, der so oft gefordert wird, niedergeknüppelt wird, um die Demonstration einer verfassungsfeindlichen Partei zu schützen.
({15})
Hier gebe ich nicht allein der Polizei die Schuld, sondern
auch denjenigen, die sich seit Jahren gegen ein Verbotsverfahren gegen die NPD stellen. Wir brauchen das Verbotsverfahren jetzt. Dann gibt es nicht solche Situationen, in die auch die Polizei getrieben wird.
({16})
Ich kann Ihnen den Artikel Lob der Unruhe von
Heribert Prantl aus der Süddeutschen Zeitung vom letzten Wochenende empfehlen. - Herr Kauder, melden Sie
sich doch zur Debatte, und rufen Sie nicht immer dazwischen. Sie sind immerhin Fraktionsvorsitzender. - Das
Zitat von Herrn Prantl lautet:
Ordnung ist gut, Freiheit ist schlecht. Das klingt
noch heute in den politischen Debatten durch, mit
denen neue Sicherheitsgesetze begründet werden;
({17})
die Beschränkung der Freiheitsrechte soll mehr Sicherheit bringen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht,
Unruhe eine Pflichtverletzung.
Ich warne alle davor, die sinnlosen und brutalen Krawalle am 1. Mai zum Vorwand zu nehmen, um die Menschen einzuschüchtern. Die fernsehgerechten Bilder, die
in den Tagen davor herbeigewünscht und heimlich herbeigeschrieben wurden,
({18})
die brennenden Mülltonnen und Autos werden von Ihnen instrumentalisiert, um die Menschen davon abzuhalten, ihre Bürgerrechte in Anspruch zu nehmen.
({19})
- Ich kann es wiederholen, damit es sich alle merken:
Die Linke ist für friedliche Mittel, für friedliche Veränderung der Gesellschaft. Da können Sie noch so viel
brüllen. Sie werden nicht verhindern können, dass wir
diese Position immer und immer wieder vertreten.
({20})
Die Forderung, jemanden, der das Grundrecht in Anspruch nimmt,
({21})
Demonstrationen anzumelden, einzusperren, ist absurd.
Wir als Linke werden das Grundgesetz weiter gegen Angriffe verteidigen.
({22})
Auch das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut, das gerade in Krisenzeiten genutzt und verteidigt werden muss.
({23})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche uns noch eine erfreuliche Debatte.
({24})
Die Kollegin Dr. Kristina Köhler hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Gewalttaten am 1. Mai waren keine Überraschung, sie waren vorher angekündigt. Überrascht
schauten nur die, die sich eigentlich um die Sicherheit in
der Stadt hätten kümmern sollen.
({0})
Auf jeden Fall hat sich eines erneut bestätigt: Diese Extremisten beantworten das Prinzip der ausgestreckten
Hand mit dem Prinzip des ausgestreckten Mittelfingers.
Diese Menschen mögen unser Land hassen, sie mögen
unsere Gesellschaft verachten, und sie mögen immer
noch an ihre ewig gestrigen und menschenverachtenden
Ideologien glauben; aber lassen Sie uns heute den Extremisten, und zwar jeglicher Coleur, in aller Deutlichkeit
sagen: Sie werden ihren Kampf gegen unsere Demokratie nicht gewinnen.
({1})
Dr. Kristina Köhler ({2})
Nun geistert immer wieder die These herum, in
Kreuzberg habe man es im Grunde mit ein paar Chaoten
ohne großen politischen Hintergrund zu tun gehabt. Ich
gebe zu, dass die intellektuelle Kraft der Argumente, die
man bei dieser Demo gehört hat, etwas zu wünschen übrig ließ.
({3})
Wenn man sich aber die Unterstützerliste dieser 18-UhrDemonstration anschaut, liest sich das wie das Who’s
who des Linksradikalismus und des Linksextremismus
in Berlin. Ich nenne nur exemplarisch die Antifaschistische Linke Berlin, die Antifaschistische Revolutionäre
Aktion Berlin, die DKP Berlin, die Jugendantifa Berlin,
die Sozialistische Deutsche ArbeiterInnenjugend Berlin
und interessanterweise auch die Gruppe „Bildungsblockaden einreißen“, die Gruppe, die im letzten Jahr die
angebliche Schülerdemonstration veranstaltet hat, aus
deren Mitte heraus dann eine Ausstellung der HumboldtUniversität über jüdisches Leben in Deutschland zerstört
wurde.
({4})
Es zeigt sich also ganz klar: Diese Ausbrüche am 1. Mai
waren keine Ausbrüche ein paar unpolitischer Chaoten;
es waren linksextreme Gewalttaten.
({5})
Dieser 1. Mai mahnt uns daher eindrücklich, auch die
linksextremistische Gefahr nicht aus dem Auge zu verlieren. Die wehrhafte Demokratie darf auf keinem Auge
blind sein.
({6})
Sie darf es nicht auf dem rechten Auge sein - gegen die
NPD hat man am 1. Mai demonstriert, und das war richtig -, sie darf es aber auch nicht auf dem linken Auge
sein. Mir ist leider nicht bekannt, dass eine Demonstration gegen die Linksextremisten in Kreuzberg angemeldet wurde. Wo war denn die Gegendemonstration für die
Rechte der Menschen, deren Autos in den letzten Jahren
abgefackelt wurden? Wo war denn die Gegendemonstration für die Rechte der Berliner, deren Garagen oder
Häuser zerstört wurden? Wo war denn die Gegendemonstration für Solidarität mit den Polizisten oder mit
den Unbeteiligten, die mit Molotowcocktails und Straßenplatten malträtiert wurden? Die gab es nicht. Es gab
keinen Aufstand der Anständigen.
Stattdessen wird einer demokratischen Volkspartei
wie der CDU ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verwehrt.
({7})
Die CDU wollte auf dem Myfest einen Informationsstand errichten. Daraufhin wurden die Mitglieder der
CDU an Leib und Leben bedroht, und der Berliner Polizeipräsident ließ verlauten, er könne für ihre Sicherheit
nicht garantieren. Die Kommunistische Plattform der
Linkspartei hat ihren Stand auf dem Myfest errichtet, der
CDU wurde dies unterbunden.
({8})
Wir müssen also feststellen: Es gibt in dieser Stadt Nogo-Areas für Demokraten.
({9})
Darüber schmunzeln Sie bei der Linken jetzt vielleicht; aber Sie sollten sich einmal an das Zitat Rosa
Luxemburgs erinnern: „Freiheit ist immer die Freiheit
der Andersdenkenden.“ Von dieser Erkenntnis sind diese
Linksautonomen meilenweit entfernt.
({10})
Meine Damen und Herren, das waren menschenverachtende Anschläge der übelsten Sorte. Die Gewerkschaft der Polizei berichtet, dass Polizisten mit Molotowcocktails, mit Pflastersteinen und mit Gehwegplatten
beworfen wurden. Schon im Jahr 2008 verübten Linksextremisten in Deutschland 635 politisch motivierte
Straftaten allein gegen die Polizei. Dazu trägt natürlich
auch bei, dass autonome Gruppen und Gewalttäter vor
Selbstbewusstsein inzwischen geradezu strotzen. Sie
glauben, durch die Finanz- und Wirtschaftskrise Rückhalt in der Bevölkerung zu genießen. Zu diesem Selbstbewusstsein haben sicherlich auch diejenigen beigetragen, die in den letzten Wochen in geradezu
unverantwortlicher Weise soziale Unruhen herbeigeredet
haben.
({11})
Wir müssen zeigen, dass der Extremismus keinen
Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Das zeigen wir
beim Kampf gegen Rechtsextremismus, das zeigen wir
beim Kampf gegen Islamismus, und das müssen wir
endlich auch beim entschiedenen Kampf gegen Linksextremismus zeigen.
({12})
Hans-Christian Ströbele hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Öffentlichkeit! Ich habe gestern am späten
Abend im Berliner Lokalfernsehen einen Bericht über
den 1. Mai gesehen. Da wurden die Schmerzensschreie
eines von einem Stein an der Schläfe getroffenen Mannes wiedergegeben. Diese Schreie gingen durch Mark
und Bein. Ich sage deshalb, Herr Kollege Koschyk:
Nicht nur die Verletzungen der Polizeibeamten, sondern
auch die der Unbeteiligten - in diesem Fall war es wahrscheinlich ein Journalist ({0})
und der verletzten Demonstranten sind äußerst zu bedauern. Ich wünsche allen Verletzten gute Besserung. Ich
hoffe, dass sie keine Schmerzen mehr haben und keine
bleibenden Schäden zurückbehalten. Ich mache keinen
Unterschied zwischen Polizisten und anderen.
({1})
- Die anderen kamen bei Ihnen nicht vor, Herr Kollege.
({2})
Ich war am 1. Mai dabei.
({3})
Ich war von 13 Uhr bis in die späte Nacht auf zwei Festen. Frau Kollegin Köhler, es gab zwei Maifeste: ein
Myfest und ein Maifest. Ich war auf beiden.
({4})
Diese Feste waren nicht nur Stätten des Feierns und der
politischen Diskussion von 40 000 Menschen, sondern
sie waren auch ein Mittel der Deeskalation; sie waren ein
Mittel, um an diesem 1. Mai Gewalttätigkeiten und Ausschreitungen möglichst zu verhindern.
({5})
Angesichts der Berliner Geschichte versuchen wir seit
Mitte der 80er-Jahre, zu erreichen, dass in Kreuzberg
- auch am 1. Mai - keine Gewalt stattfindet.
({6})
Sie haben diesen Bemühungen mit dieser Aktuellen
Stunde überhaupt nicht gedient.
({7})
Herr Kollege Koschyk, ich habe von Ihnen und anderen
bisher nicht den Hauch eines Vorschlages gehört, wie
man damit umgeht.
({8})
Ich habe die revolutionäre Demonstration am 1. Mai
von 18.40 Uhr bis etwa 22 Uhr begleitet. Ich war selber
Augenzeuge - fast wäre ich selber Betroffener gewesen -,
als Polizeibeamte mit Steinen beworfen wurden. Ich
habe Flaschenwürfe und auch prügelnde Polizeibeamte
gesehen. Außerdem habe ich gesehen, dass sich völlig
unbeteiligte Zuschauer zu wehren versucht haben, indem
sie Gegenstände zurückgeworfen haben, vor allem zu
später Stunde. Hier ist davon gesprochen worden, dass
Molotowcocktails und Brandsätze geworfen wurden.
Nach allem, was ich bisher weiß, waren das Ereignisse,
die spätabends im Anschluss an die Demonstration stattgefunden haben und sich nicht aus der Demonstration
heraus entwickelt haben.
({9})
Es gibt Politstrategen in der Szene, die sagen: Ohne
Gewalt nimmt man unsere Proteste, unsere Demonstration nicht wahr.
({10})
Ich kann nur sagen: Mit Ihrer Hilfe haben sie es geschafft, in den Deutschen Bundestag zu kommen
({11})
und hier zum Thema zu werden, ohne dass eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen stattfindet.
({12})
Nach all unseren Erfahrungen können wir nicht in die
80er-Jahre zurückgehen. Nicht verschärfte Strafen, nicht
Demonstrationsverbote, nicht Versammlungsverbote
sind die Lösung.
({13})
All das hat viel mehr Gewalt gebracht, 1987, 1988,
1989, auch in der Zeit CDU-geführter Senate. Wir haben
gelernt und praktizieren seit Jahren eine immer erfolgreichere Strategie der Deeskalation.
({14})
Dieser 1. Mai war leider ein Rückschlag. Wir sollten
uns jetzt im Wahlkampf nicht mit wohlfeilen Parolen zu
Wort melden: Da muss härter zugeschlagen werden. Da
muss verboten werden. - Das sind nicht die richtigen
Antworten.
({15})
- Wir müssen die Deeskalationsstrategie weiterentwickeln. Wir müssen nüchtern analysieren, wieso es an
diesem 1. Mai gerade an den Stellen, möglicherweise
auch durch Einsatzfehler der Polizei,
({16})
zu solchen Auseinandersetzungen gekommen ist. Danach müssen wir Schlussfolgerungen ziehen.
Ich wünsche mir, dass darüber diskutiert wird, und ich
lade alle ein - das tun wir Jahr für Jahr -: Diskutieren
Sie mit uns und arbeiten Sie mit uns weiter an einer Deeskalationsstrategie, die irgendwann erreicht, dass am
1. Mai auch in Kreuzberg die Aktionen und Demonstrationen friedlich verlaufen!
Herr Kollege!
Alle Gutwilligen sind dazu eingeladen und sollen mitdiskutieren. Hier finde ich die Gutwilligen nicht.
({0})
Marco Bülow hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Um es gleich vorweg zu sagen: Die Gewalteskalation in
Berlin wird von uns natürlich abgelehnt und muss entschieden bekämpft werden.
({0})
Das gilt aber auch für die Gewalteskalation, die es in anderen Städten gegeben hat. Dazu habe ich von Ihnen bisher wenig gehört.
({1})
Leider glauben wohl immer noch zu viele, Faschismus und rechtsextreme Gewalt, das sei eine Randerscheinung, ein Problem, das es vielleicht da und dort in
einigen Regionen gebe, das sehr begrenzt und zu vernachlässigen sei.
({2})
Dazu kann ich nur sagen: Machen Sie die Augen auf,
und richten Sie Ihren Blick nicht nur auf Berlin - so
wichtig das für uns auch ist -, sondern zum Beispiel
auch auf meine Heimatstadt Dortmund! Dort gab es eine
friedliche Maidemonstration, so wie sie jedes Jahr stattfindet und an der wir Sozialdemokraten uns immer beteiligen. Wir standen dort sehr friedlich und waren abmarschbereit, als mehrere Hundert Rechtsextremisten
mit Holzlatten einströmten und auf uns, auf unbeteiligte
Bürgerinnen und Bürger - dazwischen standen auch
kleine Kinder hilflos herum - einprügelten. Die leider
nur sehr wenigen und schlecht ausgerüsteten Polizisten
waren überfordert, haben aber alles versucht, um die
Menschen zu schützen. An dieser Stelle vielen Dank
noch einmal an die Polizei, die sich dazwischengeworfen hat und danach auch Verletzte zu beklagen hatte!
Auch von unserer Seite gute Besserung für alle, die dort
verletzt worden sind, seien es Polizisten oder Bürgerinnen und Bürger!
({3})
Herr Löning, Sie haben gerade auf den Innensenator
von Berlin verwiesen. Wenn das in Berlin so ist, dann
stelle ich die Frage, ob die Eskalation der Gewalt in
Dortmund nicht der FDP-Innenminister von NordrheinWestfalen zu verantworten hat. Ich würde nicht so weit
gehen, das zu bejahen; man muss differenzieren. Aber es
stellt sich natürlich schon folgende Frage: Nachdem in
Hannover die Demonstration der Rechten abgesagt worden war, haben die Gewerkschaften darauf hingewiesen,
dass in Dortmund etwas passieren kann. Warum standen
dann dort nur einzelne unbewaffnete Polizisten, die den
Demonstrationszug nicht schützen konnten? Warum waren wir so hilflos, und warum konnte die rechte Gewalt
dort so eskalieren? Diese Fragen sollten erlaubt sein.
Man muss im Zusammenhang mit dem, was in Dortmund passiert ist, vor allem auf die Auswüchse im Internet zurückkommen. Auf den Seiten der Rechten wurde
die Eskalation nicht nur begrüßt, sondern als Vorbild für
nächste Aktionen dargestellt. Dort werden sogar offene
Drohungen gegen Gewerkschaftsfunktionäre ausgesprochen. Dort steht beispielsweise: Schlagt die Gewerkschaftsbonzen, wo ihr sie trefft! Hier frage ich allen
Ernstes: Können wir als wehrhafte Demokratie dies zulassen,
({4})
und was müssen wir unternehmen, um dies zu unterbinden? Ich würde mich natürlich freuen, wenn auch die
bürgerlichen Parteien dieses Thema auf ihre Tagesordnung setzten.
({5})
Die Aussagen, die ich gerade genannt habe, stellen
eine neue Dimension der rechten Gewalt dar. Hier gibt
es einen organisierten Hass gerade gegenüber Gewerkschaftern. Gestern waren es die Migrantinnen und Migranten, die Obdachlosen und andere, heute sind es Gewerkschafter und Polizisten, morgen sind es dann
vielleicht Politiker, Unternehmer und engagierte Bürger.
Was muss noch passieren, damit wir die Augen öffnen
und uns diesen extremen Rechten entgegenstellen?
({6})
Es wurde gerade zu Recht angemahnt, dass es keine
Demonstrationen gegen linke Gewalt und linke Eskalation gebe. Es gibt Gott sei Dank genügend Demonstrationen gegen Rassismus und Extremismus. Bei denen
sehe ich aber die bürgerlichen Parteien nicht. Bei uns in
Dortmund sehe ich keine Abgeordneten der CDU und
der FDP; auch heute sehe ich sie in der Debatte nicht.
Auch dort sollten Sie sich sehr stark engagieren.
({7})
Wir müssen uns diesen Kräften mit allem, was wir haben, entgegenstellen. Wir müssen den Gewerkschaftern,
den engagierten Kirchenvertretern sowie den engagierten Verbänden und Vereinen zeigen, dass sie in ihrem
Kampf gegen Rechtsextremismus nicht allein sind, sondern dass wir an ihrer Seite stehen. Natürlich müssen wir
die Frage eines NPD-Verbots auf die Tagesordnung setzen und auch die Kampftruppen verbieten, die die NPD
unterstützen.
Wir haben jetzt gute Grundlagen auch für die Polizeipräsidenten in den Regionen - als Beispiel nenne ich
noch einmal Dortmund -, dass Demonstrationen der
Rechten, wie sie beispielsweise für den 5. September
wieder angemeldet sind, verboten werden. Für noch viel
wichtiger halte ich es, dass alle demokratischen Kräfte
gemeinsam am 5. September überall, wo Demonstrationen angemeldet worden sind, selber die Plätze besetzen
und für Toleranz und gegen Rassismus demonstrieren.
({8})
Es geht aber nicht nur um die Kampftruppen, sondern
auch um die geistigen Brandstifter, also um diejenigen,
die Rechtsextremismus in die Köpfe der Menschen bringen wollen. Wir müssen dazu beitragen, dass sich der
Rechtsextremismus nicht in den Köpfen der Menschen
verhakt. Andernfalls bekämen wir viele Probleme in unserem Land, mit denen wir uns auseinandersetzen müssten. Gemeinsam sollten wir uns dagegen zur Wehr setzen.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedermann - so steht es im Grundgesetz; dies wurde bereits zitiert, und es ist gut, dass es zitiert wurde, weil es
wichtig ist - hat das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Dieses Versammlungsrecht ist ein
Schlüsselgrundrecht für eine lebhafte Demokratie und
für die politische Willensbildung im Lande von eminenter Bedeutung. Es wird gesagt, das Schwungrad der Demokratie sei das Versammlungsrecht. So will es das
Grundgesetz, so will es der Rechtsstaat, und so soll es
bleiben.
Schauen wir uns jetzt die Bilder von Berlin an, und
denken wir darüber nach, ob das etwas mit den Vorstellungen, wie sie im Grundgesetz niedergelegt sind, zu tun
hat. Meine Damen und Herren, wir wissen es längst: Gewaltbereite Linksextremisten ebenso wie gewaltbereite
Rechtsextremisten brauchen sich wechselseitig, um sich
gegenseitig hochzuschaukeln. Les extrêmes se touchent,
sagt man. Ob linksextrem oder rechtsextrem: Sie brauchen sich, sie suchen sich, sie finden sich. Sie demonstrieren häufig zusammen, um Gewalt anwenden zu können. Das ist nicht im Sinne des Grundgesetzes, sondern
gegen den Geist des Grundgesetzes. Das ist zu verurteilen, egal wo es stattfindet.
({0})
Jetzt zum Ergebnis der Berliner Demonstration und
zu dem, was sich dort abgespielt hat. Frau Lötzsch hat
gefragt, was dieses Thema im Bundestag zu suchen
habe. Allein die Zahl der verletzten Bundespolizisten
hätte Sie nachdenklich machen müssen.
({1})
Dieses Thema muss hier besprochen werden. Jeder
sechste Bundespolizist ist verletzt aus dieser Versammlung herausgekommen. Das waren ja kriegsähnliche Zustände!
({2})
Autos in Brand setzen, Menschen durch Steinwürfe und
Molotowcocktails schwer verletzen - das sind Handlungen, bei denen jede Strategie der Deeskalation völlig deplatziert ist, Herr Ströbele. Darüber müssen wir reden.
Wir müssen uns fragen: Wie geht man mit solchen Menschen um?
({3})
Ich glaube, es war gut, dass Sie, Frau Lötzsch, für die
Linken gesprochen haben; denn so haben die Menschen
im Lande gesehen und gehört, wes Geistes Kind die Linken sind.
({4})
Diese gewalttätige, brutale, rechtsbrecherische Versammlung, die von den Linken angemeldet und durchgeführt worden ist, wurde hinterher trotz der vielen Verletzten von den Linken für gut erklärt. Sie sind die
Schutzpatronin dieser Chaoten.
({5})
Wenn selbst Antikonfliktteams, also unbewaffnete
Polizisten, die für Deeskalation sorgen sollen,
({6})
von diesen Chaoten zusammengeschlagen werden, wer
will da noch von einer Deeskalationsstrategie reden?
({7})
Das ist doch Narretei.
Die Ereignisse waren kein Schicksalsschlag, sondern
sie waren öffentlich angekündigt. Am 18. April, zwei
Wochen vor der Versammlung, war ein Plakat zu sehen,
das folgenden Wortlaut hatte:
Wir wollen die Bullen aus unserem Kiez vertreiben,
jeden Tag und besonders am 1. Mai! Zerstört ihre
Fahrzeuge!
Schande für Ihre Partei!
({8})
Jetzt geht es um die Frage, wie eine Landesregierung,
in diesem Fall der rot-rote Senat in Berlin, verantwortungsbewusst mit solchen Ereignissen umgeht.
({9})
Herr Ströbele, Sie wollten ja konkrete Vorschläge hören.
Sie haben reichlich Demonstrationserfahrung, ich ebenfalls; wir kommen nur von verschiedenen Seiten.
({10})
Was hier geschehen ist, gehört zum kleinen Einmaleins
für die Behörde, die für die Versammlungen zuständig
ist, und für den Einsatzleiter der Polizei. Jeder Gewaltbereite macht immer dasselbe: Er wird Teil eines sich formierenden schwarzen Blockes und umgibt sich möglichst mit mannshohen Transparenten, um aus dem
Schutz dieser Abgeschlossenheit, dieser Uneinsehbarkeit heraus Molotowcocktails und Steine zu werfen,
ohne dabei gefilmt oder erkannt werden zu können.
({11})
Herr Ströbele, wo sich ein Demonstrationszug solchermaßen formiert - und genau so war es -, muss die
Polizei von der politischen Leitung den Auftrag bekommen, zu fordern: Runter mit den Plakaten, sonst setzt
sich der Zug nicht in Bewegung! - Dann muss die Polizei eine Sperre bilden, damit sich der Demonstrationszug keinen Meter bewegen kann. Einen solchen politischen Auftrag hat es nicht gegeben.
({12})
Im Versammlungsbescheid steht die Auflage, dass
Seitentransparente von zwei Metern Höhe verboten sind.
Wann ist das von der Polizei durchgesetzt worden? Das
wurde von politischer Seite verhindert. Herr Benneter,
das wissen Sie genau. Und warum? Man nimmt im rotroten Senat Rücksicht auf die Umtriebe des Koalitionspartners.
({13})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wenn es mit der Strategie in Berlin so weitergeht, können wir Bundespolitiker es nicht länger verantworten,
Bundespolizisten nach Berlin zu entsenden.
({14})
Es ist nicht zu verantworten, dass wir Bundespolizisten
der Gefahr einer Steinigung aussetzen. Jedermann hat
das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Aber für die Berliner Chaoten haben wir Handschellen und Haftanstalten.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Matthias Miersch
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Hannoveraner
({0})
- hören Sie erst einmal zu und seien Sie ruhig - kann ich
nur sagen: Diese Debatte befremdet etwas.
({1})
Die Aktuelle Stunde hat das Thema: „Gemeinsam gegen
Gewalt - Ächtung der Ausschreitungen und schweren
Gewaltstraftaten am 1. Mai“. Dieses Thema ist doch viel
zu wertvoll, als dass wir uns als Demokraten in diesem
Hause gegenseitig vorwerfen sollten, dass wir das eine
oder andere billigen. Jeder in diesem Haus ist gegen jede
Form von Gewalt; da bin ich mir sicher.
({2})
Mit dem Hinweis auf politische Verantwortungen
wäre ich sehr vorsichtig. Die Aktuelle Stunde hat nicht
umsonst das Thema: „Ausschreitungen am 1. Mai“. Es
geht dabei nicht nur um den 1. Mai 2009. Jeder, der die
Entwicklung der letzten Jahre verfolgt hat, weiß ganz
genau, dass der 1. Mai nicht nur in Berlin, sondern auch
an anderen Orten in der Bundesrepublik Deutschland
häufig Anlass für schwere Ausschreitungen gewesen ist.
Ich erinnere nur an den 1. Mai 2008 in Hamburg.
({3})
Dort gab es keinen rot-roten Senat, sondern eine andere
Führung; damit möchte ich aber nicht sagen, dass die
Schuld bei den Trägern der politischen Verantwortung
liegt.
({4})
Ich wäre auch vorsichtig, zu sagen: In Niedersachsen
gibt es ja eine gelb-schwarze Landesregierung. Deswegen ist die Sache da besser abgelaufen. - Schauen Sie
sich einmal die entsprechende Gerichtsentscheidung an;
ich komme darauf gleich zurück. Ein Argument für das
Verbot der NPD-Demonstration war, dass der Polizeipräsident gesagt hat, er berufe sich auf den polizeilichen
Notstand, weil die Polizeibehörden angesichts der Konstellationen keine Sicherheit mehr gewährleisten könnten. Insofern trägt meines Erachtens auch die politische
Seite eine große Verantwortung dafür, über Strategien
nachzudenken, dass es am 1. Mai weder in Berlin noch
in Hamburg oder in Hannover zu einem solchen polizeilichen Notstand kommt.
Was wir am 1. Mai 2009 in Hannover geschafft haben, ist, glaube ich, ein wichtiges Zeichen gewesen. Ich
sage ganz bewusst: Es ist gemeinsam geschafft worden.
Es ist von Vertretern der CDU, der FDP, der Linken, der
Grünen und der SPD geschafft worden. Über 15 000
Bürgerinnen und Bürger sind aufgestanden und haben
sich gegen jegliche Form des Extremismus gewandt. Ich
finde, das sollte man auch in diesem Hause honorieren.
({5})
Es hat eine monatelange Vorbereitung seitens des
Deutschen Gewerkschaftsbundes in Zusammenarbeit
mit Oberbürgermeister Stephan Weil gegeben. Man hat
versucht, alle gesellschaftlichen Gruppen zu mobilisieren. Es ist ein bundesweit enorm beachtetes Zeichen gewesen, dass die palästinensische und die israelische Gemeinde gemeinsam in Hannover demonstriert haben.
Was für ein Zeichen des Miteinanders; was für ein Zeichen des Friedenswillens!
({6})
Ich empfehle jedem, einmal die entsprechende Gerichtsentscheidung zu studieren. Die Entscheidung des
Verfassungsgerichts wird nicht begründet, weil eine entsprechende Beschwerde nicht angenommen worden ist.
Es gibt dazu jedoch Leitsätze des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg. Die sollten wir uns - gerade wir als
Rechtspolitiker - einmal sehr genau anschauen. Darin
wird gesagt, es müsse eine gewisse Anforderung an die
Prognosen der Gewaltausschreitung geben. Diese dürften nicht überhöht sein. Das Versammlungsrecht als
wichtigstes Grundrecht müsse erfüllt sein, aber nicht um
jeden Preis. Die Entscheidung des niedersächsischen
Oberverwaltungsgerichts hat Signalcharakter. Es ist gut,
dass wir diejenigen, die dieses hohe Gut gefährden wollen, ausgrenzen.
({7})
Worum wird es zukünftig gehen? Ich glaube, wir
brauchen viele Handlungsstrategien. Wir brauchen zunächst einmal Verbote rechtsextremer und linksextremer
Organisationen. Wir brauchen vor allen Dingen aber
auch eine Bewusstseinsschärfung. Weil hier junge Menschen anwesend sind, ist es mir ganz wichtig, zu sagen:
Wir brauchen das Bekenntnis zur Demokratie. Ich
glaube, das bekommen wir nur hin, wenn wir auch in
diesen Debatten anders miteinander diskutieren. Wir alle
sind Demokraten. Wir sollten an diesem Tag, in dieser
Stunde und an jeder Stelle darum werben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Kai Wegner von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich als Berliner Bundestagsabgeordneter zu Beginn
meiner Rede ganz herzlich Dank sagen. Ich darf mich
nicht nur bei der Bundespolizei, die allein über 100 verletzte Polizisten zu beklagen hat, für ihre Unterstützung
bedanken, sondern ich möchte mich auch ganz herzlich
bei den Berliner Kolleginnen und Kollegen der Polizei
und natürlich auch bei den Unterstützungskräften aus
Hamburg, aus Niedersachsen, aus Sachsen-Anhalt und
aus Thüringen für ihren beherzten Einsatz bedanken. Sie
haben einen schweren Einsatz erleben müssen. Von daher gebührt ihnen unser aller Dank.
({0})
Frau Lötzsch, ich wollte gar nicht auf Ihren Beitrag
eingehen, weil mich das emotional viel zu sehr mitnimmt. Aber nach Ihrem Zwischenruf von vorhin muss
ich doch auf Ihre Einlassung hier eingehen. Ich finde
das, was Sie heute an diesem Rednerpult von sich gegeben haben, unverantwortlich. Es ist unverantwortlich, zu
sagen, es gebe einige in diesem Hause, die die Gefahr
durch rechtsextreme Demonstranten und durch rechtsextremes Gedankengut sowie Gewaltexzesse von rechts
herunterspielen wollen. Sie tun so, als ob es nur auf dieser Seite extremes Gedankengut gibt. Wenn ich die Diskussion in der letzten Dreiviertelstunde richtig verfolgt
habe, dann wurde klar, dass CDU/CSU und FDP ganz
deutlich gesagt haben, dass es egal ist, von welcher Seite
Gewalt ausgeht. Wer die Freiheit, die Demokratie und
unser Rechtssystem bekämpfen will, dem gehört die rote
Karte gezeigt, Frau Lötzsch. Das erwarte ich endlich
auch einmal von Ihrer Fraktion.
({1})
- Nein, lieber Herr Benneter, das hat die Kollegin so
nicht erzählt.
({2})
Ich will auch noch einmal den Fall Jermak aufgreifen.
Es ist schon viel dazu gesagt worden. Deswegen will ich
gar nicht alles wiederholen. Es ist ein Skandal an sich,
dass ein wichtiger Nachwuchspolitiker Ihrer Partei eine
Demonstration anmeldet, die in den letzten Jahren immer mit gewalttätigen Auseinandersetzungen endete.
Herr Jermak hat gesagt, er stehe natürlich hinter den Inhalten dieser Demonstration. Was wurde im Vorfeld gesagt? - Im Vorfeld wurde gesagt, in der Berliner Polizei
gebe es einen faschistischen Korpsgeist, und im Vorfeld
dieser Demonstration wurde zu Unruhen aufgerufen.
Herr Jermak hat auch unterstützt, dass die „Bullen“ sich
aus dem Bezirk entfernen sollen. Er hat außerdem geäußert, dass bei gewalttätigen Auseinandersetzungen im
Zweifel natürlich die Polizei schuld ist. Herr Jermak ist
hier kein Einzeltäter. Eine Abgeordnete aus dem Landesparlament in Berlin hat das bekräftigt.
Zu behaupten, die Polizei sei schuld an diesen gewalttätigen Exzessen, die dort vonstatten gehen, ist auch eine
Unverschämtheit. Die Kolleginnen und Kollegen der Polizei setzen sich für uns alle ein: für Recht und Freiheit,
für unser Rechtssystem. Sie wollen am 1. Mai nicht in
diese Bezirke. Sie würden am 1. Mai lieber zu Hause bei
ihren Familien sitzen. Dank solcher Typen müssen sie
sich ohne jegliche politische Unterstützung von diesem
Senat dem Steinhagel aussetzen. Das ist eine Unverschämtheit, Frau Lötzsch.
({3})
- Nein, das ist keine Frechheit.
Ich hätte mir übrigens auch gewünscht, dass Herr
Körting heute einmal hier wäre. Hier hätte er nicht, wie
kurz vor dem 1. Mai aus Kreuzberg, fliehen müssen.
({4})
Hier hätte er in Ruhe sitzen und vielleicht einmal einige
Sachen klarstellen können, liebe Frau Kollegin.
({5})
Wann hat sich der Innensenator eigentlich einmal bei
den Polizistinnen und Polizisten, die am 1. Mai auf der
Straße waren, bedankt? Das Einzige, was ich vom Polizeipräsidenten gehört habe, war, dass die Unterstützungskräfte aus anderen Ländern nicht mit der Polizeitaktik klargekommen sind. Dass die Unterstützungskräfte mit dieser Taktik nicht klargekommen sind,
spricht für und nicht gegen die Kolleginnen und Kollegen der Unterstützungskräfte.
({6})
Warum muss über dieses Thema im Bundestag beraten werden, Frau Lötzsch? Erstens, weil es die Menschen
in der ganzen Republik bewegt, und zweitens, weil es um
nicht weniger als die Sicherheit in der Hauptstadt geht.
Wenn Sie die Aussagen der eingesetzten Beamtinnen und
Beamten aufmerksam verfolgt haben - Herr Löning hat
viele Zitate vorgetragen -, dann wissen Sie, was sie
durchgemacht haben, und dann wissen Sie auch, wie die
Motivation der Berliner Polizistinnen und Polizisten und
deren Vertrauen in ihre Führung aussieht. Das wundert
mich übrigens überhaupt nicht, wenn ich mir vor Augen
führe, dass die Polizeiführung den Kolleginnen und Kollegen gesagt hat: Zieht euch zurück, wenn Straftaten passieren.
({7})
Wir schreiten nicht ein. Ihr müsst also nicht das Recht
durchsetzen, auch wenn das eigentlich Aufgabe der Polizei ist. Setzt bitte keine Helme auf, die könnten provozieren.
({8})
Das hat nicht Herr Jermak gesagt, sondern die Polizeiführung von Berlin.
In diesem Jahr wurden auch keine Wasserwerfer eingesetzt, weil sie provozieren würden. Ich glaube, das
war erstmals der Fall; Herr Ströbele, Sie haben mehr Erfahrung damit. Früher wurden sie eingesetzt, auch unter
Rot-Rot.
({9})
- Dann lesen Sie einmal die Berichte der Kolleginnen
und Kollegen, die vor der Aral-Tankstelle standen. Die
kann ich Ihnen nachher gerne zeigen.
({10})
- Es ging auch darum, dass keine Masken eingesetzt
werden durften.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wen wundert es,
dass diese Polizistinnen und Polizisten nicht mehr motiviert sind, für Sicherheit zu sorgen? Wen wundert es,
dass diese Polizisten frustriert und verunsichert sind? Ich
kann Ihnen nur sagen - ich hätte es Herrn Körting hier
gerne persönlich gesagt -:
({11})
Ein Innensenator, der keine Verantwortung für seine
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernimmt, und ein
Polizeipräsident, der ebenfalls keine Verantwortung für
seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernimmt, sollten sich überlegen, ob sie die richtigen Leute für die Berliner Polizei sind.
({12})
Rot-Rot wird immer mehr zum Sicherheitsrisiko in dieser Stadt. Wir brauchen eine motivierte Polizei. Deswegen ist es richtig, Frau Lötzsch, dass wir hier und heute
darüber gesprochen haben.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Uwe Benneter
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wegner, mit Ihren Ausbrüchen haben Sie dieser Debatte nun wirklich keinen Gefallen getan.
({0})
Was die Polizisten angeht, sind wir uns doch alle einig.
Herr Körting wollte hier sein.
({1})
Er hatte das zugesagt, aber die Fraktionsführungen dieser Koalition, die wir noch gemeinsam stellen, haben
entschieden, dass es besser wäre, wenn wir die Debatte
untereinander führen würden.
({2})
Und genau das tun wir jetzt.
({3})
Alle fragen sich, warum diese Debatte in den Bundestag gehört. Frau Kollegin Lötzsch, sie gehört auch in das
Berliner Landesparlament, aber eben nicht nur dorthin.
Ich denke, dass die Diskussion, die im Berliner Landesparlament darüber stattfinden wird, nicht so gruselig sein
wird, wie es ein Teil der Beiträge der Berliner Bundestagabgeordneten in dieser Debatte war.
Ich bin über die Gewaltausbrüche und die blindwütigen Angriffe entsetzt. Die traurige Bilanz muss uns alle
erschüttern. Dem Dank an die Polizei haben wir uns alle
angeschlossen. Wir alle wünschen uns, dass die Verletzten - egal ob Polizisten oder Unbeteiligte - schnellstens
wieder gesund werden.
Wir wissen noch nicht, was sich im Detail abgespielt
hat. Herr Kollege Löning, es ist billig, hier einzelne Augenzeugenberichte von Polizisten vorzutragen. Ich denke,
man wird das in der Gesamtschau bewerten müssen:
nicht nur das, was die Polizisten sagen, sondern auch das
Verhalten und die Aussagen der Einsatzleiter. Es geht
doch nicht an, dass wir im Bundestag eine Vorverurteilung vornehmen.
({4})
Wir dürfen zwar nichts kleinreden, wir dürfen es aber
auch nicht aufbauschen. Das ist unsere Aufgabe im Bundestag.
({5})
Herr Uhl, Sie haben geklatscht, als der Kollege sagte,
wir seien alle keine Einsatzleiter. Aber Sie haben auf
Ihre Vergangenheit Bezug genommen und hier genau angegeben, wie Sie eine solche Demonstration geführt hätten.
({6})
Ihre Parteifreunde Werthebach und Schönbohm, die
vor einigen Jahren Innensenatoren in Berlin waren, hatten es damals mit Ihrer Hau-drauf-Strategie probiert;
aber sie haben üblen Schiffbruch damit erlitten.
({7})
Deshalb bin ich dankbar, dass es in Kreuzberg ein großes
Volksfest gab,
({8})
ein Maifest, wie es wirklich nicht besser sein könnte.
Zehntausende haben sich dort friedlich über den Maibeginn gefreut, haben den Tag der Arbeit gemeinsam gefeiert; ich selbst war mit Zehntausenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hier in Berlin vor dem
Brandenburger Tor auf einer Maidemonstration. Darüber
spricht überhaupt keiner mehr. Das ist der eigentliche
Skandal.
({9})
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die am
1. Mai für die Arbeitnehmerrechte eingetreten sind, widmet man keine Aktuelle Stunde.
({10})
Sie kämpfen beispielsweise dafür, dass Opel in Deutschland gerettet wird. Das wäre es auch wert, hier in einer
Aktuellen Stunde debattiert zu werden.
({11})
Kollege Ströbele ist wirklich ein Kenner der Materie.
Er weiß: Die Deeskalation hat in den letzten Jahren
wirklich Erfolg gehabt.
({12})
Die Ankündigungen, die man auf Plakaten lesen konnte,
gab es auch in den letzten Jahren immer. Dennoch war es
richtig, dass die Polizeiführung in ihrem Ermessen und
im Rahmen ihrer Möglichkeiten, jeweils abzuwägen,
wie im Einzelfall vorzugehen ist, die entsprechenden
Anweisungen gegeben hat.
Alle Polizisten hatten, soweit ich das auf den Bildern
gesehen habe, Schutzhelme auf; ich habe keinen ohne einen Schutzhelm gesehen. Es ist also Unsinn, wenn hier
vorgetragen wird, dass es andere Anweisungen gegeben
hätte.
Wie gesagt: Die Deeskalation und die Gewaltprävention waren erfolgreich, jedenfalls erfolgreicher als das,
was die Kollegen Werthebach und Schönbohm in den
vergangenen Jahren am 1. Mai zu verantworten hatten.
({13})
Ich meine, auch am 1. Mai muss das Gewaltmonopol
des demokratischen Rechtsstaates durchgesetzt werden,
auch in Kreuzberg und Friedrichshain. Darüber, denke
ich, kann es überhaupt keine Diskussion geben.
({14})
Nur die Polizei, keine wild gewordenen Anarchisten haben dieses Recht. Das gilt auch in Berlin. Das hat bisher
in Berlin gegolten und wird auch weiterhin gelten.
({15})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Clemens Binninger
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Bei aller Unterschiedlichkeit in der Debatte sind wir uns,
glaube ich, über eines einig: Wir treten jeder Form von
Gewalt, egal ob von links oder rechts, die sich gegen unseren Staat, seine Funktionsträger, gegen Unschuldige
und Unbeteiligte richtet, entschieden entgegen. Auch das
ist ein Signal, das von der heutigen Aktuellen Stunde
ausgeht.
({0})
Herr Bülow, Sie haben die Stadt Dortmund erwähnt;
auch Hannover wurde genannt. Wir müssen uns fragen:
Wie kann es in Berlin zu solchen Gewaltexzessen kommen? Woran liegt es? Die Gewalt, die wir erlebt haben
und die am Ende viele unschuldige Opfer forderte - friedliche Demonstranten, unbeteiligte Bürger, aber auch fast
500 Polizeibeamte wurden verletzt, einige davon sogar
schwer -, kam nicht aus heiterem Himmel. Man muss
sich schon fragen, warum alle Warnzeichen ignoriert
wurden, warum die politische und die polizeiliche Führung weggesehen haben. Es ist Sinn und Zweck der heutigen Debatte, sich auch mit dieser Frage zu beschäftigen.
({1})
Es gab die vom Kollegen Uhl angesprochenen Plakate, die gezielt zu Gewalt gegen Polizeibeamte aufriefen. Es gab Straßenzüge und Plätze, an denen sich die
Polizei aus Angst vor Übergriffen nicht zeigen durfte
und konnte. Seit mehreren Jahren brennen durchschnittlich jede dritte Nacht in Berlin Autos. Es sollte einen Infostand der CDU geben. Obwohl dieser am helllichten Tag
mitten in der Hauptstadt stehen sollte, sagten die Sicherheitsbehörden: Den können wir nicht genehmigen, weil
wir nicht für dessen Sicherheit garantieren können.
({2})
Da müssen wir uns doch fragen: Woran liegt das? Wird
hier zu viel weggesehen, statt entschieden und konsequent gegen Gewalt vorzugehen?
({3})
Weil es sich immer wiederholt und nicht bessert, ist
mein Eindruck, dass die politische Führung in Berlin vor
der Gewalt kapituliert hat.
({4})
Darunter leiden die Männer und Frauen der Polizei. Darunter leiden unbescholtene Bürger. Darunter leiden
friedliche Demonstranten. Darunter leidet am Ende auch
der Rechtsstaat mit all seinen Funktionsträgern.
({5})
Das dürfen wir nicht hinnehmen. Dem müssen wir entschieden entgegentreten.
({6})
Wenn der Polizeipräsident von Berlin nach den Krawallen - wohlgemerkt: danach - von einem bewährten
Konzept spricht, das ohne Alternative ist,
({7})
dann empfinde ich das mehr als Drohung statt als Hilfe.
Man kann nur sagen: Hier halten Leute das für ein Konzept, was sie jedes Jahr aufs Neue falsch machen.
({8})
Das ist sicher kein Konzept.
({9})
- Herr Kollege Edathy, wenn Sie dazwischenrufen, ob
ich eine Patentlösung habe, dann darf ich - das sei mir
gestattet - auf meine Berufserfahrung hinweisen. Es gibt
keine Patentlösung. Bei schwierigen Einsätzen passieren
immer Fehler. Aber schauen Sie einmal auf die Häufigkeit und die Art der Fehler, die hier passiert sind.
Ich habe mich mit Polizeibeamten unterhalten, die am
Einsatz beteiligt waren.
({10})
Ich will nur ein paar wenige unverständliche Fehler nennen, die die Einsatzleitung und die politisch Zuständigen
zu verantworten haben.
Beispiel eins: Der gewalttätige Demozug, der schon
nach wenigen Metern als gewalttätig erkennbar war,
wurde nur von Antikonfliktteams begleitet, die nicht geschützt und schlecht ausgerüstet waren und am Ende um
ihr Leben laufen mussten.
({11})
Beispiel zwei: Wasserwerfer durften nicht gegen Steinewerfer eingesetzt werden, sondern nur zum Löschen bereits brennender Barrikaden.
({12})
- Nein, ist es eben nicht.
Beispiel drei: Auch Sie, Herr Edathy, haben angesprochen, dass man bei solchen Demos Vorkontrollen
durchführen sollte.
({13})
Vorkontrollen wurden hier ausdrücklich nicht gestattet.
Sie wurden nicht durchgeführt. Damit kann man keine
Gewaltbereiten im Vorfeld erkennen.
Deshalb bleibt der Eindruck, dass die politische und
polizeiliche Führung der Hauptstadt dieses Problem
nicht nur unterschätzt haben, sondern weggesehen und
falsch gehandelt haben. Daher muss man sich fragen, ob
sie in der Lage sind, die Sicherheit in unserer Hauptstadt
im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.
Nun zum Innensenator, der heute nicht hier ist.
({14})
Herr Kollege Benneter sagt, die Fraktionsspitze habe
entschieden, es sei besser, ohne ihn zu debattieren.
({15})
Es spricht Bände, Herr Kollege Benneter, wenn die SPD
der Auffassung ist, dass man so etwas besser ohne den
SPD-Innensenator bespricht. Es ist etwas verräterisch,
wie er formuliert. Er wirkt auf mich eher desinteressiert
und teilnahmslos. Man muss sich schon fragen, ob er in
der Lage ist, die Sicherheit in unserer Hauptstadt zu gewährleisten.
({16})
An seine Adresse sage ich nur: Erfolgreiche Innenpolitik
macht man entweder ganz oder gar nicht.
({17})
Der Innensenator hat sich offensichtlich für „gar nicht“
entschieden. Das ist kein Weg. Wir stehen dem entgegen.
Herzlichen Dank.
({18})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion die Linke
Für eine solidarische Gesundheits- und Pflegeabsicherung
- Drucksache 16/12846 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Frank Spieth von
der Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer arm ist, muss
früher sterben. Wenn Sie im wohlhabenden Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf in die U-Bahn steigen
und ins ärmere Friedrichshain-Kreuzberg fahren, nimmt
die Lebenserwartung von Männern in Ihrer Umgebung
mit jeder Station, an der sie halten, um ein gutes halbes
Jahr ab. In Charlottenburg-Wilmersdorf ist die Lebenserwartung um vier Jahre höher als in Friedrichshain24024
Kreuzberg. Dies belegt die Berliner Gesundheitsberichterstattung.
Diese Armutsfolgen sind nicht nur in Berlin zu beobachten. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
hat festgestellt, dass Frauen mit geringem Einkommen
im Vergleich zu Frauen, die der Gruppe der Bezieher
höchster Einkommen angehören, in Deutschland acht
Jahre früher sterben. Bei Männern beträgt dieser Unterschied bundesweit sogar 14 Jahre. Ich meine, das ist ein
ungeheuerlicher Skandal.
({0})
In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes wird
deutlich gemacht, dass diese Unterschiede sogar eher zuals abnehmen. Das darf unmöglich folgenlos bleiben.
Die Politik muss endlich Schlussfolgerungen aus dieser
Fehlentwicklung ziehen. Wir müssen die Probleme an
der Wurzel packen. Dazu brauchen wir einen anderen
gesundheits- und sozialpolitischen Ansatz. Wir müssen
dort ansetzen, wo die Menschen wohnen, arbeiten und
ihre Freizeit verbringen. Gesunde Wohnbedingungen
und gesunde Arbeitsbedingungen - kurz: gesunde Lebensbedingungen - sind lebenswichtig.
({1})
Der Aldi-Chef kann sie sich leisten, die Aldi-Kassiererin
aber nicht. Deshalb muss die Gesundheitsförderung an
dieser Stelle ansetzen.
Das versprochene Präventionsgesetz ist leider in der
Koalition gescheitert. Auch die aktuelle Gesundheitspolitik ist nach meiner Auffassung gescheitert. Die Privatisierung und die Kommerzialisierung des Gesundheitssystems zementieren die Zweiklassenmedizin in
Deutschland geradezu.
Ein Beispiel: Bei den Hilfsmitteln hat die Koalition
den Krankenkassen vorgegeben, dass sie Leistungen
ausschreiben können.
({2})
In einer Ausschreibung steht in der Regel aber nichts
von Qualität. Der billigste Anbieter erhält den Zuschlag.
Wenn es um Inkontinenzwindeln geht, hat dies zur Folge
- das haben wir bereits des Öfteren erlebt -, dass die Patientinnen und Patienten über Nacht einnässen, weil bei
ihren Windeln ein paar Cent eingespart werden sollen.
Das ist doch Unfug! Diese Einsparungen werden an anderer Stelle Mehrkosten auslösen, zum Beispiel bei der
dadurch notwendig gewordenen Behandlung von Hautkrankheiten. Die dadurch entstehenden Kosten betragen
in vielen Fällen ein Vielfaches der Einsparungen. Das ist
nicht logisch und nicht schlüssig.
({3})
Fakt ist: Wer es sich leisten kann, kauft sich privat bessere Windeln. Wer sich das nicht leisten kann, schläft im
Nassen. Das ist die Zweiklassenmedizin in Deutschland.
({4})
Die Linke sagt: Jeder hat das gleiche Recht auf die erforderliche gesundheitliche Versorgung. Union, SPD
und Grüne hingegen haben Leistungen gekürzt und Zuzahlungen eingeführt.
({5})
Rezeptfreie Arzneimittel muss man komplett selbst zahlen, rezeptpflichtige Medikamente kosten den Patienten
5 bis 10 Euro pro Packung, beim Arzt, auch beim Zahnarzt, wird Eintritt fällig, und im Krankenhaus kostet jeder Tag 10 Euro, um nur einige Beispiele zu nennen.
Diese Zuzahlungen sind ungerecht; denn sie belasten
Geringverdiener über Gebühr.
({6})
Die Linke will diese Zuzahlungen abschaffen. Denn infolge dieser Zuzahlungen lassen Menschen mit geringem
Einkommen häufig wichtige Behandlungen ausfallen.
Die Zweiklassenmedizin wird auch an einer anderen
Stelle des Gesundheitswesens deutlich. Selbstzahler und
Privatversicherte erhalten sämtliche Leistungen und einen bevorzugten Zugang zu einem Arzt oder einem
Krankenhaus. Für die gesetzlich Krankenversicherten allerdings werden nicht mehr alle Leistungen bereitgestellt, und sie müssen lange auf Termine warten. Etwa
1 Million sogenannter Illegaler sind von der Gesundheitsversorgung in Deutschland völlig ausgeschlossen.
Dies, meine Damen und Herren, ist mit dem UN-Sozialpakt, dem die Bundesrepublik 1973 beigetreten ist und
den sie vorbehaltlos ratifiziert hat, nicht vereinbar.
({7})
Noch einmal: Jeder hat das gleiche Recht auf gesundheitliche Versorgung. Die Linke lehnt eine Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems
ab.
({8})
Wir wollen stattdessen, dass alle Bürger in einer bezahlbaren Bürgerversicherung versichert sind, der Pförtner
wie der Chef, und dass eine umfassende wohnortnahe
Versorgung, und zwar unabhängig vom Einkommen, garantiert wird.
({9})
Dazu brauchen wir Ärzte, die sich wieder weniger mit
der Vergütung und mehr mit dem Patienten beschäftigen
können.
({10})
Wir brauchen öffentliche Krankenhäuser, die wohnortnah qualifizierte Versorgung gewährleisten. Wir brauchen Apotheken, die nicht nur Arzneimittel verteilen,
sondern auch gut beraten.
Dazu brauchen wir Krankenkassen, die ausreichend
Geld zur Finanzierung dieser Aufgaben erhalten. Das ist
durch den Gesundheitsfonds nicht dauerhaft gesichert.
Der Gesundheitsfonds ist unterfinanziert, mit der Folge,
dass die Krankenversicherten schon bald flächendeckend Zusatzbeiträge von bis zu 1 Prozent ihres EinFrank Spieth
kommens zahlen müssen. Ich rechne damit - ich sage
das ganz offen -, dass selbst die Deckelung von 1 Prozent des Einkommens nach der Bundestagswahl fällt.
({11})
Die Krankenkassen werden gezwungen sein, ihr Leistungsangebot immer stärker einzuschränken. Das ist mit
Sicherheit nicht zum Vorteil der Versicherten.
Auch die Pflegeabsicherung ist chronisch unterfinanziert. Die Pflegeversicherung ist eine Teilkaskoversicherung. Deshalb können sich arme Menschen keine ausreichende Pflegeassistenz leisten. Die Linke findet es gut,
dass jetzt eine Kommission empfohlen hat, die Leistungen der Pflegeversicherung zukünftig danach zu bemessen, wie stark die Selbstständigkeit eingeschränkt ist.
Die jetzige Regelung, in der auf die Minute genau festgelegt ist, wie viel Zeit zum Beispiel für Waschen und
Kämmen aufgewendet werden darf, ist nicht akzeptabel.
Es geht um die Pflege von Menschen, nicht um Maschinen.
({12})
Es geht um Zuwendung, und es geht darum, dass pflegebedürftige Menschen weiter am Leben teilnehmen können.
Die anderen Fraktionen werden uns jetzt vorwerfen,
dass wir mit unserem Antrag einen Wünsch-dir-was-Katalog erstellt hätten,
({13})
der nicht bezahlbar ist. Dieser Vorwurf ist mit Sicherheit
falsch. Würde unser Vorschlag, eine Bürgerinnen-undBürger-Versicherung einzuführen, umgesetzt, könnten
wir die Leistungen mit einem Beitragssatz von
10 Prozent gewährleisten, und das bei Abschaffung aller
Zuzahlungen.
({14})
Das Gesundheitssystem wird durch die derzeit zu beobachtende Kommerzialisierung immer mehr auf diejenigen ausgerichtet, die mit der Krankheit der Versicherten Profit machen wollen. Das ist eine absolute
Fehlentwicklung. Mit unserem Antrag wollen wir das
Gesundheitssystem vom Kopf wieder auf die Füße stellen: Der Patient gehört in den Mittelpunkt des Geschehens - damit jeder, unabhängig von seinem Einkommen,
die bestmögliche Versorgung erhalten kann. Darum gilt
es zu streiten. Ich bin gespannt auf die weiteren Beratungen.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hermann-Josef Scharf
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag
der Fraktion Die Linke, mit dem die Bundesregierung
aufgefordert wird, die Gesundheits- und Pflegeversicherung zu verstaatlichen und zentralistisch, durch den Gesetzgeber, zu führen. Die Linke will jeglichen Wettbewerb unter den Leistungserbringern unterbinden. Sie
stellt eine Forderung nach der anderen auf. Einen Hinweis, wie all das finanziert werden soll, findet man jedoch nicht, Herr Spieth.
({0})
Ein verstaatlichtes, zentralistisches Gesundheitssystem nach dem Motto „Gesundheitsversorgung für alle
zum Nulltarif“ hatten wir schon einmal in einem Teil unseres Vaterlandes.
({1})
40 Jahre lang gab es Vollversorgung, allerdings - von
den SED-Spitzen abgesehen - auf niedrigem Niveau.
Glück hatte der, der nicht auf Gesundheitsversorgung
angewiesen war. Unterhalten Sie sich einmal mit den
Menschen, die auf eine notwendige Operation wie den
Einbau einer künstlichen Hüfte Jahre warten mussten!
({2})
Oder bedenken Sie, was für eine erbärmliche Situation
in den wenigen Pflegeheimen herrschte! Die Menschen
konnten froh sein, einen der wenigen Plätze ergattert zu
haben. Meist ging das nur, wenn man die nötigen Beziehungen hatte.
({3})
Selbst dann war der Stellenschlüssel sehr schlecht. Unter
erbärmlichen Verhältnissen wurden die Menschen gepflegt. Oft fehlte es an einfachsten Heil- und Hilfsmitteln.
({4})
Die Ärzte, Schwestern und Pfleger mussten mit viel Hingabe und Fantasie versuchen, den kranken Menschen
wenigstens das Nötigste zu ermöglichen.
({5})
So etwas darf es nie mehr geben.
({6})
Wir, die Koalitionsfraktionen, haben in dieser Legislaturperiode die Weichen für ein zukunftsfähiges, transparentes und solidarisches Gesundheitssystem gestellt,
das es allen Menschen ermöglicht, an Fortschritt und Innovation im Gesundheitsbereich teilzuhaben. Und das ist
gut so.
({7})
Die Pflegereform war dabei eine unserer wichtigsten
sozialpolitischen Gesetzgebungen. Mit der Pflegereform 2008 haben wir es geschafft, für rund 2,1 Millionen
pflegebedürftige Menschen bessere Leistungen sicherzustellen und ein tragfähiges Konzept zur Fortentwicklung
der Pflege zu schaffen. Das war seit Jahren überfällig.
Wir als Union haben es mit unserem Koalitionspartner
auf den Weg gebracht.
Für uns als Union war dabei ausschlaggebend, dass
die zusätzlichen Mittel und Leistungsverbesserungen direkt bei den Betroffenen ankommen, statt in bürokratischen Strukturen zu verschwinden. 2,5 Milliarden Euro
fließen nun zusätzlich in das System. Dadurch finanzieren wir erstmalig die Erhöhung des Pflegegeldes seit
1995. Auch wenn Sie das als wenig bezeichnen, die
Menschen sind uns dafür dankbar.
Mit der Pflegereform wurden erstmals rund 700 000
Demenzkranke in die Pflegeversicherung einbezogen.
Dadurch erhalten diese Menschen erstmals dringend
notwendige Unterstützungsleistungen. Gleichsam bedeutsam ist aber auch, dass wir dadurch die Demenzerkrankung endlich in den Mittelpunkt unserer gesellschaftlichen Diskussion gerückt haben. Noch vor
einigen Jahren waren Angehörige von Dementen völlig
auf sich alleine gestellt und mussten mit der belastenden
und schmerzhaften Situation alleine fertig werden.
Wer einmal erfahren hat, was es heißt, wenn ein lieb
gewonnener Mensch sein Gedächtnis verliert und seine
Angehörigen nicht mehr erkennt, der ist dankbar, durch
eine mögliche Kurzzeit- oder Tagespflege auch einmal
selbst eine Entlastung von der aufopferungsvollen Pflege
zu erfahren. Für den Bereich Demenz geben wir durch
die Pflegereform etwa 1,5 Milliarden Euro mehr aus.
Danken möchte ich namens der CDU/CSU allen
Haupt- und Ehrenamtlichen, aber auch den Familienmitgliedern für ihre hervorragende Arbeit. Sie sind oft die
wahren Helden unserer Gesellschaft.
({8})
Selbstverständlich wird es auch in Zukunft Weiterentwicklungen in der Pflegeversicherung geben müssen. In
dem Antrag der Linken lesen wir lauter gut klingende
Forderungen nach noch mehr Leistungen. Sie müssen
den Menschen ehrlicherweise aber auch sagen, wie Sie
das alles finanzieren wollen, nämlich durch einen um ein
Vielfaches höheren Beitragssatz. Das sparen Sie aber leider aus und lassen die Menschen im Dunkeln. Eine bessere Pflege erreichen Sie damit nicht.
({9})
Wer sich mit der sozialen Demontage des rot-roten Senates in Berlin befasst, erlebt den Kontrast zwischen linkem Reden und linkem Handeln.
({10})
In dieser Legislaturperiode haben wir auch die Hospizarbeit und die Palliativmedizin gestärkt. Schwerstkranke haben nun einen Anspruch auf eine spezialisierte
ambulante Palliativversorgung, die es ihnen ermöglicht,
bis zum Tod zu Hause betreut zu werden. Ambulante
Hospizdienste können jetzt ihre Dienste neben dem privaten Bereich auch in Alten- und Pflegeheimen anbieten, wo sie, wie ich meine, dringend benötigt werden.
Ich hoffe sehr, dass die aufgetretenen Probleme bei
der Umsetzung bald gelöst werden; denn viele Schwerstkranke warten auf diese Dienste. Ich appelliere dringend
an die Selbstverwaltung der Kassen, hier etwas zu tun.
Die Anforderungen an Gesundheits- und Pflegeleistungen werden auch in Zukunft steigen. Unsere Sozialsysteme müssen also auch in Zukunft weiterentwickelt
werden, um Lösungen für die Deckung des steigenden
Finanzierungsbedarfs zu finden. Nach der Reform ist vor
der Reform. Die demografische Entwicklung stellt uns
hierbei vor große Herausforderungen. Bei allen Veränderungen müssen wir immer die Menschen mitnehmen.
Nur so können wir das nötige Vertrauen schaffen, damit
notwendige politische Veränderungen auch von unserer
Gesellschaft mitgetragen werden. Große Versprechungen, die falsche Hoffnungen wecken, sind der falsche
Weg. Eine Staatsmedizin mit einer einheitlichen und eingeschränkten Versorgung der Versicherten ohne Wahlmöglichkeiten ist nicht das, was die Menschen in unserem Land wollen.
Wir als Union schaffen Rahmenbedingungen, unter
denen die Versicherten und Leistungserbringer eigenverantwortlich gestalten und entscheiden können. Wir treten
für eine solidarische Absicherung ein, die eine hochwertige medizinische Versorgung ermöglicht, aber auch
Eigenverantwortlichkeit bei kleinen Risiken und eine
Selbstbeteiligung erfordert. Wir wollen ein Gesundheitswesen, das transparent ist, eine Kostenkontrolle und weniger Bürokratie erlaubt sowie Wahlfreiheiten für die
Versicherten offenhält. Durch die Gesundheitsreform haben wir bereits zahlreiche positive Änderungen vorgenommen. Einige Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung wie im Bereich der Rehabilitation, Kuren
und Impfungen sind in den Pflichtkatalog übernommen
worden. Versicherte können heute unter unterschiedlichen Wahl- und Bonustarifen wählen. Aber auch die
Einführung der Versicherungspflicht für alle ist ein
wichtiges Element eines modernen Sozialstaats.
Wir haben in dieser Wahlperiode viele wichtige Weichen für eine zukunftsfähige Weitergestaltung unserer
Sozialsysteme gestellt. Diesen Weg werden wir im Sinne
der Menschen engagiert weitergehen. Ein krankes
VEB-Gesundheitswesen ist keine Alternative.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Konrad Schily von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich
wollte ich der Versuchung nicht erliegen, nach der Lektüre des vorliegenden Antrags auf die Geschichte der
DDR zu verweisen.
({0})
Aber, lieber Herr Spieth, wenn Sie auf die höhere Lebenserwartung in Wilmersdorf verweisen, muss ich Sie
daran erinnern, dass sich die Lebenserwartung der Bürger der ehemaligen DDR - ich meine die einfachen
Menschen - nach ihrem Beitritt zum Westen um Jahre
verbessert hat.
({1})
Sie treten für eine solidarische Gesundheits- und Pflegeabsicherung ein. Was verstehen Sie unter Solidarität?
({2})
Sie schreiben am Ende der Seite 1 Ihres Antrags:
Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf medizinische Versorgung.
Daraus leiten Sie ab:
Deshalb ist das Gesundheitssystem von den Regeln
des Marktes zu befreien und öffentlich zu regulieren.
Herr Scharf hat es gesagt: Sie wollen das Gesundheitssystem verstaatlichen.
Was macht denn der Staat, wenn er die Solidarität für
die Bürger übernimmt? Er nimmt sie ihnen und gibt eben
nicht die Gewähr. Ein solidarisches System ist nur dann
wirklich solidarisch - das heißt solide, fest -, wenn der
Einzelne die Verantwortung für sich, in seiner Gemeinschaft, in seinen Pflichten und natürlich auch in seinen
Rechten und Ansprüchen behält.
({3})
Sie wenden sich nun ganz von unternehmerischem
Handeln ab. Sie sagen, in den letzten 30, 40 Jahren sei es
in der Gesundheitspolitik nur darum gegangen, die Kosten zu dämpfen. Damit haben Sie recht. Aber Sie müssen
sehen, dass das vorwiegend in einem staatlich administrierten Bereich geschah. Sie beklagen des Weiteren,
dass heute 30 Prozent der Krankenhäuser privat sind.
Warum ist das so? Sie sind privat, weil die Gemeinden
diese Krankenhäuser nicht mehr unterhalten konnten.
({4})
Die Gemeinden konnten keine weiteren Kredite für diese
Krankenhäuser aufnehmen. Schauen Sie sich doch diese
Krankenhäuser an! Erheben Sie nicht den Generalvorwurf, dass die Menschen dort schlecht behandelt werden! Oft werden die Menschen dort besser behandelt.
Man macht nach der Privatisierung ab sofort bei jedem
Patienten einen Diener, wenn er hereinkommt, und man
weiß sogar seinen Namen.
({5})
Es ist doch nicht so, dass staatliche Verwaltung von
vornherein die bessere ist.
({6})
- Sie muss auch nicht von vornherein die schlechtere
sein. Jedes Unternehmen, egal ob profitorientiert oder
gemeinnützig, jedes Krankenhaus, jeder Arzt, jede Arztpraxis hat eine unternehmerische Seite: Es muss mit jeweils begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen ein Optimum erreicht werden. Wenn ein Unternehmen aber in
Hunderten, ja in Tausenden von Regeln erstickt wird,
dann kann es eben nicht mehr wirtschaften. Das war der
Grund, warum viele öffentliche Krankenhäuser aufgeben
mussten: Sie erstickten in Regeln und Tarifverträgen.
({7})
- Ach, Frau Ferner, das ist wirklich billig.
({8})
Es geht nicht darum, Tarifverträge abzuschaffen, sondern es geht darum, eine Solidarität zu beschreiben, in
der der Einzelne Verantwortung hat und in der der Einzelne freiberuflich arbeiten kann. Das kann er eben in einem verstaatlichten System nicht. Deswegen finde ich es
etwas merkwürdig, dass hier der inhabergeführten Apotheke das Wort geredet wurde. Das passt nämlich überhaupt nicht hinein.
({9})
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann auch sie vergesellschaftet werden muss.
({10})
Sie beziehen sich - Herr Scharf ist schon darauf eingegangen - auf die Zweiklassenmedizin: Auf der einen
Seite der normale Bürger, auf der anderen Seite die Rei24028
sekader, die besser behandelt werden. Dann kommt die
Forderungskette.
({11})
- Sie kennen sich wahrscheinlich noch besser aus. Das
ist das Wort, das ich am besten kenne.
({12})
Eine Zweiklassenmedizin können Sie nur dadurch überwinden, dass Sie das Gesundheitswesen von den Fesseln, die es jetzt bindet, befreit.
({13})
- Verweisen Sie doch nicht auf die USA!
({14})
- Solidarität müssen Sie einfach neu denken und neu lernen.
({15})
- Sie fragen: Was ist eine Fessel? Wenn Sie nicht tun
dürfen, was Sie tun müssten, wenn Sie aber etwas tun
müssen, was unsinnig ist, beispielsweise als Arzt, dann
ist das eine Fessel. Es gibt unheimlich viele Dinge, bei
denen man nach dem gesunden Menschenverstand und
nach ärztlichem Verstand sagen würde: Das ist richtig.
Aber es ist verboten.
({16})
Denken Sie doch an die Positivliste. Denken Sie an die
Dinge, bei denen der Staat sagt: Wir sind der richtige Behandler. Wir wissen, wie es geht. - Es ist der Freiberufler
vor Ort, der am besten weiß, wie es geht, aus jeder Situation nicht nur therapeutisch das Optimum zu machen,
sondern auch das wirtschaftliche Optimum zu erreichen.
Herr Kollege Schily, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ilja Seifert?
Er ist ja ein Geburtstagskind.
Herr Seifert, bitte.
Herr Kollege Schily, können Sie mir bitte erklären,
was es mit Solidarität zu tun haben soll, wenn Krankenhäuser Profit erwirtschaften müssen?
({0})
Ein Krankenhaus, das wirtschaftlich keinen Mehrwert
schafft, ist nicht mehr investitionsfähig und fällt damit
aus der Solidargemeinschaft schnell heraus.
({0})
In Ihrem Antrag wird ausgeführt, dass alles mit Steuergeldern finanziert werden soll. Auch wenn eine Krankenkasse nach dem neuen GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz nicht gut wirtschaftet, soll sie mit Steuermitteln
am Leben erhalten werden. Das hat nach meiner Ansicht
mit Solidarität nichts zu tun.
({1})
Das heißt, die Kosten im Gesundheitswesen werden einzig und allein aus Steuermitteln gedeckt. Damit entstehen keine Preise.
Nun werden Sie gleich wieder sagen: Was ist so
furchtbar daran, im Gesundheitswesen nicht die Preise
zu kennen? Der Preis gibt doch nur an, wie viel etwas
kostet. Der Preis ist nur das Instrument. Indem Sie den
Preis verweigern - das zeigt die gesamte Systematik Ihres Antrags -, können Sie gar nicht mehr sagen, wohin
welcher Zuschuss in welchem Maße gegeben werden
muss.
({2})
Sie wissen gar nicht mehr, was los ist. Das geht unter im
allgemeinen, undurchsichtigen Gemenge.
({3})
Dann schaffen Sie mit Sicherheit eine neue Behörde, die
Aufklärung schaffen soll, wohin das viele Geld gegangen ist. Sie bewegen sich in einer Abwärtsspirale. Das,
was wir als FDP bedauern, ist, dass wir diese Abwärtsspirale in den letzten Jahren gehabt haben. Deswegen
glauben wir, dass wir das Sozialgesetzbuch V neu
schreiben müssen und zu einem neuen solidarischen Ansatz kommen müssen, der aber die Freiheit und die Eigenverantwortung des Einzelnen nicht beschneidet. Das
Solidarische, das Soziale ist nicht unter Umgehung der
Freiheit zu erreichen.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Ferner von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Herr Kollege Spieth hat schon am Ende seiner Rede
ganz richtig gesagt, dass wir jetzt fragen werden, wie
man die Wünsche, die die Linke in ihrem Antrag formuliert hat, finanziert. Erstaunlich ist, dass Sie für jeden
etwas im Gepäck haben, selbst für die Apotheker. Sie
wollen ein neues Ärztehonorarsystem, ohne näher zu erläutern, wie das konkret aussehen soll. Sie entlassen sogar die Länder aus ihrer Verpflichtung, was die Bereitstellung von ausreichenden Investitionsmitteln für die
Krankenhäuser anbelangt; denn Sie sehen plötzlich den
Bund mit in der Pflicht. Ich glaube, so einfach kann man
sich das nicht machen. Sie verfahren nach dem Motto:
„Im Himmel ist Jahrmarkt, Freibier für alle.“ Das können Sie machen, weil Sie nie in die Lage kommen werden, das in konkrete Politik im Deutschen Bundestag
umsetzen zu müssen.
({0})
- Ich habe hier vom Deutschen Bundestag gesprochen,
Herr Kollege Bahr. Sie müssen genau zuhören.
({1})
Außerdem wird über die gesetzliche Krankenversicherung nicht in einem Landtag, auch nicht in dem Landtag
des schönsten Bundeslandes, das wir haben, entschieden;
({2})
die Gesundheitspolitik findet immer noch hier im Deutschen Bundestag statt.
({3})
Sie erwecken in Ihrem Antrag den Eindruck - deshalb
ist der Ansatz auch nicht richtig -, gut sei gleich teuer.
Ich finde allerdings, dass wir es den Beitragszahlerinnen
und Beitragszahlern schuldig sind, dass wir darauf achten, dass die Mittel, die sie jeden Monat an die gesetzliche Krankenversicherung abführen, zielgerichtet verwendet werden, und dass die Menschen, die wirklich
eine teure und intensive Behandlung brauchen, diese Behandlung bekommen können. Deshalb halte ich es für
gerechtfertigt, dass diejenigen, die eine - in Anführungszeichen - Allerweltskrankheit haben, in der Auswahl der
Arzneimittel etwas eingeschränkter sind. Das ist besser,
als die ganze Bandbreite vom teuersten bis zum billigsten Arzneimittel zur Verfügung zu stellen.
({4})
Was wir eben von der FDP gehört haben, war eine besondere Definition von Solidarität. Auch das war einmal
anders. Wenn Solidarität so verstanden wird, dass jeder
für sich selber sorgt und damit für alle gesorgt ist,
({5})
dann rüttelt das schon an den Grundfesten unserer Demokratie.
({6})
Wir feiern in diesem Monat den 60. Jahrestag des
Grundgesetzes. Im Grundgesetz herrscht ein ganz anderes Verständnis von Solidarität als das, was Sie hier zum
Besten geben.
Die Sozialversicherungssysteme, die wir in Deutschland haben, sind staatlich organisierte Solidarität. Der
Unterschied zwischen Ihnen und uns ist, dass wir der
Auffassung sind, dass jeder nach seiner Leistungsfähigkeit dafür sorgen soll, dass die Menschen, die in Not geraten, die krank werden und die pflegebedürftig sind, die
Versorgung erhalten, die sie brauchen. Was Sie meinen,
ist der Wohlfahrtsstaat. Das heißt, es hängt vom Gutdünken derer, die vielleicht etwas bezahlen können, ab, ob
sie bereit sind, anderen, die in Not sind, zu helfen. Das
ist der Unterschied. Ich glaube nicht, dass Sie mit Ihrer
Haltung viel Anklang in der Bevölkerung finden.
({7})
Frau Kollegin Ferner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Gerne, wenn Sie die Uhr anhalten.
Bitte schön.
Frau Kollegin, wo leiten Sie aus meinen Ausführungen, aus meiner Definition der Solidarität, ab, dass die
FDP den Einzelnen alleine lassen will?
Das zeigt sich in Ihrem eigenen Antrag, den wir vor
wenigen Wochen hier im Deutschen Bundestag diskutiert und auf den Sie eben selber verwiesen haben. Sie
haben gesagt, Sie wollen das SGB V, also das Gesetz, in
dem die gesetzliche Krankenversicherung und auch deren Finanzierung geregelt ist, komplett umschreiben.
Das geht nicht nur aus Ihrem Antrag hervor, sondern das
war auch in Ihren Pressemitteilungen und in denen von
Herrn Bahr zu lesen. Sie möchten die gesetzliche Krankenversicherung abschaffen.
({0})
- Ich suche es Ihnen heraus und schicke es Ihnen; dann
können Sie sich das am Wochenende gerne noch einmal
durchlesen.
({1})
Sie möchten, dass jeder sich privat versichert. Wer aber
weiß, wie private Krankenversicherung funktioniert,
Herr Kollege Schily, der weiß auch, dass diese Krankenversicherung Risikoprüfungen durchführt und Menschen
mit bestimmten Krankheiten überhaupt nicht versichert
oder nur zu so teuren Prämien, die sich wirklich nur
noch Millionäre leisten können. Es ist auch bekannt,
dass es nichts Besseres gibt, als dass Menschen für Menschen einstehen. Private Versicherungen arbeiten erst
einmal profitorientiert. Sie wollten lange Zeit nicht
Kranke, sondern nur Gesunde versichern. Wir haben mit
der letzten Gesundheitsreform deshalb die Pflicht zur
Versicherung eingeführt.
({2})
Insofern gibt es genügend Indizien für eine solche
Schlussfolgerung.
({3})
Ich möchte den Rest meiner Redezeit dazu nutzen,
noch einmal deutlich zu machen, was wir wollen. Für
uns ist Gesundheitspolitik wirklich eine zentrale Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge, die privat nicht funktioniert. Der Staat muss sich zu eigen machen, für eine
gleich gute und qualitativ hochwertige medizinische
Versorgung aller Menschen zu sorgen; denn der Markt
wird es nicht richten.
({4})
Wie diese Versorgung organisiert wird, ist die zweite
Frage. Da haben wir wahrscheinlich auch unterschiedliche Vorstellungen.
Wir wollen eine solidarische und gerechte Finanzierung. Bereits im letzten Bundestagswahlkampf sind wir
für eine Bürgerversicherung eingetreten, in die alle Menschen einbezogen werden, in die jeder entsprechend seinem jeweiligen Einkommen und seiner individuellen Fähigkeit einbezahlt, damit alle Menschen die medizinische
und pflegerische Versorgung bekommen, die sie brauchen.
({5})
Wir wollen auch einen gerechten Ausgleich zwischen
den unterschiedlichen Risiken in den bisherigen Systemen, zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung, zwischen sozialer Pflegeversicherung und privater Pflegeversicherung. Nur damit erreichen wir eine
wirklich dauerhaft tragfähige Finanzierungsgrundlage,
weil die sozialversicherungspflichtigen Einkommen
nicht in dem Maße wachsen, wie die Ausgaben im Gesundheitsbereich steigen.
({6})
Wir wollen den heutigen Sonderbeitrag von 0,9 Beitragssatzpunkten wieder paritätisch finanzieren,
({7})
und wir wollen natürlich auch einen gleichen Zugang zur
medizinischen Versorgung für alle Menschen.
Wenn gesetzlich Versicherte in Arztpraxen entweder
keinen Termin bekommen oder ihn nicht so schnell bekommen, wie sie ihn brauchen, dann ist es auch Aufgabe
der gesetzlichen Krankenversicherung, ihren Versicherten zu einem zeitnahen Termin zu verhelfen. Wer geht
schon aus Jux und Tollerei zum Arzt?
({8})
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Gesundheitsprävention. Leider haben wir uns mit der Union nicht auf
ein vernünftiges Präventionsgesetz verständigen können.
Wir müssen die Menschen in ihren Lebenswelten abholen - am Arbeitsplatz, in den Kindertagesstätten, in den
Schulen, im Stadt- oder Wohnquartier. Sie haben das
entsprechende Gesetz leider blockiert und sind dafür
verantwortlich, dass wir vier Jahre verloren haben, in denen weiter nebeneinander her gewurschtelt wird und in
denen wir eben nicht zu einer vernünftigen Gesundheitsprävention kommen.
({9})
Auch dadurch werden die sozialen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft verstärkt.
({10})
Ich will zum Schluss sagen, dass die Wähler und
Wählerinnen sich darauf verlassen können, dass es mit
uns keine Zerschlagung der gesetzlichen Krankenversicherung geben wird, wie es die FDP fordert. Wir werden
auch nicht die Hand reichen zu einer Reduzierung des
Leistungskataloges, wie es die Union noch bei der Gesundheitsreform gefordert hat. Mit uns wird es keine ungerechten Kopfprämien geben. Wer auch in Zukunft eine
gute, gerecht finanzierte gesundheitliche Versorgung haben will, der hat am 27. September die Chance, eine gute
Wahl zu treffen, nämlich SPD zu wählen.
({11})
- Ich hätte gern Ihre Zwischenfrage beantwortet; aber
meine Redezeit ist leider zu Ende.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde
nicht von der DDR reden. Beim Lesen des Antrags der
Linken habe ich mich aber sehr wohl an etwas erinnert
gefühlt, und zwar an die CSU: an den freundlichen Diener gegenüber den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, an das Bekenntnis zur inhabergeführten Apotheke,
an die Rhetorik gegen profitorientierte Gesundheitskonzerne. Das alles habe ich schon einmal gelesen. Das alles
sind Bausteine der jüngsten gesundheitspolitischen Beschlüsse aus Bayern.
({0})
Ich halte diese Parallelen nicht für Zufall. Beide Parteien wollen als Regionalparteien ihre Klientel auch unter den kleinen Gewerbetreibenden im Gesundheitswesen bedienen. Auch in dieser Hinsicht versucht sich die
Linke als CSU des Ostens.
({1})
Ich bin mir sicher: Wenn die Geschäftszentrale eines
führenden Privatversicherers nicht in München, sondern
in Leipzig wäre, dann hätte das, lieber Herr Spieth, Auswirkungen auf die Ausgestaltung Ihres Bürgerversicherungskonzeptes. Darauf könnte ich wetten.
({2})
Allerdings belässt es die Linke nicht beim Klientelismus. In diesem Antrag kommen 50 Positionen vor, mit
denen die Kranken- und Pflegeversicherung verbessert
werden soll. Viele dieser Positionen kann man guten Gewissens teilen. Wer hat schon etwas gegen ein demokratisches und am Bedarf der Bevölkerung ausgerichtetes
Gesundheitssystem? Wer will seine Stimme dagegen erheben, dass Gesundheits- und Pflegeberufe attraktiver
werden? Auch die Forderung, den Gesundheitsfonds finanziell so auszustatten, dass die Krankenkassen keine
Zusatzbeiträge nehmen müssen, wird zwar nicht den
Beifall der Koalition finden, ist aber richtig, jedenfalls so
lange, wie der Gesundheitsfonds nicht abgeschafft ist.
Trotzdem ist dieser Antrag völlig belanglos, weil konturlos wie ein Pudding. In der Gesundheitspolitik gibt es
Zielkonflikte, gibt es Interessengegensätze, und daher
stellen sich immer wieder Fragen der Finanzierbarkeit.
In Ihrem Antrag kommt das alles nicht vor.
Ein Beispiel: die Krankenhausversorgung. Wie schon
erwähnt wurde, fordern Sie, die Privatisierung von Krankenhäusern zu unterbinden und bereits privatisierte
Krankenhäuser wieder in die öffentliche Trägerschaft zu
führen. Da kann ich nur sagen: Ich wünsche gute Verrichtung.
({3})
Schauen Sie sich einmal Folgendes an: Bundesweit sind
30 Prozent der Krankenhäuser in privater Trägerschaft;
in Teilen Ostdeutschlands liegt dieser Anteil wesentlich
höher. Würden Ihre Beschlüsse umgesetzt, müssten
Kommunen, die sich von ihren Krankenhäusern oft gerade erst getrennt haben, weil sie sie nicht mehr finanzieren konnten,
({4})
versuchen, diese Krankenhäuser wieder selber zu finanzieren. Das Ergebnis wäre, dass es in weiten Teilen des
Ostens keine Krankenhäuser mehr gäbe. Dort bräche die
Versorgung zusammen.
Hinzu kommt - ich verweise auf Ihren entsprechenden Antrag -: Auch für Sie ist der Investitionsstau bei
der Krankenhausfinanzierung angeblich ein Problem.
Wenn privates Kapital in diesen Bereich aber gar nicht
mehr fließen darf, weil es keine privaten Krankenhäuser
mehr gibt, dann müssen Sie auch all das zusätzlich durch
Steuern finanzieren. Ich möchte langsam einmal wissen,
woher Sie all das nehmen wollen.
({5})
Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spieth?
Nein. Ich möchte noch ein paar Argumente unterbringen.
Ähnlich unausgegoren sind die Ausführungen zu den
medizinischen Versorgungszentren. Auf Seite 3 des Antrages lesen wir:
Viele der sogenannten „Medizinischen Versorgungszentren“ sind reine „Profit-Center“, mit denen
Klinik-Konzerne in den ambulanten Bereich drängen.
Blättert man eine Seite weiter, heißt es:
Diese
- Krankenhäuser sollen mit eigenen poliklinischen Strukturen an der
ambulanten Versorgung teilnehmen.
Ja, was denn nun, Herr Spieth? Sollen sich Krankenhäuser an der ambulanten Patientenversorgung beteiligen
dürfen oder nicht?
Es ist doch so: Vor allem für viele kleinere Krankenhäuser ist die Überlebensfähigkeit nur gegeben, wenn sie
sich tatsächlich via MVZ in den ambulanten Bereich
ausdehnen können. Viele niedergelassene Fachärzte
empfinden genau dies aber als eine Bedrohung. Was
schließen Sie daraus? Sie sind für beides. Da kann ich
nur sagen: Gleichzeitig den Gewerkschaften immer
wohl- und den niedergelassenen Ärzten niemals wehgetan, damit ist in der Gesundheitspolitik niemandem recht
getan. - Das wird nicht funktionieren. Sie können nicht
ständig zwei Hüte aufhaben.
({0})
Auch nicht zu Ende gedacht ist bei Ihnen die Pharmapreispolitik. Sie beschweren sich darüber, dass die Pharmaindustrie Profite auf Kosten der Versicherten mache.
Was schließen Sie daraus? Sie wollen die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel auf 7 Prozent reduzieren.
({1})
Da die Pharmaindustrie aber nun einmal in keiner Weise
gezwungen ist, dann mit den Preisen entsprechend herunterzugehen, heißt das im schlechtesten Fall,
({2})
dass die Versicherten doppelt zahlen, erstens die hohen
Beiträge und zweitens für den Verlust von Steuermitteln
in Höhe von 6 Milliarden Euro, die sie mit ihren Steuern
ausgleichen müssen. Da kann ich nur sagen: Herzlichen
Glückwunsch!
({3})
So, wie die Linke glaubt, nämlich einfach mit einem
Wunschzettel, funktioniert die Reform des Gesundheitswesens jedenfalls nicht.
Damit es hier nicht zu gemütlich wird, will ich nicht
versäumen, zu sagen, dass die Koalition an den zentralen
Reformaufgaben im Gesundheitswesen gründlich gescheitert ist.
({4})
Die Prävention führt weiterhin ein Schattendasein. Bei
der Reform der Krankenhausfinanzierung sind Sie über
Ansätze nicht hinausgekommen. Die Finanzreform in
der gesetzlichen Krankenversicherung wurde schlicht
vertagt. Alles, was Sie auf die Reihe bekommen haben,
ist, mit dem Gesundheitsfonds eine Geldsammelstelle zu
schaffen, die viele Probleme nicht löst, aber dafür viele
schafft.
Wenn sich bei der Bundestagswahl nichts ändert, bedeutet das, dass spätestens danach den Bürgern und Bürgerinnen in Form flächendeckend erhobener Zusatzbeiträge die Rechnung präsentiert wird. Deswegen brauchen
wir bei dieser Wahl, gerade auch wegen der Gesundheitspolitik, Alternativen. Aber mit voluminösen Wunschzetteln und Liebedienerei gegenüber den verschiedenen
Klientelgruppen - das sage ich an die Adresse der Linkspartei - arbeitet man nicht an einer solchen Alternative.
Da empfehle ich die grüne Bürgerversicherung.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hennrich für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten
heute den Antrag der Linken zum Thema der solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung. Sie von den
Linken haben Leitsätze und Zielsetzungen formuliert,
ohne konkret dazu Stellung zu beziehen, ob diese in
Deutschland erfüllt werden. Sie haben auf den UN-Sozialpakt von 1966 verwiesen, in welchem das Recht auf
medizinische Versorgung festgeschrieben ist. Herr
Spieth, ich frage Sie: Stellen Sie das für Deutschland
ernsthaft infrage?
({0})
Weil vielleicht auch viele Fernsehzuschauer diese Debatte verfolgen, will ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass wir in Deutschland im Gegensatz zur früheren
DDR ein gut funktionierendes Gesundheitssystem haben. Es gibt eine flächendeckende Versorgung auf hohem Niveau. Bei allen Diskussionen mit den Leistungserbringern erfahren wir: Es sind motivierte Menschen,
die in diesem System arbeiten. - Wir haben ein hohes
Maß an Finanzierungsgerechtigkeit in diesem System erreicht. - Das sind nicht meine Feststellungen; das sind
die Feststellungen der OECD sowie der Europäischen
Union.
Ich will nicht leugnen, dass wir ständig vor neuen Herausforderungen stehen, Herr Spieth, aber die Herausforderungen heißen nicht „Kommerzialisierung“ oder „Privatisierung“, sondern „demografische Entwicklung“ und
„medizinischer Fortschritt“. Das sind Begriffe, die in Ihrem Antrag keinen Platz gefunden haben.
Wir fragen uns als Große Koalition täglich neu: Wie
werden wir diesen Herausforderungen gerecht? Wie erreichen wir, dass die Versicherten am medizinischen
Fortschritt teilhaben? Wie hat die Gesundheitspolitik auf
die demografische Entwicklung zu reagieren? Gerade im
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz haben wir noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht, dass dies die dominierenden Themen sind. Ich nenne nur: Schutzimpfung als Pflichtleistung, Ausweitung der Rehabilitation
und der Palliativversorgung, Erweiterung des Begriffs
der häuslichen Pflege. Dies alles sind medizinische Leistungen, die gerade die Lage der älteren Menschen verbessern und eine unmittelbare Antwort auf die demografische Entwicklung geben.
Wir haben in der Tat Probleme, was die langfristige
Finanzierung angeht, und stellen uns immer wieder neu
die Frage, wie wir Finanzierungsgerechtigkeit schaffen.
Es ist richtig, wenn Sie feststellen, dass wir unser Gesundheitssystem in Zukunft nicht mehr ausschließlich
über den Faktor Arbeit finanzieren können. Die hohen
Sozialversicherungsbeiträge sind eine zunehmende Belastung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber
auch für die Arbeitgeber. Dies erleben wir gerade jetzt in
dieser schwierigen wirtschaftlichen Zeit. Deswegen haben wir im Rahmen des Konjunkturpakets II die Krankenversicherungsbeiträge gleichermaßen zugunsten von
Arbeitnehmern und Arbeitgebern gesenkt. Ich hielte es
für ein fatales Zeichen, in dieser Situation Arbeitgeber
und Arbeitnehmer gegeneinander auszuspielen. Es geht
hier schlicht und ergreifend um den Erhalt der Arbeitsplätze.
Bei der Frage der Finanzierung achten wir auch darauf, dass sie sich an den Bedürfnissen derjenigen ausrichtet, die auf medizinische Leistungen angewiesen
sind. Deswegen haben wir mit dem Gesundheitsfonds
eine einheitliche Pauschale geschaffen, die mit morbiditätsabhängigen Zuschlägen operiert. Wir haben den
Wettbewerb der Krankenkassen um junge und gesunde
Versicherte abgeschafft. Für uns stehen diejenigen im
Mittelpunkt, die auf medizinische Hilfe und Gesundheitsleistungen angewiesen sind.
Meine Damen und Herren, unser Ziel ist die Sicherstellung der Teilhabe am medizinischen Fortschritt unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit des
Einzelnen. Das heißt aber auch ganz konkret, wie es der
Kollege Dr. Schily schon angedeutet hat, dass der Einzelne für dieses System, für dessen Leistungsfähigkeit
und dessen kosten- und preisbewusste Inanspruchnahme
Verantwortung trägt. Nur so können wir langfristig dieses System finanzieren. Deswegen ist es ganz wichtig,
dass wir darauf achten, von den Versicherten Eigenverantwortung zu verlangen, und dem Wirtschaftlichkeitsgebot gerecht werden. Gerade die Zuzahlungsregelungen sind meines Erachtens hier ein wirksames
Steuerungsinstrument.
({1})
Dies sehen wir beim Thema Praxisgebühr und bei den
Zuzahlungen für die Arzneimittel. Warum soll der Einzelne nicht Verantwortung dafür tragen, dass er ein kostengünstiges Medikament kauft, und warum sollen wir
nicht zum Beispiel diejenigen belohnen, die dann noch
deutlich günstigere Medikamente verwenden? Hier haben wir die Zuzahlungsverpflichtung abgeschafft. Es
gibt heute viele Medikamente, die von der Zuzahlung
befreit sind. Das übt wieder Druck auf die Pharmaindustrie aus. Dies alles ist nicht staatlich gelenkt, sondern basiert auf wettbewerblichen Grundsätzen.
({2})
Der Begriff Wettbewerb ist bei den Linken negativ
besetzt. Ich habe ein positives Verständnis von Wettbewerb. Wettbewerb bedeutet für mich Innovation und
Entwicklung. Sie sehen Wettbewerb nur als Mittel zur
Steigerung des Profits und zur Durchsetzung der Kommerzialisierung. Wenn es um Wettbewerb geht, sprechen
wir über Preis- und Qualitätswettbewerb. In Ihrem Antrag ist dies - Frau Bender, Sie sind darauf schon eingegangen - nirgends deutlicher als bei Ihren Ausführungen
zu den medizinischen Versorgungszentren geworden. Sie
sprechen hier von reinen Profitzentren und Wertschöpfungsketten. Uns geht es bei den medizinischen Versorgungszentren um eine medizinische Versorgung aus einer Hand, um eine zusätzliche Versorgungsform. Der
Einzelne soll die Wahl haben, welche Form von Leistung
er in Anspruch nimmt. Niemand ist gezwungen, medizinische Versorgungszentren aufzusuchen. Wir haben freie
Arztwahl.
({3})
Zur freien Arztwahl finde ich in Ihrem Antrag keinerlei
Aussage.
Sie fordern in Ihrem Antrag die Trennung von ambulanten und stationären Einrichtungen in der Gesundheitsvorsorge. Wie wollen Sie dann flächendeckende
ambulante und vor allem fachärztliche Versorgung sicherstellen? Oder wollen Sie die Abschaffung der sogenannten doppelten Facharztstruktur? Dann müssen Sie
das auch deutlich zum Ausdruck bringen. Für uns in der
Union gilt immer noch: ambulant vor stationär.
({4})
Sie wollen Gesundheitskonferenzen, ein Präventionsgesetz, in allen Bereichen ein gesteuertes und durchorganisiertes Gesundheitssystem und natürlich, Herr Spieth,
die Bürgerversicherung.
({5})
Die Union ist gegen die Abschaffung der privaten Krankenversicherung als Vollversicherung.
({6})
Sie ist dagegen, dass deren Tätigkeit auf das Zusatzversicherungsgeschäft beschränkt bleibt. Anders als in der
rein umlagefinanzierten GKV haben wir bei den privaten
Krankenversicherungen eine mittel- und langfristige
Finanzierung sichergestellt. Es gibt Altersrückstellungen.
({7})
Wenn Sie heute die PKV-Versicherten in ein rein umlagefinanziertes System überführen, haben Sie sich vielleicht kurzfristig etwas Luft geschafft, aber langfristig
die Finanzierung infrage gestellt. Damit bürden Sie die
Probleme der demografischen Entwicklung komplett
künftigen Generationen auf.
Sie wollen Kapital- und Mieteinkünfte in eine Bürgerversicherung einbeziehen. Sie müssen mir einmal erklären, wie Sie das machen wollen. Ich bin Mitglied einer
Haus- und Grundstückseigentümerorganisation. Meine
Klientel sind Menschen, die älter als 65 Jahre sind. Sie
haben in ihrem Leben Geld angespart und Immobilien
erworben, mit denen sie schlicht und ergreifend ihren
Ruhestand finanzieren wollen. Denen wollen Sie jetzt
zusätzliche Leistungen aufbürden. Das ist ein klarer Angriff auf alle Rentnerinnen und Rentner.
({8})
- Herr Spieth, ich bin Ihnen dankbar für den Hinweis.
Das ist gesetzlich geregelt in § 62 des SGB V. Fragen
Sie einmal bei Ihren Krankenkassen nach, wie viele
Menschen zusätzliche Einnahmen haben! Es werden null
sein. Wie also wollen Sie das organisieren?
({9})
- Ich habe ja von den Mieten gesprochen.
Herr Kollege Hennrich, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ich will abschließend sagen: Wir wollen kein staatlich
organisiertes Gesundheitswesen, sondern eines, das auf
Wettbewerb ausgerichtet ist. Wir setzen auf Eigenverantwortung statt auf Bevormundung, und wir lehnen es ab,
etablierte und bewährte Strukturen zu zerstören, wie Sie
es laut Ihrem Antrag mit der ambulanten fachärztlichen
Versorgung oder den privaten Krankenversicherungen
vorhaben. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Frank Spieth.
Frau Bender, ich hatte mich vorhin auf Ihren Beitrag
hin gemeldet, und darum geht es nach wie vor. Sie hatten
darauf hingewiesen, dass unser Vorschlag, die privatisierten Krankenhäuser in öffentliche Trägerschaft zurückzuführen, kaum zu realisieren sei; Sie haben das als
nicht machbar und politisch absurd dargestellt. Das war
der Kern Ihrer Aussage.
({0})
- Ich will mit Ihnen jetzt gar nicht über den Osten reden,
sondern über den Westen. In Hessen hat Herr Koch zwei
Universitätskliniken privatisiert und an das Rhön-Klinikum verkauft. Im rot-grünen Koalitionsvertrag von Hessen, der vor kurzem leider aufgrund anderer Geschichten
gescheitert ist, ist festgelegt, dass die Privatisierung der
Universitätskliniken Gießen und Marburg zurückgenommen werden soll und dass das Land Hessen dem RhönKlinikum eine entsprechende Abfindung zu zahlen hat,
weil die von Schwarz durchgeführte Privatisierung gegen die Interessen, auch gegen die berechtigten Versorgungsinteressen, der Bevölkerung sei. Spinnen die Grünen in Hessen?
({1})
Frau Kollegin Bender, wollen Sie erwidern?
({0})
Keineswegs. Das war eine gute Idee. Denn die Privatisierung dieser Uniklinik hat sich nach allem, was ich
gehört habe, nicht bewährt. Da gibt es Schwierigkeiten
mit der Forschung, der Lehre usw.
({0})
Sie aber wollen alle privaten Kliniken in öffentliche Trägerschaft überführen.
({1})
Da müssen Sie sich fragen lassen, wie Sie so eine flächendeckende Krankenhausversorgung, insbesondere im
Osten des Landes, gewährleisten wollen.
({2})
Da werden Sie weiße Flecken bekommen, Regionen, in
denen die Versorgung nicht mehr sichergestellt werden
kann. Sie sollten solche Forderungen nicht in die Welt
setzen oder sich den Folgen stellen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über einen Antrag der Fraktion Die
Linke. Die Art der Debatte macht mich sehr zuversichtlich; denn das Haus ist sich weitgehend einig, dass die
Linke eine Parallelwelt aufbaut, indem sie zunächst ein
Zerrbild des Gesundheitswesens vorlegt, um dann mit
einer Wunschliste aus 50 Einzelforderungen, die mal
eben kurz vor den letzten vier Sitzungswochen vorgelegt
werden - daran sieht man die Seriosität dieser Arbeit -,
jedem etwas anzubieten. Die Freiberufler bekommen etwas angeboten. Die Kliniken bekommen etwas angeboten. Es werden im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung neue Forderungen erhoben.
Herr Kollege Spieth, ich schätze Sie als einen Kollegen, der im Fachausschuss hoch sachkundig ist. Entweder Sie haben bewusst zugelassen, dass, mit Ihrer Person
verbunden, ein Antrag formuliert wird, der mit der Realität überhaupt nichts zu tun hat, oder Sie haben um eines
billigen Wahlkampfgags willen Ihre Reputation aufs
Spiel gesetzt; denn dieses Vademekum, diese Wunschliste
können Sie nicht wirklich ernst meinen.
({0})
Einige Kollegen haben schon auf offensichtliche Widersprüche in Ihrem Antrag hingewiesen. Da wird zum
Beispiel ein Forderungskatalog beim Thema Pflege aufgemacht. Da wird mal eben für demenziell Erkrankte
über das, was wir von der Koalition auf den Weg gebracht
haben - jetzt werden im Rahmen der Pflegeversicherung
Verbesserungen in einer Größenordnung von 2 Milliarden
Euro vorgenommen -, das Füllhorn der Wohltaten ausgeschüttet. Da wird der für demenziell Erkrankte vorgesehene Betrag mal eben von 2 000 Euro auf 6 000 Euro
pro Person angehoben.
({1})
Dies ist eine Verdreifachung. Dies führt zu einer Kostensteigerung von 6 Milliarden Euro.
Dann haben Sie eine sofortige Dynamisierung und
eine sofortige Erhöhung des Pflegegeldes vorgesehen.
Zudem wollen Sie für die persönliche Assistenz einen
Betrag in unbegrenzter Höhe sofort einführen.
({2})
Wenn man das, was Sie im Rahmen der Pflegeversicherung fordern, addiert, kommt man noch in dieser Legislaturperiode auf eine Summe von über 10 Milliarden
Euro. Das hat mit seriöser Politik nichts zu tun, weil Sie
die Antwort schuldig bleiben, wie Sie dies finanzieren
wollen.
({3})
Selbst wir, die wir eine Bürgerversicherung in der Pflege
wollen,
({4})
wissen ganz genau, dass diese nur ein Finanzierungsvolumen von vielleicht 2 Milliarden Euro zusätzlich erschließt.
({5})
Das heißt, Sie machen Ihre Forderungen durch das, was
Sie hier mal eben so formuliert haben, unglaubwürdig.
Die Kollegin Bender hat recht: Bei den Krankenhäusern besteht das gleiche Problem. Auf der einen Seite
sind Sie gegen MVZs an Kliniken; auf der anderen Seite
sollen sie für die Ambulanz geöffnet werden. Schon dies
ist in sich widersprüchlich. Dann entlassen Sie die Bundesländer aus ihrer Verantwortung für die Investitionen
und sagen: Bund und Länder sollen gemeinsam für
Krankenhausinvestitionen von 50 Milliarden Euro geradestehen. Na prima! Sie sagen natürlich wiederum nicht,
wie das Ganze finanziert werden soll.
({6})
Herr Kollege Spieth, ich kann an dieser Stelle nur sagen: Es besteht ein Unterschied zwischen Protestlinken
und Gestaltungslinken. Bei Ihnen reicht es aus, wenn
man einfach alles mal aufschreibt. Wir müssen es umsetzen. Deswegen würden wir so eine Wunschliste niemals
ohne eine Gegenfinanzierung präsentieren.
({7})
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Sie
meines Erachtens eine Struktur in Ihre Begründung bringen, die völlig an der Realität vorbeigeht. Kollege
Hennrich hat recht, wenn er sagt, Sie hätten die internationalen Studien nicht zur Kenntnis genommen. Da
wird gesagt, was alles schlecht sei; aber es wird ein Zerrbild gezeichnet, das mit der Wahrnehmung nichts zu tun
hat. Die OECD und die WHO haben Deutschland gelobt.
Frau Dr. Chan hat ja ebenso wie ein Mitglied Ihrer Fraktion an der diesbezüglichen Debatte teilgenommen. Sie
hat den universellen Zugang zu hochwertigen medizinischen Leistungen ausdrücklich gelobt. Sie hat uns auch
dafür gelobt, dass wir beispielsweise bei der Akutversorgung und den Notrettungssystemen sehr gut aufgestellt
sind. Sie hat viele Bereiche genannt, in denen Deutschland vorbildlich ist.
({8})
Man muss doch einmal sehen, was international Standard ist. Das alles aber wird von Ihnen im Prinzip ignoriert.
({9})
- Der Einwurf, dass es keine Wartezeiten gibt, ist prima.
({10})
- An Ihrer Stelle wäre ich hier einmal vorsichtig. Angesichts der Wartezeiten, die es früher in der DDR gab
- und nun fordern Sie wiederum eine Verstaatlichung
des Systems -, wäre ich ganz vorsichtig, die Wartezeiten, die es bei uns gibt, zu kritisieren.
({11})
Es gibt kein anderes europäisches Land, in dem die
Wartezeiten so kurz sind wie in der Bundesrepublik
Deutschland.
({12})
Umgekehrt gibt es eine Debatte: Patienten aus skandinavischen Staaten oder Großbritannien fragen bei uns stationäre Leistungen nach, weil sie in ihren Ländern in einer bestimmten Zeit nicht erbracht werden.
({13})
Erzählen Sie hier also doch nichts, was der Realität einfach nicht entspricht.
Ich möchte auch noch einmal darauf hinweisen, dass
Sie, Herr Kollege Spieth, als Sie in den vergangenen Jahren die Gelegenheit dazu hatten, daran mitzuwirken, dass
das System gerechter wird, ihre Mitwirkung verweigert
haben. Sie haben bei den Verbesserungen, zum Beispiel
im Rahmen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes,
nicht mitgewirkt. Dort haben wir aber echte Verbesserungen erreicht. Wir haben Pflegestützpunkte eingeführt und
die Leistungen für Demenzerkrankte verbessert. Wo waren Sie denn da? Sie haben sich da doch in Fundamentalopposition begeben
({14})
und legen jetzt, kurz vor den Wahlen, noch einmal billig
nach.
Ich glaube, Ihr Antrag ist unseriös.
({15})
Sie zeigen damit, dass Sie eine große gesundheitspolitische Ahnungslosigkeit haben,
({16})
denn der Antrag wird der Debattenstruktur nicht gerecht.
Ich finde einfach, dass Sie damit auch unserer Debatte,
die wir im Fachausschuss geführt haben,
({17})
nicht gerecht werden; denn auf dem Niveau, auf dem Sie
stehen geblieben sind, bewegen wir uns im Prinzip
schon seit langem nicht mehr. Ich bedauere, dass so etwas eben einmal schnell hingeschrieben wurde, wohl
nach dem Motto: Wir schreiben das einmal auf, weil die
Ablehnung garantiert ist.
Vielen Dank.
({18})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich der Kollegin Dr. Carola Reimann von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte zeigt, dass der Wettbewerb um das
beste Konzept in der Gesundheits- und Pflegepolitik bereits begonnen hat.
({0})
Und das ist gut; denn die Menschen wollen wissen, wie
es in den nächsten Jahren weitergehen soll. Sie wollen
wissen, wie wir auch künftig eine gute Versorgung sicherstellen, wie wir den medizinischen Fortschritt für
alle ermöglichen und wie wir diese Gesundheits- und
Pflegeaufgaben finanzieren.
Die Linke hat in ihrem Antrag ihre Vorstellungen dargelegt, und sie ist ihrem Ruf dabei treu geblieben: Lage
dramatisieren, in allen Bereichen immer das Maximum
fordern, was erfolgreich läuft, schlechtreden, über Finanzierung nur ganz am Rande reden und ansonsten immer schön im Ungefähren bleiben. Sie setzen auf
schnelle Effekte, auf eine Wunschliste und auf Stimmenfang, aber nicht auf nachhaltige und konkrete Konzepte.
({1})
50 verschiedene Vorschläge sind kein Konzept.
({2})
Durch das Papier machen Sie auch klar: Sie wollen gar
nicht regieren, schon gar nicht in Zeiten einer Wirtschaftskrise. Sie wollen Ihre Pläne erst gar nicht der
Realität aussetzen; denn auch Sie wissen, dass diese
Pläne an der Realität scheitern würden.
({3})
Die FDP hat ihr Konzept in einer wirklich bemerkenswerten Debatte Anfang des Jahres
({4})
vorgestellt. Der Kollege Schily hat heute von einem
neuen solidarischen Ansatz gesprochen. Das war noch
recht vage. Der Antrag damals war sehr konkret. Schon
damals - die Krise war noch nicht in vollem Umfang erkennbar ({5})
haben wir uns verwundert die Augen gerieben. Sie wollen das bewährte System der gesetzlichen Krankenkassen abschaffen und in der größten Finanzkrise, die wir
bislang erlebt haben, auf Kapitaldeckung umstellen.
Dazu kann ich nur sagen: Gute Reise!
({6})
Es wird eine sehr einsame Reise werden. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass Ihre Vorschläge außerhalb der privaten Versicherungswirtschaft auf große Begeisterung
stoßen.
({7})
Wohin die Reise bei der CDU/CSU geht, kann ich leider noch nicht ganz erkennen.
({8})
Auf die Ähnlichkeiten zwischen den Vorstellungen der
CSU und der Linken hat die Kollegin Bender schon hingewiesen. Durch die Redebeiträge konnte das nicht aufgeklärt werden. Diesbezüglich besteht offensichtlich
noch Klärungsbedarf. Ich hoffe, dass Sie bis zum Sommer
ein Konzept vorlegen können; denn die Bürgerinnen und
Bürger möchten wissen, mit welchen Kopfpauschalen sie
nach Ihrem Konzept künftig zu rechnen haben.
({9})
Die SPD hat ein Konzept: Wir setzen bei Gesundheit
und Pflege auf die Bürgerversicherung.
({10})
Wir wollen das, was wir in den letzten Jahren durchsetzen konnten, konsequent weiterentwickeln. Mit einem
verbesserten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, mit der Versicherungspflicht für alle und mit dem
Einstieg in eine stärkere Steuerfinanzierung haben wir
eine gute Basis geschaffen. Inzwischen müssten eigentlich auch die letzten Kritiker erkannt haben, dass der Gesundheitsfonds reibungslos angelaufen ist und jetzt, in
Zeiten der Wirtschaftskrise, dafür sorgt, dass der Krankenkassenbeitrag stabil bleibt und die Einnahmebasis
der Kassen gesichert ist.
Frau Kollegin Reimann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lanfermann?
Gerne.
Bitte schön, Herr Lanfermann.
Frau Kollegin Dr. Reimann, Sie haben gesagt, dass
Sie nicht erkennen können, wie andere ihr Konzept finanzieren wollen, und zugleich die Bürgerversicherung
gelobt. Im Antrag der Linken steht, dass Kapitaleinkünfte, Mieten und Ähnliches herangezogen werden sollen. Die Kollegin Ferner hat vorhin erklärt, dass die
lohnabhängigen Bezüge nicht steigen werden, jedenfalls
nicht in dem Maße, dass damit die Krankheitskosten finanziert werden können.
Ich möchte Sie daher ausdrücklich fragen: Wonach
sollen Ihrer Meinung nach die Beiträge für die Bürgerversicherung, also für das Modell der SPD, bemessen
werden? Soll es außer den lohnbezogenen Beiträgen, die
auch derzeit erhoben werden, weitere Beiträge geben,
und auf welche Vermögens- und Einkommensarten sollen sie erhoben werden? Haben Sie vielleicht auch schon
eine Vorstellung von der Höhe?
({0})
Herr Kollege, Sie wissen, dass wir mit der Bürgerversicherung ein Konzept verfolgen, das alle in die Versicherung einbezieht. Wir wollen eine Versicherungspflicht für alle. Wir setzen auf Beiträge und auf
Steuerfinanzierung. Das habe ich gerade ausgeführt. Das
wird die gemeinsame Basis für ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem sein. Das werden wir weiterentwickeln. Der Gesundheitsfonds - das habe ich gerade
schon erläutert - ist ein Einstieg.
Ich will fortfahren - auf die Finanzierung werde ich
noch zu sprechen kommen -: In den letzten zwei, drei
Jahren sind einige Dinge nicht gelungen. Diese Punkte
möchten wir natürlich noch umsetzen. Wir haben zwar
viel erreicht, aber - das will ich nicht verschweigen nicht alles umsetzen können, was wir uns gewünscht haben. Das gilt sowohl für die umfassendere Steuerfinanzierung - Herr Lanfermann, damit bin ich bei Ihrer
Frage - als auch für die Einbeziehung der privaten Krankenversicherung - auch das sollte Sie interessieren - in
einen wirklich vollständigen Risikostrukturausgleich.
Leider hat das die Union blockiert.
({0})
Aber genau das sind unserer Meinung nach Grundvoraussetzungen für ein solidarisches und solide finanziertes Gesundheitssystem.
({1})
Unser Konzept der Bürgerversicherung sieht also vor,
dass die Einnahmebasis über einen höheren Steueranteil
ausgebaut und der Risikostrukturausgleich auf den Bereich der privaten Krankenversicherungen ausgedehnt
wird.
Ferner wollen wir - auch das ist schon angeklungen den bisherigen Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Beitragssatzpunkten abschaffen und somit die alte Parität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern wiederherstellen.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Ziel
ist eine gute Versorgung für alle, und zwar unabhängig
vom Geldbeutel. Um das zu erreichen, werden wir weitere Strukturreformen anstoßen: ein flexibleres System
von Kollektiv- und Einzelverträgen, eine weitere Öffnung von Krankenhäusern für die ambulante Versorgung
und damit eine bessere Verzahnung von ambulantem und
stationärem Bereich sowie eine Stärkung der Prävention
über ein Präventionsgesetz, das bei den Lebenswelten
ansetzt.
({3})
Frau Kollegin Reimann, es gibt erneut den Wunsch
nach einer Zwischenfrage. Der Kollege Straubinger
würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Bitte schön.
({0})
Frau Kollegin Reimann, Sie haben in Ihrem Beitrag
auch die CSU erwähnt. Sie haben gesagt, dass Sie nicht
wissen, wie unser Konzept aussieht. Ich empfehle Ihnen,
unseren Parteivorstandsbeschluss zu lesen. Dort wurde
das sehr konkret ausgeführt.
({0})
Ich habe eine Nachfrage im Nachgang zur Frage des
Kollegen Lanfermann. Ich möchte konkret wissen, ob
zur Finanzierung der Bürgerversicherung zukünftig Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie Kapitaleinkünfte herangezogen werden? Ist die Bürgerversicherung ohne Beitragsbemessungsgrenze konzipiert,
oder wird es eine Beitragsbemessungsgrenze geben?
({1})
Herr Kollege, auch ich habe den Parteivorstandsbeschluss der CSU gelesen; dort wurden solche Konkretisierungen nicht vorgenommen. Wir werden - so viel
kann ich sagen - die Einnahmebasis schlicht verbreitern.
({0})
Dazu werden auch Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung und andere herangezogen.
({1})
Das ist nichts Neues. Das erzählen wir seit langem; wir
sind da sehr konsequent und konsistent. Wir möchten
eine Versicherungspflicht für alle und eine Bürgerversicherung, in die alle einbezogen werden.
({2})
Das gilt auch für die private Krankenversicherung.
({3})
- Nein.
({4})
Frau Reimann will keine Zwischenfrage mehr zulassen. Sie haben das Wort, Frau Reimann. - Bitte schön.
Ich würde gern mit dem Bereich der Pflege fortfahren.
Wir sind da in den letzten vier Jahren ein gutes Stück vorangekommen. Die Pflegereform 2008 hat wichtige Leistungsverbesserungen insbesondere für Demenzkranke
gebracht, aber auch die Grundlagen für mehr Qualität
und mehr Transparenz gelegt. Die von uns durchgesetzten Pflegestützpunkte ermöglichen eine wohnortnahe
und umfassende Beratung über alle pflegerischen, medizinischen und sozialen Leistungen.
Insgesamt haben wir mit den Maßnahmen der Pflegereform die Qualität der Pflege erhöht und neue Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene, aber auch - das
will ich hier betonen - für Angehörige geschaffen. Die
Angehörigen leisten nämlich tolle Arbeit, pflegen mit
hohem Engagement und viel Energie. Dafür zollen wir
hohen Respekt. Wir können den Dank, den der Kollege
geäußert hat, nur verstärken. Es bedarf aber auch einer
Unterstützung der Angehörigen.
({0})
Wie im Bereich Gesundheit wollen wir im Bereich
Pflege das Erreichte konsequent weiterentwickeln. Dazu
gehören der Finanzausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung, aber auch - um die Angehörigen zu unterstützen - der Anspruch auf bezahlte
Freistellung für zehn Tage und die Umsetzung des neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriffs.
({1})
Mit unseren Konzepten in der Pflege- und Gesundheitspolitik setzen wir auf die soliden solidarischen
Sicherungssysteme und werden diese zur Bürgerversicherung weiterentwickeln. Gerade in wirtschaftlich
schweren Zeiten, Herr Schily, kommt es auf die Solidarität zwischen den Menschen an. Wir wollen gleiche Gesundheitschancen für alle und eine gute medizinische
Versorgung für alle. Wir wissen aber auch, dass das solide finanziert sein muss. Nur so kann man politische
Vorstellungen auch tatsächlich umsetzen und wirkliche
Verbesserungen für die Versicherten erreichen - Stichwort: Gestaltungslinke. Genau das leistet der Antrag der
Linken nicht.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12846 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung
({0})
- Drucksache 16/12560 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Matthias Miersch von
der SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Ergebnis vorweg: Ich glaube, wir sind gut beraten, dem
nächsten Bundestag zu empfehlen, den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung in der nächsten Legislaturperiode so schnell wie möglich einzurichten.
({0})
Es ist ein dickes Brett, wenn man sich mit der Frage
der nachhaltigen Entwicklung auseinandersetzt, weil
heutzutage alles und nichts nachhaltig ist. In jeder politischen Debatte kommt der Begriff „Nachhaltigkeit“ mehrmals vor. Man stellt sich unweigerlich die Frage: Was ist
eigentlich nachhaltig?
Umso mehr kann man sagen: Es ist diesem Beirat in
den letzten drei Jahren gelungen, diesen Begriff auch im
parlamentarischen Umfeld mit Leben zu füllen, indem
wir dazu beigetragen haben, dass unser politisches Denken nicht nur auf das Heute und Jetzt gerichtet ist, sondern auch über die Wahlperiode hinaus gefragt wird,
welche Auswirkungen die eine oder andere Entscheidung auf künftige Generationen hat.
Ich bin davon überzeugt: Sich mit nachhaltiger Entwicklung zu beschäftigen, ist der Schlüssel für die Lösung vieler Probleme, die wir aktuell haben. Stichwort
Finanzkrise: Man hat auf den kurzfristigen Gewinn gesetzt und die langfristigen und mittelfristigen Folgen
verkannt. Stichworte Krise im Energiebereich und
Verknappung von natürlichen Ressourcen: Wenn wir Aspekte der nachhaltigen Entwicklung ernst nehmen, können wir diese Probleme lösen.
Wir haben im Parlamentarischen Beirat an den unterschiedlichsten Dingen gearbeitet. Wir haben in einer
Form zusammengearbeitet, die wir - das sollten wir uns
alle gemeinsam überlegen - auch für weitere parlamentarische Verfahren einmal ein bisschen bewerben sollten.
Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, die Arbeit derer,
die schon vor vielen Jahren für nachhaltige Entwicklung
gestritten haben, in den letzten dreieinhalb Jahren fortzusetzen.
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Zusammenarbeit mit dem Bundesumweltministerium. Die Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug ist eine solche
Vordenkerin. Vielen Dank für die Zusammenarbeit in
den letzten dreieinhalb Jahren!
({1})
Ich möchte mich auch ausdrücklich bei Herrn de Maizière
bedanken - er war eben noch im Saal; wahrscheinlich
hört er uns jetzt irgendwo zu -, der im Kanzleramt für
den größten Erfolg gesorgt hat, den wir in den letzten
dreieinhalb Jahren erzielen konnten: In der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Ministerien wird künftig eine
Nachhaltigkeitsprüfung vorgesehen sein. Das ist nicht
selbstverständlich, sondern, wie ich meine, ein Meilenschritt. Viele haben ihn vielleicht noch gar nicht als solchen erkannt. Ich bin mir sicher: Es ist von großem Vorteil, wenn sich das federführende Ressort dazu bekennen
muss, welche Auswirkungen ein Gesetz in der Zukunft
hat. Das war in der Vergangenheit nicht selbstverständlich.
({2})
Wenn wir darüber hinaus schauen, wie wir uns gemeinsam aufstellen, dann muss man, finde ich, die Vorteile eines solchen Gremiums benennen.
Erstens. Wir arbeiten in diesem Gremium interdisziplinär. Das heißt, Abgeordnete aus allen Fachbereichen
sitzen in diesem Gremium. Wir arbeiten nicht nur fachspezifisch, sondern wir können jedes Mal den Blick über
den eigenen Tellerrand, über die eigenen Bereiche, wie
zum Beispiel Umwelt oder Finanzen, hinaus wagen und
in diesem Gremium das große Ganze beleuchten. Ich
glaube, es ist ein sehr starkes und wichtiges Mittel,
Dinge im parlamentarischen Verfahren in Zukunft nicht
nur isoliert zu sehen, sondern im Kern die Perspektive
der nachhaltigen Entwicklung einzunehmen und Probleme aus ökologischer, sozialer und ökonomischer
Sicht zu betrachten. Wenn uns das künftig gelingt, können wir vielleicht an der einen oder anderen Stelle einen
anderen Umgang miteinander pflegen.
Zweitens. Ein weiteres wichtiges Moment ist für
mich, dass wir als Prinzip festgelegt haben, so viel wie
möglich im Konsens zu beschließen. Vieles geht leichter, wenn man zunächst danach fragt, was der gemeinsame Nenner mit allen ist. Dies ist von Vorteil, weil wir
nur für vier Jahre gewählt werden und sich Mehrheiten
ändern können. Aber wenn wir erst einmal etwas auf den
Weg bringen, hinter dem wir uns alle versammeln können, trägt dieser Beschluss länger und ist von mehr Festigkeit.
An dieser Stelle will ich noch einmal ausdrücklich sagen - das nehme ich für mich, der jetzt für dreieinhalb
Jahre die parlamentarische Arbeit begleitet hat, in Anspruch -: Wir sollten uns fragen, inwieweit es eigentlich
sinnvoll ist, sich nach einer Wahl in Koalitionsverträgen
bis ins kleinste Detail zu binden, oder ob es nicht besser
wäre, das Instrumentarium, das wir im Parlamentarischen Beirat entwickelt haben, viel stärker zu nutzen,
also zunächst, ohne auf Koalition oder Opposition zu
schauen, miteinander einen gemeinsamen Weg zu suchen. Dann können wir uns meinetwegen über den Rest
kräftig streiten; auch das gehört zur Demokratie. Wenn
es uns gelingt, das Parlament viel stärker an dem auszurichten, was wir in den letzten dreieinhalb Jahren im
Beirat gemacht haben, gewinnen auch Demokratie und
Parlamentarismus. Ich glaube also, dass wir hier letztlich
eine Arbeitsweise an den Tag gelegt haben, die für die
weitere parlamentarische Arbeit tatsächlich Vorbild sein
kann.
Ein anderer Aspekt ist mindestens genauso wichtig:
Wir dürfen uns mit dem Aspekt der nachhaltigen Entwicklung nicht nur auf Bundesebene befassen, sondern
wir müssen bei der Diskussion über dieses Thema auch
eine Verknüpfung mit der europäischen Ebene, den Länderparlamenten und den Kommunen herstellen.
Gestern hat die SPD-Bundestagsfraktion eine Veranstaltung durchgeführt, bei der es um gute Beispiele vor
Ort zum Thema „Nachhaltige Bildung“ ging. In dieser
Veranstaltung, an der circa 300 Menschen teilgenommen
haben, wurde deutlich, wie viele Pflanzen sich auf diesem Gebiet in Deutschland schon entwickeln und wie
wichtig es beispielsweise ist, dafür zu sorgen, dass der
Begriff der nachhaltigen Entwicklung auch in Lehrplänen Berücksichtigung findet. Schülerinnen und Schüler
brauchen Freiräume, um experimentieren und herausfinden zu können, welche Auswirkungen das Handeln von
heute für morgen hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es uns in der
nächsten Legislaturperiode gelingt, eine Vernetzung
zwischen der Nachhaltigkeitsstrategie, die es auf Bundesebene bereits gibt und die es ermöglicht, die Politik
zu fragen, welche Ziele sie erreicht hat, mit der Politik in
den Länder- und Kommunalparlamenten herzustellen,
dann sind wir, wie ich glaube, einen großen Schritt weiter.
Insofern sage ich: Wir haben noch viel Arbeit vor uns.
Diese Arbeit ist sehr wichtig. Ich glaube, die letzten dreieinhalb Jahre haben sich gelohnt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute den Tätigkeitsbericht des Parlamentarischen
Beirats für nachhaltige Entwicklung. Da ich schon die
zweite Wahlperiode Mitglied dieses Gremiums bin, kann
ich Ihnen sagen: Gerade in dieser Wahlperiode waren
das Klima und die Zusammenarbeit ausgesprochen gut.
Dafür danke ich allen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere dem Vorsitzenden des Beirats, Günter Krings,
der durch seine ausgleichende Art viel dazu beigetragen
hat.
({0})
Der Kollege Miersch hat in der Tat recht, wenn er
sagt, dass nur wenige Begriffe so sehr missbraucht werden wie der der Nachhaltigkeit. Deshalb sollte man sich
immer wieder vergegenwärtigen, was diesen Begriff im
Kern ausmacht und was das Thema Nachhaltigkeit vom
Streit um die gute Lösung unterscheidet. Ich meine, das
ist die Frage der Generationengerechtigkeit: Wie schaffen wir es, Politik für die kommenden Jahrzehnte und
nicht nur für die jeweilige Wahlperiode zu machen?
Dass diese Frage im Mittelpunkt steht, ist der entscheidende Unterschied zu den Debatten, die wir sonst häufig
im Parlament führen.
Es ist notwendig, dass wir eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten, die auch im Falle eines Regierungswechsels zumindest als eine Art roter Faden dienen
kann. Regierungen kommen und gehen. Aber die Grundentscheidungen, die in dieser Republik und für unseren
Planeten getroffen werden müssen, bleiben auch über
das Ende von Wahlperioden hinaus bestehen. Deshalb ist
es in der Tat gut, wenn wir uns zunächst einmal darauf
verständigen, welche Leitlinien für die Politik gelten sollen.
Allerdings muss man selbstkritisch anmerken, dass
zwischen Sonntagsreden zum Thema Nachhaltigkeit und
der parlamentarischen Praxis und erst recht der politischen „Verkaufe“ im Land häufig große Unterschiede
bestehen. In der Praxis geht es nämlich in vielen Fällen
vor allem um die kurzfristige Maximierung von Wählerstimmen.
({1})
Ein Beispiel hierfür, das wir in dieser Woche erlebt haben, war die Rentendebatte. Daran wurde deutlich, wie
eine Politik aussieht, die gerade nicht auf Langfristigkeit
ausgerichtet ist.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist sehr wichtig, dass
wir im Hinblick auf die Schaffung von mehr Generationengerechtigkeit institutionelle Vorkehrungen schaffen.
Es ist ein Fortschritt, dass die Bundesregierung ihre Geschäftsordnung auch auf Initiative des Parlamentarischen Beirats hin dahin gehend ändern wird, dass jedes
Gesetz künftig nicht mehr nur mit Blick auf das Preisniveau, die Geschlechtergerechtigkeit und die Auswirkungen auf den Mittelstand geprüft wird, sondern auch
auf die Auswirkungen, die es in den nächsten Jahrzehnten auf die Menschen hat. Diese sollen ja auch dann
noch gut in Deutschland leben können.
({3})
Ich würde mich freuen, wenn es uns gelingen würde,
dass der Deutsche Bundestag diese Nachhaltigkeitsprüfung der Bundesregierung auch faktisch kontrollieren
könnte; an dieser Stelle sind auch die Parlamentarischen
Geschäftsführer der in diesem Haus vertretenen Fraktionen gefragt. Bei Subsidiaritätsprüfungen im Zusammenhang mit dem Europarecht haben wir gesehen, dass der
Bundestag manchmal zu anderen Ergebnissen kommt als
die Regierung. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Parlament ein Wörtchen mitreden können.
({4})
Die FDP befürwortet die Einführung von Generationenbilanzen, um Transparenz zu schaffen über die Zahlungsverpflichtungen, die künftige Generationen heute
als Last mit auf den Weg bekommen, aber auch über die
Investitionen, die wir heute tätigen, damit künftige Generationen ein gutes Leben haben.
Ich bin - das sage ich als einzelner Abgeordneter,
nicht für meine Fraktion - auch Mitinitiator der Initiative
„Generationengerechtigkeit ins Grundgesetz“. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat
sich dafür ausgesprochen, dass der Deutsche Bundestag
diese Initiative umsetzt und endlich auch eine SchutzMichael Kauch
klausel für die Menschen, die noch nicht geboren sind,
ins Grundgesetz aufgenommen wird. Hier besteht ein
deutlicher Unterschied zu der Debatte über die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz.
In der nächsten Wahlperiode sind wir als Deutscher
Bundestag gefordert, die institutionelle Verankerung der
Nachhaltigkeitsprüfung in die Praxis umzusetzen und
Transparenz über die Auswirkungen, die Gesetze auf die
Zukunft haben, zu schaffen. Dann wird es möglich sein,
Sonntagsreden an dem, was in der Praxis passiert, zu
messen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich kann mich - daran merken Sie die
Harmonie im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige
Entwicklung - beiden Vorrednern in nahezu allen Punkten nur anschließen.
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat zwar die Pflicht, einen Arbeitsbericht zu erstellen, aber wir schauen zugleich in der Diskussion immer
konstruktiv-kritisch nach vorne und stellen die Frage,
was wir in Zukunft leisten müssen. Es stellt für uns keine
lästige Pflicht dar, diesen Arbeitsbericht vorzustellen,
sondern wir nutzen gern die Gelegenheit, für Nachhaltigkeit zu werben. Wir nutzen daher - häufig harmonisch, auf jeden Fall aber in der Sache geeint - jede Gelegenheit, hier im Parlament gemeinsam für unsere
Sache, für die Nachhaltigkeit, zu werben. Wir wollen mit
diesem Bericht aber auch kritisch beleuchten, wo wir
noch Potenzial sehen, die Entwicklung nachhaltiger zu
gestalten.
Ich will ganz kurz einige Schwerpunkte unserer Arbeit in der 16. Wahlperiode nennen und danach zwei,
drei Anmerkungen zur zukünftigen Konstruktion machen.
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat insbesondere die Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung kritisch begleitet und einen detaillierten Kommentar zum Fortschrittsbericht 2008 - das können Sie da nachlesen - abgegeben. Das betrifft zum Beispiel die Bereiche „Nachhaltigkeitsmanagement der
Bundesregierung“ und „Weiterentwicklung der Indikatoren“. Die Weiterentwicklung der Indikatoren ist als dauerhafter Prozess eine hochwichtige Aufgabe. Wir haben
in den Reden von der Finanzkrise gehört und davon,
dass es jetzt darum geht, nachhaltig in die Bildung zu investieren. Dies ist permanent zu erneuern und im Prozess weiterzuentwickeln. Das ist auch unsere Aufgabe;
denn Nachhaltigkeit betrifft mehr als die Ökologie,
Nachhaltigkeit betrifft auch die Ökonomie, betrifft auch
die Gesellschaft, betrifft auch das Soziale. Wir lagen
richtig darin, unsere Möglichkeiten auszuschöpfen.
Ich komme zur Organisation der Struktur und zum
Ausblick, was bis zum Ende dieser Wahlperiode und
möglichst zügig zu Beginn der nächsten Wahlperiode
geleistet werden sollte. Aufgrund der Kürze der Zeit will
ich das an vier Herausforderungen deutlich machen. Ich
sage bewusst nicht Schwächen, sondern Herausforderungen, um deutlich zu machen, dass wir dazu aufgerufen sind, diesen Weg zu gehen.
Erster Punkt. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung muss am Gesetzgebungsverfahren
formell beteiligt werden. So fehlt ihm die Möglichkeit,
eigenständig Initiativen in die parlamentarischen Abläufe einzubringen. Natürlich kann im Prinzip jede Fraktion, jeder Abgeordnete jederzeit Initiativen entwickeln.
Aber wir alle kennen die politischen Prozesse. Dieses
sollte man in Zukunft konstruktiver und effizienter gestalten. Wir können zwar gutachterliche Stellungnahmen
bei jedem Gesetzgebungsverfahren einbringen und uns
daran beteiligen. Das hört sich zunächst gut an, vermittelt uns aber immer das Gefühl, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Wenn wir uns dahin steigern könnten, das
vierte oder das dritte Rad oder sogar das Lenkrad zu
werden, wären wir ein ganzes Stück weiter.
({0})
Festzuhalten ist auch, dass wir immer sehr vorsichtig mit
den genannten Instrumenten umgegangen sind.
Der zweite Punkt ist die Federführung. Dem Umweltministerium wurde schon gedankt. Ausdrücklich anschließen möchte ich mich auch dem Dank an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Umweltausschuss, bei
dem die Federführung liegt. Allerdings ist dies für den
Beirat für nachhaltige Entwicklung nicht ganz unproblematisch. Wenn wir nicht einmal bei unserem ureigenen
Thema - der Fortschreibung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie - federführend verantwortlich sind, dann
stellt sich die Frage, wie wir uns bei anderen Themen
mehr einbringen können. Ich glaube, hierüber müsste
man nachdenken. Trotzdem war die Kooperation gerade
mit den Kollegen aus dem Umweltausschuss exzellent.
Drittens. In unserer Stellungnahme zum Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie hatten wir den Wunsch geäußert - wir sind so bescheiden,
Wünsche zu äußern -, dass im Bundeskanzleramt die
Zuständigkeit für die nationale Nachhaltigkeitsstrategie
aus dem für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
sowie nachhaltige Entwicklung zuständigen Referat herausgelöst und auf eine eigene Einheit übertragen werden möge. Ein Dank an den Kanzleramtsminister ist
schon ausgesprochen worden. Vor kurzem hat ein Gespräch mit ihm stattgefunden. Es ist deutlich sichtbar,
dass ein Schwerpunkt der Bundesregierung auf der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie liegt. Ein herzliches
Dankeschön dafür.
Ob in Zukunft ein eigenes Referat „Nachhaltige Entwicklung“ geschaffen oder ein anderer Weg gewählt
wird, sei dahingestellt. Denkbar ist aber, dass der Kanzleramtsminister, der im Grunde bereits für die Bundesregierung die Verantwortung trägt, auch offiziell zum
Beauftragten für die Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ernannt und mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet wird. Das sollte man zügig diskutieren, um entsprechende politische Signale zu setzen.
Viertens. Bevor wir uns damit befassen, wie sich die
Nachhaltigkeit in den Strukturen der Bundesregierung
widerspiegeln soll, müssen wir zunächst einmal an uns
selbst als Parlamentarier denken. Dabei geht es um die
Frage - das ist schon angeklungen -, wie wir die Eigenständigkeit des Themas Nachhaltigkeit und damit auch
eine stärkere Verdeutlichung im parlamentarischen
Raum sicherstellen könnten. Denn Nachhaltigkeit ist
- das ist zu Recht festgestellt worden - eine Querschnittsaufgabe, die nicht eindeutig einzelnen Ausschüssen zuzuordnen ist. Trotzdem ist zu überlegen, wie wir innerhalb der Struktur der Ausschüsse bzw. bei dem Einsetzungsverfahren einen stärkeren Akzent setzen können.
Damit meine ich nicht, dass wir neue Strukturen schaffen sollten, die letztlich zulasten der Effizienz gingen. Es
geht mir nicht um Überfrachtung. Ich bin für klare
Strukturen, wobei deutlich werden soll, wo es um Nachhaltigkeit geht, damit diejenigen, die das Thema im Fokus ihrer politischen Arbeit haben, entsprechende
Schwerpunkte setzen können: transparent, effizient, aber
durchaus auch mit geänderten Strukturen.
Auch die erst relativ spät erfolgte Einsetzung des Parlamentarischen Beirats im April 2006 - also ein halbes
Jahr nach der Bundestagswahl - ist zu monieren. Netto
haben wir, glaube ich, nur drei von vier Jahren gearbeitet. Auch hier wäre es sicherlich geboten, die Diskussion
bereits heute zu führen, damit man zügig nach der Wahl
im September die Strukturen im Konsens festlegen kann.
Eine frühzeitige Einsetzung des Parlamentarischen
Beirates wäre sicherlich wünschenswert. Wir sind uns sicherlich alle einig - das haben alle Reden gezeigt, und
das wird sich wohl auch in den folgenden Beiträgen
nicht ändern -, dass dies möglich ist.
Ich glaube, wir können rückblickend mit den Ergebnissen der vergangenen dreieinhalb Jahre zufrieden sein.
Wir dürfen uns aber nicht zurücklehnen, sondern müssen
uns fragen, wie wir das Thema in Zukunft effizienter gestalten können. Denn der technologische, ökonomische
und gesellschaftliche Fortschritt muss sich an diesem
Prinzip messen lassen.
Herr Kollege.
Das ist im Zusammenhang mit der Finanzkrise, den
Bildungsfragen und anderen Themen deutlich geworden.
Wir als Mitglieder des Parlamentarischen Beirats laden
alle ein, an diesem Prozess mitzuwirken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Lutz Heilmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mich treibt eine Frage um: Was bleibt von der Arbeit des
Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung
der zurückliegenden Wahlperiode? Richtig ist, Herr Kollege Miersch - darin bin ich mit Ihnen völlig einig -,
dass wir ein erhebliches Arbeitspensum hinter uns gebracht haben. Wir haben mehrere Anhörungen zu durchaus wichtigen Themen wie Infrastruktur und Demografie
oder die Nachhaltigkeitsprüfung durchgeführt.
Richtig ist auch, dass zum ersten Thema ein fraktionsübergreifender Antrag im Verkehrsausschuss vorlag und
dass die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien geändert wird, um Gesetzesvorhaben auf
Nachhaltigkeit hin zu prüfen.
Ich denke aber, dass das gerade bei dem zweiten
Thema nur ein erster Schritt sein kann. Die Diskussion
über eine Nachhaltigkeitsprüfung muss fortgesetzt werden.
({0})
Das Gesetzgebungsverfahren muss transparent und für
alle Menschen nachvollziehbar werden.
Der Beirat hat Reisen durchgeführt und dabei internationale Kontakte geknüpft. Wir hatten Studenteninitiativen da und haben mit ihnen diskutiert, genauso wie Unternehmerorganisationen. Ich möchte aber nicht den
Bericht des Beirats wiederholen, zumal vieles schon erwähnt wurde. Ich möchte vielmehr auf die anfangs gestellten Fragen zurückkommen: Reicht das? Was bleibt?
Hat der Beirat einen Beitrag dazu geleistet, dass das
Prinzip der nachhaltigen Entwicklung in der Gesellschaft, der Politik und der Gesetzgebung mehr Eingang
fand? Hat der Beirat irgendetwas bewirken können?
Schauen wir uns die Praxis an. Zur Erinnerung: Das
Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung umfasst den
Ausgleich wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer
Belange im Hinblick auf die Interessen heutiger und
künftiger Generationen. Ich glaube, Herr Kollege
Kauch, spätestens an diesem Punkt haben wir ein unterschiedliches Verständnis. Sie denken bei Nachhaltigkeit
an Generationenbilanzen und glauben, man könne alles
auf Euro und Cent sozusagen ausrechnen. Fragen nach
ökologischen und sozialen Belangen haben Sie heute
überhaupt nicht gestellt. Hier zeigt sich deutlich, wo Sie
stehen.
Gestern wurde ein Antrag im Umweltausschuss beschlossen, auf dem der Name meiner Partei nicht auftaucht. Das hat auch seine Gründe. Sie haben nämlich in
der Begründung ausgeführt, dass das Leitbild der nachLutz Heilmann
haltigen Entwicklung auf vielen Politikfeldern verankert
ist. Ich frage Sie: Auf welchen Politikfeldern ist es denn
tatsächlich verankert? Gestern haben wir eine umfangreiche Anhörung zum Bau einer festen FehmarnbeltQuerung im Verkehrsausschuss durchgeführt. Unabhängig davon, dass offensichtlich einigen hier im Hause die
Umweltauswirkungen völlig gleichgültig sind, ist es ein
Unding, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, dass ein von Ihnen benannter Sachverständiger
dort öffentlich äußert, auf ein paar Hundert Millionen
Euro mehr oder weniger komme es bei diesem Projekt
nicht an. Welch ein Verständnis von finanzieller Nachhaltigkeit ist das?
({1})
Offenbar sind Sie eher von den Baukonzernen, die hinter
dem Projekt stehen, getrieben als von den Interessen
künftiger Generationen, die Sie hier immer so hervorheben. Beachteten Sie dabei die Interessen künftiger Generationen, dann kämen Sie ganz schnell dazu, dieses
Brückenprojekt - genauso wie es der Umweltminister
vor reichlich einem Jahr getan hat - als bekloppte Idee
zu bezeichnen und ganz einfach zu begraben.
Schauen wir weiter. Nehmen wir die Abwrackprämie.
Wollen Sie diese allen Ernstes als Beispiel für eine nachhaltige Politik nennen? Ist es nachhaltig, völlig intakte
Autos zu verschrotten? Kommen Sie mir jetzt nicht mit
dem Argument, dass dafür umweltschonende Autos gekauft werden. Die Bundesregierung hat mir als Antwort
auf eine Kleine Anfrage schriftlich mitgeteilt, dass überhaupt nicht nach den CO2-Werten der neuen Autos gefragt wird. Insofern können darüber gar keine Aussagen
gemacht werden. Ihre Behauptung, es würden hauptsächlich umweltschonende Autos gekauft, stimmt also
nicht. Was machen Sie, wenn diese zusätzlichen Wahlkampfmittel ausgegeben sind? Was passiert dann in den
Autowerken und den Autohäusern? Ich frage Sie aber,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Wer hatte
denn die Idee der Abwrackprämie? Nach meiner Erinnerung war das Ihr Kanzlerkandidat.
({2})
Selbst der Kanzleramtsminister Thomas de Maizière hat
in der letzten Beiratssitzung - das wurde heute schon öfter angesprochen - deutlich gemacht, dass er Zweifel
hat, ob die Abwrackprämie einer Nachhaltigkeitsprüfung standgehalten hätte. Ich bitte Sie: Wie sieht denn
die Praxis aus?
Als letztes Beispiel das Generationengerechtigkeitsgesetz. Herr Kollege Kauch, ich finde es schon bemerkenswert, dass gerade diejenigen, die den Gesetzentwurf
eingebracht haben, im Beirat als neutrale Beobachter
eine Stellungnahme abgegeben haben. Mit Ihrem Zwang
zum Sparen auf Kosten künftiger Generationen rauben
Sie diesen die Zukunft und erhalten sie nicht.
({3})
Das sind nur drei Beispiele für eine Politik der letzten
vier Jahre, die mit allem zu tun hat, nur nichts mit nachhaltiger Entwicklung.
Von einer Etablierung des Leitbildes der nachhaltigen
Entwicklung in weiteren Politikfeldern kann wohl kaum
die Rede sein. Warum ist es nicht möglich gewesen, Kollege Scheuer, in den Antrag zu schreiben, dass der Beirat
für den Ausgleich sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Interessen steht, so wie wir das angeregt haben?
Sie wollten es nicht. So war es. Sagen Sie das doch einfach.
Daher stelle ich noch einmal die Frage: Was bleibt,
und was hat der Beirat mit seiner Arbeit tatsächlich geleistet, um die Politik und auch die Gesellschaft nachhaltiger zu machen? Bei genauerem Hinschauen ist die Antwort nicht sehr ermutigend. Ich denke aber, wir sollten
den Beirat nicht abschaffen. Bestehende Probleme wurden angesprochen, unter anderem die verspätete Einsetzung. Kollege Weinberg, nicht im April 2006, sondern
im Juni 2006 war die konstituierende Sitzung. Ihre Aussage, dass wir ein Jahr verloren haben, war völlig richtig.
Ich bin völlig bei Ihnen, dass wir den Beirat früher einrichten sollten, anstatt wieder ein Jahr verstreichen zu
lassen.
Der Beirat muss es wirklich schaffen, über einzelne
Interessen hinwegzudenken. Fraglich ist allerdings, ob er
das angesichts dessen leisten kann, dass er mit Vertretern
aus den Fraktionen des Bundestages besetzt wird. Herr
Kollege Miersch, da müssen wir gedanklich neue Wege
gehen und Nachhaltigkeit als Grundsatz verinnerlichen.
Der Beirat hat die Funktion, das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ins Parlament und in die Gesellschaft
zu tragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da gibt es
noch einiges zu tun. Ich bin gerne bereit, das in der
nächsten Legislaturperiode wieder in Angriff zu nehmen.
Danke schön.
({4})
Sylvia Kotting-Uhl hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
So ein Kompliment am Anfang bringt mich ganz
durcheinander.
({0})
Das ist völlig ungewohnt.
({1})
Ich will damit beginnen, dass im Parlamentarischen Beirat das Konsensprinzip gilt. Das habe ich gestern im
Ausschuss sehr gelobt habe, weil es ein erfrischender
Gegensatz zu dem ist, was wir ansonsten alle ohne Ausnahme betreiben. Es ist für die Einschätzung des Parlamentarischen Beirats, für seine Arbeit und für die Vorstellung, wie die Arbeit weitergehen soll, bezeichnend.
Dieses Prinzip gilt mit einer kleinen Ausnahme: Herr
Heilmann, ich gebe Ihnen teilweise recht, aber nicht in
der grundsätzlichen Einschätzung. Da schließe ich mich
Herrn Miersch, Herrn Kauch und Herrn Weinberg an.
Deswegen will ich darüber nicht so viel reden, weil ich
nur das wiederholen könnte, was vorhin schon gesagt
wurde.
Ich möchte gerne über die Frage reden - das geht
mehr dahin, was Sie aufgeworfen haben, Herr Heilmann -:
Was bleibt? Ich möchte es aber eher so formulieren: Was
ist das dicke Brett, das der Parlamentarische Beirat zu
bohren hat? Die Frage „Was bleibt?“ kann man mit der
gleichen Berechtigung bezüglich der Arbeit eines jeden
Ausschusses stellen. Wenn ich auf der einen Seite die
Zeit, die vielen Abgeordneten und die Ressourcen, die
hineinfließen, betrachte und auf der anderen Seite minutiös aufliste, was dabei herauskommt, dann kann man
immer sagen: Die Arbeit dieses Ausschusses ist ineffizient.
Aber ich glaube, Demokratie hat nun einmal den Makel, ineffizient zu sein. Wir müssen immer viele Interessen berücksichtigen und diese Interessen ausgleichen.
Letztlich stimmt der Begriff „dicke Bretter bohren“ für
die Arbeit des Parlamentarischen Beirats genauso wie
für die Arbeit eines jeden anderen Ausschusses.
Unser dickes Brett lässt sich wie folgt beschreiben:
Wie erreichen wir einen Fortschritt - wir haben sehr
lange über den Fortschrittsbericht der Bundesregierung
geredet - dergestalt, dass wir hinsichtlich der Nachhaltigkeit vom Reden ins Handeln übergehen? Das ist wie
bei vielen anderen Dingen - das war damals bei der Umweltpolitik genauso - ziemlich schwierig. Wir erleben
zumindest in Sitzungswochen tagtäglich das genaue Gegenteil dessen, was als dritte Forderung im Entschließungsantrag steht: Die Nachhaltigkeitsziele sollen nicht
anderen kurzfristigen Zielen untergeordnet werden,
wenn damit langfristig eine soziale, ökologische und
ökonomische Entwicklung gefährdet wird. - Wir erleben
in Sitzungswochen täglich, dass diese Forderung nicht
eingehalten werden kann.
Ich will das aber nicht kleinreden. Ich glaube, Reden
ist der erste Schritt, etwas durchzusetzen. Es kann nicht
sofort mit dem Handeln begonnen werden. Dass die
Kanzlerin und Minister davon reden, was wir tun müssen, wie wir die Gesellschaft verändern wollen und wie
wir Politik so gestalten, dass sie nachhaltig ist, ist ein
erster Schritt und darf daher nicht kleingeredet werden.
({2})
Es ist auch für Nachhaltigkeitspolitiker und Nachhaltigkeitspolitikerinnen, wenn ich uns einmal so nennen
darf, schwierig, die drei Säulen der Nachhaltigkeit ins
Gleichgewicht zu bringen. Staatssekretär Müller hat gestern im Ausschuss davon geredet, dass die Ökologie sozusagen die Grundlage der Nachhaltigkeit sei. Zuerst
einmal dachte ich: Ach Gott, er wird doch die ganze Debatte jetzt nicht zurücknehmen. Jetzt waren wir endlich
so weit, zu wissen, dass Ökonomie, Soziales und Ökologie zusammengehören. Jetzt reduziert er das wieder auf
einen der drei Begriffe. - Aber wenn man darüber nachdenkt, woher der Begriff kommt
({3})
- Herr Göppel ist jetzt leider nicht da; er wüsste das,
weil er aus der Forstwirtschaft kommt -, dann ist schon
ziemlich klar, dass etwas Wahres daran ist, dass die Ökologie die Grundlage ist; denn der Begriff Nachhaltigkeit
bedeutet ursprünglich, dass man dann, wenn man einen
gesunden Wald mit einem stetigen Gewinn will, überlegen soll, wie viele Bäume man schlägt. Das muss man
ins Verhältnis zu der Zeit setzen, die die Bäume brauchen, um wieder zu gleicher Größe zu wachsen. Das
heißt, nur unter Beachtung der Ökologie - nicht losgelöst von sozialen und ökonomischen Zielen - ist eine gesunde Ökonomie erreichbar.
Selbstverständlich haben wir Zielkonflikte, nicht nur
zwischen den drei Säulen, sondern auch innerhalb der
Ökologie. Als Beispiel nenne ich die Biomasse. Es stellt
sich die Frage, ob uns Biomasse als Energielieferant für
Autos unter dem Gesichtspunkt des Klimaschutzes etwas bringt, wenn dafür der Regenwald abgeholzt werden
muss, Flächen nicht mehr für die Nahrungsmittelproduktion verwendet werden und Naturschutzaspekte zurücktreten. Die Lösung - wenn auch noch nicht die perfekte liegt darin, Nachhaltigkeitskriterien für die Biomassenutzung zu entwickeln. Das ist die richtige Antwort.
Es gibt noch einen anderen Konflikt. Ist beispielsweise die Gentechnik die richtige Antwort auf die Ernährungsbedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung? Ich glaube, man kommt weiter, wenn man das
Prinzip der Nachhaltigkeit in der Antwort berücksichtigt
und beachtet, dass alles vernetzt ist. Wenn wir uns die
Indikatoren Klima, Artenvielfalt und Landbewirtschaftung und bei der Landbewirtschaftung die Teilindikatoren ökologischer Landbau und Stickstoffüberschuss anschauen, dann sehen wir, dass das alles miteinander
vernetzt ist. Wir können nur dann etwas erreichen, wenn
wir alles berücksichtigen. Dann wird auch klar, dass
Gentechnik eine sehr einseitige Antwort auf eine sehr
einseitige Frage ist. Die Indikatoren Stickstoffüberschuss, Artenvielfalt, Klima usw. werden davon überhaupt nicht abgedeckt. Daher kann Gentechnik unter
Nachhaltigkeitsgesichtspunkten keine Antwort sein.
({4})
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Man kann
sich manchmal mit der Einführung neuer Indikatoren
oder neuer Teilindikatoren ein Stück weit vertun. Wir
haben, was eigentlich ein Erfolg ist, Ersatzindikatoren
für den bisherigen Indikator 14, Gesundheit und Ernährung, der immer etwas unfassbar war, eingeführt. Es gibt
jetzt drei neue Indikatoren: vorzeitige Sterblichkeit, Raucherquote und Menschen mit Adipositas. Wenn wir das,
was wir als Indikatoren festlegen und was sich nachher
in den Fortschrittsberichten wiederfindet, in der Politik
umsetzen wollen, also den Fortschritt tatsächlich voranbringen wollen, dann ist zumindest bei den Indikatoren
Raucherquote und Menschen mit Adipositas die Prävention absolut entscheidend, wenn wir Erfolge erzielen
wollen. Deshalb hat der Beirat einhellig bemängelt, dass
bei diesen Indikatoren nicht der Anteil der Jugendlichen
herausgefiltert wird, und zwar sowohl beim Rauchen
- denn häufig handelt es sich um Minderjährige - als
auch bei dem Indikator Adipositas. Beidem ist nur zu begegnen, wenn wir präventiv arbeiten. Dazu müssen wir
wissen, wie viele junge Menschen davon betroffen sind.
Es nützt uns nichts, zu wissen, wie viele fettleibige Menschen wir in unserer Gesellschaft haben, es nützt uns
nur, wenn wir wissen, wie viele Jugendliche mit diesem
Defizit ins Erwachsenenleben starten. Nur dann kann
man geeignete Strategien entwickeln.
Ich will zum Schluss - die Zeit geht doch schneller
herum, als man denkt - noch an eines erinnern. Einige
Mitglieder des Beirats für nachhaltige Entwicklung haben eine Reise nach Norwegen unternommen. Mir ist
dieses Land als unglaubliches Beispiel für Nachhaltigkeit in Erinnerung geblieben, vor allem deshalb, weil
Norwegen seine immensen Einnahmen, die es aus den
Öl- und Gasverkäufen erzielt, nicht in den Haushalt
steckt, sondern in einen Staatsfonds einbringt. Dieser
Staatsfonds ist für die nachfolgenden Generationen bestimmt, wenn Öl und Gas verbraucht sind. Alles, was
vom Staat erwartet wird - das ist relativ viel, zum Beispiel Infrastruktur usw; da wird fast mehr als bei uns geleistet -, wird über Steuern finanziert. Das heißt, die
Menschen zahlen ihre Steuern, obwohl sie wissen, dass
ungeheuer viel Geld in einem Staatsfonds ist, das nicht
angegriffen wird. Das tun sie, wenn ich das richtig mitbekomme, mit weniger Gemecker als bei uns. Das ist
eine Vereinbarung zwischen Politik und Gesellschaft,
die ich bewundernswert finde. Ich frage mich vor dem
Hintergrund schon, warum bei uns etliche glauben, sie
müssten in einem Wahljahr, wenn es auf die Bundestagswahl zugeht, den Menschen Steuersenkungen versprechen, obwohl kein Mensch weiß
Frau Kollegin.
- ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin -, wie das mit
Konjunkturprogrammen und Bürgschaften, die im Ernstfall auch einmal abgerufen werden können - sonst
brauchte man sie nicht -, und einer doch immerhin beabsichtigten Konsolidierung des Haushaltes zusammengehen soll. Das ist absolute Unnachhaltigkeit.
Frau Kollegin.
Es ist leider auch ein Beispiel dafür, dass das Tun
vom Reden noch nicht eingeholt worden ist.
({0})
Als Nächster spricht Ernst Kranz für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute liegt uns der zweite Tätigkeitsbericht
des Beirates für nachhaltige Entwicklung vor. Weil die
letzte Legislaturperiode verkürzt wurde, konnten wir damals den Tätigkeitsbericht des Beirates nicht mehr besprechen. Wir haben dann aber am 6. April, Herr
Heilmann, als der Deutsche Bundestag den Parlamentarischen Beirat wieder ins Leben gerufen hat, über die
Aufgaben des Beirates gesprochen.
So wichtig und unbestritten auch die Einsetzung war,
kam doch etwas in der ganzen Diskussion zu kurz: Wir
haben nicht über unsere personelle Ausstattung, über unsere Kompetenzen und über das, was wir nicht leisten
konnten, gesprochen. Mein Kollege Weinberg hat das
schon gestreift. Ich möchte seine Ausführungen einfach
mit einigen Beispielen begleiten und sagen, dass es natürlich wichtig ist, dass wir uns mit Nachhaltigkeit befassen. Aber es ist auch wichtig, dass wir als Gremium
wahrgenommen werden und die notwendigen Mittel zur
Verfügung gestellt bekommen, um überhaupt wirken zu
können.
Gemäß dem Grundsatz der von der Legislaturperiode
unabhängigen und konsensualen Arbeitsweise konnte
der Beirat in der jetzigen Legislaturperiode unter RotSchwarz sofort da weitermachen, wo er unter Rot-Grün
aufgehört hatte. Das zeigt schon, dass die Arbeitsweise
des Beirates nachhaltig ist.
Aufgrund der vorgezogenen Bundestagswahl konnten
wir in der letzten Legislaturperiode die Anhörung zum
Thema demografischer Wandel nicht mehr durchführen.
Wir haben sie gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode
wieder auf die Tagesordnung gesetzt, weil wir der Meinung waren und sind, dass dieses Problem durch die Gesellschaft und von allen, die in der Gesellschaft Verantwortung tragen, viel stärker wahrgenommen werden
muss.
Ich bin Mitglied im Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung und weiß deshalb sehr gut, dass wir
uns gerade in diesem Bereich um nachhaltige Infrastruktur bemühen. Als Beispiel nenne ich den Wohnungsbau.
Jahre- oder jahrzehntelang wurden in Deutschland Wohnungen gebaut, weil der Bedarf da war, aber in den 90erJahren stellten wir dann fest, dass es vor allem im Osten
Wohnungsleerstand gibt. Als Konsequenz hat die Regierung 2002 das Programm „Stadtumbau Ost“ aufgelegt,
und im Ausschuss beraten wir gerade darüber, es bis
zum Jahr 2016 zu verlängern. Auch hier haben wir er24046
kannt, dass man handeln muss. Die Ursachen sind uns
allen bekannt.
Das ist nur ein Beispiel von vielen. Ich kann immer
nur Beispiele aus dem Ministerium zitieren, für dessen
Bereich ich mitverantwortlich bin. Herr Heilmann, ich
glaube schon, dass wir auch viele positive Dinge erwähnen können.
In der Anhörung zum Thema „Demografischer Wandel und nachhaltige Infrastrukturplanung“ - der Bericht
wurde hier im Plenum bereits beraten - ging es um die
Frage, inwieweit der Staat die öffentliche Daseinsvorsorge im ländlichen Raum noch gewährleisten kann, was
ja eigentlich seine Aufgabe ist. In dem Zusammenhang
stellt sich aber auch die Frage: Wie ist es möglich, dies
auch zu finanzieren und diese Finanzierung für den Bürger erträglich zu gestalten?
Das waren im Prinzip die Probleme, mit denen wir
uns beschäftigt haben und die im Bericht auch dargestellt werden. Wir haben Stellungnahmen des Ministeriums angefordert, und ich bedanke mich an dieser Stelle
ausdrücklich bei dem Parlamentarischen Staatssekretär
Kasparick dafür, dass wir alle erbetenen Stellungnahmen
pünktlich bekommen haben. Wir werden uns im Beirat
damit noch vor Ablauf dieser Legislaturperiode beschäftigen.
Der Bericht zeigt, dass der Beirat, weil er kein eigenes Initiativrecht hat, die Kooperation und Zusammenarbeit mit den bestehenden Gremien umso intensiver suchen muss.
Die wichtigste Aufgabe des Beirats ist die Begleitung
der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Wir
haben sie schon im Jahre 2004 begleitet - als der Beirat
eingesetzt wurde, war diese Strategie gerade veröffentlicht worden -, und wir haben sie mit den nachfolgenden
Berichten ebenfalls begleitet. Ich verweise auf den
„Indikatorenbericht 2006“, der - anders als vorgesehen durch das Statistische Bundesamt erstellt und vorgelegt
wurde. Nach unserer Einschätzung hat er eine gute Qualität.
Außerdem verweise ich auf den „Fortschrittsbericht 2008
der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie Deutschlands“
der Bundesregierung.
Wir als Beirat sind damit einverstanden, dass es
fortan alle vier Jahre einen Fortschrittsbericht geben soll;
in den Jahren dazwischen soll der Bericht über die Entwicklung der 21 Nachhaltigkeitsindikatoren vorgelegt
werden.
Vergleicht man die Relevanz der Nachhaltigkeitsaspekte in den politischen Aktivitäten, kommt man zu
dem Ergebnis, dass seit dem Jahr 2002 durch die Implementierung der Nachhaltigkeitsstrategie das Bewusstsein für dieses Anliegen immens erweitert worden ist.
({0})
Eines der wichtigsten Ergebnisse des erweiterten
Bewusstseins ist die aktuelle Zusage der Regierung
- hierüber wurde schon gesprochen -, die Nachhaltigkeitsprüfung künftig im Gesetz zu verankern.
Ich möchte hier noch einige Dinge ansprechen, die
sich auf unsere eigene Organisation beziehen. Der Beirat
benötigt das Recht, eigenständig zu bestimmten Gesetzgebungsverfahren und Unterrichtungen direkt Stellung
zu beziehen, und zwar in der Art und Weise, dass seine
Stellungnahme den Adressaten unmittelbar erreicht.
Hierzu ist es notwendig, dass wir gestärkt werden. Die
Anzahl der Beiratsmitglieder ist in dieser Legislaturperiode schon aufgestockt worden, von 9 auf 20. Das hat
unser Arbeitspensum erhöht. Aber wir haben noch generelle Probleme in der personellen Besetzung, und zwar
sowohl der Arbeitsgruppen als auch des Beirats.
Hier sind die Fraktionen gefragt, die Arbeit des Beirats zu würdigen und zu unterstützen. Ohne ausreichendes Personal kann der Beirat seinem besonderen Status
der langfristig ausgerichteten und deshalb interfraktionellen Arbeitsweise nicht ausreichend gerecht werden.
Liebe Kollegen, wie Sie alle selber aus Ihrer parlamentarischen Arbeit wissen: Es ist viel aufwendiger, in Richtung Konsens zu arbeiten, als nur seinen eigenen Standpunkt darzustellen.
({1})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende!
Ich komme zum Schluss. - Aus diesem Grund sind
die von uns vorgeschlagenen Änderungen und Verbesserungen hinsichtlich Organisation, Struktur und Rechten
des Beirats ganz entscheidend für seine Wirksamkeit in
der nächsten Legislaturperiode.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Patrick Döring hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal sind wir gut beraten, darauf hinzuweisen - die Kolleginnen und Kollegen haben das schon getan -, wie gut, harmonisch und auch sachorientiert wir in
diesem Parlamentarischen Beirat bisher gearbeitet haben. Herausgekommen sind nicht nur Papier und gutachterliche Stellungnahmen. Ich verweise ganz bewusst darauf - das kann ich guten Gewissens tun; schließlich hat
es einen Konsens gegeben -, dass wir als Parlamentarischer Beirat seinerzeit im Bericht über Demografie und
Infrastruktur vorgeschlagen haben, ein Programm analog
zum KfW-Gebäudesanierungsprogramm aufzulegen,
durch das der altersgerechte Umbau von Wohnungen gefördert wird. Dass die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit das im Bundeshaushalt umgesetzt haben
- das darf man als Opposition einmal lobend erwähnen -,
zeigt, dass dieser Beirat an manchen Punkten AvantPatrick Döring
garde war. Am Ende ist vieles von dem, was er erarbeitet
hat, in praktische Politik umgesetzt worden.
({0})
So stellen wir uns Parlament vor. Ich hoffe sehr, dass
sich auch die Bürgerinnen und Bürger Parlament so vorstellen, dass sich gute Ideen am Ende - unabhängig von
der Frage, ob sie von Vertretern der Oppositions- oder
der Regierungsfraktionen vertreten werden - durchsetzen.
Ich kann mir nicht verkneifen, Folgendes zu den Ausführungen des Kollegen Heilmann zu sagen. Ich finde es
schon bemerkenswert, dass Sie sich nach dreieinhalb
Jahren immer noch intellektuell verweigern, zur Kenntnis zu nehmen, dass Generationenbilanzen nicht ausschließlich eine Betrachtung der monetären Auswirkungen auf kommende Generationen sind.
({1})
Wenn Anhörungen in diesem Haus überhaupt einen Sinn
machen sollen, dann doch wohl den, dass Erkenntnisse
gewonnen werden und man nicht seine Vorurteile perpetuiert. Aber ganz offensichtlich ist das zu viel verlangt.
Wenn es ein bewiesenermaßen nicht nachhaltiges System gab, dann war es der real existierende Sozialismus
auf deutschem Boden, sehr geschätzter Herr Kollege
Heilmann.
({2})
Die Empirie ist manchmal wertvoller als der eine oder
andere träumerische Gedanke, sei er auch noch so oft
aufgeschrieben. Deshalb sind wir gut beraten, uns an das
anzulehnen, was die Kollegin Kotting-Uhl hier eingeführt hat. Es ist die Forstwirtschaft, aus der der Nachhaltigkeitsgedanke stammt, entwickelt seinerzeit übrigens
nicht so sehr wegen der Schönheit der Bäume und der
Wälder, sondern aus ganz nüchternem Gewinnstreben.
Das zeigt wieder einmal, dass Ökologie und Ökonomie
sehr gut zusammenpassen
({3})
und dass nachhaltiges Wirtschaften am Ende auch zu
nachhaltigen Gewinnen führt. Diese Gewinne können
übrigens 25 Prozent Rendite auf das Eigenkapital übersteigen. Man muss es nur richtig machen. Das ist eine
Frage unternehmerischer Glaubwürdigkeit und unternehmerischen Mutes.
({4})
Das zeigt aus meiner Sicht auch, geschätzte Kolleginnen und Kollegen: Wir alle hier im Hause - ich glaube,
das darf man sagen - müssen aufpassen, dass wir nicht
den Zerrbildern erliegen, die uns gelegentlich vorgeführt
werden, sei es durch die elektronischen Medien, sei es
durch Interessengruppen. Die Mehrheit der Unternehmen in Deutschland wirtschaftet nachhaltig, langfristig
und solide. Die meisten mittelständischen Unternehmen
bei uns sind sehr viel älter als die Bundesrepublik
Deutschland. Es sind die handelnden Unternehmerinnen
und Unternehmer, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
die diese Volkswirtschaft über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut haben - ganz nachhaltig, ohne dass man von ihnen jeden Tag Nachhaltigkeit gefordert hätte. Es liegt
nämlich in der Natur des Menschen, sich so verhalten.
({5})
Wenn wir erreichen, dass sich das weiterentwickelt, haben wir politisch viel gewonnen. Von daher freue ich
mich auf die Arbeit in der nächsten Wahlperiode.
Weil das Gestöhne auf der linken Seite des Hauses so
groß ist, sage ich einmal ganz ehrlich: Die Auswüchse,
die es gibt und gegeben hat, zum Anlass zu nehmen, die
guten Seiten der funktionierenden Marktwirtschaft auszublenden, führt in die Irre. Das werden die nächsten
Monate auch zeigen.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Andreas Scheuer hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das gute Klima im Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung darf heute auch der Öffentlichkeit präsentiert werden, nämlich durch einen Glückwunsch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an den Kollegen Döring, der gestern Geburtstag gehabt hat.
({0})
Das soll nur ein Beispiel dafür sein, dass wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung mit einigen Images von Politik aufräumen.
Ein Image von Politik ist, dass sie nicht über den
nächsten Wahltag hinausdenken kann. Gerade wir Kolleginnen und Kollegen im Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung demonstrieren mit dem Konsensprinzip, dass es uns nicht darum geht, bis zum
nächsten Wahltermin effekthascherisch einen Punkt zu
machen, sondern darum, visionär über den nächsten
Wahltag hinauszudenken. In solch einer Debatte muss
auch einmal gesagt werden, dass Politik durchaus fähig
ist, über lange Zeiträume visionär zu denken. Das leben
wir in diesem Beirat vor.
({1})
Das nächste Image von Politik ist, dass sie nicht nachvollziehbar ist. Gerade durch die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, den Indikatorenbericht und den Fortschrittsbericht ist Politik messbar und
auch transparenter geworden. Es gibt da Indikatoren mit
verschiedenen Unterkategorien. Wenn Bürgerinnen und
Bürger ins Internet gehen und sich informieren, werden
sie feststellen, dass Politik über solche Indikatoren messbar ist. Fragen der Art „Wie gut war die Politik? Wie
schlecht hat sie auf bestimmte Umstände reagiert?“ lassen sich so beantworten. Die Politik wird messbar und
transparenter.
Es ist eine gute Botschaft, wenn wir den Bürgerinnen
und Bürgern sagen, dass wir eine Leistungsbilanz vorlegen und aufzeigen können, bei welchen Indikatoren man
nachbessern muss. Ich erinnere an den Indikator „Gütertransportintensität“. Dieser Indikator hat in Zeiten, in denen die Wirtschaft floriert, natürlich höhere Werte. Wenn
wir uns aber im Abschwung, in der Rezession befinden,
dann geht die Gütertransportintensität zurück. Dies
zeigt, dass Veränderungen der Nachhaltigkeit nicht nur
von der Politik, sondern auch von wirtschaftlichem Handeln beeinflusst werden.
Indikatoren sind Teil eines dynamischen Prozesses.
Daher haben wir uns vor Augen zu führen, dass wir Indikatoren immer wieder nachbessern und aktuell anpassen
müssen. Die Botschaft soll aber sein, dass Politik messbar und transparent ist. Dazu haben wir in diesem Parlamentarischen Beirat beigetragen.
({2})
Ein weiteres Image von Politik besagt, dass Politiker
sich nicht über Fraktionsgrenzen hinweg einigen können. Gerade im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige
Entwicklung zeigen wir durch fraktionsübergreifendes
Handeln, auch wenn man in den Fraktionen manchmal
heilige Kühe aufgeben oder sich etwas reduzieren muss,
dass wir zum Kompromiss und letztlich zum Konsens
kommen. Die Botschaft lautet: Es gibt in der Demokratie
nicht nur Streit. Streit um Positionen gehört natürlich
dazu; das ist nichts Nachteiliges. Aber gerade in diesem
Parlamentarischen Beirat - Herr Heilmann, es gibt ein
paar Ausnahmen - werden wir uns auch in Zukunft nach
dem Konsensprinzip einigen, weil wir ein gutes Klima
pflegen, uns aber auch über die Botschaften einig sind,
die wir in die Zukunft hineintragen.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Demografie und
Infrastruktur waren ein Schwerpunktthema. Gerade die
soziale Frage von Mobilität - dies sage ich auch als Verkehrspolitiker - wird eine Herausforderung sein.
({4})
Die ländlichen Räume müssen zu den Ballungsräumen
in Bezug gesetzt werden. Wir haben uns darüber sehr
viele Gedanken gemacht.
Wenn wir in die Zukunft schauen, fallen mir zwei
Bausteine ein, die in den nächsten Monaten, aber auch in
der nächsten Wahlperiode für den Parlamentarischen
Beirat wichtig sein werden: Erstens wird es im Hinblick
auf die Frage, wie wir in Europa, insbesondere aber in
der Bundesrepublik Deutschland die Energieversorgung
organisieren, natürlich Streit unter den Fraktionen geben. Bei diesem Thema werden wir uns nicht so leicht
im Konsensprinzip einigen können. Zweitens wird es um
die soziale Frage, um die sozialen Sicherungssysteme
gehen.
Wir handeln sehr verantwortlich. Alle sind daran interessiert, das Tal, das wir momentan durchschreiten,
möglichst bald zu verlassen. Ich benutze nicht das Wort
Krise, sondern spreche von einem wirtschaftlichen Tal,
das wir schnellstens durchschreiten müssen. Natürlich
sind unsere Bürgerinnen und Bürger daran interessiert,
weiterhin in Arbeit zu sein. Dazu hat die Große Koalition verantwortungsvoll und schnell gehandelt. Ein
Image von Politik besagt, dass wir uns nicht einigen
könnten und dass Verständigungen im Parlament sehr
lange dauerten. Gerade bei den Konjunkturpaketen als
Antwort auf die Wirtschaftskrise - über Einzelheiten
kann man unter den Fraktionen sicherlich unterschiedlicher Meinung sein - hat sich gezeigt: Wir haben schnell
gehandelt.
Ich komme zum Schluss. Nachhaltigkeit ist eine Querschnittsaufgabe. Marie-Luise Dött, ich bedanke mich bei
meiner federführenden Arbeitsgruppe, der AG Umwelt.
Aber vielleicht sollte das Nachhaltigkeitsprinzip gerade
im Wirtschaftsausschuss angesiedelt sein; darüber sollten
wir uns Gedanken machen. Bei diesen Themen ist das
Kanzleramt ein guter Ansprechpartner. Herr Bauernfeind,
geben Sie dies bitte an den Kanzleramtsminister weiter.
Er hat eine gute, visionäre Sitzung des Parlamentarischen
Beirats vorbereitet und begleitet. Sie sind stets in unseren
Beiratssitzungen. Dies bedeutet, dass der Kontakt zwischen Parlament und Regierung funktioniert.
Die CDU/CSU-Fraktion ist fest davon überzeugt,
dass wir den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige
Entwicklung in der nächsten Wahlperiode wieder brauchen und dass sich seine Bedeutung erhöhen muss, gerade wenn ich an die Nachhaltigkeitsprüfung und die
Gesetzesfolgenabschätzung im parlamentarischen Prozess denke. Wir brauchen diesen Nachhaltigkeitsbeirat
in prominenter Position. Darauf freue ich mich jetzt
schon mit Blick auf die 17. Wahlperiode.
Herzlichen Dank.
({5})
Jetzt hat Gabriele Groneberg das Wort für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon einiges über die Breite der Arbeit des Beirats gesagt worden. Wir haben auch viel über die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und unsere Positionen dazu gesprochen sowie unsere Kritik deutlich
gemacht.
Ich möchte jetzt auf einen Punkt eingehen, den die
Kollegin Kotting-Uhl schon kurz gestreift hat. Der Fortschrittsbericht wie auch der Bericht des Parlamentarischen Beirats setzen sich ausführlich mit dem deutschen
Beitrag zum Thema Welternährung auseinander. Ich
glaube, wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass die
globale Dimension, die wir darin ansprechen, sehr wichtig ist und dass wir sie beim Thema Nachhaltigkeit zu
berücksichtigen haben.
({0})
Unsere nationalen Bestrebungen, den Menschen und
der Umwelt gerecht zu werden, dürfen nicht zulasten anderer gehen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Biomassenutzung. Wir haben, lieber Kollege Heilmann, auch dazu
im Konsens eine Aussage getroffen, die ganz erstaunlich
ist. Auf der einen Seite stehen die Bemühungen
Deutschlands und der EU, die CO2-Bilanz zu verbessern.
Deshalb haben wir unter anderem die Quote der Biomassenutzung im Kraftstoffbereich erhöht. Aber auch die
Verwendung von Biomasse zur Erzeugung von Biogas
ist mit Blick auf unser Ziel, den Anteil der erneuerbaren
Energien an der Strom- und Wärmeerzeugung massiv zu
erhöhen, von sehr großer Bedeutung. Diese Ansätze sind
für uns mit vielen Vorteilen verbunden, gar keine Frage.
Sie sind sinnvoll, um unseren Energiebedarf langfristig
und nachhaltig zu sichern.
Aber auf der anderen Seite sind mit dem erhöhten Bedarf und dem Import von Biomasse Risiken verbunden,
die in erster Linie Schwellen- und Entwicklungsländer
betreffen. Durch die Konkurrenz bei der Nutzung von
Flächen besteht die Gefahr, dass der Anbau von Energiepflanzen zu Nahrungsengpässen bei der armen ländlichen und urbanen Bevölkerung führt. Das ist auch im
Fortschrittsbericht der Bundesregierung ganz explizit
beschrieben, der sich zu einem Großteil auch mit der
Entwicklungspolitik beschäftigt. Das kann man dort also
noch einmal ausführlich nachlesen. Ähnliche Folgen haben Preissteigerungen bei Lebensmitteln wie Reis und
Getreide, die zum Teil auf die erhöhte Produktion von
Energiepflanzen zurückzuführen sind.
Aber nicht nur im Ausland, sondern auch bei uns
existieren in einigen Regionen bereits negative Effekte
durch den massiven Einsatz von Biomasse zur Biogaserzeugung. Ich weiß, wovon ich rede; denn ich komme
aus einem Landkreis, in dem es die größte Dichte an Biogasanlagen gibt. Die Folge sind Monokulturen durch den
Anbau von Mais für Biogasanlagen und höhere Pachtpreise für Ackerland, die von Landwirten bezahlt werden müssen, die Getreide, Gemüse oder Obst anbauen.
Und die Landwirte, die Viehzucht betreiben, müssen höhere Preise für Futtermittel bezahlen. Das zeigt uns, dass
wir die Entwicklung in diesem Punkt nicht unkontrolliert
laufen lassen dürfen.
Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich, dass nicht
nur wir vom Einsatz von Biomasse profitieren, sondern
auch die Entwicklungsländer, indem zum Beispiel die
Zunahme der Biomasseimporte aus Schwellen- und Entwicklungsländern zu wünschenswert steigenden Exporterlösen für diese führen. Dadurch werden Mittel zur Armutsbekämpfung in den Ländern freigesetzt.
({1})
Die Biomasseproduktion führt zu erhöhter Wertschöpfung und Beschäftigung im ländlichen Raum. Deshalb
wäre es vollkommen falsch, den Einsatz von Biomasse
in den unterschiedlichen Bereichen zu verteufeln. Es ist
jedoch darauf zu achten, dass die positiven Effekte, die
wir erzielen, nicht an anderer Stelle zu negativen Auswirkungen führen.
({2})
Im Fortschrittsbericht wie auch im Bericht des Beirats
gibt es dazu Stellungnahmen mit deutlichen Aussagen.
Das finde ich, gerade durch den Konsens der Fraktionen,
sehr bemerkenswert. Wir sind nämlich der Ansicht - da
kann man wirklich sagen: wir -, dass in den Fällen, in
denen Konflikte nicht auszuräumen sind, die Ernährungssicherung Vorrang vor anderen Nutzungen haben
muss.
({3})
Auch der Konsultationsprozess zu dem Fortschrittsbericht hat deutlich gezeigt, dass er bei den Menschen
angekommen ist. Gerade zu diesem Punkt haben sich
sehr viele geäußert. Sie haben sich mit den Risiken der
Biomasseproduktion auseinandergesetzt und sich dazu
positioniert.
Wir wollen auf jeden Fall, auch im Sinne der Nachhaltigkeitsstrategie, nicht darin nachlassen, Fehlentwicklungen in den Bereichen Klimaschutz und Ernährungssicherheit zu vermeiden. Wir brauchen dazu ein wirksames
Zertifizierungsinstrument - auch das haben wir in unserem Bericht festgestellt -, das die Nachhaltigkeit beim
Anbau und bei der Produktion von Biomasse sicherstellt.
Nun gibt es endlich die EU-Nachhaltigkeitsrichtlinie,
die wir schon lange erwartet haben. Deutschland war in
diesem Zusammenhang Vorreiter, wir wollten dazu eine
nationale Verordnung verabschieden. Wir sind dann ein
bisschen ausgebremst worden, weil die EU eine Verordnung beschließen wollte, die für die ganze EU gilt; das
ist ja auch sehr sinnvoll. Es hat nun ein bisschen länger
gedauert; aber es gibt sie jetzt endlich. Wir können nun
unsere beiden geplanten Nachhaltigkeitsverordnungen
zum Strom und zu Kraftstoffen mit der EU-Richtlinie
abgleichen und im Parlament verabschieden. Wir werden ganz besonders darauf achten, dass die Kriterien für
den Biomasseanbau in diesen Verordnungen so festgelegt werden, dass hier Nachhaltigkeit besteht. Als nächsten Schritt müssen wir dringend - damit werden wir uns
im Beirat in der nächsten Legislaturperiode im Rahmen
von Energiefragen beschäftigen - die Zertifizierungssysteme für den Biomasseanbau international implementieren. Ohne diesen Schritt werden wir in diesem Bereich
keinen nachhaltigen Erfolg erreichen.
Wir haben mit Sicherheit bei unserer Arbeit eines
deutlich gemacht: Es ist auch wichtig, die globale Dimension zu berücksichtigen. Wir werden uns in den
nächsten Jahren sicherlich noch häufig damit auseinanderzusetzen haben, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen im internationalen Kontext haben. Gerade
die Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass keiner
mehr ohne den anderen ist. Insoweit ist es für den Beirat
eine Aufgabe, genau diesen Punkt stärker in den Fokus
zu nehmen.
({4})
Dem Kollegen Dr. Günter Krings gebe ich jetzt das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als Vorsitzender des Parlamentarischen Beirats
für nachhaltige Entwicklung freue ich mich, in der letzten Debatte, die wir in dieser Wahlperiode dazu führen
werden, das Wort zum Abschluss ergreifen zu dürfen.
Wir blicken auf in der Tat drei arbeitsreiche Jahre zurück. Von daher kann man unseren Bericht heute mit Fug
und Recht als Arbeitsbericht bezeichnen. Gewissermaßen ist er auch ein Abschlussbericht, wobei das nicht
ganz stimmt; denn wir arbeiten weiter - wir werden alle
Sitzungswochen, die uns verbleiben, ausnutzen - an den
perspektivischen Fragen, daran, wie wir Nachhaltigkeit
auch in der nächsten Wahlperiode im Bundestag im Gesetzgebungsverfahren verankern können.
Wir haben uns mit einer Reihe von Themen beschäftigt - die meisten sind genannt worden -: Es gab
Anhörungen und gutachterliche Stellungnahmen zum
Klimawandel, gemeinsam mit dem Umweltausschuss,
bis hin zu Generationenbilanzen, Nachhaltigkeitsprüfungen, Demografie und Infrastruktur, zum Generationengerechtigkeitsgesetz, also dazu, Generationengerechtigkeit als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Wir
haben dabei eine Reihe von Akzenten gesetzt, vor allem
aber deutlich gemacht - heute wird es leider etwas überdeutlich -, dass Nachhaltigkeit eine parlamentarische
Aufgabe und nicht nur eine Aufgabe der Exekutive, der
Bundesregierung, ist. Angesichts der Wichtigkeit dieses
Themas ist es richtig, das deutlich zu machen.
({0})
Im Hinblick auf den Nachhaltigkeitsprozess sind wir
jetzt - das haben die Debattenbeiträge gezeigt - bei einem ganz entscheidenden Punkt. Die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung ist durch mehrere Fortschrittsberichte relativ gut ausgereift. Sie muss natürlich
weiter überarbeitet werden. Aber jetzt geht es um die
praktische Relevanz. Besteht diese schon? Ich sage einmal: Sie besteht bedingt. In Sachen Nachhaltigkeitsmanagement, bei der Umsetzung der Ziele der Strategie
in praktische Politik, in praktische Gesetzgebungsarbeit,
ist noch jede Menge zu leisten. Es gibt sehr positive
Ansätze. Ich habe mich beispielsweise gefreut, dass der
Staatssekretärsausschuss - neudeutsch: das Green Cabinet fast monatlich zusammenkommt. Es gibt deutlich vermehrte Sitzungsfolgen unter Vorsitz von Kanzleramtschef de Mazière. Wir haben das Thema Nachhaltigkeitsprüfung - Herr Kollege Miersch hat es angesprochen der Bundesregierung so nahegebracht, dass sie es in einem neuen § 44 in die Gemeinsame Geschäftsordnung
der Bundesministerien aufnehmen wird.
Das alles muss sich in der Praxis aber noch bewähren.
Um einige Punkte anzusprechen: Von den Ministerien
erwarte ich, dass künftig auf jedem Schreibtisch eines
Gesetzgebungsautors ein Exemplar der Nachhaltigkeitsstrategie steht. Von den Fachausschüssen wünsche ich
mir, dass sie sich bei ihren zu behandelnden Themen
auch einmal mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen und gerade unter diesem Gesichtspunkt kritische
Rückfragen an die Vertreter der Bundesregierung bei
Gesetzentwürfen stellen. Von unserem Parlamentarischen Beirat, dem Nachfolgegremium in der nächsten
Wahlperiode, erwarte ich, dass er eine wichtigere Rolle
einnimmt, gerade dann, wenn es um die Koordinierung
und Unterstützung solcher Nachhaltigkeitsüberprüfungen geht.
({1})
Bei diesem Thema wird es sicherlich von Vorteil sein,
nach dem Vorbild des Normenkontrollrats auch eine unabhängige Instanz zu haben, die noch einmal gegenprüft,
ob das, was sich ein Ministerium zum Thema Nachhaltigkeit ausgedacht hat, nicht nur weiße Salbe, sondern
auch ernst gemeint ist. Um einmal ein ganz konkretes
Beispiel zu nennen: Ich glaube, dass wir die Pflegeversicherung bei einer Nachhaltigkeitsprüfung auch heute
hätten, sie würde aber vielleicht auf einer solideren
finanziellen Grundlage stehen.
Wenn wir uns über das Thema Nachhaltigkeitsmanagement unterhalten, müssen wir dafür sorgen, dass
Bund, Länder und Kommunen hier stärker zusammenarbeiten. Nehmen wir das Beispiel Flächenverbrauch.
Die Zielvorgabe lautet 30 Hektar am Tag.
({2})
Nach dem Istzustand sind es 120 Hektar am Tag. Das
Ziel erreichen wir nicht allein durch Maßnahmen des
Bundes. Die Länder müssen hier stärker mit ins Boot.
({3})
Das Thema Nachhaltigkeit ist in diesen Tagen - man
könnte fast sagen: in diesen Monaten und Jahren aktueller denn je. Der Klimawandel ist auch in diesem
Haus seit geraumer Zeit ein Gegenstand bedeutender
Debatten. Ihm entgegenzuwirken ist eine klassische
Aufgabe im Rahmen einer nachhaltigen Umweltpolitik.
Dabei geht es beispielsweise nicht darum, sofort sichtbar
saubere Flüsse zu erhalten, sondern darum, eine Umweltvorsorge zu betreiben, bei der wir dann in 20 bis
30 Jahren die Auswirkungen unseres heutigen Handelns
erleben. Wenn wir richtig handeln, werden die Auswirkungen positiv sein. Das ist eine klassische Aufgabe der
nachhaltigen Umweltpolitik im Gegensatz zur tagesorientierten Umweltpolitik.
Das zweite Beispiel ist die Schuldenkontrolle. Man
mag die Arbeit der Föderalismuskommission II in vielen
Einzelpunkten kritisieren, dass wir aber eine neue Perspektive haben, mit einer neuen Schuldenbremse jedenfalls einen neuen ernsthaften Versuch zu machen, ist für
das Thema gut und wichtig und wird, so glaube ich, auch
von der übergroßen Zahl der Mitglieder dieses Beirats
sehr unterstützt.
Das dritte Beispiel - ich glaube, das sollte man in diesen Tagen in jedem Falle nennen - ist die Nachhaltigkeit
in der Wirtschaft. Die Nachhaltigkeit betrifft nicht nur
die Politik, sondern auch die Akteure in der privaten
Wirtschaft. Ich glaube, auch hier erkennt man, dass eine
rein kurzfristige Einstellung beim wirtschaftlichen Handeln zu den Ergebnissen führt, die wir heute beobachten
können. Wir als Staat müssen jetzt mithelfen, die entsprechenden Auswirkungen zu begrenzen.
Das Leitbild Nachhaltigkeit sollte in Form einer Vorbildfunktion auch in der Wirtschaft stärker zum Tragen
kommen, in dem einen oder anderen Punkt aber sicherlich auch durch gesetzgeberische Maßnahmen unterfüttert werden, um gerade den Unternehmen - teilweise
vielleicht auch den größeren -, die im eigenen Interesse
und im Interesse von Aktionären und anderen Fehlentwicklungen unterlegen sind, ein wenig auf die Sprünge
zu helfen, soweit das im Rahmen unseres freiheitlichen
Leitbildes funktioniert und sinnvoll ist. Die Finanz- und
Wirtschaftskrise ist nicht durch einzelne Maßnahmen,
sondern perspektivisch, so glaube ich, nur unter dem
Blickpunkt nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung zu lösen.
Ich will zum Schluss - das ist mir ein persönliches
Bedürfnis - meinen Dank für die gute Zusammenarbeit
in diesem Beirat ausdrücken, der - das wurde schon gesagt - mit 20 ordentlichen und 20 stellvertretenden Mitgliedern ein großes Gremium ist. Die Arbeit war konsensorientiert, aber mehr noch vertrauensvoll. Es war gut, in
diesem überparteilichen Gremium arbeiten zu können,
auch wenn wir nicht so tun dürfen, als ob das sozusagen
das alleinige Handlungsprinzip eines Parlaments sein
könnte. Streit gehört auch dazu. Wir haben uns gelegentlich auch gestritten, aber in diesem Gremium stand eben
nicht der Streit, sondern die Konsenssuche im Vordergrund.
Ich bedanke mich beim Sekretariat des Beirats, und
ich bedanke mich bei der Bundesregierung und all den
Mitarbeitern, angefangen beim Chef des Kanzleramts,
Herrn de Maizière; ich habe ihn bereits genannt. Stellvertretend für die anderen Ressorts darf ich die Staatssekretärin im Umweltministerium, Astrid Klug, nennen,
weil sie in der letzten Wahlperiode eben auch Vorgängerin in diesem Amt als Vorsitzende dieses Beirats war.
Bei vielen anderen Häusern dürfen wir uns ebenso für
die Zusammenarbeit bedanken.
Ich danke dem Nachhaltigkeitsrat mit seinem Sekretariat, der bei diesem Thema eine wichtige Scharnierstelle zwischen der Gesellschaft und der Politik ist, und
den vielen Verbänden und Initiativen, die sich dem
Thema Nachhaltigkeit verpflichtet haben.
Ich habe diese Arbeit im Parlamentarischen Beirat neben der Arbeit im Hinblick auf einige andere Themen,
die ich in meiner Fraktion betreue, wirklich als einen
Höhepunkt meiner parlamentarischen Tätigkeit erlebt.
Deshalb ist es auch ein sehr persönlicher Dank, den ich
aussprechen möchte. Ich darf ihn mit dem Versprechen
verbinden, dass ich diesem Thema unabhängig von irgendwelchen Funktionen in diesem Beirat in Zukunft
gerne verbunden bleiben möchte. Für mich ist Nachhaltigkeit/Generationengerechtigkeit ein politisches Herzensanliegen. Es sollte für uns alle ein Herzensanliegen
sein. Ich glaube, es ist auch für immer mehr Kollegen
ein ganz wichtiges Thema. Ich werde an diesem Thema
weiter mitarbeiten, egal in welcher Funktion und in welchen Gremien des Parlaments. Ich wünsche mir - diesen
einen Wunsch darf ich zum Schluss noch aussprechen -,
dass der nächste Bundestag in der kommenden Wahlperiode möglichst rasch einen solchen Parlamentarischen Beirat wieder einsetzt.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage
auf Drucksache 16/12560 an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Humanitäre Katastrophe in Sri Lanka verhindern
- Drucksache 16/12869 Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erstem erteile ich das
Wort Johannes Jung für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In Sri Lanka spielen sich grausame Szenen ab,
und die eigentliche Katastrophe steht möglicherweise
noch bevor. Der seit 25 Jahren andauernde, gewaltsam
ausgetragene Konflikt zwischen der Regierung und den
sogenannten Befreiungstigern tritt offenbar in seine militärische Endphase ein. Ein sofortiger humanitärer Waffenstillstand, wie ihn auch Außenminister Frank-Walter
Steinmeier fordert, ist daher die dringendste unserer Forderungen.
({0})
Sri Lanka ist eine dieser paradoxen Gegenden der
Welt, in denen einerseits ein Krieg stattfindet - mit bis24052
Johannes Jung ({1})
her rund 70 000 Toten - und andererseits mit Tourismus
Geld verdient wird; schätzungsweise waren dies
400 Millionen US-Dollar im letzten Jahr.
Bekanntlich konzentrieren sich die Kämpfe mittlerweile auf ein relativ kleines Gebiet im Nordosten. Wie
immer sind es Zivilisten, die in der Schusslinie stehen.
Das gilt insbesondere jetzt. Die Zahl der Schwerverletzten steigt von Tag zu Tag. Im Kriegsgebiet ist die humanitäre Lage katastrophal, eine Versorgung mit Wasser,
Nahrung und Medikamenten praktisch nicht vorhanden.
Hilfe kann es nur von außen geben. Deshalb fordern wir
die völlige Kooperation der Kriegsparteien bei der Versorgung und Evakuierung der Zivilbevölkerung. Wir
wissen um die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung
solcher Forderungen. Ich glaube aber, es ist angesagt,
diese Forderung zu erheben - im Sinne der Menschlichkeit und im Sinne des humanitären Völkerrechts.
({2})
Es besteht die Gefahr, dass Auffanglager für Flüchtlinge zu Dauereinrichtungen werden, um die tamilische
Bevölkerung dort besser kontrollieren zu können. Deshalb muss die Regierung Sri Lankas alles daransetzen,
die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimatregionen zu
ermöglichen.
In dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD,
FDP und Bündnis 90/Die Grünen wird die Lage richtig
eingeschätzt und werden die richtigen Forderungen gestellt. Ich will diese hier nicht im Einzelnen vortragen,
sondern auf einige Punkte aufmerksam machen, die in
der Öffentlichkeit weniger stark wahrgenommen werden. An dieser Stelle sollte gesagt werden, dass die Berichterstattung in den deutschen Medien in den letzten
Wochen und Monaten eigentlich sehr gut war und ein
ungeschöntes, höchst kundiges Bild von der Lage in Sri
Lanka und den Hintergründen vermittelt hat. Dadurch ist
es der breiten Öffentlichkeit möglich, sich recht gut zu
informieren.
Einer der Punkte, auf die ich aufmerksam machen
möchte, weil sie in der Berichterstattung nicht die Rolle
spielen, die sie eigentlich spielen sollten, ist die Lage der
Kinder, die als sogenannte unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge auf sich allein gestellt sind. Die Lage dieser
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge muss uns ganz
besonders alarmieren. Sie sind stark durch Misshandlung und Missbrauch gefährdet. Sie sollten unbedingt registriert werden, um irgendwann eine Rückführung zu
ihren Familien und Angehörigen zu ermöglichen. Wir in
Deutschland kennen die Debatte um solche Kinder
- häufig einfachere Fälle, die unter einfacheren Bedingungen auftraten - zur Genüge und wissen um die
Schwierigkeit.
Ferner gibt es eine große Zahl von Kindersoldaten unter den Kämpferinnen und Kämpfern der sogenannten
Befreiungstiger. Sie sind Opfer und Täter zugleich. Sie
sind - so ist zu vermuten - meist schwer traumatisiert.
Gemäß den Pariser Prinzipien vom Februar 2007 muss
für ehemalige Kindersoldaten das Wohl des Kindes nach
UN-Kinderrechtskonvention im Vordergrund stehen.
({3})
Ehemalige Kindersoldaten sind in erster Linie als Opfer
zu betrachten. Gerichtliche Verfahren müssen im Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention stehen.
({4})
Ein weiteres Problem betrifft die Lage der Presse im
Lande insgesamt. Nicht nur Hilfsorganisationen, sondern auch Journalistinnen und Journalisten muss Zugang
zu den umkämpften Gebieten gewährt werden. In diesem Zusammenhang möchte ich unseren Respekt gegenüber dem bisherigen deutschen Botschafter in Sri Lanka
zum Ausdruck bringen. Herr Botschafter Jürgen Werth
nahm kürzlich demonstrativ an der Beerdigung des ermordeten Herausgebers des Sunday Leader, Herrn
Lasantha Wickrematunge, teil und hielt dort eine Rede,
die ihm bei den offiziellen Stellen in Sri Lanka und bei
der regierungstreuen Presse - das war absehbar und keinesfalls das erste Mal - viel Ärger einbrachte. Die deutsche Diplomatie macht offensichtlich eine gute Arbeit.
Das verdient unsere Hochachtung.
({5})
Ganz in diesem Sinne fordern auch wir eine unabhängige Untersuchung von Kriegsverbrechen, was allen am
Konflikt beteiligten Seiten - das ist anderenorts genauso schwerfallen wird.
Wir fordern den Stopp von Waffenlieferungen sowie
die Überprüfung von Zollpräferenzen - sie müssen von
der Einhaltung der Menschenrechte abhängig gemacht
werden - und setzen uns bei der Weltbank für die Aussetzung von Entwicklungskooperationen mit Sri Lanka
ein, die nicht als humanitäre Hilfe gelten. Um es kurz
zusammenzufassen: Sri Lanka ist von Good Governance
weit entfernt.
Letztlich führt kein Weg an gemeinsamen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um eine politische
Lösung des Konflikts vorbei, weil eine militärische Lösung - wie immer - nicht zu erreichen ist. Deshalb ergeht die Aufforderung zur Mitwirkung an Indien, Pakistan, Russland, China und Japan.
Zum Schluss komme ich kurz auf das - meiner Ansicht nach - Standardproblem unserer Zeit zu sprechen,
das auch in Sri Lanka auf so schreckliche Art und Weise
zutage tritt. Im Falle Sri Lankas geht es wie in anderen
Krisenregionen darum, multinationale Gesellschaften
und Staaten verträglich, tolerant, am besten demokratisch zu organisieren. Dazu braucht es die Einbeziehung
aller Bevölkerungsgruppen. Grundbedingung dafür ist
der Respekt vor den Menschen- und Bürgerrechten eines
jeden einzelnen Menschen unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu der einen, der anderen, der dritten oder der
übernächsten Bevölkerungsgruppe. In Sri Lanka sind
wir von der Erfüllung dieser Bedingung nicht nur im
Hinblick auf die Tamilen weit entfernt.
Johannes Jung ({6})
Darüber hinaus könnte die Schaffung föderaler Strukturen in der Tat ein Baustein der längerfristigen Befriedung und des Ausgleichs in Sri Lanka sein. Dabei erliegen wir in Deutschland gern der Versuchung, unseren
auch nicht sehr erfolgreichen Föderalismus als Modell
anzupreisen.
Es ist gut und richtig, dass Deutschland, der Deutsche
Bundestag und die Bundesregierung, in diesem Falle, in
dem wir kurz vor der ganz großen Katastrophe stehen,
mithelfen will. Jetzt hat der Schutz der drangsalierten Zivilisten Priorität; aber ohne politische Lösung wird es
keinen Frieden geben. Wir sind bereit, an einer politischen Lösung mitzuwirken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Harald Leibrecht spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir debattieren heute zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit über die humanitäre Katastrophe in Sri
Lanka. Dabei bin ich sehr froh, dass dieses Mal vier
Fraktionen in diesem Hohen Haus einen gemeinsamen
Antrag vorlegen, der der Dringlichkeit der Ereignisse in
Sri Lanka gerecht wird.
Ich habe in meiner Rede vor gut einem Monat hier
gesagt, dass die Berichte und Bilder, die man aus Sri
Lanka und den Flüchtlingscamps erhält, absolut schockierend sind. Leider hat sich die Lage seither weiter
verschlechtert. Mit roher Gewalt und erschreckender
Brutalität gehen Militär und tamilische Rebellen aufeinander los und nehmen dabei keine Rücksicht auf die
Zivilbevölkerung. Seit Januar dieses Jahres sind insgesamt etwa 190 000 Menschen aus den umkämpften Gebieten geflohen; 115 000 davon alleine seit dem
20. April.
Die tamilischen Rebellen der LTTE sind auf einem
winzigen Küstenstreifen eingekesselt, und die sogenannten Befreiungstiger benutzen die Zivilbevölkerung als
Schutzschild und töten jeden, der aus der Kampfzone
fliehen will. Die Regierung wiederum schießt auf alles,
was sich bewegt, und nimmt dabei auch keine Rücksicht
auf die Flüchtlinge. Entgegen Äußerungen der Regierung in Colombo werden dort nach wie vor schwere
Waffen eingesetzt.
Laut den Vereinten Nationen sind seit Februar 2009
etwa 6 500 Zivilisten getötet worden; darunter waren
500 Kinder. Unter den 14 000 Verwundeten sind schätzungsweise 1 700 Kinder. Es sind also einmal mehr
- Kollege Jung hat es gerade eindrucksvoll geschildert die Schwächsten in der Gesellschaft, die unter diesem
Konflikt leiden.
Derzeit erleben wir in Sri Lanka ein abscheuliches
Spiel mit Menschenleben. Dafür sind sowohl die tamilischen Befreiungstiger als auch die sri-lankische Regierung verantwortlich. Der Konflikt hat sich in den letzten
Monaten zugespitzt und scheint sich seinem militärischen Ende zu nähern. Allerdings wird auch nach einem
militärischen Sieg eine politisch stabile Lösung kaum
möglich sein. Zu tief ist die Kluft zwischen der Mehrheit
der Singhalesen und der tamilischen Minderheit in Sri
Lanka. Es ist zu befürchten, dass die LTTE-Kämpfer aus
dem Untergrund weiterkämpfen und den Konflikt auf
anderer Ebene weiter schüren.
Wir müssen den Druck auf die Regierung in Colombo
also dringend erhöhen, und zwar mit dem Ziel, die leidende Zivilbevölkerung zu schützen. Die Regierung
muss es den Menschen ermöglichen, in Gebiete außerhalb der Kampfzone zu gelangen. Außerdem muss sie
dafür sorgen, dass für die Zivilbevölkerung ausreichend
Nahrung und Unterkünfte zur Verfügung stehen. All dies
geschieht nicht.
Der UNHCR hat zuletzt am 28. April 2009 erklärt,
dass die Flüchtlingscamps im Norden und Osten von Sri
Lanka völlig überfüllt sind. Die Regierung in Colombo
muss die internationalen Hilfsorganisationen endlich dabei unterstützen, das Leid der Zivilbevölkerung zu lindern. Solange sie das nicht tut, müssen wir von unserer
Seite deutlich machen, dass Europa und die Welt das
menschenverachtende Gebaren beider Seiten nicht akzeptieren.
({0})
Ein zentraler Ansatz von internationaler Seite muss
das Ende von Waffenlieferungen nach Sri Lanka sein.
Gleichzeitig müssen wir uns darüber Gedanken machen,
mit welchen langfristigen politischen Lösungen es nach
einer Beendigung des gewaltsamen Konflikts in Sri
Lanka weitergehen kann. Wie stellt sich die sri-lankische
Regierung das Zusammenleben mit der tamilischen Minderheit nach einem militärischen Sieg über die Befreiungstiger vor? Die Regierung Sri Lankas muss hierzu
ein schlüssiges und menschenwürdiges Konzept vorlegen. Die tamilische Bevölkerung in kasernierten Wehrdörfern anzusiedeln, wie es jetzt von vielen Hilfsorganisationen befürchtet wird, ist keine Alternative.
Beim IWF wird derzeit über Kredite für Sri Lanka
verhandelt. Die Einhaltung von Menschenrechtsstandards gegenüber allen Bevölkerungsgruppen in Sri
Lanka sollte eine Mindestbedingung für die Vergabe solcher Kredite sein. Die Europäische Union und Deutschland müssen gegenüber Colombo geschlossen auftreten
und deutlich machen, dass uns die Menschenleben in
diesem Konflikt, der in den letzten vier Monaten mehr
Opfer gefordert hat als zum Beispiel die Auseinandersetzungen in Afghanistan und Pakistan zusammen - sie
sind schrecklich genug -, nicht egal sind und dass wir
hier handeln müssen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Jürgen Klimke hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Kollegen Jung und Leibrecht haben die dramatische Situation in Sri Lanka schon sehr eindrücklich geschildert.
Lassen Sie mich einige persönliche Bemerkungen machen, die auf eine Reise nach Bali zurückgehen, die die
Kollegin Kortmann und ich zur Jahrestagung der ADB,
der Asiatischen Entwicklungsbank, unternommen haben.
Als wir am letzten Montag dort waren, haben wir
auch Vertreter der Regierung Sri Lankas getroffen, um
ihnen mitzuteilen, dass wir heute im Deutschen Bundestag einen Antrag zur humanitären Katastrophe in Sri
Lanka debattieren. Wir haben mit ihnen über diesen Antrag diskutiert und über die Situation in Sri Lanka sowie
über unsere politische Einschätzung der Lage gesprochen. Wir haben versucht, dafür zu sorgen, dass die Zusagen der ADB und der Weltbank an Sri Lanka zunächst
einmal nicht verlängert werden, es sei denn, es werden
bestimmte Voraussetzungen erfüllt.
Die Antwort des Verhandlungsführers von Sri Lanka
war absolut inakzeptabel. Uns wurde gesagt, unsere Delegation würde sich in die inneren Angelegenheiten eines freien und unabhängigen Staates einmischen,
({0})
und wir Deutschen hätten aus unserer Geschichte offensichtlich nichts gelernt. Denn wer hätte sich um die Opfer der Gestapo gekümmert? Wer hätte sich um die Menschen, die an der Mauer ums Leben gekommen sind,
gekümmert? Darüber sei hierzulande nicht diskutiert
worden. Insofern sei unsere Einmischung in die Angelegenheiten Sri Lankas völlig inakzeptabel. Wenn man so
zynisch, anmaßend und ignorant behandelt wird, wenn
man sich für Menschen einsetzt, wie wir es versucht haben, ist das eine Frechheit. Dieses Verhalten hat auch
dazu geführt, dass wir das Gespräch nicht weitergeführt
haben.
({1})
So große geschichtliche Ignoranz und so viele Unwahrheiten in einem direkten Gespräch habe ich selten erlebt.
Meine Damen und Herren, in diesem Gespräch ist
noch etwas deutlich geworden, etwas, was wir nicht nur
in Asien, sondern auch auf der Weltbühne beobachten
können: Staaten haben verschiedene Eigeninteressen. So
gibt es die Eigeninteressen der asiatischen Staaten, die
Waffenhandelsinteressen Chinas und Pakistans, die geostrategischen Interessen Russlands und Indiens und die
leisen diplomatischen Bemühungen Japans. Diese verschiedenen Eigeninteressen haben zur Folge, dass es
eine geschlossene Haltung zur Situation in Sri Lanka
nicht gibt und dass es uns nicht gelang, unsere Forderungen über die ADB und die Weltbank durchzusetzen. Das
ist ein sehr schlechtes Signal.
Allerdings müssen wir auch feststellen, dass sich die
westlichen Nationen sehr lange stark zurückgehalten haben, wenn es um Sri Lanka ging, auch deshalb, weil sie
gar nicht so recht wussten, wo Sri Lanka überhaupt liegt
und welche strategischen Fragen mit der dortigen Situation verbunden sind.
All dies geschah vor dem Hintergrund, dass momentan 50 000 tamilische Flüchtlinge, die als menschliche
Schutzschilde missbraucht werden, in einem 5 Quadratkilometer großen Gebiet in Sri Lanka zusammengepfercht
sind, umzingelt von einem mörderischen Vernichtungskrieg. Augenzeugen beschreiben, dass die staatliche Armee auf alles schießt, was sich bewegt. Sie berichten von
zerfetzten Kinderleichen, von Menschen, die seit Wochen in Erdlöchern hausen, und von Rebellen, die auf
fliehende Zivilisten schießen. Die Kriegführung der Armee Sri Lankas ist für uns absolut verwerflich. Dieser
widerwärtige Krieg ist nicht nur zu verurteilen, sondern
er muss auch sofort gestoppt werden.
({2})
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
bezeichnet das Vorgehen der Armee Sri Lankas als perversen Endkampf. Es handelt sich um einen perversen
Krieg, den intime Kenner der Situation in Sri Lanka
schon vor langer Zeit haben kommen sehen. Inzwischen
dauert er schon ein Vierteljahrhundert, und er wird noch
einmal so lange dauern, wenn die Minderheitenrechte
der Tamilen in Zukunft weiterhin nicht geachtet werden
und wenn die Tamilen nach wie vor ihrem Traumgebilde
eines souveränen Staates nachgehen.
Meine Damen und Herren, in den letzten 25 Jahren
sind in diesem Krieg 70 000 Menschen getötet worden,
die Hälfte davon in den letzten zwei Jahren und 7 500 in
den ersten drei Monaten dieses Jahres. Diesen Zahlen
liegt ein Gemisch aus vergiftetem kolonialen Erbe, Nationalismus und militärischem Größenwahn zugrunde, das
wir aus Ruanda, aus Kenia, aber auch aus Bosnien kennen.
Wir, die Weltgemeinschaft, sprechen im Fall Sri
Lanka - ich wiederhole mich - immer noch nicht mit einer Stimme. Das kann nicht sein. Insofern begrüßen wir
den Antrag, der hier auf Bundestagsebene, auf dieser
politischen Bühne, vorgelegt wird, ausdrücklich.
Die Tragik dieses Krieges liegt darin begründet, dass
beide Seiten schon immer diesen Konflikt erst dann als
gelöst ansehen wollen, wenn die andere Seite total vernichtet ist. Verhandlungen und strategisches Auf-denanderen-Zugehen gab es nie. Die Religion der Singhalesen
spielt bei dem Konflikt eine entscheidende Rolle: Der
buddhistische Klerus der Singhalesen predigt nicht Gewaltfreiheit, ganz im Gegenteil: Er predigt einen aggressiven Chauvinismus gegenüber den hinduistischen Tamilen.
Für die Gegenseite ist festzustellen: Dieser Krieg ist
für die LTTE zum Selbstzweck geworden. Mit der Taktik von Selbstmordattentaten wollen sie einen souveränen Staat erreichen. Dieses Vorgehen ist zu verdammen.
Wie wir gehört haben, mordet die LTTE, bildet Kindersoldaten aus und bringt friedliche tamilische Parteien
zum Schweigen. Einen gewaltfreien politischen Flügel,
sozusagen ein Pendant zur irischen Sinn Féin, haben sie
aus kriegstaktischen Gründen nicht gegründet und versuchen das auch nicht.
Am schlimmsten ist dieser Krieg aber für die unbeteiligten Menschen auf Sri Lanka. Das Land ist fast bankrott. Die Regierung ist korrupt. Der Beamtenapparat ist
aufgeblasen. Eine wirtschaftliche Weiterentwicklung des
Landes ist schwer möglich. Armee und Polizei lassen in
den von der LTTE „befreiten“ Gebieten regelmäßig
Menschen verschwinden und terrorisieren in den Städten
kritische Bürgerrechtler, Anwälte und Journalisten.
Sri Lanka ist ein typischer Failing State geworden. In
diesem Licht ist zu sehen, was aus der Vermittlerrolle
Norwegens geworden ist und was die Einrichtung der Sri
Lanka Monitoring Mission gebracht hat sowie dass die
sogenannten Tokyo Co-Chairs aufgelöst und dass westliche Botschafter ausgewiesen wurden. Der deutsche Botschafter ist freiwillig ausgereist, nachdem er auf die
Frage der Pressefreiheit aufmerksam gemacht hatte - für
mich ein ungeheuerlicher Vorgang.
({3})
Menschenrechtsverletzungen werden kaum oder gar
nicht aufgeklärt. Die von der internationalen Gemeinschaft beauftragte ehemalige Hochkommissarin der Vereinten Nationen hat schon 2007 bei einem Besuch auf
die Situation der Menschenrechte auf Sri Lanka hingewiesen. Dennoch hat sich dort nicht viel getan. Die
bewaffneten Befreiungstiger der LTTE, die KarunaGruppe und andere Gewaltgruppen auf Sri Lanka verstoßen massiv gegen die UN-Charta und gegen die dort verankerten Menschenrechte: Sie töten Menschen, sie vergewaltigen Frauen. Es wäre übrigens ein Trugschluss, zu
glauben, dass die Tamilen vor der LTTE, also vor ihren
eigenen Blutsbrüdern, geschützt sind. Niemand ist irgendwo sicher, das ist die Situation auf Sri Lanka.
Genau wie die EU fordern wir als Unionsfraktion eine
sofortige Beendigung der Menschenrechtsverletzungen
und die Wiedereinführung humanitärer Grundstandards.
Dieses Ziel hat eine humanitäre und eine entwicklungspolitische Dimension, die ich mit den folgenden Punkten
noch einmal ansprechen möchte.
Zur Entwicklungspolitik. 2007 haben wir unsere Gelder gestoppt. 30 Millionen Euro für 2008 liegen noch auf
Eis. Dieses Geld kann natürlich nicht ausgezahlt werden.
Ein abgedrehter Geldhahn ist die einzige Sprache, die
die derzeitige Regierung Sri Lankas versteht.
({4})
In anderer Beziehung müssen wir, allerdings unterhalb der Schwelle bilateraler Beziehungen, engagiert
bleiben. Wir müssen mit Konfliktstrategien den Willen
zum Dialog und zur Achtung der Rechte des Gegenübers
fördern. Es gibt Beispiele, dass so etwas funktioniert.
Nordirland ist ein Beispiel dafür. Auch Aceh in Nordindonesien ist ein Beispiel dafür, dass die Situation vernünftig wird, wenn alle es wollen.
Aber hier ist die Situation jetzt völlig anders.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich will noch einmal auf den Antrag verweisen und
eine abschließende Bemerkung machen. Aus einer Trauminsel ist ein Trauma geworden. Deswegen halte ich es für
richtig, dass es nach wie vor eine Reisewarnung des
Auswärtigen Amtes gibt. Ich hoffe, viele Deutsche nehmen diese Reisewarnung ernst. Denn es geht dort nicht
mehr um Urlaub und Tourismus, sondern um Menschenrechte.
Herzlichen Dank.
({0})
Michael Leutert ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich stelle gleich zu Beginn fest: Bei diesem Thema werden wir uns inhaltlich sicherlich nicht zerstreiten.
({0})
Fakt ist: In Sri Lanka tobt seit 25 Jahren ein blutiger
Bürgerkrieg, der zulasten der Zivilbevölkerung geführt
wird. Fakt ist aber auch, dass dieser Krieg die meiste
Zeit außerhalb des öffentlichen und auch unseres eigenen Bewusstseins stattfindet.
Es gehört zum einen zu einem ehrlichen Umgang mit
dem Thema, nach den Gründen dafür zu fragen. Zum anderen muss man die Geschichte kennen, wenn man an
einer langfristigen Lösungsstrategie interessiert ist. Beides ist zwar nicht das Thema, um das es heute geht, aber
es gehört meines Erachtens trotzdem dazu, darauf hinzuweisen, dass Europa nicht bloß eine humanitäre Verantwortung hat, wie sie für alle Staaten gilt, sondern dass
wir auch eine Verantwortung haben, die in der Kolonialzeit begründet ist, weil dieser Konflikt damals maßgeblich verschärft wurde.
({1})
In den letzten Monaten ist der Konflikt eskaliert. Zwischen der LTTE und den Regierungstruppen ist eine
enorme Gewalt entfesselt worden, die keine Rücksicht
mehr auf die Zivilbevölkerung nimmt. Aus diesem
Grund ist der Antrag völlig zu Recht darauf fokussiert,
dass eine noch schlimmere humanitäre Katastrophe verhindert werden soll.
Der Begriff der humanitären Katastrophe ist manchmal umstritten oder etwas unklar. In diesem Fall ist er es
definitiv nicht. Weil die Menschen, die vor dem Krieg
fliehen, unter Generalverdacht gestellt werden, Aufständische zu sein, kann man die Flüchtlingslager zu Recht
als Internierungslager bezeichnen. Denn der Zugang zu
rechtsstaatlichen Verfahren ist nicht gewährleistet, und
menschenrechtliche und insbesondere humanitäre Mindeststandards werden nicht mehr eingehalten.
Vor diesem Hintergrund sind die in dem Antrag erhobenen Forderungen vernünftig und richtig. Selbstverständlich sind auch wir Linken dafür, dass sich die Bundesregierung für einen sofortigen Waffenstillstand
einsetzen soll. Auch wir Linken fordern, dass die Bundesregierung auf die Einhaltung der humanitären Mindeststandards drängen soll, und auch wir Linken fordern,
dass sie sich dafür einsetzen soll, dass die Zivilbevölkerung schnellstmöglich evakuiert und Zugang zu den
Flüchtlingslagern gewährt wird.
({2})
Insgesamt sind in dem Antrag 14 Forderungen formuliert. Weil sie vernünftig und richtig sind, werden wir
dem Antrag selbstverständlich zustimmen.
In diesem Rahmen müssen allerdings auch zwei Fragen erlaubt sein. Erstens. Wenn wir uns in diesem Hause
in diesen Fragen einig sind, frage ich mich, warum die
CDU/CSU- und die SPD-Fraktion dem Antrag der Linken auf einen sofortigen Abschiebestopp für Flüchtlinge
aus Sri Lanka, der vor zwei Monaten in den Fachausschüssen behandelt wurde, nicht zugestimmt haben.
({3})
Zweitens. Meine Fraktion war an dem interfraktionellen Antrag nicht beteiligt. Was bringt Sie zu der Ansicht,
dass wir diesem Antrag nicht zustimmen könnten? Es
muss diese Annahme gegeben haben, sonst wäre jemand
auf uns zugekommen. Dafür könnte es inhaltliche
Gründe geben, aber es ist auch kein Geheimnis - das
muss hier nicht erörtert werden -, dass die CDU/CSU
nicht möchte, dass wir an solchen Anträgen zu humanitären Fragen beteiligt werden. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Das kann plumper Antikommunismus sein.
({4})
Es kann auch der Wunsch nach einem Feindbild oder
auch die Tatsache sein, dass wir uns im Wahlkampf befinden.
Ich weise Sie darauf hin, dass Sie mit diesem Verhalten die Kraft des Antrags absolut schmälern. Denn es ist
immer besser, wenn alle Fraktionen und nicht nur fast
alle Fraktionen einen solchen Antrag mittragen.
({5})
Ich hoffe, es ist allen klar: Wenn es um eine humanitäre Katastrophe geht, dann ist es wirklich ernst. Wir machen aus diesem Grund Ihr Spielchen nicht mit und werden diesem Antrag trotzdem zustimmen.
({6})
Jetzt spricht Kerstin Müller für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will gleich zu Beginn klar sagen: Es ist gut, dass wir
heute, ausgehend von einem Antrag der Grünen, einen
gemeinsamen, interfraktionellen Antrag zur aktuellen
Lage in Sri Lanka beschließen. Ich will für meine Fraktion sehr deutlich sagen: Ich finde es bedauerlich und eigentlich auch albern, dass es selbst nach vier Jahren
noch immer nicht möglich ist, die Linke bei einer solchen Sache einzubinden. Wir finden das falsch.
({0})
Wir brauchen jetzt ein Signal der Geschlossenheit;
denn noch immer gehen die Kämpfe in aller Härte weiter; die Kollegen Vorredner haben es bereits dargelegt.
Tausende sind bereits getötet worden. Zehntausende befinden sich noch immer auf der Flucht und sind nach
Wochen des Dauerbombardements am Ende ihrer
Kräfte. Wirklich fürchterlich ist das, was man über die
circa 50 000 Menschen - wie viele es genau sind, weiß
man nicht - hört, die auf einem winzigen Stück Land
eingekesselt sind, in der Falle der Tamil Tigers sitzen
und gleichzeitig von den Regierungstruppen beschossen
werden. Sie sind ohne Wasser, Nahrung und medizinische Versorgung. Das Vordringlichste ist - es ist wichtig,
dass das in unserem Antrag steht -, dass die dortige Regierung eine humanitäre Waffenruhe eingeht, damit
diese Zivilisten, die nicht verantwortlich gemacht werden können, die Kampfzone verlassen können.
({1})
Ein weiterer Punkt ist ebenfalls sehr wichtig. Wenn
die Regierung fatalerweise auf den militärischen Endsieg setzt, dann muss sie - genauso wie die Tamil Tigers wenigstens die Mindeststandards des humanitären Völkerrechts einhalten. Das ist die klare Botschaft, die wir,
der Deutsche Bundestag, heute nach Sri Lanka senden.
Außerdem müssen die Vereinten Nationen und die internationalen Hilfsorganisationen ungehinderten Zugang
zur Kampfzone erhalten. Unabhängige Beobachter von
EU und UN müssen hineingelassen werden, genauso wie
unabhängige Journalisten; denn bis heute haben wir im
Grunde kein eigenes Bild von der Lage. Umso wichtiger
ist, dass überhaupt berichtet wird.
Circa 180 000 Flüchtlingen ist die Flucht in sogenannte Wohltätigkeitslager - so drückt es die dortige ReKerstin Müller ({2})
gierung aus; wir machen uns ihre Begrifflichkeit natürlich nicht zu eigen -, der Regierungen gelungen.
Allerdings ist auch hier die Lage schwierig, weil selbst
dem UN-Flüchtlingshilfswerk kein uneingeschränkter
Zugang gewährt wird. Es gibt Berichte über verschwundene Personen und vieles mehr. Dieser Zustand ist völlig
inakzeptabel.
({3})
In einer solchen Situation ist es ein besonders
schlechtes Zeichen, wenn der UN-Sicherheitsrat nicht in
der Lage ist, formell zusammenzukommen und ein klares Signal mit einer Resolution zu setzen. Auf Druck von
China und Russland gab es bisher nur ein informelles
Treffen. Das ist ein Offenbarungseid. Ban Ki-moon wird
jetzt vermutlich in die Region reisen. Aber wir sehen
- das ist bedauerlich -, dass selbst solche humanitären
Anliegen den Machtinteressen zum Opfer fallen und die
internationale Gemeinschaft nicht in der Lage ist, an einem Strang zu ziehen. Dann könnte man vielleicht wirksamer helfen.
({4})
Der französische und der britische Außenminister
sind leider gescheitert; das wurde bereits erwähnt. Es
soll noch einen Versuch der Troika geben. Ich hoffe, dass
sie Erfolg haben wird, obwohl man pessimistisch sein
muss. Rajapakse hat ein Zugeständnis gemacht und erklärt, auf Luftschläge und den Einsatz schwerer Waffen
zu verzichten. Aber auch das wird nicht eingehalten. Vor
wenigen Tagen wurde ein Notkrankenhaus bombardiert,
und auch diejenigen, die der Hölle entfliehen konnten,
berichten ganz eindeutig etwas anderes. Es ist sicherlich
gut, dass noch ein Versuch der Verständigung unternommen wird. Wichtig ist aber auch, dass diejenigen, die
hinfahren, entsprechende Druckmittel in der Hand haben. Herr Leibrecht hat bereits den IWF-Kredit angesprochen und geschildert, wie hervorragend man sich bei
der Weltbank verhalten hat. Herr Klimke hat dann gesagt, im Grunde genommen müsse alles versucht werden
und nur ein abgedrehter Geldhahn sei die Sprache, die
die Regierung verstehe.
Insofern bitte ich die Bundesregierung, an der Stelle
keine Zusage für die nächste Tranche beim IWF-Kredit,
für die Verlängerung von Handelspräferenzen oder für
Programme des Wiederaufbaus zu machen, wenn diese
nicht an eine Verbesserung der Menschenrechtssituation
gebunden sind. Sie sollten außerdem an unsere humanitären Forderungen gebunden sein, die da lauten: Waffenstillstand, die Möglichkeit für die Zivilisten, die Zone zu
verlassen, und langfristig friedliche Verhandlungen.
Diese Forderungen müssen endlich seitens der Regierung erfüllt werden.
({5})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. - Manchmal kommt es einem so vor, als sei man hilflos. Ich glaube aber, dass das
letztlich nicht der Fall ist. Nach dreijähriger Schlacht ist
Sri Lanka ausgeblutet, auch finanziell. Das Land wird
wieder auf uns zukommen, da es auf finanzielle Hilfe
angewiesen sein wird. Daher ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft an einem Strang zieht, indem
sie sagt: Wir werden nur Hilfe leisten, wenn Schritte auf
die Tamilen zu gemacht werden, und wenn versucht
wird, sich mit den Tamilen auszusöhnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/12869 mit dem Titel
„Humanitäre Katastrophe in Sri Lanka verhindern“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Manuel Sarrazin, Marieluise
Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Innenpolitik rechtsstaatlich gestalten
- Drucksache 16/11918 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es ist verabredet, dazu eine halbe Stunde zu debattieren. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Manuel Sarrazin für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die jetzigen Zeiten sind große Zeiten der europäischen Innenpolitik. Die Zukunftsgruppe für das Post-Haager-Programm hat im Juni letzten Jahres ein Papier vorgelegt.
Im Juni dieses Jahres wird die Kommission eine Mitteilung über ihren Entwurf für das Stockholmer Programm
vorlegen. Im Dezember soll dann in Stockholm verabschiedet werden, wie der Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts in Zukunft gestaltet werden soll.
Damit dieser Raum der Sicherheit, der Freiheit und
des Rechts nicht nur ein hehres Ziel ist, legen wir mit
unserem Antrag Maßgaben vor, zum Beispiel den Maßstab, dass die Innenpolitik der Europäischen Union den
Bedürfnissen, den Rechten und den Schutzrechten der
Bürgerinnen und Bürger genügen muss. Solange der Lissabonner Vertrag nicht in Kraft ist, haben wir, die natio24058
nalen Parlamente, die besondere Aufgabe, unsere Regierungen, die im Rat relativ losgelöst über die Innenpolitik
der Europäischen Union entscheiden können, zu kontrollieren, sie aber auch durch Maßgaben auf die Schienen
zu bringen, auf denen wir sie haben wollen. Die Anliegen, Interessen und Rechte der Bürgerinnen und Bürger
müssen der Maßstab der Innenpolitik sein.
Aus unserer Sicht wird diesem Maßstab bisher nicht
ausreichend Genüge getan.
({0})
Deswegen geben wir in unserem Antrag die Maßgabe
auf, die Trennungsgebote zu bewahren. Dazu zählen die
Trennungsgebote zwischen geheimdienstlichen Aktivitäten und Polizei, zwischen Militär und Polizei und auch
zwischen Bund und Ländern, wenn es um Deutschland
geht. Dazu zählt natürlich auch das Trennungsgebot,
dass die Innenpolitik nicht zu einem Mittel der Außenpolitik gemacht werden darf und dass die Außenpolitik
nicht für repressive innenpolitische Begründungen herhalten darf.
({1})
Wer einen europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts will, der muss dabei strengstens
auf den Datenschutz achten. Er muss darauf achten, dass
Rahmenbeschlüsse und andere europäische Beschlüsse,
vor allem in Bezug auf Datenbanken und grenzüberschreitenden Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden, datenschutzrechtlichen Maßstäben genügen.
({2})
Vertraulichkeit, Zweckbindung und die Beschränkung
der Zugriffsrechte dürfen nicht über die Hintertür Brüssel ausgehebelt werden, so wie es Innenminister - auch
deutsche Innenminister - leider immer noch zu gerne
tun.
({3})
Aber auch die europäischen Agenturen wie Europol oder
auch mögliche zukünftige gemeinsame europäische Vorhaben im Rahmen der Terrorbekämpfung müssen transparent sein und der parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Wenn Sie dazu heute und in den kommenden
Beratungen einen Beitrag leisten wollen, dann müssen
Sie, meine verehrten Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, unseren Antrag wenigstens mit Wohlwollen, wenn nicht mit purer Unterstützung begleiten.
({4})
Vor dem Hintergrund, dass gestern der tschechische
Senat den Lissabonner Vertrag dem Präsidenten zur Ratifizierung zugeleitet hat, sollten wir hier auch erwähnen,
dass es gerade für den Bereich der Justiz und der Innenpolitik der Europäischen Union ein Meilenstein ist,
wenn dieser Vertrag endlich in Kraft tritt, trotz der fünf
Jahre Aufschub, die sich die Innenminister noch erlauben können. Der wichtigste Schritt hin zu mehr Bürgerrechten in der europäischen Rechts- und Innenpolitik besteht darin, dass das Parlament und der Europäische
Gerichtshof endlich umfassender an der Politik, die dort
gemacht wird, beteiligt werden.
({5})
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass die europäische Innenpolitik nicht nur unsere Bürgerinnen und
Bürger betrifft, sondern auch die Menschen, die an den
Grenzen der Europäischen Union mit Maßnahmen der
Europäischen Union oder „koordinierten Maßnahmen
der Mitgliedstaaten“ in Berührung kommen. Wenn die
Voraussetzungen beim Einsatz von FRONTEX im Mittelmeer und an anderen Grenzen immer noch so humanitär unzureichend sind wie zurzeit, dann können wir nicht
behaupten, Europa würde einen Raum der Sicherheit,
der Freiheit und des Rechts gewährleisten.
({6})
- Natürlich sind die Schlepper und Schleuser die Hauptgegner. Aber solange die Staats- und Regierungschefs
oder die Innenminister nicht dafür sorgen, dass es gemeinsame Leitlinien bei FRONTEX gibt, damit wenigstens ein Rechtsstandard in der Auslegung von Seerecht
für alle Mitgliedstaaten gilt, so lange dürfen Sie sich
nicht hinter Schleppern und Schleusern verstecken. ({7})
Da es Zwischenrufe aus den Reihen der Unionsfraktion gibt, möchte ich eine ehrliche Bitte an Sie äußern:
Fangen Sie nicht im Europawahlkampf an, weil Sie
Angst vor der Fünfprozenthürde haben, gegen - Zitat schwarzafrikanische Asylanten zu stänkern! Polemisieren und Polarisieren ist nicht gut für die Europäische
Union.
({8})
Damit machen wir Parolen von ganz rechts hier hoffähig. Lesen Sie die Aussagen von Herrn Ramsauer in der
Bild-Zeitung von Anfang dieses Monats. Ich finde, Sie
sollten da aufpassen und sich diese Bitte zu Herzen nehmen.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt hat Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Herr Kollege Sarrazin,
um es gleich vorweg zu sagen: Einen Gefallen werde ich
Stephan Mayer ({0})
Ihnen nicht tun. Die CDU/CSU-Fraktion wird den Antrag der Grünen weder wohlwollend begleiten noch ihm
zustimmen.
({1})
Dieser Antrag ist nämlich in höchstem Maße unverantwortlich und unredlich, weil er ein Bild zeichnet, das
nicht der Realität entspricht. Sie stigmatisieren die Arbeit dieser Zukunftsgruppe und unterstellen, diese Arbeit
würde auf dem schnellsten Weg in ein inhumanes, ein
unmenschliches Rechtssystem auf europäischer Ebene
führen. Dies trifft einfach nicht zu.
Ich will die Historie bemühen. Um was geht es? Es
geht darum, dass im Januar 2007 eine informelle Zukunftsgruppe unter großer Beteiligung der Mitgliedstaaten - federführend geleitet von der EU-Kommission eingerichtet worden ist. Sämtliche Ratspräsidentschaften
der letzten Jahre und der kommenden Jahre waren vertreten, um ein möglichst breites Spektrum von unterschiedlichen Meinungen aufzunehmen. Diese Zukunftsgruppe hat im Juni letzten Jahres ihren Bericht unter der
französischen Ratspräsidentschaft abgeschlossen und erhebt überhaupt keine Forderungen, geschweige denn
macht sie konkrete Vorschläge für Rechtsetzungsmaßnahmen. Es werden nur Diskussionen eröffnet, die meines Erachtens notwendig sind. Wir sind beileibe nicht
auf dem direkten Weg in ein inhumanes Rechtssystem
oder in eine inhumane Rechtsordnung auf europäischer
innenpolitischer Ebene. Ganz im Gegenteil.
Es ist meines Erachtens sachgerecht und richtig, dass
sich die Innenpolitik auf unterschiedlichen politischen
Ebenen Gedanken macht, wie wir das Haager Programm, das im Jahr 2009 ausläuft, weiterentwickeln.
Es geht darum, sich Gedanken über das Stockholmer
Programm für die Jahre 2010 bis 2014 zu machen, was
die europäische Innenpolitik anbelangt. Dieser Forderungskatalog bzw. diese Zusammenstellung des Diskussionsstandes ist meines Erachtens ein vollkommen umfassender und sachgerechter Ansatz, dem in der Form
auch zuzustimmen ist. Es ist wichtig, dass wir uns im
Bereich der europäischen Innenpolitik stärker darauf
verständigen, dass es eines kohärenten, abgestimmten
Ansatzes zwischen den unterschiedlichen politischen
Ebenen bedarf: der nationalen Ebene, der europäischen
Ebene und auch der regionalen Ebene. Europäische Innenpolitik umfasst nun einmal Themen wie Migrationspolitik, Zuwanderungspolitik, Grenzsicherung und das
Thema Asylrecht - in diesem Zusammenhang sowohl
die illegale Migration als auch die legale Migration -,
vor allem aber auch die Bekämpfung des internationalen
Terrorismus.
Der Nukleus dieses Papiers besteht letztendlich aus
drei Herausforderungen. Um welche drei Herausforderungen geht es? Zum einen geht es darum - ich glaube,
das ist in vollem Umfang unterstützenswert -, das erfolgreiche europäische Modell fortzuführen. Es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen den Aspekten Mobilität, Sicherheit und Privatsphäre herzustellen. Um es ganz
deutlich zu machen: Ich halte es in höchstem Maße für
unverantwortlich und unredlich, so zu tun, als seien die
Themen Freiheit und Sicherheit sich widerstreitende
Aspekte. Ganz im Gegenteil, wir können die schönsten
Freiheitsrechte nur dann genießen und unsere liebgewonnene Freiheit nur dann vollumfänglich leben, wenn
wir in Europa in einem Raum der Sicherheit leben.
({2})
In diesem Papier wird ein solcher Gegensatz nicht dargestellt. Ganz im Gegenteil: Es wird deutlich gemacht,
dass die Freiheitsrechte gewährleistet werden müssen
und dass natürlich auch die wichtigen Themen Datenschutz und Schutz der Privatsphäre in vollem Umfang zu
beachten sind.
Als zweite wichtige Herausforderung - das ist unstreitig - müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir uns
zunehmend in einer Bedrohungssituation befinden, die
nicht mehr zwischen innenpolitischen Bedrohungen und
außenpolitischen Bedrohungen differenziert. Wir sind
nun einmal in einer asymmetrischen Bedrohungslage.
({3})
Dies wurde uns leider Gottes in den letzten Jahren zu
häufig ganz deutlich vor Augen geführt. Ich denke nur
an die schrecklichen Terrorangriffe am 11. März 2004 in
Madrid, die mehr als 140 Personen das Leben gekostet
haben. Ich denke an die Terrorangriffe in London im Juli
2005. Ich denke daran, dass es auch in Deutschland seit
dem 11. September 2001 insgesamt sieben entweder vereitelte oder gescheiterte Terrorangriffe gab. Wir müssen
zur Kenntnis nehmen, dass der islamistische internationale Terrorismus die größte Gefahr ist, die sich derzeit
der zivilisierten Welt in Europa stellt, und darauf müssen
entsprechende Antworten gegeben werden.
Als dritte Herausforderung wird in diesem Bericht
hervorgehoben, dass es darum geht, einen optimalen Datenfluss zwischen den Strafverfolgungsbehörden innerhalb der Europäischen Union zu gewährleisten, aber
- und das ist mir ganz wichtig - unter Wahrung dieses
hohen Datenschutzstandards, der mit Sicherheit noch
ausbaufähig ist.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie machen hier wirklich aus einer Mücke einen
Elefanten.
({4})
Sie schwafeln hier davon - das ist meines Erachtens in
höchstem Maße unverantwortlich -, wir seien in Europa
auf dem besten Wege nach Guantánamo, wenn diese
Diskussion weitergeführt wird. Ich halte das nicht für
redlich, weil es einfach nicht zutreffend ist.
({5})
Ich möchte nur ein Zitat aus diesem Bericht vortragen,
das meines Erachtens in herausragender Weise doku24060
Stephan Mayer ({6})
mentiert, dass dem hohen Schutzstandard in Bezug auf
den Abgleich und den Austausch von Daten in Zukunft
auch nach Ansicht der europäischen Innenpolitik Rechnung zu tragen ist. Ich zitiere:
Um ein ausreichendes Schutzniveau zu erreichen
und im Zeitalter des Cyberspace zivile und politische Rechte zu gewährleisten, sind Technologien
zur Verbesserung des Datenschutzes ... unbedingt
erforderlich.
Also ist das Gegenteil dessen der Fall, was Sie mit Ihrem
Antrag zu insinuieren versuchen, nämlich dass wir auf
dem besten Weg in einen Überwachungsstaat seien, in
einen Staat à la George Orwell. Es wird hier deutlich gemacht, dass die hohen Datenschutzstandards natürlich in
vollem Umfang zu achten sind.
Genauso unverantwortlich ist Ihre Behauptung, wir
seien auf dem besten Weg, ein Feindstrafrecht zu schaffen. Das ist nicht der Fall. Wir müssen einfach zur
Kenntnis nehmen: Die Bedrohungslage in Europa
- nicht nur in Spanien und in England, sondern auch in
Deutschland - hat sich geändert. Es ist deshalb unabdingbar, dass die Strafverfolgungsbehörden in Europa
stärker kooperieren. Sie können mir glauben: Ich als
Vertreter der CSU bin zuallervorderst der Auffassung,
dass die nationalen Kompetenzen - bei all diesen Bemühungen, stärker zusammenzuarbeiten - selbstverständlich vollumfänglich zu achten sind. Die nationalen Strafverfolgungsbehörden müssen natürlich weiterhin die
Herren des Verfahrens sein. Das heißt im Umkehrschluss
aber nicht, dass man sich im Bereich von Europol, von
Eurojust oder von Eurodac nicht stärker vernetzt - natürlich unter Wahrung sämtlicher hoher Datenschutzstandards und der Rechte der informationellen Selbstbestimmung. Gegen eine stärkere Zusammenarbeit ist meines
Erachtens nichts einzuwenden.
({7})
Unverantwortlich von Ihnen ist auch, dass Sie in Ihrem Antrag unterstellen, die Expertengruppe fordere,
dass es eine Aufweichung zwischen polizeilichen und
militärischen Aspekten gibt.
({8})
Das Gegenteil ist der Fall. Es wird keineswegs die Forderung aufgestellt, dass die Mitgliedstaaten paramilitärische Einheiten haben. Sie nehmen doch mit Sicherheit
nicht im Entferntesten an - unter Ihnen sind einige, die
mit Italien eine große Freundschaft pflegen -, dass die
deutsche Regierung oder eine europäische Institution
Italien auffordern wird, die Carabinieri abzuschaffen.
({9})
Es gibt einfach unterschiedliche Polizeitraditionen in
den 27 Mitgliedsländern. Diese unterschiedlichen Polizeitraditionen sind zu achten und zu respektieren.
Natürlich dürfen wir Deutsche keineswegs unseren
sehr hoch gehaltenen Trennungsgrundsatz aufgeben; auch
ich bin nicht der Meinung, dass wir diesen Grundsatz
aufgeben sollten. Genauso wenig haben wir Deutsche
oder hat die Europäische Union das Recht, den Italienern
vorzuschreiben, ihre Carabinieri - ihre Tätigkeit ist eine
gewisse Verknüpfung von polizeilichen und militärischen Aspekten - abzuschaffen, oder den Franzosen aufzuerlegen, ihre Gendarmerie aufzulösen. Wir werden
keine dahin gehenden Forderungen aufstellen.
Sie unterstellen hier Dinge, die einfach unzutreffend
sind. Ich halte das für unredlich, sogar für gefährlich.
Deswegen kann Ihrem Antrag nur die Zustimmung verweigert werden. Dieser Antrag basiert auf einem alten
Papier: Wie ich erwähnt habe, ist es im Juni letzten Jahres verabschiedet worden. Am 23. September letzten
Jahres ist es vom Bundesinnenminister im Innenausschuss und im Europaausschuss vorgestellt worden. Es
gab eine ausgiebige Diskussion darüber.
Herr Kollege!
Diese Diskussion kann gerne fortgeführt werden.
({0})
Die Dinge, die Sie hier unterstellen, sind in vollem Umfang unredlich und unzutreffend. Deswegen ist diesem
Antrag in jeder Hinsicht eine Ablehnung zu erteilen.
({1})
Der nächste Redner ist der Kollege Christian Ahrendt
für die FDP-Fraktion. Wir wünschen ihm für seine Rede
ebenso viel Glück wie zu seinem heutigen Geburtstag.
({0})
Danke schön. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie uns eines vorweg
feststellen: Gestern hat Tschechien dem Vertrag von Lissabon zugestimmt. Damit ist Europa ein ganzes Stück
weitergekommen. Der Vertrag von Lissabon bringt mehr
Sicherheit und mehr Freiheit im Raum der Sicherheit,
der Freiheit und des Rechts für Europa, den er stärken
soll. Entscheidend dabei ist, dass das EU-Parlament gestärkt wird. Entscheidend ist auch, dass der Europäische
Gerichtshof mehr Zuständigkeiten erhält. Beides dient
einem verbesserten Grundrechtsschutz.
Man muss an dieser Stelle eines ganz klar sehen: Der
Weg nach Europa ist ein Weg der Umwege. Wir hätten
uns eher den Verfassungsvertrag gewünscht. Stattdessen
bekommen wir den Vertrag von Lissabon. Die Umwege,
die auf dem Weg zu einem geeinten Europa gegangen
werden, stehen für die Schwierigkeiten, mit denen wir in
der Innenpolitik zu kämpfen haben, und zwar aus dem
einfachen Grunde, weil die europäische Innenpolitik
eher durch den Rat als durch das Europäische Parlament
gemacht wird. Auf der europäischen Ebene konnten deswegen in den vergangenen Jahren eher Standards für Sicherheit durchgesetzt werden als ein nachhaltiger
Grundrechtsschutz.
({0})
Seit dem Aktionsplan für Terrorismus im Nachgang
zu den Anschlägen vom 11. September 2001 sind in Europa insgesamt 160 Einzelmaßnahmen umgesetzt worden, die den Bereich der Polizei, der Visapolitik, des
Grenzschutzes und der Luft- und Seesicherheit betreffen.
Was umgesetzt worden ist, wird fortlaufend weiterentwickelt. In diese Richtung geht auch das Konzept der
Zukunftsgruppe, das wir heute zum Teil mit diskutieren.
In derselben Zeit ist es aber noch nicht gelungen, Beschuldigtenrechte in Europa fest zu installieren, was aber
nötig wäre, um dem, was an Sicherheit geschaffen worden ist, auch einen entsprechenden Rechtsschutz aufseiten der Bürger gegenüberzustellen. Das ist ein Nachteil.
Das zeigt deutlich, wo die Probleme liegen.
Wenn man das Konzept der Zukunftsgruppe liest - es
hat einen Umfang von ungefähr 50 Seiten -, dann erkennt man, dass sich die Vorschläge mehrheitlich auf den
Bereich der Sicherheit konzentrieren; in dem Papier wird
aber nur sehr wenig zu den Rechtsschutzmöglichkeiten
gesagt, also dazu, wie ich meine persönliche Freiheit gegenüber dem Zuwachs an Sicherheit in Europa und dem
Zuwachs im Sicherheitsapparat selbst schützen kann.
Deswegen müssen wir an der Stelle klar sagen: Sicherheit dient der Freiheit des Einzelnen - das ist richtig -,
aber Sicherheit ist kein Selbstzweck.
({1})
Ein Gewinn an Rechtsschutz für die Freiheit des Einzelnen ist nicht zu erkennen; vielmehr scheint man auf
europäischer Ebene eher Dinge befördern zu wollen, die
man in den nationalen Parlamenten nicht so durchsetzen
kann, wie man das, insbesondere von den Regierungsfraktionen, an der einen oder anderen Stelle gern täte.
({2})
Im Konzept der Zukunftsgruppe kann man lesen, dass
optimale Resultate bei der Terrorabwehr einen optimalen
Austausch von Daten zwischen Polizei und Nachrichtendiensten erfordern. Das ist nichts anderes als die Forderung nach Aufgabe des Trennungsgebotes auf europäischer Ebene, weil man es in diesem Hause nicht
durchsetzen könnte.
({3})
Erschreckend ist der Punkt 78 in dem Programm der
Zukunftsgruppe - das ist schon angesprochen worden -,
in dem gesagt wird, wenn auch ein bisschen verschlüsselt, man wolle die Zusammenarbeit von Polizei und Militär. Man will im Grunde genommen den Bundeswehreinsatz im Innern. Da wird wieder auf die berühmte
asymmetrische Sicherheitslage hingewiesen. Aber wir
als FDP sagen ganz klar: Den Bundeswehreinsatz im Innern wird es mit der FDP nicht geben.
({4})
Es gibt einen Kritikpunkt im Antrag der Grünen, der
ein wichtiges Thema betrifft; die Mahnung richtet sich
eher an uns selber. Wir dürfen uns nicht der Vorstellung
hingeben, dass mit dem Lissabon-Vertrag in Europa ausreichende Möglichkeiten für das Parlament und den
EuGH geschaffen werden, Schranken zu setzen. Entscheidend ist, dass das Parlament hier besser wird, sich
um die innenpolitischen Themen auf europäischer Ebene
kümmert und im entscheidenden Moment - die FDP hat
das gerade gestern vorgetragen - gemäß Art. 23 Grundgesetz die Innenpolitik von hier aus mitbestimmt, damit
unser Parlament nicht zum Notar einer Innenpolitik
wird, die in Brüssel gemacht wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Michael Roth hat jetzt das Wort für die Fraktion der
SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es dürfte innerhalb der Europäischen Union keinen Politikbereich geben, der in den nächsten Jahren so an Bedeutung gewinnen wird wie der Innen- und Justizsektor.
Insofern bin ich den Kolleginnen und Kollegen der Grünen durchaus dankbar, dass sie uns die Gelegenheit geben, heute im Plenum des Deutschen Bundestages über
dieses Thema zu sprechen. So viel Selbstkritik muss
sein: Es ist uns in den vergangenen Jahren sicher nicht
gelungen, uns in diesem essenziellen Bereich parlamentarisch so einzubringen, wie es eigentlich erforderlich
wäre.
Wie das Geburtstagskind - meinen Glückwunsch! -,
aber auch die anderen Kollegen schon gesagt haben, eröffnet uns der Vertrag von Lissabon neue Möglichkeiten.
Das sind aber nicht nur neue Rechte; ich verstehe das
durchaus auch als Pflicht, die parlamentarische Mitwirkung auszubauen. Für mich ist das die Voraussetzung für
ein Mehr an Politikgestaltung auf europäischer Ebene im
Innen- und Justizbereich.
Für uns eröffnen sich dabei zwei Chancen: Zum einen
wird durch den Vertrag von Lissabon das Europäische
Parlament in seinen Möglichkeiten gestärkt, und zum
anderen erhält der Deutsche Bundestag - wie auch die
anderen nationalen Parlamente - die Chance, frühzeitiger und umfassender auf diesen zentralen Politikbereich
einzuwirken. Das macht es erforderlich, dass uns die
Michael Roth ({0})
Bundesregierung, wie sie das bislang schon tut, frühzeitig und bestmöglich informiert. Nur so können wir in
den Gremien, entweder im Ausschuss oder im Plenum,
die Debatte darüber verantwortungsvoll führen.
Mir scheint, dass in den vergangenen Jahren ein starkes Gewicht auf die restriktiven Maßnahmen gelegt
wurde. Wir brauchen nur an das Tampere-Programm und
das gegenwärtig noch in Kraft befindliche Haager Programm zu denken, die unweigerlich vor dem Hintergrund der schlimmen Terroranschläge nicht nur 2001 in
den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch in
London und Madrid zu sehen sind. Diese haben dazu geführt, dass zum Teil mit großer Rasanz restriktive Maßnahmen ergriffen worden sind. Sie sind nicht auf uns
herniedergegangen, sondern wir haben durchaus versucht, sie mit zu gestalten. Gleichwohl halte ich es für
mehr als berechtigt, die Frage zu stellen, inwieweit man
die beiden Prinzipien Sicherheit und Freiheit in eine ausgewogene Balance bringen kann.
Vizepräsident Barrot war kürzlich bei uns im Europaausschuss und hat die Eckpunkte des Stockholmer Programms präsentiert. Ich war insofern beruhigt, als ich
den Eindruck hatte, dass die EU-Kommission verstanden hat, dass man nicht immer nur ein Mehr an restriktiven Maßnahmen auf den Weg bringen kann, sondern
sich auch gleichzeitig fragen muss, wie man die individuellen Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürgern
und die für alle geltenden Grundrechte innerhalb der Europäischen Union in konkretes politisches Handeln gießen kann. Hier müssen wir am Ball bleiben und die neue
EU-Kommission - viel wird sich in den nächsten Wochen leider nicht mehr tun - in die Pflicht nehmen. Das
Stockholmer Programm wird wohl noch vor Ende der
Legislaturperiode präsentiert werden. Aber leider wird
eine erste Beratung des Europäischen Parlaments vor
dem Hintergrund der späten Präsentation nicht mehr
möglich sein; dies wird dann unsere gemeinsame Aufgabe nach der Sommerpause sein.
Viele Punkte sind auch hier zwischen den Fraktionen
im Detail umstritten. Ich denke nur daran, was auf EUEbene an Harmonisierung beim Umgang mit Migrantinnen und Migranten, mit Asylbewerberinnen und Asylbewerbern erfolgen muss. Im Hinblick auf entsprechende
Richtlinienentwürfe der EU liegen bereits die ersten Debattenbeiträge vor. Dieser Diskussion sollten wir uns
selbstbewusst stellen, weil es nicht darum gehen darf,
dass die Europäische Union Freiheitsrechte, soziale
Rechte und Sicherheitsrechte durch die Hintertür aufweicht. Wir müssen natürlich auch auf unsere Traditionen aufbauen können.
({1})
- Ich sage deutlich, dass ich es unter humanitären Gesichtspunkten als ziemlich peinlich empfinde, dass Asylbewerber in Deutschland von 187 Euro im Monat leben
müssen.
({2})
Man kann durchaus auch einmal darüber diskutieren, ob
der Vorschlag der Europäischen Union diskussionswürdig ist, dass für alle Menschen in Deutschland die gleichen Mindestsozialleistungen gelten. Ein solcher Vorschlag ist jetzt aus Brüssel auf unseren Tisch gekommen.
Wer Humanität ernst nimmt und nicht nur als Sonntagsrede missbraucht,
({3})
sollte zumindest einer ernsthaften Auseinandersetzung
über diesen aus meiner Sicht wichtigen Punkt nicht aus
dem Weg gehen.
({4})
In einem Punkt haben Sie sicherlich einen Fehler gemacht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
Sie haben sich lediglich den Zukunftsbericht der Innenminister herausgesucht. Dies ist ein Diskussionsbeitrag,
der viele wichtige Aspekte beinhaltet. Aber Sie haben
den entsprechenden Bericht der Justizminister völlig außer Acht gelassen. Dies würde ich in der Diskussion
über das Stockholmer Programm gern stärker zusammenführen. Dabei wird eines deutlich: In den meisten
Mitgliedstaaten gibt es eine bewährte Trennung zwischen der politischen Verantwortung für die Justizpolitik
einerseits und die Innenpolitik andererseits. Auf der europäischen Ebene ist das leider nicht so.
({5})
Deswegen untermauere ich heute noch einmal unsere
Forderung, dass es in der neuen Kommission eine Trennung zwischen der Verantwortung für Innenpolitik und
der Verantwortung für Justizpolitik geben muss. Das
trägt dann vielleicht auch dazu bei, dass die von mir als
schwierig bezeichnete Balance zwischen innerer Sicherheit und Freiheit stärker und ausgewogener beachtet
werden kann.
({6})
Sie haben die europäische Gendarmerie angesprochen. Auch da ermahne ich uns alle, argumentativ ein
wenig abzurüsten. Es geht hier um einen freiwilligen Zusammenschluss. Der Bundesrepublik Deutschland mit
ihrer bewährten Trennungskultur wird hier überhaupt
nichts vorgegeben oder gar vorgeschrieben. Deswegen
haben wir uns an der europäischen Gendarmerie auch
nicht beteiligt. In den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union gibt es unterschiedliche Rechtstraditionen und
verschiedene Organisationsformen. Hier sollten wir die
Pferde nicht scheu machen und keine Ängste schüren,
die völlig unbegründet sind.
Benjamin Franklin wird das Zitat zugeschrieben:
Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.
Michael Roth ({7})
In diesem Sinne ermuntere ich uns alle, nicht nur die
demnächst anstehende Präsentation des Entwurfs des
Stockholmer Programms ernst zu nehmen, sondern auch
hier im Deutschen Bundestag um Lösungen zu ringen,
wie man die Europäische Union als einen gemeinsamen
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in die
Balance bringen kann, die unserer Rechtsstaatstradition
und den besten europäischen Traditionen entspricht.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Jan
Korte das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Antrag ist Folgendes richtig formuliert:
Es bleibt also die Verantwortung der Bundesregierung, auf europäischer Ebene konsequent für den
Schutz der Bürgerrechte einzutreten …
Das ist auch wirklich dringend notwendig, hätte allerdings - angesichts von Otto Schilys Politik auf europäischer Ebene - schon für die rot-grüne Bundesregierung
gegolten;
({0})
aber darum geht es jetzt ja nicht.
Dass der Antrag in die richtige Richtung geht, will ich
an zwei Beispielen deutlich machen, die die Bürgerinnen
und Bürger immer bewegt haben, und zwar an der Vorratsdatenspeicherung und der Biometrie in den Pässen.
Das ist ganz gezielt von Schäuble - zum Teil auch von
Schily - über die europäische Ebene gespielt worden,
weil das in diesem Land nicht einfach durchzusetzen gewesen wäre. So ist argumentiert worden, das komme aus
Brüssel und deswegen müssten wir das machen. Aus
diesem Grund ist das, was im Antrag formuliert ist, richtig. Gegen ein solches Vorgehen ist Prophylaxe notwendig. Deswegen unterstützen wir diesen Antrag.
({1})
Wir können es nicht zulassen, dass die EU für diese Politik des Law and Order missbraucht wird.
({2})
Das schadet dem Ansehen der EU, und es ist grundsätzlich die falsche Politik.
Bei dem zweiten Punkt, den ich ansprechen will, handelt es sich um Schäubles Lieblingsprojekt, nämlich den
Einsatz der Bundeswehr im Innern. Wenn man sich die
inzwischen 77 Seiten des Berichts der Zukunftsgruppe
durchliest, findet man diverse Indizien dafür, dass Sie
auch hier wieder den bekannten Trick versuchen. Das
wird zwar nicht funktionieren, aber Sie versuchen es immer wieder. Sie schreiben, es gehe um eine engere Kooperation von Militär und Polizei. Mit Blick auf die Verhältnisse in Italien, wo in den Innenstädten Soldatinnen
und Soldaten als Hilfspolizisten mit Maschinengewehren herumstehen, kann die Bundesregierung aber doch
nicht ernsthaft die Position vertreten, dass man das europaweit und auch in Deutschland einführen solle. Das müssen wir verhindern, mag da kommen, was will.
({3})
Es wäre schön, wenn die Bundesregierung mit ihrer
Innenpolitik und ihrer Europapolitik einmal positiv auffallen würde. Sie könnte zum Beispiel die treibende
Kraft in Sachen Demokratisierung und Bürgerrechte
werden. Das wäre einmal etwas anderes; es würde den
Horizont erweitern und wäre eine spannende Sache.
Es wird argumentiert, eine Trennung von Polizei und
Geheimdiensten sowie von Militär und Polizei kenne
man in anderen europäischen Ländern nicht. Das ist zum
Teil sicher richtig; aber diese Länder haben auch nicht
die Geschichte, die wir haben. Wir haben aus unserer
Geschichte die richtige Lehre gezogen. Es wäre ein
schönes Zeichen, wenn die Bundesregierung auf europäischer Ebene deutlich machte, warum wir auf dem
Trennungsgebot beharren und inwieweit die Bürgerrechte dadurch gestützt werden.
Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, sind die
Datenbanken. In Deutschland gibt es bereits eine Vielzahl von Datenbanken. Aber angesichts Ihrer spannenden Ideen, welche weiteren Datenbanken wir noch brauchen könnten, wird einem ganz anders, wenn man sieht,
was auf europäischer Ebene technisch mittlerweile möglich ist.
Ich will ein Beispiel nennen: Alle europäischen Datenbanken und insbesondere das Visa-Informationssystem sollen nun - so sieht es die Zukunftsgruppe vor; das
ist ein erklärtes Ziel, wie Sie in der Beantwortung von
Kleinen Anfragen zugegeben haben - systematisch und
konsequent für Geheimdienstzugriffe geöffnet werden.
Gerade beim Visa-Informationssystem besteht das Kernproblem, dass es zuerst die Migrantinnen und Migranten
trifft, die Sie sowieso immer auf dem Kieker haben.
({4})
- Genau, sagt Herr Grindel. Also getroffen! - Das muss
verhindert werden. Den Geheimdiensten muss der Zugriff darauf verwehrt werden. Das ist ganz entscheidend.
({5})
Ich fasse zusammen: Es wäre schön, wenn die Bundesregierung eine grundsätzlich andere Politik machen
würde. Da das Bitten offensichtlich nicht hilft, müssen
solche Anträge wie der vorliegende gestellt werden.
Deswegen wird er von uns unterstützt. Kern der Politik
muss eine Abrüstung der EU nach außen sein. Wir brauchen erst recht eine Abrüstung nach innen und keine
weitere Aufrüstung bei der inneren Sicherheit, so wie
Sie es wollen.
({6})
Denn das führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu weniger Freiheit. Die Linken haben es mal wieder erkannt,
und Herr Grindel kommt damit gar nicht klar.
Schönen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11918 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
EU-Jahresbericht 2008 zur Menschenrechtslage
Ratsdok. 14146/08
- Drucksachen 16/10958 A.43, 16/12729 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Christoph Strässer
Michael Leutert
Volker Beck ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin für die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute nicht nur eine Beschlussempfehlung, sondern auch den zehnten Jahresbericht der Europäischen Union zur Menschenrechtslage, der den Zeitraum von Mitte 2007 bis Mitte 2008 umfasst. Es ist ein
interessanter Bericht. Lassen Sie mich Ihnen sagen: Es
lohnt sich, hineinzuschauen. Wenn ich mich hier so umblicke, stelle ich fest, dass wir Menschenrechtsfragen
heute wieder in gewohnt „vollem Haus“
({0})
mit der Präsenz aller Menschenrechtspolitiker und Menschenrechtsaktivisten behandeln. Ein ähnlich geringes
Interesse ist auch an der Reaktion der Öffentlichkeit zu
erkennen. Lassen Sie mich anmerken: Das zeigt, dass die
Behandlung von Menschenrechtsfragen längst zur Normalität im deutschen Parlament geworden ist. Die Folge
dieser Normalität ist allerdings, wie ich finde, gelegentlich etwas bedauerlich.
Wir stellen zwar fest, dass die Öffentlichkeit, die Medien, die Bürger und die Zivilgesellschaft ganz zufrieden
sind mit den Menschenrechtsstandards, die wir hier vereinbaren, und auch damit, was in den entsprechenden
Menschenrechtsabteilungen der Ministerien getan wird
und was der Menschenrechtsausschuss des Deutschen
Bundestages macht; dies gilt auch für die Zivilgesellschaft, die Menschenrechtsorganisationen in Europa und
die entsprechenden Institutionen der Europäischen
Union und des Europarates. Das Ärgerliche aber ist, dass
diese wichtige Arbeit, die die Mühen der Ebenen umfasst und die dafür sorgt, dass der Menschenrechtsschutz
handhabbar bleibt und sich jeder wehren kann, wenn er
Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist, von den
Medien nicht so richtig zur Kenntnis genommen wird.
Eine gute Arbeit ist leider Gottes für die Medien gelegentlich nicht attraktiv. Ich finde das sehr schade. Ich
würde mich freuen - um ein Beispiel aufzugreifen, das
in der vorangegangenen Debatte von Herrn Mayer erwähnt worden ist -, wenn die Zeitungen nicht nur mit
Datenskandalen - das sind ja schwere Verletzungen des
Persönlichkeitsrechts und damit Menschenrechtsverletzungen - voll wären, sondern wenn in gleicher Weise
darüber geschrieben würde, welch wichtige Arbeit in der
Zivilgesellschaft und in den Parlamenten auf nationaler
Ebene und auf europäischer Ebene geleistet wird.
({1})
Lassen Sie mich, bevor ich auf den europäischen
Menschenrechtsbericht zu sprechen komme, ein Beispiel
aus den letzten Wochen erwähnen. Die Bundesregierung
hat vor dem Forum der Vereinten Nationen für Menschenrechte ihren Bericht über die Lage der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland und über ihre
Menschenrechtspolitik abgegeben. Wir, die wir vom
Menschenrechtsausschuss dort waren - es waren alle
Fraktionen vertreten -, haben es eigentlich mit großer
Zufriedenheit zur Kenntnis genommen, dass objektiv
dargestellt wurde, welche Menschenrechtsstandards,
welchen Menschenrechtsschutz und welche Möglichkeiten wir haben. Das ist weltweit gesehen eine ganze
Menge. Wenn wir das europaweit vergleichen, dann stellen wir fest, dass das immer noch sehr gut ist. Dadurch
haben unsere Bürgerinnen und Bürger eine große Sicherheit.
Es war aber natürlich auch gut, dass Herr Staatsminister Erler und Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Altmaier auch darauf hingewiesen haben, dass Menschenrechtsschutz und Menschenrechtsstandards immer
dann in Gefahr geraten, wenn sich die Bürgerinnen und
Bürger und die Öffentlichkeit nicht selber darum kümmern. Sie können aber selber etwas dafür tun, damit die
Standards erhalten und ausgebaut und Probleme überwunden werden.
Es war deswegen auch gut, dass mit dem Finger auf
Probleme gezeigt wurde, zum Beispiel auf die Benachteiligung der Kinder hinsichtlich der Bildungschancen,
die in ihren Familien keine entsprechende Unterstützung
bekommen. Da geht vor allem um die Bildungschancen
von Kindern aus Migrantenfamilien oder aus Familien
anderer benachteiligter Gruppen. Ich nenne auch die vielen ohne gültige Ausweispapiere bei uns lebenden Menschen und ihren Zugang zur Gesundheitsversorgung und
zu Bildungseinrichtungen, aber auch zu Beratungen und
Rechtsschutz. Hier gibt es noch eine Menge zu tun.
({2})
Worauf es mir jetzt ankommt: Die Tatsache, dass wir
eine gute Menschenrechtsarbeit machen und dass die
Bundesregierung auch Erfolge zu vermelden hat, hat
dazu geführt, dass in den Medien nichts über diese
Tätigkeit berichtet wurde. Hin und wieder wurde aus einem Teil der Schattenberichte der zivilgesellschaftlichen
Organisationen über den einen oder anderen Mangel berichtet. Manchmal habe ich den Eindruck, man sollte ein
bisschen mehr Skandale produzieren, damit die Menschenrechtsarbeit, die wir hier machen, tatsächlich einmal zur Kenntnis genommen wird. Es ist nämlich wichtig, dass das geschieht.
({3})
Sie wissen, dass ich das mit dem Produzieren von Skandalen nicht ernst meine. Die Nichtbeachtung ärgert mich
aber manchmal. Es muss ja nicht sein, dass man aus seinem Herzen eine Mördergrube macht.
Bei dem Jahresbericht der Europäischen Union ist es
ähnlich. In ihm wird eine ganze Menge an vernünftigen
und wichtigen Fakten der Menschenrechtsarbeit aufgezeigt.
Es wird aufgezeigt - und das ist gut -, dass sich
Europa seiner Bindung an die Menschenrechte immer
deutlich bewusst ist. Das gilt, obwohl die europäische
Grundrechtecharta wegen des noch nicht in Kraft getretenen Lissabonner Vertrags noch nicht rechtsverbindlich
ist. Es gibt nur eine Selbstbindung, was auch schon gut
ist.
Es wird aufgezeigt, dass wir mittlerweile immer stärker ein gemeinsames europäisches Menschenrechtsbewusstsein entwickeln. Auch das ist gut. Das müssen wir
noch fördern, aber das kann man auch fördern. In diesem
Bericht wird auch aufgezeigt, dass die Europäische
Union die Menschenrechte als wichtiges Element ihrer
Außenpolitik betrachtet. Auch das ist stark ausbaufähig
und auf einem guten Weg.
Lassen Sie mich sehr deutlich sagen: Ich halte auch
die hohe Zahl der Menschenrechtsdialoge, die Europa
führt, für gut, unter der Voraussetzung, dass sie auf der
einen Seite partnerschaftlich und auf der anderen Seite
gut überlegt und schließlich auch unter Einbindung der
Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit erfolgen.
In dem EU-Bericht werden auch Erfolge aufgezeigt.
Ich nenne zum Beispiel die gemeinsamen europäischen
Initiativen gegen die Todesstrafe in aller Welt. Auch das
ist gut. Ich weiß, dass sich die Bundesregierung und
auch unser Parlament hier durchaus als Motor empfinden.
({4})
Lassen Sie mich aber auch noch darauf hinweisen,
dass sich in diesem europäischen Jahresbericht zur Lage
der Menschenrechte meiner Meinung nach auch zeigt,
dass wir in Europa unser Gesellschaftsmodell, das auf
der Achtung der Menschenrechte aufbaut - der liberalen,
freiheitlichen und sozialen Menschenrechte -, als Erfolgsmodell durchaus ein bisschen stärker in den Vordergrund stellen sollten, auch dann, wenn es um ökonomische und soziale Bewertungen geht. Es ist ganz gut,
wenn wir das nicht mit erhobenem Zeigefinger tun. Das
muss auch gar nicht moralinsauer sein, aber der Hinweis
muss erlaubt sein, dass eine zukunftsfähige Gesellschaft,
eine Gesellschaft, die stark sein und auch ein menschliches Antlitz haben will, gut daran tut, die Menschenrechte als wesentlichen Bestandteil von Recht und Politik herauszustellen.
Mir wäre es sehr recht, wenn wir über dieses Thema
nicht nur in Sonntagsreden sprechen würden, sondern es
auch bei politischen Verhandlungen mit anderen Ländern deutlicher und öffentlich einbringen würden. Das
würde bedeuten, dass man über solche Fragen auch mit
Ländern redet, die die Folter nicht abschaffen wollen,
die Folter verharmlosen, die der Meinung sind, sie durch
Presidential Orders legitimieren zu können, oder die Folterer straflos lassen wollen. Dann muss man sagen: So
geht das nicht. Das ist nicht nur unethisch, rechtswidrig
und politisch falsch, sondern schwächt die Gesellschaft
insgesamt. - Deswegen wollen wir das nicht. Deswegen
muss das geändert werden.
({5})
Vor einigen Tagen war der neue Justizminister der
Vereinigten Staaten hier. Er hat die Foltervorkommnisse
und Guantánamo als Fehler der alten Regierung bezeichnet, die man überwinden müsse. Ich bin der Meinung,
die EU kann und soll dabei helfen.
({6})
In den Verhandlungen sollte die EU darauf hinweisen,
dass ihre Instrumente zur Förderung von Demokratie
und Menschenrechten auch Maßnahmen zur Rehabilitierung von Gefolterten und Hilfen für durch Folter Traumatisierte umfassen. Es ist gut, dass diese Instrumente in
unseren Zentren, in denen man sich zum Beispiel um
Opfer von Folter während der Balkankriege kümmert,
eingesetzt werden. Das zeigt, die grundsätzliche Überzeugung, dass man Gefolterten helfen muss, dass man
Recht wiederherstellen muss und die Rechtstellung der
Gefolterten anerkennen muss, gehört zu unseren Werten.
Das ist etwas, was von anderen Regierungen oder von
anderen Regionen durchaus kopiert werden kann.
Ein letzter Punkt.
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, trotz aller Grundsätzlichkeit und Wichtigkeit des Themas: Achten Sie bitte
auf die Redezeit.
Das tue ich. Vielen herzlichen Dank für den Hinweis. Der letzte Punkt: Wir haben in Europa noch eine Menge
zu tun: bei der Behandlung der Minderheiten, bezüglich
des Internationalen Strafgerichtshofs und bei der Zusammenarbeit mit dem Europarat. All das wissen Sie. Ich
denke aber, wir sind auf einem guten Weg. Weil wir auf
der bisher geleisteten Tätigkeit aufbauen können, empfehle ich Ihnen sehr, die Beschlussfassung unseres Ausschusses anzunehmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Burkhardt
Müller-Sönksen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Däubler-Gmelin, ich möchte mich sehr
herzlich für Ihre Werbung für die Menschenrechte bedanken. Das unterstützen wir. Dennoch bitte ich um Verständnis dafür, dass wir, ohne diesen Grundkonsens aufzuheben, eine etwas andere Meinung zu diesem EUBericht vortragen. Vielleicht ist es sogar in Ihrem Sinn,
wenn wir kontrovers über den Bericht debattieren.
Schließlich können unterschiedliche Sichtweisen das
Thema für die Medien interessanter machen und sie veranlassen, darüber zu berichten. Es ist gut, wenn über das
Thema Menschenrechte häufiger in den Medien berichtet wird.
Der EU-Jahresbericht 2008 zur Menschenrechtslage
zeigt, dass die Europäische Union ein beständiger Akteur im Bereich der internationalen Menschenrechtspolitik ist. Dabei ist jedoch in weiten Teilen eine Schwerpunktsetzung auf außenpolitische Aspekte erkennbar,
die menschenrechtliche Herausforderungen innerhalb
der EU ein wenig zu sehr in den Hintergrund treten lässt.
({0})
Trotzdem wird der Bericht - auch unserer Meinung
nach - seinem Anspruch gerecht, die Öffentlichkeit über
die Aktivitäten der EU zur Förderung der Menschenrechte zu informieren. Information ist aber nicht gleichzusetzen mit einem qualifizierten, strategischen und
nachhaltigen Handeln. Fast könnte man dem Bericht ein
wenig Eigenlob unterstellen. So heißt es, dass im Berichtszeitraum zwischen Juli 2007 und Juni 2008 - ich
zitiere - „echte Fortschritte bei den Menschenrechten erzielt worden“ sind. Scheinbar gibt es auch unechte Fortschritte oder - besser ausgedrückt - widersprüchliche in
diesem Bericht.
Lassen Sie uns einen Blick auf drei Kernfelder der europäischen Menschenrechtspolitik werfen:
Erstens. Zur Glaubwürdigkeit der europäischen Menschenrechtspolitik wird in dem Bericht festgestellt:
In einer Zeit, in der von der Europäischen Union in
zunehmendem Maße erwartet wird, dass sie Rechenschaft gibt für die Menschenrechtssituation innerhalb ihrer Grenzen, muss sie als leuchtendes
Beispiel vorangehen. Dies ist eine Frage der Konsequenz und der Glaubwürdigkeit auf der internationalen Bühne.
Somit ist daraus zu schließen, dass eine durchgängige
Berücksichtigung der Menschenrechte in allen internen
und auswärtigen Politikbereichen der Schlüssel für die
Gewährleistung dieser Konsequenz ist.
Wir Liberale fragen uns, wie es um die Glaubwürdigkeit der EU steht, beispielsweise angesichts der Lockerung der EU-Sanktionen gegen Usbekistan, die nach
dem blutigen Massaker von Andischan im Mai 2005 - in
der nächsten Woche jährt sich das traurige Ereignis zum
vierten Mal - beschlossen wurden. Die Lockerung der
Sanktionen ist maßgeblich auf Betreiben dieser Bundesregierung zustande gekommen. Sie erfolgte, ohne dass
sich die überaus kritische Menschenrechtssituation in
Usbekistan auch nur ansatzweise zum Besseren entwickelt hat. Das können wir nicht verstehen.
({1})
- Auf das Thema Todesstrafe komme ich gerne noch zu
sprechen.
Zum zweiten Kernfeld zählt das Spannungsverhältnis
von Wirtschaft und Menschenrechten. Ich zitiere aus
dem Bericht:
Die Menschenrechtsthematik muss … in allen anderen einschlägigen Politikbereichen der EU, einschließlich der Handelsabkommen, stärker berücksichtigt werden.
Das ist ein Hinweis ohne Taten. Über diese Feststellung
hinaus hat die europäische Menschenrechtspolitik noch
keine ausreichend klare Position dazu gefunden, wie der
Interessenkonflikt zwischen der Sicherung des Rohstoffbedarfs und dem Einstehen für die Gewährleistung von
Menschenrechten auch in diesen Ländern gelöst werden
kann. Aus Sicht der FDP ist es notwendig, die europäische
Außen- und Menschenrechtspolitik derart zu stärken, dass
einzelne EU-Mitgliedstaaten in ihren menschenrechtlichen Bestrebungen nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Europa braucht deswegen einen abgestimmten Außenauftritt.
Wirtschafts- und Menschenrechtsfragen werden im
Zeitalter der Globalisierung zunehmend miteinander verknüpft. Die freiwillige Selbstverpflichtung über den Global Compact stellt nach unserer Meinung einen richtigen,
sinnvollen und zukunftsweisenden Ansatz dar. Weiterhin
muss sich die europäische Menschenrechtspolitik stärker
auf Schlüsselländer konzentrieren. Dies sind ökonomisch starke Länder, deren Wirtschaft global verflochten
ist und die deshalb einen besonderen Einfluss auf die
Menschenrechtssituation in den Ländern besitzen, in denen sie sich wirtschaftlich engagieren. Ein Beispiel hierfür ist China, das mit seiner Afrikapolitik ständig internationale Menschenrechtsbestrebungen unterläuft.
({2})
Ziel muss es sein, dass Länder wie China in ihren Wirtschafts- und Außenbeziehungen menschenrechtspolitische Gesichtspunkte uneingeschränkt beachten und ihr
wirtschaftliches Potenzial zur Förderung der Menschenrechte nutzen.
({3})
Drittens gehe ich auf die Bestrebungen der EU - Kollege Strässer hat darauf schon hingewiesen - zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe ein. Ob hier, wie es
im Bericht heißt, ein „historischer Erfolg“ erzielt wurde,
kann unterschiedlich bewertet werden. Zweifelsohne unterstützen wir die Bestrebungen auf europäischer Ebene.
Die Todesstrafe ist aus vielen Gründen unvertretbar.
Dass in China beispielsweise Todesurteile zur zweijährigen Bewährung ausgesetzt werden, kann aus keiner kulturellen Tradition hergeleitet werden.
Ich möchte mit einem Zitat von Thomas Dehler
schließen, der einst feststellte:
Ich würde die Todesstrafe … auch deswegen als einen Fremdkörper empfinden, weil es nach den Vorstellungen unserer Zeit die entscheidende, mindestens doch die wesentliche Aufgabe der Strafe ist, zu
resozialisieren, den Menschen zu bessern.
Wir Liberale werden die künftigen europäischen Initiativen weiterhin aktiv begleiten und ab September hoffentlich auch aktiv gestalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Holger Haibach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin der Vorsitzenden des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ausgesprochen dankbar,
dass sie ein paar grundsätzliche Bemerkungen zu der
Frage der Menschenrechte in Europa und den entsprechenden Institutionen gemacht hat. Diese Debatte bietet
einen guten Anlass dazu.
Lieber Kollege Müller-Sönksen, ich bin mir nicht sicher, ob der Streit hier zwingend das richtige Mittel ist.
({0})
Streit ist in der Demokratie notwendig; er muss sein,
wenn es um den Austausch von Positionen geht. Streit
als eine L'art pour l'art, also Streit um des Streites willen,
wird aber, glaube ich, keinen Erfolg bringen.
({1})
Insofern sollten wir schauen, dass wir vielleicht ein anderes Verständnis für dieses Thema bekommen.
Wir beobachten hier ein Phänomen, das wir auch an
vielen anderen Stellen sehen, zum Beispiel bei der zivilen Krisenprävention. Wie bewerten Sie eine Katastrophe, die nicht eingetreten ist? Wie verkaufen Sie die
Nachricht, dass eine Katastrophe nicht eingetreten ist?
Das ist extrem schwierig. Natürlich ist es viel einfacher
und - das sage ich in Anführungszeichen - viel schöner
für Journalisten, darüber zu berichten, dass eine Katastrophe passiert ist, dass irgendwo ein Militäreinsatz notwendig ist, als darüber zu berichten, dass mit relativ wenig Geld eine Katastrophe oder auch eine humanitäre
Notsituation verhindert werden konnte. Darum geht es
letztendlich. Die Aufgabe der Politik ist es, diese Frühwarnmechanismen so stark wie möglich zu machen, um
so wenig wie nötig in die andere Richtung, in die repressive Richtung, gehen zu müssen.
({2})
Dieser Jahresbericht zeigt sehr deutlich - das ist hier
schon angeklungen -, dass sich die Europäische Union
immer mehr ihrer Aufgabe in diesem Bereich bewusst
wird. Es ist richtig: Die Außenpolitik spielt immer noch
eine relativ große Rolle, eine ungleichgewichtig größere
Rolle. Ein Grund hierfür ist historischer Natur. Schauen
Sie sich einmal an, wie die ersten Berichte der jeweiligen Bundesregierung zur Frage der Menschenrechte
überschrieben wurden, bis 1998/1999 der Menschenrechtsausschuss ein Vollausschuss wurde: Bericht der
Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den
auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen. Erst danach ist die Innenpolitik dazugekommen.
Ich denke, dass es in dem Maße, in dem in Europa,
auch innerhalb der Europäischen Union, das Bewusstsein dafür wächst, dass das Thema Menschenrechte
nicht nur in den Außenbeziehungen eine große Rolle
spielt, sondern auch im inneren Zusammenhalt der Europäischen Union wichtig ist, dazu kommen wird, dass
dieser Bericht stärker die Situation innerhalb Europas in
Augenschein nehmen wird.
Man kann es an einem Beispiel sehr deutlich machen.
Wir sind bis jetzt immer davon ausgegangen, dass jeder
Mitgliedstaat die Kopenhagener Kriterien erfüllt und die
Einhaltung der Menschenrechte bei den Mitgliedstaaten
der Europäischen Union per se garantiert ist. Die Tatsache, dass mit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien
zwei Staaten zum ersten Mal sozusagen einer Form von
Post-Monitoring unterworfen worden sind, weil es definitiv Defizite in den Bereichen Justiz und Strafverfolgung und bei der Bekämpfung der Korruption gibt, zeigt
sehr deutlich, dass in der Europäischen Union ein Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass die Staaten nach
dem Beitritt nicht aus ihrer Pflicht entlassen werden können. Das zeigt auch deutlich, dass die Europäische
Union offensichtlich willens ist, an der Stelle zu handeln.
Jetzt kann man lange darüber streiten, ob dort effektiv
genug gehandelt wird. Man kann auch lange darüber
streiten, ob es vor diesem Hintergrund richtig gewesen
ist, die Aufnahme dieser beiden Staaten zu empfehlen.
Ich glaube, es zeigt ganz deutlich, dass die Europäische
Union ein Verständnis dafür hat, dass wir innerhalb unserer Gremien dafür sorgen müssen, dass Menschenrechte eingehalten werden. Denn es ist wahr: Glaubwürdigkeit entsteht nur durch eigenes Handeln.
({3})
Die im Bericht angesprochenen Punkte sind alle
wichtig: Todesstrafe, Folter, Menschenrechtsdialoge,
Kinder in bewaffneten Konflikten, Menschenrechtsverteidiger und Rechte der Kinder. Die Tatsache, dass es das
Europäische Instrument für Demokratie und Menschenrechte gibt, das mit immerhin 11 Millionen Euro pro
Jahr ausgestattet wird, zeigt, dass sich die Europäische
Union durchaus der Tatsache bewusst ist, dass Handeln
dort notwendig ist.
Kollege Müller-Sönksen hat gerade gesagt: Europa
muss nach außen mit einer Stimme auftreten. Das ist
zwar zweifelsohne richtig, aber, ich glaube, wir sollten
an dieser Stelle realistisch bleiben. Wenn es um eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
geht, ist es nicht so einfach, Hoheitsrechte an Europa abzugeben. Habe ich noch eine Hoheit über meine eigene
Außenpolitik? Habe ich noch eine Hoheit über meine eigene Verteidigungspolitik? Diese Fragen sind oft wichtiger als die Frage, welche Rechte im Bereich der Wirtschaft man abgibt. Man darf nämlich die Symbolik an
dieser Stelle nicht unterschätzen. Insofern sollten wir
uns nicht verheben. Aber es bleibt natürlich das Ziel am
Ende des Tages; das ist gar keine Frage.
Die Frage der Kohärenz - handelt die Europäische
Union in allen Fällen gleich? - ist mindestens genauso
wichtig. Diese Frage muss angesichts der vielen schon
erwähnten Menschenrechtsdialoge und Konsultationen
gestellt werden. Ich bin dafür, dass wir diese Dialoge
führen. Aber ich finde auch, sie sollten mit einer klaren
Zielsetzung verbunden sein. Manchmal würde ich mir
wünschen, etwas genauer zu wissen, was mit welchem
Ziel verhandelt wird und welches Ergebnis am Ende der
Verhandlungen stehen soll.
({4})
Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Herstellung von
mehr Transparenz. Ich habe den Eindruck, Transparenz
ist etwas, was die Europäische Union an der einen oder
anderen Stelle durchaus gut gebrauchen kann.
({5})
Im Text unserer Beschlussempfehlung haben wir uns
mit einer wichtigen Frage beschäftigt, die die Ausschussvorsitzende dankenswerterweise schon angesprochen hat: Die Europäische Union muss ihr Verhältnis zu
einem anderen wichtigen Akteur, nämlich zum Europarat, klären. Natürlich muss sie auch ihr Verhältnis zur
OSZE klären, aber der Europarat ist an dieser Stelle von
besonderer Bedeutung, gerade vor dem Hintergrund,
dass die Europäische Union zu immer mehr Mitgliedstaaten des Europarates Beziehungen pflegt.
Im Hinblick auf die Entwicklung der östlichen Partnerschaft, die traditionell im Europarat, nicht aber in der
Europäischen Union eine große Rolle spielt, ist es wichtig, dass man sich abstimmt. Die Frage: „Wie gehen wir
mit einem Staat wie Belarus um?“, kann man unterschiedlich beantworten. Wenn der Europarat sie aber anders beantwortet als die Europäische Union, haben wir
auf jeden Fall ein Glaubwürdigkeitsproblem. Diese
Frage muss zwischen den Institutionen geklärt werden.
Natürlich ist es notwendig, dass die Einhaltung der
Menschenrechte in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union von der Europäischen Union überwacht
wird. Doppelungen müssen allerdings vermieden werden. Die Frage: „Macht die EU-Grundrechteagentur das
Gleiche wie der Europäische Gerichtshof?“, ist keine banale Frage. Diese Frage zu stellen, ist keine Lappalie; sie
ist nämlich nicht ganz einfach zu beantworten.
Auch an dieser Stelle müssen wir uns an die eigene
Nase fassen. Wir kritisieren immer wieder, dass der Europäische Gerichtshof unterfinanziert ist, und wir kritisieren die russische Staatsduma dafür, dass Russland das
14. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnet hat. Wir haben es im
Rahmen unserer Haushaltsberatungen aber selbst in der
Hand, wie viel Geld wir dem Europarat und wie viel
Geld wir der Europäischen Union zur Verfügung stellen.
({6})
Wie Sie wissen, finden vor der Sommerpause nur
noch vier Sitzungswochen statt. Da ich nicht weiß, wie
viele Debatten wir noch zum Thema Menschenrechte
führen werden, habe ich mir ein paar grundsätzliche Bemerkungen erlaubt. Ich glaube, es ist wichtig, auch einmal in Form eines Resümees darüber nachzudenken,
was wir in den letzten vier Jahren eigentlich gemacht haben. In Detailfragen können wir natürlich unterschiedlicher Meinung sein. Aber ich denke, dass insbesondere
der Menschenrechtsausschuss in den letzten vier Jahren
eine ordentliche Arbeit geleistet hat. Das liegt auch daran, dass seine Mitglieder bei allem notwendigen Streit
- jetzt komme ich zum Beginn meiner Rede zurück und
wiederhole: Streit ist notwendig - immer versucht haben, die Dinge im Interesse der Menschen voranzutreiben.
Eine große Bedeutung im vorliegenden Bericht zur
Menschenrechtslage haben die Menschenrechtsverteidiger. An anderer Stelle habe ich schon einmal darauf hingewiesen, dass ich mich manchmal frage, wie man es
schaffen kann, obwohl man jahrzehntelang in einem totalitären System lebt, für die Einhaltung der Menschenrechte zu kämpfen, nicht nur für sich selbst, sondern
auch für andere. In diesem Zusammenhang habe ich folgendes schönes Zitat von Václav Havel gefunden - ich
habe dieses Zitat schon einmal angeführt, tue es an dieser Stelle aber gerne noch einmal, weil, wie ich finde,
keine andere Formulierung besser zum Ausdruck bringt,
worum es geht -:
Hoffnung ist eben nicht Optimismus, ist nicht Überzeugung, daß etwas gut ausgeht, sondern Gewissheit, daß etwas Sinn hat - ohne Rücksicht darauf,
wie es ausgeht.
In diesem Sinne sollten wir unsere Arbeit fortsetzen.
Danke sehr.
({7})
Das Wort hat der Kollege Michael Leutert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der EU-Jahresbericht 2008 zur Menschenrechtslage bietet in vielerlei Hinsicht Anlass zu einer inhaltlichen Debatte. Einige wesentliche Punkte sind bereits angesprochen worden. Nun möchte ich Ihre Aufmerksamkeit
allerdings auf einen Aspekt lenken, der noch nicht erwähnt wurde. Durch diesen Bericht wird nämlich etwas
deutlich, was gar nicht im Bericht steht. Dieser Bericht
offenbart die Machtfülle von Europäischer Kommission
und Europäischem Rat, und er offenbart ein Demokratiedefizit, das in der EU gegenwärtig herrscht.
Das möchte ich an einem Beispiel deutlich machen.
In letzter Zeit diskutieren wir immer wieder über die
mögliche Aufnahme unschuldig gefangen genommener
Guantánamo-Häftlinge in der Europäischen Union bzw.
in Deutschland; dieses Thema wurde auch in der gestrigen Sitzung des Menschenrechtsausschusses debattiert.
In recht engem Zusammenhang damit steht natürlich der
Vorwurf gegenüber den USA, dass die CIA auf dem Territorium der EU rechtswidrig Menschen gefangen gehalten oder befördert hat. Mit dieser Thematik hat sich das
Europäische Parlament natürlich beschäftigt. Dazu gibt
es Entschließungen, die Forderungen an die Europäische
Union und an die Mitgliedstaaten beinhalten, Forderungen, die von der Aufklärung über diese Praxis bis zur
Beendigung dieser Praxis reichen. Wer sich die Entschließungen des Europäischen Parlamentes anschaut,
wird feststellen: Mit zunehmender Schärfe wird die Aufforderung zum Handeln formuliert, weil sich offensichtlich niemand dafür interessiert hat.
So gibt es zum Menschenrechtsbericht 2007 eine Entschließung des Europäischen Parlamentes, in der es
heißt: Das Europäische Parlament
fordert die Europäische Union und die Mitgliedstaaten auf … die Praxis der außerordentlichen
Überstellungen zu enthüllen …
Im Bericht über den Menschenrechtsbericht 2008 ist
das Europäische Parlament
der Auffassung … dass die EU trotz der in einigen
Mitgliedstaaten durchgeführten Untersuchungen
keine Bewertung der Methoden der Mitgliedstaaten
in Bezug auf die Politik der Regierung der Vereinigten Staaten … vorgenommen hat …
In einer Entschließung vom Mai 2008 wird dann
schärfer festgestellt: Das Europäische Parlament
wiederholt seine Forderung an den Rat … und die
Kommission, endlich die Empfehlungen umzusetzen …
Im Februar dieses Jahres hat das Europäische Parlament folgende Entschließung beschlossen: Das Europäische Parlament
verurteilt, dass die Mitgliedstaaten und der Rat bislang keine Maßnahmen ergriffen haben, um die
Wahrheit über das Programm außerordentlicher
Überstellungen ans Licht zu bringen und die Empfehlungen des Europäischen Parlaments umzusetzen …
Im aktuellen vom Rat der Europäischen Union vorgelegten Jahresbericht zur Menschenrechtslage findet sich
ein Abschnitt, in dem zu lesen ist, dass sich das Europäische Parlament mit der Problematik der Terrorbekämpfung kritisch auseinandergesetzt hat. Es wird auch nicht
verschwiegen, mit welchen Instrumenten dabei gearbeitet wurde. Es findet sich in dem Bericht aber kein Wort
darüber, ob und wie die Kommission und der Rat die an
sie adressierten Handlungsaufforderungen berücksichtigt haben. Dies steht beispielhaft für ein gravierendes
strukturelles Defizit der EU, nämlich für die unzureichende Rückbindung von Kommission und Rat an das
Europäische Parlament.
({0})
Das lässt sich verallgemeinern. Auf Seite 57 der Beschlussempfehlung und des Berichts des Menschenrechtsausschusses, Drucksache 16/12729, kann man
nachlesen, dass Entschließungen des Europäischen Parlamentes zu menschenrechtsrelevanten Themen im Allgemeinen Handlungsaufforderungen an den Rat, die
Kommission und die Regierungen betroffener Staaten
beinhalten. Von Kritik des Europäischen Parlaments,
steht im Bericht des Ausschusses lapidar, sind die betroffenen Regierungen „durchaus berührt“.
Leider ist es nicht Thema des Berichts, wie Kommission und Rat auf die Aufforderung zum Handeln regiert
haben. Das muss nicht für jede einzelne Entschließung
passieren. Für uns als Menschenrechtspolitiker ist es
aber schon interessant, zu erfahren, ob Aufforderungen
des Europäischen Parlamentes tatsächlich dazu beitragen, dass sich Kommission und Rat bewegen. Da das
nicht so gewesen ist, gibt es nur zwei Schlussfolgerungen: Man hat den Eindruck, dass die Tätigkeit des Euro24070
päischen Parlamentes für den Jahresbericht in dem Augenblick, in dem die Folgen dieser Tätigkeit andere
Organe der EU betreffen, uninteressant wird und dass
das daran liegt, dass die Tätigkeit von Kommission und
Rat nicht in ausreichendem Maße an demokratische Formen der Willensbildung gebunden ist.
Kollege Leutert, achten Sie bitte auf die Zeit!
Gegenwärtig scheint es so zu sein, dass es zweitrangig ist, was das Europäische Parlament gegenüber Kommission und Rat fordert. Damit bin ich am Schluss:
Ohne Demokratie kann man die Achtung der Menschenrechte nicht verwirklichen. Deshalb ist es notwendig,
dass das strukturelle Demokratiedefizit in der Europäischen Union auch im Menschenrechtsbericht angesprochen wird.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Rainder Steenblock das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Leutert, vielen Dank für das Plädoyer für
die Annahme des Verfassungsvertrages! Denn das Demokratiedefizit, das Sie zu Recht beschrieben haben,
wird damit, jedenfalls weitgehend, gelöst.
({0})
In dem Menschenrechtsbericht, der uns vorliegt, steht
- gar keine Frage - viel Richtiges. Wir müssen an diesem Bericht aber auch eine Menge kritisieren. Ich will
mit einigen strukturellen Fragen beginnen; einige Kollegen vor mir haben sie schon angesprochen.
Erstens. Wir können den EU-Jahresbericht zur Menschenrechtslage nicht nur als ein außenpolitisches Instrument sehen. Wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, dann
müssen wir in diesem Bericht auch die Situation innerhalb der Europäischen Union untersuchen. Die Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeigen, dass es sehr viele Urteile und Klagen aus
Mitgliedsländern der Europäischen Union gibt. Deshalb
ist es notwendig, dass die Europäische Union stärker in
diesem Bericht berücksichtigt wird.
({1})
- Es ist gut, wenn wir uns einig sind.
Als zweites Strukturmerkmal auf europäischer Ebene
ist Folgendes notwendig: Wenn wir die Arbeit des Europäischen Parlaments ernst nehmen wollen - das vermisse ich auch in der Stellungnahme der Koalitionsfraktionen -, dann muss die Menschenrechtspolitik auf der
Ebene des Europäischen Parlaments endlich aus dem
Unterausschussniveau herausgehoben werden, indem
dort ein ordentlicher Ausschuss für diesen Bereich gebildet wird.
({2})
Ich komme zu einem dritten strukturellen Änderungsvorschlag. Wir haben in der EU die Grundrechteagentur
eingeführt. Gerade diejenigen, die im Europarat tätig
sind, haben einige Kritik daran. Dazu steht aber nichts in
dem Bericht. Auch die kritische Auseinandersetzung mit
der Arbeit der Agentur gehört in den Bericht hinein. Ich
finde, auch das gehört eigentlich in die Stellungnahme
des Parlaments.
({3})
- Ja gut, es steht am Schluss.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Es ist ein gutes
Zeichen, dass zu diesem Thema drei Kollegen reden, die
auch im Europarat aktiv tätig sind. Der Kollege Haibach
hat in der letzten Woche einen hervorragenden Bericht
zum Thema Menschenrechtsverteidiger vorgelegt. Das
ist eine sehr gute Debatte. Ich empfehle Ihnen allen, diesen Bericht und die konkreten Forderungen des Europarats in der Frage der Menschenrechtspolitik - Herr Kollege Strässer und Frau Kollegin Däubler-Gmelin
arbeiten ebenso wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger
auf dieser Ebene - zur Kenntnis zu nehmen. Das hat eine
andere Qualität. Die Berichte sind hervorragend und
sehr konkret in ihren Aussagen.
Insofern fehlt in der Stellungnahme des Parlaments
ein Absatz, der die Zusammenarbeit zwischen der EU
und dem Europarat in Menschenrechtsfragen beschreibt.
Das ist notwendig. Wir werden nur dann Erfolge haben,
wenn wir das kombinieren. Der Kollege Haibach hat das
in seiner Arbeit auch über Fraktionsgrenzen hinweg sehr
gut dokumentiert. Vielen Dank dafür!
({4})
Ich möchte noch kurz einen Grund nennen, warum
wir der Beschlussempfehlung der CDU/CSU- und der
SPD-Bundestagsfraktion nicht zustimmen. Sie sagen zu
Recht, dass Sie den EU-Menschenrechtsleitlinien eine
Weiterung des Kinderschutzes beifügen wollen. Aber
wir als Grüne sagen sehr deutlich: Solange die Bundesregierung ihre Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen nicht zurücknimmt, ist
Ihre Politik scheinheilig. Die Koalitionsfraktionen kündigen immer wieder an, das zu machen, aber bisher ist
nichts passiert.
({5})
- Versuchen Sie einfach, sich selber als verantwortlicher
Politiker darzustellen, der diese Regierung unterstützt.
Aber Sie kriegen das nicht gebacken.
({6})
- Das ist nur eine Kritik an dem, was jetzt ist.
Der nächste Punkt, den ich noch erwähnen möchte,
betrifft die Menschenrechtsdialoge.
({7})
- Seien Sie doch nicht so kleinlich. Ich habe die CDU/
CSU gerade gelobt, und jetzt fangen Sie mit pieseligen
Argumenten an. Stellen Sie sich doch Ihrer Verantwortung! In Bezug auf die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen haben Sie nichts unternommen; so ist
das.
({8})
Was den Menschenrechtsdialog angeht, ist es wünschenswert, dass der Bericht eine andere Tiefe bekommt.
Usbekistan ist angesprochen worden. Wir können nicht
auf der Ebene dieser Berichte arbeiten. Hier ist Copy and
Paste gemacht worden. In den Berichten zu den EUMenschenrechtsdialogen findet sich keine Tiefe.
Als letzten Punkt komme ich zur Folterkonvention.
Kollege Steenblock, einen neuen Punkt können Sie
jetzt nicht mehr ansprechen. Achten Sie bitte auf die Redezeit.
Ein allerletzter Punkt: Ich stimme Herrn Leutert zu.
Wenn man über Folter spricht, dann muss man über
Guantánamo und die Aufnahme von Flüchtlingen hier
reden und ansprechen, dass es bei uns nicht zu einer
ernsthaften Aufklärung der geheimen Gefangenenflüge
gekommen ist. Auch das ist ein Fehler, der begangen
worden ist. Solche Themen gehörten in den Bericht hinein.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin
Däubler-Gmelin hat diese Debatte mit der richtigen Feststellung eingeleitet, dass wir hier über grundsätzliche
und sehr wichtige Fragen sprechen. Welches Präsidiumsmitglied möchte schon einem Thomas Dehler oder einem Václav Havel, wenn diese zitiert werden, quasi ins
Wort fallen? Wenn das aber dazu führt, dass alle Redner
in dieser Debatte zwischen anderthalb und zwei Minuten
überziehen, dann gebe ich den Hinweis: In den nachfolgenden Debatten müssen grundlegende Zitate, die zur
Bestätigung der eigenen Position eingeführt werden, am
Anfang der Rede stehen, sodass ich den zitierten geschätzten Persönlichkeiten nicht ins Wort fallen muss
und trotzdem meiner Aufgabe nachkommen kann, darauf zu achten, dass wir die Zeiten einhalten.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/12729 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über den EU-Jahresbericht 2008 zur Menschenrechtslage. Der Ausschuss
empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie den Zusatzpunkt 7 auf:
22 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Absicherung für das Erwerbsunfähigkeitsrisiko
verbessern
- Drucksache 16/10872 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Markus Kurth, Brigitte Pothmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erwerbsminderungsrente gerechter gestalten
- Drucksache 16/12865 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da ich kein Zitat habe, kann ich auch mit keinem beginnen. Ich will eigene Gedanken vortragen.
({0})
- Das wäre eine Möglichkeit, Herr Kollege. - Der wichtigste ist, dass nach meinem Dafürhalten Ziel einer vorausschauenden und den Bedürfnissen der Menschen gerecht werdenden Rentenpolitik sein muss, nicht nur die
private und die betriebliche Altersvorsorge als Ergänzung zur Regelaltersrente zu stärken - das ist ohnehin
wichtig -, sondern auch die Möglichkeiten der privaten
Vorsorge zur Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos zu verbessern. Die Nachfrage danach ist - das ist mir
aus zahlreichen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern bekannt - groß. Die Menschen, die einen privaten
Versicherungsschutz vor dem Erwerbsunfähigkeitsrisiko suchen, sind zahlreich. Die Gründe dafür sind ohne
Weiteres nachzuvollziehen. Ich will sie nennen.
Im Jahr 2000 hat die rot-grüne Bundesregierung mit
der Reform der Erwerbsminderungsrente den Erwerbsminderungsschutz für Rentner um bis zu 10,8 Prozent
reduziert. Heute liegt die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente in den alten Ländern bei 715 Euro und in
den neuen Ländern bei 650 Euro. Wenn man bedenkt,
dass das Niveau der Grundsicherung derzeit rund
660 Euro beträgt, und weiterhin berücksichtigt, dass mit
der Reform aus dem Jahr 2000, die in Verantwortung
von Rot-Grün durchgeführt wurde, die Höhe der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente bis 2030 um mehr als
20 Prozent sinken wird, dann wird jedem klar: Die Zahl
der erwerbsgeminderten Menschen, die Grundsicherung
beantragen müssen, wird künftig stark wachsen, wenn es
nicht gelingt, das Erwerbsunfähigkeitsrisiko noch auf
anderem Weg privat abzusichern. Wie Sie wissen, gibt es
jedes Jahr rund 160 000 Neuzugänge in die Erwerbsminderungsrente. Der Bestand liegt derzeit bei 1,6 Millionen. Das macht die ganze Tragweite dieses Problems
deutlich. Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest: Die
Absicherung gegen das Erwerbsminderungs- und Erwerbsunfähigkeitsrisiko ist lückenhaft und muss verbessert werden.
({1})
Viele Menschen können in fortgeschrittenem Alter
keine Erwerbsunfähigkeitsversicherung mehr abschließen, wenn sie beispielsweise eine Vorerkrankung aufweisen. Über die staatlich geförderte private Altersvorsorge, also über die Riester- und die Rürup-Rente, ist ein
Schutz vor Erwerbsunfähigkeit bisher nur unzureichend
gegeben. Bei der Riester-Rente kann man nur bis zu
15 Prozent der Einzahlungen in die Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos investieren. Wesentlich besser
sieht es auch bei der Rürup-Rente nicht aus, da der Absetzbetrag für Arbeiter und Angestellte begrenzt ist und
ein ausreichendes Schutzniveau nicht erreicht werden
kann. Während die staatliche Vorsorge und die staatliche
Förderung der Vorsorge bisher fast ausschließlich auf
das Ziel der Lebensstandardsicherung fokussiert, bleibt
der eigentlich noch zentralere Schutz gegen Erwerbsminderung außen vor.
Es gibt Fortschritte; das will ich hier sehr deutlich sagen. In die betriebliche Altersvorsorge wird der Schutz
gegen Erwerbsminderung mittlerweile integriert. Zuletzt
hat die chemische Industrie den Schutz gegen Erwerbsminderung tarifvertraglich festgeschrieben. Dies wurde
ohne Berücksichtigung von Alter, Vorerkrankungen oder
Geschlecht geregelt. Ich finde, dass diese Regelung eine
Signalwirkung für andere Tarifabschlüsse haben sollte.
Soweit die Entscheidung in das Ermessen der Versicherten gestellt ist, müssen wir aber feststellen, dass im
Rahmen der Entgeltumwandlung - bei der betrieblichen
Altersvorsorge - bisher in der Regel für eine reine Lebensstandardversorgung ohne Erwerbsminderungsschutz
optiert wird. Da nützt es auch nichts, dass mittlerweile
rund 60 Prozent der Beschäftigten eine betriebliche Altersvorsorge haben.
Ich glaube, ich habe die Lücke im Versicherungsschutz
gegen Erwerbsminderung hinreichend beschrieben. Wir,
die FDP-Bundestagsfraktion, wollen mit dem Antrag
„Absicherung für das Erwerbsunfähigkeitsrisiko verbessern“ die bestehende Lücke schließen. Die Riester- und
die Basisrente sollen künftig geöffnet werden, sodass jeder Versicherungsnehmer frei wählen kann, welcher Anteil der Beiträge in den Schutz gegen Erwerbsminderung
und welcher Anteil der Beiträge in die Lebensstandardsicherung fließt.
Der vertragliche Schutz gegen Erwerbsminderung ist
in seiner Höhe begrenzt, was sich aus dem Förderumfang ergibt. Es wird nur eine Erwerbs- und keine Berufsunfähigkeitsrente gefördert. Dadurch können auch ältere
Personen mit vertretbaren Beiträgen in die geförderten
Versicherungsprodukte einbezogen werden.
({2})
Es kommt natürlich darauf an, das Ganze für die Versicherungsunternehmen sinnvoll auszugestalten, beispielsweise dadurch, dass der Garantiezins für Altersvorsorgeleistungen versicherungsmathematisch korrekt
angepasst wird.
Eine moderne Rentenpolitik, die den Bürger ernst
nimmt, verfolgt keine rückwärtsgewandten Ansätze, wie
es beispielsweise die Fraktion der Grünen mit ihrem Antrag zur Absicherung des Erwerbsunfähigkeitsrisikos tut,
indem sie das Wiederherabsetzen des Referenzalters für
eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente auf 63 Jahre
vorschlägt. Eine moderne Rentenpolitik fummelt übrigens auch nicht immer wieder an der Rentenformel herum, wie es die Bundesregierung in diesen Tagen beispielhaft vorführt. Das sind die Menschen leid.
({3})
Eine moderne Rentenpolitik ist ehrlich und setzt auf
die mündigen Bürger. Sie vermittelt den Bürgern, was
sie von der gesetzlichen Rente - egal ob Alters- oder Erwerbsminderungsrente - erwarten können und wie sie
nach freier Wahl selbst einen Beitrag dazu leisten könDr. Heinrich L. Kolb
nen, ihren Versicherungsschutz mit staatlicher Förderung zu ergänzen.
Die Bürgerinnen und Bürger sind bereit, mehr für ihre
Absicherung zu tun, als manchmal angenommen wird;
die große Nachfrage nach einem besseren privaten Erwerbsminderungsschutz beweist das. Dies muss ihnen
aber ermöglicht werden. Genau das ist der Weg, den die
FDP mit ihrem Antrag ebnen will. Ich bitte Sie, diesem
Antrag zu folgen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Peter
Weiß das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu den großen sozialen Leistungen der gesetzlichen
Rentenversicherung gehört, dass sie nicht nur Renten im
Alter ausbezahlt, sondern dass sie auch Leistungen für
jüngere Menschen erbringt, wenn diese wegen Krankheit oder Behinderung nur noch eingeschränkt arbeiten
können oder, weil sie voll erwerbsgemindert sind, überhaupt nicht mehr arbeiten können.
Wir erleben immer wieder, dass in der Öffentlichkeit
Diskussionen über die Rendite der gesetzlichen Rentenversicherung stattfinden; dies wird auch von einigen Zeitungen angefeuert. Es wird behauptet, die Rendite anderer Versicherungsformen sei viel besser. Bei solchen
Renditebetrachtungen fällt aber oft unter den Tisch, dass
die gesetzliche Rente im Gegensatz zu anderen Altersvorsorgesystemen, die ihr im Hinblick auf die Rendite
angeblich den Rang ablaufen, im Falle eines Falles bereits vor Erreichen des Rentenalters Erwerbsminderungsrente zahlt. Um es klar und deutlich zu sagen: Die
gesetzliche Rente ist deswegen so wichtig, wertvoll und
unverzichtbar, weil sie auch bei Erwerbsminderung hilft.
Die Erwerbsminderungsrente ist eine der großartigen solidarischen Leistungen der Versichertengemeinschaft in
der gesetzlichen Rentenversicherung.
({0})
Nun sorgen die Veränderungen im Rentenrecht, die
wir in den kommenden Jahren schrittweise weiter vollziehen, weil wir eine Antwort auf die demografische Herausforderung geben müssen - der Altersaufbau der Gesellschaft ändert sich, und es wird mehr Ältere und
weniger Jüngere geben -, dafür, dass sich jeder zusätzlich zur gesetzlichen Rente weitere Säulen der Altersversorgung aufbauen muss. Die Bedingungen und Fördermöglichkeiten für den Aufbau einer betrieblichen
Altersvorsorge als einem weiteren Standbein und einer
privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge, die wir in der
Regel kurz Riester-Rente nennen, sind in den letzten
Jahren, gerade in den Zeiten der Großen Koalition, deutlich verbessert worden. Ich finde, zu den großen rentenpolitischen Leistungen der Großen Koalition gehört,
dass es mit Betriebsrente und mit privater Altersvorsorge
in Deutschland deutlich weiter aufwärtsgeht. Das ist
wirklich ein Erfolg. Wir haben die Fördermöglichkeit für
die Betriebsrente wie auch für die Riester-Rente deutlich
verbessert. Man sieht an der Reaktion der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass sie diese Möglichkeit zunehmend nutzen, was erfreulich ist.
({1})
Wenn zusätzliche Vorsorge für jeden, der künftig in
Rente geht, ein absolutes Muss ist, dann gilt das genauso
für diejenigen, die vor Erreichen des Rentenalters leider
Erwerbsminderungsrente beantragen müssen. Deshalb
hat übrigens die Große Koalition eine nicht unwichtige
Reform beschlossen. Für die private, kapitalgedeckte Altersvorsorge, also für das, was man Riester-Sparen
nennt, sind seit dem vergangenen Jahr, seit 2008, auch
alle Personen förderberechtigt, die eine Rente wegen
vollständiger Erwerbsminderung beziehen. Auch sie sollen eine Chance haben, zusätzlich weiter für das Alter zu
sparen und eine zusätzliche Altersvorsorge aufzubauen.
({2})
Nun haben zwei Oppositionsfraktionen weitere Neuregelungen für Bezieher von Erwerbsminderungsrente
beantragt. So sehr ich es für wichtig und notwendig
halte, alles dafür zu tun, dass Menschen mit Erwerbsminderung ein auskömmliches Leben mit den ihnen zustehenden Leistungen führen können, sollte man meines
Erachtens Folgendes bedenken:
Erstens. Die vermeintlich unzureichende Absicherung
der Erwerbsunfähigkeit wird seit Jahren vor allem im
Zusammenhang mit dem Wegfall der früheren Rente wegen Berufsunfähigkeit diskutiert. Herr Kolb, übrigens
haben die FDP und die CDU/CSU das zusammen 1997
beschlossen. Als dann Rot und Grün ab 1998 regiert haben, haben sie das erst einmal rückgängig gemacht, aber
1999 genau dieses wieder gemeinsam beschlossen.
({3})
Ich will deutlich machen, dass alle vier Fraktionen dafür
Verantwortung tragen. Der Punkt ist folgender: Das Ausmaß der materiellen Auswirkungen des Wegfalls der alten Berufsunfähigkeitsrente wird meines Erachtens weit
überschätzt; denn der Wegfall dieser alten Rente bedeutet
nicht, dass die betroffenen Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung keinen Schutz mehr genießen.
In aller Regel ist die Erwerbsfähigkeit von Versicherten,
die ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben können,
zugleich auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingeschränkt. Sie haben dann aus der gesetzlichen Rentenversicherung meist aus arbeitsmarktbedingten Gründen sogar
einen Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente.
Zweitens. Die von der FDP beantragte Wahlmöglichkeit, im Rahmen der Riester-Rente wie auch der Rürup24074
Peter Weiß ({4})
Rente, also der privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge, das Risiko der Erwerbsunfähigkeit allein absichern
zu lassen,
({5})
würde zwangsläufig zulasten der Altersvorsorge gehen.
Mit der Riester-Rente wollten wir dafür sorgen, dass sich
die Menschen ergänzend zur gesetzlichen Rente etwas
für das Rentenalter aufbauen. Wenn wir jetzt die Wahlmöglichkeit einräumen, den gesamten in der sogenannten Riester-Rente angesparten Betrag für die Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos einzusetzen, dann
fehlt dieses Geld natürlich bei der zusätzlichen Altersvorsorge.
({6})
Übrigens hat der Gesetzgeber deshalb bei der RiesterRente die Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos
auf 15 Prozent und bei der Rürup-Rente, die sich in erster Linie an Selbstständige wendet, auf 49 Prozent der
Beiträge begrenzt. Die alleinige Absicherung der Erwerbsunfähigkeit im Rahmen der Riester-Rente, die
nach dem Antrag der FDP zukünftig möglich wäre,
würde eben nicht mehr dem ursprünglichen Sinn und
Zweck der Riester-Rente, nämlich zusätzlicher Altersvorsorge, entsprechen,
({7})
mit der die künftige Minderung der Leistungen aus der
gesetzlichen Rentenversicherung ausgeglichen werden
soll. Mit anderen Worten: Herr Kolb, Ihr Vorschlag geht
schlichtweg auf Kosten der Alterssicherung, und es stellt
sich die Frage: Kann man das verantworten?
({8})
Weiter wird die Forderung aufgestellt, allen steuerpflichtigen Personen die Möglichkeit zum Abschluss eines Riester-Sparvertrages zu eröffnen, um dafür die
staatliche Förderung zu erhalten.
({9})
Die Erfüllung dieser schon öfter gestellten Forderung
würde natürlich in erheblichem Maße Geld kosten. Angesichts der zusätzlichen Belastungen der öffentlichen
Haushalte durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der
Finanz- und Kapitalmarktkrise stellt sich die Frage, ob
man in dieser Zeit eine solche Zusatzleistung beantragen
sollte.
Wir werden die Anträge der beiden Oppositionsfraktionen in den Ausschüssen des Bundestages ausführlich
beraten. Bei den Beratungen gilt für mich ein Maßstab:
Die zusätzliche Altersvorsorge ergänzend zur gesetzlichen Rente, für die wir die Menschen in Deutschland in
den letzten Jahren erfreulicherweise in zunehmendem
Maße gewonnen haben, muss sicherer und leistungsfähiger werden und darf jetzt nicht plötzlich wieder verkompliziert oder geschwächt werden. Das ist der Maßstab für
die Prüfung der vorliegenden Anträge. Ich habe den Eindruck, dass sie einer solchen Prüfung wenig standhalten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider für die
Fraktion DIE LINKE.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hoffe, dass wir uns zumindest in einem zentralen
Punkt einig sind: Der Schutz vor den Risiken der Erwerbsminderung ist eine der dringlichsten Aufgaben sozialer Sicherungssysteme.
({0})
Zumindest die Sozialdemokraten, die sich ihrer Wurzeln
in der Arbeiterbewegung erinnern, wissen, dass gerade
der Schutz im Falle der Invalidität einer der Ausgangspunkte der sozialstaatlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert war.
Und heute? Herr Weiß, Ihre recht optimistische Einschätzung der sozialen Situation von Erwerbsminderungsrentern hat mich etwas überrascht; denn mit der
Reform der Erwerbsminderungsrente im Jahr 2000
durch SPD und Grüne hat sich die Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos massiv verschlechtert. RotGrün hat mit Verweis auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
und auf das sogenannte Restleistungsvermögen für die
Betroffenen den Zugang zur Erwerbsminderungsrente
deutlich erschwert.
Im Jahr 2000 gingen noch 200 000 Menschen aufgrund ihrer gesundheitlich bedingten Arbeitsunfähigkeit
in Rente, 2007 waren es 40 000 weniger. Ist es wirklich
so, fragen wir uns als Linke, dass diese 40 000 Jahr für
Jahr weniger Solidarität bedürfen, oder verweigert der
Sozialstaat ihnen schlicht die notwendige Unterstützung?
Ein weiteres Problem ist der dramatische Rückgang
der durchschnittlichen Leistungshöhe. Diese liegt mittlerweile gesamtdeutsch mit 662 Euro pro Monat auf
Grundsicherungsniveau. Was hat es noch mit einem würdevollen Leben zu tun, fragen wir als Linke, wenn Menschen mit schweren körperlichen und gesundheitlichen
Beeinträchtigungen nicht einmal mehr ausreichend Geld
in der Tasche haben?
Vergessen wir nicht - beide Anträge weisen darauf
hin -, dass bis 2030 das allgemeine Rentenniveau weiter
sinken wird, und zwar um rund 20 Prozent. Das wird das
Volker Schneider ({1})
Problem der unzureichenden Absicherung bei Erwerbsminderung in den kommenden Jahren noch weiter verschärfen; denn die Absenkung des Rentenniveaus
schlägt auch bei der Erwerbsminderungsrente voll
durch. Damit erreichen Erwerbsgeminderte im Schnitt
nicht einmal mehr das Grundsicherungsniveau. Wie tief
wollen Sie denn die Würde dieser Menschen noch hängen?
({2})
Hinzu kommt, dass den Betroffenen bei vorzeitigem
Bezug Abschläge von bis zu 10,8 Prozent drohen. Die
Verbesserung der Zurechnungszeiten im Zuge der
2000er-Reform kann die Abschläge kaum kompensieren. Es ist doch nicht so, dass sich die Betroffenen freiwillig aussuchen, ab wann sie die Erwerbsminderungsrente in Anspruch nehmen müssen. Da ist es doch kein
Wunder, dass die Abschläge von den Betroffenen als
willkürlich und ungerecht wahrgenommen werden. Die
Rente ab 67 wird den Wert der Erwerbsminderungsrenten weiter mindern.
Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten lehnen wir
Linke ab,
({3})
weil es nicht im Belieben der Betroffenen steht, wann sie
eine solche Rente in Anspruch nehmen müssen, weil
sich die Betroffenen eben nicht aussuchen können, ab
wann körperliche und gesundheitliche Beeinträchtigungen ein Weiterarbeiten nicht mehr möglich machen. Wir
fordern Abschlagsfreiheit ab dem 60. Lebensjahr und
nicht erst ab dem 63. Lebensjahr, wie von den Grünen
gefordert.
({4})
Der Vorwurf, man mache so wieder ein Scheunentor
für eine neue Frühverrentungspolitik auf, liebe Kollegin
Schewe-Gerigk, ist doch eigentlich unsinnig; schließlich
findet vor der Frühverrentung eine strenge medizinische
Prüfung statt.
({5})
Die Abschläge können schon deshalb keine steuernde
Wirkung entfalten.
Die Forderung der FDP, dem Versicherungsnehmer
das Wahlrecht zu ermöglichen, bei seiner staatlich subventionierten privaten Altersvorsorge auch das Risiko
der Erwerbsminderung abzusichern, lehnen wir entschieden ab. Ihre Realitätsverweigerung gegenüber Ursachen und Wirkungen der Finanzmarktkrise ist schon
erstaunlich.
({6})
Dass Riester-Produkte sich oft durch Intransparenz und
Ineffizienz auszeichnen, ist bei der FDP offensichtlich
noch nicht angekommen. Dass bei einigen fondsgebundenen Riester-Verträgen die Versicherten Verluste von
bis zu 80 Prozent zu beklagen haben, ist Ihnen wohl
gleichgültig. Oder geht es Ihnen in erster Linie darum,
ein neues Produkt für den Versicherungsmarkt zu erschließen?
({7})
Wir Linke sagen Nein zur Privatisierung des Erwerbsminderungsrisikos. Wir Linke sagen Ja zur Stärkung der
gesetzlichen Rentenversicherung, auch und gerade um in
diesem bewährten System, dem Solidarsystem, das Erwerbsminderungsrisiko wieder besser absichern zu können.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Anton
Schaaf das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
kann schon fast darauf wetten, was dabei herauskommt,
wenn die FDP einen Antrag einbringt, in dem es auf der
einen Seite um die sozialen Sicherungssysteme und auf
der anderen Seite um das Wort „Freiheit“ geht: um die
Forderung nach Privatisierung und der Individualisierung von Lebensrisiken.
({0})
Das ist faktisch bei jedem Antrag dieser Art so. Man
kann sich das Lesen dieser Anträge sparen, weil die Essenz immer dieselbe ist: Die Lebensrisiken der Menschen sollen privatisiert werden; die Gesellschaft, die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Versicherten
sollen entsolidarisiert werden.
({1})
Wenn man sich Ihren jetzt vorliegenden Antrag anschaut, dann erkennt man genau das, was ich beschrieben habe: Einen Teil eines Lebensrisikos, nämlich nicht
mehr arbeiten zu können, erwerbsgemindert zu sein,
wollen Sie individualisieren und privatisieren und über
die Krücke der Riester-Rente finanzieren, und das sogar
noch mit staatlicher Unterstützung.
Man sollte schauen, was dort steht: Sie wollen den
Versicherungsunternehmen die Möglichkeit eröffnen,
das Ganze sinnvoll zu gestalten.
({2})
Mit „sinnvoll“ bezeichnen Sie, dass die garantierte Rendite aus den Riester-Verträgen - natürlich vor dem Hintergrund eines erhöhten Risikoschutzes - abgesenkt werden kann.
({3})
Was heißt das allerdings in der Konsequenz? Die Unternehmen verdienen an der Riester-Rente, die staatlich
gefördert ist, im Zweifel mehr;
({4})
die Gewinnmargen werden größer. Sie wollen die
Riester-Rente schlichtweg attraktiver für die Unternehmen und nicht für die Beschäftigten machen. Das ist in
Ihren Anträgen eindeutig zu lesen.
({5})
Mir ist mittlerweile wirklich schleierhaft, wie man in
dieser Zeit so erkenntnisresistent sein kann. Wir befinden uns in einer Weltfinanzkrise, in einer Weltwirtschaftskrise, deren Ursachen wirklich beschreibbar sind.
Eine Auswirkung dieser Krise ist, dass zum Beispiel in
Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten Millionen älterer Menschen - vor dem Hintergrund, dass sie
sich nur privat für das Alter absichern konnten - jetzt
vor dem Nichts stehen. Dass man angesichts einer solchen Auswirkung die zusätzliche Privatisierung eines
Lebensrisikos hier in einem Antrag einfordert, ist schon
mehr als bemerkenswert.
Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
Nein. Herr Kolb, Sie hatten die Möglichkeit, Ihren
Antrag vorzustellen. Wir werden auch im Ausschuss
ausführlich über das Thema diskutieren. Im Gegensatz
zu Ihnen will ich heute Abend noch zum Maifest des
DGB. Die Präsidentin hat auch schon darauf hingewiesen, dass wir etwas überzogen haben. Von daher sollten
wir das jetzt lassen.
Sie beantworten überhaupt nicht die Frage: Was machen wir mit den 12 Millionen Menschen, die schon geriestert haben? Für die bräuchten wir neue Verträge. Wie
ist das dann mit der Gesundheitsuntersuchung, die Versicherungskonzerne immer fordern?
Wie ist überhaupt zu erklären, dass sich so wenige
Menschen privat gegen das Risiko der Berufsunfähigkeit
absichern?
({0})
Ich sage Ihnen, womit das zu erklären ist: Die Verträge,
die angeboten werden, sind wirklich alles andere als
lukrativ; unglaublich hohe Beiträge für miserable Leistungen.
({1})
Kein einziges dieser Produkte hat von den Verbraucherschützern ein gutes Testat bekommen. Das alles sollte
man berücksichtigen.
Was wir gesamtgesellschaftlich geschaffen haben, bei
der Altersvorsorge, aber auch für den Fall der Erwerbsminderung, ist ohne jeden Zweifel enorm. Vor dem Hintergrund dessen, dass wir das Leistungsniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung senken, müssen wir
darauf achten - insoweit gebe ich den Grünen allemal
recht -, dass Erwerbsminderung nicht automatisch Armut bedeutet. Da müssen wir Antworten geben, aber die
müssen wir eh insgesamt geben.
Sozialdemokraten haben eine Antwort gegeben, die
relativ klar ist. Wir sind uns einig, was die Erwerbstätigenversicherung angeht, weil sie die Basis verbreitert,
auf der Solidarität mit Menschen in besonderen Lebenslagen geübt werden kann.
Wenn wir das so isoliert betrachten, wie es die Grünen getan haben - die Grünen wollen die Zurechnungszeiten verändern und das Problem ohne Abschläge
lösen -, werden wir zumindest eines nicht halten können
- darüber muss man sich im Klaren sein -, nämlich die
Beitragssatzziele. Wir verteuern das Ganze. Man muss
um diesen Preis wissen. Insbesondere die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die höhere Beiträge bezahlen,
haben dann nicht mehr Ansprüche, weil man die Mittel
für die Sicherung an anderer Stelle verwendet. Man
muss schon klar und deutlich sagen, dass man die anderen mehr belasten muss, um diesen Fall, den man niemandem wünscht, in besonderer Weise abzusichern.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die Frage
der Zurechnungszeiten vor dem Hintergrund des höheren Renteneintrittsalters ernsthaft miteinander diskutieren müssen. Wir haben in unserem Regierungsprogramm
für die nächste Legislaturperiode das Thema der Erwerbsminderung, wie ich finde, sehr vernünftig aufgegriffen, und zwar insbesondere was den Zeitraum zwischen dem 60. Lebensjahr und dem frühestmöglichen
Eintritt in die Erwerbsminderungsrente ohne Abschläge
angeht. Dafür haben wir Lösungen zu finden versucht.
Mit der Zurechnungszeit bis zum 60. Lebensjahr übt die
Versichertengemeinschaft ein enorm hohes Maß an Solidarität; denn unabhängig davon, ob jemand mit 25 oder
39 oder 59 Jahren - das ist der Durchschnitt - erwerbsgemindert wird, unterstellen wir einen Versicherungsverlauf bis zum 60. Lebensjahr. Das ist eine herausragende Leistung, die wir als Versicherte in der
gesetzlichen Rentenversicherung solidarisch erbringen.
({2})
Die SPD-Bundestagsfraktion wie die SPD in Gänze
ist der Ansicht, dass weitere Privatisierungen bei der Altersvorsorge oder bei anderen Lebensrisiken, die die
Menschen zu tragen haben, nun wirklich nicht verantwortbar sind. Wir haben an einer Stelle privatisiert,
({3})
um auf die demografische Entwicklung zu reagieren.
({4})
Aber wir sollten nicht jedes Problem, das wir in unseren
sozialen Sicherungssystemen haben, zu lösen versuchen,
indem wir privatisieren, so wie Sie es wollen.
({5})
Das ist der untauglichste Versuch, den es gibt, wie die
Geschichte gerade bewiesen hat.
({6})
- Die Frage, ob man angesichts von 12 Millionen Menschen, die riestern, die Riester-Rente sinnvollerweise zurücknehmen kann,
({7})
ist abstrus und stellt sich nicht.
Vor dem Hintergrund der jetzt gemachten Erfahrungen mit der Finanzkrise, in der Milliarden und Abermilliarden versenkt worden sind - damit auch die Ersparnisse der Menschen fürs Alter -,
({8})
eine Debatte darüber zu führen, ob zusätzliche Risiken
individualisiert werden können, ist nun wirklich abstrus.
An dieser Stelle werden Sie die Sozialdemokraten mit
Sicherheit nicht an Ihrer Seite haben. Aber Sie können
sich auch sicher sein, dass wir alle Details, die Sie gerade mit mir noch besprechen wollten, im Ausschuss
miteinander diskutieren werden. Ich habe nur - wie auch
der Kollege Weiß - den Eindruck, dass meine Fraktion
zu keinem anderen Ergebnis kommen kann. Eine weitere
Privatisierung individueller Lebensrisiken ist mit der
SPD nicht zu machen.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Recht weist der Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund auf das steigende Risiko von Armut im
Alter gerade bei erwerbsgeminderten Versicherten hin
und fordert von uns im Parlament Nachbesserung. Es
wurde gerade gesagt, dass die allgemeine Niveauabsenkung in der gesetzlichen Rentenversicherung auch die
Erwerbsminderungsrenten betreffe. Hinzu kommt, dass
in den letzten Jahren das Zugangsalter von Erwerbsgeminderten kontinuierlich gesunken ist: in den letzten
zehn Jahren immerhin um zwei Jahre. Wenn wir nicht
gegensteuern, verliert die Erwerbsminderungsrente ihre
Funktion für die existenzielle Sicherheit von Menschen
mit einer Erwerbsminderung. Darum ist es gut, dass wir
heute zwei Anträge beraten. Besser wäre es, wenn wir
auch einen Antrag der Großen Koalition hier beraten
könnten.
({0})
Die FDP macht in ihrem Antrag Vorschläge zur Nachbesserung in den Bereichen der privaten und betrieblichen Altersvorsorge, damit auch die Erwerbsminderung
in diesen Säulen abgesichert ist. Wir Bündnisgrünen haben uns die Frage gestellt: Welches ist der vorrangige
Weg, damit Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen oder wegen einer Behinderung nicht bis zum Rentenalter arbeiten können, dennoch vor Armut im Alter
geschützt sind?
Unsere grundsätzliche Antwort lautet: Der Schutz vor
Armut im Alter muss im Rahmen der ersten Säule erfolgen, also in der gesetzlichen Rentenversicherung.
({1})
Wir wollen nicht, dass nur Versicherte, die sich eine ergänzende Altersvorsorge leisten können, vor Armut geschützt sind. Die FDP hat da offensichtlich eine andere
Klientel vor Augen. Dieser Grundsatz wird umso deutlicher, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass eine teilweise oder auch vollständige Erwerbsminderung und
Behinderung bereits in sehr jungen Jahren eintreten
kann.
Damit die Erwerbsminderungsrente gerechter wird
und einen besseren Schutz vor Armut im Alter bietet, ist
es grundsätzlich erforderlich, die Zurechnungszeit bis zu
dem Zeitpunkt der abschlagsfreien Erwerbsminderungsrente anzuheben, auch wenn dies Geld kostet, Kollege
Schaaf.
({2})
Gegenwärtig müsste die Zurechnungszeit bis zum
63. Lebensjahr fortgeführt werden. Nur so kann eine Benachteiligung infolge einer gesundheitlichen Beeinträchtigung oder Behinderung in jungen Jahren ausgeglichen
werden. Dies mag Geld kosten; aber die Menschen suchen sich das nicht aus.
({3})
Wir fordern erneut, das Zugangsalter für eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente mit 63 Jahren beizubehalten und somit die Anhebung nach dem Altersgrenzenanpassungsgesetz von 63 auf 65 Jahre wieder
rückgängig zu machen.
({4})
Bereits bei der Debatte um die Rente mit 67 hatten
wir verdeutlicht, dass eine Anhebung des Zugangsalters
für die Erwerbsminderungsrente willkürlich ist. Eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente mit 63 Jahren ist
gerechter als Ausnahmeregelungen für langjährig Versicherte, die eben das Glück haben, über eine robustere
Gesundheit zu verfügen, oder die unter weniger belastenden Arbeitsbedingungen arbeiten konnten.
Die Öffnung der Riester-Rente für das existenzielle
Risiko der Erwerbsminderung halten wir durchaus für
richtig, Herr Kollege Kolb; aber dies gibt es schon, wie
wir gerade gehört haben. Die anderen Vorschläge des
FDP-Antrags lehnen wir ab. Sie sind überflüssig und haben mit solidarischer Absicherung nun wirklich gar
nichts zu tun.
({5})
Die FDP scheint vor allem bei der zweiten Forderung
in ihrem Antrag mehr die Interessen der Versicherungswirtschaft denn die der Versicherten im Auge zu haben.
({6})
Natürlich würden sich die Versicherungen freuen, wenn
sie den Garantiezins senken könnten. Dass dies nicht nötig ist, zeigen die Tarifverträge der Chemie- und der Metallbranche. Mit diesen Tarifverträgen wird deutlich,
dass die Berufs- und Erwerbsminderungsrente zu günstigen Konditionen für die Versicherten auch in die betriebliche Altersvorsorge eingebaut werden kann.
Ich fasse zusammen: Damit die Erwerbsminderungsrente auch gesundheitlich beeinträchtigte Beschäftige
besser vor Armut im Alter schützt, ist ein ausreichender
Schutz in der ersten Säule der Alterssicherung geboten.
Dazu fordern wir eine Beibehaltung des Referenzalters
von 63 Jahren. Zusätzlich muss die Zurechnungszeit angepasst werden, und zwar grundsätzlich bis zur abschlagsfreien Erwerbsminderungsrente.
Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss und bitte
Sie, das zu unterstützen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/10872 und 16/12865 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksachen 16/12257, 16/12675 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 16/12878, 16/12903 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/12895 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({2})
Otto Fricke
Alexander Bonde
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Patricia
Lips für die Unionsfraktion, Ingrid Arndt-Brauer für die
SPD-Fraktion, Frank Schäffler für die FDP-Fraktion,
Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke, Dr. Gerhard
Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir verabschieden heute ein Gesetz, welches eine
Europäische Richtlinie zum Verbrauchsteuerrecht in nationales Recht umsetzt. Dabei wird bei der Beförderung
von steuerbaren Waren künftig IT-gestützt verfahren. Unabhängig davon, dass die bisherige Grundlage der Papierdokumente durch die neuen IT-Verfahren abgelöst
werden soll, werden damit auch die Überwachung der
Beförderung für beide Seiten in Echtzeit sowie die Verwaltungsvereinfachung vorangetrieben. Zusätzlich dient
das Gesetz der Bekämpfung des Steuerbetrugs und der
Sicherung der Verbrauchsteuereinnahmen. Wer kann das
ablehnen?
Aufgrund der großen Spanne potenziell zu erwartender Kosten und damit Belastungen für die Unternehmen
im Rahmen der Umstellung war es jedoch für die CDU/
CSU wichtig, dass das Finanzministerium im Vorfeld mit
allen relevanten Verbänden gesprochen hat, um die Umstellung reibungslos und ohne größere Belastungen gerade für die betroffene mittelständische Wirtschaft zu gewährleisten.
Im Mittelpunkt der Diskussionen und des Interesses
der Medien der vergangenen Wochen standen bei diesem
Gesetzesvorhaben jedoch andere Themen, die - man ist
versucht zu sagen: „bei dieser Gelegenheit“ - parallel in
diesem Gesetz zu Verbrauchsteuern umgesetzt werden
sollen. So war es ein Anliegen von Industrie und Handel,
den Mindestinhalt bei Zigarettenpackungen von bisher
17 auf 19 zu erhöhen. War man sich bei dieser Zahl recht
schnell einig, so gab es dann doch teilweise sehr kontroverse Diskussionen über die Frage, wie lange der „alte“
Packungsinhalt noch produziert werden kann und darf,
sowie darüber, wie lange der Handel eine Abverkaufsfrist
gewährt bekommt. Der gefundene Kompromiss gibt allen
Seiten hinreichend Gelegenheit, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen.
An dieser Stelle sei auch auf zwei „Begleiterscheinungen“ verwiesen:
Erstens. Durch die Erhöhung des Packungsinhaltes
wird es zu einer Verteuerung des einzelnen Päckchens
kommen. Die bisherige Schwelle von 4 Euro wird nun von
weiteren Marken überschritten. Im Wettbewerb der Industrie untereinander sicher ein wichtiges Element, bildet dieser Schritt doch zusätzlich schon rein optisch eine
Verringerung im Preisabstand.
Zweitens. Unabhängig davon kommt es bereits jetzt,
ab 1. Juni, zu einer breit angelegten Preiserhöhung bei
Tabakwaren durch die Industrie.
Vor diesem Hintergrund rege ich an, dass wir uns einige Monate nach der Umstellung die Entwicklung der
Steuereinnahmen in diesem Bereich genauer ansehen. Es
bleibt abzuwarten, ob diese steigen oder ob - was gleichfalls erwartet werden muss - einmal mehr ein „Ausweichen“ auf andere Tabakprodukte eintritt und es gar zum
vermehrten Konsum unversteuerter Ware kommt.
Und lassen Sie mich noch einen Punkt in diesem Zusammenhang nennen: Bisher entscheiden wir, die Parlamentarier, über die genannten Vorgänge. Dem Vorschlag
des Ministeriums, künftig Mindestpackungsinhalte bei
Zigaretten selbst per Rechtsverordnung festzusetzen,
konnte nicht entsprochen werden. Jenseits der Sachfrage
ging es hier vielen Kolleginnen und Kollegen auch aus
anderen Ausschüssen um die prinzipielle Frage des
Selbstverständnisses von Befugnissen des Gesetzgebers.
Wir fordern nichts Neues, sondern die Beibehaltung
des Status quo.
Ein weiteres Thema, welches, wenn auch verspätet,
aufgenommen werden konnte, ist die weiterhin gültige
Steuerbegünstigung bei der thermischen Verwertung von
Altöl. Die Änderungen im Energiesteuergesetz lösen eine
Beihilfe ab, die in Kürze ausläuft. Auch hier ist zu begrüßen, dass sehr schnell eine Einigung mit den betroffenen
Unternehmen gefunden werden konnte. Stehen für die einen wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund, so sehen andere den Schwerpunkt in der umweltpolitischen Lenkungsfunktion dieser Maßnahme. Im Ergebnis gab es, wie
bei dem Gesetz insgesamt, auch hier einen breiten Konsens.
Dieses Gesetz steht unter dem Einfluss der Eilbedürftigkeit, die sich bereits durch die Umsetzung des IT-Verfahrens ergibt. Dieser Umstand ist sicher maßgeblich dafür verantwortlich, dass weitere Ideen und Vorschläge
nicht mehr zum Zuge kamen. Sie waren weder zeitlich,
noch strukturell, noch für viele inhaltlich umsetzbar.
Abschließend danke ich für die gute und konstruktive
Zusammenarbeit im Ausschuss sowie in den begleitenden
Gesprächsrunden. Die Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion ist dem 4. Gesetz zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen in der nun vorliegenden Form gewiss.
Ich freue mich, dass wir heute das Vierte Verbrauchsteuergesetz verabschieden können. Die Große Koalition
hat gezeigt, dass sie - obwohl der Wahlkampf schon seine
Schatten vorauswirft - in der Sache zügig und zielorientiert arbeitet. Die rasche Umsetzung der dem Gesetz
zugrunde liegenden EU-Richtlinie des Rates vom 16. Dezember 2008 schafft Planungssicherheit für Unternehmen, Handel und Verwaltung.
Zugegeben: Inhalt und Zielrichtung der Gesetzesvorlage erschließen sich Nicht-Fachleuten sowie den meisten Bürgerinnen und Bürgern wohl kaum ohne Weiteres.
Das Verbrauchsteueränderungsgesetz ist in der Tat ein
Gesetz, in dem verfahrenstechnische Gesichtspunkte die
maßgebliche Rolle spielen. Genau gesagt, es geht um die
Besteuerung, Beförderung und Lagerung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren wie zum Beispiel Tabak, Alkohol,
Energieerzeugnisse und Strom im innereuropäischen Verkehr. Bislang wurde die Besteuerung dieser auf Grundlage von Papierdokumenten vorgenommen, im digitalen
Zeitalter, wie ich meine, durchaus ein Anachronismus.
Papier erzeugt Mehraufwand und ist für die Zollbehörden
schwieriger zu kontrollieren. Mit der Umsetzung der EURichtlinie wird ein europaweites IT-Verfahren eingeführt.
Es erlaubt Wirtschaftbeteiligten und Zollverwaltung, die
Beförderung der von mir genannten Waren in Echtzeit zu
überwachen. Dadurch leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Steuerbetrug und entlasten Unternehmen und Handel von Bürokratie.
Neben der Einführung eines computergestützten Verfahrens enthält der Gesetzentwurf weitere Regelungen,
die ich sehr erwähnenswert finde: So wird der Mindestpackungsinhalt bei Zigaretten von bisher 17 auf 19 Stück
angehoben. Bei Feinschnitt wird ein Mindestpackungsinhalt von 30 Gramm eingeführt. Das macht die einzelne
Packung teurer. Hinzu kommen, wie letzte Woche in der
Presse zu lesen war, Preiserhöhungen einiger führender
Zigarettenhersteller. In der Konsequenz wird das Rauchen somit spürbar teurer - bei einer Zigarettenpackung
kann das ein Betrag bis zu 50 Cent sein. Besonders aus
Sicht des Kinder- und Jugendschutzes kann ich diese
Preisentwicklung nur begrüßen, auch wenn es immer
Stimmen geben wird, die sagen: Wegen einer solchen
Preiserhöhung wird niemand abgehalten, sich Zigaretten
zu kaufen, der ernstlich raucht oder mit dem Rauchen anfangen will. Ich bin der festen Überzeugung, dass Preiserhöhungen einen wichtigen Beitrag leisten, den Zugang
für Jugendliche und Heranwachsende zum Rauchen zu
erschweren. Darüber hinaus sehe ich auch eine moralische Verpflichtung des Staates, eine Politik zu betreiben,
welche die unbestreitbaren Gesundheitsgefährdungen
des Rauchens nicht verharmlost. Vielmehr brauchen wir
eine Politik, welche den Gefahren vorbeugend entgegenwirkt.
Schon seit vielen Jahren setzt sich die SPD-Fraktion
daher im Bundestag dafür ein, den Gefährdungen des
Rauchens mit umfassenden präventiven Maßnahmen zu
begegnen. Ich erinnere daran, 2003 hatte die Bundesregierung die Tabakwerbung im Kino vor 18 Uhr verboten.
Im Sommer 2004 folgte ein Verbot für das kostenlose Verteilen von Zigaretten zu Werbezwecken. Zigaretten-Kleinpackungen sind seit Januar 2005 nicht mehr erlaubt. Die
Altersgrenze für den Verkauf von Tabakwaren an Kinder
und Jugendliche wurde von 16 Jahren auf 18 Jahre erhöht. Zigarettenautomaten mussten bis Ende letzten JahZu Protokoll gegebene Reden
res technisch so umgerüstet sein, dass Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren die Entnahme von Zigaretten
nicht möglich ist.
Hinzu kamen eine schrittweise Erhöhung der Tabaksteuer und die Einführung einer Sondersteuer auf Alkopops 2004. Beide Steuererhöhungen erschwerten die
Verfügbarkeit dieser Stoffe gerade für Kinder und Jugendliche, was nachweisbar zu einem deutlichen Konsumrückgang führte. Diese verbrauchsteuerlichen Maßnahmen stellen somit erfolgreiche Beispiele für eine
moderne Suchtpolitik dar! Ende 2006 haben wir diese
Politik fortgesetzt und Tabakwerbung in Printmedien, im
Hörfunk und im Internet verboten. Als weiteren Beleg für
unseren umfassenden und präventiven Politikansatz verweise ich gerne auch auf das Nichtraucherschutzgesetz
aus dem Jahre 2007. Ich bin mir sicher: Die jetzige Verteuerung der Zigarettenpackungen steht in konsequenter
Linie mit der von uns betriebenen Politik in den letzten
Jahren. Die Preiserhöhungen werden ihre Wirkung nicht
verfehlen.
Wenn ich eine Bilanz ziehe, so kann ich guten Gewissens mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zufrieden sein.
Das gilt auch deshalb, weil es uns in vielen Beratungen
und Gesprächen gelungen ist, faire und praktikable Lösungen für Wirtschaft und Handel zu finden. Mit der Verlängerung der Abverkaufsfrist bis zum 31. Dezember
2009 kann der Tabakwaren-Groß- und Einzelhandel sicher gut leben. Bei der Besteuerung von Ölabfällen ist es
uns gelungen, dass betroffene Unternehmen und Betriebe
durch den zukünftigen Wegfall der Steuerbefreiung für
Ölabfälle nicht übermäßig belastet werden.
Ich empfehle Ihnen daher, dem Gesetzentwurf zu zustimmen.
Die FDP-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf in der
vom Finanzausschuss geänderten Fassung zu. Schwerpunkt des Gesetzes ist es, eine nationale Rechtsgrundlage
für die EU-weite Einführung des IT-Verfahrens EMCS
({0}) zu schaffen, damit die bisher auf der Grundlage von Papierdokumenten
ablaufenden Beförderungsverfahren mit steuerbaren Waren künftig unter Steueraussetzung lT-gestützt abgewickelt werden können. Dabei ist uns als FDP-Fraktion
wichtig, dass die Bundesregierung ihre Zusage einhält,
die sie in ihrer Gegenäußerung zur Bundesratsstellungnahme gegeben hat. Der Bundesrat hatte gefordert, dass
die Bundesregierung bei der Konkretisierung des Verfahrens auf eine möglichst geringe Kostenbelastung der betroffenen Unternehmen achten müsse, da diesen Kosten
zwischen 100 Euro und mehreren 100 000 Euro entstehen. Die Bundesregierung hat zugesagt, dieser Empfehlung zu folgen. Angesichts der enormen Bandbreite an
Kosten ist es uns wichtig, dass hier keine unnötigen Anforderungen an die Unternehmen gestellt werden.
Beim vorliegenden Gesetzentwurf stellt sich aber natürlich auch die Frage, warum der Mindestpackungsinhalt bei Zigaretten nun auf 19 angehoben wird. Da vor
einem Monat erst die Packungsgrößen bei Lebensmitteln
freigegeben wurden, was gerade ein Schritt zu weniger
Bürokratie war, ist es widersprüchlich, wenn nun für das
Produkt Zigaretten der Mindestpackungsinhalt nicht nur
bestätigt, sondern erhöht wird. Eine Tafel Schokolade
darf nun beispielsweise auch 91 Gramm wiegen, ein
Milchpack 0,95 Liter enthalten. Warum es dann künftig
verboten sein soll, 18 Zigaretten zu verkaufen, lässt sich
schlecht begründen. Wir haben zur Kenntnis genommen,
dass die Neuregelung ein Wunsch von Industrie und Handel sei.
Die Regelungskompetenz bezüglich des Mindestinhalts bleibt aber auch künftig dem Gesetzgeber überlassen. Dies begrüßen wir. Im Gesetzentwurf war ursprünglich vorgesehen, dass die Festlegung des Mindestinhalts
künftig durch Rechtsverordnung des Bundesfinanzministers erfolgen solle. Für eine solche Verlagerung der
Zuständigkeit gibt es aber überhaupt keinen Anlass. Gerade das vorliegende Gesetzgebungsverfahren, in dem
erst am Ende eine angemessene Übergangsfrist eingeführt wurde, zeigt, dass eine parlamentarische Beratung
durchaus sinnvoll ist.
Mehr Informationspflichten der Wirtschaft zur Bekämpfung des Steuerbetrugs, das wird von der Linken
grundsätzlich begrüßt. Wir stimmen daher dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen zu.
Die Initiative hierzu geht allerdings auf die EU und
nicht auf die Bundesregierung zurück. Denn mit dem Gesetzentwurf wird nur die EU-Richtlinie 2008/118/EG vom
16. Dezember 2008 in nationales Recht umgesetzt. Sie betrifft die innergemeinschaftlichen Verfahrensregelungen
zur Besteuerung, Beförderung und Lagerung von Tabakwaren, Alkohol und alkoholischen Getränken sowie
Energieerzeugnissen und Strom. Die EU-Richtlinie bildet
die Rechtsgrundlage für die EU-weite Einführung des ITVerfahrens EMCS. Dies ist ein EDV-System für die Überwachung der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger
Waren zwischen den EU-Mitgliedstaaten, für die noch
keine Verbrauchsteuern gezahlt wurden - sogenannte
Waren unter Steueraussetzung. Damit soll die bisher auf
Papierdokumenten beruhende Erfassung weitgehend abgelöst werden. Ziel ist die Bekämpfung von Steuerbetrug
und die Sicherung von Verbrauchsteuereinnahmen.
Gewichtig als Einnahmenquelle ist von den betroffenen Verbrauchsteuern nur die Energiesteuer. Sie ergab
2007 knapp 39 Milliarden Euro für die öffentliche Hand,
was einem Anteil von 7,2 Prozent an den gesamten Steuereinnahmen entsprach. Alle anderen zusammengenommen, machten 2007 gerade einmal 4,6 Prozent - knapp
25 Milliarden Euro - aus. Es handelt sich also überwiegend um Bagatellsteuern.
Aber Verbrauchsteuern begründen sich nicht nur aus
der Bereitstellung von Finanzmitteln für den Staat. Sie
sollen auch das Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern
sowie Unternehmen indirekt beeinflussen, wenn deren
Konsum oder Produktion mit Kosten für die Allgemeinheit verbunden sind. So sollen beispielsweise Energieund Stromsteuer ökologisch wirken, indem sie im Zeitablauf den Energieverbrauch senken. Doch nicht immer
Zu Protokoll gegebene Reden
funktioniert dies so eindeutig: So hat die Erhöhung der
Tabaksteuer zu mehr Steuerhinterziehung und Steuervermeidung geführt. Denn der Vorrang für die sogenannte
Kapital- sowie Waren- und Dienstleistungsfreiheit innerhalb des europäischen Binnenmarktes begünstigt Steuerhinterziehung und -vermeidung - unter „Freiheit“ werden hier lasche Kontrollen und mangelnde staatliche
Koordination verstanden. Innergemeinschaftliche Steuerhinterziehung und -vermeidung funktionieren umso
besser, je weniger die Steuern zwischen den Mitgliedstaaten koordiniert und harmonisiert sind, was in der EU
leider der Regelfall ist. Das ist der Ausfluss des von der
Bundeskanzlerin und dem Bundesfinanzminister so geschätzten und fleißig betriebenen Steuerwettbewerbs.
Die Linke setzt sich für die Eindämmung des Steuerwettbewerbs ein. Dieser hat in den letzten Jahren
maßgeblich zu einer Erosion von Steuerquellen und Steuermoral geführt. Steuergefälle zwischen den Mitgliedstaaten begünstigen vor allem die mobilen und flexiblen
Akteure: Banken, Großunternehmen und Vermögende
wählen ihren Stand- oder Wohnort nach der niedrigsten
Steuerbelastung. Der Wettbewerb der Mitgliedstaaten um
deren Ansiedlung führt zu immer neuen Steuerabsenkungsrunden. Arbeitnehmerinnen und -nehmer sowie
kleine und mittlere Unternehmen können nicht so einfach
den Ort wechseln und sehen sich daher seit Jahren mit einer zunehmenden Steuerlast konfrontiert. Die Bundesregierung nimmt hier eine Vorreiterrolle ein. Prägnantes
Beispiel ist die Unternehmensteuerreform 2008 mit ihrer
massiven Entlastung von Vermögenden ({0}) und Unternehmen und deren Finanzierung auf Kosten der niedrigen und mittleren Einkommensbezieher durch die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes.
Die Vereinheitlichung der Verfahrensweise und die
stärkere Kontrolle bei den Verbrauchsteuern sind ein
kleiner Schritt in die richtige Richtung - aber leider nur
ein sehr kleiner: Es werden ja nicht einmal die Steuersätze angeglichen. Es ist typisch für die EU-Politik, dass
bei den unbedeutenden und zudem die niedrigen Einkommen stärker betreffenden Steuern angefangen wird: Die
europaweite Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlage und die Einführung von Mindeststeuersätzen für Kapitaleinkommen und bei der Unternehmensbesteuerung
wird dagegen regelmäßig blockiert - auch von der Bundesregierung.
Mit dem vorliegenden Entwurf der Bundesregierung
eines Vierten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen wird eine EU-Richtlinie in deutsches Recht
umgesetzt. Dabei geht es um die Einführung eines EDVgestützten Verfahrens bei der Beförderung von verbrauchsteuerbaren Waren wie Tabakwaren, Alkohol oder
Energieerzeugnissen zwischen den EU-Ländern. Durch
die Einführung dieses EDV-Verfahrens wird die bisherige
Papierabwicklung der Besteuerung ersetzt. Damit soll
eine Vereinfachung des Verfahrens für alle Beteiligten erreicht werden. Außerdem soll auf diese Weise der Steuerbetrug bekämpft werden. Diese Ziele teilen wir.
Das neue EDV-Verfahren soll ab April 2010 möglich
und ab 2011 bindend werden. Spätestens ab 2011 gehört
die Papierabwicklung bei der Beförderung und Besteuerung von Waren wie Zigaretten und Alkohohl also endlich
der Geschichte an. Dabei frage ich mich und die Bundesregierung schon: Wieso erfolgen erst jetzt gesetzgeberische Schritte zur Umstellung auf EDV? Wieso hat die EUKommission oder das Bundesfinanzministerium nicht
schon längst eine entsprechende Initiative ergriffen? Internet und Computer sind ja beileibe keine neuen Technologien mehr. Kein Unternehmen, kein Büro, keine Kanzlei, keine öffentliche Verwaltung, nicht einmal Schulen
oder Kindertagesstätten kommen heute noch ohne die
moderne Informations- und Kommunikationstechnik aus.
Unsere globalisierte, wissensbasierte Welt ist ohne Internet und Computer schlicht nicht vorstellbar. Aber die Besteuerung von Zigaretten und Alkohol zwischen EU-Ländern erfolgt bis zum heutigen Tage auf Papierbasis, also
mit einer Technologie, die fast 2 000 Jahre alt ist! Wie
ohne EDV-technische Erfassung und Abgleich von Steuerdaten bisher überhaupt eine wirksame Steuerbetrugsbekämpfung möglich sein sollte, ist mir schleierhaft. Das
Gesetz ist also ein überfälliger Schritt in Richtung Moderne.
Weitere Änderungen wie die Stückzahl in Zigarettenpackungen, Anpassungen bei der Kaffeesteuer, veränderte Informationspflichten oder Korrektur bei der wegfallenden Steuerbefreiung von Ölabfällen kann ich im
Einzelnen nicht abschließend bewerten. Die Begründungen des Ministeriums scheinen mir jedoch im Wesentlichen schlüssig und nachvollziehbar. Dem Gesetzentwurf
stimmen wir daher zu.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 16/12878 und 16/12903, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/12257 und 16/12675 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ein Moratorium für Sicherheitsgesetze bis zur
Vorlage eines Prüfberichts zu Folgen der
Vizepräsidentin Petra Pau
Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur
Online-Durchsuchung
- Drucksache 16/8981 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht nur die Linke spricht dieses Thema immer wieder
an; zuletzt hat das der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes getan, der die Bundesregierung und den Bundestag vor einem Super-GAU im Datenschutz warnte. Er
ermahnte den Staat, endlich zu handeln.
In den letzten Jahren gab es eine ganze Reihe von Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes zu Fragen von
Eingriffen in die Grund- und Freiheitsrechte. Wir haben
eine wachsende Bürgerrechtsbewegung zu verzeichnen.
Es gab mehrere Demonstrationen unter dem Motto
„Freiheit statt Angst“. Das ist gut und muss noch weiter
wachsen. Vor allem haben immer mehr Verbände - auch
solche, die nicht unbedingt als Vorfeldorganisationen der
Linken bekannt sind, zum Beispiel Rechtsanwaltsverbände, Journalistenverbände - vom Bundestag gefordert,
endlich darüber zu diskutieren, wohin es mit der Sicherheitsarchitektur in diesem Land gehen soll.
Deswegen hatte die Linke eine, wie ich finde, hervorragende Idee,
({0})
um dem Bundestag und der Bundesregierung Zeit zu
verschaffen, ausführlich über diese Fragen zu diskutieren.
Was fordern wir? Wir fordern erstens eine unabhängige Expertengruppe, die mit Vertretern aus Bürgerrechtsorganisationen, Anwaltsvereinen, Richtervereinen,
Datenschutzvereinigungen und Gewerkschaften besetzt
werden soll.
({1})
Diese Truppe soll darüber diskutieren, wie es um die
Grundrechte in diesem Land bestellt ist. Ich halte das für
einen sehr guten Vorschlag.
({2})
Zweitens soll diese Expertengruppe analysieren, was
in den letzten Jahren in Bezug auf den Kampf gegen den
internationalen Terrorismus beschlossen worden ist. Es
wäre gut, eine solche umfassende Analyse von unabhängiger Seite zu bekommen. Sonst kommt das immer von
den Wirtschaftssachverständigen, die meistens leider
falsch lagen. Wir wissen nicht, was bei den unabhängigen Experten herauskommt. Deshalb ist das eine gute
Idee.
({3})
Drittens fordern wir, dass bereits beschlossene Gesetze auf ihre Verträglichkeit mit den Grund- und Freiheitsrechten überprüft werden. - Da würde ich nicht so
grinsen, denn das geht eher schlecht aus für Sie.
({4})
Viertens schlagen wir vor - das halte ich in der Tat für
eine wirklich wichtige Sache; denn die Begründung für
alle Gesetze, die wir hier verabschiedet haben, war immer, dass wir Verschiedenes machen müssen, um größtmögliche Sicherheit in unserem Land zu erreichen -, neben der Frage der Grund- und Freiheitsrechte zu
analysieren und zu evaluieren, ob das Ganze wirklich zu
mehr Sicherheit geführt hat oder ob es einfach nur ein
Strohfeuer gewesen ist. Deswegen wollen wir eine unabhängige Überprüfung dessen und nicht, dass das Bundesministerium des Innern, wie es dies ansonsten - man
kann sagen: durchaus lustig - macht, seine eigenen Gesetze evaluiert
({5})
und zu dem Schluss kommt, dass die Gesetze hervorragend sind. So geht es natürlich nicht. Vielmehr wollen
wir das Ganze unabhängig gestalten. Bis dahin fordern
wir - das ist der Kern unseres Antrages -, auf neue Gesetze zu verzichten,
({6})
erst einmal in sich zu gehen und nachzudenken.
Kollege Wieland, ich habe einen Beweis dafür, warum das dringend notwendig ist. Heute bekam ich vom
Kollegen Peter Altmaier die Antwort auf unsere Kleine
Anfrage „Kompetenzausweitung für das Bundesamt für
Verfassungsschutz“. Wir haben gefragt, ob die Ergebnisse der Onlinedurchsuchungen nach Meinung der Bundesregierung auch dem Bundesamt für Verfassungsschutz zur Verfügung gestellt werden sollten. Sie können
sich denken, dass wir das nicht wollen. Sie hat ehrlich
darauf geantwortet und gesagt - das ist zumindest eine
Position -, dass das natürlich so sein sollte. Zitat: Eine
Regelung wird in die Prüfung des Handlungsbedarfs der
nächsten Wahlperiode einbezogen.
({7})
Unser Antrag ist natürlich aktueller denn je, um dem
vorzubeugen, dass das nicht so kommt, wie Sie sich das
vorstellen.
({8})
An dieser Stelle möchte ich durchaus Kritik dahin gehend zulassen, dass der Antrag schon etwas älter ist.
({9})
- Ich kann es nicht ändern, dass die Verfahren hier so
langsam sind. Ich würde sie auch lieber beschleunigen. Nach den letzten Urteilen gibt es ein neues Grundrecht,
und zwar ein Grundrecht auf die Gewährleistung der
Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer
Systeme.
({10})
Ziel unseres Antrages ist, dass man dieses neue Grundrecht in Zukunft bei allen Gesetzentwürfen, über die wir
hier diskutieren, im Vorfeld mitbedenkt. Das ist auch für
die Bundesregierung hilfreich, weil sie dann nicht dumm
dasteht, wenn das Verfassungsgericht sagt: So geht es
nicht, wie ihr das vorgeschlagen habt. - Das ist doch einmal ein konstruktiver Vorschlag.
({11})
Das ist der Kern dieses Antrags. Es ist eine Chance für
uns alle, einmal in sich zu gehen, sachlich zu diskutieren
und mit Bürgerinnen und Bürgern, Vereinen, Verbänden
und Gewerkschaften darüber ins Gespräch zu kommen,
wie wir die Innenpolitik in diesem Land in den nächsten
Jahren gestalten wollen. Deswegen bitte ich um eine
wohlwollende Prüfung unseres hervorragenden Antrages.
Schönen Dank.
({12})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Helmut Brandt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wenn das Thema nicht so ernst wäre, würden
wir alle über Ihren Antrag lachen, wie Sie selber über
ihn gelacht haben.
({0})
Ich denke, man sollte dieses Thema sachlich debattieren
und nicht solche Anträge formulieren, zu denen man
dann selber dem Grunde nach nicht steht.
({1})
- Das ist wahr, Kollege Wieland. Insofern schließe ich
mich Ihnen an.
Da wir aber über diesen Antrag debattieren, in dem
wir bzw. die Bundesregierung aufgefordert werden, zumindest teilweise auf die Vorlage und Verabschiedung
von Gesetzentwürfen zu verzichten, die - wie beispielsweise das vor wenigen Monaten verabschiedete BKAGesetz - für die Gewährleistung der inneren Sicherheit
unabdingbar sind,
({2})
erlauben Sie mir, dass ich zu Beginn ein paar allgemeine
Bemerkungen mache.
Der vorliegende Antrag soll ganz offensichtlich den
Eindruck erwecken, als seien die von uns verabschiedeten Gesetzentwürfe der letzten Monate im Bereich der
inneren Sicherheit quasi aus Jux und Tollerei entstanden.
Noch schlimmer: Die Fraktion Die Linke versucht offenbar, den Eindruck zu vermitteln, als seien die Gesetze,
die in jüngster Zeit auf dem Gebiet der inneren Sicherheit beschlossen wurden, nicht verfassungskonform und
verfolgten lediglich den Zweck, unsere Bürger mehr zu
kontrollieren und auszuspionieren.
({3})
Herr Korte, abgesehen davon, dass dieser Eindruck vollkommen an der Realität vorbeigeht
({4})
und Sie die derzeitige Sicherheitslage auf der Welt und
in Deutschland, die diese Gesetze erst notwendig gemacht hat, komplett ignorieren, erschüttern Sie - das ist
mein Vorwurf an Sie; das ist Ihre wahre Absicht - mit
Anträgen wie diesem das Vertrauen des Bürgers in das
Parlament; zumindest tragen Sie in ganz erheblichem
Maße dazu bei. Das ist in unseren Augen verantwortungslos.
({5})
Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, dass der
Terrorismus auch Deutschland erreicht hat. Immer eindringlicher warnen Experten vor der Gefahr eines Anschlags auch in Deutschland. Ich kann nur sagen: Wer
das nicht begriffen hat und weiterhin, zumindest unterschwellig, behauptet, durch die Terrorismusbekämpfung
in Deutschland werde übermäßig in die persönliche Freiheit des Einzelnen eingegriffen, hat den Ernst der Lage
nicht begriffen oder handelt, wie Sie es mit Ihren Vorhaltungen tun, verantwortungslos.
({6})
- Ich komme ja jetzt zu Ihrem Antrag, Herr Korte.
({7})
Als Erstes - Sie haben es eben wiederholt - fordern Sie
die Einrichtung einer unabhängigen Expertengruppe, in
der Bürgerrechts-, Rechtsanwalts-, Journalisten-, Richter- und Datenschutzvereinigungen sowie Verbände und
Gewerkschaften vertreten sein sollen. Welche Verbände
das sind, haben Sie nicht gesagt. Ich vermute, dass Sie
keine Verbände von Stasigeschädigten meinen; denn
sonst hätten Sie diese hier sicherlich aufgeführt. Aber
auch, welche besonderen Kompetenzen Gewerkschaften in diesem Zusammenhang haben sollen, haben Sie
nicht deutlich machen können.
Ich sage Ihnen: So, wie der Antrag formuliert ist, ist
er es schon von seiner Unbestimmtheit her eigentlich
nicht wert, dass man sich näher damit beschäftigt. Es
wird aber wenigstens deutlich, dass Sie über die Bedeutung und die Aufgabe des Bundesdatenschutzbeauftragten völlig hinweggehen.
Aufgabe des Bundesbeauftragten für den Datenschutz
und die Informationsfreiheit ist es unter anderem, insbesondere im Rahmen von Gesetzgebungsverfahren Empfehlungen auszusprechen und Gutachten zu erstellen.
Dementsprechend wurde und wird der Bundesdatenschutzbeauftragte von der Regierung bei Gesetzen, die
den Datenschutz tangieren, bereits sehr früh mit in die
Beratungen einbezogen.
({8})
In Ihrem Antrag fordern Sie darüber hinaus
eine umfassende Evaluation aller in der Vergangenheit beschlossenen Sicherheitsgesetze mit Blick auf
deren Verhältnismäßigkeit und objektive Wirksamkeit für die Sicherheit …
({9})
- Dagegen spricht nichts. Ich werde Ihnen aber jetzt sagen, was Ihnen in den letzten Monaten alles nicht aufgefallen ist:
Der Gesetzgeber ist natürlich verpflichtet, die Auswirkungen seiner Entscheidungen, insbesondere im Bereich der Grundrechte und der ihn insoweit treffenden
Schutzpflichten, im Blick zu behalten und, falls erforderlich, auf Fehlentwicklungen zu reagieren. Ich bin mir sicher, dass dies zumindest den Juristen unter Ihnen geläufig ist.
Erstaunt bin ich aber vor allen Dingen deshalb, weil
Ihnen offensichtlich entgangen ist, dass wir bei allen zuletzt verabschiedeten Gesetzen im Bereich der inneren
Sicherheit eine solche Evaluation bereits vorgesehen haben.
({10})
- Ich werde das im Einzelnen darlegen, Herr Korte. - Es
steht dem Gesetzgeber dem Grunde nach ja frei, wie er
der von mir gerade erwähnten Verpflichtung nachkommt.
Das Parlament muss nicht mit jeder Ermächtigung zu
Grundrechtseingriffen zugleich eine förmliche Verpflichtung zur Evaluierung der Eingriffe schaffen. Dennoch hat
der Deutsche Bundestag gerade in jüngster Zeit im Hinblick auf die mögliche Betroffenheit von Grundrechten
vorgesehen, dass ihm regelmäßig über die Auswirkungen
einer getroffenen Regelung berichtet werden muss. Dies
gilt insbesondere für die die innere Sicherheit betreffenden Gesetze aus der jüngeren Zeit. Ich komme jetzt im
Einzelnen dazu:
Erster Punkt. Nach Art. 6 des Gesetzes zur Abwehr
von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das
Bundeskriminalamt sind die Vorschriften über die neuen
Zuständigkeiten des BKA im Bereich der Terrorismusbekämpfung und die Zusammenarbeit des Bundeskriminalamtes mit den Polizeibehörden der Länder, die Rasterfahndung und die Onlinedurchsuchung nach fünf Jahren,
also zum 31. Dezember 2014, unter Einbeziehung eines
Sachverständigen, der im Einvernehmen mit diesem
Haus bestellt wird, zu evaluieren.
Zweiter Punkt. Nach Art. 5 des Gemeinsame-DateienGesetzes ist das Antiterrordateigesetz fünf Jahre nach
dem Inkrafttreten, das heißt schon im Dezember 2011,
unter Einbeziehung eines Sachverständigen, der auch
wieder im Einvernehmen mit dem Bundestag zu bestellen ist, zu evaluieren.
Dritter Punkt. Nach Art. 11 des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes vom 5. Januar 2007 sind die
dort näher bezeichneten Regelungen nach spätestens
fünf Jahren ebenfalls zu evaluieren.
({11})
Meine Damen und Herren von der Linksfraktion, ich
weiß, dass Sie das alles nicht gerne hören, aber es ist die
Realität. Ihre Forderung nach einer Evaluierung ist damit vollkommen überflüssig. Ich denke, ich konnte außerdem gerade auch aufzeigen, dass sich die Koalitionsfraktionen einer möglichen Grundrechtsbetroffenheit
nicht nur bewusst gewesen sind, sondern dass wir darauf
auch durchaus besonnen reagiert haben.
({12})
Ich versichere Ihnen noch etwas: Selbstverständlich
werden Bundestag und Bundesregierung auch bei künftigen Gesetzesvorhaben die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich des Grundrechts auf Vertraulichkeit
und Integrität informationstechnischer Systeme, das
vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes abgeleitet
wurde, strikt beachten.
Ihre Forderung nach einem Moratorium im Hinblick
auf die Novellierung des Bundeskriminalamtgesetzes
- damit bin ich bei der letzten Forderung Ihres Antrages ist deshalb überholt und nicht erforderlich.
({13})
Überdies wäre es aber auch unzulässig, der Bundesregierung die Vorlage von Gesetzentwürfen zu untersagen
und ihr damit die Möglichkeit zu nehmen, auf bestehenden gesetzlichen Regelungsbedarf zu reagieren.
({14})
- Ja, das ist besonders unzulässig. Das ist sozusagen unzulässig unzulässig. Da gibt es leider kaum noch eine
Steigerungsform. - Ein Gesetz, Herr Korte, wird geschaffen, weil man die Notwendigkeit einer Regelung
erkannt hat. Sie allerdings weigern sich, von dieser Notwendigkeit Kenntnis zu nehmen. Allein aus diesem
Grund ist Ihre Forderung nach einem Moratorium absurd. Man denke einmal darüber nach, welche Konsequenzen ein solcher Beschluss hätte.
Zum Schluss möchte ich noch einmal betonen, dass
für die von uns in jüngster Zeit geschaffenen Einflussbefugnisse wie die sogenannte Onlinedurchsuchung nicht
nur hohe Hürden aufgestellt wurden - sie unterliegen
beispielsweise einem Richtervorbehalt -, wodurch Eingriffe in das Recht auf Datenschutz des Einzelnen auf einige ganz wenige Fälle beschränkt sind. Ich denke, es ist
außerdem deutlich geworden, dass wir über genügend
Kontrollmechanismen verfügen, um rechtzeitig und angemessen auf Fehlentwicklungen reagieren zu können.
Eigentlich bräuchte ich es nicht mehr zu sagen: Es ist
selbstverständlich, dass wir Ihren Antrag ablehnen.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Als ich den Antrag, über den wir
heute hier debattieren, zum ersten Mal gelesen habe, ist
mir durch den Kopf gegangen, dass es viele, leider zu
viele Initiativen hier im Bundestag gibt, die sozusagen
als Tiger starten und als Bettvorleger in der Mitte dieses
Hauses landen. Ich glaube, diesem Antrag wird es genau
so ergehen. Das wäre dann sogar noch ein Kompliment.
Richtig ist, dass die Bundesregierung oft genug die
Grundrechte mangelhaft achtet.
Richtig ist auch, dass die Bundesregierung, und zwar
leider nicht erst diese schwarz-rote, sondern auch schon
- ich schaue jetzt die Grünen an - die rot-grüne zuvor,
mit zahlreichen Gesetzen an die Grenze der Verfassung
gegangen ist,
({0})
und manchmal auch darüber hinaus.
({1})
- Das Luftsicherheitsgesetz hat ja wohl Rot-Grün hier
verabschiedet.
({2})
- Einmal ist aber nicht keinmal. Man muss schon zählen
können.
({3})
Richtig ist, dass das Bundesverfassungsgesetz die Regierung - egal wie die Mehrheitsverhältnisse aussahen aufgrund verfehlter Gesetzgebung hier und da auch in
die Schranken weisen musste.
Richtig ist auch, dass das neue IT-Grundrecht sich
nicht in der Schrankensetzung für heimliche Onlinedurchsuchungen erschöpft, sondern generell gilt.
Falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ist aber Ihre Schlussfolgerung.
({4})
- Die Linke. Entschuldigung, habe ich „die Grünen“ gesagt? Oh Gott.
({5})
- Davon träumst du nachts! - Entschuldigung, wenn ich
das einmal außerhalb des Protokolls sagen darf!
Auf einen furiosen Auftakt, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, folgt nichts. Eine Expertengruppe? Also wirklich! Wenn ich nicht mehr weiter
weiß, gründe ich einen Arbeitskreis.
({6})
Das kann doch wirklich nicht die Antwort sein. Die einzige verfassungsrechtlich richtige Antwort in unserer
parlamentarischen Demokratie ist doch, dass wir als Parlament diese Aufgabe wahrnehmen und unserem Auftrag nachkommen, verfassungsgemäße Gesetze zu beschließen. Ich kann doch meine Verantwortung nicht
outsourcen. Das wollen Sie aber tun. Das ist absolut undemokratisch.
({7})
Das ist aus unserer Sicht der falsche Weg.
Das Parlament als Vertreter des deutschen Volkes,
wir, die Abgeordneten, in freier, geheimer und gleicher
Wahl vom Volk gewählt, müssen verfassungsgemäße
Gesetze machen. Das können wir nicht jemand anderem
überlassen.
({8})
Wir müssen evaluieren, nicht irgendwelche demokratisch nicht legitimierten Gruppen und Grüppchen, die
nach Gusto von der Regierung zusammengesetzt werden. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
({9})
Natürlich gehört es auch zu einer ernsthaften Gesetzgebung, sich Expertenmeinungen anzuhören.
({10})
Dafür gibt es Anhörungen;
({11})
Sie können mit jedem sprechen und überall hinfahren.
Das ist überhaupt keine Frage. Auch ich bedaure zwar,
dass es im Moment oft genug Anhörungen gibt, die eigentlich überflüssig sind - das sehe ich sehr wohl -, weil
die sogenannte Große Koalition das Parlament oft genug
als Abnickgremium begreift;
({12})
aber das kann doch nicht zur Selbstentmachtung dieses
Parlamentes führen.
({13})
- Ich finde es falsch, dass Sie versuchen, Ihre Verantwortung, die Ihnen vom Wähler übertragen worden ist,
outzusourcen und jemand anderem zuzuschieben; so
kann man mit seiner eigenen Verantwortung nicht umgehen.
({14})
Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen ist richtig
und wichtig. Das fordern wir auch; wir teilen diese Meinung. Noch wichtiger wäre es doch, gar nicht erst fragwürdige Gesetze zu beschließen und so die Verantwortung für Grundrechtseingriffe auf später zu verschieben.
Wie gesagt: Wir sind das Parlament. Das hier ist kein
Laborversuch. Hier geht es nicht um Trial and Error,
auch wenn diese Woche oft genug versucht worden ist,
uns das weiszumachen. Wir sind die Gesetzgeber; wir
müssen die Verantwortung wahrnehmen. Das gilt auch
für das neue IT-Grundrecht. Dieses nur von einer Expertengruppe mit Leben füllen zu lassen, ist völlig falsch.
Das müssen wir tun. Das kann man nicht outsourcen.
Ich erinnere an Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes - ich
weiß nicht, ob Sie da einmal reingeschaut haben -:
({15})
Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als
unmittelbar geltendes Recht.
Das bedeutet doch: Bei allem staatlichen Handeln, bei
der Gesetzgebung ebenso wie beim Erlass von Verwaltungsakten und beim Urteilsspruch, müssen alle einschlägigen Grundrechte geprüft werden, auch das neue
IT-Grundrecht. Von einer Expertengruppe kann ich im
Grundgesetz jedenfalls nichts lesen.
({16})
Die FDP-Fraktion bekennt sich zur Verantwortung
des Deutschen Bundestages gegenüber unseren Wählerinnen und Wählern,
({17})
die ein Parlament gewählt haben, von dem sie zu Recht
erwarten, dass es verfassungsgemäße Gesetze beschließt. Die FDP-Fraktion bekennt sich zu einem starken Parlament, das in der Lage ist, all das zu gewährleisten. Deshalb brauchen wir keine Expertengruppe, die
ohne jegliche demokratische Legitimation eingesetzt
wird. Wir müssen den Kopf hinhalten und dürfen das
nicht irgendwelchen Expertengruppen überlassen. Wir
sind verantwortlich. Deshalb können wir diesen Antrag
nicht sehr wohlwollend begleiten.
({18})
Vielen Dank!
({19})
Das Wort hat der Kollege Frank Hofmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lieber Herr Korte, ich hätte
erwartet, dass die Linke den Antrag zurückzieht, nachdem wir Sozialdemokraten in der Koalition durchgesetzt
haben, dass wir uns erst nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage der Verankerung von
Onlinedurchsuchungen im BKA-Gesetz beschäftigen,
zumal wir die Vorgaben des ersten Verfassungsgerichtsurteils quasi buchstäblich in das BKA-Gesetz übernommen haben.
Ihr Antrag ist vom 25. April 2008. Das BKA-Gesetz
gilt seit dem 1. Januar 2009. Man hätte also Zeit gehabt,
den Antrag zurückzunehmen, statt ihn jetzt vorzulegen.
So muss Ihr Antrag zerlegt werden, ob von der CDU/
CSU, der FDP oder - das erwarte ich - von Herrn
Wieland. Das, was Sie schreiben, ist nämlich einfach
schwach. Sie betreiben hier Sandkastenspiele.
Das betrifft zum Beispiel Ihre Forderung nach einer
Evaluierung. Jeder bringt heute das Stichwort Evaluierung. Ich habe mich mit Wissenschaftlern oft genug darüber unterhalten, wie schwierig es ist, eine Evaluierung
durchzuführen. Es geht schon gar nicht, im Nachhinein
eine Evaluierung irgendwelcher Gesetze durchzuführen;
Frank Hofmann ({0})
man muss vorher die Indikatoren festlegen. Als der erste
Gesetzentwurf vorlag und wir gesagt haben, dass wir einen unabhängigen, von uns bestimmten Wissenschaftler
benötigen, der sich mit der Evaluierung beschäftigt, hat
das Innenministerium wohlweislich gleich eine entsprechende Stelle ausgeschrieben; denn der Wissenschaftler
muss die Entstehung des Gesetzes von Anfang an begleiten, er muss Indikatoren entwickeln und festlegen, wie
die Evaluierung durchgeführt werden soll. Man kann mit
der Evaluierung nicht erst im Nachhinein beginnen; das
kann man nur fordern, wenn man keine Ahnung hat.
({1})
- Nein, Sie müssen vorher die Indikatoren festlegen. Die
Polizeibeamten müssen wissen, was sie überhaupt aufschreiben, was sie statistisch erfassen sollen. Ansonsten
fällt es weg; es kann nicht anders funktionieren.
Hinsichtlich der Kritik, die Sie an diesem Staat üben,
sage ich: Bitte zeigen Sie mir ein Beispiel aus einem
westlichen Rechtsstaat, wo derartige Hürden für die
Exekutive aufgebaut wurden und so weitgehende Transparenz gesetzlich fixiert wurde, wie wir es beim BKAGesetz gemacht haben.
({2})
- Bitte zeigen Sie mir trotzdem erst einmal diesen westlichen Rechtsstaat. Das, was Sie jetzt machen, ist reine
Theorie. Sie sagen: Es muss immer noch etwas besser
gehen.
({3})
- Ja, wir geben uns alle Mühe; wir wollen noch besser
sein.
In Ihrer Antragsbegründung begeben Sie sich auf eine
hohe moralische Position. Ich wünschte mir, dass diese
durchgängig in der Partei Die Linke vorhanden wäre. Ich
habe heute Mittag bei der Aktuellen Stunde genau aufgepasst. Rund um den 1. Mai haben Sie aus meiner Sicht
etwas anderes gezeigt.
({4})
Ich will es wiederholen: Der Anmelder für die Demonstration zum 1. Mai ist Bezirksverordneter der Linken. Er
ist keine Kooperation mit der Polizei eingegangen, obwohl öffentlich bekannt war, dass Demonstrationsteilnehmer auf Gewalt aus waren. Der Anmelder aber hat
nichts unternommen, um sich davon zu distanzieren oder
zu einer gewaltlosen Demonstration aufzurufen.
({5})
- Jetzt rede ich, nicht Herr Edathy.
Die Linke in Berlin und im Deutschen Bundestag
hätte sich distanzieren können, zum Beispiel mit einem
offenen Aufruf, dass sie Gewalt gegen Polizeibeamte ablehnt. Hier haben Sie geschwiegen.
({6})
Das, was Frau Lötzsch von den Linken im Nachhinein
heute in der Aktuellen Stunde abgeliefert hat, genügt
dem nicht. Das ist eine Verschlimmbesserung.
({7})
Vor diesem Hintergrund möchte ich sagen: Die Fraktion Die Linke faselt im Deutschen Bundestag von einem Moratorium, und Sie tun so, als ob Sie die Verteidiger der Freiheit wären. Tatsächlich wird die Freiheit
gerade aus den Reihen Ihrer Partei mit Füßen getreten.
Das ist nur schwer auszuhalten.
({8})
Herr Korte, was tun Sie in einer Partei, die ein ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt hat?
Der Antrag der Linken zum Moratorium für Sicherheitsgesetze, mit dem wir uns heute beschäftigen, ist das
Papier nicht wert, auf dem er steht. Meine Fraktion hat
erfolgreich gegenüber dem Innenminister darauf gedrungen, mit der Verabschiedung einer Novelle des BKAGesetzes, die Onlinedurchsuchungen erlaubt, auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu warten.
Ich will Ihnen sagen: Wir haben im Bereich der Sicherheit Standards entwickelt. Dazu zählen die Evaluation, die Befristung von Gesetzen - das ist nicht immer
so, wie ich es mir wünsche; aber es zählt dazu - und die
Rechtswegegarantie, auf die wir bei allen heimlichen
Eingriffen großen Wert legen. Das haben wir in der gesamten Zeit, seitdem ich dies im Innenausschuss vertrete, immer durchgesetzt. Ich denke, wir haben damit
einen Standard erreicht, den Sie noch nicht erreicht haben. Wir erleben nämlich, dass Sie im Zusammenhang
mit Ihrem Antrag Nachhilfestunden von allen Seiten bekommen. Ich hoffe, dass Sie jetzt endlich einmal einsehen, wie es im Bereich der inneren Sicherheit aussieht
und welche Politik man da machen kann und welche Politik gemacht wird.
Es mag sein, dass wir nicht immer alles richtig machen. Ich denke aber, dass wir gute Standards haben. Wir
versuchen, möglichst geringe Eingriffe vorzunehmen,
und lassen sie nur bei den schwerwiegendsten Rechtsgütern zu. Auch anhand dessen - das wissen Sie eigentlich -, wie im Innenausschuss darüber diskutiert wird
und wie vorsichtig wir damit umgehen, zeigt sich, dass
wir nicht mit dem großen Hammer ausholen, um für Sicherheit zu sorgen, sondern dass wir das Spannungsfeld
zwischen Sicherheit und Freiheit immer wieder betrachten und, wie ich glaube, sorgfältig damit umgehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Frank Hofmann ({9})
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Wolfgang Wieland.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Jan Korte - Genosse Jan Korte! Sie empfehlen
mir ja immer, einen festen Klassenstandpunkt einzunehmen.
({0})
- Ja, das ist seine ständige Empfehlung.
Aber egal, vom Standpunkt welcher Klasse aus ich
diesen Antrag auch betrachte: Er ist und bleibt grober
Unsinn.
({1})
- Ja, das war klasse, aber kein Klassenstandpunkt.
({2})
Den aber fordert Herr Korte - so tuend, als wüsste er,
was das ist - immer bei mir ein.
Jetzt aber im Ernst, mein lieber Herr Korte ({3})
auch die Kollegen Brandt und Hofmann haben ja ernsthaft über Ihren Antrag referiert -: Es lag an Ihnen, dass
Ihr Antrag ein Jahr lang nicht aufgesetzt wurde, wie man
so schön sagt. Wenn es Ihnen ernst gewesen wäre, hätten
Sie das tun müssen.
({4})
Selbst wenn dieser Antrag angenommen würde, würde
zwangsweise ein Moratorium entstehen, weil die Wahlperiode zu Ende ist. Damit liegt es an der Wählerin und
am Wähler, ein ganz großes Moratorium herbeizuführen,
nämlich die Ablösung dieser Bundesregierung,
({5})
insbesondere die Ablösung des Bundesinnenministers,
der uns viele der Probleme, von denen in Ihrem Antrag
die Rede ist, beschert hat.
Die Chance, über eine tatsächliche Verbesserung der
Evaluierung nachzudenken, hat der Kollege Hofmann
genutzt. Für eine Verbesserung der Evaluierung zu sorgen, wird in Zukunft unsere Aufgabe sein. Sie hingegen
haben Zeit verplempert. Das war eine Auszeit für das
Parlament, also eine Auszeit für uns alle. Es fehlt nur
noch, dass Sie fordern, die CDU/CSU-Fraktion solle für
das, was sie angerichtet hat, Buße tun.
({6})
Schließlich fordern Sie, eine Kommission einzusetzen - aber ganz ohne Befristung. Diese Kommission
könnte so ein Jahr oder zwei Jahre tagen. In dieser Zeit
sollte der Gesetzgeber nichts tun. Obwohl eigentlich jeder von uns schon jetzt weiß, zu welchem Ergebnis eine
solche Kommission unter den jetzigen Voraussetzungen
kommen würde, erwarten Sie, dass diese Kommission zu
dem Ergebnis kommt, dass die Gesetzgebung in Zukunft
auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden muss.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wir sind der Deutsche
Bundestag und nicht der Quatsch Comedy Club.
Mehr fällt mir dazu nicht ein.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8981 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Gewerberecht und in weiteren Rechtsvorschriften
- Drucksache 16/12784 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Lena
Strothmann für die Unionsfraktion, Doris Barnett für die
SPD-Fraktion, Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion,
Ulla Lötzer für die Fraktion Die Linke und Dr. Thea
Dückert für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir begannen in den Jahren 2004 und 2005 mit der
Debatte um die Dienstleistungsrichtlinie. Einige empfanden diese Richtlinie als größte Bedrohung des wirtschaftlichen Gefüges in Europa und in Deutschland. Heute wissen wir, wo die eigentlichen Gefahren liegen. Nach wie
vor ist es auch im Hinblick auf die Finanzkrise richtig:
Die Öffnung der europäischen Dienstleistungsmärkte
bietet große Chancen für mehr Wachstum und mehr Arbeit in Deutschland. Die deutsche Dienstleistungsbranche, zu der zum Beispiel das Handwerk und die freien Berufe gehören, ist im Vergleich mit unseren europäischen
Nachbarn modern und leistungsfähig. Unser Anspruch
war und ist, dass wir nach dem Vorbild des Exportweltmeisters - diesen Titel haben wir trotz der chinesischen
Konkurrenz erneut sichern können - auch einen Spitzenplatz beim Handel mit Dienstleistungen einnehmen.
Dennoch, die damals vorgetragenen Sorgen wurden zu
Recht ernst genommen und wurden in dem geänderten
Vorschlag und letztendlich auch im Beschluss berücksichtigt: Ich erinnere daran: Unser Arbeitsrecht, Sozialrecht und Anerkennung der Berufsqualifikation und die
zugrunde liegenden Standards bleiben von der Dienstleistungsrichtlinie unberührt. Die Entsenderichtlinie - in
der deutschen Umsetzung das Entsendegesetz als Schutz
vor ausländischen Dumpinglöhnen - bleibt unbehelligt.
Vor allem bleiben unsere Behörden die Kontrollinstanz
für die ausländischen Dienstleister. Der gesamte Gesundheitsbereich bleibt ausgeklammert, und Steuern und das
internationale Privatrecht sind ausgenommen.
In den vergangenen Monaten hat sich auch gezeigt,
dass viele der Befürchtungen nicht eingetreten sind.
Konnten wir vor zwei oder drei Jahren ahnen, dass zum
Beispiel im Grenzbereich zu Polen deutsche Handwerker
nicht allein mit Qualität überzeugen, sondern auch bei
den Preisen konkurrenzfähig sind und verstärkt für Aufträge in Polen den Zuschlag erhalten? Dass auch der umgekehrte Weg möglich ist, steht außer Frage. Um es noch
einmal klarzustellen: Es ist nicht Aufgabe der DLR, unser
bewährtes Qualifikationssystem, Standards und Genehmigungspflichten auszuhöhlen. Es geht vielmehr darum,
die ungerechtfertigten Hürden abzubauen.
Die Dienstleistungsfreiheit ist ein europäisches Grundprinzip. Dienstleistungen haben an unserem Bruttoinlandsprodukt immer noch den hohen Anteil von knapp
70 Prozent, der grenzüberschreitende Handel ist aber immer noch gering. Ein Grund dafür waren sicherlich die
hohen Hürden, die die einzelnen Mitgliedstaaten errichtet haben. Ein weiteres Problem bzw. Ärgernis ist aus
Sicht der Dienstleister, zunächst einmal herauszufinden,
welche Vorschriften es im Ausland überhaupt gibt. Diese
beiden Punkte, die Kenntnis über die Genehmigungspflichten und die Schwierigkeiten, diese Hürden zu überwinden, sind in der Dienstleistungsrichtlinie geregelt.
Die Mitgliedstaaten und somit auch Deutschland hatten also zwei große Aufgaben zu bewältigen, um die nationale Umsetzung vorzubereiten. Erstens: Dienstleister
sollen zukünftig bei einer einzigen Stelle alle Fragen beantwortet bekommen. Diese einheitliche Stelle als zentraler Anlaufpunkt ist in Deutschland bereits im Verwaltungsverfahrensgesetz geregelt worden und kann nun
durch diesen Gesetzentwurf auch für das Gewerberecht
etc. angewendet werden, übrigens: nicht nur im Rahmen
der Dienstleistungsrichtlinie, sondern auch darüber hinaus. Die Gestaltung der einheitlichen Stelle als sogenannter Einheitlicher Ansprechpartner obliegt in
Deutschland der Zuständigkeit der Bundesländer. Mehrere Modelle wurden lange und mit viel Vehemenz diskutiert: Sind die Kommunen der geborene EAP, da die Genehmigungen eh hier gegeben werden? Wären die
Kammern nicht doch besser geeignet, da sie tagtäglich
mit Existenzgründungen und den Anforderungen an
Dienstleister zu tun haben? Bietet sich nicht gerade wegen dieser Gründe ein Mischmodell zwischen diesen beiden an? Oder muss gar eine gänzlich neue Behörde geschaffen werden? Die Bundesländer haben mit allen
Beteiligten beraten und verhandelt. Die meisten Länder
haben nun Festlegungen getroffen, und es spiegelt sich in
der Anzahl der Varianten mit aller Deutlichkeit unser föderales System wider. Dennoch: Auch wenn es diese unterschiedlichen Festlegungen für die Bundesländer gibt,
muss für den ausländischen Dienstleister - wie auch für
den deutschen, der diese Stelle selbstverständlich nutzen
darf - das Angebot gleich sein. Es gilt: Alle Anliegen rund
um die Dienstleistungserbringung in Deutschland werden dort bearbeitet. Dieses Prinzip eines „One-StopShop“ ist unbestritten ein richtiger und auch ein in vielen
Kammern bereits bewährter Ansatz, um eine serviceorientierte Verwaltung zu schaffen.
Die zweite Hauptaufgabe nach Verabschiedung der
Richtlinie bestand in der Überprüfung der nationalen Gesetzgebung auf mit der Richtlinie unvereinbare Hindernisse. Dies ist die sogenannte und viel zitierte Normenprüfung. In einem enormen Kraftakt wurde ein Verfahren
entwickelt, die Gesetze und Vorschriften mittels eines
ausgeklügelten Onlinefragebogens vom Geltungsbereich
auszuschließen oder sie auf die Konformität hin zu überprüfen, das heißt die unzulässigen Einzelnormen herauszufiltern. Dieses neuartige und neu entwickelte Prüfraster musste anschließend noch IT-technisch umgesetzt
werden. Diese Herausforderung hatte Bayern übernommen, und sie wurde hervorragend gelöst.
Nach den technischen Vorbereitungen ging es an die
Normenprüfung. Hier galt der Grundsatz, dass Bund und
Länder, Kammern und Kommunen für die Prüfung in ihrem Zuständigkeitsbereich jeweils selbst verantwortlich
waren. Das Ergebnis der Normenprüfung zeigte jeweils
an, ob eine Anpassung erforderlich war. Ergab sich, dass
die gestellten Anforderungen an einen Dienstleister richtlinienkonform sind, ist keine Änderung notwendig. Ergab
sich jedoch hier ein Widerspruch zur Richtlinie, muss das
nationale Gesetz geändert werden. Dazu werden das
übergeordnete Gewerberecht und einige andere Gesetze
geändert. Diese Änderungen sind im nun vorgelegten Gesetzentwurf zusammengefasst. Zentrale Punkte sind hierbei: die Umsetzung der Dienstleistungsfreiheit durch den
Wegfall von einigen bisher notwendigen Erlaubnissen
und Genehmigungen; die Genehmigungsfiktion, welche
bedeutet, dass der Antrag eines Dienstleisters nach einer
angemessenen Frist automatisch als genehmigt gilt. Allerdings ersetzt diese automatische Zustimmung nicht den
eventuell notwendigen Nachweis einer bestimmten Qualifikation bzw. eines Abschlusses.
Die Beteiligten werden in den nächsten Wochen ausreichend Gelegenheit haben, diesen Gesetzentwurf zu bewerten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vor fast dreieinhalb Jahren ist durch die Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union die EUDienstleistungsrichtlinie in Kraft getreten mit der Maßgabe, dass die Mitgliedstaaten sie bis zum 28. Dezember
2009 in nationales Recht umzusetzen haben. Der Verabschiedung dieser Richtlinie war eine heftige Diskussion
im Europäischen Parlament, in den Nationalparlamenten, mit der Kommission und im EU-Ministerrat vorausgegangen, wie weit die Dienstleistungsrichtlinie in nationales Recht eingreifen darf oder dieses sogar aushebeln
dürfe. Ob eine Inländerbenachteiligung gewollt in Kauf
genommen werden dürfe - auch das war und ist noch ein
Thema. Die Furcht, dass über diese Regelung nationale
Schutzrechte geschleift werden, haben die Gewerkschaften in ganz Europa aufgebracht und zu Demonstrationen
gegen diese Richtlinie bis nach Straßburg geführt. Dass
die Bedenken und Ängste bei den Volksentscheiden über
den Lissabon-Vertrag eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, will ich hier gar nicht verschweigen. Und
ich werte das Abstimmungsverhalten auch nicht als ein
solches, das sich gegen unser europäisches Projekt wendet, sondern als einen massiven Hinweis aus der Bevölkerung und der Arbeitnehmerschaft, besonders soziale
Anliegen ernst zu nehmen.
Es ist der sozialdemokratischen Seite im Europäischen
Parlament und den Nationalparlamenten in der Tat gelungen, das Herkunftslandprinzip sowie die Anzahl der
Dienstleistungen, die der Richtlinie unterfallen, in erheblichem Maße zu begrenzen. Art. 2 führt abschließend auf,
um welche Bereiche es sich dabei handelt ({0}). Dass wir dabei nicht alle unsere Vorstellungen und Forderungen umsetzen konnten, ist allerdings keine neue Erfahrung.
Die Niederlassungsfreiheit wird gemäß Art. 43 des
Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
gewährleistet und Art. 49 des Vertrags regelt den freien
Dienstleistungsverkehr. Allerdings gab es bisher nationalstaatliche Beschränkungen für die Entwicklung von
Dienstleistungstätigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten.
Die Europäische Kommission gibt als Begründung für die
Beseitigung von derartigen Beschränkungen, die durch
die Dienstleistungsrichtlinie erfolgen soll, auch an, dass
damit die Ziele „ein stärkeres Zusammenwachsen der
Völker Europas“ und „die Förderung eines ausgewogenen und nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts“ verfolgt werden. Beide Adressaten, also Kapital
und Arbeit, sind gleichwertig und sollten deshalb auch
nicht gegeneinander ausgespielt werden. Bei der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie haben wir diese Vorgabe im Focus.
Der vorliegende Gesetzentwurf berücksichtigt die Ergebnisse der vorgegebenen Überprüfung unseres dienstleistungsrelevanten Rechts im Rahmen der Normenprüfung. Im Bund ist sie bereits abgeschlossen; in den
Ländern und Kommunen befindet sie sich noch im Gange.
Das hat seinen Grund in den komplexen Strukturen unseres föderalen Aufbaus, der zu einem großen Aufwand
führt und einen erheblichen Koordinierungs- und Abstimmungsbedarf zwischen allen drei Ebenen erfordert.
Schließlich sind bis hin zur Friedhofssatzung alle Rechtsetzungsakte auf ihre Dienstleistungsrichtlinie-Tauglichkeit hin zu überprüfen.
Heute geht es vornehmlich um das Gewerberecht und
seine Anpassung. Art. 16 der Richtlinie verlangt, dass die
freie Ausübung und die freie Aufnahme von Dienstleistungstätigkeiten in den einzelnen Mitgliedstaaten nur
noch dann von Genehmigungen abhängig gemacht werden dürfen, wenn die öffentliche Ordnung, die öffentliche
Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder der Schutz der
Umwelt dies rechtfertigen. Diese vier Rechtfertigungsgründe sind durchschlagend, bedeuten sie doch für etliche Vorschriften der Gewerbeordnung, dass sie nicht
mehr angewandt werden dürfen, also aufzuheben sind. Im
Rahmen der Gleichbehandlung können wir für die einheimischen Dienstleister ja keine strengeren Vorschriften
beibehalten. Art. 1 § 4 des vorliegenden Gesetzes überträgt also Art. 16 der Richtlinie und bestimmt, welche
Vorschriften der Gewerbeordnung keine Anwendung
mehr finden, und baut somit die Hürden für den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr ab.
Ein weiterer zentraler Punkt der Dienstleistungsrichtlinie ist die Schaffung der sogenannten Einheitlichen
Ansprechpartner. Hier hat der Bundesgesetzgeber hauptsächlich eine flankierende Rolle; es waren die notwendigen Anpassungen im Verwaltungsverfahrensgesetz vorzunehmen. Am 18. Dezember 2008 wurde mit dem Vierten
Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher
Vorschriften den zentralen verfahrensrechtlichen Vorgaben der Richtlinie Rechnung getragen. Über den neuen
§ 6 b GewO findet er Eingang in das Gewerberecht.
Über den Einheitlichen Ansprechpartner, dessen Auskunft, Genehmigung usw. für den Dienstleistungserbringer maßgeblich für das ganze Bundesgebiet ist, können
wir bei klugem Vorgehen die Verwaltungsstrukturen
vereinfachen, Bürokratie abbauen, den einheimischen
Dienstleistungserbringern zu Diensten sein und nicht zuletzt den Menschen im Lande eine umfängliche und bürgerfreundliche Verwaltung anbieten. Verfahren und Formalitäten können vereinfacht und beschleunigt werden.
Allerdings ist diese informationstechnologisch basierte
Plattform sicherlich nicht sofort perfekt, weil ja jedes
Bundesland über den IT-Erbringer ({1}) entscheidet - es wird aber eine bundeseinheitliche Internetseite
geben. Sicherlich werden anfangs Probleme nicht vermeidbar sein an den Schnittstellen von einer Plattform
zur nächsten, und dies braucht nicht erst an der Landesgrenze von Bundesland zu Bundesland aufzutreten, auch
innerhalb eines Bundeslandes mit verschiedenen Einheitlichen Ansprechpartnern ({2}) kann es zu
Schnittstellenproblemen kommen. Aber es handelt sich
um ein sehr großes, sehr komplexes Projekt, das man sicherlich als lernendes System bezeichnen kann und wobei
wir hier auch etwas Geduld haben müssen. Endziel wird
die europäische Vernetzung sein, die es dann auch ermöglicht, Steuer- und Abgabenzahlungen sicherzustellen und
Missbrauch möglichst zu vermeiden. Darin sehe ich eine
große Chance für alle.
Zu Protokoll gegebene Reden
Art. 1 § 6 c regelt die Ermächtigung zur Umsetzung der
Informationspflichten der Dienstleistungsrichtlinie, die
in einer Rechtsverordnung erfolgt. Dadurch, dass sie zentral vom Bundeswirtschaftsminister erlassen wird, haben
sowohl Verbraucher als auch Dienstleistungserbringer
eine zentrale Stelle, was der Übersichtlichkeit dient und
letztendlich die anderen Ressorts und auch die Länder
entlastet. Die Dienstleistungsrichtlinie sieht in ihrem
Art. 22 derzeit zwar keinerlei Informationspflichten vor
gegenüber der dritten beteiligten Seite, dem Arbeitnehmer, der die Dienstleistung in einem anderen als seinem
Herkunftsland erbringt - zum Beispiel über Arbeitsschutz, Mindestlohn etc. Aber ich bin sicher, dass diese
Informationspflicht - sollte sich ihr Fehlen als Manko erweisen - nachgeholt wird. Denn nicht nur soll die Richtlinie auch dem sozialen Fortschritt dienen, sie sieht auch
vor, dass die Kommission dem Europäischen Parlament
und dem Rat am 28. Dezember 2011 und danach alle drei
Jahre einen Bericht über die Anwendung der Richtlinie
vorlegt, Art. 41.
In der Praxis werden sich auch der neu formulierte
§ 36 GewO und die vom Bundeswirtschaftsministerium
zu erlassende Durchführungsverordnung über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, besonders aber die
öffentliche Bestellung von Sachverständigen, beweisen
müssen. Schließlich haben wir hierzulande ein sehr differenziertes und fachlich ausgefeiltes System der Qualitätssicherung entwickelt als Grundlage der fachlichen Bestellung. Diese hohen Anforderungen können wir nicht
einfach „herunterschleifen“, weil sie ja gerade für unser
Rechtswesen und damit für die Verbraucher, die Wirtschaft und die Justiz - also für den Rechtsfrieden - von
größter Bedeutung sind. Auch bei der Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie sollten die Grundlagen nationaler Gesetzgebung nicht ohne Berücksichtigung bleiben.
Ich wünsche mir, dass wir die Dienstleistungsrichtlinie
nicht mehr als eine Bedrohung behandeln, sondern als
eine Chance für die Stärkung unseres Wirtschaftsstandorts begreifen. Dabei ist klar, dass es mit der Verabschiedung dieses Gesetzes, das ja jetzt erst in die Beratung
geht, nicht getan ist; seine tägliche Anwendung bedarf einer kritischen und konstruktiven Begleitung.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im
europäischen Binnenmarkt umgesetzt werden. In der Gewerbe- und der Handwerksordnung sowie der Wirtschaftsprüferordnung und dem Signaturgesetz werden
Änderungen vorgenommen, die den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr erleichtern sollen.
Das Ziel der Dienstleistungsrichtlinie ist es, Fortschritte im Hinblick auf einen freien Binnenmarkt für
Dienstleistungen zu erreichen. Im größten Sektor der
europäischen Wirtschaft sollen sowohl die Unternehmen
als auch die Verbraucher den vollen Nutzen aus den Möglichkeiten des Binnenmarkts ziehen. Zur Erreichung dieses Ziels sieht die Dienstleistungsrichtlinie insbesondere
die Vereinfachung von Verwaltungsverfahren und den Abbau von Hindernissen für die Erbringung von Dienstleistungen vor. In diesem Rahmen haben die Mitgliedstaaten
die Richtlinienkonformität aller Rechtsvorschriften kritisch zu prüfen, die die Aufnahme oder Ausübung von
Dienstleistungsaktivitäten einschränkend regeln. Dieser
Ansatz ist grundsätzlich zu begrüßen.
Auch sollen mit Einzelregelungen im Hinblick auf den
Bürokratieabbau Fortschritte erzielt werden. Die Bundesregierung geht dabei von einem Einsparvolumen von
gut 500 000 Euro bei den Informationspflichten aus. Ob
tatsächlich die geschätzten 518 000 Euro erreicht werden, bleibt abzuwarten. Zudem ist auch dieses Einsparvolumen, wenngleich es immerhin eine halbe Million Euro
erreicht, angesichts der gesamten Kosten für Informationspflichten von knapp 48 Milliarden Euro nur ein
„Tropfen auf den heißen Stein“. Die Umsetzung der
Dienstleistungsrichtlinie hätte insgesamt für einen massiven Bürokratieabbau genutzt werden können. Statt sich
bei der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Gewerberecht mit Einsparungen von nur gut einer halben
Million Euro zu begnügen, hätte die Bundesregierung einen großen Wurf bei der Umsetzung dieser Richtlinie erreichen können. Doch wurde erneut die Chance zum
Bürokratieabbau verspielt. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie hätte die Chance geboten, insbesondere kleine und
mittlere Unternehmen massiv zu entlasten. Dies wäre
auch im Bereich der Gewerbeordnung möglich gewesen,
vor allen Dingen aber in dem wichtigen Bereich eines
einheitlichen Ansprechpartners, der ebenfalls von der
Dienstleistungsrichtlinie gefordert wird.
Trotz des grundsätzlich richtigen Ansatzes, den einheitlichen Dienstleistungsmarkt in der EU voranzubringen, enthält das Umsetzungsgesetz jedoch eine Reihe von
Regelungen, die insbesondere für inländische Unternehmen zu erschwerten Wettbewerbsbedingungen führen
können. Die neuen Regelungen im Gewerberecht finden
nicht nur in den klassischen Bereichen der Dienstleistungsfreiheit Anwendung, das heißt im Bereich einer
kurzfristigen oder gelegentlichen Dienstleistungserbringung, sondern auch dann, wenn ein Gewerbetreibender
aus einem anderen EU-Staat sich im Inland niederlässt.
Einziges einschränkendes Merkmal ist dann, dass diese
Niederlassung nicht eine „feste Infrastruktur“ sein darf.
In der Begründung zum Gesetzentwurf legt die Bundesregierung dar, warum eine Beschränkung nicht auf
nur vorübergehende und gelegentliche Dienstleistungen
in Deutschland vorgenommen wird. Die Bundesregierung
erklärt in der Begründung, dass eine Beschränkung auf
nur kurzfristige oder gelegentliche Dienstleistungen nur
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen
Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes
der Umwelt gerechtfertigt sei. Im Hinblick auf die Änderungen stellt die Bundesregierung schlicht fest:
Für die Gewerbeanzeige und weitere Anforderungen der Gewerbeordnung sowie für die meisten der
in der Gewerbeordnung geregelten Erlaubnisse, soweit diese der Dienstleistungsrichtlinie unterfallen,
ist eine Rechtfertigung anhand der genannten vier
Rechtfertigungsgründe nicht möglich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Eine Begründung dafür, warum dies nicht möglich sein
soll, fehlt aber und lässt sich deshalb auch nicht nachvollziehen.
Es stellt sich deshalb die Frage, warum die Bundesregierung im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie die
für die Gewerbeordnung erforderliche Normenprüfung
allzu restriktiv durchgeführt hat. Eine sehr viel weitergehende Entlastung von bürokratischen Pflichten, eine
„Lichtung“ des Normendschungels im Bereich der Gewerbeordnung, hätte hier seitens der Bundesregierung
erfolgen können und müssen. Dies gilt grundsätzlich
auch für die Nichtanwendbarkeit der Genehmigungspflichten für Gewerbetreibende aus dem EU-Ausland.
Das Umsetzungsgesetz zur Dienstleistungsrichtlinie
erleichtert die Gewerbeausübung für aus dem EU-Ausland kommende Gewerbetreibende. Im Rahmen des
einheitlichen Binnenmarktes ist auch diese Regelung
grundsätzlich zu begrüßen. Für Unternehmerinnen und
Unternehmer, die zur Ausübung des Pfandleihgewerbes,
des Versteigerergewerbes, des Maklergewerbes, des Gewerbes der Bauträger und Baubetreuer sowie des Reisegewerbes unter Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit in Deutschland tätig werden, gelten bestimmte
Genehmigungspflichten der Gewerbeordnung künftig
nicht mehr.
Diese Umsetzung wird durch die Bundesregierung damit begründet, dass nach Art. 16 der Dienstleistungsrichtlinie Genehmigungen und sonstige Anforderungen
an Dienstleistungserbringer nur aufrechterhalten werden
dürfen, soweit dies aus den genannten Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der
öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt
gerechtfertigt sei. Bei den genannten gewerblichen Tätigkeiten sei eine solche Rechtfertigung nicht möglich, sodass die Genehmigungsvorbehalte keine Anwendung finden könnten, wenn Gewerbetreibende aus dem EU-Ausland in Deutschland tätig würden.
Für inländische Unternehmerinnen und Unternehmer
gilt diese Regelung jedoch nicht. Gerade für deutsche
Unternehmerinnen und Unternehmer, die in den genannten Bereichen tätig werden wollen, bleibt auch zukünftig
der Genehmigungsvorbehalt bestehen. Die Bundesregierung muss sich aber entscheiden, ob sie eine Tätigkeit
deshalb unter den Vorbehalt einer Genehmigung stellt,
weil von dieser Tätigkeit besondere Gefahren ausgehen
können oder eine besondere Sachkunde von Nöten ist,
oder ob die Tätigkeit genehmigungsfrei sein kann. Wenn
die Gewerbeausübung für Unternehmen aus dem EUAusland genehmigungsfrei ist, dann muss sie dies auch
für die Unternehmerinnen und Unternehmer aus
Deutschland sein. Andernfalls liegt eine nicht hinnehmbare Inländerdiskriminierung vor. Letzteres lässt sich mit
Blick auf das Versteigerergewerbe zum Beispiel auch daran festmachen, dass inländische Gewerbetreibende den
Verbotsnormen des § 34 b Abs. 6 GewO unterliegen. So
ist es Inländern zum Beispiel verboten, „ungebrauchte
Ware“ zu versteigern, wogegen diese Einschränkung für
Gewerbetreibende aus dem EU-Ausland bei grenzüberschreitender Dienstleistungserbringung keine Anwendung finden soll. Hier drohen den im Inland ansässigen
Versteigerern erhebliche Wettbewerbsnachteile. Ich fordere die Bundesregierung auf, diese Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern und den Gesetzentwurf an diesen
Stellen deutlich nachzubessern.
Die Bundesregierung will mit der Umsetzung der
EU-Dienstleistungsrichtlinie den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr sowohl innerhalb der EU als
auch zwischen EU-Mitgliedstaaten und Angehörigen der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erleichtern. Die
Bundesregierung selbst spricht in der Begründung des
Gesetzentwurfs von großen Chancen auch für deutsche
Unternehmerinnen und Unternehmer, sich im europäischen Ausland zu engagieren. Wenngleich der Wettbewerb sich zwar verstärken würde, würden doch die Chancen für Handwerker in den Grenzregionen überwiegen.
Tatsächlich aber werden viele Regelungen die Wettbewerbsbedingungen für inländische Unternehmen verschlechtern und Gewerbetreibende aus Deutschland gegenüber ihren Mitbewerbern diskriminieren.
Zudem sieht die zwischenstaatliche Realität in etlichen
Bereichen hinsichtlich der Dienstleistungsfreiheit leider
anders aus. Auf meine Frage, wie die Bundesregierung
gegen protektionistische Maßnahmen von europäischen
Nachbarländern reagieren wird, hat mir die Bundesregierung geantwortet, dass es „ab dem Jahr 2010 eine
Phase der gegenseitigen Evaluierung zwischen den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Normenprüfung
nach der europäischen Dienstleistungsrichtlinie“ geben
wird. Faktisch bestehen Marktzugangsbeschränkungen,
die deutsche Unternehmen betreffen, wenn sie zum Beispiel Bauleistungen in Frankreich erbringen oder als
Handwerker in der Schweiz tätig werden wollen. Hier
hätte die Bundesregierung aktiv werden und sich im Rat
dafür einsetzen müssen, dass deutsche Unternehmen
nicht länger benachteiligt werden. Erst dann kann auch
im Hinblick auf die Umsetzung der heute zur Debatte stehenden Richtlinie von einer Chancenerweiterung für
deutsche Unternehmen gesprochen werden. Ansonsten
schafft die Bundesregierung verbesserte Wettbewerbschancen für die ausländischen Mitbewerber in Deutschland, während durch Abschottungsmaßnahmen deutsche
Unternehmen aus den Nachbarländern faktisch herausgehalten werden.
Im parlamentarischen Verfahren muss deshalb an dieser Stelle nachgebessert werden. Ich fordere die Bundesregierung auf, tätig zu werden und sich in Europa dafür
einzusetzen, dass ein freier Dienstleistungsverkehr nicht
als „Einbahnstraße“ funktioniert.
Vorgestern haben SPD und DGB eine Erklärung für
ein soziales Europa verabschiedet. Dort ist in schönen,
hehren Worten zu lesen: „Soziale Grundrechte und Standards dürfen nicht durch Wettbewerb und Liberalisierung
im europäischen Binnenmarkt eingeschränkt werden.“
Heute kann ich Ihnen am vorliegenden Gesetzentwurf zur
Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie zeigen, dass die
Gewerkschaften sich damit keinen Gefallen getan haben.
Zuerst aber zum Grundsätzlichen. Die Linke hat als
einzige Partei im Deutschen Bundestag die DienstleisZu Protokoll gegebene Reden
tungsrichtlinie von Anfang an konsequent bekämpft und
gemeinsam mit den Gewerkschaften bestimmte Abschwächungen des Herkunftslandsprinzips durchsetzen können.
Allerdings dürfen auch jetzt Regeln für grenzüberschreitende Dienstleister nur dann weiter bestehen, wenn sie
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit, Gesundheit oder zum Schutz der Umwelt gerechtfertigt sind.
Regeln des Arbeitnehmer- oder Verbraucherschutzes
kommen unter den Bolkestein-Hammer!
Die Linke trat und tritt grundsätzlich dafür ein, dass
Dienstleistungen nach dem Recht des Landes erbracht
werden, in dem sie ausgeführt werden. Damit will die
Linke eine ungeschützte Lohnkonkurrenz, den Abbau von
Standards und eine Diskriminierung von Inländern verhindern. Es geht uns dabei nicht darum, wer die Dienstleistungen macht, sondern unter welchen Bedingungen!
Wir haben diese Position über die komplette Legislaturperiode hin vertreten bis hin zum letzten Fall, der Aufhebung der Tariftreue in der öffentlichen Auftragsvergabe durch das Rüffert-Urteil. Immer wieder hörte ich
von meinen sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen dann das öffentliche Lippenbekenntnis zu einem sozialen Europa und musste am nächsten Tag in den Gesetzen lesen, dass sie darauf keinen Pfifferling geben und
sehr wohl die Bewegungsfreiheit des Kapitals über Umwelt-, Sozial- oder Verbraucherrechte setzen. Ich zitiere
dazu den entscheidenden Satz aus dem Gesetzentwurf:
„Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie führt teilweise zu einer unterschiedlichen Behandlung von im Inland niedergelassenen Dienstleistern und aus anderen
EU-Staaten grenzüberschreitend tätigen Dienstleistern.
Dies ist jedoch dadurch gerechtfertigt, dass der grenzüberschreitend tätige Dienstleister bereits die Anforderungen seines Niederlassungsstaates erfüllt.“ Mit dieser
fadenscheinigen Begründung erklären Sie heute wesentliche Elemente des Gewerberechts für ungültig, und zwar
nicht für in Deutschland niedergelassene Unternehmen,
sondern für Dienstleister, die von einer Niederlassung im
EU-Ausland aus agieren. Damit gelten für Wettbewerber
an einem Ort unterschiedliche Normen. Das ist Wettbewerbsverzerrung. Wo bleibt denn da die viel besungene
Marktwirtschaft? Wo bleibt denn da die viel besungene
Rechtssicherheit? Und wo bleiben die Grundrechte und
Standards, für die sich die SPD einsetzen will?
Damit aber nicht genug. Der gesamte Prozess des Normenscreenings wurde durch die Bundesregierung in
keinster Weise transparent gestaltet. Wir werden jetzt im
Gesetzentwurf mit der absoluten Nullaussage konfrontiert, dass für bestimmte Anforderungen aus der Gewerbeordnung und vor allem auch für die Gewerbeanzeige
keine Rechtfertigungsgründe nach der Dienstleistungsrichtlinie vorliegen. Weder für die Opposition noch für
die Betroffenen und schon gar nicht für den Bürger ist
nachzuvollziehen, warum gesetzliche Regelungen, die
über Jahre als sinnvoll erachtet wurden und auch weiterhin für hier niedergelassene Unternehmen gelten, jetzt für
grenzüberschreitende Dienstleister - seien es Makler,
Pfandleiher oder Bauträger - nicht mehr gelten sollen.
Ihre Begründung, dass diese bereits irgendwelche Anforderungen in ihrem Heimatland erfüllen mussten, ist
nichts anderes als eine Kapitulation des Rechtsstaates
vor der neoliberalen Deregulierungswut. Wo wurden
denn in der EU in den letzten Jahren Sicherheits- oder
Gesundheitsstandards bei der Dienstleistungserbringung
harmonisiert, worauf stützen Sie denn diese Annahme?
Darauf geben Sie keine Antwort, sondern nutzen den
Brüsseler Blankoscheck! Ergebnis sind kafkaeske Begründungsformulierungen und in der Realität eine unerträgliche Diskriminierung von inländischen Gewerbetreibenden. Das kritisieren nicht nur wir, sondern sogar
einer der schärfsten Befürworter der Dienstleistungsrichtlinie, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag; er erklärt so gut wie jede Ihrer Regelungen als praxisuntauglich.
Unser dritter Kritikpunkt bezieht sich schließlich darauf, was Sie als grenzüberschreitende Dienstleistung definieren: Sie machen sich gar nicht mehr die Mühe, zwischen einer grenzüberschreitenden Dienstleistung und
einer Niederlassung in der Bundesrepublik zu unterscheiden. Damit weiten Sie die Grauzone aus, statt sie zu begrenzen.
Die Linke lehnt diesen Gesetzentwurf ab und besteht
auf ihrem parlamentarischen Recht, über das Normenscreening der Bundesregierung informiert zu werden,
bevor weitere sinnvolle und wichtige Regelungen unter
den Bolkestein-Hammer kommen. Ich fordere weiter den
Arbeitsminister auf, sich in das Umsetzungsverfahren
einzuschalten und die deutschen Gewerkschaften an der
Umsetzung zu beteiligen. Machen Sie endlich ernst mit
Ihren hohlen Phrasen und bereiten Sie nicht jetzt schon
den nächsten Wahlbetrug vor.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in deutsches Gewerberecht ist die Konsequenz verfehlter Politik seitens
der Großen Koalition auf europäischer Ebene. Die zentrale Schwachstelle der europäischen Dienstleistungsrichtlinie ist das Herkunftslandprinzip. Dies wurde von
der Bundesregierung durchaus erkannt. In ihrem Koalitionsvertrag hat die Koalition zur Dienstleistungsrichtlinie festgehalten:
Das Herkunftslandprinzip in der bisherigen Ausgestaltung führt uns nicht in geeigneter Weise zu diesem Ziel. Deshalb muss die Dienstleistungsrichtlinie überarbeitet werden. Wir werden ihr auf
europäischer Ebene nur zustimmen, wenn sie sozial
ausgewogen ist, jedem Bürger den Zugang zu öffentlichen Gütern hoher Qualität zu angemessenen
Preisen sichert und Verstöße gegen die Ordnung
auf dem Arbeitsmarkt nicht zulässt.
Leider folgten dieser Erkenntnis keine Taten. Die
Richtlinie wurde mit der Stimme der Bundesregierung
verabschiedet. Das Herkunftslandsprinzip taucht zwar
explizit nicht mehr auf, dennoch hat seine Regelung faktisch Bestand.
Das Problem des Herkunftslandsprinzips ist Folgendes: Einem Dienstleister muss die Ausübung seiner Tätigkeit in einem anderen EU-Staat erlaubt werden, wenn er
die Rechtsvorschriften seines Herkunftslandes erfüllt.
Das ist noch unproblematisch. Der Fehler der Dienstleistungsrichtlinie liegt aber darin, dass ein Dienstleister seiZu Protokoll gegebene Reden
ner Tätigkeit in einem anderen Land auch nach den rechtlichen Vorgaben seines Heimatlandes nachgehen kann.
So können Umwelt-, Sozial- und Verbraucherstandards
umgangen werden. Diesen zentralen Punkt haben Bündnis 90/Die Grünen stets bemängelt. Stattdessen haben wir
einen eigenen Antrag in den Bundestag eingebracht und
uns dafür eingesetzt, das Herkunftsland nur beim Marktzugang anzuwenden. Für die Ausübung der Tätigkeit soll
das Ziellandsprinzip gelten. So würden die Dienstleistungsfreiheit in Europa gewährleistet und Sozial- und
Ökodumping verhindert werden. Dieser Vorschlag
stammte von der SPD-Berichterstatterin Gebhardt. Leider ließ die SPD die Vorschläge von Frau Gebhardt fallen
und sorgte sich stattdessen um den Koalitionsfrieden.
Nun versucht die Bundesregierung, Schadensbegrenzung zu betreiben. Ihr Gesetzentwurf enthält mit § 4
Abs. 2 einen Passus, der die Umgehung nationaler Standards verhindern soll. Der Abschnitt bietet jedoch weiten
Interpretationsspielraum und kann auch ehrlichen Unternehmern in Grenzregionen zum Verhängnis werden. Damit erweist sich das Gesetz mit seinen ungenauen Formulierungen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die
Gerichte. Hätte die Bundesregierung ökologische,
soziale und Verbraucherstandards wirklich schützen wollen, dann hätte sie der europäischen Dienstleistungsrichtlinie in dieser Form nicht zustimmen dürfen.
Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen und die
Koalition muss für ihre eigenen Fehler geradestehen.
Dies ist umso bedauerlicher, weil ein funktionierender
europäischer Binnenmarkt für Dienstleistungen enorme
Wachstumspotenziale böte. Besonders die Bundesrepublik könnte profitieren. Die vorliegende Richtlinie leistet
aber keinen Beitrag, die Beschäftigungspotenziale zu aktivieren und so einen wichtigen Beitrag gegen die Arbeitslosigkeit zu leisten, die im Zuge der aktuellen Wirtschaftskrise wieder rasant ansteigt. Die Bundesregierung
hat diese Potenziale mal wieder nicht erkannt, und den
Schaden haben die Bürgerinnen und Bürger.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/12784 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Marieluise Beck ({0}), Volker Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Landrechte stärken - „land grabbing“ in Entwicklungsländern verhindern
- Drucksache 16/12735 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Thilo Hoppe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reagieren mit unserem Antrag auf eine sehr besorgniserregende Entwicklung. In jüngster Zeit verstärkt sich
der Trend, dass Unternehmen und Regierungen wohlhabender Länder riesige Flächen fruchtbaren Ackerlandes
in Entwicklungsländern, vor allem in Afrika, aufkaufen
oder pachten, um auf diesen Flächen Nahrungsmittel für
den Eigenbedarf oder Biospritpflanzen anzubauen. Manche dieser Investoren wollen auch einfach nur mit Grund
und Boden spekulieren.
Presseberichten zufolge hat vor kurzem ein US-amerikanischer Investmentfonds einem südsudanesischen
Milizenführer, also einem Warlord, die gigantische Fläche von 400 000 Hektar abgekauft. Ob dieser überhaupt
der rechtmäßige Besitzer war, ist höchst zweifelhaft;
aber er hatte die Waffen und die Möglichkeit, diesen
Deal auch umzusetzen.
Es gibt solch krasse Fälle von illegaler Landaneignung, es gibt aber auch vieles, was im Grunde genommen ähnlich ist, aber rechtlich in einem Graubereich
liegt. In vielen Fällen sind es arabische Ölstaaten, in einem speziellen Fall ist es ein koreanischer Konzern, die
von zwar gewählten, aber doch recht schwachen und oft
korrupten Regimen riesige Landstriche kaufen oder
pachten. Auf den ersten Blick ist das legal. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber, dass das, wie gesagt, oft
mit Korruption oder der Missachtung traditioneller
Landrechte oder des elementaren Menschenrechts auf
Nahrung verbunden ist.
All diese Formen illegaler oder illegitimer Landaneignung werden in dem neudeutschen Begriff LandGrabbing, also Land-Grapschen, zusammengefasst. Wir
haben es hier mit einer neuen Welle des Kolonialismus
zu tun. Haben die Kolonialmächte früher Länder mit
Waffengewalt erobert, geschieht es heute mit dem
Scheckbuch: Ganze Regionen werden einfach gekauft
oder gepachtet.
Diese Landstriche sind aber nicht menschenleer.
Meistens leben dort Kleinbauern, die dort schon seit Generationen für den Eigenbedarf, für lokale oder regionale
Märkte Nahrungsmittel anbauen, oft jedoch keine eingetragenen Grundbuchtitel vorweisen können. Die Folge
von Land-Grabbing ist sehr oft, dass die Kleinbauern
vertrieben werden. Wenn sie die einzige Ressource, die
sie zum Überleben haben - Grund und Boden -, verlieren, sind sie gezwungen, entweder in die Slums abzuwandern oder sich bestenfalls als Tagelöhner auf den
Plantagen zu verdingen, oft nur zu Hungerlöhnen.
({0})
In manchen Ländern hat dieses Land-Grabbing schon zu
sozialen Unruhen geführt, auf Madagaskar sogar zum
Sturz der Regierung.
Wenn zwielichtige Investmentfonds oder Staaten wie
Saudi-Arabien, einige andere Ölstaaten oder China
- also Staaten, die es mit den Menschenrechten eh nicht
so genau nehmen - Land-Grabbing betreiben, gibt es allseits Kritik. IFPRI, das renommierte Internationale Forschungsinstitut für Nahrungsmittelpolitik, hat allerdings
herausgefunden, dass auch etliche deutsche, englische
und schwedische Unternehmen an dem Run auf den
knappen Rohstoff Land beteiligt sind. Es sind also nicht
allein die bekannten Bad Guys.
Um nicht missverstanden zu werden: Nicht jeder Erwerb von Grund und Boden in Entwicklungsländern
durch ausländische Investoren soll unter Generalverdacht gestellt werden. Es gibt durchaus sinnvolle, entwicklungspolitisch wertvolle Investitionen, durch die
Arbeitsplätze gesichert und bei denen Sozial-, Umweltund Menschenrechtsstandards eingehalten werden.
Bei genauerem Betrachten muss man aber leider feststellen: Das sind Ausnahmen. Die meisten dieser Landnahmen sind mit Vertreibung und Verelendung verbunden. Ich könnte eine lange Reihe von Beispielen
aufzählen, nicht nur Beispiele aus Afrika, auch Beispiele
aus Indonesien, Kolumbien und vielen anderen Ländern
der Welt.
Der Energiehunger der Industrienationen - auch unser
Energiehunger - hat den Run auf den Rohstoff Land und
die Spekulation mit Grund und Boden natürlich weiter
angeheizt. Es trifft leider, wie so oft, die Schwächsten,
die Ärmsten der Armen, diejenigen, die sich keinen Anwalt leisten können, diejenigen, die keine Lobby haben,
diejenigen, die sich nicht wehren können.
Dieser Trend erfordert die Reaktion der Politik. Zunächst einmal muss eine Bestandsaufnahme gemacht
werden, in welcher Größenordnung sich zurzeit LandGrabbing ereignet. Zweitens stehen wir vor der Herausforderung des Gegensteuerns und Regulierens. Ein Code
of Conduct, ein freiwilliger Verhaltenskodex reicht da
nicht aus. Multilaterale Organisationen, vor allem die
FAO, sind gefordert, verbindliche, einklagbare Standards auszuarbeiten.
Ich fordere die Bundesregierung auf, dieses Thema,
das noch nicht genügend Beachtung findet, auf die
Agenda zu setzen und Konferenzen dazu abzuhalten.
Wir im Entwicklungsausschuss machen dies. Wir haben
für die nächste Sitzung den neuen Sonderberichterstatter
der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung,
Olivier De Schutter, eingeladen, uns diese Entwicklung
genauer vorzustellen. Das ist ein Auftakt.
Ich fordere Sie auf, Aktivitäten wie den Antrag, den
wir eingebracht haben, zu unterstützen, und zwar in dieser und in der nächsten Legislaturperiode. Hier muss unbedingt reagiert werden.
Kollege Hoppe, achten Sie bitte auf die Zeit.
Wir dürfen nicht zulassen, dass den Schwächsten und
Ärmsten der Grund und Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolf Bauer für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute
in erster Beratung einen Antrag der Grünen, der uns
eben vorgestellt worden ist. Der Antrag ist inhaltlich per
se nicht falsch, aber warum er gerade jetzt kommt, ist
mir nicht ganz erklärlich. Denn wie bereits anklang, haben wir schon öfters im Ausschuss - beispielsweise im
Rahmen der Debatten über ländliche Entwicklung - und
bei Veranstaltungen unserer Fraktion das Thema diskutiert, Kritik geäußert und festgestellt, was getan werden
muss. Auch ich hatte mich bereits im letzten Jahr an die
Regierung gewandt, um das Vorgehen von Daewoo, das
Sie angesprochen haben, äußerst kritisch begleitet zu
wissen.
Das Thema ist also wahrlich nicht neu. Darüber hinaus sind wir uns bei diesem Thema auch fraktionsübergreifend im Wesentlich inhaltlich einig. Auch ich habe
Sorge vor möglichen Gefahren, die aus dem sogenannten Land-Grabbing entstehen können, und kann daher
den vorliegenden Antrag in vielen Punkten mittragen
und unterstützen.
Auch die Forderung, mögliche negative Auswüchse
des Land-Grabbing mit den Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit zu verhindern und die Land- und
Eigentumsrechte der lokalen Bevölkerung zu stärken, ist
ein unterstützenswertes Ansinnen. Vieles von dem, was
im Antrag steht, wird aber bereits vom BMZ und den
Durchführungsorganisationen gemacht. Doch ich befürchte, dass der Antragsteller die Möglichkeiten der
Entwicklungszusammenarbeit in diesem Fall schlichtweg überschätzt.
Das Überschätzen zieht sich wie ein roter Faden
durch den Antrag, wogegen wichtige andere Ansatz- und
Schwerpunkte vernachlässigt werden. So werden zum
Beispiel die Rolle einer guten Regierungsführung und
die Eigenverantwortung der nationalen Regierungen bei
der rechtlichen Ausgestaltung von Boden- und Eigentumsfragen kaum beleuchtet. Aber gerade hier ist der
Hebel für eine vernünftige und vor allem auf die sozialen
Belange der Bevölkerung abgestimmte Ausgestaltung
entsprechender Verträge anzusetzen. Daher stellt sich die
Frage, warum der Antragsteller die nationalen Regierungen aus der Pflicht nimmt. Es macht zumindest den Eindruck, als wäre das der Fall.
({0})
Gerade die nationalen Regierungen können, ja müssen
der zentrale Akteur sein, der den Unterschied ausmacht.
Denn bei allen Gefahren, die mit dem Land-Grabbing
verbunden sind, darf man auch nicht unterschätzen, dass
sogenannte FDIs auch eine Chance für das jeweilige
Entwicklungsland sein können - das haben Sie dankenswerterweise angeführt -, wenn sie von den Regierungen
vertraglich richtig ausgestaltet und partizipativ mit umgesetzt werden.
Ich erinnere mich noch gut an diverse Appelle unseres Ausschusses an die Wirtschaft, sich mehr in Entwicklungsländern zu engagieren bzw. dort zu investieren. Gelegentlich kommt es mir - frei nach Goethe - so
vor, als ob zwei Seelen in unserer Brust schlagen.
Aus meiner Sicht sollten wir uns besonders um Anreize bemühen, die sozialen Belange der örtlichen Bevölkerung bei der Vertragsgestaltung in den Fokus zu rücken. Ein möglicher Hebel leitet sich aus der Zielsetzung
des Land-Grabbing ab. Der Antrag definiert Land-Grabbing als Aufkauf großer Flächen in Entwicklungsländern
durch Drittstaaten oder Unternehmen zum Nahrungsmittelanbau für den eigenen Binnenmarkt oder Gewinnung
von Bioenergie. Wenn also Land-Grabbing beispielsweise mit dem Ziel erfolgt, Bioenergie zu gewinnen,
dann können wir in Deutschland oder auch in Europa
über maßvolle Beimischquoten zum Beispiel beim Biosprit viel erreichen.
({1})
Wir brauchen - auch das ist bereits angesprochen
worden - ein entsprechendes WTO-konformes Zertifizierungssystem unter Einbeziehung von Sozialstandards.
({2})
Das ist überaus wichtig, und genau dafür wirbt unsere
Fraktion. Ich freue mich, dass wir auch Unterstützung
von der FDP bekommen.
({3})
Dazu - besonders zur WTO-Frage - hätte ich mir im
vorliegenden Antrag mehr gewünscht als nur einen Absatz, der wie ein Appendix drangehängt wird. Gerade
dieser Weg scheint mir realistischer zu sein als vieles,
was im Antrag sonst in aller Breite vorgeschlagen wird;
denn ich befürchte, dass der Einfluss der Bundesregierung auf die Ausgestaltung der Vertragswerke zwischen
den Investoren und den nationalen Regierungen recht
begrenzt ist. Der Antrag sollte nichts anderes suggerieren.
Leider muss ich feststellen, dass - fast ist man gewillt, zu sagen: wieder - einige ideologisch motivierte
Aussagen im Antrag zu finden sind. Die Unionsfraktion
kann diese nicht mittragen; denn wieder einmal wird ein
allein seligmachendes kleinbäuerliches Ideal propagiert.
Ich erinnere nur daran, dass dies in der letzten Anhörung
von den zuständigen Herren aus den betreffenden Ländern kritisiert wurde. Wir dürfen nicht aus ideologischen
Gründen eine einzige Form der Landnutzung als das einzig Wahre darstellen. Vielmehr müssen wir darüber
nachdenken, was der Bevölkerung vor Ort den meisten
Nutzen bringt.
({4})
Wenn möglicherweise etwas größere Einheiten mehr
Nahrungsmittel erzeugen können - das ist in der Regel
der Fall; wir kennen das aus unserer Nachkriegsgeschichte -, dann dürfen wir nicht von vornherein sagen,
dass das nicht brauchbar ist. Vielmehr müssen wird das
in unserer Argumentation berücksichtigen.
Ich appelliere daher an meine Kolleginnen und Kollegen, in den Ausschussberatungen über diesen Antrag die
Gemeinsamkeiten beim Land-Grabbing zu betonen. Es
ist ganz klar, dass wir alle das wollen. Wir wollen nicht
wieder in Grabenkämpfe verfallen, die wir schon mehrfach ausgetragen haben. Land-Grabbing war und bleibt
ein wichtiges Thema, das eine kritische Begleitung verdient. Daher hoffe ich, dass unsere gemeinsamen Sorgen
und Ziele bei diesem Thema ein starkes Signal nach außen senden und dass wir in diesem Punkt weiterkommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Hellmut Königshaus für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LandGrabbing ist in der Tat ein Problem. Völlig zu Recht werden im Antrag der Grünen die negativen Folgen dargelegt, die mit dem sogenannten Land-Grabbing - darunter
ist eine großflächige Landaneignung zu verstehen - verbunden sind. Aber das eigentliche Problem wird zumindest
in Teilen schamhaft umschrieben. Schon die englische Bezeichnung verhüllt den Skandal. Bei den vielfältigen Formen der Landnahme geht es um den Diebstahl konkreter
Zukunftschancen der Entwicklungsländer. Diejenigen,
die es sich leisten können, verschaffen sich eigene Chancen zulasten der ärmsten Länder. Sie kooperieren dazu
mit korrupten und skrupellosen Eliten, die Land und Rohstoffvorkommen verscherbeln.
({0})
- Lieber Kollege Hoppe, das sind nicht nur die wohlhabenden Länder.
({1})
Diese Ausbeuter sind häufig auch die großen Schwellenländer und ihre Staatskonzerne.
Ich will mein Lieblingsbeispiel anführen - das wird
Sie nicht verwundern -: China. In einem regierungsamtHellmut Königshaus
lichen Papier aus dem Jahr 2008 fordert das chinesische
Landwirtschaftsministerium die chinesischen Unternehmen auf, im Ausland Boden zu erwerben. Damit solle
- so heißt es dort - Chinas Nahrungsmittelversorgung
langfristig sichergestellt werden, wohlgemerkt Chinas
Nahrungsmittelversorgung. Das ist Klartext. Der tut auch
uns in diesem Zusammenhang gut. Wir können dann auch
offen über die Rolle dieser Länder in der Entwicklungspolitik sprechen. Wir Liberale fordern seit geraumer Zeit
ein Umdenken gerade im Umgang mit den Schwellenländern, mit Brasilien, China, Indien, Südafrika usw. Wir
wollen sie auf gemeinsame Werte verpflichten und sie
von Hilfsempfängern zu Partnern machen, damit auch sie
sich der Entwicklung der ärmsten Länder verpflichtet
fühlen und sich nicht nur an der eigenen Entwicklung und
am eigenen Vorankommen orientieren.
Bleiben wir beim Beispiel China. China ist nicht nur,
aber vorwiegend in Afrika aktiv. Sein Vorgehen dort ist
rücksichtslos. Es gefährdet die Eigenversorgung der dortigen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. Das konterkariert unsere entwicklungspolitischen Ansätze in vielen
Bereichen. Wir brauchen nach der Finanzkrise sicherlich
nicht eine zusätzliche große Nahrungsmittelkrise in den
betreffenden Regionen.
Die FDP betont schon seit langer Zeit, wie wichtig es
ist, die Eigentumsrechte im ländlichen Raum in den Entwicklungsländern zu stärken. Wir wiederholen immer
wieder den Grundsatz: Ohne Katasteramt und ohne
Grundbuchamt gibt es keine nachhaltige ländliche Entwicklung. Ownership ist an der Basis, also bei der ländlichen Bevölkerung, zu fördern und nicht bei den häufig
kleptokratischen Eliten in den Städten. Wir haben in den
vergangenen Jahren gesehen, welche Folgen die rapide
steigenden Nahrungsmittelpreise haben. Wir haben auch
sehr intensiv über einige der Gründe gesprochen: veränderte Konsumgewohnheiten, Biokraftstoffe - Sie haben
das eben auch angesprochen -, Nahrungsmittelkonkurrenz, um nur einige zu nennen.
({2})
Worüber wir auch sprechen müssen, ist die Ursache
des Land-Grabbing. Täter sind nicht nur die angeblich
bösen Öl- und Rohstoffkonzerne des Westens, wie das
Beispiel China zeigt. Gerade in Afrika verfolgt das Land
eine besonders egoistische Politik der Ressourcensicherung, die zulasten der Menschen dort geht. Wir brauchen
- das sollte uns in der nächsten Zeit gemeinsam beschäftigen - ein international verbindliches und klares Regelwerk. Es muss für die Investoren klar sein, was geht, was
nicht geht, was verantwortbar ist und was nicht verantwortbar ist.
({3})
Es muss eindeutige Sanktionsmöglichkeiten geben, die
auch angewandt werden, wenn Staaten oder Staatskonzerne gegen das Regelwerk verstoßen.
Es steht außer Frage: Investitionen in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer sind nötig, wenn wir den
Herausforderungen, auch denen aus dem Ausland, begegnen wollen. Sie müssen aber den Menschen nützen
und der Nahrungsmittelsicherheit vor Ort dienen. Das
Negativbeispiel Daewoo in Madagaskar, das die Kollegen Bauer und Hoppe angesprochen haben, zeigt uns,
welche Folgen das haben kann.
Ich möchte eines festhalten: Private Investitionen,
technische Innovation und der damit verbundene Knowhow-Transfer leisten - richtig angepackt - einen wertvollen Beitrag zum Wachstum der Entwicklungsländer
und zum Wohlstand der Bevölkerung dieser Länder.
Aber - deshalb sind wir Ihnen für den Impuls, den Sie
hier geben, dankbar - die Politik des Wegsehens der internationalen Gemeinschaft hinsichtlich der ländlichen
Entwicklung muss beendet werden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe aus der
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dass wir heute das Augenmerk wieder auf die
ländlichen Regionen dieser Erde richten, erinnert mich
an den Antrag zur Förderung der ländlichen Entwicklung, den die Koalitionsfraktionen eingebracht haben,
und an die Debatte dazu, die wir hier zuletzt Anfang
März zu Recht sehr breit geführt haben.
Damals haben wir bereits Folgendes festgestellt - das
steht in unserem Antrag, den wir damals beschlossen haben -:
Unterernährung und Hunger sind nicht nur ein Problem der absolut produzierten Nahrungsmittelmenge, sondern vorrangig eine Frage des Zugangs
der Bevölkerung zu Nahrung.
Es ist richtig, dass wir den Menschen in den Entwicklungsländern helfen, da sie tagtäglich darauf angewiesen
sind, ihr Leben und das ihrer Familien mit dem, was sie
auf ihren kleinen landwirtschaftlichen Flächen produzieren, zu sichern; in Deutschland ist das ganz anders. Wir
müssen dafür sorgen, dass diese Menschen weiterhin die
Möglichkeit dazu haben.
Es ist in der Tat ein Phänomen, das einen fassungslos
macht: Heute gibt es zwei Gruppen von Land-Grabbern,
zum einen Staaten und zum anderen - das wurde bereits
am Rande erwähnt - Finanzspekulanten, die mit dem
Hunger der Menschen spekulieren und aus den Lebensbedingungen der ärmsten Bauern dieser Erde Profit
schlagen wollen. Diesem Treiben sollten wir alle hier im
Bundestag die rote Karte zeigen; denn dem muss ein
Ende gesetzt werden.
({0})
Ich betrachte die Finanzspekulanten als eine Gruppe,
die zur Nahrungsmittelkrise beigetragen hat, da sie
durch Spekulationen auf Weizen und andere Nahrungsmittel die Preise in die Höhe getrieben hat. Man muss
aber auch auf diejenigen schauen, die Landkäufe tätigen,
um ihre eigene Bevölkerung zu ernähren. Gerade wurden China und Korea angesprochen. Die Regierungen
dieser Länder haben Angst, dass sie ihre Bevölkerung
nicht mehr ernähren können. Es ist aber der falsche Weg,
dem durch eine Art Neokolonialismus entgegenzuwirken und zum Teil sogar selbst Arbeiter in diese Länder
zu schicken, um ohne langfristige nachhaltige Perspektive den Boden auszubeuten.
Denn oft werden nach Ablauf der Pacht ausgebeutete
Böden und kaputtes Land zurückgelassen. Die Menschen vor Ort haben dann gar keine Möglichkeit mehr,
diese Felder und Äcker nachhaltig weiter nutzen zu können. In dem Sinne sind dort Investitionen von ausländischem Direktkapital, die wir den Entwicklungsländern
in anderen Sektoren durchaus wünschen, sicherlich gefährlich. Das sollte unterbunden werden.
Die Frage ist allerdings, wie wir des Problems Herr
werden können; denn eine Sache ist es, vom Bundestag
aus einen Appell zu richten - es ist gut, dass aufgrund
des Antrags der Grünen dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt worden ist -, eine andere Sache ist es, wie
wir tatsächlich verhindern können, dass so etwas geschieht. Auch da müssen wir unterscheiden. Es gibt korrupte Regierungen, die Verträge vermeintlich zum
Wohle der eigenen Bevölkerung abschließen. So wird
behauptet, die Pachtverträge kämen der eigenen Bevölkerung zugute, indem sie zu Investitionen und der Vermittlung von Know-how führen. Diese Regierungen stecken das Geld aber oft in die eigene Tasche. Ich glaube,
wir können nur Erfolg haben, wenn wir auf UN-Ebene
mit einem Rat für ökonomische, ökologische und soziale
Entwicklung, wie ihn Ministerin Heidemarie WieczorekZeul vorgeschlagen hat und wie er im Regierungsprogramm meiner Partei steht, die Möglichkeit bekommen,
sogenannte sittenwidrige Verträge auch auf internationaler Ebene im Nachhinein für ungültig zu erklären, weil
die Verträge nicht im langfristigen Interesse der Bevölkerung sind, auch wenn sie von einer Regierung abgeschlossen worden sind, die demokratisch gewählt wurde.
Das kann aber nur in Extremfällen so sein; denn es ist
auch klar, dass wir die Eigenverantwortung der Länder
respektieren müssen, wenn wir Demokratie fördern wollen.
Damit komme ich zu der Frage, was wir machen können, um in diesen Ländern Landreformen zu fördern und
die Demokratie zu stärken. In diesem Zusammenhang
möchte Sie an den Antrag erinnern, den wir Anfang
März dieses Jahres hier beschlossen haben. Manchmal
ist es gut, nicht ständig neue Anträge zu stellen. Das ist
meine einzige Kritik an Teilen des Antrags der Grünen.
Dort werden Dinge aufgegriffen, die wir erst vor einigen
Monaten hier beschlossen haben. Ich finde es gut, dass
wir es uns im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Übung gemacht haben, immer wieder zu kontrollieren, was von den Anträgen, die
wir beschlossen haben, umgesetzt wird. Ich möchte zum
Abschluss zitieren, was wir mit unserem Antrag der
Bundesregierung mit auf den Weg gegeben haben. Dort
wird die Bundesregierung aufgefordert,
demokratische Agrar- und Bodenreformen in Entwicklungsländern verstärkt zu unterstützen, indem
sie im Politikdialog mit Regierungen der Partnerländer für derartige Reformen eintritt und in der
multilateralen Entwicklungszusammenarbeit die
Abstimmung und Verabschiedung freiwilliger Leitlinien zu Bodenpolitik, Landrechten und nachhaltiger Landnutzung vorantreibt. Insbesondere sind im
Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit die Förderung demokratischer Landverfassungsreformen, sozial verträglicher Landverteilung
und die rechtliche Sicherung des Landzugangs oder
-eigentums - insbesondere für Frauen - sowie die
Förderung effizienter Katasterwesen durch finanzielle Unterstützung und Beratungsmaßnahmen
auszubauen.
Kollege Raabe, Sie können weitersprechen, dann aber
auf Kosten Ihres Kollegen.
Das wollen wir nicht tun. In dem Sinne möchte ich
nur empfehlen: Lassen Sie uns den Antrag, den wir im
März beschlossen haben und der alles vom gerechten
Handel bis hin zur Förderung von Landreformen beinhaltet, ernst nehmen und umsetzen. Dann, so glaube
ich, können wir Land-Grabbing verhindern und den
Menschen in den ländlichen Regionen zu einem auskömmlichen Einkommen verhelfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege HüseyinKenan Aydin das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir nehmen zur Kenntnis, dass es weltweit bereits über
900 Millionen Menschen gibt, die hungern. Landlose
und landarme Bauern in den Ländern des Südens machen 70 Prozent der Hungernden aus. Die Jagd nach
Agrarland, über die wir heute sprechen, hat nicht erst in
diesem Jahr begonnen. Aber die Nahrungsmittelkrise,
der Boom bei Agrartreibstoffen und die Finanzkrise haben diese Entwicklung massiv verstärkt. Es begann eine
Bieterschlacht um verfügbares Land. Vor allem die
Erdöl produzierenden arabischen Staaten, aber auch
europäische und asiatische Konzerne brauchen mehr
Land, um Nahrungsmittel und Energiepflanzen anzubauen. In Ländern wie Madagaskar, Uganda, Sudan,
Mali, Brasilien oder Indonesien werden zurzeit Flächen
verkauft oder verpachtet. Um Ausfuhrstopps zu umgehen, werden oft intransparente Verträge abgeschlossen.
Ein saudischer Geschäftsmann bestätigt, dass in den Verträgen ein geringer Prozentsatz für die lokalen Märkte
vorgesehen ist, „um sicherzustellen, dass Land und
Leute uns keine Probleme bereiten.“ Das ist zynisch.
({0})
Landraub ist ein schamloses Ausnutzen der Krisensituation von Menschen, von Gesetzeslücken und von
nationalen Konflikten. In vielen Ländern sind die Landrechte vor allem der indigenen Bevölkerung ungeklärt.
In Krisengebieten wie im Kongo oder im Sudan verlassen Menschen auf der Flucht ihr Land und können keine
Besitzansprüche erheben.
Auch die Entwicklungspolitik hat den Kampf um
Land verschärft. Das 1,2-Milliarden-Dollar-Programm
der Weltbank als Reaktion auf die Krise 2008 beinhaltet
marktorientierte Reformen des Bodenrechts. Das bedeutet die direkte Bevorzugung von exportorientierten
Großkonzernen. Die ärmeren Bauern verkaufen ihr
Land, verführt durch für hiesige Verhältnisse hohe Landpreise oder gezwungen durch Schulden und fehlende
Perspektiven.
Der Antrag der Grünen greift viele wichtige Punkte
auf, um Landraub zu beenden und eine gerechte Landverteilung in den Ländern zu unterstützen. In der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit muss eine Gewährleistung des Menschenrechts auf Nahrung und gerechte
Landreformen unbedingte Priorität haben.
({1})
Ich warne eindringlich davor, Land zu einer handelbaren
Ware zu machen. Die Eigenversorgung mit Grundnahrungsmitteln muss oberste Priorität haben.
Das mosambikanische Landgesetz ist eine gute Vorlage, der andere Länder folgen können. Darin werden die
Landrechte der Subsistenzbauern - das sind fast 60 Prozent der Bevölkerung - gesetzlich abgesichert. Der Staat
vergibt Landnutzungsrechte auch an Gruppen, die den
Boden seit mindestens zehn Jahren bewirtschaften. Bevor ein Titel an einen Investor vergeben wird, muss die
Bevölkerung der Vergabe zustimmen. Dieses Gesetz ist
sehr fortschrittlich. Wir sollten es unterstützen.
({2})
Die Kollegen der CDU/CSU meinen, der vorliegende
Antrag setze falsche Schwerpunkte. Die Regierung habe
keinen Einfluss auf Verträge zwischen Entwicklungsländern und Investoren, heißt es auf ihrer Homepage. Das
ist ebenso falsch wie fadenscheinig. Der Fall des bilateralen Investitionsabkommens zwischen Deutschland und
Paraguay beweist das Gegenteil.
Viele haben dort Land aus Spekulationsgründen gekauft, unter ihnen auch Deutsche. Eine indigene Gemeinschaft im Chaco-Gebiet fordert seit 1991 die Rückgabe ihres traditionellen Territoriums, das sich im Besitz
des deutschen Großgrundbesitzers Roedel befindet. So
macht sich Deutschland zum Komplizen von staatlicher
Zwangsräumung und Menschenrechtsverletzung.
({3})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir
den Antrag der Grünen, mit dem sie auf dem richtigen
Weg sind, unterstützen. Ich hoffe, dass sich die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD im Rahmen
der Ausschussberatungen ebenfalls bereit erklären, diesen Antrag zu unterstützen.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({4})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wodarg für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben es hier wieder mit Fällen von Ausbeutung zu tun. Die Länder, die ausgebeutet werden, sind
immer dieselben. Es sind Länder, die sich nicht wehren
können. Sie werden ausgebeutet in ihren Rohstoffen.
Wenn man zum Beispiel im Kongo die Diamanten und
das Gold abtransportiert, ohne dass die Bevölkerung etwas davon hat, dann ist das eine schlimme Form der
Ausbeutung. Diese Ausbeutung wird von den dortigen
Regierungen toleriert. Die Regierungen und die einzelnen Personen in den Regierungen verdienen selbst daran. Sie sind korrupt.
Wir sehen hier eine neue Form der Ausbeutung. Wir
sehen, dass nicht nur die Rohstoffe aus der Erde entnommen werden. Nicht nur das Öl, nicht nur die Diamanten
werden genommen, die Erde selbst wird genommen. Das
ist besonders schlimm, weil die Menschen in diesen
Ländern nicht einmal mehr in der Lage sind, sich selbst
ihre Nahrung zu erzeugen. Weil sie verjagt werden, wird
ihnen die Chance genommen, das zu tun, was sie noch
können und wissen, sich mit Saatgut selbst etwas zu essen zu produzieren. Das ist eine besonders schlimme
Form der Ausbeutung.
Dass sie stattfindet, hat verschiedene Gründe; wir haben davon schon gehört. In einigen Staaten hat man
Angst, dass die Bevölkerung zu wenig zu essen hat. Dort
gibt es ein starkes Bevölkerungswachstum; häufig ist
ihre Fläche klein. Diese Angst besteht in einigen asiatischen Staaten; Südkorea und China sind Beispiele dafür.
Diese Form der Ausbeutung findet aber auch durch Staaten statt, in denen es eigentlich genug zu essen gibt; dort
isst man sogar zu viel, was häufig gesundheitliche Probleme bereitet: Viele sind zu fett.
Wir sind auch an dieser Ausbeutung beteiligt, weil
wir landwirtschaftliche Produkte, die dort angebaut werden, importieren. Das ist unverantwortlich. Das heißt,
wir sind wieder einmal der Motor für diese Ausbeutung.
Die British East India Company, die Britische OstindienKompanie, war ein Wirtschaftsunternehmen, das das indische Volk mit Gewalt geknechtet hat. So etwas gibt es
jetzt wieder. Kompanien dieser Art bedienen sich auch
privater Militärfirmen. Sie sorgen oft sogar mit Gewalt
für ihre Interessen. Sie sind verantwortlich dafür, dass
Menschen mit Gewalt verjagt werden. Derartige Dienstleistungen kann man heutzutage kaufen. Wir haben dieses Thema kürzlich auch hier im Bundestag behandelt.
Diese Entwicklung führt dazu, dass staatliche Verantwortung und Kohäsion in einer Bevölkerung durch Menschen zerstört werden, die von außen in das Land kommen. Das ist völkerrechtlich nicht in Ordnung.
({0})
Es gibt Regelungen in vielerlei Hinsicht: Es gibt das
Recht auf Nahrung. Es gibt auch das Recht auf Heimat.
Man darf von dort, wo man wohnt, nicht vertrieben werden. Es gibt auch das Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft. Das gehört implizit und sogar explizit zu den
Menschenrechten.
Es gibt folgendes Problem: Die komplexen Formen
der Landnahme, das Enteignen ganzer Bevölkerungsschichten, werden vertraglich so geregelt, dass wir
manchmal machtlos sind. Ich erinnere an die Debatte,
die wir heute Morgen über Steuerhinterziehung geführt
haben. Wir haben darüber gesprochen, dass es in Europa
Staaten gibt, die als Hehler davon profitieren, dass es bei
uns Steuerdiebe gibt. Diesen Staaten geht es gut, weil sie
sich als Hehler das Geld aneignen, das bestimmte Leute
diesem Staat, dieser Gesellschaft wegnehmen. So ähnlich ist es da auch. Wir, Deutschland und andere reiche
Staaten, sind auch eine Art Hehler, weil wir zum Beispiel das Coltan dieser Länder nachfragen, weil wir es
ihnen abnehmen, um es zu verbrauchen. Wir wissen genau: Dieses Gut wird diesen Ländern gestohlen. Daher
müssen wir uns auch an die eigene Nase fassen.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Problembewusstsein in der Bevölkerung stärker wird: Wir brauchen einen fairen Handel;
({1})
wir müssen fair mit den Menschen umgehen. Ich freue
mich, dass es in Deutschland Städte gibt, die diesen Ansatz sogar zu einem kommunalen Programm machen.
Sie „scannen“ ihre Händler und schauen, ob es Läden
gibt, in denen Waren verkauft werden, bei deren Erwerb
man eigentlich ein schlechtes Gewissen haben müsste.
Das ist ein Modell, mit dem wir selbst etwas tun können. Wenn wir ihm folgen, unterstützen wir durch unsere
Konsumgewohnheiten die verbrecherischen Handlungsweisen, die es auf der Welt gibt, nicht. Wir müssen
gleichzeitig internationale Regeln schaffen, und wir
müssen aufpassen, dass wir selbst nicht der Motor für
diese negative Entwicklung sind.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12735 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße, Renate
Gradistanac, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tourismuskooperation und Jugendaustausch
mit den neuen EU-Staaten fördern
- Drucksache 16/12730 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Jürgen
Klimke aus der Unionsfraktion, Renate Gradistanac aus
der SPD-Fraktion, Jens Ackermann aus der FDP-Fraktion, Dr. Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke und
Bettina Herlitzius für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir feiern in diesem Jahr nicht nur den zwanzigsten
Jahrestag des Falles der Berliner Mauer und jener Ereignisse, die zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt
haben, sondern wir begehen auch den 20. Jahrestag der
friedlichen Revolutionen in den damaligen Staaten des
Warschauer Paktes und des Falles des Eisernen Vorhangs
überall in Europa. Heute sind die meisten Staaten Osteuropas bereits Mitglied der EU, teilweise im SchengenRaum integriert und haben den Euro als Zahlungsmittel.
In der Geschichte Europas wird die jahrzehntelange
Trennung, vor allem aber ihre Überwindung immer eine
historische Zäsur bilden.
Genauso wie wir in Deutschland jedoch an mancher
Stelle immer noch um die Vollendung der inneren Einheit
ringen, so ist es auch immer noch wichtig, dass wir auch
in Gesamteuropa das Zusammenwachsen und - im
wahrsten Sinne des Wortes - die Völkerverständigung voranbringen. Diese Verständigung ergibt sich nicht allein
aus Verträgen und Sonntagsreden von uns Politikern,
sondern aus dem gegenseitigen Kennenlernen durch BeJürgen Klimke
suche in den jeweiligen Staaten. Das kann im Rahmen des
Tourismus geschehen, nachhaltiger wirken jedoch Austauschprogramme und grenzübergreifende Kooperationen. Und dabei liegt es natürlich auf der Hand, dass hier
politische Rahmenbedingungen und auch das Bereitstellen von Fördermitteln eine wichtige Rolle spielen.
Im Tourismus mit den neuen EU-Staaten ist eine beiderseitig positive Entwicklung zu verzeichnen. Waren es
anfangs vor allem deutsche Touristen, die aus Neugier
oder wegen des guten Preis-Leistungs-Verhältnisses in
die Staaten Ost- und Südosteuropas reisten, werden diese
Staaten - unter anderem durch steigende Einkommen auch als Quellmärkte des Deutschlandtourismus immer
wichtiger. Eine besondere Rolle kommt dabei Polen zu,
das wegen seiner großen Bevölkerung und der benachbarten Lage in dieser Hinsicht die größten Potenziale
bietet. Das hat die Deutsche Zentrale für Tourismus bereits erkannt und den polnischen Markt zu einem Schwerpunkt für die Auslandsvermarktung des Reiselandes
Deutschland gemacht.
Es besteht aber auch eine Vielzahl gemeinsamer touristischer Chancen mit unseren Nachbarländern Polen
und Tschechien, die durch grenzüberschreitende Kooperationen genutzt werden können. Wichtige Tourismusregionen wie zum Beispiel der Naturraum des Odertals, der
Muskauer Park, die Sächsische und die Böhmische
Schweiz, das Erzgebirge, der Bayerische Wald und der
Böhmerwald sowie die Städte Frankfurt/Slubice und Görlitz/Zgorzelec sind grenzübergreifend. Eine gemeinsame
Erschließung, Entwicklung und Vermarktung ist in diesen
touristisch interessanten Regionen sinnvoll und wird
auch schon in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichem Erfolg praktiziert. Schließlich können damit
Mittel gebündelt und durch gemeinsame Vermarktung
eine größere Außenwirkung in beide Staaten bzw. sogar
Drittstaaten erreicht werden.
Der Tourismusausschuss des Deutschen Bundestages
hat im Rahmen einer öffentlichen Anhörung diese grenzübergreifenden Kooperationen mit ihren positiven Effekten und den Problemen bei der Kooperation aus erster
Hand kennengelernt. Die Dokumentation dieser Anhörung soll den Bundesländern zur Verfügung gestellt werden, damit der Aufbau und die Entwicklung von grenzüberschreitenden Partnerschaften von den bisherigen
Erfahrungen profitieren können.
Ein Problem, das von fast allen Teilnehmern der Anhörung angesprochen wurde, betrifft die Förderprogramme der Europäischen Union, die ein geeignetes Instrument für eine Unterstützung solcher Kooperationen
darstellen: Hier sind die Programme offenbar nicht ausreichend auf grenzübergreifende Antragsteller ausgerichtet. Für eine Anpassung der Mittelbeantragung an
diese speziellen Bedürfnisse fordern wir deshalb in unserem Antrag auch den Einsatz der Bundesregierung gegenüber der EU. Zudem sollte die Bundesregierung verstärkt als Türöffner bei der Suche nach Ansprechpartnern
jenseits der Grenze fungieren und bei auftretenden Hindernissen unterstützend tätig werden.
Selbstverständlich beschränken sich Kooperationsmöglichkeiten nicht auf Regionen, sondern sind eine
wichtige Herausforderung für Schulen, Berufsschulen,
Hochschulen und gesellschaftliche Gruppen. Diese Partnerschaften - zu denen ich ausdrücklich auch Städtepartnerschaften zähle - bringen die Menschen aus den jeweiligen Ländern zusammen, fördern das Verständnis
füreinander und können nicht zuletzt auch den Tourismus
fördern. Dies hat auch die Konferenz zu Städtepartnerschaften und Tourismus, die kürzlich unter Federführung
von Ernst Hinsken im Bundeswirtschaftsministerium
durchgeführt wurde, eindrucksvoll bewiesen. Im Rahmen
grenzübergreifender Ausbildungsgänge stellen gerade
Berufsschul- und Hochschulkooperationen einen Wettbewerbsvorteil für die Absolventen dar, die dadurch mehr
Angebote nutzen können und die Gegebenheiten in zwei
Staaten kennenlernen. Die gegenseitige Anerkennung der
Abschlüsse erhöht sowohl die Chancen der Absolventen
auf dem Arbeitsmarkt als auch den Fachkräftepool für die
Unternehmen.
Eine ganz besondere Bedeutung beim Zusammenwachsen des „alten“ mit dem „neuen“ Europa hat für
mich der Jugendaustausch. Ich bin fest davon überzeugt,
dass das Deutsch-Französische Jugendwerk mindestens
einen ebenso großen Beitrag zur Versöhnung Deutschlands mit Frankreich geleistet hat wie die von den Regierungen geschlossenen Verträge. Eine ähnliche Bedeutung
hat sicher das Deutsch-Polnische Jugendwerk, das seit
dem Fall des Eisernen Vorhangs den größten Teil des Jugendaustauschs zwischen Deutschen und Polen trägt.
Gerade die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen
hat eine ähnliche Bedeutung wie jene mit Frankreich,
denn die Wunden der Geschichte wirken teilweise noch
bis heute fort. Nur wer den jeweiligen Nachbarn aus eigener Anschauung kennt, weiß, dass Klischees über die
vermeintliche wirtschaftliche Rückständigkeit Polens
nicht stimmen.
Wenn gegenseitige Ressentiments zwischen Deutschen
und Polen in den letzten zwanzig Jahren abgebaut wurden, ist es vor allem dem gegenseitigen Kennenlernen der
Menschen zu verdanken, die sich ein eigenes Bild machen
konnten. Jugendaustausch hat für die Austauschschüler
positive Effekte nicht nur für die Sprachkenntnisse, sondern auch für das Verständnis anderer Kulturen, anderer
Auffassungen und Herangehensweisen. Austausch vermittelt nicht zuletzt eine andere, äußere Sicht auf eigene
Auffassungen und Werte sowie auf unser demokratisches
System in Deutschland. Fast immer regt die Teilnahme an
einem Austauschprogramm deshalb zum verstärkten
politischen Denken, vielleicht auch zu mehr Engagement
in der Politik an.
Die positiven Auswirkungen belegt auch eindrucksvoll
eine Studie über „Langzeitwirkungen der Teilnahme an
internationalen Jugendbewegungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der TeilnehmerInnen“, die unter Federführung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und
Jugendbildung über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren durchgeführt wurde. Wirkungen des Jugendaustauschs sind demnach eine Stärkung von Selbstvertrauen
und Selbstsicherheit, eine größere Offenheit, Flexibilität
und Gelassenheit, Förderung der interkulturellen Identitätsbildung, Stärkung sozialer Kompetenzen sowie natürlich die Vertiefung der Fremdsprachenkenntnisse. Für
Zu Protokoll gegebene Reden
viele Jugendliche waren die Erfahrungen sogar Anstoß
für bürgerschaftliches Engagement. Besonders bedeutsam ist dabei der Jugendaustausch über einen längeren
Zeitraum. Deshalb setzen wir uns mit unserem Antrag dafür ein, dass der Jugendaustausch auch in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten die nötige Unterstützung des Bundes
und der Länder erhält, weil er eine so nachhaltige Wirkung auf das Zusammenwachsen Europas und die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Land hat.
Vor diesem Hintergrund bin ich sehr froh, dass es uns
gelungen ist, in unserem Antrag die Forderung nach mehr
Langzeitaustauschprogrammen zu verankern, die durch
den längeren Zeitraum natürlich stärker und nachhaltiger wirken. Zudem weiß ich aus persönlichen Berichten
vieler Teilnehmer an Austauschprogrammen, dass ein
Zeitraum von drei oder sogar sechs Monaten als zu kurz
empfunden wird, weil man sich gerade in die Gastfamilie
und die Gegebenheiten des Gastlands eingelebt und
Freundschaften geknüpft hat. Deshalb benötigen wir
mehr einjährige Austauschprogramme wie das Parlamentarische Patenschaftsprogramm zwischen Deutschem Bundestag und Kongress der Vereinigten Staaten,
das ich schon seit Jahren durch Benennung von Stipendiaten aus meinem Wahlkreis unterstütze. Warum nicht
ein vergleichbares Programm mit den neuen EU-Staaten
bzw. den europäischen Staaten, die noch nicht in der EU
sind, initiieren?
Bei der Möglichkeit, an Austauschprogrammen teilzunehmen, gibt es große regionale Unterschiede. So bestehen vor allem mit den Staaten Südosteuropas, die noch
nicht Mitgliedstaaten der EU sind, kaum Austauschprogramme. Dabei ist hier der Bedarf am größten. Wir sollten die jungen Menschen aus Serbien, Kroatien, Montenegro, Albanien, Kosovo, Mazedonien, Bosnien in dem
bestimmt bei vielen vorhandenen Wunsch unterstützen,
Deutschland kennenzulernen. Mittel- und langfristig wird
das sowohl das Zusammenwachsen Europas stärken als
auch einen wirtschaftlichen Nutzen haben, wenn die zukünftigen Eliten dieser Länder sich durch entsprechende
Stipendien ein eigenes Bild von Deutschland machen
konnten. Im Gegenzug ist es natürlich auch in unserem
Interesse, dass möglichst viele Deutsche die Länder Südosteuropas, die vielleicht in wenigen Jahren auch Mitgliedstaaten der EU werden, aus eigener Anschauung
kennenlernen.
Wir möchten aber nicht beim Jugendaustausch stehenbleiben. Es geht vielmehr auch um die Begegnung von
soziodemografischen Gruppen. Grenzübergreifende
Sportveranstaltungen, Treffen von Jugendfeuerwehren,
Tagungen von Berufsgruppen oder Vereinstreffen mit
ähnlichen Schwerpunkten knüpfen ebenfalls ein Netzwerk
von Freundschaften, das letztlich zum Abbau der Grenzen
in den Köpfen beiträgt. Auch hier kann Politik auf allen
Ebenen im Kleinen wie im Großen unterstützen und Hindernisse beiseite räumen.
Die europäische Einigung lebt davon, dass sie von den
Menschen der europäischen Staaten getragen wird. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass hier möglichst
viele Menschen zu Überzeugungstätern werden. Unterstützen wir gemeinsam auch weiterhin Jugendaustausch
und Partnerschaften in Europa und darüber hinaus! Unser Antrag „Tourismuskooperation und Jugendaustausch
mit den neuen EU-Staaten fördern“ soll dazu einen kleinen Beitrag leisten.
Mit diesem Antrag verknüpfen wir, was zusammengehört. Jugendaustausch schafft die Grundlage langfristigen touristischen Interesses. Die BKJ-Studie aus dem
Jahr 2005 hat uns deutlich vor Augen geführt: Wer als Jugendlicher in ein Land reist, kehrt dorthin wieder einmal
zurück. So stärkt der Austausch nicht nur den Auslandstourismus, sondern liegt ganz im Interesse einer langfristigen Wachstumsstrategie des Deutschland-Tourismus.
Wir begeistern junge Leute so für unser Land und werben
damit nicht nur für unsere touristischen Ziele. Damit Jugendaustausch aber touristisch und persönlichkeitsbildend wirksam werden kann, müssen die Strukturen dafür
bestehen und gut genutzt werden können.
Jeder Wirtschaftsbereich lernt gerade die neuen EUMitglieder kennen oder orientiert sich auf die noch neuen
Märkte. Das gilt insbesondere in einem Europa der Regionen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit in den
grenznahen Gebieten. Hier ist grenzüberschreitender
Handel und wirtschaftliche Verflechtung seit langem Alltag. Es ist nun kaum erklärbar, warum wir ausgerechnet
den Wirtschaftsfaktor Tourismus nicht im selben Bemühen unterstützen sollten. Es ergibt sich schon fast von
selbst, unsere Kenntnisse und Erfahrungen, die nicht zuletzt in der Anhörung deutlich wurden, den Bundesländern zur Verfügung zu stellen und sie bei Umsetzungsstrategien zu unterstützen. Sicherlich ist hier schon viel
geschehen, das Engagement der Länder muss auch gewürdigt werden. Wir müssen aber die Voraussetzungen
für wirksame, grenzüberschreitende Tourismuskooperationen schaffen. Hierbei ist es ebenso unsere Pflicht, uns
auf europäischer Ebene für eine weitere Förderung der
grenzüberschreitenden Regionen einzusetzen.
Grenzüberscheitende Zusammenarbeit darf aber nicht
den weiteren Blick auf die „Neuen“ überdecken. Auch
den Staaten an den südosteuropäischen EU-Außengrenzen müssen wir die Hand reichen, ihnen unser Interesse
zeigen und ihre jungen Menschen nach Deutschland einladen. Damit wollen wir die europäische Idee konkretisieren und ganz praktisch in die Tat umsetzen.
Allerdings ist der Wirtschaftsfaktor Tourismus zu
Recht nur ein Ansatzpunkt unseres Antrags. Jugendaustausch stellt für viele Jugendliche eine der vielleicht wenigen Reisemöglichkeit unabhängig vom Geldbeutel der
Eltern dar. Die Lebenswelt Gleichaltriger kennenzulernen ist ein wesentliches Element des Heranwachsens.
Das gilt sowohl für zeitlich beschränkte Anlässe und stärker natürlich noch für Freiwilligendienste, deren Ausbau
für die osteuropäischen Nachbarn wir fordern.
Schlüsselkompetenzen in einer zusammenwachsenden
Welt sich anzueignen ist die vielleicht wichtigste Aufgabe
der heutigen jungen Menschen. Hierin besteht die eigentliche Zukunftssicherung. Es stimmt mich froh, dass unser
Koalitionspartner auch zu der Einsicht gekommen ist,
dass interkulturelle Kompetenz mehr bedeutet als Pizza,
Zu Protokoll gegebene Reden
Döner oder Sushi essen. Interkulturelle Kompetenz beginnt mit dem Interesse für das andere. Diese Neugier
junger Menschen müssen wir forcieren und unterstützen.
Junge Menschen können nicht zu wenig Auslandserfahrung sammeln, sei es durch Gruppenaustausch, Freiwilligendienste oder die EU-Programme für junge Studierende.
Zudem sehen wir uns einem unerfreulichen Phänomen
gegenüber, dem wir mit dem direkten Kontakt junger
Menschen begegnen müssen: Gleich mehrere Studien haben belegt, dass auch ein Teil der jungen Menschen nach
wie vor für rassistische, homophobe und diskriminierende Ideologien aufgeschlossen ist. Nicht nur in
Deutschland, rassistisches und faschistisches Gedankengut ist in vielen Teilen Europas immer noch vorhanden.
Gegensteuern! lautet die Devise, nach der das demokratische Gemeinwesen zu handeln hat. Jugendaustausch ist
da sicherlich weder der alleinige noch der Königsweg.
Aber die direkte Auseinandersetzung mit dem Fremden,
also fremdsprachigen Menschen oder Lesben, Schwulen
oder Andersdenkenden, baut Vorurteile und vorhandene
Ressentiments ab. Auch hier gilt es, die Idee eines freien,
auf Antidiskriminierung beruhenden Europas immer und
immer wieder in die Tat umzusetzen.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung und die zuständigen Ministerinnen und Minister mit diesem Antrag
definitiv dazu auf, deutlich aktiver zu werden, weil es unsere Pflicht ist, jungen Menschen Chancen zu eröffnen
und ihnen jeden Weg für eine chancengleiche Zukunft zu
ebnen. Die Grundlage unseres Handelns folgt den Gedanken der amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin
Pearl Buck: „Die Jugend soll ihre eigenen Wege gehen,
aber ein paar Wegweiser können nicht schaden.“
Den Jugendaustausch zu fördern, sollte unser aller
Ziel sein, denn gerade Jugendliche sind unsere Zukunft.
Sie wirken in unserer stark vernetzten Welt als Multiplikatoren und können so in nicht zu unterschätzender Weise
den Tourismusstandort Deutschland heute und zukünftig
enorm stärken. Die Jugendlichen von heute sind Touristen von morgen.
Wir als FDP-Fraktion begrüßen den Fokus des Koalitionsantrages auf die neuen EU-Staaten sehr. Gemeinsames Ziel von Politik, Verbänden, Tourismuswirtschaft und
den reisenden Jugendlichen muss sein, den Prozess der
Anpassung und des Zusammenwachsens innerhalb der
EU voranzutreiben. Dies kann nur passieren, wenn man
einander zuhört. Jugendliche haben andere Bedürfnisse
als zum Beispiel ältere Menschen. Es gilt diese zu erkennen und passende Angebote zu unterbreiten. Ich erinnere
mich noch an die großartigen Ideen der Gastwirte zur
WM in unserem Land, wie zum Beispiel das Public
Viewing in der kleinsten Eckkneipe.
Gerade deutsche Reiseunternehmen können durch das
steigende Interesse Jugendlicher am Austausch mit dem
östlichen Europa stark profitieren. Es verbirgt sich im Bereich des Jugendaustausches ein großes Potenzial für die
Tourismusbranche in ganz Deutschland. Leider wird das
Potenzial, das auch im Antrag der Koalition benannt
wird, durch die aktuelle schlechte Finanzpolitik der Bundesregierung negativ beeinflusst. Wir können den Tourismus nur mit den richtigen Rahmenbedingungen weiter
stärken.
Es ist nicht fair, die deutschen Gastronomen und Hoteliers weiterhin dem ungleichen Wettbewerb mit ihren
Kollegen jenseits der Grenzen auszusetzen. Reduzierte
Mehrwertsteuersätze in Europa für die Hotellerie und
Gastronomie sind mittlerweile der Normalfall. Warum
beschließt der Finanzminister etwas für Europa, was
dann den Deutschen vorenthalten wird? Damit setzt die
Koalition Arbeitsplätze aufs Spiel. Die FDP-Fraktion
fordert einen Mehrwertsteuersatz in Höhe von 7 Prozent
für den Bereich der Gastronomie/Hotellerie und somit
gleiches Recht für alle in der EU. Für den Bereich der
Einführung reduzierter Mehrwertsteuersätze für Hotellerie und Gastronomie trifft der erste Punkt im Forderungskatalog Ihres Antrages auch nicht mehr zu. Die EU gibt
uns jetzt die Möglichkeiten, der gesamten Branche zu helfen. Das Problem ist nicht die EU, sondern CDU, CSU
und SPD, weil die Bundesregierung sich weigert, diese
Spielräume im EU-Recht in Deutschland zu nutzen. Damit schadet die Bundesregierung der heimischen Hotellerie und Gastronomie. Das ist für die FDP-Bundestagsfraktion völlig inakzeptabel. Vor allem die Union muss
endlich ihren vielen Worten Taten folgen lassen, um nicht
weiter an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Im Antrag der Koalition wird von Chancen gesprochen,
doch bisher hat die Bundesregierung die Tourismusbranche mit ihren Konjunkturpaketen nicht erkennbar gestärkt.
Die Bundesregierung hat den Tourismussektor in ihren
Konjunkturpaketen vergessen! Vielmehr wurden die tourismuspolitischen Rahmenbedingungen zum Beispiel mit
der Unternehmensteuerreform in 2008 durch die Hinzurechnung von Mieten, Pachten etc. bei der Gewerbesteuer und der Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent
zum 1. Januar 2007 massiv verschlechtert. Diese tourismusfeindliche Politik der Bundesregierung muss mit der
sich verschärfenden Wirtschaftskrise endlich ein Ende
haben. Wie soll man auf der einen Seite den Jugendaustausch fördern, wenn man auf der anderen Seite die Unternehmer, die den Austausch organisieren sollen, derart
massiv behindert? Im Antrag ist der Ausbau der länderübergreifenden Tourismuskooperationen aufgeführt, ein
schöner Gedanke. Aber auch hier gilt, dass gerade in den
Grenzregionen ein Tourist - egal ob jung oder alt - sich
nur vom Geldbeutel leiten lassen wird.
Der ganze Antrag ist zwar grundsätzlich in Ordnung,
aber in seiner Ausformulierung ein typischer schwammiger Antrag der CDU/CSU und SPD. Ein recht umfangreicher 21-Punkte-Forderungskatalog wird vorgelegt, der
aber leider wieder mal recht unkonkret ist. Natürlich ist
es mehr als wichtig, Projekte zum Jugendaustausch zu
fördern und „bei der Lösung von eventuellen Problemen
behilflich zu sein“. Aber wie diese Hilfe aussehen soll
oder wer sie bezahlen soll, ist in diesem Antrag natürlich
nicht zu erkennen.
Das beste Konjunkturpaket für den Tourismus und damit auch für den Jugendaustausch wäre die längst überfällige Steuerreform. Ein niedriges, einfaches und geZu Protokoll gegebene Reden
rechtes Steuersystem ist die beste Gewähr dafür, dass sich
das Arbeitsplatzpotenzial in der Tourismuswirtschaft
endlich entfalten kann und der Jugendaustausch mit den
neuen EU-Staaten gefördert wird.
Das Gute zuerst: Die Fraktionen von CDU/CSU und
SPD bringen einmal von sich aus das Thema Jugendaustausch in den Bundestag und verweisen im letzten Absatz
ihres Feststellungsteils auch auf die Einbeziehung von
Jugendlichen mit Behinderungen.
Bisher war es so, dass, wenn Die Linke über die Förderung von Kinder- und Jugendtourismus sowie Schulfahrten sprach, die Bundesregierung und deren Koalitionsfraktionen sich für nicht zuständig erklärten und auf
die Länder verwiesen. Dies rächt sich nun. Ihr Antrag
- der der Koalition - zeugt von Anfang bis Ende von unglaublicher Ahnungslosigkeit. Viele Ihrer 21 Forderungen an die Bundesregierung sind absurd, schwammig
oder unverständlich. Das beginnt gleich bei der ersten,
wo Sie die Bundesregierung auffordern, „sich bei der EU
für eine Wettbewerbsgleichheit der Rahmenbedingungen
für Tourismusunternehmen einzusetzen“.
Über finanzielle Auswirkungen Ihrer 21 Forderungen
schweigen Sie ebenso wie in vielen anderen Ihrer bisherigen Anträge zur Tourismuspolitik in dieser Wahlperiode. Warum wohl? Man merkt, dass Sie sich mit der
Thematik bisher nicht bzw. kaum beschäftigt haben.
Auch der Versuch, zwei völlig unterschiedliche Themen - die Tourismuskooperation in grenznahen Regionen
und den internationalen Jugendaustausch - in einem Antrag zu verpacken, ist Ihnen nicht gelungen.
Die vielen Hinweise und Vorschläge aus der vom Tourismusbeauftragten der Bundesregierung Ernst Hinsken
organisierten Konferenz „Internationale Städtepartnerschaften - unentdecktes Potenzial für den Tourismus“ am
24. November 2008 bleiben in dem Antrag unberücksichtigt. Waren Sie nicht da oder haben Sie nicht zugehört?
Auch in Gesprächen mit der Stiftung deutsch-russischer Jugendaustausch, mit dem deutsch-polnischen Jugendwerk oder mit Tandem, dem deutsch-tschechischen
Jugendaustausch können Sie viel über deren Erfolge,
aber auch die brachliegenden Potenziale, Probleme und
Hemmnisse erfahren. Dazu gehört zum Beispiel die zum
Teil schlechte Finanzausstattung. Das führt auch dazu,
dass die Eigenanteile der Jugendlichen steigen und zunehmend mehr Kinder und Jugendliche an Austauschund Begegnungsprogrammen nicht teilnehmen können,
weil sie bzw. ihre Eltern diesen Eigenanteil nicht aufbringen können.
Aus Sachsen und insbesondere aus meinem Wahlkreis
in der Oberlausitz kenne ich viele Partnerschaften mit
Städten und Gemeinden in Osteuropa, und hier schließe
ich im Unterschied zu Ihnen auch Russland, Belarus und
die Ukraine ausdrücklich mit ein. Manche Städtepartnerschaft steht leider nur auf dem Papier oder beschränkt
sich auf die regelmäßige gegenseitige Entsendung von
Offiziellen oder Beamten. Es gibt aber auch andere Beispiele. Rührige Menschen in Vereinen und Initiativen,
aber auch Schulen und anderen Einrichtungen organisieren fantastische Jugendbegegnungen.
Dazu vier Beispiele:
Erstens. Das Europahaus Görlitz e. V. organisiert in
Zusammenarbeit mit dem Büro Kultur 2020 beim Theater
Görlitz einen internationalen Workshop HIDDEN
PLACES vom 8. bis 23. August 2009 in Görlitz-Zgorzelec. Dieses Projekt ist für Kunststudenten und künstlerisch aktive junge Menschen aus den Städten auf der Via
Regia, die sich für Architektur, urbane Kultur und historische Zusammenhänge interessieren. Leitmotiv des Projektes ist die alte Königsstraße Via Regia, eine historische
Kommunikationsachse zwischen Ost und West, von Kiew
bis Santiago de Compostela.
Zweitens. Auch in diesem Jahr ermöglicht wir-my
({0}) wieder vier Görlitzer Schülern im Alter
von 16 bis 18 Jahren die Teilnahme am europäischen
Jugendparlament. Dieses Jahr findet das Parlament im
schwedischen Mölndal vom 1. bis 6. Oktober statt.
Drittens. Alljährlich veranstaltet die linksjugend [`solid] Sachsen zu Pfingsten ein mehrtägiges offenes, politisches und kulturelles Treffen, das Pfingstcamp. Im Jahr
2009 findet das Camp zum elften Mal statt und zum neunten Mal heißt der Veranstaltungsort Srbska Kamenice in
der Tschechischen Republik. In der Vergangenheit nahmen jährlich circa 400 Interessierte im Alter zwischen
13 und 45 Jahren aus allen drei Ländern der Euroregion
Neiße teil.
Viertens. Die Initiative Kinder von Tschernobyl und
anderen umweltgeschädigten Regionen aus Zittau lädt
seit 1990 jährlich 15 bis 20 Kinder aus der Gegend um
Rogatschov in Weißrussland zu einem Aufenthalt von drei
bis vier Wochen ein. Dass Die Linke und auch ich persönlich für viele solcher Projekte spendeten, sei hier nur am
Rande erwähnt.
Neben Ihrer Ahnungslosigkeit, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, muss ich auch - und dies
nicht zum ersten Mal - Ihren tourismuspolitischen Ansatz
hinterfragen. Ausgangspunkt Ihres Antrags ist nicht die
Förderung von internationalen Begegnungen zwischen
Jugendlichen, um ihnen zu ermöglichen, andere Sprachen, Kulturen und Bräuche in unserem gemeinsamen
Europa kennenzulernen. Für Sie geht es in erster Linie
um „diese Staaten als Quellmarkt für den Deutschlandtourismus“, um bessere Wettbewerbsbedingen und
Marktchancen für die deutsche Tourismuswirtschaft. Die
Linke steht für eine Tourismuspolitik, die Reisen für alle
ermöglichen will, Reisen, die dem Bedürfnis auf Erholung, Bildung und Gesundheit Rechnung tragen. Hier ist
der Unterschied und damit kommt Die Linke auch zu anderen Schlussfolgerungen.
Dieser Antrag taugt meines Erachtens nicht mal als
Schaufensterantrag für den Wahlkampf, geschweige denn
für eine ernsthafte Debatte. Das ist schade und das haben
diejenigen, die sich seit vielen Jahren sowohl in den Bereichen der grenznahen Tourismuskooperation als auch
bei der Organisation von internationalen Kinder- und Jugendbegegnungen oder der Entwicklung von Städtepartnerschaften engagieren, nicht verdient.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir haben im Augenblick die Situation, dass die jeweilige Grenze als trennendes Element in allen neuen EUStaaten noch spürbar ist. Aber solange die Entwicklungen
im Tourismusbereich selbst innerdeutsch häufig nebeneinander ablaufen und eine Zusammenarbeit oftmals an den
politischen Grenzen scheitert, können wir nicht erwarten,
dass die grenzüberschreitende Tourismuskooperation einfacher zu handeln ist.
Gerade die grenzüberschreitende Tourismuskooperation
ist erschwert durch unterschiedliche Sprachen, die Kompliziertheit der EU-Förderprogramme, hohe bürokratische
Hürden und unterschiedliche Verwaltungsstrukturen in den
einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Ich glaube, das haben wir
fraktionsübergreifend aus unserer Anhörung zu grenzüberschreitenden Tourismuskooperationen mitgenommen.
An dieser Stelle besteht Handlungsbedarf: Strukturelle
internationale touristische Zusammenarbeit zwischen
Grenzregionen ist bislang einfach nicht vorgesehen. Auch
grenzüberschreitende Vernetzungen in anderen Bereichen wie Kultur und Wirtschaft existieren bislang leider
noch viel zu selten.
Außerdem ist besonders in den neuen EU-Staaten vielerorts die Infrastruktur noch schwach entwickelt. So stellen
reizvolle Landschaften und unberührte Natur bislang ungenutzte Entwicklungspotenziale dar.
Aus grüner Sicht ist es wichtig, dass die EU, aber auch
Bund und Länder Informationen und Beratung für touristische Leistungsträger zur grenzüberschreitenden Vernetzung der Tourismusakteure zur Verfügung stellen. Nur so
können wir überhaupt erreichen, dass eine Mobilisierung
und Initiierung touristischer Aktionen zur Stärkung des
Gemeinschaftsgefühls vorangeht. Eine kulturell-touristische
Vernetzung in europäischen Grenzregionen ist sinnvoll.
Ziel muss sein, ein grenzüberschreitendes gemeinsames
touristisches Marketing zu entwickeln und voneinander
zu partizipieren.
Eine Zusammenarbeit bei der touristischen Vermarktung
und Produktentwicklung leistet schließlich auch einen
wichtigen Beitrag zum Abbau der Grenzen in den Köpfen
der Bevölkerung beiderseits der Grenzen und stärkt die
Position im internationalen Wettbewerb.
Darüber hinaus irritiert aus meiner Sicht die Verbindung
von Tourismus und Jugendaustausch im vorliegenden Antrag. Auch wenn Tourismuspolitik ein Querschnittsthema
ist, stehen für mich beim Jugendaustausch pädagogische
Aspekte der Bildung und der Völkerverständigung eindeutig im Vordergrund. In diesem Sinne müssen wir auch
die finanziellen Mittel dafür bereitstellen. Hier brauchen
wir verlässliche Rahmenbedingungen und verbindliche
Strukturen. In diesem vorliegenden Koalitionsantrag
werden einfach zu viele Themen miteinander vermischt.
Jugendaustausch erschließt neue Horizonte für die
Teilnehmenden und sensibilisiert für gesellschaftliche
Probleme im Gastland. Es ist deshalb sicher ein guter
Ansatz, internationale Jugendpolitik auch in den Zusammenhang mit anderen Politikfeldern zu stellen. Aber die
potenziell vorhergesagte rein ökonomisch positive Auswirkung auf die Tourismuswirtschaft scheint mir da doch
etwas weit hergeholt, und die Erwartungen an die von der
Koalition vorgeschlagenen Maßnahmen sind einfach zu
hochgeschraubt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12730 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schutz der Bienenvölker sicherstellen
- Drucksachen 16/10322, 16/12267 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Kirsten Tackmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Peter Jahr für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seitdem
ich erfahren habe, dass ich heute zum Thema Bienen
sprechen darf, geht mir das Kinderlied nicht mehr aus
dem Sinn, das auch Sie sicherlich kennen: „Summ,
summ, summ! Bienchen summ herum!“ Keine Angst:
Ich verschone Sie mit meinem Gesang.
({0})
- Zum Abschluss, denke ich, können wir das heute tun.
Ich möchte Sie auf eine Textzeile in der ersten Strophe aufmerksam machen. Sie lautet:
Ei, wir tun dir nichts zu leide,
Flieg nur aus in Wald und Heide!
Hoffmann von Fallersleben, dem wir diese Zeilen
verdanken, hat 1835 eine allgemeine Tatsache wiedergegeben: Niemand hat die Absicht, Honigbienen zu jagen
oder sie an ihrem Tun zu hindern. Sie waren und sind
wertvolle Nutzinsekten, ohne die es keine Pflanzenbestäubung und damit kein Obst, keine Fortpflanzung und
keinen Honig geben würde.
So ist es kein Wunder, dass das Wort „Biene“ sehr positiv besetzt ist. Die Biene gilt als das ehrlich und uneigennützig arbeitende Individuum.
({1})
Fleißig wie eine Biene zu sein, ist eine Auszeichnung für
jeden arbeitenden Menschen.
({2})
Die Bienen verfügen über eine ausgeprägte Arbeitsteilung. Das Sozialgefüge der Bienen macht mir allerdings
Sorgen. Wenn mich nicht alles täuscht, werden die
männlichen Angehörigen der Bienenvölker nach getaner
Arbeit, rausgeschmissen.
({3})
Ein Parlament der Bienen würde also, was die Geschlechterverteilung betrifft, etwas anders aussehen. Man hat es nicht einmal versucht, und das finde ich bedauerlich. Ich kenne die Vorwürfe. Zumindest hätte man
einen Resozialisierungsplan entwickeln können. All das
wurde unterlassen.
({4})
Aber Spaß beiseite und zum Thema! Sicher war damals, als Hoffmann von Fallersleben jene Verszeile aufgeschrieben hat, kaum vorstellbar, dass das industrielle
Zeitalter und das moderne Leben den nützlichen Bienen
das Dasein zunehmend erschweren würde. Szenarien
wie das massenhafte Bienensterben durch die VarroaMilbe, die ungeklärten Bienenvölkerfluchten in den
USA und die Bedrohung der Bienen durch Elektrosmog
sowie durch technisch falsch behandeltes Saatgut wären
wohl niemandem in den Sinn gekommen. Das ist leider
Realität.
Wir Menschen sind es, die das Versprechen: „Ei, wir
tun dir nichts zu leide“ nun auch aktiv in die Tat umsetzen müssen. Wir tun das seit geraumer Zeit; ich werde
darauf noch eingehen.
Die Wirksamkeit unserer Bemühungen hängt davon
ab, wie gut und genau wir in der Lage sind, das Leben
der Bienenvölker zu verstehen. Sosehr die Arbeit von
Tausenden von Imkerinnen und Imkern - oft ehrenamtlich - zu schätzen ist: Ohne breite wissenschaftliche
Grundlagen sind unerwünschte Erscheinungen nicht effektiv zu erklären, geschweige denn Gefahren abzuwehren und wirksam zu bekämpfen. Aktionismus schadet
daher.
({5})
Die seit Jahren stetig abnehmende Zahl der Bienenvölker ist ein Alarmsignal. Wenn, wie in diesem Jahr,
das sehr warme Frühjahrswetter Mitte April eine fast
gleichzeitige Blüte vieler Bäume und anderer Pflanzen
mit sich bringt, stoßen die Bienenvölker an die Grenzen
ihrer Leistungsfähigkeit. Sollte es irgendwann den „Imker by call“ geben, der seine Völker gegen viel Geld verleiht und nach Anforderung bundes- und europaweit am
Rande eines Feldes oder einer Obstplantage aufstellt?
Ich glaube, diese Art von Dienstleistung wollen wir alle
nicht.
Umso mehr möchte ich betonen, dass die Anstrengungen des Verbraucherschutzministeriums und der Forschungsinstitute inzwischen Erfolge zeigen. Ich freue
mich, dass wir demnächst belastbare Ergebnisse haben
werden, die geeignete Maßnahmen ermöglichen. Daher
halte ich die Aufforderung der FDP an die Bundesregierung für nicht geeignet und schließe mich der Beschlussempfehlung des Ausschusses an, den Antrag abzulehnen.
({6})
Gern möchte ich das begründen. In ihrem Antrag
„Schutz der Bienenvölker sicherstellen“ verweist die
FDP zunächst darauf, dass der Bienenbestand in
Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen hat. Da diese Schäden im Bienenbestand hauptsächlich durch die Varroa-Milbe verursacht worden
seien, müsse diese konsequent bekämpft und müssten innovative und effektive Verfahren wie Impfungen entwickelt werden. Zudem verlangt die FDP, dass eine Strategie gegen die Ausbreitung des Maiswurzelbohrers, des
international bedeutendsten Maisschädlings, entwickelt
wird. Neben diesen Forderungen sollen unter anderem
noch die Zulassungsverfahren von Insektiziden überprüft, Qualitätskontrollen für gebeiztes Saatgut eingeführt und die Nachwuchsförderung von Imkern unterstützt werden.
Ich habe diesen Antrag mit großem Interesse zur
Kenntnis genommen und ihn gelesen - Sie haben es gemerkt -, da er durchaus richtige Forderungen enthält.
({7})
Im Ergebnis stelle ich aber fest, dass er gegenstandslos
ist. Die Bundesregierung hat bereits sehr effektive Maßnahmen zum Schutz der Bienen ergriffen, sodass ich
keine politischen Handlungsdefizite in den im Antrag
angesprochenen Bereichen erkennen kann. Lassen Sie
mich dies bitte anhand der einzelnen Forderungen des
Antrags im Detail etwas genauer ausführen:
Die Bundesregierung nimmt die problematischen
Entwicklungen der Bienenpopulation sehr ernst. Genau
deshalb wurden in den letzten fünf Jahren rund
5 Millionen Euro für Projekte in der Bienenforschung
zur Verfügung gestellt; allein im Jahr 2008 waren es
2 Millionen Euro. Dazu gehören zahlreiche Forschungsprojekte wie die des Julius-Kühn-Instituts und des
Friedrich-Loeffler-Instituts. Zudem gibt es auch auf der
Landesebene verschiedene Einrichtungen, die sich mit
der Bienenforschung beschäftigen. Insgesamt sind dadurch alle Bereiche, die derzeit von Bedeutung sind,
wissenschaftlich abgedeckt.
Hinsichtlich der Bekämpfung der Varroa-Milbe wird
seit 2008 ein Verbundprojekt zur verbesserten Bekämpfung gefördert. Im Mittelpunkt dieses Projekts steht die
Verbesserung der Imkerpraxis zur allgemeinen Krankheitsprävention. Für das Vorhaben stellt das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz insgesamt rund 500 000 Euro zur Verfügung.
Auch mit dem Bienenmonitoring ist dieses Projekt verknüpft, da die Zuwendungsempfänger in dessen Beirat
mitwirken.
Zur Forderung der FDP nach einer konsequenten Bekämpfung der Varroose verweise ich auf die Bienenseuchen-Verordnung, die vorschreibt, dass Bienen in
Bienenbeständen, die mit Varroa-Milben befallen sind,
jährlich gegen die Varroose zu behandeln sind. Um hier
eine langfristige Lösung finden zu können, werden vom
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz Forschungsprojekte zur Zucht von
Bienen auf Toleranz gegen die Varroa-Milbe gefördert.
Um Bienen vor Krankheitserregern aus anderen Ländern
zu schützen, unterliegen die Einfuhranforderungen seit
dem Jahr 2000 europarechtlich harmonisierten Vorschriften.
Ein Wort zu den Pflanzenschutzmitteln, die als Gefährdungspotenzial für die Bienen gesehen werden:
Grundsätzlich gilt, dass durch das Pflanzenschutzgesetz
und die darauf beruhenden Verordnungen ein hohes
Schutzniveau für die Honigbiene gewahrt ist. Bei sachgerechter Anwendung von Pflanzenschutzmitteln ist von
einer Schädigung der Biene daher nicht auszugehen.
Dennoch hat das für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zuständige Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit bereits die Arbeiten für eine
Überprüfung der Zulassungsverfahren aufgenommen.
Gleichwohl sollen für die Ausbringung von Saatgut
strengere Regeln geschaffen werden, um eine unsachgemäße Anwendung künftig zu vermeiden, wie sie in Süddeutschland durch das Insektizid Clothianidin vorgekommen ist. Dies war letztlich auch ein technisches
Ausbringungsproblem; mit dieser Problematik muss
man sich natürlich beschäftigen.
({8})
Dies alles zeigt, dass wir dieses Problem sehr ernst und
keineswegs auf die leichte Schulter nehmen.
Abschließend gehe ich auf die letzte Forderung der
FDP zur Unterstützung der Imkerei ein: Die finanzielle
Förderung der Imker erfolgt in Deutschland in erster Linie durch EU-Programme im Rahmen der Gemeinsamen
Agrarpolitik. Ein Schwerpunkt der Förderung sind Schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Zudem wird der
Bereich der Nachwuchsarbeit und Berufsbildung durch
die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen für
eine qualitativ hochwertige Aus- und Fortbildung von
Fach- und Führungskräften unterstützt. Der Erfolg dieser
Maßnahmen zeigt sich vor allem darin, dass die von der
FDP angesprochene Überalterung des Berufsstandes gestoppt werden konnte.
Vor diesem Hintergrund kann man die Arbeit der
Bundesregierung in diesem Bereich nur begrüßen. Der
Antrag der FDP ist inhaltlich nicht verkehrt - das habe
ich begründet -; aber er ist gegenstandslos und daher abzulehnen.
({9})
Abschließend möchte ich gerne den Imkern meinen
Dank aussprechen. Über 82 000 Imker tragen dazu bei,
dass Deutschland naturnah und fruchtbar bleibt und dass
es gesunden Honig zum Essen gibt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Jahr, Sie haben mit dem „Summ, summ,
summ“ ganz nett angefangen; aber der Rest war doch ein
bisschen dürftig und leider völlig ohne Engagement. Ich
finde das schade, denn Imker leisten in Deutschland eine
wertvolle Arbeit, und wir brauchen sie weiterhin.
({0})
Es ist die Zeit der gelben Rapsfelder unter blauem
Himmel, die zum Spaziergang einladen, insbesondere
natürlich die Liberalen; aber ich hoffe, auch Sie gehen
nach draußen.
({1})
Im Übrigen ist Raps eine ganz wichtige Trachtpflanze
für die Biene; deswegen ist es richtig, mit dem Raps anzufangen.
Bienen erfahren bei uns eine sehr hohe Wertschätzung. Der Fleiß der Bienen ist sprichwörtlich. Als ich bei
mir im Büro herumgefragt habe, habe ich festgestellt,
dass man bei Bienen nicht an „Summ, summ, summ“
denkt, sondern an die Biene Maja,
({2})
an die Zeichentrickfilme und das Lied von Karel Gott.
({3})
- Das kann gut sein; vielen Dank für den Hinweis. Das
wird der Unterschied sein. - Man denkt gerne an die
Biene Maja, die mit ihrer Pfiffigkeit den Gefahren getrotzt hat.
Bei uns in Deutschland sind die meisten Imker Hobbyimker; 80 000 sind es. Sie haben Freude an der Haltung ihrer Bienen und an der Arbeit in der Natur. Belohnt werden sie durch eine Honigernte. Obwohl wir
eine Minderung der Anzahl der Bienenvölker zu verzeichnen haben, ist die Honigernte in den letzen Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen. Das ist ein Zeichen
für die gute Arbeit, die unsere Imker leisten.
Es gibt gute Gründe dafür, dass sich der Deutsche
Bundestag mit dem Schutz von Bienenvölkern beschäftigt; denn so gut ist die Situation nicht, wie der Kollege
Jahr uns hat glauben machen wollen. Bienen sind nicht
nur wegen des Honigs wichtig; vielmehr sind sie insbesondere aufgrund ihrer Bestäubungsleistung für unsere
Natur, aber auch für Landwirtschaft und Obstbau von
besonderer Bedeutung. Landwirtschaft, Obstbau und Imker sind aufeinander angewiesen. Deswegen ist eine
Konfrontation zwischen den Berufsfeldern nicht gut.
Wir brauchen eine verbesserte, konstruktive Zusammenarbeit. Landwirtschaft und Obstbau brauchen die Bestäubungsleistung der Bienen; aber die Imker brauchen
auch die Aussaat von Trachtpflanzen, um ihre Bienen ernähren zu können.
Bienen sind gefährdet - der Kollege Jahr hat es angesprochen -, insbesondere durch die Varroa-Milbe. Im
Winter 2002/2003 haben Imker ein Viertel der Bienenvölker verloren. In der Folge ist das sogenannte Bienenmonitoring eingeführt worden.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion wollen, dass mit innovativen, effektiven, konsequenten Bekämpfungsmethoden der Befall durch die Varroa-Milbe gemindert
wird. Die Reaktionen auf meine Rundschreiben an Imker haben deutlich gemacht, dass in Zukunft wohl ein
bisschen mehr getan werden muss, um eine solche Situation wie im Winter 2002/2003 nicht noch einmal zu erleben.
Außerdem ist eine sehr sorgfältige Kontrolle der Importe notwendig. Da sollten wir uns meines Erachtens
Australien als Beispiel nehmen, das die Importe sehr viel
sorgfältiger kontrolliert und damit sicherstellt, dass die
Bienenvölker nicht durch Ektoparasiten und andere Parasiten befallen werden.
Bienenvölker sind auch durch die fehlerhafte Anwendung von Pflanzenschutzmitteln gefährdet. Wir haben im vergangenen Frühjahr den Fall gehabt, dass
11 000 Völker durch Pflanzenschutzmittel teilweise schwer
geschädigt worden sind. 2 Millionen Euro an Entschädigungszahlungen sind dafür geleistet worden. Deswegen
fordern wir eine Qualitätskontrolle des gebeizten Saatgutes und insbesondere - da hat die Bundesregierung
überhaupt nichts getan -, dass bei der Zulassung von
Pflanzenschutzmitteln die besondere Sensitivität der
Bienenbrut berücksichtigt wird. Das ist zurzeit noch
vollkommen außerhalb der Diskussion. Da gibt es einiges zu tun.
Bienen sind, anders als die öffentliche Diskussion es
glauben macht, nicht durch den Anbau von gentechnisch
veränderten Pflanzen gefährdet. Das hat die Bundesregierung auf eine Frage von mir ausdrücklich geantwortet:
Auf Grundlage der Praxisversuche kann eine toxische Wirkung von Bt-Mais auf gesunde Honigbienenvölker mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Honig, der Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen enthält, ist in seiner Qualität in keiner Weise gemindert. Es besteht keine Kennzeichnungspflicht, und auch
die Verkehrsfähigkeit ist nicht beeinträchtigt.
Es ist ein bösartig gestreutes Gerücht, dass der Gehalt
von Bt-Maispollen im Honig dazu führt, dass dieser als
Sondermüll bewertet werden muss. Die Bundesregierung hat im Ausschuss sehr eindeutig festgestellt, dass es
keine Anweisung an den in Bayern betroffenen Imker
gegeben hat, so zu handeln. Es war seine eigene Initiative, dies zu tun.
Die FDP-Bundestagsfraktion will mit diesem Antrag
auf die Notwendigkeit der Novellierung der Bienenschutzverordnung hinweisen, mit dem Ziel, den Schutz
der Bienenvölker in Deutschland zu verbessern. Wir unterstützen ausdrücklich die Fortführung des Bienenmonitorings; denn wir sind der Meinung, dass wir nur bei
genauer Kenntnis der Situation der Bienenvölker die
richtigen Maßnahmen treffen können, um den Schutz
der Bienenvölker zu gewährleisten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Die Rede des Kollegen Dr. Wilhelm Priesmeier aus
der SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1)
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Dass wir die Biene Maja kennen, haben
wir gerade festgestellt. Auch die Ossis kennen sie mitt-
lerweile. Wie wichtig die Bienen aber sind, werden wir
vielleicht erst merken, wenn sie nicht mehr vorhanden
sind. Als Bestäuber - das ist schon angesprochen wor-
den - sind sie wichtige Garanten für die Erträge in der
Landwirtschaft und im Gartenbau. Sie sorgen für den
Honig. Die Bienen sind damit eines der wichtigsten
Nutztiere, die wir überhaupt haben.
Es geht den Bienen aber nicht gut. Auch den Imkerin-
nen und Imkern geht es nicht gut.
Erstes Beispiel. Dass im vergangenen Jahr die An-
wendung eines Beizmittels zur Behandlung des Mais-
saatgutes zum Tod von 11 500 Bienenvölkern geführt
hat - dieser Skandal ist schon angesprochen worden -,
1) Anlage 4
war zwar auf eine technische Panne zurückzuführen.
Aber ich finde, dass es angesichts eines solchen Ausmaßes eigentlich nicht mehr wichtig ist, ob die Ursache
Sorglosigkeit oder ob es gewollt gewesen ist.
Ein Imker schrieb mir auf diesen Vorfall hin: Stellen
Sie sich vor, Sie fahren mit einem Auto über das Land
und sehen Hunderte tote Kühe auf einer Weide liegen.
Jeder normal denkende Mensch würde sofort die Polizei
verständigen; Medien und Nachrichten würden berichten. Wissenschaftler würden eifrig nach dem Grund für
den Massentod forschen. So ist die Situation bei den
Bienen. Es gibt Millionen und Abermillionen von Leichen; aber es gibt keine Polizei und keinen Aufschrei. Ich denke, das sollte uns durchaus zum Nachdenken
bringen.
Zweites Beispiel. Wenn Bienen gentechnisch veränderte Pflanzen anfliegen, ist der Honig nicht mehr verkehrsfähig. Hierzu gibt es ein offenes Gerichtsverfahren;
widerlegt ist dies noch nicht. Zu gut Deutsch: Man muss
diesen Honig im Rahmen eines Vorsorgeverfahrens vernichten.
Drittes Beispiel. Die Bienen finden immer seltener attraktive Blüten. In der ausgeräumten Agrarlandschaft
fehlen Brachflächen und Kulturpflanzenvielfalt. Monokulturen und eingeschränkte Fruchtfolgen verstärken
diesen Effekt.
Viertes Beispiel. Ein Bienenmonitoring wird zwar
durchgeführt - dies ist schon angesprochen worden -,
aber merkwürdigerweise sind gerade Pestiziduntersuchungen nur am Rande Teil dieses Bienenmonitorings.
Das wundert einen schon. Vielleicht ist der Grund, dass
die Industrie dieses Bienenmonitoring mitfinanziert.
Fünftes Beispiel. Die Bienen werden von immer weniger, immer älteren Imkerinnen und Imkern betreut, immer häufiger „nur“ als Hobby. Immer weniger fangen
neu an. Das ist ein Zukunftsproblem, das auch mit den
Rahmenbedingungen zu tun hat.
Es gibt also viele Probleme, die zu lösen sind. Der
Antrag der FDP ist angesichts dieser Situation allerdings
scheinheilig. Er ist ein Trojanisches Pferd. Auf den ersten Blick sieht er zwar gut aus.
({0})
Aber es steckt Unheil in ihm. Unter dem Mäntelchen der
Bienenfreundlichkeit verdeckt die FDP den Lobgesang
auf ihre beiden einzigen Klassiker: Pestizide und Agrogentechnik. Aber gerade diese beiden Aspekte stellen
die zentralen Probleme der Imkerei dar; das werden viele
Imkerinnen und Imker bestätigen.
Dazu zwei Beispiele. Die FDP will - das ist gerade
vorgetragen worden - den Maiswurzelbohrer mit ihrer
Allzweckwaffe, der Agrogentechnik, bekämpfen.
({1})
Aber die Imkerinnen und Imker gehen schon jetzt wegen
der Agrogentechnik auf die Straße und protestieren. Die
FDP will den Imkernachwuchs fördern. Das wollen wir
alle. Aber es sind doch gerade die beim Einsatz von Pestiziden bestehenden Probleme und die dadurch verursachten Zwischenfälle, die Monokulturen und die Agrogentechnik, die vielen Imkerinnen und Imkern die Lust
an der Arbeit verderben.
In den einschlägigen Imkerforen ist der vorliegende
Antrag verrissen worden. Vielleicht hat die FDP deswegen eine Anhörung zur Situation der Imkerinnen und Imker, die die Grünen und die Linken durchführen wollten,
abgelehnt.
Die Linke bleibt dabei: Die Zukunft der Imkerei ist
uns wichtig. Es ist ein dringend zu bearbeitendes Thema.
Ich denke schon, dass die Bundesregierung es sträflich
vernachlässigt hat. Dabei geht es nicht um das Hobby einiger älterer Herren. Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eine wichtige Leistung. Die Imkerei muss gestärkt werden, man darf ihr nicht immer
neue Steine in den Weg legen.
Ja, im Antrag der FDP stehen auch Maßnahmen, denen wir zustimmen könnten, wenn die Gesamtposition
stimmen würde. Das gilt für die Bienengesundheit und
die Überprüfung der Pestizid-Zulassungsverfahren.
Auch die Umsetzung der Idee eines Imkerpasses oder
Bienenführerscheins analog zum Angelschein könnten
wir uns vorstellen; das wäre überlegenswert.
Trotzdem werden wir diesem Trojanischen Pferd
nicht zustimmen und damit den Antrag der FDP ablehnen.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Ulrike Höfken das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bienen sind das drittwichtigste Nutztier. Man
schätzt den volkswirtschaftlichen Wert der Bestäubungsleistung in Deutschland auf 2 Milliarden Euro, das heißt,
neben den umweltbezogenen Gründen gibt es noch viele
andere Gründe, große Aufmerksamkeit auf das Anliegen
der Imker zu lenken.
Es geht aber weder um „Summ, summ, summ“ noch
um die Biene Maja, sondern die Imker schlagen Alarm.
Immer weniger Bienen überleben im Moment in ihrer
Umwelt. Auch die Importe, die Frau Happach-Kasan
schon angesprochen hat, werden zu einem großen Problem - Stichwort: Südafrika.
Es ist schon gesagt worden: Die FDP klammert in ihrem Antrag die wesentlichen Probleme der Imkerei aus.
({0})
Das hat wohl mit der Industrielastigkeit der FDP-Politik
zu tun.
Immerhin haben Sie die Probleme der industriellen
Landwirtschaft und der Monokulturen angesprochen.
Leider ziehen Sie daraus aber keine Schlussfolgerungen.
Die Varroa-Milbe ist zwar ein großes Problem, beileibe
aber nicht das einzige. Das von der FDP vorgeschlagene
Konzept einer Impfung ist nach Aussage von renommierten Bienenexperten nichts als Unfug.
Die Bieneninstitute, so haben wir auf einer Anhörung
der Grünen gehört, haben schon sehr wirkungsvolle
Maßnahmen zur Bekämpfung der Varroa-Milbe vorgeschlagen, die sich auch entwikkeln. Wir sollten auch darüber nachdenken, ob wir den Imkern bei der Bekämpfung der Seuche jetzt durch weniger Auflagen und
Bürokratie und mehr finanzielle Unterstützung helfen
können.
({1})
Es ist schon so, wie Frau Tackmann es auch gesagt
hat: Ihre Allheilwaffe, nämlich der Genmais, spielt hier
wieder eine Rolle. Das Allerabsurdeste ist, dass Sie jetzt
auch noch indirekt den Vorschlag machen, die Pestizidbelastung in der Landwirtschaft durch die Einführung eines lebenden Pestizids, nämlich des Genmaises, zu senken. Man muss dazu sagen: Gerade durch die Initiative
von Bayern - da gibt es eine FDP/CSU-Regierung wurde der Genmais MON 810 wegen großer Gefahren
für die Umwelt, zum Beispiel für die nützlichen Insekten, verboten. Es kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein, hier
solche absurden Vorschläge zu machen.
Ein weiteres gravierendes Problem stellen die Pestizide dar. Clothianidin ist schon erwähnt worden. Das ist
aber eben kein Einzelfall oder Unfall, sondern nur die
Spitze des Eisberges. Belegt ist ja auch die Vergiftung
von 1 200 Bienenvölkern durch die Pestizidanwendung
auf niedersächsischen Kartoffelfeldern.
({2})
Die Behauptung der FDP, dass es in den letzten Jahren gelungen sei, die Gefährdung der Bienen durch Pestizide auszuschließen, ist reine Schönfärberei, weil dem
Julius-Kühn-Institut nur noch ein Bruchteil der tatsächlichen Vergiftungsfälle gemeldet wird. Der Imker soll
dann eine Pflanzenprobe dazulegen. Das ist bei dem großen Gebiet, das eine Biene anfliegt, aber außerordentlich
schwierig. Bienenvergiftungen werden durch Bürokratie
und fehlende Analysekapazitäten daher nur teilweise erfasst. Hier wäre Geld richtig eingesetzt, um die Untersuchungsmöglichkeiten zu verbessern.
({3})
Zu den subletalen Effekten - auch sie wurden schon
angesprochen -: Hier gibt es einen erheblichen Bedarf
an Untersuchungen. Darin sind wir uns vielleicht sogar
einig. Ganz klar ist aber: Die französische Zulassungsbehörde für Pflanzenschutzmittel hat die Daten des deutschen Bienenmonitorings nicht von ungefähr als ungeeignet für die Zulassung von Clothianidin beurteilt. Das
gilt übrigens ebenso für die Beurteilung des Monitorings
für den Genmais. Man muss auch sagen: Die Mitfinanzierung der Agroindustrie und die Ausklammerung dieser ganzen Problemlage haben wohl miteinander zu tun.
Klar ist, dass die Beizmittel mit technischen Lösungen allein nicht zu verbessern sind, vor allem dann nicht,
wenn es sich um Neonicotinoide handelt. Wir wissen
vom Guttationswasser sowie von Staub und Abrieb, der
auch bei normaler Anwendung von Beizmitteln auftritt.
Wir halten es für völlig absurd, dass die FDP eine Wiederzulassung von Clothianidin fordert. Wir halten das
für völlig unverantwortlich.
Wir möchten handeln.
({4})
Kollegin Höfken, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Wir möchten eine Erleichterung für die Imker
bei der Bekämpfung der Varroatose, das Verbot von
Saatbeizungsmitteln aus der Gruppe der Neonicotinoide,
neue Forschung und Testverfahren bei den subletalen
Schädigungen, eine Verbesserung der Forschung, aber
natürlich auch mehr Fördermittel für den Ökolandbau
und selbstverständlich die Beendigung der Agrogentechnik auf unseren Äckern.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Schutz der Bienenvölker sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12267, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/10322 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Menschenrechtssituation in den Ländern
der Andengemeinschaft und Venezuela
- Drucksachen 16/9866, 16/11297 Hierzu liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Eduard
Lintner für die Unionsfraktion, Wolfgang Gunkel für die
SPD-Fraktion, Florian Toncar für die FDP-Fraktion,
Vizepräsidentin Petra Pau
Michael Leutert für die Fraktion Die Linke und Thilo
Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vor ziemlich genau einem Jahr fand an dieser Stelle
eine große Debatte über die Beziehungen Deutschlands
und Europas zu den lateinamerikanischen Ländern statt.
Die Bundeskanzlerin hat mit ihrer Lateinamerika-Reise
wenig später auch noch einmal die Bedeutung unserer
Beziehungen zu diesem Teil der Welt unterstrichen. Meine
Fraktion hat zu dieser Lateinamerika-Offensive der deutschen Politik ein eigenes Strategiepapier beigesteuert, in
dem ganz bewusst auch der Stellenwert von Demokratie
und Menschenrechten betont wird. Damit haben wir uns
dazu bekannt, dass der Dialog über diese Themen einer
der Eckpfeiler des europäisch-lateinamerikanischen Austausches sein muss und dass wir für eine aktive Förderung auf diesem Gebiet eintreten. Daher begrüße ich
auch die sich heute bietende Gelegenheit, nach einem
Jahr nun eine Bestandsaufnahme der menschenrechtlichen Situation in der Andengemeinschaft und Venezuela
zu machen.
Wichtig ist zunächst einmal, dass die Regierungen aller hier behandelten Staaten sich zu Demokratie und
Menschenrechten bekennen. Dies war früher nicht selbstverständlich und stellt deshalb einen positiven Trend dar.
Im Detail gibt es dann aber doch merkliche Unterschiede
zwischen den einzelnen Staaten. So hat sich die Menschenrechtssituation in Kolumbien in den vergangenen
Jahren merklich verbessert. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es der Regierung gelungen ist, den
Bürgerkrieg einzudämmen und die nichtstaatlichen Gewaltakteure in ihre Schranken zu weisen. Dadurch ist das
Leben vieler Menschen in Kolumbien friedlicher und sicherer geworden. Aber die Umtriebe von mächtigen Banden sind nach wie vor ein bedrückendes Problem.
Kolumbien braucht daher nach wie vor die Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft bei der Bekämpfung
dieser Banden. Das Konzept, diese Gruppen als legitime
politische Akteure anzuerkennen und in einen politischen
Prozess einzubinden, wie es in der Vergangenheit von
manchen Kollegen hier im Hause gefordert worden ist,
kann keine Lösung sein.
Für Venezuela ist festzuhalten, dass der Drang von
Staatschef Hugo Chávez, seine Macht gegen Kritik und
Kontrolle abzuschirmen, zu einer Erosion demokratischer Teilhabe und zur Aushöhlung von Bürgerrechten
geführt hat. Auch mit vermeintlichen Verbesserungen bei
der Verwirklichung der sozialen Menschenrechte, wie sie
der Antrag der Grünen anführt, lassen sich die Gefahren
nicht relativieren. Man wird sowieso abwarten müssen,
ob der venezolanische Staat angesichts sinkender Erlöse
für seine Ölexporte weiterhin in der Lage sein wird, seine
Sozialprogramme im bisherigen Umfang zu finanzieren.
Andere Staatschefs in Lateinamerika, zum Beispiel in
Ecuador und Bolivien, wollen offenbar den Führungsstil
von Chávez kopieren. Von der Verbreitung des venezolanischen Herrschaftsmodells geht daher momentan eine
der größten Gefahren für die Entwicklung von Demokratie und die Respektierung von Menschenrechten in der
Region aus.
Weitere negative Tendenzen sind die weit verbreitete
Korruption, die Schwäche staatlicher Institutionen und
die Unkenntnis vieler Menschen über die eigenen Rechte
in vielen der in der Anfrage behandelten Staaten. Diese
Faktoren erschweren es einer Regierung, menschenrechtliche Standards im eigenen Land durchzusetzen, auch
wenn sie besten Willens ist. Es ist daher sehr begrüßenswert, dass viele der Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, die in der Antwort der Bundesregierung
aufgeführt werden, genau an diesen Punkten ansetzen.
Positiv möchte ich auch die Arbeit der deutschen politischen Stiftungen in Lateinamerika hervorheben, die mit
einer Vielzahl von Projekten die Verwirklichung von
Demokratie und Menschenrechten in Lateinamerika fördern. Erwähnt sei hier zum Beispiel die Hanns-SeidelStiftung, die sich in Ecuador mit einem Stipendienprogramm um die Förderung indigener Nachwuchskräfte
kümmert. Dadurch wird eine gerechte Teilhabe dieser
lange benachteiligten Bevölkerungsgruppe an der Politik
und der Arbeit in der Gesellschaft ermöglicht. Diese Projekte können zwar allein nicht eine ganze Gesellschaft
nachhaltig verändern, aber sie können wichtige Impulse
geben und vorhandene Ansätze fördern. Schön wäre es,
wenn die Bundesregierung mehr Mittel bereitstellen
könnte, um diese Arbeit noch verstärken zu können.
Wie die Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der Grünen bereits deutlich macht, gibt es große
Unterschiede in der Beurteilung der Menschenrechtslage
in den Andenstaaten und Venezuela. Während die Länder,
in denen linksgerichtete Regierungen in den letzten Jahren an die Macht gekommen sind, die Verbesserung der
Lebensbedingungen für die ärmsten Bevölkerungsteile in
den Vordergrund stellen, ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Menschenrechte und Gerechtigkeit in
Staaten wie Kolumbien sehr viel präsenter. Länder wie
Venezuela drohen den Blick auf menschenrechtliche Mindeststandards zu vernachlässigen oder produzieren in
neuen Herrschaftskonstellationen neue Gefahren für demokratische und menschenrechtliche Mindeststandards.
Es liegen nun zwei Entschließungsanträge der Grünen
vor, die die Bundesregierung auffordern, ihre Bemühungen um die Einhaltung von Menschenrechten speziell in
Kolumbien und Venezuela zu intensivieren. Beide Anträge vermitteln das Bild, die Bundesregierung würde
nicht mit Nachdruck auf die Einhaltung der Menschenrechte einwirken. Das ist nicht richtig. Es stellt sich eher
das Problem, dass durch internationale Bemühungen
zwar Rechte per Gesetz festgeschrieben, aber in der
Realität nicht exekutiert werden. Beide Anträge bieten
keinen Ansatz einer Lösung des Problems, dass trotz liberaler Gesetzgebung in den Anden-Staaten Menschenrechtsverletzungen durch staatliche und nichtstaatliche
Akteure an der Tagesordnung sind.
Internationaler Druck ist notwendig, aber die internationale und auch nationale Aufmerksamkeit für Menschenrechte bedeutet keinesfalls, dass auch die angekün24112
digte Umsetzung von Verbesserungen vorangeht. Dies
möchte ich am Beispiel Kolumbien verdeutlichen. In einer Einzelreise nach Kolumbien im März dieses Jahres
hatte ich die Möglichkeit, mich über die Situation der
Menschenrechte in Kolumbien persönlich zu informieren.
Dabei trat die Diskrepanz zwischen der verlautbarten
rechtlichen Verbesserung der Menschenrechtssituation
einerseits und den Berichten und Erfahrungen der Aktivisten andererseits deutlich zutage. Im Kontext der gerade von Deutschland eingeforderten Verrechtlichung sozialer und menschenrechtspolitischer Standards wird viel
zu oft den offiziellen Darstellungen vertraut, dass man
sich zwar auf einem schwierigen, aber richtigen Weg befände. Übereinstimmend berichteten die Menschenrechtsorganisationen in Kolumbien vom gravierenden
Anstieg sogenannter Falsos positivos, also gefälschter
Positivmeldungen, mit denen die reale Anzahl von extralegalen Hinrichtungen durch Armee- oder Polizeiangehörige, die Morde an und die Überfälle auf Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten verschleiert werden
sollen. Im Zusammenhang mit dem Erwartungsdruck auf
die kolumbianische Regierung ist diese Zahl gefälschter
Meldungen im zweiten Halbjahr 2008 wieder angestiegen. So ist auch die Aussage des kolumbianischen Verteidigungsministers kritisch zu hinterfragen, dass nach Oktober 2008 keine extralegalen Hinrichtungen mehr
vorgenommen wurden. Dies entspricht nach übereinstimmender Beobachtung der lokalen Menschenrechtsorganisationen nicht der Wahrheit.
Aber auch wenn die Anzahl der Übergriffe offizieller
Institutionen aufgrund des internationalen Drucks zurückgeht, bedeutet dies leider nicht, dass sich die Verknüpfung, ja quasi Arbeitsteilung, zwischen Armee und
Paramilitärs verändert hätte. Noch immer teilen sich Armee und Paramilitärs die zu kontrollierenden Regionen
auf, und der Terror der Paramilitärs nimmt deutlich zu.
Dabei ist eine Verschiebung zu beobachten. Während auf
der einen Seite die Entwaffnung der alten Paramilitärs
erfolgt, entstehen auf der anderen Seite neue paramilitärische Gruppen, die sich auch wieder neu bewaffnen.
Während offiziell die Meinungspluralität propagiert und
in vielen warmen Worten die Bedeutung der Menschenrechte beschrieben wird, sehen sich Menschenrechtsaktivisten, NGOs und selbst die Kirche mit dem Vorwurf
konfrontiert, Handlanger der Guerilla zu sein. Dabei verfehlen die verbalen Ausfälle von Vertretern der Regierung
nicht ihre Wirkung. Die namentlich Erwähnten sehen sich
danach nicht selten konkreten Drohungen ausgesetzt. Der
Nationale Aktionsplan wird von der Regierung beharrlich blockiert, weil rechtliche Garantien der Menschenrechtsarbeit offensichtlich nicht in ihrem Interesse sind.
Ungewöhnlich häufig sehen sich Menschenrechtsaktivisten mit der Justiz konfrontiert. Verhaftungen und juristische Verfolgung nach fadenscheinigen und oft recht
durchsichtigen Anklagen sind keine Seltenheit.
Parallel existiert auch weiterhin bei den staatlichen
Stellen eine Kultur des Wegsehens, wenn ökonomische Interessen mit Einschüchterung und Mord durchgesetzt
werden. Internationale Konzerne kooperieren eng mit
den Paramilitärs, um den Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne oder gegen Vertreibung zu zerschlagen. Die Regierung weiß um diese Verbindungen
und tut nichts für einen besseren Schutz von Gewerkschaftern oder Vertriebenen. Es gibt genug Beispiele, in
denen multinationale Großkonzerne Morde an Gewerkschaftern angeordnet haben, doch im Interesse der kolumbianischen Wirtschaft gehen die Täter durchweg
straffrei aus.
Eines der größten Probleme Kolumbiens ist die Verteilung von Land. Die Einschüchterung, Enteignung und
Vertreibung der Kleinbauern durch Armee, Paramilitärs
und Guerilla hat Kolumbien zu dem Land mit den meisten
Binnenflüchtlingen der Welt gemacht. Unabhängige Beobachter rechnen mit bis zu vier Millionen Flüchtlingen
innerhalb Kolumbiens, die in extremer Armut und ohne
ausreichenden Zugang zu Nahrung, medizinischer Mindestversorgung oder gar Bildung leben müssen. Trotz eines viel beachteten Urteils des Verfassungsgerichts, das
die mangelnde Unterstützung der Flüchtlinge als verfassungswidrigen Zustand charakterisiert hat, hat sich ihre
Situation nicht verbessert. Auch hier sehen sich Menschenrechtsaktivisten mit einer deutlichen Diskrepanz
zwischen offizieller Darstellung und der Realität konfrontiert. Während offizielle Stellen verkünden, dass bisher
120 000 Hektar der von den Paramilitärs gewaltsam enteigneten 6,5 Millionen Hektar Land im Rahmen der
Nationalen Versöhnungs- und Wiedergutmachungskommission - CNRR - eingebracht wurden, berichten die Menschenrechtsorganisationen von gerade einmal 28 Landgütern mit 7 000 Hektar, die in die CNRR eingegangen
wären. Zusätzlich sehen sich die Vertriebenen-Selbstorganisationen einer extremen Bedrohung gegenüber.
Allein in der letzten Zeit wurden sieben Vertreter der Organisationen ermordet. Besonders die indigene und afrokolumbianische Bevölkerung ist von den gewaltsamen
Vertreibungen betroffen. Gerade die Indigenen sind doppelt betroffen, da ihre Sonderrechte als Indigene territorial gebunden sind und nach einer Vertreibung so zusätzlich der Zugang zu Grundversorgungen erschwert wird.
Man kann an diesen Beispielen deutlich sehen, dass
zwischen den offiziellen Stellungnahmen der Regierungsstellen und der Realität ein deutlicher Unterschied besteht. Der internationale Druck ist richtig und notwendig.
Erst dadurch hat es gewisse Veränderungen in der kolumbianischen Politik gegeben. Gleichwohl zeigen die Beispiele auch, dass den offiziellen Verlautbarungen mit Vorsicht zu begegnen ist. Deutschland muss hier mit gutem
Beispiel vorangehen und die Gespräche hinsichtlich der
Menschenrechtsprobleme mit der kolumbianischen Regierung intensivieren und gleichzeitig bei abzuschließenden Verträgen Verbesserungen der Situation verlangen.
Das Beispiel Kolumbien zeigt die grundsätzliche Problematik der internationalen Gemeinschaft gegenüber
den Andenstaaten. Viele menschenrechtliche Mindeststandards sind zwar per Gesetz festgelegt, doch die Exekutive tut sich schwer mit der Umsetzung. So sind zwar
alle Andenstaaten wie Peru, Bolivien und Ecuador parlamentarische Demokratien mit einer garantierten Meinungsfreiheit und einem unabhängigen und nach westlichen Vorbildern strukturierten Justizsystem. Aber die
Strukturen sind viel zu schwach: Bedrohungen und Einschüchterungen bis hin zum Mord gehen viel zu oft strafZu Protokoll gegebene Reden
frei aus, und die Justizsysteme können aus chronischer
Überlastung und mangelnder Ausbildung von Richtern
und Justizpersonal ihre eigenen Standards nicht einhalten. Deshalb gilt es, in der gesamten Region darauf hinzuwirken, dass genügend Mittel in die Hand genommen
werden, um die menschenrechtlichen Standards auch
wirklich umsetzen zu können.
Gegenstand der heutigen Debatte ist die Menschenrechtslage in den Staaten der Andengemeinschaft sowie
in Venezuela, das 2006 aus diesem Verbund ausgetreten
ist. Damit wird eine Region in den Fokus gestellt, die oft
in der öffentlichen Debatte hinter anderen Themen zurücktreten muss.
Es handelt sich um eine Region, in der es einerseits
sehr viele Gemeinsamkeiten gibt. Diese beziehen sich
nicht nur auf das gemeinsame kulturelle Erbe und geteilte
historische Wurzeln. Auch sind viele der aktuellen menschenrechtspolitischen Herausforderungen, denen diese
Länder gegenüberstehen, ähnlich. In der Regel sind
staatliche Sicherheitskräfte oder Rebellen bzw. Milizen
die Urheber der großen Mehrheit der zu verzeichnenden
Menschenrechtsverletzungen. Polizei und Militär werden
in den wenigsten Fällen für Übergriffe zur Verantwortung
gezogen. Die Justizsysteme sind überlastet und aufgrund
personeller und materieller Mängel nicht in der Lage,
Rechtsstreitigkeiten gemäß internationalen Standards
abzuarbeiten. Dies untergräbt vielerorts die verlässliche
Rechtsstaatlichkeit für die Bürger. Ebenso verbindet die
Staaten, dass sie über nur mangelhafte Gefängnisse verfügen, in denen die Haftbedingungen teils menschenunwürdig sind. Trauriger Spitzenreiter ist hier Venezuela,
wo die Gefängnisse teils dreifach überbelegt sind und
eine strenge Hackordnung unter den Insassen herrscht,
die zu zahlreichen gewaltsamen Übergriffen unter den
Gefangenen führt. Ebenso ist in allen Staaten die weitverbreitete Armut ein großes Problem für die Bevölkerung
bei der Verwirklichung ihrer Freiheits- und Teilhaberechte. Armut wirkt sich besonders im ländlichen Raum
negativ auf Bildungschancen und den Zugang zu gesundheitlicher Grundversorgung und sauberem Trinkwasser
aus. Eine weitere Parallele in der Entwicklung dieser
Staaten ist, dass die Rechte von Frauen beispielsweise im
Hinblick auf gleiche Entlohnung für gleiche Arbeit nur
unzureichend verwirklicht werden. Kinder werden vielerorts Opfer von Menschenhändlern und sexueller Ausbeutung.
Jedoch bestehen zwischen den Staaten auch zahlreiche,
teils gravierende Unterschiede. Die Regierung Perus versucht, auf relativ pragmatische Weise die Herausforderungen des Landes zu bewältigen, und sieht sich dabei
zahlreichen Hürden gegenüber. Bei der Aufarbeitung der
Menschenrechtsverbrechen der „20 Jahre der Gewalt“
({0}) durch den Leuchtenden Pfad ({1}) und die Tupac Amarú ({2}) wurden zwar
auch einige Verantwortliche aus dem Staatsapparat juristisch zur Rechenschaft gezogen. Allerdings wurden diese
wenigen Erfolge gegen den zähen Widerstand der Streitkräfte errungen. Ein Lichtblick ist die Verurteilung des
ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori im April 2009,
der für die brachiale Vorgehensweise bei der Niederschlagung der Guerilla politisch verantwortlich war.
In Ecuador und Bolivien wurden in sehr kontroversen
Auseinandersetzungen neue Verfassungen erarbeitet und
in Kraft gesetzt. In Ecuador, wo seit Herbst 2008 eine
neue Verfassung gilt, wurden einerseits zwar zahlreiche
Menschenrechte formal definiert. Jedoch ist zu befürchten, dass die neue Verfassung die demokratische Kultur
des Landes durch die neu geschaffenen „Bürgerräte“ als
„vierte Gewalt“ negativ beeinflussen wird.
In Bolivien hat die Regierung von Evo Morales zwar
die Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt gerückt. Jedoch ist die Enteignung ausländischer Unternehmen, die
sich im Öl- und Gassektor Boliviens engagiert haben, ein
schwerer Fehler, der nur dem kurzfristigen Machterhalt
dient, aber dem Land langfristig schadet. Erfreulicherweise scheint sein Programm zur Schaffung eines
sozialistischen Systems nach venezolanischem Vorbild
auf derartig entschlossenen Widerstand in den östlichen
Provinzen des Landes gestoßen zu sein, dass Morales zu
wichtigen Zugeständnissen gezwungen werden konnte.
Wichtig ist, dass alle politischen Kräfte im Land begreifen, dass eine weitere Eskalation der Auseinandersetzungen vermieden werden muss.
Die menschenrechtliche Entwicklung in Venezuela ist
äußerst besorgniserregend. Das Land hat in den vergangenen Jahren große Rückschritte bei der Achtung bürgerlicher und politischer Menschenrechte gemacht und stellt
damit einen eindeutigen Negativausreißer dar. Der von
den Grünen vorgelegte Entschließungsantrag drückt dies
teilweise aus. So wird zu Recht darauf hingewiesen, dass
der venezolanische Präsident Hugo Chávez sich die Justiz des Landes durch Benennung ihm loyaler Richter hörig gemacht hat. Es ist das einzige Land, in dem die politische Unabhängigkeit der Justiz eindeutig nicht gegeben
ist. In ihrem Antrag übersehen die Grünen aber darüber
hinaus, dass auch die parlamentarische Kontrolle der Regierung seit der Parlamentswahl 2005 nicht mehr gegeben ist. Damals beteiligte sich die Opposition nicht an
den Wahlen, da sie den begründeten Verdacht hatte, dass
Präsident Chávez Einfluss auf die Wahlkommission ausüben wollte und ein fairer Wahlkampf nicht möglich war.
Auch aus diesem Grund kann von einer funktionierenden
Gewaltenteilung in Venezuela leider keine Rede mehr
sein. Dies hätte im Entschließungsantrag der Grünen herausgearbeitet werden müssen.
Erfreulicherweise weisen die Grünen auf die Verletzungen der Presse- und Meinungsfreiheit in Venezuela
hin. Trauriger Höhepunkt war der Entzug der Sendelizenzen des ältesten und wichtigsten privaten Fernsehkanals
RCTV durch die Regierung Chávez. Ebenso wurden in Venezuela Menschenrechtsorganisationen in den letzten
Jahren Opfer gezielter staatlicher Repression. Trotz sprudelnder Öleinnahmen ist es Caracas nicht gelungen, die
Armut im Lande entscheidend zu lindern. Im Gegenteil,
die Abhängigkeit von Rohstoffexporten steigt und der
Mittelstand wird schwächer. Auch hat die Kriminalität
neue Höchststände erreicht, wobei die Zustände in den
venezolanischen Gefängnissen zu den schlimmsten nicht
nur in Lateinamerika, sondern weltweit zählen. Damit ist
Zu Protokoll gegebene Reden
die menschenrechtliche Bilanz von Präsident Hugo
Chávez die mit Abstand schlechteste in der Region. Leider hat der politische Abenteurer und Provokateur
Chávez die politische Macht in der einst stabilen Demokratie Venezuela so fest an sich gerissen, dass ein Machtwechsel auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist. Obwohl
die von den Grünen geforderten Maßnahmen insgesamt
sinnvoll sind, hätte der Antrag noch deutlicher die Vorgehensweise von Chávez verurteilen müssen. Daher wird
die FDP sich bei diesem Entschließungsantrag enthalten.
Besser verhält sich die Entwicklung in Kolumbien, einem kriegszerrütteten Land, das zur Stabilität den weitesten Weg vor sich hat. Die Regierung von Präsident Alvaro
Uribe hat es vermocht, durch eine Mischung aus militärischer Stärke und Friedensangeboten die einst mächtigen Paramilitärs als politisch-militärischen Machtfaktor
zu schwächen. Die Angebote zur Demobilisierung wurden von vielen der sogenannten Paras angenommen, sodass sich ein Teil heute wieder in die Gesellschaft integriert hat. Ein anderer Teil hat erneut zu den Waffen
gegriffen und geht jetzt hauptsächlich kriminellen Machenschaften im Drogengeschäft nach. Die Aufarbeitung
der von den Paras begangenen Verbrechen durch eine
Wahrheitskommission einerseits und eine strafrechtlich
Verfolgung der Anführer andererseits zeigt erste Erfolge.
Viele der Drahtzieher sitzen mittlerweile wegen Rauschgiftdelikten in den USA in Haft. Auch ist eine Verbesserung des Justizapparats in Kolumbien nicht zu übersehen. Dabei ist erfreulich, dass auch Deutschland hierbei
einen konstruktiven Beitrag beispielsweise durch die Ausbildung von Staatsanwälten leistet. Die FDP verbindet
mit dieser Hilfe die Erwartung, dass die kolumbianische
Regierung und die Justiz weiterhin und verstärkt gegen
Straflosigkeit, Korruption, Waffen- und Drogenhandel
und auch gegen Verbrechen der staatlichen Sicherheitsbehörden vorgehen. Die Guerillas, die weiterhin die
Landbevölkerung terrorisieren, hunderte Geiseln gefangen halten und eng mit der Drogenmafia zusammenarbeiten, sind zwar militärisch geschwächt und haben stark an
Zulauf verloren, sind aber noch nicht ausgeschaltet.
Doch scheint das besonnene Vorgehen der Regierung
Uribe in die richtige Richtung zu weisen.
Trotz der weiter anhaltenden Bürgerkriegsgewalt ist in
den letzten Jahren eine eindeutige positive Entwicklung
bei der Achtung der Menschenrechte in Kolumbien zu
konstatieren. Daher ist die Stoßrichtung des von den Grünen zu Kolumbien vorgelegten Entschließungsantrags
verfehlt. Wenn die Grünen die Politik von Präsident
Uribe als gescheitert bezeichnen, so verkennen sie
schlicht die Lage vor Ort. Auch hat die Regierung Uribe
die Verbindungen von Paramilitär zu Mitgliedern der Regierung und der Partei des Präsidenten nicht geleugnet,
wie von den Grünen behauptet wird. Vielmehr hat der
Präsident alle Anschuldigungen untersuchen lassen und
dabei auch vor Ermittlungen gegen enge politische Vertraute nicht haltgemacht. Als Indiz, wie gradlinig und effektiv diese Untersuchungen bisher verlaufen sind, dient
die Tatsache, dass mehrere Dutzend Abgeordnete der Regierungspartei und Provinzgouverneure in Haft genommen wurden. Hier kann keine Rede davon sein, dass politische Korruption unter den Teppich gekehrt wurde. Mit
dieser Anschuldigung verfehlen die Grünen die Tatsachen in Kolumbien. Schon allein aus diesem Grund geht
der Antrag insgesamt in die falsche Richtung. Was die
einzelnen Forderungen anbelangt, finden sich neben einigen sinnvollen Maßnahmen auch völlig kontraproduktive Vorstöße. Dazu zählt, weitere Hürden zum Abschluss
eines Assoziierungsabkommen zwischen Kolumbien und
der EU aufzubauen. Kolumbien braucht für seine weitere
interne Stabilisierung wirtschaftliches Wachstum. Eine
baldige Verbesserung der Handelsbeziehungen mit Europa kann dem nur helfen. Hier weitere Fallstricke zu
spannen, wäre völlig fehl am Platz. Daher werden wir den
Entschließungsantrag zu Kolumbien ablehnen.
Insgesamt ergibt sich ein gemischtes Bild, was die
Achtung der Menschenrechte in den Staaten der Andengemeinschaft und Venezuelas betrifft. Während Peru versucht, pragmatisch die Lage im Lande zu verbessern,
könnten die neuen Verfassungen in Bolivien und Ecuador
neben Verbesserungen der materiellen Situation der indigenen Bevölkerung auch Gefahren für die politische Gewaltenteilung und die Ausbreitung linkspopulistischer
Feldversuche mit sich bringen. Trauriger Spitzenreiter
bei der Missachtung bürgerlicher und politischer Menschenrechte ist Venezuela, wo sich Präsident Chávez in
eine Position zu bringen hofft, in der er noch über viele
Jahre das Land beherrschen kann. Dagegen zeigt Kolumbien, dass politischer Wettbewerb auch in diesen Ländern
möglich ist. Das verdient Respekt - und die Unterstützung
Deutschlands und der Europäischen Union.
Die Beantwortung der Großen Anfrage durch die Bundesregierung bietet uns heute die Gelegenheit, die Entwicklung in einer Region zu diskutieren.
Lateinamerika ist - das gilt zumindest für meine Fraktion - eine interessante Region. Um in die Vergangenheit
zurückzugehen: Es ist ja noch nicht so lange her, da war
Lateinamerika überwiegend durch reaktionäre Diktaturen
beherrscht und zugleich Versuchsfeld für neoliberale Modernisierungen. Die damit verbundenen Verwerfungen
sind noch immer spürbar. Heute herrscht Aufbruch, und
ich denke, dass es nicht pathetisch ist, wenn ich, vor diesem
historischen Hintergrund, Lateinamerika als einen Motor
sozialer und politischer Emanzipation bezeichne.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der gewürdigt
werden muss. 1973 wurde die Regierung Allende durch
einen blutigen Militärputsch hinweggefegt, ein faschistischer Massenterror gegen die tatsächlichen und vermeintlichen Anhänger der Unidad Populare folgte. Dass
nach dieser historischen Erfahrung es gerade in Lateinamerika noch einmal dazu kommen könnte, dass Linksregierungen den Weg einer ambitionierten Politik gehen
würden, die Armutsbekämpfung, Umverteilung von Reichtum und Vergesellschaftung von natürlichen Ressourcen
umfassen, dass sie diesen Weg gehen würden, ohne dabei
zum Mittel der Diktatur zu greifen, das erfreut zumindest
meine Fraktion.
Die Voraussetzungen, von denen in Lateinamerika
ausgegangen werden muss, sind andere als nach 1945 in
Westeuropa. Das kriegszerstörte Westeuropa kam in den
Zu Protokoll gegebene Reden
Genuss des Marshallplans, Lateinamerika kam in den
höchst zweifelhaften Genuss von IWF und Weltbank. Daher
konnte Westeuropa die großen Fortschritte hin zu einer
sozialen Demokratie machen, Lateinamerika muss diesen
Weg gehen, aber mit den Folgen von Jahrzehnten der
Diktatur und des Neoliberalismus. Vor diesem Hintergrund müssen die Fortschritte und Defizite der Menschenrechtsentwicklung beurteilt werden. Nur durch ein Verstehen der historischen Entwicklung kann unsere Beurteilung
überhaupt erst kritisch, nicht einfach nur nörgelnd sein.
Überhaupt nicht nachvollziehen dagegen kann ich die
Beurteilung, die Kolumbien in der Antwort auf die Große
Anfrage erhält. Ich möchte nicht zu hart klingen, aber
warum nennt man Kolumbien nicht einfach das, was es
zurzeit ist? Ein durch ultrarechte Paramilitärs gestütztes
reaktionäres Regime. Das summarische Urteil, in Kolumbien habe es eine Verbesserung der Menschenrechtslage
gegeben, wird nicht nur nicht konkretisiert, im unmittelbaren Anschluss zeichnet die Bundesregierung ein geradezu gegenteiliges Bild. Sie widerlegen Ihre eigene Einschätzung.
Zu den vorliegenden Entschließungsanträgen: Der
Entschließungsantrag der Grünen zu Kolumbien reflektiert die Situation in Kolumbien wohl klarer als die Bundesregierung. Ihm werden wir auch zustimmen. Zum auf
Venezuela bezogenen Entschließungsantrag meinen wir,
dass die Einzelforderungen ja nicht gleich falsch sind.
Was aber auffällt ist der Umstand, dass die Gesamtlage der
Menschenrechtsentwicklung in Venezuela vom Antragsteller verzerrt dargestellt wird. Wenn es stimmt, wie die Grünen ja zu Recht meinen, dass es eine über Jahrzehnte andauernde „Kultur der Gewalt“ gegeben habe, kann man
der Regierung Chávez zwar vorhalten, damit noch nicht
fertig geworden zu sein; aber angesichts der von den
Grünen zugestandenen Fortschritte in der Armutsbekämpfung dann ein Gesamturteil zu fällen, dass sich
die Menschenrechtslage verschlechtert habe, erschließt
sich nicht als klar begründet. Deswegen wird die Linke
dem zweiten Entschließungsantrag nicht zustimmen.
Fast ein Jahr ist es her, dass Angela Merkel nach
Kolumbien reiste. Ein Besuch, den sie in „außerordentlich guter Erinnerung“ hat, wie sie sagte, als ihr der
kolumbianische Präsident Alvaro Uribe im Januar einen
Gegenbesuch abstattete. Frau Merkel und Herr Uribe
scheinen sich blendend zu verstehen. Die Beziehungen
zwischen Kolumbien und Deutschland wirken durch die
gegenseitigen Besuche aufgewertet, scheinen ein besonders positives Beispiel dafür zu sein, wie eng die Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika sind.
Ich finde es mehr als verwunderlich, dass die Bundeskanzlerin sich so deutlich hinter ihren Kollegen Uribe
stellt. Denn machen wir uns nichts vor: Dass die Bundeskanzlerin gerade Kolumbien auf ihrer bisher einzigen
Lateinamerikareise besuchte, muss als Zeichen der politischen Unterstützung für Präsident Uribe verstanden
werden. Neben Kolumbien führte ihre Reise sie nach
Peru, wo der EU-Lateinamerika-Gipfel stattfand, der der
Grund der Reise war. Außerdem standen die beiden politischen und wirtschaftlichen Schwergewichte der Region
auf dem Programm: Mexiko und Brasilien. Mexiko zeichnet sich wie Peru und Kolumbien - und sonst kaum ein
Staat der Region - durch eine konservative Regierung
aus. Und Brasilien wird zwar von einem linken Präsidenten regiert, dort galt es aber, eine Verlängerung des
deutsch-brasilianischen Atomvertrags unter Dach und
Fach zu bringen - ein Deal, der die deutsche Atomlobby
mit Sicherheit erfreut.
Die Hofierung des kolumbianischen Präsidenten
durch die Bundeskanzlerin stößt mir nicht auf, weil er
zum konservativen Lager gehört. Sie stößt mir auf, weil
sie mit einer Lobhudelei für eine Regierung einhergeht,
die international respektierte Menschenrechtler öffentlich diskreditiert, sie immer wieder in die Nähe der
Guerilla stellt und damit ihr Leben gefährdet. Wenn Uribe
bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel in Berlin sagt, „das Schlimmste, was dem Sprecher einer NGO
in Kolumbien passieren kann, ist, dass er mit dem Präsidenten diskutieren muss“, ist das reiner Zynismus. Doch
der Zynismus der kolumbianischen Regierung hört hier
nicht auf. Zu finden ist er immer dann, wenn geleugnet
wird, dass in Kolumbien Bürgerkrieg herrscht, ein Bürgerkrieg, der jedes Jahr Hunderttausende in die Flucht
treibt und in dem vom Militär, den Paramilitärs und der
FARC schlimmste Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Zynisch ist es auch, wenn Uribe sagt, dass
„die Streitkräfte Kolumbiens in der Welt die größten Anstrengungen für die Bewahrung der Menschenrechte unternehmen“. Und es ist Zynismus, wenn die Demobilisierung der Paramilitärs als voller Erfolg gelobt wird und
neue Gruppierungen wie die „Aguilas Negras“ als „einfache Drogenhändler“ dargestellt werden. Das Gegenteil
ist der Fall.
Die Unterstützung durch Merkel kommt zu einer Zeit,
in der die Politik Uribes gegen den Paramilitarismus gescheitert ist. Sie kommt zu einer Zeit, in der die Verbindungen zwischen Paramilitarismus, Politik, Wirtschaft
und Militär nicht mehr geleugnet werden können. Und
aus welchem politischen Lager kommen denn die Politiker mit Verbindungen zu den Paramilitärs? Aus dem Lager Uribes!
Wenn hohe Paramilitärs an die USA ausgeliefert und
wegen Drogenhandels zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden, wie zuletzt Diego Murillo, kann man das als
Erfolg verkaufen. Das klappt aber nur so lange, wie man
verschweigt, dass an die USA ausgelieferte Paramilitärs
nie wegen begangener Menschenrechtsverletzungen vor
ein kolumbianisches Gericht gestellt werden können.
Durch diese Auslieferungen wird verhindert, dass den
Opfern von Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit
widerfährt.
Kolumbien war lange der treueste Verbündete der USA
in Lateinamerika. Durch den Regierungswechsel der
USA verändert sich die Situation aber erheblich. Es ist
nicht mehr selbstverständlich, dass die USA Kolumbien
bei der Drogen- und Aufstandsbekämpfung mit massiven
Militärhilfen unterstützen. Wir waren immer gegen den
„Plan Colombia“ und die Vorstellung, dass man mit militärischen Mitteln Drogenanbau und Bürgerkrieg beZu Protokoll gegebene Reden
enden kann. Ein Strategiewechsel der USA gegenüber
Kolumbien scheint bevorzustehen.
Und ich denke, Deutschland täte in dieser Situation
gut daran, seine Position zu Kolumbien zu überdenken
und Menschenrechtsverletzungen deutlich und öffentlich
zu kritisieren. Das gilt für extralegale Hinrichtungen
durch das Militär. Das gilt, wenn Paramilitärs Zivilisten
von ihrem Land vertreiben. Und das gilt auch, wenn
durch die Politik der Regierung Zivilisten in Gefahr geraten, weil keine klare Trennung mehr zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten möglich ist. Es ist die richtige Entscheidung gewesen, dass Deutschland sich nicht
am „Plan Colombia“ beteiligt und auch nicht am angeblichen Waldschutzprogramm „Familias Guardabosques“ gerade weil die Zivilbevölkerung durch diese Programme
in den Konflikt mit hineingezogen wird. Die kolumbianische Regierung versucht immer wieder Unterstützung für
diese Programme zu bekommen - zuletzt bei den „Familias Guardabosques“ und auch hier vergebens. Da kann
man sich schon wundern, warum Uribe sich bei der gemeinsamen Pressekonferenz bei der Bundeskanzlerin dafür bedankt, dass Deutschland genau dieses Programm
unterstütze. Ich denke, der Grund dafür ist, dass von deutscher Seite nicht klar gesagt wurde, dass dieses Programm nicht gefördert wird.
Und es ist auch ein Fehler, wenn die Bundeskanzlerin
Uribe „all unsere Unterstützung“ beim Kampf gegen den
Drogenanbau verspricht. Es wäre fatal, wenn Deutschland in die militärische Drogenbekämpfung einstiege, die
zudem stark mit dem Kampf gegen die Guerilla verwoben
ist. Ich zweifle auch daran, dass die Bundesregierung
ernsthaft erwägt, sich hieran zu beteiligen. Aber dann
kann die Bundeskanzlerin sich doch nicht bei einer Pressekonferenz hinstellen und en passant uneingeschränkte
Unterstützung zusagen. Menschenrechte können in den
bilateralen Beziehungen nicht nur ein Thema für Sonntagsreden sein. Sie müssen im Zentrum des bilateralen
Dialogs stehen - gerade bei einem Staat wir Kolumbien,
der traurige Rekorde bei Menschenrechtsverletzungen
aufstellt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache
16/12879? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf
Drucksache 16/12880? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Markus Löning, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wettbewerbspolitik als Fundament der Sozialen Marktwirtschaft stärken
- Drucksache 16/7522 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Georg
Nüßlein für die Unionsfraktion, Reinhard Schultz für die
SPD-Fraktion, Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion,
Dr. Herbert Schui für die Fraktion Die Linke und
Dr. Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich finde es immer bedauerlich, wenn die FDP eine
richtige Idee aufgreift, am Ende aber bei der Umsetzung
scheitert; wohlgemerkt nicht an den Mehrheitsverhältnissen, sondern an der eigenen Betrachtungsweise. Die
Überschrift ihres Antrages „Wettbewerbspolitik als Fundament der Sozialen Marktwirtschaft stärken“ könnte ich
sofort unterschreiben. Wenn man den Antrag aber liest,
muss man leider feststellen, dass die FDP die soziale
Marktwirtschaft auf reine Wettbewerbspolitik reduziert und das ist falsch.
Die soziale Marktwirtschaft ist keine Einbahnstraße zu
mehr Wettbewerb, schon gar nicht nach dem Motto
„Freies Spiel der Kräfte, der Große frisst den Kleinen“.
Neben Freiheit, Selbstverantwortung, Eigeninitiative und
Wettbewerb brauchen wir einen durchsetzungsfähigen
Staat, der für einen stabilen Rechtsrahmen sorgt und sich
auf die Solidarität mit den Schwachen konzentriert. Das
haben der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung
eindrucksvoll mit ihren schnellen, kraftvollen Maßnahmen
im Kampf gegen die Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise in Deutschland eindrucksvoll bewiesen. Unser
Staat, unsere soziale Marktwirtschaft hat funktioniert. Als
der Zusammenbruch unseres Bankensystems drohte, haben
wir innerhalb von Tagen einen wirkungsvollen Rettungsschirm gespannt, und mit zwei gewaltigen Konjunkturprogrammen - die langsam ihre Wirkung entfalten - haben
wir uns an die Seite unserer leistungsfähigen Unternehmen
gestellt, um ihnen in diesen schwierigen Zeiten zu helfen.
Wir haben in Sachen HRE-Bank die gesetzlichen
Grundlagen dafür geschaffen, dass nicht ein Einzelner
die gesamte Volkswirtschaft erpressen kann. Wir werden
beim Thema Bad Banks noch viele Anstrengungen darauf
verwenden müssen, unseren Finanzsektor wieder mit
Gestaltungsspielraum und Vertrauen auszustatten, ohne
die Steuerzahler über Gebühr in Haftungsrisiken zu manövrieren.
Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle betonen, dass
eben nicht die soziale Marktwirtschaft versagt hat, sondern
Versager, insbesondere in den USA, unkalkulierbare Risiken eingegangen sind, sich falscher, interessengeleiteter
Ratings bedient und diese Risiken über die Welt verteilt
haben. Fehlentscheidungen, Lug und Trug kann die soziale
Marktwirtschaft nicht verhindern. Konstitutive Merkmale
sind sie aber nicht.
Richtig ist, dass mehr Wettbewerb, mehr Freiraum für
Eigeninitiativen und individuelle Verantwortung im
Gleichklang mit weniger staatlicher Bevormundung wesentliche Elemente einer zukunftsfähigen, florierenden
Volkswirtschaft sind. Die richtigen Forderungen nach weniger staatlichen Reglementierungen und weniger Bürokratie dürfen aber nicht als Forderungen nach freiem, unreguliertem Wettbewerb verstanden werden. Der Vater der
sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, erklärte zu
Recht, dass „Wohlstand durch Wettbewerb“ und „Wohlstand für alle“ untrennbar zusammengehören.
Mithilfe der sozialen Marktwirtschaft haben wir aus
einem durch einen furchtbaren Krieg zerstörten Land eine
der stärksten Volkswirtschaften der Welt geschaffen. Seit
Jahren sind wir Exportweltmeister und belegen Spitzenplätze auf vielen Weltmärkten. Gleichzeitig haben wir ein
soziales Sicherungssystem aufgebaut, um das uns viele
Länder beneiden. Die soziale Marktwirtschaft hat einen
breit gestreuten Wohlstand gebracht mit einer Fülle von
Chancen für die Menschen. Chancen für alle, das heißt
zum Beispiel, dass jeder die Möglichkeit hat, sich auszubilden und weiterzubilden. Chancen für alle heißt auch,
dass jeder entscheiden kann, ob er als Arbeitnehmer oder
mit einem tragfähigen Konzept als Unternehmer tätig sein
will. Damit jeder diese Chancen ergreifen kann, brauchen wir eine marktwirtschaftliche Ordnung, in welcher
dem Staat die Aufgabe zukommt, den Ordnungsrahmen
der Wirtschaft zu gestalten.
Die Antwort auf die Frage: Wie schaffen wir Wohlstand
für alle?, lautet also nicht: freier, ungebremster Wettbewerb.
Die richtige Antwort lautet: Wir brauchen einen starken
Wettbewerb mit maßvollen wettbewerbspolitischen und in
Ausnahmefällen sogar regulatorischen Maßnahmen des
Staates. Das ist auch der Grund dafür, dass wir Kartellämter und Regulierungsbehörden aufgebaut haben. Sie
dienen dem Schutz des Wettbewerbs als Teil der sozialen
Marktwirtschaft.
Die soziale Marktwirtschaft ist nicht am Ende, wie einige
vom linken Lager behaupten. Die soziale Marktwirtschaft
hat uns die Kraft gegeben, dass Deutschland viel besser
der schweren Banken- und Wirtschaftskrise begegnen kann
als zahlreiche andere europäische Staaten. Die soziale
Marktwirtschaft hat ihre Bewährungsprobe bestanden.
Das ausgewogene Verhältnis von Wettbewerb und sozialer
Verantwortung für alle Menschen wird auch für künftige
Generationen die Grundlage für solides Wirtschaftswachstum und Wohlstand für alle sein.
Der Antrag der FDP sollte eigentlich lauten „Die unkoordinierte Marktwirtschaft stärken“; denn genau das
ist das Ziel, das Sie hier verfolgen. Seit Jahren „beglücken“ Sie uns mit Anträgen, in denen das Hohelied des
Marktradikalismus rauf und runter gespielt wird. Und
selbst jetzt, wo wir mitten in einer der schwersten Wirtschaftskrisen stehen, vertrauen Sie auf die freien und sich
selbst regulierenden Kräfte des Marktes. Dabei waren es
doch gerade die Kräfte eines freien Marktes, nämlich des
Kapitalmarktes, die uns in diese verheerende globale
Finanzkrise gestürzt haben und die für die aktuelle Weltwirtschaftskrise verantwortlich sind. Sie verlieren damit
aus meiner Sicht völlig den gesellschaftlichen Überblick.
Anstatt aus den Ursachen der Krise zu lernen, wollen Sie
mit ihren Deregulierungsforderungen ein System zementieren, das ganz klar versagt hat.
Wir werden Sie dabei gewiss nicht unterstützen und erteilen diesen Forderungen eine deutliche Absage. Denn
wir wollen die Chance, die dieser Krise innewohnt, nutzen und die soziale Marktwirtschaft tatsächlich stärken.
Ein funktionierender und vor allem gerechter Wettbewerb
auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene
ist dabei eine wichtige, jedoch nicht die einzige Komponente. Vielmehr gehört für uns die Balance zwischen wirtschaftlichem Wachstum und sozialer Gerechtigkeit zum
Kern des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells.
Wir wollen soziale Ziele und Grundrechte im europäischen Binnenmarkt stärken und sicherstellen, dass die
wirtschaftlichen Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes keinen Vorrang vor sozialen Grundrechten
und Zielen haben. Nur so entsteht qualitatives Wachstum,
das gemeinwohlorientierten und nachhaltigen Fortschritt sichert. Ein sich selbst überlassener Markt, wie die
FDP ihn fordert, ist sozial und ökologisch blind. Er wird
und muss scheitern.
Sie zitieren in ihrem Antrag von Hayek mit seiner Definition des Wettbewerbs. Ich möchte zum Abschluss meiner Rede den Ökonomen Alfred Müller-Armack zitieren,
der den Begriff und das Konzept der sozialen Marktwirtschaft maßgeblich geprägt hat und dessen Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ ich als erhellende
Lektüre nur dringend empfehlen kann: Demnach ist
soziale Marktwirtschaft keine sich selbst überlassene, liberale Marktwirtschaft, sondern eine bewusst gesteuerte,
und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft. Und das ist
genau die soziale Marktwirtschaft, für die wir stehen.
Wirtschaftspolitisch verstärkt der Reformvertrag der
Europäischen Union, als Vertrag von Lissabon am
13. Dezember 2007 unterzeichnet, die ohnehin schon in
den vertraglichen Grundlagen der Union bestehenden
Spannungsfelder zwischen Markt und Wohlfahrtsstaat,
zwischen Wettbewerb und Intervention sowie zwischen
Systemwettbewerb und Zentralisierung.
Das europäische Bekenntnis zu einem „freien und unverfälschten Wettbewerb“ findet im neuen Grundlagenvertrag nur noch Berücksichtigung als Protokollnotiz.
Auch wenn dies an der bestehenden Rechtslage zunächst
nichts ändert, besteht doch die Befürchtung, dass die Befürworter dieser Änderung die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Grundausrichtung Europas langfristig
ändern wollen. Bertolt Brecht schrieb einmal: „Vertrauen wird dadurch erschöpft, dass es in Anspruch genommen wird.“ Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen.
Die Bundesregierung ist daher aufgerufen, sich in Zukunft wieder für eine auch symbolische Stärkung des
Zu Protokoll gegebene Reden
„freien und unverfälschten Wettbewerbs“ auf europäischer Ebene durch explizite Benennung in den Zielen der
europäischen Verträge einzusetzen.
Zusätzlich ist in nationalen wie internationalen Gesetzgebungen nachdrücklich dafür Sorge zu tragen, dass
das Wettbewerbsrecht nicht zu einem Mittel zur Durchsetzung staatlich definierter Wohlfahrtsziele degradiert
wird. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren ist als
solcher zu schützen. Dies hat schon der renommierte
Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich August von
Hayek zu Recht herausgestellt. Wettbewerb ist das wirkungsvollste Entmachtungsinstrument und dient damit
dem Schutzbedürfnis Einzelner vor der wirtschaftlichen
Macht anderer. Zugleich ist er der beste Verbraucherschutz, da er die Interessen der Verbraucher an der Sicherung einer günstigen Versorgung mit den von ihnen begehrten Produkten und Dienstleistungen gewährleistet.
Wettbewerb fordert aber auch abstrakte, offene Regeln
gerechten Verhaltens, unabhängig von überindividuellen
Zwecken. Wir brauchen daher eine Emanzipation des
Wirtschaftsrechts vom Einfluss gut organisierter Interessengruppen. Starke Wettbewerbshüter sind für die nachhaltige Sicherung marktwirtschaftlicher Strukturen unerlässlich. Ein starkes Kartellamt mit klaren Befugnissen,
adäquater Ausstattung und einem konsistenten ordnungspolitischen Auftrag war und bleibt ein Standortvorteil der
Bundesrepublik Deutschland. Die Unabhängigkeit der
europäischen Wettbewerbspolitik ist durch die Schaffung
eines politisch neutralen Europäischen Kartellamts zu
gewährleisten, welches dem Ziel eines Binnenmarkts mit
freiem und unverfälschtem Wettbewerb verpflichtet ist
und dabei auf ein ergebnisoffenes Wettbewerbskonzept
zum Schutz der Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer
und zur Sicherung einer wettbewerbsförderlichen Marktstruktur vertraut.
Wenn Wettbewerb das Fundament der sozialen Marktwirtschaft sein soll, das behauptet der FDP-Antrag ja,
dann ist die Frage gestellt, was denn der Wettbewerb im
Konzept der sozialen Marktwirtschaft bewirken soll. Für
Eucken - bekanntlich der entscheidende Theoretiker dieser Richtung - war Wettbewerb nicht eine ergebnisoffene
Veranstaltung - so das Verständnis der FDP. Vielmehr
sollte er in seiner Idealform als vollständiger Wettbewerb
drei Ziele verwirklichen: Erstens. Die Unternehmen sind
so klein, dass sie keinen politischen Einfluss ausüben
können. Damit ließe sich eine klare Trennung zwischen
der Sphäre der Wirtschaft und des Staates erreichen.
Zweitens. Der Wettbewerb führt die wirtschaftlichen
Hilfsmittel ihrer bestmöglichen Verwendung zu. Drittens.
Wettbewerb ist die Triebkraft der technischen Entwicklung. Also ein klarer Zweck! Damit kann im Sinne der sozialen Marktwirtschaft Wettbewerb nicht Zweck an sich
sein. Er muss sich vielmehr - wie jede wirtschaftliche Organisationsform - mit seinen Ergebnissen rechtfertigen.
Er kann sich nicht mit sich selbst legitimieren bzw. damit,
dass er - so die FDP - die „Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer“ schützt.
Die FDP ist in ihrem Antrag unentschlossen: Auf der
einen Seite fordert sie den ergebnisoffenen, den Wettbewerb als Selbstzweck - auf der anderen Seite aber soll er
konkreten Schutzanliegen nachkommen, so „die Marktmacht“ eliminieren oder die „Konsumentenwohlfahrt
fördern“. Erfüllt er aber diese Erwartungen, dann ist er
nicht mehr ergebnisoffen. Also was denn nun, was ist die
Wettbewerbsidee der FDP, wie soll er begründet werden?
Die FDP ist besorgt über die Abwertung des Art. 3
Abs. 1 EGV. Darin ist unter anderem der freie Dienstleistungsverkehr festgeschrieben. Damit ist der freie Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt mit gemeint. Die Konsequenzen aus diesem Artikel sind die Dienstleistungsrichtlinie
und etliche Urteile des EuGH, die die Koalitionsfreiheit
drastisch einschränken. So kippte das Rüffert-Urteil das
niedersächsische Vergaberecht. Wie schon in den Urteilen zu Laval und Viking Line hat der EuGH auch hier entschieden, dass der Kampf um gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen mit Verweis auf die Dienstleistungs- und
Niederlassungsfreiheit der Unternehmen eingeschränkt
werden kann. Damit ist die Koalitionsfreiheit nichts mehr
wert.
Wenn auch auf dem Arbeitsmarkt nach Vorstellungen
der FDP freier und unverfälschter Wettbewerb herrschen
soll, dann bedeutet das vor allem eine Minimierung des
Lohnes und die Schwächung der Gewerkschaften. Der
Lohn darf kein Wettbewerbslohn sein. Deshalb gibt es
Lohntarifverträge und - unterstützend - den gesetzlichen
Mindestlohn. Eine solche Barriere auf der Lohnseite verhindert, dass unternehmerischer Einfallsreichtum sich
auf Lohnsenkungen konzentriert statt auf Prozess- und
Produktinnovationen.
Wenn aber Wettbewerb ergebnisoffen ist, dann fragt
sich, ob alle dieses Ergebnis akzeptieren. Was wollen Sie
tun, wenn bei ergebnisoffenem Wettbewerb die Löhne absinken und dies von den Beschäftigten nicht hingenommen wird? Wollen Sie Demonstrationen untersagen und,
wenn nötig, deswegen das Grundgesetz ändern, damit
schließlich alle den Wettbewerb als Selbstzweck akzeptieren?
Gestern hat in Tschechien nach dem Abgeordnetenhaus auch der Senat dem Vertrag von Lissabon zugestimmt. Der Staatspräsident Vaclav Klaus zögert noch.
Das ist schade; denn gerade jetzt braucht Europa den
Vertrag dringender denn je. Nur eine starke EU kann die
drängenden Probleme wie die Finanz- und Wirtschaftskrise, den Klimawandel, eine sichere Energieversorgung
oder die gerechte und soziale Gestaltung der Globalisierung lösen.
Und da kommt die FDP mit einem Antrag, in dem gegen den Vertrag von Lissabon gestänkert wird, weil darin
angeblich das Wettbewerbsprinzip entwertet wird. Ich
glaube, meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben
da etwas grundlegend falsch verstanden. Wenn man Ihren
Antrag liest, wird das mehr als deutlich. Sie verstehen
Wettbewerb als Selbstzweck und glauben, wenn man dem
Markt freie Hand ließe, werde von allein alles gut.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es gibt so viele Beispiele, zum Beispiel in der Energieerzeugung, in denen mangelnde Regulierung des Marktes
zu Monopolbildung, Preissteigerungen und massiven
Umweltschädigungen geführt hat. Und das, da sind wir
uns doch sicher einig, gereicht zum Nachteil des Verbrauchers, oder, wie Sie es nennen, des Konsumenten.
Sie von der FDP bemängeln nun, dass Wettbewerb verstärkt an der Konsumentenwohlfahrt ausgerichtet werden
soll. Aber wozu soll Wettbewerb denn sonst dienen? Was
ist falsch daran, wenn der Strom bezahlbar bleibt und die
Erderwärmung begrenzt wird? Denn genau das verstehe
ich unter Konsumentenwohlfahrt.
Damit wir uns richtig verstehen: Auch wir Grüne sind
für Wettbewerb. Auch wir glauben, dass nur durch Wettbewerb Fortschritt zum Wohle des Verbrauchers und des
Klimas entstehen kann. Der Unterschied zu Ihnen ist
aber, dass wir echten und fairen Wettbewerb herstellen
und sichern wollen, und dafür ist auch Regulierung nötig.
Für eine solche Wettbewerbspolitik haben wir den Begriff der Grünen Marktwirtschaft geprägt. Für einen ökologischen Umbau brauchen wir die Dynamik der Märkte.
Eine konsequente Wettbewerbspolitik kann vermachtete
Märkte wie die Energie- und Lebensmittelmärkte aufbrechen und Verbraucherrechte stärken. Denn Wettbewerb
setzt Anreize für Investitionen sowie für soziale und technologische Innovationen.
Wir wissen aber auch, dass Märkte an sich ökologisch
und sozial blind sind. Für dieses Marktversagen benötigen wir einen Ordnungsrahmen, der politisch gesetzt
wird. Dazu gehört auch, dass Umweltkosten in das individuelle Entscheidungskalkül integriert werden. Hier
wollen wir in erster Linie marktwirtschaftliche Instrumente wie Steuern, Zertifikate und Informationen nutzen.
Wenn man sich die Vorstellungen der FDP zur Energiepolitik anguckt, stellt man fest: Wir sind in vielem gar
nicht so weit voneinander entfernt. Auch die FDP will die
Stromübertragung von der Stromerzeugung trennen und
damit auch kleineren Anbietern, die oft dezentral Strom
aus erneuerbaren Energien erzeugen, den Marktzutritt
erleichtern. Auch die FDP will die Photovoltaik mit degressiv ausgestalteten Steuerzuschüssen fördern.
Aber dann wird es wieder schizophren. Die FDP will
die Laufzeiten von Atomkraftwerken verlängern. Dabei
sind weder die Sicherheit von Atomkraftwerken gegeben
noch die Endlagerproblematik gelöst oder die Verfügbarkeit von Uran dauerhaft gewährleistet. Diese Unsicherheiten verursachen sowohl externe Kosten als auch Kosten für die kommenden Generationen, die sämtlich nicht
oder nur zum Teil in den Preisen der Betreiber von Atomkraftwerken enthalten sind. Und das ist extrem wettbewerbsverzerrend.
Vollends absurd wird es, wenn man sich die kleinen,
aber feinen Ausnahmen anguckt, die die FDP für ihre Klientel macht: Von den einen wird laut gefordert, sie sollten
sich dem rauen Klima der Globalisierung stellen. Ganz
besonders auf dem Arbeitsmarkt. Für Ärzte, Apotheker,
Architekten, Handwerksmeister, Rechtsanwälte und viele
andere Selbstständige aber verteidigt die FDP dagegen
die schützenden Standesprivilegien. Markt und Wettbewerb haben dort ihre Grenzen, wo sie die Verdienstmöglichkeiten der die FDP tragenden Klientel beschneiden.
Dieser Wettbewerbsbegriff ist ebenso scheinheilig wie die
gebetsmühlenartigen Forderungen nach Steuersenkungen und wird der FDP im Wahlkampf um die Ohren fliegen. Die Menschen wollen Konzepte und keine Klientelpolitik.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7522 an den Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Peter Hettlich, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verkehrsprojekt 17 Deutsche Einheit jetzt beenden - Kein Ausbau des Sacrow-ParetzerKanals
- Drucksache 16/12116 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Renate
Blank für die Unionsfraktion, Jörg Vogelsänger für die
SPD-Fraktion, Hans-Michael Goldmann für die FDPFraktion, Diana Golze für die Fraktion Die Linke und
Cornelia Behm für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir wollen weiterhin die Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Binnenschifffahrt erhalten und sichern, um so
unter wirtschaftlichen Betrachtungen mehr Güterverkehr
von der Straße auf das Wasser zu verlagern. Aus diesen
Gründen befürworten wir den Ausbau der Havel zu einer
verkehrstüchtigen und effizienten Wasserstraße. Dabei
kommt dem Verkehrsprojekt Deutsche Einheit 17 eine besondere Bedeutung zu.
Beim vorliegenden Antrag der Grünen-Fraktion erinnere ich mich zunächst daran, dass der heute gültige
BVWP, der auch das 1992 beschlossene VDE Nr. 17 weiter als „vordringlich“ beinhaltet, im Jahr 2003, also in
der Regierungszeit von Rot-Grün, beschlossen wurde.
Die Grünen-Fraktion hat dem damals im Bundestag zugestimmt, freilich nicht ohne hinterher eine Pressemitteilung mit Eigenlob zu verbreiten, die, wahrscheinlich um
die eigene Klientel zu beruhigen, triumphierend darauf
hinweist, dass gleichzeitig dafür gesorgt wurde, dass der
Finanzrahmen in den nächsten Jahren ohnehin nicht für
eine Verwirklichung ausreichen werde. Das ist nicht gerade das, was ich unter „Nachhaltigkeit“ verstehen
würde; das ist ein durchsichtiges Doppelspiel.
Meine Damen und Herren von den Grünen, auch angesichts nahender Wahlen macht die permanente Wiederholung von falschen Behauptungen diese nicht wahrer:
Wie Sie sehr wohl wissen, gibt es, was den wasserrechtlichen Teil anbelangt, überhaupt keine negativen Auswirkungen auf die Landschaft vor Ort, keine negativen
Auswirkungen auf das Weltkulturerbe in Potsdam. Ich
empfinde es als mehr als seltsam, dass die lokale Naturschutzszene auf der einen Seite dieses Projekt großartig
lobt und sagt, wie toll das alles ist. Auf der anderen Seite
gibt es Klagen. Das ist kein gradliniger Weg, der eingeschlagen wird. Das Verkehrswegeprojekt Deutsche Einheit Nr. 17 ist zwar schon über die Hälfte abgeschlossen,
bietet aber immer noch zahlreiche Chancen zur Aufwertung der Gewässerqualität und des Naturschutzes entlang
der mittleren Havel. So wurden zum Beispiel bereits sämtliche erforderlichen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen
außerhalb des Baufeldes für den geplanten Ausbau des
Sacrow-Paretzer-Kanals realisiert, obwohl mit den eigentlichen Baumaßnahmen für dieses Teilprojekt noch
gar nicht begonnen wurde!
Was ist eigentlich in den letzten Jahren geschehen? Im
Antrag wird ja doch der Eindruck erweckt, als ob das Verkehrsprojekt 17 noch den gleichen Planungsstand wie zu
der Zeit habe, als es 1992 gestartet wurde. Das VDE 17
wurde seinerzeit - unter meiner Beteiligung - in den
BVWP 1992 aufgenommen und beruhte damit folgerichtig auf den damals erstellten Verkehrsprognosen für den
Zeithorizont 2010. Inzwischen wurden die Prognosen bekanntlich für den Bundesverkehrswegeplan 2003 überarbeitet - Prognosehorizont war dort das Jahr 2015. Auch
danach wurde das Projekt, wie erwähnt, in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes 2003 übernommen. Seit Dezember 2007 gibt es nun auch eine Langfristprognose für den Zeithorizont 2025. Allein schon aus
dem zu erwartenden Seehafenhinterlandverkehr ergeben
sich dabei enorme Chancen für die Binnenschifffahrt.
Seit dem Jahr 2004 sind die Umschlagleistungen der
Binnenschifffahrt in Berlin übrigens um über 30 Prozent
und in Brandenburg um über 17 Prozent angestiegen.
Heuer kann erstmals eine durchgehende Brückendurchfahrtshöhe von mehr als 4,50 Meter zwischen den Nordseehäfen und Berlin und Brandenburg angeboten werden.
Damit wird die Wirtschaftlichkeitsschwelle für Containertransporte überschritten, sodass aktuell eine Zunahme des Verkehrs auf der Wasserstraße zu erwarten ist.
Verkehrsminister Tiefensee hat in einer Presseerklärung vom März 2008 in aller Deutlichkeit klargestellt,
dass er konsequent an der wirtschaftlichen Anbindung
des Westhafens Berlin an das europäische Wasserstraßennetz der Wasserstraßenklasse Vb festhält, und hat
dazu auch noch einmal explizit die wichtigsten Projektziele für den Ausbau benannt: Zulassung des Verkehrs
mit Großmotorgüterschiffen und Schubverbänden bis
185 Meter Länge und 2,80 Meter Abladetiefe.
Erwecken Sie auch bitte nicht wieder den Eindruck,
dafür sind Sie, Kolleginnen und Kollegen der Grünen,
viel zu sehr versierte Verkehrspolitiker, dass die aktuelle
Delle im Bereich des Güterverkehrs bzw. im Bereich der
Logistik nun als Messlatte für den Ausbau von Verkehrswegen genommen werden könnte; denn Sie wissen sehr
wohl, dass man Verkehrswege tatsächlich in einem völlig
anderen Zeithorizont planen und bauen muss.
Der von Ihnen geforderte Verzicht auf den Ausbau der
mittleren Havel nach Wasserstraßenklasse V und ein Verzicht auf 2,80 Meter Abladetiefe bedeutet 25 Prozent
Mehrkosten für Massenguttransporte der Energie- und
Bauwirtschaft sowie die Stahlindustrie und die Land- und
Forstwirtschaft und den Verzicht auf einen netzkonformen Anschluss an das standardisiert ausgebaute europäische Wasserstraßennetz für Hersteller hochwertiger
Anlagentechnik - Generatoren, Transformatoren, Windkraftanlagen etc.. Das kann zu Negativentscheiden bei
der Standortauswahl für Neuansiedlungen und mittelfristig auch zu Standortverlagerungen von Herstellern
schwerer und großformatiger Industriegüter führen.
Übertragen auf die Bahninfrastruktur würden die Forderungen der Ausbaugegner bedeuten, dass die Gleisanlagen in Berlin und Brandenburg, bei anstehenden Ersatzinvestitionen, nur noch auf die Spurweite der Harzer
Schmalspurbahnen ausgelegt würden. Ich kann mir kaum
vorstellen, dass Sie das wollen! In diesem Zusammenhang staune ich übrigens über die im Antrag geäußerte
bizarre Meinung, die Erhöhung der LKW-Maut würde
40 Zentimeter Abladetiefe quasi überflüssig machen das ist, vorsichtig ausgedrückt, reines Wunschdenken und
geht an den Realitäten vorbei!
Die Binnenschifffahrt muss den Transport für circa
200 Euro pro Container anbieten, um konkurrenzfähig zu
Lkw - 350 bis 450 Euro pro Container - und Bahn - circa
300 Euro pro Container - am Markt operieren zu können.
Auf einen Ausbau für das „Großmotorgüterschiff“ mit
110 Meter Länge und 11,45 Meter Breite kann daher nicht
verzichtet werden. Anderenfalls findet die auch umweltpolitisch von uns allen gewollte Verlagerung von Containerverkehr auf das Binnenschiff nicht statt. Viele Experten sind schon heute der Auffassung, dass die vorhandene
Straßen- und Gleisinfrastruktur im Seehafenhinterlandverkehr nicht mehr in der Lage ist, die mittelfristig erwartete weitere Verdopplung des Containerverkehrs aus den
bzw. in die Seehäfen ab- bzw. anzufahren.
Die Ausbauvorhaben haben auch keine negativen Auswirkungen auf die Wasserstände in der Region: Nach
vollständiger Realisierung des VDE 17 entsprechend aktuellen Ausbauplanungen ergeben sich für die Stauhaltung Brandenburg an der Havel nach den aktuellsten Erkenntnissen keine nennenswerten Veränderungen der
Oberflächen- und Grundwasserverhältnisse. Als problematisch ist allenfalls die Veränderung der Überflutungsdynamik auf den natürlichen Überflutungsflächen der
Havel bei Hochwasser zu betrachten. Hauptursächlich
sind hierbei allerdings die Veränderungen im Wasserdargebot, welches von der Binnenschifffahrt und vom Verkehrswasserbau nicht beeinflusst werden kann. Zu Hochzeiten der DDR-Braunkohlenförderung wurden noch
mehrere Milliarden Kubikmeter Grundwasser aus den
Tagebauen abgepumpt und über Spree und Schwarze Elster abgeleitet. Dadurch wurde der natürliche Abfluss der
Spree um zeitweise über 30 m³/s aufgehöht. Die daraus
bereits eingetretenen Veränderungen der Überflutungsdynamik sind deutlich gravierender als die aus dem
Zu Protokoll gegebene Reden
VDE 17 zu erwartenden. Die Bewältigung der aus den
Veränderungen resultierenden Konflikte für Natur und
Landschaft ist also eine Gemeinschaftsaufgabe, für die
das Know-how und die Ressourcen des Verkehrswasserbaus in idealer Weise genutzt werden können.
Die „FAZ“ und der „Berliner Tagesspiegel“ publizierten im vergangenen Jahr wieder einmal die Mär von den
faulenden Fundamenten der Potsdamer Schlösserlandschaft durch sinkende Wasserstände infolge des umweltverträglichen Ausbaus der mittleren Havel zur Wasserstraßenklasse V. Dabei weiß man längst, dass das VDE 17
keine Bedrohung, sondern eine Chance für die Fundamente der kulturhistorisch wertvollen Bauwerke darstellt. Die für die Gründung und die Standsicherheit der
Gebäude maßgebenden Wasserstände sind die Niedrigwasserstände. Insbesondere bei den holzpfahlgegründeten Baudenkmälern, wie dem Marmorpalais im Neuen
Garten und der Sacrower Heilandskirche kann ein Absinken der Niedrigwasserstände von negativer Bedeutung
sein, wenn die hölzerne Gründungskonstruktion oberhalb
des Grundwasserspiegels freiliegt und die Wassersättigung des Holzes abnimmt. Dann besteht die Gefahr eines
Pilzbefalls, welcher zur Entfestigung des Holzes und
nachfolgend zu bauwerksschädigenden Setzungen führen
kann. Die Niedrigwasserstände werden durch den Ausbau der Havel jedoch nicht verändert! Damit wird das
VDE 17 sogar zur wichtigsten Chance für die Festschreibung hoher Niedrigwasserstände in der Stauhaltung
Brandenburg und damit zum wichtigsten Verbündeten
baufachlich interessierter Beschützer kulturhistorisch
wertvoller Bauwerke.
Der geplante Ausbau des Sacrow-Paretzer-Kanals ist
nicht nur wichtig für die weitere Entwicklung der preiswerten, sicheren, schadstoffarmen und lärmfreien Binnenschifffahrt in Berlin und Brandenburg, er zeigt auch
neue Wege zur kooperativen und ergebnisorientierten Bewältigung der naturschutzfachlichen Eingriffsregelung
auf. Eine schnelle Verwirklichung des Projekts erachte
ich daher als wichtig und richtig, da es in dieser außergewöhnlichen Situation einer besonderen Anstrengung
bedarf, um auch die Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise für die örtliche Wirtschaft und für die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten
Die Zeiten einer Frontbildung, hier „guter“ Umweltschützer, da „böser“ Verkehrspolitiker, sollten vorbei
sein, noch dazu wenn es um den ökologischen Verkehrsträger Binnenschifffahrt geht. Wir räumen den Belangen
von Natur und Landschaft einen hohen Stellenwert ein.
Auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen, so haben
Verkehrswasserbauer und Naturschützer doch eine große
Interessenschnittmenge rund um die Nutzungskonflikte
zum Thema Binnenschifffahrt. Für Konfliktpunkte zwischen wasserbaulichen Maßnahmen und Naturschutz
können vielfach umweltgerechte Lösungen gefunden werden. Ich appelliere daher an alle Beteiligten, auf der Basis einer konstruktiven Diskussion gemeinsam die enormen Chancen zu nutzen, die sich uns beim Ausbau der
Wasserstraßen und der Bewahrung unserer Natur bieten.
Die Entwicklung einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur wie der Ausbau der Bundeswasserstraßen und
die Bewahrung einer nachhaltigen Kultur- und Naturlandschaft müssen keine Gegensätze sein.
Die aus dem internationalen Flaggenalphabet abgeleitete Flagge des Aktionsbündnisses zum Havelausbaustopp steht für den Buchstaben „L“ und bedeutet für die
Schifffahrt „Bringen Sie Ihr Fahrzeug sofort zum Stehen!“. Während einer sportlichen Regatta steht die
schwarz-gelbe Flagge jedoch auch für „Bitte kommen Sie
in Rufweite!“. In diesem Sinne rufe ich Ihnen zu, die guten Argumente, die für den Ausbau des Sacrow-ParetzerKanals sprechen, nicht aus ideologischen und vermeintlich populistischen Gründen zu überhören.
Die Schifffahrt ist als Transportmittel zweifellos das
umweltfreundlichste Verkehrsmittel für den Gütertransport, insbesondere bei Massengütern. Der Energieverbrauch pro Tonne und Kilometer liegt weit unter dem von
Straße und auch Schiene. Deshalb sollten wir dem Transportmittel Schiff nicht negativ gegenüberstehen. Wir dürfen uns notwendigen Maßnahmen und Investitionen an
der Wasserstraße nicht verschließen.
Bezüglich des Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“
Nr. 17 gab es zahlreiche Untersuchungen und Erörterungen. Das war notwendig, und in dessen Folge sind die
Ausbaumaßnahmen beim Projekt 17 kaum noch vergleichbar mit den Planungen Anfang der 90er-Jahre. Das
ist auch ein Erfolg von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich hier eingebracht haben. Das deutsche Planungsrecht bietet hierfür vielfältige Möglichkeiten. Die
Forderung, die Binnenschiffe sollten sich ausschließlich
den Wasserstraßen anpassen, nützt uns dabei jedoch wenig. Wir brauchen eine leistungsfähige Wasserstraßeninfrastruktur. Durch die deutsche Teilung und die DDRMangelwirtschaft wurde die Wasserstraße systematisch
vernachlässigt. Im Übrigen sind Kanäle künstliche Wasserstraßen. Der Sacrow-Paretzer-Kanal ist zwischen
1874 und 1876 von Menschen geschaffen worden. Eine
Wasserstraße muss, wie bei anderen Verkehrswegen
auch, immer wieder modernisiert werden. Diese Maßnahme gefährdet zudem nicht die Potsdamer Kulturlandschaft.
Die Modernisierung des Sacrow-Paretzer-Kanals erfolgt im Einvernehmen mit dem Land Brandenburg, und
es ist kein massiver Ausbau vorgesehen. Das Land Brandenburg hat ein hohes Interesse an Investitionen in die
Wasserstraße. Ein gemeinsamer Erfolg von Bund und
dem Land Brandenburg ist erst kürzlich erzielt worden
mit dem abgesicherten Neubau des Schiffshebewerkes
Niederfinow. Zudem stellt der Bund, mit mehrheitlicher
Unterstützung des Bundestages, zusätzliche Mittel für die
Wasserstraße über das Konjunkturprogramm bereit. Damit investieren wir verstärkt in ein ökologisches Verkehrsmittel. Eine leistungsfähige Anbindung an das gut
ausgebaute westeuropäische Binnenwasserstraßennetz
und auch den Hafen Szczecin wird für Berlin/Brandenburg ein Standortvorteil werden.
Selbstverständlich gibt es bei überregionalen Verkehrsprojekten immer wieder regionale Widerstände. Es gehört zu unserem demokratischen System, dass man hier
Zu Protokoll gegebene Reden
auch entsprechende Rechtsmittel nutzt. Für uns Verkehrspolitiker bleibt die stärkere Nutzung der Wasserstraße
durch die Binnenschifffahrt eines der wichtigstes Ziele.
Die Ausbaumaßnahmen am Sacrow-Paretzer-Kanal halten wir hierfür für notwendig und angemessen.
Seit 15 Jahren läuft das Verkehrsprojekt 17 zur Deutschen Einheit. Stets zu knappe Mittelzuweisungen haben
zu jahrelangen Verzögerungen geführt. Jetzt sind wir endlich fast fertig, die Anbindung Berlins an das Wasserstraßennetz ist fast abgeschlossen, da kommen die Grünen
wie Kai aus der Kiste und wollen die bisherigen Investitionen ad absurdum führen. Sie sehen Probleme, wo es
keine gibt.
Bereits 2003 hat die Bundesregierung ({0}) auf eine Kleine Anfrage der
FDP geantwortet, dass die Beeinflussungen des Grundwasserstandes durch den Kanalausbau kleiner als die
normalen jährlichen Schwankungen sind. Außerdem sei
Potsdam in seinem Status als Weltkulturerbe nicht beeinträchtigt. Gilt das alles nicht mehr, weil die Grünen jetzt
in der Opposition sind?
Auch verkehrswirtschaftliche Entwicklungen verursachen keinen neuen Entscheidungsdruck. Eindeutig ist,
dass der Kanalausbau ohne Alternative ist, weil eine
Nordumgehung nicht nur teurer, sondern auch umweltschädigender wäre. Eine alleinige Sanierung des Kanals
ist ebenfalls nicht sinnvoll, weil dann in drei betroffenen
Seen Wartestellen einzurichten wären.
Mit Bedauern ist weiterhin festzuhalten, dass der allgemeine Zustand der Wasserstraßen in den neuen Ländern auch 20 Jahre nach dem Mauerfall immer noch
schlecht ist, teilweise sogar schlechter als zu Zeiten der
DDR. Die von Anfang an zu niedrigen Mittelzuweisungen
wurden unter Rot-Grün noch einmal verschlechtert.
Umso wichtiger ist es, dass wir uns endlich der Fertigstellung des VDE 17 nähern.
Zu Recht weisen die Industrie- und Handelskammern
auf die Standortwirkung des fertigen VDE 17 hin.
120 Häfen und Umschlagstellen werden hierdurch verbunden. Wir können nicht immer nur von der Verlagerung
des Güterverkehrs von der Straße auf Wasserwege reden,
wir müssen dann auch die Voraussetzungen für eine solche Verlagerung schaffen.
Die Planungen zum Sacrow-Paretzer-Kanal sind ein
Schildbürgerstreich erster Güte. Was sich die Wasserund Schifffahrtsdirektion Ost - WSD Ost - hier leistet,
muss einmal in aller Ausführlichkeit gewürdigt werden.
An erster Stelle auf dieser Negativ-Würdigungsliste
steht für mich, dass ein Planfeststellungsbeschluss ohne
substanzielle Begründung erlassen wurde. Mit substanziell meine ich, dass keine konkreten Verkehrszahlen genannt werden. Ein so großes Projekt zu planen, ohne es
mit konkreten Fakten zu unterlegen, ist nicht nur für mich
mehr als fragwürdig. Wer sich ein wenig mit Verkehrspolitik beschäftigt, weiß: Verkehrsprojekte werden damit begründet, dass es einen Bedarf gibt. Und dieser Bedarf leitet sich aus dem Verkehrsaufkommen ab, das auf einer
Straße oder, wie in diesem Fall, auf einem Kanal erwartet
wird. Dazu werden Verkehrsprognosen erarbeitet, die zeigen, ob der Verkehr ausreicht, ein Projekt zu bauen - oder
nicht. Dass ich mit meinem Anspruch an Verkehrswegeplanung nicht ganz verkehrt liege, wird dadurch deutlich,
dass dies seit jeher auch vom Verkehrsministerium so gehandhabt wird. Auch wenn wir bei einigen Planungen zu
anderen Ergebnissen kommen würden, sollte wenigstens
diese auf der Basis von fundierten Erhebungen fußende
Arbeitsweise gängige Praxis bleiben.
Beim Ausbau des Sacrow-Paretzer-Kanals bekommt
man allerdings den Eindruck, dass Verkehrsprognosen
die WSD Ost gar nicht interessieren. Sie ist offenkundig
der Auffassung, dass die Zahlen für die Festlegung des
Bedarfes eines Ausbaus unerheblich sind. Dass dabei die
Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth in der
Fragestunde am 24. September 2008 Schützenhilfe gegeben hat, macht den Sachverhalt noch ein Stück makaberer.
Wenn man sich die entsprechenden Verkehrsprognosen
allerdings einmal ansieht, dann weiß man natürlich auch,
warum das Ministerium und die WSD Ost diese nicht berücksichtigen wollen: Die Ende 2007 vorgelegten Zahlen
liegen nämlich um 70 bis 80 Prozent unter den früheren
von Anfang der 1990er-Jahre. Der Schildbürgerstreich
wird dadurch komplett, dass die Ausbauentscheidung auf
diesen alten Prognosen beruht. Mit den aktuelleren Erhebungen wäre freilich der Ausbau nicht mehr zu rechtfertigen. Dabei kennt die Bundesregierung die Fakten! In
ihrer gestern eingetroffenen Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion, die auf meine Initiative hin eingereicht wurde, werden sie alle aufgelistet. Andererseits
verschweigt die gleiche Staatssekretärin hier die Zahlen
aus den alten Prognosen - und damit die erhebliche Differenz. Auf die schwerwiegenden ökologischen Folgen
will ich an dieser Stelle gar nicht eingehen. Die verkehrspolitischen und haushaltspolitischen Gründe reichen völlig aus, dieses Projekt umgehend zu beenden.
Die rot-rote Koalition in Berlin ist mit gutem Beispiel
vorangegangen: Das Abgeordnetenhaus hat einen Beschluss gefasst, im Berliner Abschnitt des VDE 17 auf den
Ausbau zu verzichten. Warum kann nicht in Brandenburg
das gehen, was auch in Berlin gehen kann? Wir brauchen
keinen Ausbau für den reibungslosen Begegnungsverkehr
auf dem Sacrow-Paretzer-Kanal, und wir brauen auch
keine Vertiefung auf eine Abladetiefe von 2,80 Meter.
Wenn es ein Wachstum in der Binnenschifffahrt gibt, dann
bei den zweilagigen Containerverkehren. Für die reichen
2,20 Meter Abladetiefe aber aus. Deswegen reicht eine
Sanierung des Kanals völlig aus.
Ich bin allerdings nicht völlig ohne Hoffnung, dass
sich das Verkehrsministerium und die WSD Ost doch
noch Sachargumenten öffnen. Schließlich ist gegen den
Planfeststellungsbeschluss eine Klage des BUND anhängig, die angesichts der völlig unzureichenden Projektbegründung sehr aussichtsreich ist. Auch die Stadt Potsdam
klagt. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
wird erst nach der Bundestagswahl erwartet. Die BunZu Protokoll gegebene Reden
desregierung hat also noch etwas Zeit, ihr Gesicht zu
wahren und vor einem vernichtenden Urteil ihre Planungen zu stoppen.
Statt Stück für Stück die veralteten Planungen zu realisieren - mit einer erheblichen Verschwendung von Steuergeldern -, fordere ich die Bundesregierung dazu auf,
auf Basis der aktuellen Verkehrsprognosen und der
aktuellen Entwicklung in der Binnenschifffahrt ein neues
Gesamtkonzept für die Elbe und die Wasserstraßen östlich der Elbe zu entwickeln.
Die für diesen Ausbau geplanten 65 Millionen sollen
hier völlig sinnlos verschwendet werden. Wie Sie sich sicher vorstellen können, hätte ich viele Vorschläge, wo
man dieses Geld nutzbringender verwenden könnte. Die
Bezeichnung „nachhaltig“ würden zum Beispiel auch die
Investitionen in den Kita-Ausbau und in Bildung verdienen. Und wenn es nur dafür gut ist, dass die kommende
Generation bedachter und klüger mit unserer Umwelt
umgeht, weil sie es besser weiß.
Das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 17
({0}) ist ein Überbleibsel aus einer Zeit großer
Wachstumshoffnungen und Träume von großen Güterfrachten per Binnenschiff durch Ostdeutschland. Wie
viele Träume kurz nach der Wiedervereinigung haben
sich auch diese nicht erfüllt. Die Bundesregierung muss
nun endlich der Realität Rechnung tragen und das
VDE 17 geordnet beenden, und zwar so schnell wie möglich.
Die den Planungen des Wasserstraßenausbaus zugrunde liegenden Prognosen für Gütertransporte aus den
Jahren 1992 und 1995 sind inzwischen um 70 bis 80 Prozent nach unten korrigiert worden. Die aktuelle, im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums erstellte „Prognose der deutschlandweiten Verkehrsverflechtungen
2025“ rechnet, bezogen auf das Jahr 2004, in der Region
Berlin-Brandenburg mit einer Reduzierung des Binnenschifffahrtsgüterverkehrs um 26 Prozent. Vor diesem Hintergrund droht mit den bestehenden Ausbauplänen massive Steuerverschwendung.
Die Überdimensionierung der Ausbaupläne zeigt sich
am im letzten Jahr planfestgestellten, 12,7 Kilometer langen Projektteilstück des Sacrow-Paretzer-Kanals. Weder
östlich noch westlich dieses Teilstücks wurden bisher Planungsverfahren eingeleitet. Trotzdem soll der Kanal von
derzeit 3,2 Meter auf 4 Meter vertieft werden. Das nördliche Ufer soll im Schnitt 4 bis 5 Meter verbreitert werden. Dafür müssten über 800 Bäume gefällt werden. Es
sind überwiegend über 100-jährige und aus Naturschutzsicht sehr wertvolle Exemplare. Dabei ist auf dem Kanal
lediglich mit zwei Großmotorgüterschiffen täglich und
alle zehn Tage mit einem Großschubverband zu rechnen.
Statt eines Vollausbaus für Begegnungsverkehr auf Kanallänge könnte man genauso gut Wartestellen vorsehen.
Wegen der starken Beeinträchtigung von Natur, Landschaft und Wasserhaushalt wird der Planfeststellungsbeschluss von der Stadt Potsdam sowie dem Umweltverband BUND vor dem Bundesverwaltungsgericht beklagt.
Zahlreiche Verbände und Initiativen engagieren sich gegen den Ausbau. Sie können und wollen nicht einsehen,
dass für ein unrentables Wasserstraßenbauprojekt nicht
nur Millionen Euro im märkischen Sand verschwinden
sollen, sondern wertvolle Kulturlandschaft und Natur
massiv beeinträchtigt werden. Statt Geld für juristische
Auseinandersetzungen auszugeben, sollte die Bundesregierung den Planfeststellungsbeschluss schnellstmöglich
aufheben.
Am 20. April 2009 erklärte die Parlamentarische
Staatssekretärin im Bundesministerium für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung Karin Roth bei einem Ortstermin,
dass ein Ausbau des Teltowkanals „vom Tisch“ sei. Damit entfällt auch die Begründung für den Ausbau der
Kleinmachnower Schleuse auf 190 Meter. Für die Binnenschifffahrt zwischen Elbe und Spree herrschen bereits
heute wettbewerbsfähige Bedingungen. 1,3 Milliarden
Euro Bundesmittel sind bisher für das VDE 17 verbaut
worden. 800 Millionen bis 1 Milliarde Euro an Baukosten
sind noch in der Planung. Angesichts von Klimakrise,
Finanzkrise und Wirtschaftskrise - alles Krisen der
Nachhaltigkeit - sollte die Bundesregierung jetzt nicht
stur an alten Plänen festhalten, sondern auf die Warnungen und Mahnungen der Fachleute hören. Wenn das
VDE 17 jetzt geordnet beendet wird, werden Finanzmittel
frei, die in Klimaschutz und nachhaltige Arbeitsplätze investiert werden können. Wir brauchen keine Wasserautobahnen, die in die Sackgasse führen, sondern Wege in die
Zukunft. Am Green New Deal führt kein Weg vorbei!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12116 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Zeil, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Kompetenzen des Bundeskartellamts weiterentwickeln
- Drucksache 16/8078 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auch hier sollen, wie in der Tagesordnung ausgewiesen ist, die Reden zu Protokoll genommen werden. Es
handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und
Kollegen: Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion,
Reinhard Schultz für die SPD-Fraktion, Gudrun Kopp
für die FDP-Fraktion, Dr. Herbert Schui für die Fraktion
Die Linke, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Gratulation an die FDP: Dies ist ein über weite Strecken
sehr gelungener Antrag. Aber leider kommen wir zwar zu
ähnlichen, aber nicht zu denselben Schlussfolgerungen.
Sie sprechen mir aus dem Herzen, wenn Sie fordern,
die Kompetenzen des Bundeskartellamtes zu erweitern.
Auch ich halte gut aufgestellte Wettbewerbshüter für das
Funktionieren einer Marktwirtschaft für unerlässlich.
Wenn wir in wirtschaftspolitischen Entscheidungen
Macht und Schutzregeln umstrukturieren, um der Marktwirtschaft ihren Rahmen zu setzen, schreit jede Lobby
auf, die bisher davon profitierte: mal die Gewerkschaften,
mal die Unternehmen. Sie alle werden im Gesetzgebungsverfahren über die Verbändeanhörungen berücksichtigt.
Wettbewerb hingegen hat keine Lobby. Deshalb müssen
wir - das Parlament und die Regierung - ihn durch unser
Handeln durchsetzen und schützen. Alleine können wir
diese Arbeit nicht leisten, darum haben wir die Kartellund Regulierungsbehörden. Dass sie gestärkt werden
müssen, steht außer Frage. Funktionierender Wettbewerb
ist ein hohes Gut in unserem Wirtschaftssystem. Wenn der
Wettbewerb ausgeschaltet wird, zahlt der Verbraucher
letzten Endes die Zeche.
Wissen Sie, dass unser ehemaliger Bundeswirtschaftsminister Glos ein Anhörungsrecht für das Bundeskartellamt als Anwalt des Wettbewerbs noch während seiner
Amtszeit wiederholt gefordert hat? Auch unser derzeitiger
Wirtschaftsminister zu Guttenberg vertritt diese Meinung.
Und ja, auch ich sehe, dass unser momentaner wirtschaftspolitischer Kurs - als beispielhaft möchte ich hier
die Mindestlöhne, die Abwrackprämie oder auch die
Gesundheitsreform benennen - in eine Richtung geht, die
einen überzeugten Ordnungs- und Wettbewerbspolitiker
wie mich sehr nachdenklich stimmt. Manchmal drängt sich
mir der Eindruck auf, als sei uns politischen Entscheidungsträgern im stürmischen Koalitionsmeer der Kompass
abhanden gekommen - der Kompass, der uns zeigt,
welche gravierenden wettbewerblichen Auswirkungen so
manche bereits getroffene politische Entscheidung hat.
Staatliche Markteingriffe laufen immer Gefahr, wesentliche Anreizmechanismen für Unternehmen außer Kraft
zu setzen. Wettbewerb kann also - und das müssen wir uns
mehr denn je vor Augen führen - von zwei Seiten eingeschränkt werden: den Unternehmen einerseits, aber
andererseits auch durch staatliches Handeln.
Unternehmerische Wettbewerbsbeschränkungen erfordern von den Kartellbehörden in der heutigen Welt optimierte kartellrechtliche Instrumente und geeignete Kooperationsmechanismen. Hieran arbeiten wir beständig.
Staatlich verursachte Wettbewerbsverzerrungen erfordern,
dass die Kartellbehörden die Möglichkeit haben, für das
Wettbewerbsprinzip offensiv einzustehen und zu werben.
Bisher haben sie diese Möglichkeit nur über Umwege:
Mögliche praktische Marktauswirkungen eines Gesetzes
im Gesetzgebungsprozess werden nur mittelbar über
Interventionen bzw. gelegentliche Anhörungen des Bundeskartellamts über das BMWi berücksichtigt. Hier muss
dringend Abhilfe geschaffen und den Wettbewerbshütern
mehr Gehör verschafft werden.
Die Monopolkommission schlug in ihrem Sondergutachten letztes Jahr vor, dass dem Bundeskartellamt
zumindest vor der Allgemeinverbindlicherklärung von
Tarifverträgen ein Anhörungsrecht eingeräumt werden
solle. Dabei sollte sich das Amt insbesondere zu der
Frage äußern, wie die zu erwartenden wettbewerblichen
Nachteile infolge der Allgemeinverbindlicherklärung auf
den betroffenen Märkten zu bewerten sind. Ich begrüße
ein derartiges Anhörungsrecht ausdrücklich. So könnte
das Bundeskartellamt - um im Bild zu bleiben - vom gut
verstauten Kompass in der Schublade des Schiffs zu einem
sichtbar angebrachten Navigationsgerät werden, dem die
Politik nicht folgen muss, aber kann. Der Vorschlag der
Monopolkommission ist also ein Schritt in die richtige
Richtung.
Das Bundeskartellamt ist dazu aufgefordert, verstärkt als
Lobby für das Wettbewerbsprinzip einzutreten. Wir sind
dazu aufgefordert, dieses Eintreten für den Wettbewerb zu
institutionalisieren. Die Wettbewerbsbehörden müssen in
den politischen und administrativen Entscheidungsprozess
bei wettbewerblich relevanten Themen mit eingebunden
sein. Auf diese Weise könnten sie negative Effekte auf den
Wettbewerb in neuen Regelungen, Gesetzen und Einzelfallentscheidungen aufdecken und dazu Stellung nehmen.
Werte Damen und Herren von der FDP, Sie gehen in
Ihrem Antrag aber leider nicht nur diesen einen Schritt,
Sie schießen über das Ziel hinaus: Sie fordern, den Wettbewerbsbehörden gleich bei allen Gesetzgebungsprozessen
die institutionalisierte Möglichkeit zu geben, sich zu den
wettbewerblichen Auswirkungen des geplanten Gesetzes zu
äußern. Haben Sie schon über die bürokratischen Konsequenzen nachgedacht? Kann das Bundeskartellamt diese
Arbeit personell überhaupt leisten? Und wo bleibt die
Schlagkraft einer Äußerung des Bundeskartellamts, wenn
sich zukünftig die Wettbewerbshüter inflationär bei jedem
Gesetzesvorhaben bemüßigt fühlen, eine Stellungnahme
abzugeben? Heute merkt noch jeder Abgeordnete auf,
wenn das Bundeskartellamt mit einem Anliegen an seine
Tür klopft.
Fest steht: Die flexible und pragmatische Handhabung
des Wettbewerbsrechts und die Nutzung seiner Spielräume ist das Gebot der Stunde. Ich bin fest davon überzeugt, dass das BMWi die zentrale Idee Ihres Antrags weiterverfolgen wird.
Freier Wettbewerb braucht Regeln - und die setzt die
Politik! Der Antrag der FDP ist ein weiterer durchsichtiger Versuch, ihrem marktradikalen Ansatz zum Durchbruch zu verhelfen. Erfüllungsgehilfe soll an dieser Stelle
das Bundeskartellamt sein. Mittels Anhörungsrecht soll
das Bundeskartellamt dafür sorgen, dass die Politik keine
wirtschaftspolitischen Entscheidungen trifft, die die
freien Kräfte des Marktes beschneiden. Nicht mit uns,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP!
Die Politik setzt den rechtlichen Rahmen für die Kompetenzen des Bundeskartellamtes. Wesentliche Grundlage hierfür liefert das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Die Aufgabe des Bundeskartellamtes ist
es, Wettbewerbsbeschränkungen in der Bundesrepublik
Deutschland zu verfolgen und damit das Funktionieren
marktwirtschaftlicher Strukturen zu gewährleisten. Und
diese Aufgabe erfüllt das Bundeskartellamt vorbildlich.
Die Politik setzt aber auch den rechtlichen Rahmen für
den freien Wettbewerb. Denn der freie Wettbewerb steht
Zu Protokoll gegebene Reden
Reinhard Schultz ({0})
nicht über allen anderen Zielen, selbst wenn die FDP dies
gerne so hätte. Aus Sicht der SPD ist es Aufgabe der
Politik, dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft ihrer sozialen
Verantwortung nachkommt. Für uns gehören unternehmerische Freiheit und soziale Verantwortung in einer sozialen Marktwirtschaft untrennbar zusammen.
Wir haben einen Post-Mindestlohn durchgesetzt und
für allgemeinverbindlich erklärt, um die Branche der
Briefdienstleistungen vor einem Wettbewerb um die
schlechtesten Löhne zu schützen. Denn wir wollen, dass
die Menschen von ihrer Arbeit leben können - bei der
Post und auch in anderen Branchen. Der Wettbewerb bei
Briefdienstleistungen wird mit Sicherheit trotzdem in
Gang kommen - aber eben nicht auf dem Rücken der Mitarbeiter.
Nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Tarifvertrag
unter bestimmten Voraussetzungen für allgemeinverbindlich ({1}) erklären. Dies geschieht auf Antrag einer Tarifvertragspartei im Einvernehmen mit einem Ausschuss
aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Genau dies ist im Falle
des Post-Mindestlohns geschehen. Dazu kann sich das
Bundeskartellamt äußern und hat dies ja auch getan. Ein
Anhörungsrecht brauchte es dazu nicht. Und das wird es
auch in Zukunft mit uns nicht geben.
Das Bundeskartellamt ist als die zentrale Wettbewerbsbehörde in der Bundesrepublik von entscheidender
Bedeutung für die marktwirtschaftliche Ordnung unserer
Volkswirtschaft. Dieser Garant für einen funktionierenden
und gesicherten Wettbewerb ist ein großer Standortvorteil
Deutschlands; die Kompetenzen des Bundeskartellamts
sollten entsprechend institutionell weiterentwickelt werden.
Als Kontrollinstrumente des Bundes sind mit dem Bundeskartellamt und auch der Bundesnetzagentur effiziente
und schlagkräftige Instanzen geschaffen, um Gefahren
durch Machtkonzentrationen zu beheben und Wettbewerb
zu garantieren. Die FDP hat sich in den letzten Jahren
immer wieder für die personelle und institutionelle Weiterentwicklung beider Institutionen stark gemacht.
Die Monopolkommission hat in ihrem Sondergutachten „Wettbewerbsentwicklung bei der Post 2007: Monopolkampf mit allen Mitteln“ vorgeschlagen, dass dem
Bundeskartellamt vor der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ein Anhörungsrecht eingeräumt
wird.
Die FDP will mit diesem Antrag noch einen Schritt
weiter gehen als die Monopolkommission, die sich bei ihrem Vorschlag nur auf den Aspekt der Allgemeinverbindlichkeit bezieht. Sinnvoll wäre stattdessen, dem Bundeskartellamt ein generelles Anhörungsrecht einzuräumen.
So kann bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen mit
wettbewerblicher Relevanz durch das Bundeskartellamt
schon im Entscheidungsprozess auf mögliche negative
Wettbewerbseffekte hingewiesen werden, wodurch auch
eine größere Planungssicherheit für die Wettbewerber
entstünde. Überdies stärkt dieses Wahlrecht den Schutzauftrag des Bundeskartellamts gegenüber Verbrauchern
und Wettbewerbern.
Mit der Unterstützung dieses Antrags kann der Bundestag ein klares Zeichen für eine Stärkung des fairen, sicheren und offenen Wettbewerbs in Deutschland setzen.
Gerade jetzt, in Zeiten der Wirtschaftskrise, wäre dies ein
wichtiges Zeichen unabhängiger Stabilität für Investoren
und Verbraucher.
Die Linke hält es für notwendig, das Bundeskartellamt
zu stärken, um der Konzentration wirtschaftlicher Macht
zu begegnen. Die FDP fordert im Titel des vorliegenden
Antrags Ähnliches, nämlich die Kompetenzen des Bundeskartellamts weiterzuentwickeln.
Beim Lesen des Antrags erlebt man allerdings zwei
Überraschungen: Erstens fällt der konkrete Forderungsteil außerordentlich bescheiden aus: Das Bundeskartellamt soll ein Anhörungsrecht erhalten. Dagegen spricht
freilich wenig. Der viel zitierten Waffengleichheit des
Kartellamts mit den Monopolen im Bereich der Stromversorgung, des Einzelhandels oder der Mineralölwirtschaft
kommt man damit allerdings kaum näher.
Die zweite Überraschung bezieht sich darauf, worin
die FDP die Hauptbedrohung für den Wettbewerb sieht.
Ihre Sorge gilt nicht der wachsenden Marktmacht der
großen Unternehmen, sondern der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Der Antrag der FDP suggeriert,
dass der eigentliche Zweck des Tarifvertrags im Postbereich darin liegt, die Monopolstellung der Deutschen
Post zu festigen. Das ist eine kuriose Vorstellung. Sie behaupten damit, den Gewerkschaften ginge es im Postbereich gar nicht um die Löhne. Dies wäre nur vorgeschoben, um das Monopol der Deutschen Post zu
verteidigen. Wenn dem so wäre, wie erklären Sie dann,
dass die Gewerkschaften sich auch in allen anderen
Branchen für höhere Löhne und gegen Dumping engagieren, obwohl es dort kein Monopol zu verteidigen gibt?
Sie behaupten: Mindestlöhne im Postgewerbe verdrängen die Konkurrenten der Deutschen Post. Damit
machen Sie ein wichtiges Eingeständnis: Ohne Lohndumping können die Konkurrenten der Post nicht bestehen. Mit anderen Worten: Lohndumping ist der einzige
bedeutende Grund, aus dem private Konkurrenten billiger sein können als die Post. Das hat einen wirtschaftlichen Grund: Je mehr Postsendungen man verteilt, desto
niedriger sind die Stückkosten. Volkswirtschaftlich ist es
effizienter, nur ein Verteilernetz zu unterhalten, als viele.
Postdienste sind ein natürliches Monopol.
Für natürliche Monopole gilt, dass sie sinnvoll nicht
wettbewerblich organisiert werden können. Lange Zeit
hat die Wirtschaftstheorie darin übereingestimmt. Beispiele sind die Energiewirtschaft, die Bahn, die Post, die
Flugsicherung. In diesen Bereichen kann es keinen munteren Wettbewerb von effizienten Kleinunternehmen geben, wie die FDP sich das ausmalt. In den letzten Jahren
hat die Politik mit Unterstützung der FDP die Privatisierung natürlicher Monopole vorangetrieben. Das ErgebZu Protokoll gegebene Reden
nis sind private Monopole. Natürliche Monopole müssen
staatlich reguliert werden, um Qualität und angemessene
Preise sicherzustellen. Die Inszenierung von Wettbewerb
im Bereich natürlicher Monopole ist volkswirtschaftlich
ineffizient. Es kann dennoch ein objektives Interesse daran geben, nämlich dann, wenn man über Schmutzkonkurrenz die Löhne drücken möchte.
Durch Gewerkschaften und Tarifverträge können Beschäftigte die Konkurrenz untereinander überwinden und
sich gegen Dumping wehren. Die Solidarität der Beschäftigten ist der FDP ein Dorn im Auge, das ist ihrem Antrag
anzumerken. Ich erinnere an die Ankündigung ihres Vorsitzenden Guido Westerwelle vor der letzten Bundestagswahl, ich zitiere: „Wir werden nach dem Wahlsieg 2006
die Gewerkschaftsfunktionäre entmachten. Wir werden
das starre Tarifvertragssystem aufbrechen.“ Dies ist
keine Politik gegen Kartelle, sondern eine gegen die Demokratie.
Wir stimmen der FDP zu, dass wir ein starkes Bundeskartellamt mit klaren Befugnissen, einer adäquaten Ausstattung und einem konsistenten ordnungspolitischen
Auftrag brauchen. Deswegen haben wir stets eine Aufstockung des Personalhaushalts des Bundeskartellamts gefordert, die im Haushalt 2009 von der Regierung übernommen wurde.
Ich möchte die FDP-Fraktion daran erinnern, dass die
Hauptaufgaben des Bundeskartellamtes die Durchsetzung des Kartellverbots, die Durchführung der Zusammenschlusskontrolle sowie die Ausübung der Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen
sind. Es kann die Zusammenschlüsse von Unternehmen
verbieten, missbräuchliche Verhaltensweisen untersagen,
Auflagen erteilen, Geldbußen verhängen und verfügt
über weitgehende Ermittlungsbefugnisse. Das ist gut so,
und daran soll sich auch nichts ändern.
Wir wollen aber nicht, dass das Bundeskartellamt in
Zukunft Einfluss auf wirtschaftspolitische oder sozialpolitische Entscheidungen nimmt, die nicht im engeren
Sinne etwas mit Wettbewerbsrecht zu tun haben. Die Entscheidungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sollen
wie eh und je von den Parlamenten und der Regierung getroffen werden und nicht vom Bundeskartellamt politisiert werden.
Die Problematik des FDP-Antrags wird bereits im
zweiten Absatz deutlich. Die FDP verweist auf einen Vorschlag der Monopolkommission, die - wie auch die
FDP - empfiehlt, dass sich das Bundeskartellamt in seiner Stellungnahme über die Auswirkungen der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen auf
Produktmärkte äußern sollte. Die FDP geht sogar noch
einen Schritt weiter und fordert ein generelles Anhörungsrecht des Bundeskartellamts zu wirtschaftspolitischen Fragen. Davon halten wir überhaupt nichts. Das
Bundeskartellamt hat mit der konsequenten Anwendung
des Wettbewerbsrechts genug zu tun. Es soll sich mit wettbewerbsrechtlichen Fragen auseinandersetzen und sich
aus der Sozial- und Tarifpolitik heraushalten. Deswegen
lehnen wir den Antrag der FDP „Kompetenzen des Bundeskartellamts weiterentwickeln“ ab.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8078 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorbildlich und importunabhängig Ökostrom
und Biogas einkaufen
- Drucksache 16/11964 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ältestenrat
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Christian
Hirte für die Unionsfraktion, Marko Mühlstein für die
SPD-Fraktion, Michael Kauch für die FDP-Fraktion,
Hans-Kurt Hill für die Fraktion Die Linke, Hans-Josef
Fell für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Als ich den Titel des Grünen-Antrags gelesen hatte, da
schlugen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits ist
überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn man staatliche Liegenschaften ausschließlich mit Ökostrom und
Biogas betreiben möchte; da wäre ich sehr dafür. Andererseits müssen wohl selbst die Grünen zugeben, dass
nicht überall, wo Umweltstrom draufsteht, auch Ökostrom drin ist.
Wenn man sich die einschlägigen Angebote der Stromanbieter ansieht, wird man zum Beispiel für Berlin feststellen können, dass der günstigste Anbieter von Ökostrom tatsächlich der Kernkraftwerksbetreiber Vattenfall
mit seinem ÖkoPur-Tarif ist. Das ist so weit in Ordnung;
denn auch Kernenergie ist CO2-frei. Nun ist bekannt, dass
der ökologische Hardliner als Verbraucher erwartet,
dass der unter dem Label Öko vermarktete Strom tatsächlich ausschließlich aus regenerativen Energiequellen gewonnen wird. Nur gibt es diese Sicherheit in der Realität
freilich nicht. Anders formuliert: Bei jemandem, der
Strom zu 100 Prozent aus Wasserkraft bucht, werden sehr
wohl die Lichter ausgehen, wenn das Atomkraftwerk nebenan vom Netz geht.
Zudem sind bei diesen Zahlenschiebereien die absurdesten Effekte denkbar. So kann ein deutscher Stromversorger einen Vertrag mit einem Stromproduzenten in
Frankreich, Finnland oder irgendeinem anderen Land
schließen, in dem die Bevölkerung ein relativ entspanntes
Verhältnis zur Atomenergie pflegt. Dann wird zum Beispiel aus Finnland eine Strommenge X importiert, die per
Wasserkraft erzeugt wurde. Im Gegenzug liefert der deutsche Versorger deutschen Atomstrom, und zwar ebenfalls
die Menge X. Praktisch passiert natürlich gar nichts, weil
weiterhin jeder seinen lokalen Strom erzeugt und verbraucht. Die deutsche Firma überweist Geld nach Finnland für den „wertigeren“ Wasserstrom und darf dann
dem besorgten deutschen Ökokunden mitteilen, um wie
viel Prozentpunkte der Wasserkraftanteil stieg. Faktisch
bleibt alles beim Alten - außer, dass der deutsche Verbraucher sich besser fühlt. Das Lutherjubiläum 2017, für
das ich mich sehr engagiere, scheint auch hier seine
Schatten vorauszuwerfen; denn eines ist sicher: Soweit es
die Angaben über die Herkunft von Ökostrom betrifft, haben derlei Zusicherungen so viel Wert wie eine vorreformatorische Ablassurkunde.
Also fragt sich der geneigte Zuhörer, was die Grünen
tatsächlich mit ihrem Antrag bezwecken. Sie bezwecken
nichts anderes, als das „grüne“ Selbstverständnis wie
eine Monstranz vor sich her zu tragen, um dann gegebenenfalls auf den politischen Gegner einschlagen zu können. Nichts anderes ist von den Antragstellern beabsichtigt. Nur so kann man sich die herbe Aufforderung der
Grünen an die Bundesregierung erklären, wo doch eine
Bitte um Prüfung deutlich sachgerechter gewesen wäre.
Aber Vorsicht! Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“
titelte 2005: „Fischer und Künast sündigen beim Ökostrom“. Eine parlamentarische Anfrage der FDP enthüllte damals: Gut ein Viertel des Stroms beziehen die
Berliner Ministerien aus Atomkraftwerken. Ausgerechnet
die Ämter der Grünen-Minister Joschka Fischer und
Renate Künast verzichteten komplett auf Ökostrom. Das
Nuklearzeitalter war also demnach - trotz beschlossenen
Ausstiegs - für Rot-Grün noch nicht beendet. Da stellt
sich doch die ketzerische Frage, wo denn das vermeintlich ökologische Gewissen der Grünen geblieben war vermutlich auf der Strecke.
Aber auch abseits der politischen Polemik gibt es ganz
praktische und nachvollziehbare Gründe, warum die Umstellung auf Ökostrom noch nicht zu 100 Prozent erfolgt
ist. Ich möchte der Fraktion der Grünen die Lektüre der
Bundeshaushaltsordnung dringend empfehlen. Sie ist
über die Seiten des Bundesministeriums der Justiz abrufbar; aber auch bei Google wir man fündig. Ich zitiere § 7
Abs. 1 Satz 1der BHO:
Bei Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans sind die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit
und Sparsamkeit zu beachten.
Aus eben diesem Grund muss es der öffentlichen Hand
überlassen bleiben, selbst zu entscheiden, von wem sie ihren Strom bzw. ihr Gas bezieht.
Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit sind doch keine
leeren Floskeln. Sollen wir wirklich in finanziell schwerem Fahrwasser jedwede Haushaltsregel über Bord werfen? Hat der Bürger in Zeiten der Finanzkrise keinen
Anspruch mehr darauf, dass die politischen Entscheidungsträger mit den Steuermilliarden vernünftig umgehen? Ich verstehe und achte das Anliegen der Grünen,
welches hinter diesem Antrag steht. Sie sagen richtigerweise, dass die erneuerbaren Energien in unseren Ministerien zukünftig einen höheren Anteil haben sollen. Dem
stimmen wir als Regierungskoalition ausdrücklich zu,
aber doch nicht um jeden Preis. Lassen Sie uns lieber darüber nachdenken, wie wir beides - Ökologie und Wirtschaftlichkeit - unter einen Hut bringen können. Dafür
wird sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einsetzen.
Verlassen Sie sich darauf.
Wenn es um die Frage einer nachhaltigen und zukunftssicheren Energieversorgung geht, haben die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag in der Tat eine
wichtige Vorbildfunktion. Und wie die Antragsteller richtig feststellen, sind wir dieser Aufgabe in den letzten Jahren gerecht geworden. So verfügt der Deutsche Bundestag bereits seit seinem Umzug von Bonn nach Berlin über
ein zukunftsweisendes, umweltpolitisch verantwortungsvolles und vorbildliches Energiekonzept. So betreibt der
Bundestag hauseigene Blockheizkraftwerke in KraftWärme-Kopplung, die der Erzeugung regenerativer
Energien dienen. Der darüber hinaus benötigte Bedarf
wird ebenfalls durch den Einkauf von Strom aus erneuerbaren Energien gedeckt. Gleiches gilt für das Bundesumweltministerium und dessen nachgeordnete Behörden.
Grundsätzlich ist der Forderung zuzustimmen, auch
die übrigen Bundesministerien mit Strom aus erneuerbaren Energien zu versorgen. Jedoch sind hierbei bestehende Verträge und die Versorgungsmöglichkeiten mit
entsprechenden Kapazitäten zu berücksichtigen. Ich gehe
davon aus, dass die Verantwortlichen in den Ministerien
und im Bundeskanzleramt sich dieser Problematik bewusst sind und in einigen Jahren sämtliche Behörden der
Bundesregierung mit Strom aus erneuerbaren Energien
versorgt werden.
Die vom Antragsteller geforderte Umstellung auf Biogas wird sich aus verschiedenen Gründen nicht so schnell
in die Tat umsetzen lassen, weshalb dem Antrag in der
vorliegenden Form nicht zugestimmt werden kann. Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Einspeisung von
Biogas in das Erdgasnetz erst seit relativ kurzer Zeit an
Bedeutung gewinnt. Mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes haben wir an dieser Stelle wichtige Impulse gesetzt, doch eine solche Entwicklung benötigt eben auch eine gewisse Zeit. Vor diesem Hintergrund
ist äußerst fraglich, ob kurzfristig überhaupt die benötigten Mengen an Biogas generiert werden können, die für
eine verlässliche Versorgung aller Bundesministerien
einschließlich des Kanzleramtes sowie des Bundestages
benötigt werden. Ich plädiere dafür, diesen Prozess mit
Augenmaß zu entwickeln und in den nächsten Jahren
Schritt für Schritt die Nutzung von Biogas zu intensivieren. Dies ist in der Praxis eher umzusetzen als eine
schnelle Umstellung der entsprechenden Ausschreibungen.
Darüber hinaus ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen,
dass die Nutzung von Biogas den gesamten Anwendungsbereich berücksichtigen muss. Erst in der letzten SitZu Protokoll gegebene Reden
zungswoche haben wir mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen
den Weg für eine Anrechnung von Biogas auf die Biokraftstoffquote frei gemacht. Damit haben wir einen
neuen Nutzungspfad für Biogas eröffnet, der bei der Berechnung der Potenziale beachtet werden muss. Denn
Biogas ist ohne Zweifel ein nachhaltiger und umweltfreundlicher Energieträger, aber auch nicht in unendlichen Mengen erzeugbar. In diesem Zusammenhang fordere ich alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen
Hause auf, sich für eine verstärkte energetische Abfallund Reststoffverwertung einzusetzen. Hierdurch würde
sich die verfügbare Menge an Biogas drastisch erhöhen.
Abschließend möchte ich feststellen, dass die Intention
des Antrages in die richtige Richtung geht, eine Umsetzung in die Praxis jedoch nicht wie beschrieben erfolgen
kann. Was diesem Antrag fehlt, ist die Erkenntnis, dass
die Biogasnutzung nur im Rahmen einer Gesamtstrategie
und unter Berücksichtigung der von mir genannten
Punkte nachhaltig ausgebaut werden kann.
Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Antrag zum Einkauf von Ökostrom und Biogas
durch Bundesbehörden stellt auf die Vorbildfunktion der
öffentlichen Hand für den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit ab. Dabei soll allen Bundesministerien
und Bundesbehörden der Bezug von Ökostrom und Biogas
vorgeschrieben werden.
Wir müssen zunächst einmal feststellen, dass es in diesem
Antrag vorrangig um Symbolik geht. Durch den Einsatz
regenerativen Stroms und Gases durch Bundesbehörden
wird kein großer Beitrag zu Klimaschutz und Versorgungssicherheit geleistet. Dennoch ist anzuerkennen, dass eine
solche Symbolwirkung dann ein wirklicher Beitrag ist,
wenn es zu nennenswerten Nachahmeffekten durch Bürger
und Unternehmen kommt. Ob es zu solchen Nachahmeffekten kommt und diese dann die Zusatzkosten für die
öffentlichen Haushalte rechtfertigen, muss Gegenstand
der Ausschussberatungen sein.
In jedem Fall übersehen die Grünen aber die Gesetzeslage, die sie selbst befürwortet haben. Nach dem Erneuerbare-Wärme-Gesetz darf Biogas nämlich nur in KWKAnlagen, nicht aber in Gasheizungen eingesetzt werden.
Damit betreibt die Regierung Greenwashing: Die CO2Einsparung durch Biogas wird schöngerechnet, da es nur
für besonders effiziente Verwendungen verkauft werden
darf, während das „böse“ russische Erdgas in den
„schlechten“ Gasheizungen verbrannt wird. Die Grünen
haben das bei Verabschiedung des Gesetzes nicht kritisiert.
Ökologisch ist das natürlich Unsinn, denn niemand kann
nach der Einspeisung ins Netz unterscheiden, ob die GasMoleküle aus russischem Erdgas oder heimischem Biogas
stammen.
Da nun aber die schwarz-rot-grüne Allianz diese
Beschränkung aus ideologischen Gründen ins Gesetz
geschrieben hat, ist die Forderung im Antrag der Grünen
schlicht rechtswidrig. Denn viele Verbrauchsstellen in
Bundesbehörden werden keine KWK-Anlagen, sondern
zum Beispiel Gasheizungen sein. Vor diesem Hintergrund
empfehle ich den Grünen, mit der FDP erst einmal für
einen Abbau der gesetzlichen Beschränkungen für Biogas
einzutreten. Stattdessen bringen Sie hier einen Schauantrag für den Wahlkampf ein, der an den eigentlichen
Problemen nichts ändert.
Wer von anderen mehr Klimaschutz fordert, sollte zunächst selbst seine Hausaufgaben machen. Deshalb ist es
richtig, wenn der Bund bei seinen Liegenschaften vorangeht und bei der Versorgung auf heimische erneuerbare
Energien umsteigt.
Der Bundestag ist in der Sache bereits tätig geworden.
So bezieht das Parlament Ökostrom und wird in Zukunft
den Bezug von Biogas in der Ausschreibung berücksichtigen. Immerhin „verheizt“ das hohe Haus pro Jahr rund
1,8 Millionen Kubikmeter Erdgas. Das Problem war für
Energieversorger bisher, diese großen Mengen als Biogas
aus nachhaltiger Erzeugung bereitzustellen. Ab 2010
werden aber mehrere Anbieter - darunter auch die Berliner GASAG - dieses Produkt anbieten können. Für den
Bundestag hat sich diese Anforderung der Grünen damit
erledigt. Ein herzlicher Dank gilt deshalb auch der Verwaltung des Deutschen Bundestages, die sich früh und
professionell dieser Thematik angenommen hat.
Die Liegenschaften der Bundesministerien und deren
Behörden könnten dann also ohne Weiteres folgen. Ob sie
dies tun, wird sich daran zeigen, ob entsprechende Ausschreibungen erfolgen, und ob bereits ausreichende Biogasmengen verfügbar sind. Man muss dabei an die
Adresse der Grünen anmerken, dass sie derzeit - in Übereinstimmung mit der Bundesregierung - wenig dafür tun,
den erforderlichen Biogasaufwuchs zu unterstützen. Das
Problem ist, dass in Deutschland nur begrenzt Flächen
für die Bioenergienutzung zur Verfügung stehen.
Von der landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland
mit knapp 16 Millionen Hektar können nach Untersuchungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen
- SRU - unter Berücksichtigung sozialer und ökologischer Belange langfristig 19,0 Prozent oder drei Millionen Hektar für die Bioenergienutzung bereitgestellt werden. Derzeit beträgt der Anteil schon 12,7 Prozent. Ein
Großteil dieser Flächen wird bereits für den Anbau von
Pflanzen zur Biospriterzeugung belegt. Dabei hat sich die
Bundesregierung unter Beifall der „Ökopartei“ sehr
hohe Ziele gesteckt.
Die Folge ist allerdings, dass kein Platz mehr für
Energiepflanzen zur Biogasproduktion bleibt. Es sei
denn, man verzichtet auf den Schutz des Naturhaushaltes
oder schränkt die Nahrungsmittelerzeugung ein. Nach
Berechnungen des SRU würden beim Festhalten an der
jetzigen Biokraftstoffstrategie sämtliche Flächen für die
Erzeugung von Agroenergie benötigt. Wir müssen uns
also entscheiden zwischen der teilweise klimaschädlichen und ineffizienten Biospritherstellung oder für Biogas, das je Hektar Biomasse eine dreimal höhere Energieausbeute erreicht.
Die Linke spricht sich deshalb für eine gezielte Förderung von Biogas aus und fordert eine hindernisfreie ReZu Protokoll gegebene Reden
gelung zur Einspeisung von Biogas ins Erdgasnetz. Dann
kommt auch genug Biogas im Bundeswirtschaftsministerium an.
Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben eine wichtige Vorbildfunktion beim Klimaschutz und
bei der Energieversorgungssicherheit. Der Bundestag,
das Bundesumweltministerium und seine nachgeordneten
Behörden sind dieser Vorbildfunktion im Bereich der
Stromversorgung mittlerweile gerecht geworden, da sie
inzwischen anhand festgelegter Ausschreibungskriterien
den Strombezug auf Ökostrom umgestellt haben. Wir hatten damals selbst den Antrag zur Umstellung des Bundestages auf Ökostrom in den Bundestag eingebracht und
sind deshalb guter Hoffnung, dass auch dieser Antrag
Unterstützung in den anderen Fraktionen finden wird. Bei
den übrigen Ministerien und im Kanzleramt herrscht immer noch Fehlanzeige. Zwar sind alle Minister und die
Bundeskanzlerin in ihren Sonntagsreden für den Klimaschutz. Wenn es aber darum geht, wenigstens in ihren
eigenen Häusern mit gutem Beispiel voranzugehen,
herrscht Fehlanzeige. Braunkohlestrom, Steinkohlestrom, Strom aus Atomkraftwerken, all das ist heute noch
Standard in den meisten Ministerien, obwohl diese längst
Strom aus erneuerbaren Energiequellen beziehen könnten. Vollkommen überflüssig werden daher Klimagase in
die Luft geblasen, Schwermetalle über das Land verteilt
und Atommüll erzeugt, von dem keiner weiß, wo er mal
landen soll.
Noch dürftiger als beim Ökostrom sieht die Bilanz der
Bundesregierung beim Bezug von Biogas aus. Mittlerweile gibt es einige Biogasanlagen, die ihr Biogas aufbereitet in das Erdgasnetz einspeisen. Aber nicht einmal das
Bundesumweltministerium und dessen nachgeordnete
Behörden beziehen Biogas. Wie sollen die Bürger die Reden von der Energieversorgungssicherheit ernst nehmen,
wenn nicht einmal die Bundesregierung für ihre eigenen
Gebäude eine von Erdgaslieferanten unabhängige Energieversorgung sicherstellen kann? Biogas wird zwar erst
seit relativ kurzer Zeit in das Erdgasnetz eingespeist.
Mittlerweile gibt es aber Unternehmen, die Biogas liefern.
Wir fordern die Bundesregierung auf, in sämtlichen
Ministerien und dem Bundeskanzleramt - inklusive der
nachgeordneten Behörden - den Strombedarf, der nicht
über Eigenerzeugung abgedeckt wird, künftig von einem
Ökostromanbieter zu beziehen. Die Institutionen sollen
diesbezüglich nach Ablauf der geltenden Verträge Ausschreibungen vornehmen. Ebenso fordern wir die Bundesregierung auf, zu prüfen, welche Anbieter Biogas für
die Gasversorgung der Gebäude der Bundesregierung
sowie der nachgeordneten Behörden zur Verfügung stellen können, und eine entsprechende Ausschreibung vorzubereiten. Sollte es noch laufende Verträge geben, die
die Institutionen für einen bestimmten Zeitraum binden,
soll ein Angebot des Vertragspartners für die Belieferung
mit Biogas eingeholt werden.
Aber nicht nur die Bundesregierung ist aufgefordert,
mit gutem Beispiel voranzugehen. Wir Parlamentarier
müssen natürlich vor allem selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Bei unserem letzten diesbezüglichen Antrag
wurde unsere Forderung noch mit dem Argument zurückgewiesen, es gäbe noch keine Anbieter von Biogas. Wir
halten dieses Argument für überholt und fordern die Bundestagsverwaltung auf, zu prüfen, welche Anbieter Biogas für die Gasversorgung des Deutschen Bundestages
zur Verfügung stellen können, und eine entsprechende
Ausschreibung vorzubereiten. Sollte es noch laufende
Verträge geben, die die Bundestagsverwaltung für einen
bestimmten Zeitraum binden, soll ein Angebot des Vertragspartners für die Belieferung mit Biogas eingeholt
werden. Gerade angesichts der diesjährigen Erdgaskrise
wäre die Umstellung des Bundestages auf Biogas ein
Schritt, der international Beachtung finden dürfte. Die
Umstellung sämtlicher Gebäude der Bundesregierung
auf Ökostrom sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Es
ist sehr erstaunlich, dass erst der Bundestag die Bundesregierung auffordern muss, diesbezüglich aktiv zu werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11964 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Zeil, Paul K. Friedhoff, Frank
Schäffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eigenkapitalbildung fördern - Deutschlands
Mittelstand fit machen
- Drucksachen 16/3841, 16/5952 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Zimmermann
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr.
Heinz Riesenhuber für die Unionsfraktion, Andrea
Wicklein für die SPD-Fraktion, Paul K. Friedhoff für die
FDP-Fraktion, Sabine Zimmermann für die Fraktion Die
Linke, Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise gilt: Deutschland kann nur mit immer neuen innovativen Produkten,
Verfahren und Dienstleistungen im globalen Wettbewerb
bestehen und damit Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland sichern. Dazu brauchen wir heute
mehr denn je einen starken und innovativen Mittelstand,
denn er ist die treibende Kraft im Innovationsgeschehen.
Junge Technologieunternehmen und innovative kleine
und mittlere Unternehmen sorgen für die schnelle Verbreitung neuer Technologien in der Wirtschaft und für die
Entwicklung und Einführung von Marktneuheiten. Sie
gelten zudem als besonders wachstumsstark und schaffen
mehr neue Arbeitsplätze als nicht innovative Unternehmen.
Dank der guten konjunkturellen Lage konnten die mittelständischen Unternehmen in den vergangenen Jahren
ihre finanzielle Basis stärken und ihre Innovationsaktivitäten ausweiten. So ist die durchschnittliche Eigenkapitalqoute des Mittelstandes von 2002 bis 2007 laut einer
Studie der Universität Münster von 17,2 auf 26 Prozent
gestiegen, gleichzeitig hat der Mittelstand seine internen
FuE-Aufwendungen laut Stifterverband von 13,5 auf
15,2 Prozent erhöht.
Doch bleibt die ausreichende Finanzierung des Mittelstandes ein Unsicherheitsfaktor, nicht nur im innovativen
Bereich. So sind die Unternehmen in vielen Branchen mit
weniger als 10 Prozent Eigenkapital weiterhin unterkapitalisiert, und der im Mittelstand nach wie vor gängige
Weg, die Eigenkapitalquote durch die Einbehaltung von
Gewinnen zu erhöhen, ist heute kaum mehr möglich.
Denn in der aktuellen Wirtschaftskrise sind die Aufträge
bei einzelnen Firmen um bis zu 90 Prozent eingebrochen,
und die Liquidität hat sich teilweise dramatisch verschlechtert. Die Finanzierungsprobleme betreffen besonders auch den traditionellen Weg der Kapitalbeschaffung
über den Bankkredit. Dort sorgen die Verschärfung der
Kreditvergabekriterien und die erhöhten Anforderungen
an die Eigenkapitalquote zur Erhöhung der Bonität im
Rahmen von Basel II sowie die aktuelle Zurückhaltung
der Banken in der Krise für Restriktionen. Entsprechend
sinkt zurzeit die Bereitschaft der Unternehmen, zu investieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das gilt besonders für exportorientierte Branchen wie Maschinen- und
Anlagenbau, Automobilzulieferer, die Chemie und die
Elektroindustrie.
Die Wirtschaftskrise geht auch am Beteiligungsmarkt
nicht spurlos vorüber und stellt an die Unternehmen und
ihre Unternehmen große Herausforderungen. Das gefährdet besonders die Gründung und das Wachstum junger Technologieunternehmen, wo die Höhe der notwendigen Entwicklungsinvestitionen und die teilweise
unsicheren Erfolgsaussichten den Rahmen jedes normalen Bankkredits sprengen und Gewinne erst nach Jahren
realisiert werden können. Eine aktuelle Studie der KfW
bestätigt, dass im Zuge der Wirtschaftskrise rund drei
Viertel der kleinen und mittleren Unternehmen in ihrer
Innovationstätigkeit behindert sind. Der Mangel an Finanzierungsquellen stellt dabei das größte Innovationshemmnis dar, und zwar am meisten für diejenigen Unternehmen, die für unseren technologischen Strukturwandel
und unsere wirtschaftliche Entwicklung die wichtigsten
Impulse geben. Neben Finanzierungsschwierigkeiten
- beklagt von 62 Prozent der von Innovationshemmnissen
betroffenen Unternehmen - spielen auch bürokratische
Hemmnisse - 47 Prozent - und der Mangel an Fachpersonal - 31 Prozent - eine Rolle, außerdem organisatorische Probleme - 20 Prozent -, das Fehlen relevanter
Marktinformationen - 19 Prozent - und das Fehlen von
technologischem Know-how - 13 Prozent -. Generell
gilt: Je kleiner und je jünger der Mittelständler, umso bedeutender sind die Schwierigkeiten, Innovationen aus eigenen oder fremden Mitteln zu finanzieren. Laut KfW
droht die Gefahr einer Abwärtsspirale aus schlechter Geschäftslage, mangelnder Finanzierung und unterlassener
Innovation. Wenn der Mittelstand aufgrund der derzeitigen konjunkturellen Schwächephase die Innovationsanstrengungen der vergangenen Jahre nicht aufrechterhalten kann, dann bleiben entscheidende Impulse für die
wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands aus.
Die unionsgeführte Bundesregierung hat in den letzten
dreieinhalb Jahren zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um
die allgemeinen Rahmenbedingungen und die Finanzierungsbedingungen sowohl für den breiten Mittelstand als
auch für den besonders innovationsstarken Mittelstand
zu verbessern. Damit haben sich die Forderungen des
heute hier diskutierten FDP-Antrags aus dem Jahre 2006
zum größten Teil erledigt. So haben wir mit den drei Mittelstandsentlastungsgesetzen den Bürokratieabbau wesentlich vorangebracht. Wir haben die Unternehmen von
Statistikpflichten befreit und seit 2006 über 300 bürokratische Regelungen abgebaut. Die Einführung des Standardkostenmodells und des Normenkontrollrats werden
zur weiteren Reduzierung von Bürokratiekosten beitragen. Wir haben den Spielraum für Investitionen erhöht
mit der Senkung der Unternehmensteuern auf rund
30 Prozent im Rahmen der Unternehmensteuerreform
2008 und durch die bessere steuerliche Absetzbarkeit von
handwerklichen und haushaltsnahen Dienstleistungen
durch private Haushalte. Wir haben eine Existenzgründungsoffensive gestartet, die von der Internetplattform
„startothek“ über das Unternehmensregister, die GmbHReform, den besseren Pfändungsschutz bis hin zur verstärkten Förderung von innovativen Gründungen eine
Fülle von Maßnahmen umfasst. Gleichzeitig haben wir
die Innovationsfähigkeit des Mittelstandes gestärkt:
durch Bündelung der BMWi-Förderprogramme in dem
„Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand“ - ZIM -,
durch das BMBF-Programm „KMU Innovativ“ und
durch die Mittelerhöhung für die Innovationsförderung
insgesamt. Die Mittelstandsfinanzierung im engeren
Sinne profitiert von dem neuen Kleinkreditprogramm
KfW Start Geld für Gründer, der 50 prozentigen
Haftungsfreistellung beim Unternehmerkredit, der Neugestaltung des ERP-Innovationsprogramms, dem Sonderfonds Energieeffizienz für kleine und mittlere Unternehmen, dem neuen KfW-Genussrechts-Programm zur
Finanzierung des breiten Mittelstandes, der mittelstandsfreundlichen Umsetzung der Basel-II-Richtlinien
für Kreditinstitute in deutsches Recht, dem Forderungssicherungsgesetz zur Verbesserung der Zahlungsmoral
von Auftraggebern und der Ausweitung der Exportkreditgarantien. Auch die Rahmenbedingungen zur Mobilisierung von Wagniskapital für Innovationen haben wir
verbessert. Zu nennen ist hier vor allem das neue Wagniskapitalbeteiligungsgesetz, der Ausbau der Fonds für
Gründer und junge Technologieunternehmen mit Partnern aus der Wirtschaft - High-Tech-Gründerfonds,
ERP-Startfonds, ERP/EIF Dachfonds - und das neue
Netzwerk „Innovationsfinanzierung“ zur regionalen Stimulierung des Marktes für Eigenkapitalinvestitionen in
junge Technologieunternehmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die beiden Konjunkturpakete der Bundesregierung
bringen 2009 und 2010 zusätzlich deutliche Steuer- und
Abgabenentlastungen für den Mittelstand und sorgen mit
dem kommunalen Investitionsprogramm von rund 17 Milliarden Euro für zahlreiche Aufträge. Zu diesen Maßnahmen gehören unter anderem die bessere degressive Abschreibung beim Kauf neuer Maschinen oder Anlagen,
Sonderabschreibungsmöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen, die höhere steuerliche Absetzbarkeit
von Handwerkerleistungen bei Instandhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen, die Förderung des Autoabsatzes durch die Umweltprämie, die Ausweitung der KfWKredit- und Beteiligungsprogramme, die Aufstockung des
CO2-Gebäudesanierungsprogramms, die Senkung des
Arbeitslosenversicherungsbeitrags auf 2,8 Prozent und
des Krankenkassenbeitrags auf 14,9 Prozent, die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes, das Bad-Bank-Modell zur
Stimulierung der Kreditvergabe durch die Banken und
- last not least - der staatliche 100-Milliarden-EuroSchutzschirm zur Sicherung der Kreditversorgung von
Unternehmen - all das kann und wird die Finanzierungssituation der kleinen und mittelständischen Unternehmen
verbessern und ihnen durch die Krise helfen.
Viel getan - viel zu tun, das gilt auch hier. Die KfW ist
dabei, die Durchführung der Konjunkturprogramme für
den Mittelstand zu optimieren. Noch kommt das Geld
beim Mittelstand nicht im gewünschten Umfang an. Und
langfristig brauchen wir noch weitere Verbesserungen,
um die Finanzierungs- und Eigenkapitalsituation des
Mittelstandes zu stärken. Zu beseitigen sind insbesondere
die Nachteile, die die Unternehmensteuerreform - trotz
aller Vorteile durch die breiten Steuersenkungen - für die
Unternehmen auch gebracht hat und die gerade jetzt krisenverschärfend wirken. So wurden insbesondere die
Verrechnung von Verlusten auch bei seriösen Beteiligungsinvestitionen und die Zinsabzugsfähigkeit durch die
sogenannte Zinsschranke verschlechtert - mit allen
Nachteilen für besonders wachstumsstarke, kapitalintensive Unternehmen, für Unternehmen in der Krise und für
forschende Unternehmen. Diese Nachteile konnten auch
durch das neue Wagniskapitalgesetz für Investoren in innovativen Unternehmen nicht kompensiert werden. Vor
allem das Engagement von Business Angels, die in frühen
Phasen für innovative Unternehmen durch Rat und Tat
und Investitionen unersetzlich sind, wird nach wie vor
nicht angemessen steuerlich gewürdigt. Selbst die Erhöhung der Freigrenze für die Veräußerungsgewinnbesteuerung im Wagniskapitalgesetz kommt nicht zum Zuge, da
die EU diese Regelung noch immer nicht freigegeben hat.
Es besteht jedoch begründete Hoffnung, dass wir den
Mittelstand - wie von der Union seit langem gefordert in einigen Bereichen bald noch weiter steuerlich entlasten können. So hat die SPD im Rahmen unserer Verhandlungen inzwischen signalisiert, dass sie zumindest bei Sanierungsfällen eine steuerliche Verlustverrechnung für
die Investoren unter bestimmten Voraussetzungen für
möglich hält und dass sie auch die Einführung eines steuerlichen Verlustrücktrages und die Verlängerung der IstBesteuerung bei der Umsatzsteuer über 2009 hinaus prüfen will.
Damit allein aber sind unsere Vorstellungen einer optimalen Politik für den breiten und für den innovativen
Mittelstand noch lange nicht erfüllt. Wünschenswert ist
auch eine Anhebung der Umsatzgrenzen bei der Ist-Besteuerung. Und weiter diskutieren müssen wir insbesondere über greifbare steuerliche Erleichterungen für Business Angels, die auch von den Ländern angemahnte
Entschärfung der Zinsschrankenregelung, die Absenkung
bei den gewerbesteuerrechtlichen Hinzurechnungen zum
Beispiel bei Immobilienmieten, eine zyklenübergreifende
Regelung der Basel-II-Kriterien im Rahmen der G 20 und spätestens nach der Wahl über die weitere steuerliche
Begünstigung von Investitionen in die Zukunft, allen
voran den von den Forschungspolitikern der Union schon
lange geforderten Steuerbonus für innovative, forschende
Unternehmen.
All diese Verbesserungen brauchen wir so schnell wie
möglich, um den Mittelstand als zentralen Leistungsträger unserer Wertschöpfungsketten und als Garant für Arbeit und Wohlstand weiter zu stärken.
Nicht nur in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage ist
die Eigenkapitalausstattung deutscher Unternehmen ein
wichtiges Thema. Mit ausreichend Eigenkapital können
Unternehmen kostengünstiger investieren, neue Arbeitsplätze schaffen oder erhalten. Unbenommen ist in der
derzeitigen Lage auf dem Finanzmarkt ausreichend Eigenkapital für die Unternehmen besonders wichtig, um
Projekte umsetzen zu können.
Die Bundesregierung hat bereits in den letzten Jahren
die rechtlichen Rahmenbedingungen deutlich verbessert,
um die Eigenkapitalbasis der Unternehmen zu stärken:
Mit der Unternehmensteuerreform haben wir die Besteuerung der Gewinne von Kapitalgesellschaften von fast
39 Prozent auf unter 30 Prozent gesenkt. Diese Steuerentlastung der Unternehmen haben wir uns als Sozialdemokraten nicht leicht gemacht. Sie hilft aber heute, mehr
Eigenkapital in den deutschen Unternehmen zu bilden
und vor allem - was uns wichtig war - die Steuerflucht ins
Ausland zu stoppen. Was die Höhe der Besteuerung betrifft, befinden wir uns wieder im europäischen Mittelfeld.
Auch die Abgeltungsteuer, mit der Kapitalerträge einheitlich mit 25 Prozent besteuert werden, ist bereits Realität.
Sie hat die Transparenz der Besteuerung deutlich verbessert.
Zu erwähnen ist auch das Gesetz zur Modernisierung
der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen vom
Juni letzten Jahres, das die FDP abgelehnt hat. Mit dem
Gesetz wurden die Rahmenbedingungen für die Bereitstellung von Kapital an junge und mittelständische Unternehmen verbessert. Ein wichtiger Teil war die Förderung von Wagniskapitalbeteiligungen durch steuerliche
Freistellungen. Wir haben die Bedingungen für Beteiligungskapital für junge und mittelständische Unternehmen, denen andere Finanzierungsmöglichkeiten nicht offen stehen, also bereits deutlich verbessert.
Bundesregierung und Bundestag haben auch auf die
Finanzierungsschwierigkeiten der deutschen Wirtschaft
durch die Krise auf den Finanzmärkten reagiert. Wir haZu Protokoll gegebene Reden
ben nicht nur die geltenden Förderprogramme aufgestockt, sondern leisten mit dem Bürgschaftsprogramm
von 115 Milliarden Euro über die KfW einen wichtigen
Beitrag für Investitionen und den Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland. Erstmals können auch größere Unternehmen von dem Programm profitieren.
Der Antrag der FDP stammt bekanntlich aus dem Jahr
2006. Dort wurde noch - dieser Seitenhieb sei mir erlaubt - davon gesprochen, dass „kapitalmarktbasierte
Finanzierungsinstrumente“ eine „Chance zu einer Effizienzsteigerung des Finanzsystems“ bieten würden. Die
FDP schlussfolgert daraus, dass sich der Zugang zu traditionellen Finanzierungsmitteln in Form von Krediten
aufgrund dieser veränderten Geschäftspolitik der Banken
verschlechtert habe. Im Rückblick wissen wir: Nicht die
Unternehmen leiden unter „unzureichender Aufklärung“
über Finanzierungsinstrumente, wie die FDP in ihrem
Antrag schreibt, sondern die Banken müssen ihre Geschäftspolitik ändern!
Obwohl alle anderen Fraktionen unseren Antrag im
Frühjahr 2007 ablehnten, nahmen sie die enthaltenen
Forderungen ernst. Einige unserer Forderungen wie die
zur Vermeidung von Finanzbürokratie hilfreiche Abgeltungsteuer wurden umgesetzt.
Aber lassen Sie mich zum grundlegenden Problem
kommen, der zu geringen Eigenkapitalausstattung des
deutschen Mittelstandes. Die Banken sind derzeit nicht
willens oder in der Lage, die Kreditnachfrage zu befriedigen. Das ist für kleine und mittlere Unternehmen besonders schlimm, da gerade diese kaum einen Zugang zum
Kapitalmarkt haben und daher auf die klassischen Finanzierungsmöglichkeiten angewiesen sind. Eine ausreichende Finanzierung ist aber für Innovationen und Investitionen ebenso wichtig wie für die Standortsicherung und
den Erhalt der Arbeitsplätze.
In der jetzigen Lage sind die Banken aufgefordert,
ihrer Verantwortung und ihrer Funktion als gewerblicher
Finanzierungshelfer nachzukommen. Zwar haben sie
gesteigerte Anforderungen an ein die Kreditrisiken absicherndes Eigenkapital zu beachten, und dies ist auch
sinnvoll, da die Finanzkrise gerade durch unterbesicherte Kreditausreichungen verstärkt wurde. Doch dürfen die Banken jetzt nicht über das Ziel hinausschießen
und gesunde Unternehmen durch zu restriktive Kreditvergabe in Bedrängnis bringen. Das Problem ist häufig nicht
der grundsätzliche Zugang zu Krediten, meist jedoch sind
es die Konditionen.
Eine allgemeine Kreditklemme ist derzeit nicht feststellbar, dies ist immerhin beruhigend. Wegen der traditionell starken Abhängigkeit von Bankkrediten aber ist
der Mittelstand von einem Anstieg der Kreditkosten besonders stark betroffen. Daher kann die Kreditvergabepraxis der Banken in vielen Fällen für die Investitionsschwäche der Unternehmen verantwortlich gemacht
werden.
Der Staat sollte alles unterlassen, was die Unternehmensfinanzierung erschwert. Privates Wagniskapital
darf nicht gegenüber anderen Finanzierungsformen diskriminiert werden. Auf der Seite der Unternehmen muss
der Staat dabei vor allem zur Aufklärung beitragen, denn
vielfach ist die zu geringe Eigenkapitalausstattung auf
mangelnde Informationen über die verschiedenen Möglichkeiten der Unternehmensfinanzierung zurückzuführen. So ist oftmals eine Angst vor Eigenkapital von Beteiligungsgebern festzustellen. Gerade Existenzgründer
oder aber neue Unternehmen mit hohen Forschungs- und
Entwicklungskosten sollten vor Beteiligungskapitalgebern nicht zurückschrecken. Wenn die Politik diese Geldgeber jedoch pauschal als Heuschrecken beschimpft, ist
dies nicht hilfreich. Stattdessen muss der Staat den Gründern alle sich dadurch bietenden Möglichkeiten aufzeigen und diese Finanzierungsform erleichtern. Dafür
kommen steuerliche Förderungen in Betracht.
Wenn wir in unserem Antrag 2006 gefordert haben, die
mittelständischen Unternehmen auf der Kapitalseite fit zu
machen, so war das bereits zu jenem Zeitpunkt richtig.
Derzeit ist es geradezu zwingend. Wer sich vor Augen
führt, dass der Mittelstand hierzulande 40 Prozent aller
Unternehmensumsätze erwirtschaftet und über 70 Prozent aller Arbeitsplätze stellt, der kann unser Anliegen
nur unterstützen.
Die Frage, wie viel Eigenkapital ein mittelständisches
Unternehmen braucht, erhält eine völlig neue Bedeutung
durch die derzeitige Wirtschaftskrise, die die tiefste und
wahrscheinlich auch längste Wirtschaftskrise wird in der
Geschichte der Bundesrepublik.
Erstens: Die Höhe des Eigenkapitals wird zur Überlebensfrage. Sie entscheidet darüber, ob das Unternehmen
genügend Substanz besitzt, um Auftragseingänge und
Nachfrageeinbrüche zu verkraften, die Krise zu überstehen und damit auch Arbeitsplätze zu halten. Das gilt für
die mittelständische Baufirma ebenso wie für den kleinen
Kfz-Betrieb oder den Bäckermeister.
Zweitens: Bei der Kreditvergabe der Banken hat die
Höhe des Eigenkapitals ein noch stärkeres Gewicht bekommen. Das hat nicht nur etwas mit der Finanzrichtlinie
Basel II zu tun. Es ist schlicht so, dass trotz der Milliarden-Bürgschaften für den Bankensektor die privaten Geschäftsbanken eine restriktive Kreditvergabe betreiben,
also hohe Anforderungen an das Eigenkapital der Unternehmen stellen. Werden die Bedingungen nicht erfüllt,
gibt es keinen Kredit oder der Zinssatz wird raufgeschraubt. Erst gestern meldete eine Wirtschaftsagentur:
„Kreditklemme erfasst Deutschlands Biotech-Branche“.
Angesicht dessen ist es richtig und wichtig, dass wir die
Frage des Eigenkapitals kleiner und mittlerer Unternehmen diskutieren. Aber wir müssen hier zu Lösungen kommen, und zwar zu solchen, die mit der bisherigen Politik
brechen.
Die FDP spricht von mehr Risikokapital und Steuersenkungen für Privatinvestoren. Sie hat für diese Forderungen bis auf Die Linke von allen Parteien Zustimmung
erhalten. Aber genau diese Politik hat uns in die heutige
Krise geführt. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir nicht
daraus lernen und alles beim Alten bleibt. Wir müssen
Zu Protokoll gegebene Reden
neue Wege gehen, und zwar nicht nur in Worten, wie es
die SPD immer wieder tut, sondern in Taten.
Die Linke hat klare Alternativen. Wir fordern, mit der
bisherigen Wirtschaftspolitik zu brechen, die rein auf
Profit ausgerichtet war und die derzeitige Krise hervorgebracht hat. Wir wollen für das künftige Wirtschaften
das Gemeinwohl ins Zentrum stellen. Das wäre auch zum
Wohle der vielen kleinen und mittleren Unternehmen in
diesem Land und ihrer Beschäftigten.
Was sind diesbezüglich unsere zentralen Forderungen?
Erstens: Der Bankenrettungsschirm ist ein Milliardengeschenk an die Manager ohne klare Auflagen für eine
bessere Kreditversorgung. Wir lehnen das ab und wollen
stattdessen alle Großbanken vergesellschaften. Nur so
kann im öffentlichen Interesse der Staat beeinflussen,
dass es ausreichend Kredite gibt zu ordentlichen Konditionen. Zugleich stellt diese Maßnahme sicher, dass nicht
wie bisher der Steuerzahler für die Verluste aufkommt, die
Gewinne aber in privater Hand einiger weniger verbleiben.
Zweitens fordert Die Linke einen staatlichen Zukunftsfonds in Höhe von 100 Milliarden Euro. Dieser soll
Kredite, Subventionen und Beteiligungen an Industrieunternehmen ermöglichen. Aber anders als die Bundesregierung knüpfen wir die Vergabe der Gelder an die Bedingung, dass Beschäftigung gesichert wird und ökologische
Innovationen stattfinden. So werden notleidende Unternehmen unterstützt und zugleich der Weg zu einem anderen Wirtschaften eingeschlagen, damit wir in einigen
Jahren nicht wieder vor denselben Problemen stehen wie
heute. Es darf kein „weiter so“ geben!
Drittens: Das Eigenkapital vieler kleiner und mittlerer
Unternehmen verbessert sich letztlich durch eine ordentliche Auftragslage - das heißt genügend und gut bezahlte
Aufträge. Die Linke fordert ein öffentliches Investitionsprogramm, das diesen Namen verdient. Die Gewerkschaft Verdi hat vor dem Hintergrund der sich verschärfenden Krise völlig zu Recht die Zahl von 100 Milliarden
Euro genannt. Mit Investitionen in diesem Umfang würden zehntausende Handwerks- und Dienstleistungsunternehmen unterstützt und hunderttausende Arbeitsplätze
gesichert und neu geschaffen.
Ich komme zum Schluss: Wenn es die Bundesregierung
ernst meint mit einem Politikwechsel, muss sie diese Vorschläge aufgreifen. Andernfalls bleibt es bei Lippenbekenntnissen. Verlierer wären zehntausende kleine und
mittlere Unternehmen und ihre Beschäftigten.
Die Intention des FDP-Antrages, die Eigenkapitalsituation für kleine und mittlere Unternehmen zu verbessern, ist grundsätzlich richtig und wird von uns ausdrücklich unterstützt. Die konkreten Forderungen der FDP
bringen uns allerdings nicht voran; denn die Krise ist in
der Wirtschaft unverkennbar angekommen: Auftragseingänge und Umsätze brechen dramatisch ein, die Kurzarbeit steigt rasant, und auch die Zahlen der Arbeitslosen
und der Insolvenzen klettern nach oben. Wir brauchen sofort wirksame Maßnahmen, die den Unternehmen helfen,
die Krise produktiv zu bewältigen. Solche Ansätze bietet
der FDP-Antrag nicht.
So ist der Antrag in großen Teilen überholt. Die von
der FDP geforderte Abgeltungsteuer ist längst eingeführt. Allerdings ist diese Abgeltungsteuer so ausgestaltet, dass die Eigenkapitalbildung der Unternehmen behindert wird. Dividenden werden mit rund 50 Prozent fast
doppelt so hoch besteuert wie Zinsen mit 25 Prozent. Damit hat die Große Koalition einen starken Anreiz gesetzt,
die schon jetzt dünne Eigenkapitaldecke zugunsten von
Fremdkapitalfinanzierungen weiter auszudünnen. Auch
der Sachverständigenrat hat davor gewarnt, dass die
verfehlte Ausgestaltung der Abgeltungsteuer Eigenkapitalfinanzierungen zum steuerlich unattraktivsten Finanzierungsweg werden lässt. Diese Probleme werden im
Antrag der FDP gar nicht angesprochen. Wir Grünen fordern die Abgeltungsteuer so auszugestalten, dass Eigenund Fremdkapital gleich hoch besteuert werden, zum Beispiel durch die Anwendung des halben Steuersatzes auf
Dividenden und Veräußerungsgewinne.
Der Antrag der FDP bleibt trotz der fortgeschrittenen
Diskussion zur Förderung von Wagniskapital sehr im Allgemeinen. So fordert die FDP zum Beispiel bessere
Bedingungen für Beteiligungskapitalgeber oder Erleichterungen für die Beteiligung von Privatinvestoren durch
Steuersenkungen. Konkrete Vorschläge zu Maßnahmen
und Steuersätzen fehlen. Keinerlei Erkenntnisfortschritte
bringt der Antrag für die Abgrenzung der förderungswürdigen Frühphasen- und Anschlussfinanzierungen von
normalen Buy-outs. Eine Fokussierung der Förderung
auf junge innovative Unternehmen oder Hochtechnologiegründungen ist aber notwendig, um keine allgemeine
Steuerbegünstigung zu schaffen. Das zeigen auch internationale Erfahrungen. So wurde zum Beispiel über die
Abschaffung der Steuervorteile für Private Equity in den
USA und Großbritannien diskutiert, gerade weil diese
eine allgemeine Begünstigung dieser Branche und keine
Förderung von innovativen Unternehmen darstellen.
Wir Grünen haben in unserem Antrag „Innovationsfähigkeit des Standortes stärken - Wagniskapital fördern“ klare Forderungen aufgestellt. Ins Zentrum der
Förderung sollen Hochtechnologiegründungen und
junge innovative Unternehmen gestellt werden. Diese
steuerliche Förderung soll deshalb zielgenau auf kleine
und mittlere Technologie- und andere hochinnovative
Unternehmen beschränkt werden, die zunächst mindestens 30 Prozent ihres Umsatzes für Forschung und Entwicklungsausgaben aufwenden und die nicht von einem
oder mehreren zusammenwirkenden Großunternehmen
beherrscht werden. Konkret fordern wir, dass bei Übertragung und Verkauf von Anteilen und Neuinvestition
von Kapital Verlustvorträge voll erhalten bleiben sollen.
Verluste sollen auch zeitlich und in der Höhe unbeschränkt vorgetragen und mit Gewinnen verrechnet werden können. Die Mindestbesteuerung soll in diesen Fällen nicht greifen. Um die negativen Wirkungen der
Abgeltungsteuer zu mindern, sollen Dividenden und private Veräußerungsgewinne der Anteilseigner mit dem
halben Steuersatz der Abgeltungsteuer belegt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Damit wird die Benachteiligung der Eigenkapitalfinanzierung beseitigt. Venture Capital Fonds, die in diese
Hightechunternehmen investieren, sollen generell als
vermögensverwaltend eingestuft werden. Dies bedeutet,
dass auf der Fondsebene keine Besteuerung stattfindet. Solche klaren Forderungen fehlen im FDP-Antrag.
Auch für die unmittelbare Krisensituation hat die FDP
nichts zu bieten. Unternehmen sparen in der Krise zuerst
bei Forschung und Entwicklung. Um kurzfristig zu überleben, opfern kleine und mittlere Unternehmen Kapazitäten, die sie für den ökologischen Strukturwandel dringend
brauchen. Wir wollen mit einer 15-prozentigen Steuergutschrift für alle FuE-Ausgaben diesem Trend entgegenwirken. Wir wollen mittelständische Unternehmen stärker
anreizen, neue Produkte und Verfahren zu entwickeln.
Der Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft; eine
ökologische Wende kann nur mit dem Mittelstand gelingen. Die Steuergutschrift soll wie eine Zulage wirken; sie
wird also auch gezahlt, wenn das Unternehmen Verlust
macht und gar keine Steuern zahlt. Damit fördern wir
auch Unternehmen, die trotz Verlusten weiter in die Zukunft investieren.
Natürlich unterstützen auch wir Grünen Mitarbeiterbeteiligungen an Unternehmen. Es gehört einfach zu
einer modernen Unternehmenskultur, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an ihrem Unternehmen
partizipieren. Stock Options sind allerdings für Mitarbeiterbeteiligungen ungeeignet, da diese hochgradig risikobelastet sind. Hier ist die FDP auf dem Holzweg. Notwendig ist vielmehr, dass die Bundesregierung bürokratische
Hemmnisse bei Mitarbeiterbeteiligungen abbaut.
Etwas unklar sind auch die FDP-Forderungen zu Förderkrediten. So sollen diese zielgerichteter eingesetzt
werden. Offen bleibt allerdings, um welche Ziele es geht;
denn hier werden in den unterschiedlichen Bereichen
ganz unterschiedliche Zielstellungen verfolgt, zum Beispiel die Unterstützungen des „kleinen“ Mittelstands,
von Unternehmensgründungen oder von Wachstumsphasen. Eine Weiterentwicklung der Förderprogramme und
eine Erhöhung des Bekanntheitsgrades verschiedener
Finanzierungsmöglichkeiten, wie von der FDP gefordert,
ist zwar nicht falsch, aber nicht das Gebot der Stunde.
Jetzt muss es darum gehen, den Unternehmen unbürokratischen und schnellen Zugang zu den zusätzlichen Kreditprogrammen der KfW zu verschaffen. Außerdem leiden
viele kleine Unternehmen und Handwerksbetriebe derzeit
besonders unter der schlechteren Zahlungsmoral ihrer
Kunden. Oft müssen sie die für ihre Produkte und Leistungen berechnete Umsatzsteuer an den Fiskus überweisen,
obwohl sie selbst noch kein Geld bekommen haben. Dies
gefährdet zusätzlich die Liquidität. Kleinbetriebe und
Handwerker sollen deshalb nur noch Umsatzsteuer für
bereits bezahlte Rechnungen an den Fiskus abführen
müssen. Die hierfür gültige Umsatzhöchstgrenze von
250 000 Euro soll mindestens verdoppelt werden.
Der FDP-Antrag ist in großen Teilen überholt, er ist
unkonkret und bietet nicht die richtigen Antworten auf die
gegenwärtige Krise. Wir lehnen ihn deshalb ab.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5952, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3841 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Zeil, Rainer Brüderle, Paul K.
Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
De-minimis-Beihilfen mittelstandsfreundlicher
ausgestalten
- Drucksachen 16/3149, 16/7730 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Wicklein
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Michael
Fuchs für die Unionsfraktion, Andrea Wicklein für die
SPD-Fraktion, Paul K. Friedhoff für die FDP-Fraktion,
Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Die Dimension der derzeitigen Finanzkrise stellt uns
alle vor bislang unbekannte Herausforderungen. Da die
Krise global um sich greift, sind auch zahlreiche deutsche
Kreditinstitute mit in den Finanzstrudel geraten.
Deutschland hat zwar als Exportweltmeister vom zurückliegenden Boom überdurchschnittlich profitiert, die
Wucht, mit der uns die globale Talfahrt trifft, zeigt uns
allerdings, dass infolge der Krise ein Lebensnerv unserer
Volkswirtschaft getroffen ist.
Der Mittelstand ist Wirtschafts- und Jobmotor und
somit Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Von ihm wird der
Großteil unseres Wohlstands erarbeitet.
Doch der Motor beginnt angesichts der sich zuspitzenden konjunkturellen Schieflage zu stottern, die Wirtschaft
bricht mehr und mehr ein. Einzelnen Unternehmen fällt
es schwer, neue Kredite zu erhalten.
Solche Finanzierungsengpässe beeinträchtigen jedoch Investitionen und hemmen somit Innovation und
Wachstum der Unternehmen.
Vor dem Hintergrund des schwersten Konjunktureinbruchs seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
sehen sich einzelne Unternehmen zunehmend mit verDr. Michael Fuchs
schärften Anforderungen an die Finanzierung ihrer im
Kern gesunden Geschäfte konfrontiert.
Diese ernstzunehmende Entwicklung stellt eine Existenzbedrohung für die betroffenen, meist mittelständischen Unternehmen, aber auch für unsere Wirtschaft insgesamt dar und könnte den gegenwärtigen Abwärtstrend
noch weiter verstärken.
Sowohl Politik als auch Wirtschaft stehen in diesen
Wochen und Monaten vor Herausforderungen, bei denen
niemand von uns auf vergleichbare Erfahrungswerte zurückgreifen kann. Damit die von uns in den zurückliegenden Monaten angeregten Maßnahmen aber überhaupt
wirken können, brauchen insbesondere die mittelständischen Unternehmen eine sichere und vor allem zügige
Kreditversorgung. Dies ist allerdings nach wie vor noch
nicht in ausreichendem Maße sichergestellt.
So musste bislang ein Unternehmen unendlich viel Zeit
für die Beantragung einer sogenannten De-minimis-Beihilfe aufbringen. Denn alles, was über der 200 000-EuroFörderung lag, musste in Brüssel erst langwierig geprüft
und genehmigt werden.
In einem Schreiben an EU-Wettbewerbskommissarin
Neelie Kroes hat der damalige Bundeswirtschaftsminister Glos bereits im November 2008 auf die sich zuspitzenden Finanzierungsengpässe von an sich gesunden Unternehmen hingewiesen und unter anderem eine zeitlich
befristete Verdopplung der De-minimis-Beihilfen auf
400 000 Euro gefordert.
Meine sehr verehrten Kollegen von der FDP, Ihr Antrag ist also nichts Neues. Im Gegenteil: Die Bundesregierung hat sich frühzeitig für eine Anhebung der Deminimis-Grenze ausgesprochen. Kollege Michael Glos
hat im Gegensatz zu Ihrem an sich betagten Antrag eine
deutlich höhere Anhebung der De-minimis-Grenze initiieren können.
So hat die EU-Kommission bereits Mitte Dezember im
sogenannten „Vorübergehenden Gemeinschaftsrahmen“
eine neue Kleinbeihilfe von 500 000 Euro zugelassen, die
von der Bundesregierung bereits am 29. Dezember 2008
durch die „Bundesregelung Kleinbeihilfen“ umgesetzt
worden ist.
Mit dieser bis Ende 2010 zeitlich befristeten Anhebung
der Fördersumme auf maximal 500 000 Euro ist es uns
gelungen, die Beihilferegelungen insbesondere für mittelständische Unternehmen zu lockern und darüber hinaus
erheblich auszuweiten, um mögliche Finanzierungsengpässe nicht entstehen zu lassen.
Wird die Bagatellgrenze von 500 000 Euro im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2008 und dem 31. Dezember 2010 nicht überschritten, muss die Beihilfe weder bei
der Europäischen Kommission angemeldet noch von ihr
genehmigt werden. Dies erleichtert und erlaubt es den
Unternehmen, neben ihren Investitionen auch die laufenden Ausgaben wie beispielsweise Aus- und Weiterbildungskosten in erhöhtem Umfang fördern zu lassen.
Darüber hinaus hat die EU-Kommission im Februar
dieses Jahres die von der unionsgeführten Bundesregierung konzipierte „Bundesrahmenregelung niedrigverzinslicher Darlehen“ zur vorübergehenden Gewährung
niedrigverzinslicher Kredite an Unternehmen genehmigt.
Dadurch ist es Bund, Ländern und Kommunen sowie
öffentlichen Förderbanken wie der KfW möglich, Unternehmen, die infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise in
Schieflage geraten sind, vergünstigte Zinssätze für Darlehen zu gewähren.
Das sich aus dieser Zinsverbilligung ergebende Gesamtvolumen des Programms beläuft sich auf 6 Milliarden Euro! Ebenso wie die „Bundesregelung Kleinbeihilfen“ ist diese Regelung bis zum 31. Dezember 2010
befristet. Zusammen mit dem von der Bundesregierung
initiierten „KfW-Sonderprogramm 2009“ zur Deckung
des Unternehmensfinanzierungsbedarfs in Höhe von
15 Milliarden Euro und der Aufstockung des ZIM um insgesamt 900 Millionen Euro im Zuge des Konjunkturpakets II liegen die beiden Bundesrahmenregelungen im
Interesse der mittelständischen Wirtschaft.
Durch die Gewährung niedrigverzinslicher Darlehen
und die Anhebung des De-minimis-Höchstbetrags eröffnen wir den betroffenen Unternehmen gerade jetzt in
Zeiten des konjunkturellen Einbruchs neue Spiel- und
Handlungsräume. Dadurch stärken wir ihre Innovationsaktivitäten und initiieren Wirtschaftswachstum. Die bestehenden beihilferechtlichen Instrumentarien sind von
uns flexibel ausgestaltet worden. Durch die befristete
Handhabung wird es uns möglich sein, die Folgen der
Krise für den Mittelstand abzufedern ohne dabei den
Wettbewerb zu verzerren.
Worum geht es bei der „De-minimis“-Regelung? Mit
ihr wird für alle EU-Mitgliedsländer einheitlich der
Schwellenwert festgelegt, bis zu dem staatliche Beihilfen
nicht dem EU-Beihilferecht unterliegen. Dies betrifft sowohl die Direkthilfen als auch die Höhe von Bürgschaften. Die „De-minimis“-Regelung zieht also eine „Untergrenze“ im Beihilferecht ein. Wie auch die FDP in ihrem
Antrag richtig sagt, hat die EU-Kommission diese Höhe
des Schwellenwertes bereits mehrfach angehoben.
Wichtig zu wissen ist allerdings: Diese Schwellenwerte
sind nicht willkürlich. Natürlich erleichtert jede Heraufsetzung den Unternehmen, direkte staatliche Fördermittel oder Bürgschaften in Anspruch zu nehmen. Hohe
Schwellenwerte erleichtern auch jedem EU-Mitgliedstaat, bestimmte Branchen oder Unternehmen direkt zu
fördern. Doch bei allem sollten die Ziele der europäischen Beihilfekontrolle nicht außer Acht gelassen werden. Denn ordnungspolitisch dient die Beihilfenkontrolle:
dem Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen, der Vermeidung von volkswirtschaftlichen Fehlentwicklungen, insbesondere eines „Subventionswettlaufs“, sowie der
Selbstkontrolle der EU im Verhältnis zu auswärtigen
Handelspartnern ({0}).
Die Schwellenwerte werden deshalb ganz bewusst in
Anbetracht dieser Eckpunkte festgelegt. Änderungen sollten zumindest ordnungspolitisch begründbar sein. Das
hat die FDP mit ihrem Antrag nicht getan. Dem Antrag
der FDP-Fraktion vom 25. Oktober 2006 kann darüber
Zu Protokoll gegebene Reden
hinaus nicht zugestimmt werden, weil er inhaltlich längst
überholt ist. Ich möchte Ihnen das kurz begründen:
Die „De-minimis“-Grenzen lagen zum Zeitpunkt des
FDP-Antrages noch bei 100 000 Euro. Dann beschloss
die EU-Kommission am 12. Dezember 2006 die neue
„De-minimis“-Verordnung, die am 1. Januar 2007 in
Kraft trat und bis zum 31. Dezember 2013 gelten sollte.
Darin wurden die behilferechtlichen Bagatellgrenzen auf
200 000 Euro angehoben.
Es stimmt auch - und insofern war Ihr Antrag in einem
wesentlichen Punkt durchaus zutreffend -, dass es in der
EU-Kommission vor der neuen Verordnung Bestrebungen
gab, das Beihilferecht zu verschärfen und staatliche Fördermaßnahmen verstärkt unter einen beihilferechtlichen
Genehmigungsvorbehalt zu stellen. Das aber konnte damals auch Dank unserer Intervention abgewendet werden. In den Beratungen zur neuen „De-minimis“-Verordnung konnte die Bundesregierung außerdem durchsetzen,
dass den Mitgliedstaaten eine Öffnungsklausel gewährt
wird, um durch eigene, von der EU-Kommission genehmigte Berechnungsmethoden höhere Bürgschaftsbeihilfewerte zu erreichen.
Inzwischen sind aber bereits im Dezember 2008 mit
Hinblick auf die dramatischen Auswirkungen der Finanzkrise die „De-minimis“-Grenzen auf bis zu 500 000 Euro
angehoben worden. Damit sind die behilferechtlichen Bagatellgrenzen heute mittelstandsfreundlicher als jemals
zuvor, und damit hat sich die EU-Kommission in der
Frage der nationalen Unterstützungsmaßnahmen als
ausgesprochen flexibel und konstruktiv erwiesen. Diese
Anhebung ist gerade jetzt ganz entscheidend für Industrie, Handel und Gewerbe. Mit der neuen Festlegung der
Grenzen können durch staatliche Fördermaßnahmen für
einen begrenzten Zeitraum gezielt Innovationen und Investitionen unterstützt und entbürokratisiert werden. Das
dient den kleinen und mittleren Unternehmen, die unser
Rückgrad für Wachstum und Beschäftigung sind.
Die Anhebung schafft vor allem den Bundesländern
den nötigen Freiraum, den Klein- und Mittelstand schnell
und gezielt zu helfen. Nun ist es wichtig, dass die Länder
von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen und die
staatliche Unterstützung so eingesetzt wird, dass Arbeitsplätze gesichert oder geschaffen werden. Da die ostdeutschen Bundesländer flächendeckend Höchstfördergebiet
sind, können sie nun aufgrund der neuen „De-minimis“Grenzen die ihnen zur Verfügung stehenden Investitionsfördermittel noch flexibler einsetzen. Das freut mich als
ostdeutsche Bundestagsabgeordnete.
Ich möchte noch mal betonen: Die „De-minimis“Schwellenwerte sind keine Willkür. Sie müssen - und das
hat die EU-Kommission getan - je nach aktueller Situation flexibel gehandhabt und möglichst unbürokratisch
ausgestaltet sein. Das ist mit der Anhebung auf
500 000 Euro klar der Fall. Auch die Zustimmung der
EU-Kommission, dass zunächst bis Ende 2010 alle EUMitgliedstaaten ohne individuelle Prüfung durch die EUWettbewerbsaufsicht Mittel im Rahmen eines nationalen
Rettungsplans vergeben können, trägt dem Rechnung.
Übrigens ist es selbstverständlich eine dauerhafte Aufgabe der Bundesregierung, bei der Ausgestaltung der
Beihilferegelung der Europäischen Union eine mittelstandsfreundliche Position zu vertreten. Ich kann nicht
erkennen, dass sie dieser Aufgabe nicht gerecht wird.
Deshalb ist der Antrag der FDP im Wirtschaftsausschuss
von allen Fraktionen abgelehnt worden und sollte auch
heute abgelehnt werden.
Der Wirtschaftsausschuss hat Ende 2007 dem Deutschen Bundestag empfohlen, unseren Antrag für eine mittelstandsfreundlichere Gestaltung der Regelung von
„De-minimis“-Beihilfen abzulehnen. Diese Ablehnungsempfehlung sah meine Fraktion schon damals als falsch
an.
Wir haben diesen Antrag im Herbst 2006 gestellt, in einer Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs. Seitdem haben
sich - insbesondere im letzten Dreivierteljahr - die wirtschaftlichen Gesamtumstände massiv verschlechtert. Je
mehr die Wirtschaftskrise auch den Mittelstand bedroht
und je problematischer die Finanzierung von Investitionen wird, desto wichtiger wird eine entschiedene Verbesserung der Bedingungen, unter denen mittelständische
Unternehmen wirtschaften können.
Eine wesentliche Rahmenbedingung sind die Regeln
für die Finanzierung von Investitionen. Bei den Investitionen entscheidet sich oft, ob die Wettbewerbsfähigkeit
und Zukunftsfähigkeit der Unternehmen gesichert werden
kann. In unserem Antrag fordern wir, dass der Rahmen
erweitert wird, in dem staatliche Bürgschaften an Unternehmen ausgereicht werden dürfen, ohne als sogenannte
intransparente Beihilfe zu gelten. Nach der derzeitigen
europäischen Verordnung können Bürgschaften nur bis
1,7 Millionen Euro ohne Genehmigung der EU-Kommission vergeben werden. Diese Grenze ist oftmals zu niedrig. Angesichts der massiven Finanzierungsprobleme auf
breiter Front und der zögerlichen Kreditvergabe durch
private Banken ist eine Aufstockung nötig.
Gerade in Krisenzeiten ist die Vermeidung umfangreicher Genehmigungsbürokratie für schnelle konjunkturelle Erholung enorm wichtig. Verzögerungen durch
langwierige Verfahren torpedieren eine effektive Hilfe für
den Mittelstand. Sie sehen, dass unser Antrag gerade in
der jetzigen Situation aktuell wie kaum zuvor ist. Die
Bundesregierung bleibt aufgefordert, bei der EU-Kommission dafür einzutreten, dass die Grenzen für öffentliche Bürgschaften zur Mittelstandsförderung heraufgesetzt werden.
Wir mussten ja bereits mit ansehen, wie die Bundesregierung nach dem Prinzip vorgeht: „Bei den Großen
kommt der Bundesadler, bei den Kleinen kommt der Pleitegeier“. Jetzt muss für die „De-minimis“-Beihilfen auf
europäischer Ebene gehandelt werden, damit nicht notwendige und gewollte Investitionen an hohen bürokratischen Hürden scheitern. Hier kann sich die Bundesregierung ganz konkret für die Belange der „Kleinen“
einsetzen, anstatt in Sonntagsreden die mittelständische
Wirtschaft hochleben zu lassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Jedes Jahr werden Unternehmen mit großen Geldsummen subventioniert. 25 Milliarden Euro Fördermittel für
mittelständische Unternehmen in Deutschland wurden
allein im Jahr 2007 bereitgestellt, von der Europäischen
Union, der Bundesregierung und den Bundesländern.
Bei dem Thema De-minimis-Beihilfe, über das wir
heute beraten, geht es darum, ab welcher Höhe die EUKommission solche Subventionen an Unternehmen genehmigen muss. Der Begriff de minimis ist aus dem ehemaligen Römischen Recht abgeleitet und bedeutet so viel
wie: „Um Geringfügigkeiten kümmert sich das Gesetz
nicht“. Nach der derzeitigen Regelung müssen Subventionen an Unternehmen bis zu einer Grenze von
200 000 Euro nicht bei der EU-Kommission angemeldet
und von ihr genehmigt werden. Der Grund: Die EU-Kommission geht davon aus, dass Gelder in dieser Höhe nicht
den Wettbewerb verfälschen und nicht den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen.
Die Linke ist der Meinung: Eine solche Grenze macht
Sinn, damit kleine und mittlere Unternehmen unbürokratisch an die Fördergelder kommen. Wir kritisieren aber
die Absicht der FDP, die Grenze einfach weiter anzuheben. Und wir kritisieren ihre Absicht, die sogenannte
Transparenzregelung abzuschaffen. Diese Regelung besagt, dass die Genehmigungsfreiheit nur für die Subventionen gilt, deren Höhe im Voraus genau berechnet werden kann, ohne dass eine Risikobewertung nötig ist. Bei
den Subventionen handelt es sich um Steuergelder. Deren
Vergabe muss ordentlich geprüft und kontrolliert werden!
Hier beginnen auch die grundsätzlichen Probleme der
derzeitigen Förderpolitik. Diese geht die FDP mit ihrem
Antrag ebenso wenig an wie die Große Koalition. Die
Linke ist für eine Wirtschaftspolitik, die vorsieht, Unternehmen in strukturschwachen Regionen oder auch Zukunftsbranchen mit öffentlichen Geldern zu fördern, also
zu subventionieren. Wenn damit eine Angleichung der
Lebensbedingungen verbunden ist, wichtige Umwelttechnologien gefördert werden, ist das im Interesse des Gemeinwohls und zu unterstützen. Die Linke ist jedoch gegen eine Förderpolitik, die darauf hinausläuft, dass der
Staat mit Steuergeldern Billigjobs fördert wie etwa im Bereich der Callcenter. Ausbeutungsjobs dürfen nicht mit
öffentlichen Mitteln subventioniert werden. Deshalb
muss die Vergabe von Fördermitteln auch an soziale Kriterien geknüpft werden. Weigert sich das Unternehmen,
Tariflöhne zu zahlen? Behindert der Arbeitgeber die Arbeit der Gewerkschaft und Betriebsräte? Eine solche Betriebspolitik sollte der Staat nicht auch noch durch öffentliche Fördermittel unterstützen. Die Linke schlägt
deshalb vor, auch in der Förderpolitik Kriterien für „gute
Arbeit“ zu entwickeln und diese zu Bedingungen für die
Vergabe der Fördermittel zu machen. Diese Frage erhält
in den kommenden Monaten eine enorme Bedeutung,
denn der Staat hat wegen der Krise der Wirtschaft riesige
Finanzhilfen in Aussicht gestellt - das sollte nicht ohne
Bedingungen passieren.
Abschließend möchte ich noch ein ganz anderes
grundsätzliches Problem ansprechen: Staatliche Fördermittel fließen oft an kleineren Unternehmen vorbei. Ich
zitiere die für die Linke unverdächtige „Wirtschaftswoche“:
Eine aktuelle Umfrage der Deutschen Bank zeigt,
dass nur rund ein Drittel der mittelständischen Unternehmen öffentliche Fördermittel nutzt, obwohl
61 Prozent dieser Unternehmen grundsätzlich Interesse daran hätten, diese in Anspruch zu nehmen.
Doch oft sind die Programme gar nicht bekannt,
heißt es in der Studie. Mancher Unternehmer scheitert auch an seiner Hausbank, bevor die seinen Antrag an die Förderbank weiterreicht. Denn die
Hausbank muss die Unterlagen prüfen und für die
Rückzahlung der öffentlichen Mittel einstehen. Die
Arbeit machen sich manche Banker aber lieber,
wenn es um Darlehen des eigenen Instituts geht.
Bisher hat die Bundesregierung nichts getan, um dieses Problem zu lösen, und bestätigt damit: Sie macht eine
Politik für das Großkapital, der Handwerker vor Ort fällt
dabei runter.
Sie sehen, bei der derzeitigen Förder- und Subventionspolitik liegt einiges im Argen. Die Linke wird hier
nicht locker lassen.
In ihrem Antrag begrüßt die FDP die Anhebung der
Bagatellgrenze für Beihilfen auf 200 000 Euro und fordert, dass die Bagatellgrenzen für Bürgschaften der öffentlichen Hand an Unternehmen seitens der Kommission
hoch gesetzt werden. Ich muss zugeben: Ich bin erstaunt
über den Antrag der FDP. Ich dachte, die FDP würde für
einen konsequenten Subventionsabbau eintreten. Dazu
möchte ich kurz aus einem Antrag der Fraktion der FDP
zitieren. Darin ist zu lesen: „Jede“ - ich wiederhole:
jede! - „Intervention der öffentlichen Hand in den Marktprozess stört das freie Spiel von Angebot und Nachfrage
und somit den Wettbewerb.“ Und weiter heißt es: „Somit
sind sämtliche Subventionen zu befristen und alle Finanzhilfen degressiv zu gestalten.“ Demnach wäre also die
Position der FDP, sämtliche Subventionen zu befristen
und alle Finanzhilfen degressiv zu gestalten. In dem Antrag, der uns heute vorliegt, steht hingegen etwas völlig
anderes. So begrüßt die FDP die pauschale Anhebung
der Bagatellgrenze seitens der EU-Kommission auf
200 000 Euro. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
von der FDP: Sie müssen sich mal entscheiden, was Sie
eigentlich wollen. Wollen Sie Subventionen erleichtern
oder erschweren? Wollen Sie mehr Transparenz oder
mehr Intransparenz? Wollen Sie mehr Kontrolle bei den
Subventionen oder weniger Kontrolle? Das erklären Sie
mal. Das versteht nämlich niemand mehr.
Jetzt fordern Sie in Ihrem Antrag, auch die Bagatellgrenze für Bürgschaften von 1,7 Millionen Euro weiter zu
erhöhen und die Unterscheidung transparente versus intransparente Beihilfen in der Richtlinie abzuschaffen.
Selbstverständlich ist es richtig, immer wieder zu überprüfen, ob wir den Unternehmen und gerade den kleinen
- und mittelständischen Unternehmen übermäßigen bürokratischen Aufwand zumuten. Deswegen unterstützen wir
die Abschaffung der Unterscheidung von transparenten
Zu Protokoll gegebene Reden
versus intransparenten Beihilfen in der Richtlinie.
Gleichzeitig brauchen wir aber auch mehr Transparenz
bei den Beihilfen und den Bürgschaften seitens der öffentlichen Hand. Jeder Bürger und jede Bürgerin und auch
jeder Wettbewerber muss nachvollziehen können, wer eigentlich von den Beihilfen und Bürgschaften profitiert.
Deswegen fordern wir Grünen die Veröffentlichung aller
Subventionsempfänger.
Die pauschale Anhebung der Bagatellgrenzen für
Bürgschaften über 1,7 Millionen Euro, wie die FDP fordert, lehnen wir ab. Das ist der völlig falsche Weg. Die
Frage bei den Beihilfen und Bürgschaften ist doch, welche Effekte und Folgen diese haben. Führen sie zu einer
Wettbewerbsverzerrung auf Kosten der öffentlichen
Hand; werden also mit den Beihilfen Kosten zuungunsten
der öffentlichen Kassen externalisiert? Dann sind solche
Beihilfen und Bürgschaften grundsätzlich - und dabei
spielt dann die Höhe keine Rolle - abzulehnen. Oder fördern sie den Strukturwandel hin zu einem ökologischen,
energie- und ressourceneffizienten Wirtschaften? In diesem Falle sind Beihilfen und gerade Bürgschaften sehr zu
begrüßen. Dann sind es nämlich Anschubfinanzierungen
für ökologische Technologien und ressourceneffizientes
Wirtschaften. Und diese brauchen wir dringend, um dem
Klimawandel entschieden entgegenzutreten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7730, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3149 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Christel HappachKasan, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Biologische Kohlenstoffsenken für den Klimaschutz nutzen
- Drucksachen 16/2088, 16/7147 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({1})
Michael Kauch
Dr. Reinhard Loske
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Andreas Jung für die Unionsfraktion, Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion, Dr. Christel Happach-Kasan für die
FDP-Fraktion, Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die
Linke und Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Ende dieses Jahres findet die UN-Klimakonferenz in
Kopenhagen statt. Dort soll ein Nachfolgeprotokoll für
das Kioto-Abkommen verabschiedet werden, das 2012
ausläuft. In Kopenhagen besteht die Chance, der globalen Herausforderung des Klimawandels durch international abgestimmtes Handeln entgegenzutreten; denn
nationale Alleingänge sind nicht zielführend. Ähnlich wie
in der Finanzkrise ist ein gemeinsames energisches Vorgehen Grundvoraussetzung für den Erfolg.
Im Rahmen des Kioto-Protokolls gibt es die sogenannten flexiblen Instrumente. Es handelt sich dabei um Joint
Implimentation, JI, und Clean-Development-Mechanism,
CDM. CDM ermöglicht es Industrie- und Entwicklungsländern, gemeinsam Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern durchzuführen. JI wiederum bietet Industrieländern eine Möglichkeit zur Minderung der Treibhausgase
im gastgebenden Industrieland entsprechend ihrer Verpflichtung im Kioto-Protokoll.
Darüber hinaus eröffnet das Protokoll die Möglichkeit, die Reduzierung von Kohlenstoff auf Emissionsreduktionsverpflichtungen anzurechnen, wenn die Kohlenstoffeinbindung in sogenannten Senken, zum Beispiel in
Wäldern, erfolgt.
Ich fasse die Forderungen der FDP kurz zusammen:
Erstens. Die Bundesregierung solle diese Option des
Kioto-Protokolls für Wälder in Deutschland wahrnehmen
und darauf hinarbeiten, dass innerhalb des europäischen
Emissionshandels mit Zertifikaten die Nutzung von
Waldsenkenprojekten berücksichtigt wird.
Zweitens. Darüber hinaus solle bei internationalen
Verhandlungen darauf hingewirkt werden, dass auch die
Kohlenstoffspeicherung im Holz aus nachhaltig genutzten Wäldern berücksichtigt wird.
Drittens. In Pilotregionen sollten Monitoringsysteme
für Kohlenstoffsenkenprojekte entwickelt und die Technologieentwicklung zur energetischen Nutzung von Biomasse aus Wäldern gefördert werden.
Grundsätzlich teilen wir die Auffassung, dass die Verknüpfung der Herausforderungen des Klimaschutzes mit
der Notwendigkeit des Waldschutzes wichtig ist. Deshalb
ist es auch richtig, die Thematik in die internationalen
Klimaverhandlungen einzubringen und ihr dort noch
mehr Bedeutung beizumessen. Besonderes Augenmerk
muss dabei aber auf die Auswahl geeigneter und zielführender Instrumente gelegt werden. Mitnahmeeffekte müssen unbedingt vermieden werden. Auch im Bereich der
Senken gilt: Wir wollen mehr Klimaschutz, aber nicht
mehr Anrechnungsmöglichkeiten auf Reduktionsverpflichtungen ohne zusätzliche Maßnahmen.
Aus diesem Grund sollte bei der Option der Senken der
Schwerpunkt der Bemühungen eher bei der Frage liegen,
inwieweit Urwälder geschützt, Brandrodungen vermieden und wie insbesondere in Entwicklungsländern wieder
Andreas Jung ({0})
aufgeforstet werden kann. Deshalb müssen jetzt Konzepte
entwickelt werden, wie Senkengutschriften in den internationalen Emissionshandel integriert werden können.
Ziel muss sein, die Erlöse in einen Fonds zu überführen,
der der Förderung des Waldschutzes dient.
Auf diesem Weg müssen wir weiter vorankommen; den
FDP-Antrag lehnen wir heute ab.
Die Zeit drängt. In etwa 31 Monaten läuft das KiotoProtokoll aus. Es gilt seit 2008 und endet 2012. Deshalb
verhandelt die internationale Klimadiplomatie gerade
ein Kioto-Nachfolgeabkommen für die Zeit nach 2012,
das im Dezember auf der Klimakonferenz in Kopenhagen
verabschiedet werden soll. In diesen Verhandlungen muss
bis zum 1. Juli ein Vertragstext bei den Vereinten Nationen hinterlegt werden, der dann auf dem KopenhagenGipfel beschlossen werden muss. Und bis zum Gipfel in
Kopenhagen sind es gerade noch 213 Tage!
Um die Auswirkungen des Klimawandels für Menschen und Natur auf ein noch kontrollierbares Maß begrenzen zu können und existenzielle Bedrohungen vor allem für kleine Inselstaaten abzuwehren, muss der Anstieg
der globalen Durchschnittstemperatur auf maximal ZweiGrad-Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau um
1800 eingedämmt werden. Der Weltklimabericht des
IPCC von 2007 setzt dafür eine Verringerung des Treibhausgas-Ausstoßes in den Industrieländern bis 2020 um
mindestens 25 bis 40 Prozent gegenüber 1990 voraus.
Parallel dazu muss es gelingen, die weitere Emissionsentwicklung gerade in den wachstumsstarken Schwellenländern um 15 bis 30 Prozent gegenüber dem jetzt stark steigenden Trend zu mindern. Der weitere Anstieg der
weltweiten Emissionen muss innerhalb der nächsten zehn
Jahre gestoppt werden, weil sonst deutlich höhere Reduktionsziele in noch kürzerer Zeit erreicht werden müssen.
Langfristig zeigen die IPCC-Szenarien, dass bis 2050
eine Minderung der globalen Treibhausgas-Emissionen
insgesamt um mindestens 50 Prozent notwendig ist - verglichen mit dem Stand von 1990, nicht dem höheren von
heute! Für die Industrieländer, und damit auch für
Deutschland, ergibt sich daraus eine Minderungsverpflichtung von 80 bis 95 Prozent weniger CO2 bis zum
Jahre 2050. Andernfalls ist mit irreversiblen Veränderungen und Schädigungen natürlicher Systeme zu rechnen,
die dramatische Folgen für Mensch und Natur haben. Die
Kioto-Verpflichtungen reichen zur Erreichung dieses
Zwei-Grad-Ziels bei Weitem nicht aus. Tatsächlich liegt
die derzeitige Emissionsentwicklung seit 2005 über dem
schlimmsten Szenario des Weltklimarates. Gleichzeitig
hat die Fähigkeit von natürlichen Ökosystemen wie Wäldern, Mooren und Meeren, Kohlenstoff der Atmosphäre
zu entziehen und dauerhaft zu binden, in den letzten
50 Jahren global um etwa fünf Prozent abgenommen.
Diese Entwicklung wird sich künftig durch den Klimawandel, Naturzerstörung und nicht-nachhaltige Landnutzungen noch weiter verschärfen.
Waldschutz ist eine der Hauptsäulen des globalen Klimaschutzes. Entwaldung und Walddegradierung verursachen etwa 22 Prozent der jährlichen globalen Treibhausgasemissionen - mehr als die gesamten Emissionen
des globalen Verkehrssektors. Daher muss die internationale Staatengemeinschaft im Rahmen des neuen
Klimaschutzabkommens einen neuen, globalen Mechanismus zu Verringerung globaler Emissionen aus Entwaldung als eine der zentralen Säulen verankern. Dabei
müssen wir uns immer vor Augen halten, dass 80 Prozent
der Urwälder auf dieser Erde schon vernichtet wurden.
Nur 20 Prozent der ehemaligen Urwälder existieren
heute noch in großen zusammenhängenden Gebieten. Die
verbleibenden Wälder dieser Welt sind Lebensgrundlage
für Mensch, Tier und Pflanzen. Der ungebremste Klimawandel kann schon zwischen 2040 und 2060 zum Kollaps
des Amazonas-Regenwaldes führen. Zugleich ist die Abholzung einer der starken Treiber des Klimawandels.
Eine umfangreiche, globale Strategie zu dessen Begrenzung ist eine Chance, über bisherige Waldschutzstrategien hinauszugehen und Wälder, ihre Biodiversität sowie
das globale Klima in Kooperation mit den in und mit ihnen lebenden Menschen für die Zukunft zu erhalten.
Entscheidend ist nun zu klären, mit welchen Instrumenten wir das Ziel von Klimaschutz und Waldschutz erreichen. Die FDP hat in ihrem Antrag vorgeschlagen, die
Wälder in das System des Emissionshandels aufzunehmen. Was würde passieren, wenn wir das machen würden? Es würde zur Überschwemmung des Marktes mit
billigen CO2-Zertifikaten und zum Ausfall des Preisanreizes führen, Maßnahmen in den Industrie- und in den
Schwellenländern zu ergreifen. Dabei ist der Kohlenstoffpreis der wichtigste Treiber dafür, die notwendigen Anreize zu setzen, dass Investitionen im Sinne des Klimaschutzes erfolgen. Genau dieser Treiber würde außer
Kraft gesetzt. Die notwendigen Klimaziele, vor allem die
langfristigen, würden nicht erreicht werden. Deshalb lehnen wir die Einbeziehung der Wälder in den Emissionshandel als falsches Instrument ab.
Da die Emissionen aus Entwaldung 20 Prozent der
vom Menschen produzierten Treibhausgase betragen,
muss der Schutz von Wäldern in die internationalen Klimaverhandlungen einbezogen werden. Wir setzen uns
deshalb dafür ein, dass die Staatengemeinschaft bis spätestens Ende 2009 wirksame Maßnahmen gegen das Abholzen tropischer Urwälder entwickelt ({0}). Das
Abkommen muss Anreizsysteme und Finanzierungsmechanismen für die Vermeidung von Entwaldung enthalten. Zudem belegte der Stern-Report ({1}), dass die
Drosselung der weltweiten Entwaldung ein äußerst kostengünstiger Weg sein kann, zum Klimaschutz beizutragen. Ein zukünftiger Mechanismus muss so konzipiert
sein, dass die Einsparungen von Emissionen aus dem
Waldbereich zusätzlich zu denen im Energiesektor stattfinden. Industrieländer dürfen sich nicht durch den Handel mit waldbezogenen Zertifikaten von ihren Verpflichtungen zur Einsparung von Emissionen im Energiesektor
freikaufen können. Ein Teil des Erlöses des Emissionshandels muss dafür verwendet werden, über einen Waldfonds den internationalen Waldschutz zu finanzieren. In
unserem Entwurf für das Regierungsprogramm haben
wir als SPD klargemacht, dass wir alle Einnahmen aus
der Versteigerung der Emissionszertifikate für Klimaund Umweltschutzmaßnahmen nutzen wollen. Waldschutz aus Erlösen des Emissionshandels ist der richtige
Zu Protokoll gegebene Reden
Ansatz. Die Einbeziehung der Wälder in den Emissionshandel hingegen führt in eine Sackgasse.
Der Waldfonds muss unter der Klimarahmenkonvention angesiedelt werden. Außerdem müssen Förderansätze zur vermiedenen Entwaldung strikt von denen für
Aufforstung getrennt werden. Auch muss ein Post-2012Abkommen ein „Co-Benefit“ für die Biodiversität enthalten. Dies ist auch ein wichtiger Aspekt der Initiative der
Bundeskanzlerin und des Bundesumweltministers auf der
Biodiversitätskonferenz CBD letztes Jahr in Bonn gewesen. Der zukünftige Mechanismus muss die Rechte der lokalen Bevölkerung stärken und ihr Verdienstmöglichkeiten eröffnen. Er muss „performance based“ sein. Das
heißt, dass die Zahlungen an die Erfüllung der nationalen
Verpflichtungen und den Rückgang der Entwaldung gekoppelt sind. Dabei ist die besondere Situation in den
verschiedenen Entwicklungsländern zu berücksichtigen.
Die deutsche Regierung wird - wie von Bundeskanzlerin
Merkel angekündigt - in den Jahren 2009 bis 2012 einen
zusätzlichen Betrag von 500 Millionen Euro, und ab 2013
eine halbe Milliarde jährlich, für den internationalen
Waldschutz bereitstellen. Diese Gelder sollen im Rahmen
eines Programms die REDD-Diskussion begleiten und
unterstützen.
So weit die Leitplanken, wie ein solcher Mechanismus
aussehen muss. Wichtig ist nun, dass wir schnell zu einem
Verhandlungstext kommen. Denn die nächste Vorbereitungskonferenz für Kopenhagen ist schon in dreieinhalb
Wochen. Nutzen wir die Zeit, um für ein ambitioniertes
Kioto-Anschlussabkommen zu werben und zu begeistern!
Denn Klimaschutz ist keine Belastung, sondern eine Lösung aus der gegenwärtigen Krise!
In der Klimaschutzkonferenz in Kioto im Jahr 1997
wurden erstmals international rechtlich verbindliche
Ziele zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen festgesetzt. Nachdem das Kioto-Protokoll 2005 in Kraft getreten ist, besteht die Möglichkeit, die Kohlenstoffeinbindung in Senken, zum Beispiel in Wäldern oder auch in
Moorgebieten, innerhalb bestimmter Grenzen auf die jeweiligen nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen
anzurechnen.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt, dass die Bundesregierung im Gegensatz zur rot-grünen Vorgängerregierung entsprechend den Forderungen in unserem bereits im Sommer 2006 gestellten Antrag entschieden hat,
dass deutsche Wälder als Kohlenstoffsenken angerechnet
werden können. Seither ist allerdings nicht viel geschehen. Der im März dieses Jahres - also zwei volle Jahre
nach dem Beschluss der Bundesregierung - vom Deutschen Holzwirtschaftsrat durchgeführte parlamentarische Abend „Mit Wald und Holz aus der Klimakrise“ verdeutlichte, dass noch erheblicher Handlungsbedarf
besteht. Die Bundesregierung ist nach wie vor weit davon
entfernt, konkret zu sagen, in welcher Weise sie die Berücksichtigung der Wälder als Kohlenstoffsenken organisieren will.
Die große Bedeutung der Kohlenstoffsenken für den
Treibhausgashaushalt der Erde ist wissenschaftlich unbestritten. Zahlreiche technische Fragen wie die Definitionen, Einzelheiten des Anrechnungsverfahrens sowie
die Anforderungen an eine Kontrolle, Monitoring, sind
weitgehend geklärt. Probleme bestehen bislang noch bei
der genaueren Quantifizierung. Besonders auf welche
Weise die CO2-senkende Wirkung der deutschen Wälder
gemessen werden soll, ist bislang nicht hinreichend festgelegt. Das genaue Verfahren, wie die Waldbesitzer in unserem Land für diese Leistung honoriert werden sollen,
ist offen. Ferner steht die Ausarbeitung bestimmter Verfahrensfragen für Senkenprojekte in Entwicklungsländern aus. Hier ist die Bundesregierung gefordert.
Grundsätzlich gilt es, Klimaschutz und Emissionshandel auf größtmögliche Wirkung und Kostenminimierung
durch die Verknüpfung und integrale Anwendung aller Instrumente des Kioto-Protokolls einschließlich der Kohlenstoffsenken zu verpflichten. Damit werden die Vorteile
der Kioto-Instrumente nicht zuletzt auch der deutschen
Land- und Forstwirtschaft zugänglich. Neben nationalen
Anstrengungen zur Verminderung der CO2-Emissionen
ist es unerlässlich, alle flexiblen Mechanismen zur Erreichung des Klimaschutzziels zu nutzen. Dazu zählt auch
die Möglichkeit der CO2-Bindung in Kohlenstoffsenken.
Für die verstärkte Bindung von CO2 sind gerade auch
biologische Methoden geeignet. Wälder binden Kohlenstoff. Der Aufbau stabiler Wälder ist somit geeignet, den
anthropogen beeinflussten Klimawandel zu verlangsamen. Dabei werden zusätzlich die Biodiversität gestärkt,
die Böden geschützt und die Trinkwasserversorgung verbessert. Das Instrument der Kohlenstoffsenke ist kostengünstig und effizient. Es leistet wichtige Beiträge für die
Energie- und Rohstoffversorgung, für die Technologieentwicklung und sorgt für Beschäftigung in strukturschwachen ländlichen Regionen - im Inland wie im Ausland.
In Mitteleuropa, wo die potenzielle natürliche Vegetation Wälder hervorbringt, haben diese bei der Bekämpfung des Klimawandels eine Schlüsselrolle inne. Das
Holz der Waldbäume und die humusreichen Waldböden
speichern Kohlenstoff. Wird der Speicher Wald zerstört,
werden die im Holz und den Böden gespeicherten Treibhausgase in die Atmosphäre abgegeben. Laut IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change, stammen bis
zu 30 Prozent der zusätzlichen Belastung der Atmosphäre
mit CO2 in den letzten 100 Jahren aus der Zerstörung von
Wäldern, zum Beispiel durch illegalen Holzeinschlag sowie durch Brandrodung. Durch Urwaldschutz, Aufforstung und nachhaltige Bewirtschaftung von bestehenden
Wäldern kann umgekehrt der Atmosphäre CO2 wieder
entzogen und langfristig gebunden werden. Somit bietet
der Wald eine kostengünstige Möglichkeit, den Klimawandel zu verlangsamen und Ökosystemen mehr Zeit für
eine Anpassung an das sich ändernde Klima zu geben.
Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich dafür ein, dass
die Bundesregierung die Option des Kioto-Protokolls, die
Nutzung von Waldsenkenprojekten innerhalb des europäischen Emissionshandels, stärker vorantreibt als bislang.
Darüber hinaus soll künftig bei internationalen Verhandlungen darauf hingewirkt werden, dass auch die Kohlenstoffspeicherung im Holz aus nachhaltig genutzten
Zu Protokoll gegebene Reden
Wäldern berücksichtigt wird. Schließlich müssen nach
Einschätzung der FDP künftig in Pilotregionen spezielle
Monitoring-Systeme für Kohlenstoffsenkenprojekte entwickelt werden. Die bislang gefassten Regelungen zur
Anrechnung der CO2-Speicherleistung in der deutschen
Forst- und Holzwirtschaft sind nach Einschätzung der
FDP-Bundestagsfraktion zurzeit noch zu kompliziert und
aufwendig und daher zu bürokratisch. Im Kioto-Protokoll
wird bislang nur die Senke im Wald honoriert. Weiterhin
ist die Bindung von Kohlenstoff in fertigen Holzprodukten
in die Senkenfunktion zu integrieren.
Wie Sie wissen, konnte bislang die weltweite Entwaldung nicht gestoppt werden. Jährlich werden weltweit
rund 13 Millionen Hektar Wald abgebrannt oder gerodet.
Diese Zerstörung trägt mit circa 20 Prozent der globalen
Treibhausgasemissionen wesentlich zum Klimawandel
bei. Im Kampf gegen die Erderwärmung gewinnt daher
der Erhalt der Wälder immer mehr an Bedeutung. Auch
zum Schutz der Biodiversität und der lokalen Bevölkerung, die besonders in den Tropen von den Wäldern als
Lebensraum abhängig ist, muss die Entwaldung und
Walddegradierung - also die Verringerung der Baumbestände, die noch nicht den Status einer „Entwaldung“ erreicht hat - gestoppt werden.
Im Antrag der FDP ist der Schutz der Wälder in gewisser Weise Mittel zum Zweck. Natürlich sind auch die
Liberalen für den Waldschutz. Er soll aber in die Emissionshandelsysteme einbezogen werden. Er soll so den
Klimaschutz für die Industriestaaten preiswerter machen.
Und genau hier sehen wir massive Probleme, die ich im
Folgenden darstellen will.
In der internationalen Debatte um den Waldschutz
geht es seit ein paar Jahren um Mechanismen, die ökonomische Anreize dafür schaffen sollen, die Abholzung zu
stoppen oder wenigstens das Tempo von Entwaldung und
Walddegradierung zu bremsen. Das wichtigste Instrument hierbei firmiert unter dem Kürzel „REDD“, reducing emissions from deforestation and degradation Reduzierung der Emissionen aus Entwaldung und Walddegradierung. Das geplante System basiert darauf, dass
dem in den Wäldern gespeicherten Kohlenstoff künftig
ein wirtschaftlicher Wert beigemessen wird. So soll es finanziell lohnenswert werden, den Wald zu schützen, anstatt ihn abzuholzen.
Das Bündel der Modelle, die hierfür in der Diskussion
sind, eint, dass nicht nur eine Vielzahl von politischen,
sondern auch von methodischen Problemen bestehen. So
ist die Berechnung der Menge an Treibhausgasen, die
durch weniger Abholzung „vermieden“ würde, alles andere als banal. Das fängt dabei an, welches Referenzszenario benutzt werden soll. Historische Entwaldungsraten
oder Prognosewerte? Über welchen Zeitraum soll als
Vergleich zurückgeblickt werden? Wie soll die Menge berechnet werden, wenn es eine mangelhafte Datenlage für
den Referenzzeitraum oder die Waldtypen gibt? Und die
gibt es fast überall. Was geschieht, wenn in einem Gebiet
vermiedene Entwaldung honoriert wird, die Motorsägen
in einem anderen dafür umso länger kreischen? Und lässt
sich das Ganze überhaupt kontrollieren? Nicht zuletzt die
Frage: Wird das neue System mit oder gegen die Bewohner und Nutzer der Wälder durchgesetzt, wer profitiert
davon vor Ort?
Hinsichtlich der Finanzierung könnten zwei Hauptlinien unterschieden werden: zum einen Fonds, in die Industriestaaten einzahlen, zum anderen Bestrebungen,
dieses System nach einer Pilotphase in ein Emissionshandelssystem zu überführen, so wie es die FDP will. Letzteres System könnte ähnlich dem CDM-System, Clean
Development Mechanism, des Kioto-Protokolls funktionieren. Dessen Emissionsgutschriften für Klimaschutzinvestitionen der Industriestaaten in Entwicklungsländern können sich Investoren auf eigene Verpflichtungen
anrechnen lassen oder gewinnbringend verkaufen.
Der CDM-Mechanismus ist allerdings wegen seiner
erheblichen Missbrauchspotenziale in Verruf gekommen.
Die vielen offenen systematischen und methodischen Fragen bei REDD könnten ähnlich viel Raum für Manipulationen und klimapolitische Fehlsteuerungen bieten wie
das CDM-Regime. Vor allem aber muss der Tropenwaldschutz zusätzlich zu den Einsparzielen im Kioto- und Kopenhagen-Prozess erfolgen. Auch darum wendet sich die
Linke strikt dagegen, den Waldschutz in Emissionshandelssysteme einzubinden. Ansonsten könnte ein geschützter Wald mehr im Süden gleichzeitig ein neues Kohlekraftwerk mehr in Europa bedeuten. Und dies wäre exakt
das Gegenteil von nachhaltigem Klimaschutz.
Der Waldschutz ist von zentraler Bedeutung für die Erreichung der internationalen Klimaschutzziele und für den
erfolgreichen Abschluss eines neuen weltweiten Klimaabkommens Ende des Jahres in Kopenhagen.
Laut IPCC macht die Entwaldung rund 20 Prozent der
globalen Treibhausgasemissionen aus, und es ist die Entwaldung, die Indonesien inzwischen zum drittgrößten CO2Emittenten der Welt macht. Ohne erhebliche Fortschritte
beim Waldschutz wird die Begrenzung der Erderwärmung
auf unter 2 Grad deshalb kaum zu erreichen sein.
Sir Nicholas Stern hat vorgerechnet, dass Waldschutz
auch eine besonders kostengünstige Form des Klimaschutzes ist. Auch deshalb steht die Reduzierung von Emissionen aus Entwaldung und Walddegradation spätestens
seit der Konferenz von Bali ganz oben auf der Agenda des
internationalen Klimaschutzes.
Die in Bali beschlossenen ersten Schritte - wie Studien,
Pilotprogramme, Capacity Building - haben wir in diesem
Haus fraktionsübergreifend begrüßt. Einschneidende Erfolge sind aber bislang ausgeblieben. Trotz aller Bemühungen schreitet Waldzerstörung ungebremst voran. Obwohl
Brasilien einiges für den Waldschutz getan hat, wurden
allein dort in den letzten drei Jahren 6 Millionen Hektar
Wald vernichtet. Das ist knapp zweimal die Fläche von
NRW. Die Maßnahmen der waldreichen Staaten und der
internationalen Gemeinschaft zum Schutz der Wälder
sind offenkundig unzureichend.
Deshalb ist es richtig und notwendig, über eine wirkungsvolle Stärkung des Systems des internationalen WaldZu Protokoll gegebene Reden
schutzes nachzudenken. Der Ansatz des vorliegenden
FDP-Antrags geht dabei aber in die falsche Richtung. Sie
schlagen vor, den Wald in den internationalen Handel mit
Treibhausgaszertifikaten einzubeziehen. Dieser Ansatz
hat einen Reiz: Er könnte privates Kapital für dringend
benötigte Investitionen in den Waldschutz gewinnen und
so einen Finanzierungsmechanismus für den Waldschutz
schaffen, der nicht von der wankelmütigen Großzügigkeit
von Finanzministern abhängig ist.
Das Problem ist: Diese privaten Investitionen werden
nur getätigt werden, wenn es den Unternehmen in den
Industrieländern auf diesem Wege möglich wird, teure
eigene Klimaschutzanstrengungen zu vermeiden. Die
Schattenseite von mehr Waldprojekten am Amazonas
wären dann mehr Kohlekraftwerke hier in Deutschland.
Das aber wäre klimapolitisch kontraproduktiv.
Das IPCC hat es ganz klar gesagt: Für das ZweiGrad-Ziel brauchen wir 25 bis 40 Prozent Emissionsreduktionen in den Industrieländern plus Emissionsminderungen in den Entwicklungsländern. Eine Anrechnung
von Waldschutzzertifikaten müsste also zusätzlich zu den
Einsparungen in Europa erfolgen. Die europäischen
Ziele müssten entsprechend angehoben werden, deutlich
über 30 Prozent hinaus. Wer in Poznan war und das
Gezerre um das europäische Klimapaket miterlebt hat,
der weiß, wie schwer das durchzusetzen wäre.
Wenn es bei den bisherigen CO2-Zielen bleibt, würde
die Einbeziehung des Waldschutzes den Klimaschutz in
Europa zum Stillstand bringen. Wir würden die Probleme,
die wir heute schon mit CDM haben, vervielfachen. Statt
unsere klimaschädlichen Strukturen in Europa zu ändern,
würde der Klimaschutz nach China, Indien oder Brasilien
abgeschoben, und das mit unzureichenden Kontrollen und
Umweltstandards. Auf diese Weise retten wir vielleicht
den Regenwald, geben aber das grönländische Eisschild
auf.
Die bessere Lösung ist deshalb ein internationaler
Waldschutzfonds, wie wir Grüne ihn schon mehrfach vorgeschlagen haben. Auch ein solches Modell ist nicht ohne
Schwierigkeiten, vor allem wenn es darum geht, die
notwendigen Mittel in einer Größenordnung von jährlich
10 bis 15 Milliarden US-Dollar aufzubringen. Hier kann
in der Tat eine Verknüpfung zum Emissionshandel Sinn
machen, nämlich die Reservierung eines festen Anteils
der Versteigerungserlöse aus dem Emissionshandel für
den Waldschutz. Darüber wird in Kopenhagen zu verhandeln sein.
Eine Verknüpfung von Waldschutz und Emissionshandel
in dem von der FDP intendierten Sinne, die auf einen klimapolitischen Ablasshandel der Industriestaaten hinauslaufen würde, lehnen wir Grüne hingegen ab.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7147,
den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2088
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr.
Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Chancen am Weltmarkt durch marktwirtschaftliche Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik und Subventionsabbau nutzen
- Drucksachen 16/4185, 16/9800 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Hans-Michael Goldmann
Ulrike Höfken
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Franz-Josef
Holzenkamp für die Unionsfraktion, Manfred Zöllmer
für die SPD-Fraktion, Hans-Michael Goldmann für die
FDP-Fraktion, Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion
Die Linke und Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Der FDP-Antrag kann ja schon auf eine längere Vergangenheit blicken. Ende Januar 2007 eingebracht, debattieren wir heute fast anderthalb Jahre später abschließend über ihn.
In der Zwischenzeit ist bekanntlich einiges im Bereich
der Politik, auch der Agrarpolitik geschehen. Die Bundesregierung hat ihre EU-Präsidentschaft sehr erfolgreich
beendet. Auch der Health Check, also die sogenannte Gesundheitsüberprüfung der europäischen Agrarpolitik,
kann als abgeschlossen bezeichnet werden.
Den Antrag als obsolet zu bezeichnen, fände ich aber
doch unangemessen, weil ihm das im Rückblick nicht gerecht würde. Nein, der FDP-Antrag ist in Teilen sogar
sehr gut; denn er beschreibt, sozusagen vorausschauend,
die gute Arbeit, die das Agrarministerium für die deutsche Landwirtschaft geleistet hat und leistet.
Der Titel des Antrages bringt es genau auf den Punkt,
was mit der Gesundheitsüberprüfung im vergangenem
Jahr geleistet worden ist: der Weg hin zu mehr Marktwirtschaft in der Landwirtschaft wurde bestätigt. Nur die Mittel wurden etwas angepasst. Dieser Weg wurde und wird
mit den europäischen Agrarreformen beginnend 1988
über 1992 bis hin zu 2003 beschritten. Davon - da sind
sich alle europäischen Mitgliedstaaten einig - wird und
kann auch nicht mehr abgewichen werden. Der Gesundheitscheck markiert eine systematisch folgerichtige Weiterentwicklung.
Allen sind die Ergebnisse der Gesundheitsüberprüfung vom vergangenen Jahr bekannt. Ich brauche darauf
jetzt nicht näher einzugehen. Nur so viel: Dem Bundesministerium, namentlich Frau Ministerin Aigner, ist es zu
verdanken, dass im Ergebnis eine gute Balance zwischen
Weiterentwicklung der Marktöffnung und notwendiger
Unterstützung der Landwirtschaft gelungen ist. Die ursprünglichen Vorschläge der Kommission sahen noch
ganz anders aus.
Warum erwähne ich das? Die deutsche Landwirtschaft
steht vor großen Herausforderungen, die sich unter drei
Stichpunkten kurz zusammenfassen lassen: Welternährung, Energie und Schutz natürlicher Ressourcen. Sozusagen unter einen Hut gebracht werden müssen einerseits
der stark steigende Bedarf an Nahrungsmitteln für die explodierende Weltbevölkerung und das Ziel, immer mehr
klassische Energieträger durch nachwachsende Rohstoffe zu substituieren, mit der Verpflichtung, dies bei
gleichzeitig nachhaltiger Ressourcenschonung zu erreichen.
Fakt ist, der Bedarf an Nahrungsmitteln und Agrarrohstoffen wird in den kommenden Jahren weiter steigen.
Die hohen Agrarpreise der vergangenen Jahre stehen
beispielhaft dafür. Mittelfristig steigenden Agrarpreisen
steht aber auch eine deutliche Preisvolatilität gegenüber.
Die derzeit fallenden Preise im Agrarsektor zeigen dies:
Sie sind unter anderem der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise geschuldet und verdeutlichen, wie eng die
Agrarwirtschaft mit den übrigen Wirtschaftssektoren
weltweit verknüpft ist. Ein Übriges zu den Preisschwankungen nach oben oder unten tut das Klima.
Diese Gemengelage birgt große Chancen für unsere
Landwirtschaft, aber auch Risiken, für die sie sich ausreichend wappnen muss. Vor diesem Hintergrund muss auch
der Reformweg der europäischen Agrarpolitik gesehen
werden. Der Weg der Liberalisierung, also einer allmählichen Marktöffnung, ist richtig, muss aber mit Augenmaß
gegangen werden.
Einer unserer Leitgedanken muss sein: Chancen gibt
es nur, wenn auf Augenhöhe konkurriert wird - welt- wie
europaweit. Das heißt, was nützt uns die hohe Nachfrage
nach Agrarprodukten, wenn unsere Landwirte aufgrund
höherer Naturschutz-, Tierschutz- und Qualitätsstandards preislich nicht mit brasilianischen oder US-amerikanischen Landwirten konkurrieren können? Nichts! Wir
würden über kurz oder lang unsere landwirtschaftlichen
Arbeitsplätze in diese Länder exportieren.
Es geht also nicht anders: Wir brauchen weltweite,
über die WTO verankerte Produktionsstandards. Ich bin
mir sehr wohl bewusst, dass dies eine kühne Forderung
ist. Viele wichtige Konkurrenten der europäischen und
deutschen Landwirtschaft dürften sich mit Händen und
Füßen dagegen sträuben.
Genau deshalb wird es mit der Union in naher Zukunft
keine übermäßige Absenkung der Direktzahlungen geben. Landwirte als Subventionsempfänger zu diffamieren,
ist ja ein beliebtes Spiel. Ich kann denjenigen, die das immer wieder versuchen, nur ins Stammbuch schreiben: Sie
würden sich schön wundern! Streichen wir die Direktzahlungen, die ja nichts anderes als eine Entschädigung unserer Landwirte für hohe Produktionsstandards sind - sie
sind übrigens die höchsten in der Welt -, würden wir sehenden Auges unsere Landwirtschaft nachhaltig schädigen.
In der Frage der Wettbewerbsgleichheit müssen wir
aber gar nicht so weit in die Welt schauen; denn die Ungleichheit liegt doch so nah. Beispiel: die Agrardieselsteuersätze in Europa. Leider sind die deutschen Landwirte mal wieder Spitze: Sie zahlen europaweit die
höchsten Steuern auf Agrardiesel. Seit 1998 hat sich die
Agrardieselsteuer vervierfacht. Das führt zu einem Wettbewerbsnachteil von etwa 40 bis 50 Euro pro Hektar.
Auch hier wäre eine europäische Angleichung notwendig.
Die für die hohen Steuern verantwortliche rot-grüne
Vorgängerregierung hat das ja versucht - vergeblich. Mit
dem Versuch zu brüsten brauchen Sie sich allerdings
nicht; denn der musste scheitern. Welches EU-Mitgliedsland wollte schon die Agrardieselsteuern auf das wettbewerbsschädliche deutsche Niveau anheben. Die einheitlichen europäischen Sätze sind also ferne Zukunftsmusik.
Deshalb fordert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
schon seit langem eine Absenkung der deutschen Steuern
für Agrardiesel. Unser Koalitionspartner sagt aber kategorisch nein. Das wundert mich nicht. Herr Kelber hat ja
erst kürzlich in seinem Newsletter geschrieben, wie viel
Verständnis er für die Nöte heimischer Landwirte hat,
nämlich keines.
Ich möchte an dieser Stelle noch auf einen anderen
Punkt eingehen, der mir wichtig erscheint, wenn wir über
die Frage des Nutzens von Chancen sprechen. Tue Gutes
und rede darüber ist ein bekannter PR-Grundsatz. Übertragen auf unsere Landwirtschaft heißt das: Produziere
Gutes und rede darüber. Ich meine die Exportförderung.
Die Exportförderung ist ein ganz wesentlicher Eckpfeiler, damit die deutsche Agrarwirtschaft sich nicht nur
in Europa, sondern auch und vor allem im europäischen
Ausland behaupten kann. Das Verfassungsgerichtsurteil
zur CMA und ZMP ist vor diesem Hintergrund nur zu bedauern. Die wichtigsten europäischen Konkurrenten haben schlagkräftige Agrar-Marketingagenturen. Deutschland steht hier zurzeit im Regen.
Nicht hoch genug sind daher die Exportaktivitäten des
Bundesministeriums zu begrüßen. Die Einrichtung der
Stabsstelle Export und deren kontinuierliche Weiterentwicklung - auch im Hinblick auf die finanzielle Ausstattung - sind elementar. Allerdings ist nun auch die deutsche Wirtschaft gefordert, ihren Teil zu einer kohärenten
Exportförderung für deutsche Agrarprodukte beizutragen. Sonst steht sie in wenigen Jahren nicht im Regen,
sondern auf dem Trockenen.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal auf die
Frage des Risikos bzw. der Sicherheit zu sprechen kommen. Ich sprach eingangs von der zunehmenden Volatilität der Agrarmärkte. Eine deutliche Marktöffnung hat
natürlich auch zur Folge, dass frühere MarktsicherungsZu Protokoll gegebene Reden
maßnahmen der EU abgebaut werden. Die Landwirte
werden künftig noch stärker die Volatilität der Märkte zu
spüren bekommen. Deshalb muss für die europäische
Landwirtschaft zumindest ein unteres Auffangnetz über
interne Stützungsmaßnahmen und einen gewissen Außenschutz bestehen bleiben.
Je weniger Schutz die EU ihren Landwirten gewährt,
desto stärker rückt auch private Vorsorge gegenüber
Marktrisiken, wie zum Beispiel Ernte- oder Tierversicherungen, in den Fokus. Die in der Gesundheitsüberprüfung beschlossenen, für die Mitgliedstaaten freiwilligen
Versicherungsmodelle wurden vom Agrarministerium zu
Recht abgelehnt. Denn dies hätte eine Kürzung der Direktzahlungen und damit den Entzug von Investivkapital
aus der Landwirtschaft zur Folge gehabt.
Vielmehr sollte hier eine nationale Lösung über eine
Risikoausgleichsrücklage angestrebt werden. Ich halte
ein Modell für zukunftsfest, in dem Landwirte eigenverantwortlich als Ausgleich für kommende risikobedingte
Ertragsschwankungen in guten Jahren eine steuermindernde Rücklage bilden dürfen - vergleichbar dem Forstschäden-Ausgleichsgesetz. Dadurch können zum Beispiel
Ertragsschwankungen oder Unwetterschäden austariert
werden. Hier muss sich das Finanzministerium noch bewegen.
Unsere Landwirtschaft steht vor großen Herausforderungen. Die Märkte - daran gibt es keinen Zweifel - werden sich immer stärker öffnen. Das birgt Chancen wie
Risiken. Uns muss daran gelegen sein, mit flankierenden,
unterstützenden Maßnahmen unsere Landwirtschaft dafür weiter fit zu machen. Hierbei - das möchte ich betonen - helfen uns keine Luftschlösser und Utopien.
Nur wenn es uns gelingt, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen, wird die deutsche Agrarwirtschaft auf
den Märkten der Zukunft weiterhin eine gewichtige Rolle
spielen können.
Die Agrarpolitik war immer ein zentraler Bereich
europäischer Politik. Dies begann bereits mit den Römischen Verträgen von 1957. Darin wurde der Grundstein
für eine europäische Agrarpolitik - GAP - gelegt. Dieser
Bereich der Politik wird seitdem zentral durch die EU bestimmt. In der Nachkriegszeit galt die Herstellung von
Ernährungssicherheit in Europa zunächst als ein zentrales Ziel der Agrarpolitik. Daneben war es Absicht, die
Produktivität der Landwirtschaft zu steigern, für ein angemessenes Einkommen der in der Landwirtschaft Beschäftigten zu sorgen und die Versorgung der Verbraucherinnen und Verbraucher mit Lebensmitteln zu
angemessenen Preisen zu sichern.
Der europäische Agrarmarkt war in den ersten Jahrzehnten deutlich vom Weltmarkt abgeschottet. Der Schutz
vor billigen Agrarimporten stand ganz oben auf der
Agenda. Für bestimmte Agrarprodukte gab es Garantiepreise, zu denen die Landwirte ihre Produkte abliefern
konnten. Die europäische Agrarpolitik war bei der Erreichung ihrer Ziele extrem erfolgreich. Die eingeführten
Preis- und Abnahmegarantien führten zu einem Wechsel
von der Mangel- zur Überschusswirtschaft.
Eine landwirtschaftliche Arbeitskraft ist heute inzwischen neunmal so produktiv wie 1950, die durchschnittlichen Erträge haben sich seitdem verdoppelt. 1959 wurden in Deutschland 26 Kilogramm mineralischer
Stickstoff pro Hektar und Jahr ausgebracht, heute sind es
über 110 Kilogramm. Dies veranschaulicht die enorme
Produktivitätssteigerung, die in der Landwirtschaft stattgefunden hat. Diese Produktionsdynamik führte zu einem
wachsenden Strukturwandel. Viele kleine Höfe verschwanden vom Markt.
In den 70er-Jahren entwickelte sich zunehmend die
Überschussproduktion in der europäischen Landwirtschaft. Neben der Einlagerung von Überschussprodukten
wurden mithilfe von Exporterstattungen die Agrarüberschüsse auf dem Weltmarkt verkauft. Ausländische
Produkte wurden durch Zölle vom europäischen Markt
ferngehalten. Daneben wurden Überschussprodukte vom
Markt genommen, oft vernichtet und mit Quotensystemen
- zum Beispiel Milchquoten - wurde versucht, die Produktion zu verringern. Mit weiteren Marktentlastungsprogrammen, wie zum Beispiel Flächenstillegungsprogrammen, wurde ferner versucht, die Überschussproduktion von
landwirtschaftlichen Produkten einzudämmen.
Die Kritik an den Fehlentwicklungen der EU-Agrarpolitik spitzte sich weiter zu. Die drastische Zuspitzung
der Probleme führte in den 90er-Jahren zu einem Umsteuern in der EU-Agrarpolitik. „Der Status quo lässt
sich weder verteidigen noch aufrechterhalten. Und obwohl die Mittel für den Agrarsektor zwischen 1990 und
1991 um fast 30 Prozent aufgestockt wurden, müssen die
Landwirte in allen Mitgliedstaaten weitere Einbußen hinnehmen. Wir haben mit unserer Politik nicht zu verhindern gewusst, dass die Landwirte in Scharen ihre Tätigkeit aufgeben“, formulierte der damalige EU-Kommissar
McSharry. In der Konsequenz dieser Kritik wurden die
agrarpolitischen Instrumente verändert. Es wurde ein
System der „gekoppelten Preisausgleichzahlungen“ eingeführt.
Im weiteren Verlauf kam es zu einer erneuten Reformrunde mit dem Vorschlag zur Agenda 2000 durch den
Kommissar Fischler. Dies war der Auftakt zu einem Reformmarathon, der eine wirkliche Neuausrichtung der
GAP zur Folge hatte. Zielsetzung waren eine stärkere
Marktorientierung der landwirtschaftlichen Produktion
und die Verstärkung der Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten durch Annäherung an die Weltmarktpreise sowie eine stärkere Orientierung an unternehmerischer Initiative der Landwirtschaft. Dies war
auch deshalb notwendig, weil die internationale Diskussion um die Rolle der Landwirtschaft bei den Verhandlungen in der damaligen Uruguay-Runde zur Liberalisierung des internationalen Handels eine große Rolle
spielte. Die direkten Subventionen, die Exportsubventionen und die Abschottung der europäischen Agrarmärkte
gegenüber Drittländern standen im Mittelpunkt der Kritik.
Mit der Agrarreform von 2003 wurde ein umfassender
Schritt in Richtung auf Entkopplung der Direktzahlungen
Zu Protokoll gegebene Reden
von der Produktion gemacht. Damit wurde ein Großteil
der handelsverzerrenden Subventionen beseitigt. Ein bestimmter Teil der Direktzahlungen wurde für die Entwicklung des ländlichen Raumes verwendet ({0}).
Diese Darstellung der Entwicklung der GAP in der EU
zeigt deutlich, dass die europäische Agrarpolitik auf
einem erfolgreichen Kurs der marktwirtschaftlichen
Neuausrichtung ist. Die Einbindung der europäischen
Agrarwirtschaft in den internationalen Handel ist weit
fortgeschritten. Mit den Angeboten zur vollständigen Abschaffung der Exportsubventionen bis 2013 auf der WTOKonferenz in Hongkong hat die EU deutlich gemacht,
dass sie ihren Beitrag zu einem erfolgreichen Abschluss
der laufenden Doha-Runde leisten will. Mit den Beschlüssen zur Abschaffung der Milchquote bis 2015 haben die EU-Agrarminister deutlich gemacht, dass sie in
ihrer Mehrheit den Weg der Marktorientierung weitergehen wollen.
Der vorliegende Antrag der FDP bringt keinen einzigen neuen Gedanken. Dies gilt für alle Forderungen. Er
bleibt völlig unkonkret in seinen allgemeinen Appellen.
Die FDP scheut sich zum Beispiel, für die laufenden Verhandlungen in der WTO konkrete Vorschläge für weitere
Zugeständnisse in der Agrarpolitik zu machen. Auf aktuelle Problemlagen und die vielfältigen Herausforderungen der Agrarpolitik angesichts des Klimawandels,
bedrohter Biodiversität und der weltweit steigenden Bevölkerung geht der Antrag nicht ein. Der vorliegende Antrag der FDP ist nicht nur flüssig - er ist vollständig
überflüssig.
In mehr als den letzten 15 Jahren war die Gemeinsame
Agrarpolitik einem rasanten Wandel unterworfen. WTOHandelsrunden, Reformen der GAP in den Jahren 1992,
1999 ({0}) und im Juni 2003 führten zu einem
agrarpolitischen „Reformmarathon“. Mit der vorerst
letzten GAP-Reform in 2003 war ein Paradigmenwechsel
verbunden, der zu einer stärkeren Orientierung an den
Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft und der Nachhaltigkeit führte. Die Europäische Union hat mit diesem
agrarpolitischen „Reformmarathon“ im Bereich der
GAP ihren Teil für einen erfolgreichen Abschluss der laufenden Welthandelsrunde geschaffen.
Liberale Grundprinzipien für eine zukunftsweisende
europäische Landwirtschaft orientieren sich am Leitbild
des unternehmerischen, eigenverantwortlichen Landwirts. Die Potenziale des kompletten Spektrums von moderner „Hightechlandwirtschaft“ bis zum ökologischen
Landbau müssen genutzt werden. Unsere Landwirte kennen Standortfaktoren und Produktionstechnologien selbst
am besten. Gesetzliche Regulierungen dürfen deshalb
nicht die Land- und Forstwirtschaft belasten, sondern
müssen verhältnismäßig sein und sie im Wettbewerb stärken. Der moderne Landwirt muss in die Lage versetzt
werden, die Chancen des Marktes zu nutzen, und darf
nicht durch einen überbordenden Verwaltungsaufwand
daran gehindert werden. Nur dann werden sich effiziente
landwirtschaftliche Produktionsverfahren, basierend auf
einer leistungsfähigen Agrarforschung, auf nationaler
und internationaler Ebene durchsetzen und helfen, die
wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Nicht zuletzt
die am meisten von Hunger und Armut betroffenen
Schwellen- und Entwicklungsländer könnten von einem
systematischen Wissenstransfer profitieren. Dazu sollte
auch die verantwortbare Nutzung der Grünen Gentechnik
gehören, da sie Umweltbelastungen vermindert, die Ernährungssicherung und die Qualität von Nahrungsmitteln verbessert sowie Pflanzen für die industrielle
Nutzung als nachwachsender Rohstoff optimieren kann.
Deshalb ist das Ergebnis des Health-Checks auch doppelt
unbefriedigend gewesen. Nicht nur hat die Bundesregierung ihr Versprechen gebrochen, an der Ersten Säule
unverändert festzuhalten, und der Erhöhung der Modulation zugestimmt, sondern es kam auch nicht zu den angekündigten Erleichterungen bei den Cross-ComplianceRegelungen.
Trotz der aktuellen Wirtschaftskrise, die mittlerweile
auch die Landwirtschaft erreicht hat, ist festzuhalten,
dass ein Abschluss der WTO-Welthandelsrunde im
Interesse sowohl der heimischen Land- und Ernährungswirtschaft als auch der Entwicklungsländer ist. Die Lebensmittelproduktion für den heimischen Verbrauch in
Deutschland und der EU bleibt dabei aber weiterhin die
vorrangige Aufgabe der Landwirtschaft.
Durch die weiter rasant wachsende Weltbevölkerung
wird mittel- und langfristig die Nachfrage nach Getreide,
Fleisch und Milch sowie Milchprodukten steigen. Diese
Entwicklung wird durch eine steigende Flächennutzung
zur Erzeugung nachwachsender Rohstoffe wie zum Beispiel zur Herstellung biogener Kraftstoffe verstärkt und
beschleunigt. Schließlich resultiert aus den klimatischen
Veränderungen ein Verlust landwirtschaftlicher Fläche.
Zudem werden bereits heute weltweit auf mehr als
120 Millionen Hektar gentechnisch veränderte Pflanzen
angebaut. Das ist mit umwelt-, agrar- und entwicklungspolitischen Vorteilen verbunden, von denen insbesondere
der Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland
profitieren kann. Deshalb ist der augenblickliche populistische Kurs der Landwirtschaftsministerin unverantwortlich. Statt diffuse Ängste zu schüren, sollte die Regierung
die Bevölkerung aufklären. Wir erwarten von einer verantwortungsvoll handelnden Bundesregierung, dass sie
berechtige Interessen der innovativen und erfolgreichen
Land- und Ernährungswirtschaftsbranche auf nationaler,
europäischer und internationaler Ebene mit dem notwendigen Nachdruck vertritt, damit diese Zukunftsbranche
ihre vielfältigen Potenziale auch in Deutschland zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen ausschöpfen
kann.
Als FDP sind wir aber davon überzeugt, dass wir einen
Grundsockel in der Ersten Säule auch über 2013 erhalten
müssen. Auch künftig wird es einen Ausgleich für die im
Vergleich zum Weltmaßstab höheren Belastungen durch
strengere Produktionsregeln geben müssen, wenn wir
wollen, dass die europäischen Landwirte sich am Weltmarkt durchsetzen und behaupten können. Eines aber
darf es nach 2013 definitiv nicht mehr geben: Exportsubventionen. Es ist nicht länger zu verantworten, dass durch
europäische Exportsubventionen Märkte in der Dritten
Zu Protokoll gegebene Reden
Welt überschwemmt werden und die dortige Landwirtschaft zerstört wird. Exportsubventionen sind ein Anachronismus und gehören schnellstmöglich abgeschafft.
Der Antrag der FDP ist längst überholt. Auch die Ausgangslage ist heute völlig anders als zur Antragstellung.
Im Jahr 2007 stiegen die Erzeugerpreise. Selbst für die
Milch wurden zwischendurch ungewohnt hohe 45 Cent
pro Liter gezahlt. Heute sind wir wieder weit davon entfernt. Die kurzzeitige Preisblase für landwirtschaftliche
Erzeugnisse ist sehr schnell geplatzt. Der durchschnittliche Erzeugerpreis für Milch hat sich seitdem halbiert.
Damit wird auch eines sehr deutlich: Nicht die erhöhte
Nachfrage aus Asien bei knappem Weltmarktangebot hat
zum Preisschub geführt. Es waren vor allem die Spekulationsgeschäfte an landwirtschaftlichen Rohstoffmärkten.
Das Finanzkapital flüchtete aus dem unsicher gewordenen amerikanischen Immobilienmarkt in die Agrarrohstoff- und Bodenmärkte. Eine virtuelle Nachfrage wurde
erzeugt. Ernten wurden gehandelt, für die noch nicht mal
gesät war.
Bei dieser zunächst eher nüchternen Situationsbeschreibung dürfen wir eines nicht vergessen: Wir reden
hier über den Einfluss von Spekulanten auf Nahrungsmittelpreise. Das hat selbstverständlich eine völlig andere gesellschaftliche und humanitäre Dimension als
Preisschwankungen bei Industriegütern oder privaten
Dienstleistungen. Insofern braucht der Agrarmarkt eine
gesellschaftliche Kontrolle - noch nötiger als die Finanzwirtschaft. Aber gerade dem deregulierten Agrarmarkt,
der Ursache der beschriebenen Entwicklung ist, redet die
FDP mit ihrem Antrag weiter das Wort, obwohl er weder
aus Landwirtschafts- noch aus Verbrauchersicht akzeptabel ist. Die FDP fordert eine verstärkte marktwirtschaftliche Ausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik - GAP in Richtung Weltmarkt. Deutschlands und Europas Landwirtschaft solle sich in erster Linie durch Agrarexporte
entwickeln. Damit würden die gravierenden Einkommensprobleme im Agrarsektor gelöst, behaupten die Liberalen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Orientierung am
Weltmarkt führt in Deutschland zu sinkenden Erzeugerpreisen, bindet unnötig dringend benötigte Flächen und
vergeudet natürliche Ressourcen.
Für die Linke ist klar: Spekulationsgesteuerte Märkte
sind keine Basis für eine umweltgerechte, regional verankerte Landwirtschaft mit sozialer Stabilisierungsfunktion. Entfesselte Marktwirtschaft denkt ausschließlich betriebswirtschaftlich, nicht volkswirtschaftlich. Sie löst
keine ökologischen oder sozialen Probleme im Interesse
der Gesellschaft. Sie löst keine Ungerechtigkeiten in der
globalen Ernährungs- und Einkommensverteilung. In einer nach den aktuellen Regeln der WTO globalisierten
Agrarpolitik spielen Recht auf Nahrung, regionale Ernährungssicherung und Einkommensziele in ländlichen
Räumen keine Rolle. Kurzfristiger Profit ist wichtiger als
ökologische und soziale Standards. Das ist die Welt, die
sich die Liberalen wünschen. Aber das ist mit der Linken
nicht zu machen! Wir wollen eine Agrarwirtschaft, die ihrer gesellschaftlichen Rolle gerecht wird: mit sozialer
und ökologischer Verantwortung die regionale Ernährungssouveränität und zunehmend auch Energieversorgung abzusichern. Sie ist mehr als ein marktwirtschaftlich auszurichtender Wirtschaftssektor. Sie ist in vielen
ländlichen Regionen eine tragende Säule des sozialen
und wirtschaftlichen Lebens. Sie prägt Natur- und Kulturlandschaften. In vielen Teilen der Welt ist sie die wichtigste Einkommensquelle für die Menschen. Sie ist Basis
regionaler Wertschöpfungsketten.
Die gemeinsame EU-Agrarpolitik - GAP - muss diese
vielfältigen Funktionen der Agrarwirtschaft unterstützen.
Eine auf Nachhaltigkeit orientierte europäische Agrarpolitik muss zudem die Entwicklung einer Agrarwirtschaft in Entwicklungs- und Schwellenländern fördern
und darf sie nicht zerstören. In den WTO-Verhandlungen
müssen ökologische und soziale Aspekte endlich Eingang
finden. Den Antrag der FDP lehnen wir ab.
Ulrike Höfken ({0})
Hauptaussage des Antrags der FDP ist die Forderung
an die Bundesregierung, „einen definitiven Beschluss
zum Ausstieg aus der Milchmengenregulierung spätestens bis zum 31. Januar 2015 zu verabschieden“. Solch
völlige Deregulierung ist nach Ansicht der FDP „die
Chance auf dem Weltmarkt“. Die Folgen der neoliberalen Freibriefe für die Märkte sind allerdings aktuell am
Beispiel der Finanzkrise schmerzhaft für Steuerzahler
und Betroffene zu spüren und haben zur schwersten Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte geführt.
Der Deutsche Bauernverband, die Bundesregierung
und allen voran die Fraktionen der Koalition CDU, CSU,
SPD haben sich mit eindeutigen Beschlüssen ins gleiche
Fahrwasser begeben und mit dem „Soft Landing“ die
Milchmengenerhöhung lange Zeit mitgetragen. Die „erfolgreiche“ FDP-Politik gab den Landwirten nicht „Planungssicherheit und Verlässlichkeit“, stattdessen stehen
die Milchbauern deutschlandweit vor dem Aus. Die Aussicht der Handelsketten auf intensives ungezügeltes Massenangebot und die wieder entstandenen Übermengen
drücken die Preise für die Erzeuger auf 18 bis 25 Cent,
deutlich unter die Gestehungskosten.
Selbst wenn die Front der Neoliberalen jetzt angesichts der Proteste auch in den Bundesländern bröckelt
und Ministerin Aigner einen weiteren Eiertanz vollzieht,
wird nicht endlich mit Mengenbegrenzung politisch gehandelt, sondern es werden die Brüsseler Beschlüsse für
gottgegeben erklärt. Doch das war noch nie so. Mit der
letzten Agrarreform wurden tatsächlich endlich einige
gute Gegenstrategien zu Fehlentwicklungen wie Überschusserzeugung, Marktverzerrung, Lebensmittelskandalen und ökologischen Folgeschäden entwickelt. Doch
die Probleme im Milchmarkt haben die Luxemburger Beschlüsse offen gelassen. Die getroffenen Beschlüsse zum
Milchmarkt beinhalten konkret: eine zeitliche Verlängerung der Milchquotenregelung bis 2015, eine zeitliche
Verschiebung der bereits mit der Agenda 2000 beschlossenen Quotenaufstockung von 3 mal 0,5 Prozent um ein
Jahr, das heißt einen Start erst in 2006; der Vorschlag der
Kommission, die Milchquote in 2007/2008 zu erhöhen,
wurde nicht verabschiedet.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ulrike Höfken ({1})
Die Luxemburger Beschlüsse zur Milchquote wurden
umgesetzt in der Verordnung ({2}) Nr. 1788/2003. Da
steht zur Milchquote: „Ab dem 1. April 2004 wird für elf
aufeinander folgende Zeiträume von zwölf Monaten
({3}) beginnend mit dem 1. April auf die im jeweiligen Zwölfmonatszeitraum vermarkteten Mengen von Kuhmilch oder anderen Milcherzeugnissen, die die in Anhang I festgesetzten
einzelstaatlichen Referenzmengen überschreiten, eine
Abgabe erhoben …“
Ich darf die damalige Landwirtschaftsministerin
Renate Künast aus der Bundestagsrede zu den Luxemburger Beschlüssen zitieren: „Das Ergebnis der längeren
Beratung an der Stelle war: Erstens. Die Quotenregelung
wird bis 2015 verlängert. Sie alle wissen, dass noch im
Januar/Februar die Mehrheit des Agrarrates gegen diese
Verlängerung war. Herr Deß, wenn Sie merken, dass im
Juni etwas herauskommt, wovon Sie im Januar nicht zu
träumen wagten, könnten Sie ruhig ein freundliches Gesicht machen. Zweitens. Die von der Kommission vorgeschlagene Milchquotenerhöhung ab 2007/08, die den
Druck auf den Markt noch mehr erhöht hätte, ist erst einmal vom Tisch. Drittens. Wir haben durchgesetzt - Sie haben sich noch nicht einmal getraut, das zu fordern -, dass
die bereits in der Agenda 2000 beschlossenen Regelungen zur Milchquotenerhöhung erst einmal verschoben
werden.“ Es geht also doch, mit Durchsetzungskraft und
Realitätsnähe.
In den Luxemburger Beschlüssen steht nichts drin, wie
es nach diesen elf Zeiträumen von zwölf Monaten weitergehen soll. Tatsache ist lediglich, dass die Kommission
als Einzige ein Vorschlagsrecht zur Änderung der Verordnung hat und sich bisher weigert, hier neue Vorschläge zu
machen. Da sollten die Europawahlen doch weiterhelfen
und den vernünftigen Vorschlägen einer Mengenregulierung nach Angebot und Nachfrage zur Durchsetzung verhelfen, wie der Bund der Milchviehhalter sie in die Diskussion bringt.
Klar ist jedenfalls: Steuerzahler-Gelder für Exportsubventionen zulasten der Entwicklungsländer, Ausgleichsfonds oder die immer wiederkehrenden Agrardiesel-Forderungen können und dürfen die WeltmarktIllusionen der Bundesregierung, der FDP und des Bauernverbandes sowie die Interessen des Handels und der
Verarbeiter nicht finanzieren.
Die Reform der GAP muss für 2013 weiterentwickelt
und den neuen Herausforderungen wie der Entwicklung
der ländlichen Räume und Arbeitsplätze, dem Klimaschutz, der stärkeren Nachfrage nach gesunden Produkten und Biolebensmitteln, nach Bioenergie und der weltweiten Nachfrage nach Lebensmitteln muss nachhaltig
Rechnung getragen werden. Immer mehr Masse, immer
mehr Chemie und Gentechnik, wie es die FDP will: Das
schafft nicht Wertschöpfung, sondern Wertvernichtung
und Armut.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9800,
den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4185
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der FDP-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. Mai 2009, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen erfolgreiche Tage.