Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Tag und uns
gute und konstruktive Beratungen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich zwei
nachträgliche Geburtstagsglückwünsche vortragen. Die
Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen feierte am 1. März
ihren 70. Geburtstag und der Kollege Ottmar Schreiner
am 21. Februar seinen 60. Im Namen des ganzen Hauses
gratuliere ich zu diesen runden Geburtstagen nachträglich herzlich und wünsche Ihnen alles Gute.
({0})
Die Kollegin Elke Hoff hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt - was ich natürlich sehr bedauere. Als
Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kollegen
Christian Ahrendt vor. Können wir uns darauf einigen? Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege
Christian Ahrendt damit zum Schriftführer gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Kai
Boris Gehring, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Chancen und Perspektiven für Kinder und Jugendliche in Deutschland
- Drucksache 16/817 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle
Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Frauenpolitik - Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor
- Drucksache 16/832 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen
- Drucksache 16/833 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({4})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 16/753 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksache 16/858 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Die Zukunft der Rente
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Schneider
({7}), Klaus Ernst, Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpassung herausnehmen
- Drucksache 16/826 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Recht auf Girokonto auf Guthabenbasis gesetzlich verankern
- Drucksache 16/818 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft durch mündige und aufgeklärte Verbraucher sicherstellen
- Drucksache 16/825 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter
Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Landwirte durch die
Umsetzung der EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren
in nationales Recht
- Drucksache 16/590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei,
Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Abrüstung der taktischen Atomwaffen vorantreiben - USAtomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig abziehen
- Drucksache 16/819 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin,
Winfried Nachtwei, Volker Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nuklearen Dammbruch verhindern - Indien an das Regime zur nuklearen Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtweiterverbreitung heranführen
- Drucksache 16/834 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 6 - hierbei handelt es sich um das Gesetz zur
Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung und 7 - Kinderbetreuung - abzusetzen und stattdessen
an dieser Stelle die Tagesordnungspunkte 8 - Wahlen in
Belarus - und 11 - GmbH-Gründungen - zu beraten.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 17. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Tourismus ({14}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Schutz der Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern
- Drucksache 16/551 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Der in der 19. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss ({16}) gemäß
§ 96 GO überwiesen werden.
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur steuerlichen Förderung von
Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 16/643 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({17})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie mit diesen gerade vorgetragenen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir nun in die Tagesordnung eintreten, müssen
wir einen Geschäftsordnungsantrag behandeln. Die
Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben fristgerecht
beantragt, die heutige Tagesordnung um vier Anträge zu
Präsident Dr. Norbert Lammert
erweitern. Es handelt sich hierbei um vier Anträge im
Zusammenhang mit der geplanten Föderalismusreform, die in der 19. Sitzung am 16. Februar an die
Ausschüsse überwiesen wurden. Die Fraktionen der
CDU/CSU und SPD beantragen, diese vier Anträge auf
die heutige Tagesordnung aufzusetzen und sodann in
Abänderung unseres früheren Überweisungsbeschlusses
federführend an den Rechtsausschuss zu überweisen. Ich hoffe, dass die Debattenlage damit hinreichend geklärt ist.
Ich erteile das Wort zur Geschäftsordnung zunächst
dem Kollegen Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir werden morgen hier im Haus die erste Lesung
des Gesetzentwurfs zur Reform des Bundesstaates
durchführen. Bei dem Thema „Reform des Bundesstaates“ stellen sich ganz viele Einzelfragen. Diese Einzelfragen machen aber nicht das Thema „Reform des Föderalismus“ aus. Die Reform des Föderalismus erhebt den
Anspruch, insbesondere die Gesetzgebung im Bundesstaat besser zu machen, den Staat zu verbessern, zu
reorganisieren, effizienter zu gestalten.
({0})
Das ist der Anspruch. Man kann kontrovers darüber diskutieren, ob der Gesetzentwurf diesem Anspruch gerecht
wird.
({1})
- Genau so ist es. - Weil dieses eine politische Thema
gleichzeitig mit einer Vielzahl von Einzelfragen verbunden ist, stellen sich an die parlamentarische Behandlung
besondere Anforderungen. Man muss diesem Thema in
ganz besonderer Weise gerecht werden.
({2})
Wenn Sie sich mit diesem Thema parlamentarisch nur
oberflächlich befassen wollen, ist das Ihre Sache. Wir
nehmen es ernst.
({3})
Darum wollen wir es adäquat behandeln.
({4})
Dieses Thema stellt besondere Ansprüche an uns. Wenn
Sie ihnen nicht genügen, dann ist das bedauerlich. Aber
das kann uns nicht daran hindern, den parlamentarischen
Ansprüchen, die das Thema stellt, gerecht zu werden.
({5})
Nun gibt es zwei Varianten: Die erste Variante - ihr
scheinen Sie zuzuneigen - besteht darin, zu versuchen,
dieses Thema nur von seinen Einzelaspekten her zu erfassen.
({6})
- Das scheint Sie ja sehr zu erregen. Aber vielleicht hören Sie mir erst einmal zu. Dann können Sie Ihre Meinung sagen. Das wäre doch eine Möglichkeit, mit unserer Geschäftsordnung umzugehen.
Praktisch jeder Ausschuss ist mit diesem Thema befasst: unter anderem der Umweltausschuss, der Finanzausschuss und der Rechtsausschuss. Alle Ausschüsse
beschäftigen sich mit einem Einzelaspekt der Föderalismusreform.
({7})
Das ist die von Ihnen bevorzugte Form der Behandlung
dieses Themas.
({8})
Sie würde dazu führen, dass jeder Ausschuss den Einzelaspekt betrachtet, der ihn betrifft. Aber das Gesamtanliegen dieser Reform würde nicht erfasst. Bei diesem
Thema handelt es sich allerdings um ein Gesamtanliegen
des Staates, nicht aber um ein Einzelanliegen, das zu
vertreten ist.
({9})
Darum schlagen wir vor - das ist die zweite Variante -,
eine Beratung durchzuführen, die beides gewährleistet:
dass das Thema in seiner Gesamtheit erfasst wird und
dass sich alle Fachausschüsse mit dem Aspekt beschäftigen, der sie betrifft. Das ist dadurch zu realisieren, dass
das Gesamtthema an einen Ausschuss, den Rechtsausschuss, zur federführenden Beratung überwiesen wird.
Alle Fachausschüsse bleiben weiterhin mitberatend zuständig. Selbstverständlich werden in diesem Rahmen
alle ihre Rechte gewahrt. Wir können und wollen dadurch kein einziges Minderheitenrecht beschneiden.
({10})
Selbstverständlich werden auch Sachverständigenanhörungen stattfinden. Wir wollen und - wenn Sie das beruhigt - wir können auch keine Minderheitenrechte beschneiden. Darum werden wir ein Verfahren durchführen,
das nach meiner Prognose in einer mehrtägigen Sachverständigenanhörung münden wird und in dessen
Rahmen sowohl das Gesamtanliegen betrachtet wird als
auch alle Möglichkeiten, auch alle zeitlichen Möglichkeiten, bestehen werden, jeden Einzelaspekt strukturiert
zu beraten.
({11})
In dieser Weise werden wir beiden Anliegen gerecht:
sowohl den Gesamtzusammenhang als auch die Details
zu betrachten. Beides muss in einem ordnungsgemäßen
Gesetzgebungsverfahren bewertet werden. Das wollen
wir tun. Ich denke, das ist das einzig zielführende Verfahren.
({12})
Sie müssen Ihre Oppositionsrolle natürlich selbst gestalten. Aber ein reiner Oppositionsgestus, der davon
lebt, dass man etwas nicht so macht, wie es die anderen
machen wollen, obwohl das in der Sache geboten wäre,
ist wirklich nicht überzeugend.
({13})
Überlegen Sie sich das noch einmal.
Vielen Dank.
({14})
Bevor ich dem Kollegen van Essen für die FDP-Fraktion das Wort erteile, möchte ich dafür werben, das Ausmaß der Zwischenrufe auf ein Volumen zu reduzieren,
das es noch erlaubt, die erkennbar unterschiedlichen
Positionen der Fraktionen durch ihre jeweiligen Sprecher überhaupt hörbar zu machen.
({0})
Nun hat der Kollege van Essen für die FDP-Fraktion
das Wort.
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion hat Anfang
dieser Woche mit großer Mehrheit beschlossen, die Föderalismusreform zu unterstützen.
({0})
Mit gleicher Klarheit fordern wir im Deutschen Bundestag aber auch, dass dieses Paket nicht bloß „durchgewunken“ wird.
({1})
Genau das zu tun, ist allerdings die Absicht der Koalition. Sie wollen eine Massenanhörung im nur für Verfassungsfragen zuständigen Rechtsausschuss durchführen.
({2})
Das zeigt, dass Sie die notwendige Diskussion scheuen,
die sich beispielsweise in den Bereichen Bildung, Umwelt und Strafvollzug angedeutet hat.
({3})
Ich weiß, dass ich nicht nur für meine Fraktion spreche - die anderen Oppositionsfraktionen werden sich
gleich ähnlich äußern -, sondern auch für viele Fachkollegen in der Koalition.
({4})
Denn eines ist völlig klar: Die von Ihnen geplante Massenanhörung, an der auch der Bundesrat beteiligt werden soll, hätte zur Folge, dass die einzelnen Kollegen
kaum noch die Möglichkeit hätten, Fragen zu stellen.
Auch wenn Sie hier so großzügig verkünden, dass dafür
mehrere Tage vorgesehen sind, ist das kein Angebot, mit
dem sich das Parlament zufrieden geben kann.
({5})
Nein, was Sie hier praktizieren, ist schlicht die Arroganz
der Macht!
({6})
Wir sind in dieses Parlament gewählt, die Anregungen - die ja in vielfältiger Form gekommen sind - zu berücksichtigen. Ich beispielsweise bin Berichterstatter im
Bereich des Strafvollzugs. Es muss uns doch nachdenklich machen, dass alle Organisationen, die mit dem
Strafvollzug zu tun haben - die Kirchen, der Richterbund, die Gewerkschaften und viele andere Organisationen -, uns auffordern, es anders zu regeln. Nehmen wir
die Anregungen aus der Öffentlichkeit doch ernst und
führen wir geordnete Beratungen durch! Das ist der
Wunsch unserer Fraktion und, wie ich weiß, auch der der
anderen Oppositionsfraktionen.
({7})
Wir werden das deshalb nicht mitmachen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Olaf Scholz für die
SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir führen hier eine etwas komische Debatte.
({0})
Komisch wird eine Debatte dann, wenn Opposition zur
Attitüde wird. Ich glaube, man sollte durch inhaltliche
Beiträge Unterstützung leisten und nicht einfach dagegen sein, nur weil man das an dieser Stelle schön machen kann.
({1})
Ich glaube im Übrigen, dass es notwendig ist, nicht
mit Unterstellungen zu arbeiten. Deswegen will ich etwas darüber sagen, wie es sein wird, wenn heute so beschlossen wird, wie wir das vorschlagen: Natürlich wird
auch dann jeder Sachverständige und jede Sachverständige, die sonst in den Ausschüssen gehört würden, gehört werden.
({2})
Wir werden genauso lange über die Fragen diskutieren,
wie wenn das einzeln in den Ausschüssen verhandelt
würde, und jeder Abgeordnete wird die Möglichkeit haben, die Fragen zu stellen, die er stellen will. Niemand
wird in Bezug auf Zeit oder Inhalt beschnitten werden.
({3})
Man fragt sich schon, warum Sie etwas dagegen haben, dass in einer auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbaren Weise über die Föderalismusreform diskutiert
wird.
({4})
Denn dafür haben wir als Parlament ja ebenfalls Verantwortung: dass man nachvollziehen kann, was stattfindet.
Dafür ist es besser, wenn nacheinander und im Zusammenhang über diese Fragestellung diskutiert wird statt in
vielen Ausschüssen und für die Öffentlichkeit kaum bemerkbar.
({5})
Ich glaube deshalb, dass wir der Debatte und der Entscheidung einen Gefallen tun, wenn wir Platz einräumen
für eine lange, sorgfältige und intensive Diskussion im
Rechtsausschuss - in Zusammenarbeit mit allen einzelnen Fachausschüssen in diesem Deutschen Bundestag.
({6})
Ich habe am Anfang kurz etwas über die Attitüde gesagt. Ich will dazu ergänzen: Eigentlich finde ich das
Ganze schade. Denn die Grünen haben der Föderalismusreform schon einmal zugestimmt.
({7})
- Doch!
({8})
Auch die FDP hat gesagt, sie will die Reform unterstützen. Dieser konstruktive Geist sollte Sie bei der ganzen
Debatte begleiten!
Schönen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Enkelmann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Röttgen, Ihre Rede hatte den Charme einer eingesprungenen Sitzpirouette. Wie Sie das zurückgenommen
haben, was Sie hier einmal mehrheitlich beschlossen haben, das verdient schon Respekt, Herr Kollege!
({0})
Die große Koalition ist Gift für die parlamentarische
Demokratie; das beweist genau der Vorgang, über den
wir gerade beraten.
({1})
Wir haben vor drei Wochen mehrere Anträge, die im Zusammenhang mit der Föderalismusreform stehen, in diesem Haus beraten und sie gemeinsam an die zuständigen
Fachausschüsse überwiesen - was sinnvoll war, was vernünftig war und was bisher als Verfahren üblich war.
({2})
Was ist in den Ausschüssen passiert? Im Umweltausschuss zum Beispiel hat man sich bereits über den Fortgang des Verfahrens verständigt. Herr Scholz, dort ist
gestern beschlossen worden, dass eine öffentliche Anhörung stattfinden wird.
({3})
So weit zum Umgang mit der Öffentlichkeit. Ich würde
gerne wissen, wie Sie mit diesem Beschluss des Ausschusses umgehen wollen.
Der Bildungsausschuss ist etwas anders verfahren;
das gebe ich gerne zu. Hier hat sich die Mehrheit geweigert, dem Auftrag des Parlaments zu folgen, nämlich die
Anträge, die in den Ausschuss überwiesen worden sind,
dort auch ordentlich zu beraten.
Jetzt wollen Sie die Federführung des Rechtsausschusses. Das heißt, die Fachpolitiker sollen in einer so
wichtigen Debatte wie der über den Umbau bzw. die
Neuorganisation des Staatswesens de facto entmachtet
werden;
({4})
denn wir alle wissen sehr wohl, dass nach der Geschäftsordnung eine eigenständige Anhörung in den Fachausschüssen dann nicht mehr möglich ist. Das heißt, wir alle
sind auf das Wohlwollen der Koalition angewiesen, im
Rechtsausschuss gegebenenfalls auch Fachpolitiker anzuhören. Ich denke, das kann es nicht sein.
({5})
Spannenderweise geht es ja gerade um die Politikfelder - das konnten wir den Medien in den letzten Tagen
entnehmen -, die innerhalb der Koalitionsfraktionen
noch strittig sind. Wollen Sie die Federführung also zur
Disziplinierung der Abtrünnigen in Ihren eigenen Reihen nutzen?
({6})
Ich denke, das ist ein unglaublicher Vorgang in diesem
Hohen Hause. Herr von Essen, mir war genau das Gleiche eingefallen wie Ihnen: Das strotzt nur so von Arroganz der Macht.
({7})
Kraft Ihrer Wassersuppe werden Sie das Zurückholen
der Anträge und die Überweisung in den federführenden
Ausschuss heute natürlich mit Mehrheit beschließen. Sie
sollten davon ausgehen, dass wir das nicht auf sich beruhen lassen werden. Wir werden gegebenenfalls rechtliche Schritte prüfen.
({8})
Ich denke, die Opposition sollte sich nicht wie ein lästiges Übel in diesem Parlament behandeln lassen.
({9})
Zum Schluss der Geschäftsordnungsdebatte erhält der
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere
Fraktion will eine Föderalismusreform, eine Reform,
durch die die Wirrnisse zwischen dem Bund und den
Ländern aufgelöst und eigenständige Gesetzgebungsspielräume für die verschiedenen staatlichen Ebenen erreicht werden.
Von der Bundesratsbank wurde uns vollmundig gesagt, diese Reform solle die Mutter aller Reformen sein.
Wir haben den Verdacht, dass das, was morgen hier debattiert werden soll, die Mutter allen Murkses werden
könnte. Deshalb sind wir in großer Sorge und meinen
wir, dass wir eine vernünftige Debatte in diesem Parlament brauchen.
({0})
Wenn die große Koalition für eine Sache in der Geschichte gut sein könnte, dann für eine Föderalismusreform aus einem Guss. Sie legen aber nicht mehr vor als
den Belagerungskompromiss von Bundestag und Bundesrat aus der letzten Wahlperiode. Zu Recht fürchten
Sie hier die Kritik Ihrer eigenen Fachpolitiker.
({1})
Wir schreiben nun Parlamentsgeschichte, weil Sie die
Rechte der Opposition und die Rechte des Parlaments
insgesamt mit diesem Beschluss heute hier mit Füßen
treten.
({2})
Nach unserer Geschäftsordnung ist eindeutig vorgesehen, dass selbst mitberatende Ausschüsse Anhörungen
durchführen können. Sie haben in der letzten Sitzungswoche gepennt, als wir Anträge in den Bildungs- und in
den Umweltausschuss überwiesen haben, damit wir dort
eigenständige Anhörungsrechte haben. Sie scheuen
diese Anhörungen, weil Sie die Argumente der Fachpolitik scheuen; denn Sie wissen, dass Sie in der Fachdiskussion keine guten Argumente haben.
({3})
Die Vorsitzende des Umweltausschusses, die Kollegin Petra Bierwirth, sagte auf die Frage, ob sie die Auffassung der Umweltverbände teile, die kritisiert hätten,
dass die Chance auf ein modernes übersichtliches Umweltrecht leichtfertig vertan worden sei:
Ja, diese Einschätzung teilen wir Umweltpolitiker
der SPD-Bundestagsfraktion ebenso.
Kein Wunder, dass Sie nicht wollen, dass die gestern
beschlossene Anhörung des Umweltausschusses stattfindet, Sie befürchten nämlich ein Desaster für den umweltpolitischen Teil der Föderalismusreform.
({4})
Am 23. Januar 2006 verkündete der „Lautsprecher“
der SPD-Bildungspolitik, Jörg Tauss, in einer Pressemitteilung, er wolle Expertengespräche und eine umfangreiVolker Beck ({5})
che Anhörung im Bildungsausschuss des Deutschen
Bundestages durchsetzen. Wo ist denn der „Lautsprecher“ Jörg Tauss heute? Wo versteckt er sich denn? Heute sitzt er ganz hinten. Ansonsten sitzt er immer
vorne und ist darauf auch sehr stolz.
({6})
Als wir nach der Debatte in der letzten Sitzungswoche diese Vorschläge überwiesen haben, sagte der SPDBildungspolitiker Thomas Oppermann zu dem, was Sie
im Bildungsausschuss nicht diskutieren wollen:
Art. 104 b des Grundgesetzes in der neuen Fassung
lässt Finanzhilfen des Bundes an die Länder nicht
mehr zu: gerade auf einem Gebiet, auf dem
Deutschland einen finanziellen und gestalterischen
Kraftakt vor sich hat und deshalb alle verfügbaren
Kräfte und Ressourcen mobilisieren müsste, erscheint ein Finanzhilfe- und Kooperationsverbot
wenig plausibel.
({7})
Sie sehen, dass über die neuen Zuständigkeiten für
Bildung, Wissenschaft und Forschung im Grundgesetz
noch sehr intensiv beraten werden muss.
Genau diese Beratungen wollen wir durchsetzen. Haben Sie keine Angst! Wir machen erst eine Anhörung im
Bildungsausschuss und im Umweltausschuss. Danach
können Sie alles in einer dreitägigen oder auch 14-tägigen Anhörung im Rechtsausschuss zusammenführen.
Diese Anhörungen verschlagen doch nichts. Aber Sie
wollen Ihre eigenen Fachpolitiker zu Zaungästen dieser
Veranstaltung machen, weil Sie sich selber bei Ihrer Reform unsicher sind.
({8})
Ihr Verhalten ist unsouverän und unparlamentarisch.
Ich bitte Sie wirklich, sich das noch einmal zu überlegen.
Gerade weil diese Reform so wichtig ist, können wir es
uns nicht leisten, statt wie erhofft den Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze um 35 oder 40 Prozentpunkte
zu verringern, am Ende nur eine Reduktion um 10 Prozentpunkte und eine Rechtszersplitterung im ganzen
Lande als Ergebnis zu erhalten. Deshalb müssen wir hier
sorgfältig beraten.
Ich sage Ihnen: Die Menschen im Lande wollen die
Rechtszersplitterung mit der doppelten Rückausnahmeregelung, die Sie sich ausgedacht haben, nicht. Vielmehr
wollen sie klare Zuständigkeiten. Gerade da Sie auch
immer an die Wirtschaft denken, meine Damen und Herren von der Union, überlegen Sie sich einmal Folgendes:
Ein Wirtschaftsunternehmer schaut sich die Regelungen
im Umweltgesetzbuch an und hält sich an diese Bestimmungen. Im Ergebnis hat er dann mit Zitronen gehandelt, weil sein Bundesland von diesen Regelungen abweichen durfte und davon im Bundesgesetz nichts stand.
({9})
Solche Regelungen machen die Menschen verrückt.
Einen solchen Murks können wir uns nicht leisten.
Durch eine sorgfältige Beratung können wir vielleicht
eine klügere und mehrheitsfähige Lösung finden. Deshalb lassen Sie uns die Kompetenz des ganzen Hauses
für diese große Staatsreform nutzen, um eine große
Murksreform zu vermeiden!
({10})
Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung. Wer für die Aufsetzung der Anträge auf den
Drucksachen 16/674, 16/654, 16/648 und 16/647 auf die
heutige Tagesordnung stimmt, den bitte ich um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist der Aufsetzungsantrag mit der Mehrheit
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wer für die Überweisungsvorschläge der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD stimmt, wobei die Federführung
beim Rechtsausschuss liegen soll, die bisherigen federführenden Ausschüsse mitberaten sollen und im Übrigen
die Überweisungsbeschlüsse vom 16. Februar 2006 unverändert fortbestehen sollen, den bitte ich um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Auch dies ist mit der gleichen Mehrheit so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 sowie den
Zusatzpunkt 1 auf:
3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
- Zwölfter Kinder- und Jugendbericht und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 15/6014 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Kai Boris Gehring, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Chancen und Perspektiven für Kinder
und Jugendliche in Deutschland
- Drucksache 16/817 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
Zur Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen, die nun anderen Verpflichtungen nachkommen
müssen, möglichst zügig den Plenarsaal zu verlassen.
({2})
Ich darf darum bitten, dass wichtige Staatsgespräche, die
sich aber offenkundig nicht auf diesen Tagesordnungspunkt beziehen, außerhalb des Plenarsaals geführt werden.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst für die Bundesregierung der Bundesministerin
Ursula von der Leyen.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Zwölfte Kinder- und Jugendbericht stellt ganz klar fest:
Auf den richtigen Anfang kommt es an. Für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gibt es keine
wichtigere Aufgabe als die zugewandte, verlässliche und
kompetente Unterstützung aller Kinder, die in diese Gesellschaft hineinwachsen. Jedes Kind braucht seine
Chancen, damit es seine Fähigkeiten entfalten kann, und
zwar von Anfang an. Denn es sind in Wahrheit auch die
Chancen für das ganze Land.
({0})
Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag mit der Vorlage des Kinder- und Jugendberichts die Situation der
Kinder und Jugendlichen in unserem Land regelmäßig in
den Mittelpunkt der parlamentarischen Debatte stellt.
Bildung, Erziehung und Zuwendung müssen Kindern aller Altersstufen zugänglich sein. Dieser Kernbotschaft
des Kinder- und Jugendberichts kann ich voll zustimmen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir aber noch
besser werden. Denn in keinem vergleichbaren Land ist
der Einfluss der Herkunft auf die Bildungschancen so
groß wie in Deutschland.
Wir haben zu lange die Augen vor den Tatsachen verschlossen. Einerseits leisten junge Eltern einen enormen
persönlichen, privaten Einsatz für Erziehung, Bildung
und Zuwendung für ihre Kinder. Andererseits wollen
und müssen diese jungen Eltern in wirtschaftlichen Umbruchzeiten gemeinsam das Familieneinkommen erarbeiten. Verglichen mit der Situation in anderen Ländern
haben diese Eltern in Deutschland relativ wenig Unterstützung in der Infrastruktur rund um Kinder und Familie erhalten.
Im Ergebnis sehen wir, dass bei unseren europäischen
Nachbarn mehr Kinder geboren werden, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie besser gelingt, die Kinder
im Bildungsvergleich besser abschneiden - also mehr innere Ressourcen für die Zukunft mit auf den Lebensweg
bekommen - und die Familienarmut geringer ist. Der
Zwölfte Kinder- und Jugendbericht mahnt dies an und
fordert notwendige Veränderungen.
Die Bundesregierung unterstützt die grundlegende
Richtung des Zwölften Kinder- und Jugendberichts.
({1})
Viele Forderungen, die insbesondere in die Verantwortung des Bundes fallen, finden sich als konkrete politische Verpflichtung im Koalitionsvertrag.
Eltern brauchen eine ökonomische Perspektive. Dort
setzt auch der Kinder- und Jugendbericht mit seiner Forderung an, Eltern finanziell in die Lage zu versetzen,
Kinder im ersten Lebensjahr in der Familie zu erziehen.
Er stellt Folgendes fest:
Die derzeitige Höhe des Erziehungsgeldes scheint
wenig geeignet, jungen Familien einen Ausgleich
gegenüber dem vorgeburtlichen Einkommen zu bieten.
Unsere Antwort auf diese Forderung des Kinder- und
Jugendberichts ist das Elterngeld. Mit dem Elterngeld
signalisieren wir ganz klar: Es ist dem Staat nicht gleichgültig, wenn sich junge Menschen für ein Kind entscheiden. Heute ist es in der überwiegenden Zahl der Fälle so,
dass, wenn ein Kind geboren wird, die Familie wächst,
aber das Einkommen wegbricht. Das Elterngeld mildert
dies in Zukunft ab.
({2})
Außerdem bringt es Anerkennung. Der Staat honoriert
die Erziehungsleistung der Eltern und unterstützt sie mit
dem Elterngeld, sich Zeit für das Neugeborene zu nehmen. Das Elterngeld berücksichtigt aber auch die Wahlfreiheit der Lebensentwürfe.
({3})
Ich will es ganz klar sagen: Das Elterngeld zwingt niemanden in ein bestimmtes Familienmodell. Es ist ein
kluger und effektiver Beitrag, Eltern Zeit zu ermöglichen, in die Rolle des Vaters oder in die der Mutter hineinzuwachsen, und zwar ohne finanziellen Druck. Das
zeigen uns die Erfahrungen aus anderen Ländern.
Unser Latein darf aber nicht am Ende sein, wenn die
Kinder ein, zwei Jahre alt sind. Wir wissen aus der Säuglingsforschung, dass Kinder andere Kinder brauchen,
wenn sie sich gut entwickeln sollen. Wenn es die große
Geschwisterschar nicht mehr gibt, wenn es nicht mehr
selbstverständlich zehn, 15 Gleichaltrige in derselben
Straße gibt, dann müssen wir eben andere Möglichkeiten
schaffen, damit Kinder Beziehungserfahrungen sammeln. Sie sollen mit und durch andere Kinder lernen, mit
ihnen die Welt entdecken und Kontakt zu anderen Erwachsenen aufnehmen. Eine frühe Förderung sorgt für
Bildung im Sinne einer Entdeckermentalität im Alltag.
Eltern werden durch gute Betreuungsangebote dabei
unterstützt, Familie und Beruf zu vereinbaren. Wir wissen aus Untersuchungen, dass 52 Prozent der Eltern mit
Kindern unter sechs Jahren erwerbstätig sein möchten,
bevorzugt der Vater in Vollzeit, die Mutter in Teilzeit.
Doch nur 6 Prozent gelingt es - das ist die Krux -, ihren
Wunsch umzusetzen. Eine vor zwei Tagen veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass es Eltern vor allem wichtig ist, ihre Kinder nicht nur gut betreut, sondern auch gefördert zu wissen. Gerade unter
dem Aspekt der Qualitätsstandards halten sie den flächendeckenden Ausbau einer bedarfsgerechten Kinderbetreuung für vordringlich.
Die große Koalition steht daher zu dem gesetzlich
verankerten Ausbau der Betreuungsangebote für unter
dreijährige Kinder.
({4})
Dies ist als Pflichtaufgabe der Kommunen definiert und
gesetzlich verankert. Für die Umsetzung tragen Bund,
Länder und Kommunen gemeinsam Verantwortung. Ich
betone deshalb, dass die Bundesregierung die den Kommunen zugesicherten 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige ab 2005
bereitgestellt hat. Das ist ein starkes Wort.
({5})
Ich werde in Kürze dem Parlament den ersten Bericht
über den Stand des Ausbaus der Tagesbetreuung für unter Dreijährige vorlegen. Ich begrüße es sehr, dass im
Kinder- und Jugendbericht die Tagespflege und die Betreuung in Einrichtungen gleichgestellt werden. Das entspricht den Bedürfnissen der Eltern; denn Eltern wollen
selbst wählen, wie ihre Kinder betreut werden. Gerade
wenn es um die Jüngsten geht, wählen sie oft eine familiennahe Tagesbetreuung. Das Bundesfamilienministerium unterstützt die Qualifizierung in der Tagespflege.
In wenigen Wochen werde ich das Onlinehandbuch „Tagespflege“ vorstellen, das sich an die verantwortlichen
Akteure vor Ort richtet und Bausteine zum Ausbau der
Kindertagespflege bereithält. Zudem wird die gerade
verabschiedete verbesserte Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten ganz klar mehr Angebote und mehr
Qualität in die Tagespflege bringen.
({6})
Die meisten Eltern sind in der Lage, ihre Kinder gut
zu versorgen, gut zu erziehen und ihnen liebevolle Zuwendung zu geben. Doch wenn Eltern völlig überfordert
sind und mit ihren Kindern in eine Spirale von Isolation,
Gewalt, Vernachlässigung und Verwahrlosung geraten,
dann müssen wir früher hinschauen und rechtzeitig dafür
sorgen, dass Hilfe in den Familienalltag kommt. Der
Kinder- und Jugendbericht bestätigt, dass es richtig ist,
diesen Weg zu gehen. Deshalb entwickeln wir in den
nächsten Monaten auf der Grundlage von Erfahrungen
aus Kommunen und Bundesländern, aber auch aus dem
Ausland Modellprojekte für soziale Frühwarnsysteme.
Das Ziel ist, dabei vor allem die Grenzen zwischen Gesundheitssystem und Jugendhilfe zu überwinden. Wir
haben hier lange wenig getan. Es ist nun an der Zeit,
auch hier den ganzheitlichen Aspekt von Anfang des Lebens des Kindes an ins Auge zu fassen.
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht mahnt außerdem an, dass zu viele Jugendliche heute keine echten
Zukunftsperspektiven haben, vor allem keine Chance
auf dem Arbeitsmarkt sehen. Sie kennen sicherlich die
Zahlen: 9 Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Jede fünfte Berufsausbildung wird abgebrochen, weil die Jugendlichen nicht
gut vorbereitet sind. 15 Prozent der Jugendlichen zwischen 20 und 29 Jahren haben gar keine Berufsausbildung. Ich denke, diese Zahlen verweisen auf eine der
Hauptursachen der Jugendarbeitslosigkeit. Ich stimme
deshalb der Aussage im Kinder- und Jugendbericht zu,
dass alle Jugendlichen zumindest die Chance haben
müssen, gleichberechtigt an Bildung teilzunehmen.
Wir müssen natürlich in den Schulen anfangen. Aber
auch vonseiten des Bundes können wir Wege aufzeigen,
zum Beispiel wenn es darum geht, Jugendliche zurück in
die Schulen zu bringen und ihnen eine zweite Chance zu
geben. In einem bundesweiten Modellprojekt in Zusammenarbeit mit freien Trägern, Jugendämtern und Schulen erproben wir Wege zur Reintegration so genannter
harter Schulverweigerer in die Schulen und begleiten
sie bis zum Schulabschluss. Hinzu kommen die vom
Bundesjugendministerium geförderten Kompetenzagenturen, die die berufliche Integration von benachteiligten Jugendlichen durch passgenaue Angebote verbessern. Dass dies funktioniert, lässt sich eindrucksvoll
belegen. Von den Jugendlichen, die von Kompetenzagenturen betreut wurden, ist fast jeder Zweite in Ausbildung oder Arbeit und jeweils jeder Vierte in ein Förderangebot oder in eine weiterführende Schule vermittelt
worden. Das ist eine gute Bilanz.
Schließlich erhebt der Kinder- und Jugendbericht
auch die Forderung nach einer besseren Infrastruktur für
Familien im Interesse der Kinder und Jugendlichen. Ich
greife die Anregung der Kommission, Familienzentren
einzurichten, gern auf, möchte sie aber noch erweitern
und Mehrgenerationenhäuser schaffen. Denn warum beziehen wir in die Angebote für Familien, Kinder und Jugendliche nicht auch ältere Menschen ein? Ältere Menschen sind heute so gesund, so gut ausgebildet und so
kompetent wie nie zuvor. Paradoxerweise haben wir
kaum Nachfrage nach ihren Kompetenzen. Mehrgenerationenhäuser bieten die Chance dafür.
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht macht uns
darauf aufmerksam, dass noch viel zu tun ist, wenn wir
unseren Kindern Voraussetzungen geben wollen, dass sie
Chancen haben, ihre vielfältigen Fähigkeiten und Talente zu entwickeln. Sie werden in Zukunft viel Verantwortung tragen müssen und es geht um unsere gemeinsame Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({7})
Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin Miriam
Gruß das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass wir
heute an so prominenter Stelle eine Drucksache von
434 Seiten behandeln, in der es ausschließlich um Kinder und Jugendliche in Deutschland geht. Die FDP-Fraktion begrüßt den Zwölften Kinder- und Jugendbericht
und dankt der Sachverständigenkommission für ihre intensive Arbeit.
({0})
In vielen Punkten entsprechen die Empfehlungen der
Experten denen der FDP. Das ist die gute Nachricht. Die
FDP wird die Forderungen des Berichts konstruktiv unterstützen, die die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder
und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen.
({1})
Denn darum muss es uns allen gemeinsam gehen: die
Anliegen der Kinder und Jugendlichen in Deutschland
ernst zu nehmen und ihnen eine möglichst behütete, sorgenfreie und glückliche Kindheit zu ermöglichen.
({2})
Die Bundesregierung hat offenbar ein anderes Verständnis von Kindeswohl. Wie sonst ist es zu erklären, dass
sie mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um
3 Prozentpunkte Familien und damit auch Kinder zusätzlich belasten will?
({3})
Kinder brauchen Eltern, die ihnen ein intaktes und beschütztes Zuhause bieten. Aber Eltern brauchen auch die
Mittel, um ihre Kinder versorgen zu können. Diese Möglichkeit wird ihnen von der jetzigen Bundesregierung
verbaut. Vom „Abenteuer Kinder“ ist in dem Kinderund Jugendbericht die Rede. Laut Duden ist ein Abenteuer ein „riskantes Unternehmen“, eine „gefahrvolle
Situation, die jemand mit Wagemut zu bestehen hat“. Ich
kann gut verstehen, dass junge Menschen es heutzutage
als ein Abenteuer empfinden, sich für Kinder zu entscheiden. Die Menschen fragen sich: Wie kann ich mich
auf ein Kind freuen, wenn ich nicht weiß, wie es mit
meinem Arbeitsplatz weitergeht? Wie soll ich meinen
Kindern eine sorglose Kindheit bieten, wenn alles immer
teurer wird? Kann ich mir ein Kind überhaupt leisten?
Diese Fragen und Zweifel haben Sie zu verantworten,
verehrte Damen und Herren der Bundesregierung.
({4})
Ist es das, was Sie den Menschen suggerieren wollen?
Wollen Sie den Menschen suggerieren, dass Kinder
nichts anderes sind als ein Risiko, ein Experiment oder
gar eine Gefahr? Durch die Mehrwertsteuererhöhung holen Sie sich jeden zusätzlichen Cent zurück, den Sie den
Familien durch das Elterngeld oder die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten gewähren
wollen.
({5})
Und das nennen Sie Familienförderung?
Sie legen Familien noch mehr Steine in den Weg, als
ohnehin schon überwunden werden müssen. Familien
sowie allein erziehende Mütter und Väter haben es heute
in Deutschland schon schwer genug. Es ist doch ein Unding, sie noch stärker durch eine unsoziale und familienfeindliche Erhöhung der Mehrwertsteuer zu belasten.
Wir Liberale wollen jungen Menschen in Deutschland
die Ängste und Sorgen nehmen.
({6})
Wir wollen ihnen die Freiheit bieten, sich für Kinder zu
entscheiden.
Wilhelm von Humboldt hat gesagt:
So wichtig und auf das ganze Leben einwirkend
auch der Einfluss der Erziehung sein mag, so sind
doch noch immer wichtiger die Umstände, welche
den Menschen durch das ganze Leben begleiten.
Wo also nicht alles zusammenstimmt, da vermag
diese Erziehung allein nicht durchzudringen.
Es ist Aufgabe der Politik, die bestmöglichen Umstände
für Familien zu gewährleisten. In diesem Punkt ist Humboldt ganz aktuell. Das haben auch die Autoren des Kinder- und Jugendberichts verstanden: Wichtig ist das Zusammenspiel aller an Bildung, Betreuung und Erziehung
Beteiligten. Kinder und Familie müssen als ein Joint
Venture gelten.
({7})
Grundlage dafür ist ein neuer, umfassender Bildungsbegriff, den die Kommission definiert. Bildung wird
verstanden als das Erlernen der Fähigkeit, sich in der
Gesellschaft zurechtzufinden. Das Kind wird nun als ein
Subjekt gesehen, mit einer eigenen Persönlichkeit, mit
individuellen Talenten und Kompetenzen. Der Vorsitzende der Kommission, Professor Rauschenbach, hat dafür ein schönes Bild gefunden: Bildungsprozesse sind
Bausteine, die Menschen dazu befähigen, zum „Architekturbüro ihrer eigenen Lebensplanung“ zu werden.
Der Bericht fokussiert die Trias Bildung, Betreuung
und Erziehung. Gleichzeitig wird uns in Deutschland
aber in genau diesen Bereichen attestiert, dass wir hier
einen „unübersehbaren Nachholbedarf“ haben. Was
heißt das? Das heißt:
Erstens. Die familiäre Herkunft ist in Deutschland
entscheidend für die Bildungsbiografie eines Kindes.
Zweitens. Die Bedürfnisse der Kinder sind mit den
Lebensentwürfen der Frauen und Männer schwer vereinbar.
Drittens. Ganz Deutschland braucht dringend ein gutes Betreuungsangebot für unter Dreijährige. GleichzeiMiriam Gruß
tig herrschen hier „unübersehbar schwierige fiskalische
Rahmenbedingungen“.
({8})
Viertens. Die pädagogische Qualität in Tageseinrichtungen wird bemängelt und der erhebliche Reformbedarf
in der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher wird
angemahnt.
Fünftens. Es fehlt in Deutschland an einer gründlichen Qualitätssicherung und Evaluation im Bildungsbereich.
({9})
Es kann doch nicht sein, dass Selbstbräunungscremes,
Kartoffelpüree und Digitalkameras permanent auf ihre
Qualität und Verträglichkeit überprüft werden, nicht aber
die Einrichtungen, denen wir unsere Kinder anvertrauen.
({10})
Es gibt einzelne Stichproben und einzelne Studien, zum
Beispiel die von Professor Tietze, übrigens Mitautor des
Kinder- und Jugendberichts, aus dem Jahre 1998, die gezeigt haben, dass nur 30 Prozent der Kindergärten eine
gute Qualität aufweisen. Das heißt, wir Eltern können
gemäß dieser Studie unsere Kinder guten Gewissens nur
jedem dritten Kindergarten anvertrauen.
Wer gleiche Startchancen für Kinder fordert, der muss
auch etwas dafür tun,
({11})
dass öffentliche Angebote in ausreichendem Maß und in
einer geprüften Qualität zur Verfügung stehen. Eltern
müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder
gut aufgehoben sind.
Kinder sind in einem hohen Maß von einer fürsorglichen, beschützenden und emotional sicheren Umgebung abhängig. Dieser Aufgabe und Verantwortung
müssen sich Eltern und Bindungspersonen jederzeit bewusst sein. Leider ist dies nicht immer der Fall. Immer
mehr Eltern sind mit dem Spagat zwischen den hohen
Ansprüchen, die Kinder zu Recht stellen, und der Existenzsicherung der Familie überfordert. Die schreckliche
Wahrheit der vergangenen Woche hat uns dies wieder
einmal deutlich vor Augen geführt: Am 27. Februar berichtet dpa: Mutter gesteht Kindstötung - Leiche lag
monatelang in Kühltruhe. - Einen Tag später vermeldet
die Agentur: Neunjähriger Stiefsohn erwürgt. - Heute
genau vor einer Woche schreibt die Presseagentur AFP:
„Totes Baby in Papiersortieranlage in Nordfriesland entdeckt“. Am vergangenen Freitag mussten wir über ein
verwahrlostes Kind in Hamburg lesen: Vater pflegt Waffensammlung statt achtjährigen Sohn. - Meine Damen
und Herren, das ist die traurige Realität von Kindern in
Deutschland aus der vergangenen Woche.
Allen klugen Empfehlungen des Zwölften Kinderund Jugendberichts gebührt Anerkennung und eine fundierte Debatte über ihre Umsetzung, aber gegen diese
bittere Wirklichkeit bleiben sie blass.
({12})
Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem Reden
und Ratschläge nicht mehr weiterhelfen. Wenn Meldungen wie diese beinahe alltäglich werden, ist es an der
Zeit, zu handeln.
Ich habe es vorhin schon gesagt: Kinder sind auf die
Fürsorge, die Verantwortung und die Pflege der Erwachsenen besonders angewiesen. Sie sind das schwächste
Glied in unserer Gesellschaft und gleichzeitig unsere Zukunft. Dem Entwurf für eine EU-Verfassung und verschiedenen Landesverfassungen ist der Schutz von Kindern eigene Passagen wert, nicht aber unserem
Grundgesetz. Auch der Nationale Aktionsplan „Für ein
kindergerechtes Deutschland“ weist in die folgende
Richtung: Die Bedeutsamkeit von Kindern für unsere
Gesellschaft gebietet es, ihren Schutz im Grundgesetz
ausdrücklich zu verankern. Wir müssen den besonderen
Schutz von Kindern explizit in das Grundgesetz aufnehmen.
Wir brauchen keine Politik der besten Absichten. Was
wir brauchen, ist eine Politik der besten Ergebnisse für
Kinder und Familien.
({13})
Deshalb bitte ich Sie, Frau von der Leyen: Erschweren
Sie Familien nicht das Leben durch eine schädigende
Mehrwertsteuererhöhung! Bauen Sie nicht noch höhere
Hürden für junge Menschen auf, die mutig sind und das
„Abenteuer Kind“ wagen wollen! Sorgen Sie dafür, dass
Kinder nicht die Leidtragenden der Finanzknappheit öffentlicher Kassen sind!
({14})
Räumen Sie dem Schutz von Kindern und ihren Rechten
den Status ein, den sie verdienen! Unsere Gesellschaft
hat ohne Kinder keine Zukunft. Sie sind unser wunderbarster Reichtum. Lassen Sie uns dies endlich zur Maxime unseres Handelns machen!
({15})
Frau Kollegin Gruß, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulieren
möchte - verbunden mit allen guten Wünschen für die
weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Kerstin Griese für die
SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht: Das sind über 350 Seiten eines
starken Plädoyers für mehr Chancen für Kinder und Jugendliche. Das ist zugleich ein Appell an die Politik und
an die Gesellschaft insgesamt, die Verantwortung für die
Zukunft von Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen.
({0})
- Auch ich gratuliere noch einmal der Kollegin Gruß.
Wenn ich das von dieser Stelle aus kollektiv mache, geht
es vielleicht schneller.
({1})
Ich danke den Mitgliedern der Kommission, die den
Zwölften Kinder- und Jugendbericht erstellt hat, und ihrem Vorsitzenden Professor Rauschenbach - sie alle hören uns, wie ich glaube, jetzt zu - auch im Namen der
SPD-Fraktion ganz herzlich für ihre Arbeit und das gute
Werk, das sie erstellt haben. Sie haben uns damit viele
wichtige Daten und Argumente an die Hand gegeben.
Vielen Dank.
({2})
Ich danke Ihnen auch für den kommunikativen Prozess, in dem dieser Bericht entstanden ist. Es handelt
sich nämlich nicht um einen Bericht, der im stillen Kämmerlein geschrieben wurde, sondern um einen, der mit
gesellschaftlichen Gruppen, Verbänden, Fachleuten und
auch bei uns im Jugendausschuss im Januar 2005 sehr
intensiv und sehr spannend diskutiert wurde. Auch deshalb, weil bei der Erstellung dieses Berichtes enge Kommunikation mit der Politik gepflegt wurde, konnte vieles, was Sie dort entwickelt haben, in die Tagespolitik
einfließen und angedacht werden. Die frühere SPD-Regierung hat schon vor Jahren damit begonnen, mehr in
Bildung und Betreuung zu investieren, um Kindern früher bzw. mehr Chancen zu geben.
({3})
Ich bin sehr froh und danke Ihnen, Frau Ministerin von
der Leyen, dass sich dieser Ansatz wie ein roter Faden
durch unsere gemeinsamen Vereinbarungen für die Kinder-, Jugend- und Familienpolitik für die nächsten Jahre
zieht und dass Sie auch in diesem Punkt an die Politik
Ihrer Vorgängerin Renate Schmidt anknüpfen.
Ich will etwas zu den Hauptbotschaften des Kinderund Jugendberichtes sagen und dazu, wo nach Auffassung der SPD Schwerpunkte gesetzt werden müssen:
Erstens. Der Bericht macht ganz klar: Wir müssen die
Spirale von Armut und mangelnden Bildungschancen
durchbrechen. Besonders Kinder und Jugendliche, die in
sozialen Brennpunkten leben oder einen Migrationshintergrund haben, haben weniger Bildungschancen; das
heißt zugleich, auch immer weniger Zukunftschancen.
Der Bericht sagt, nicht alle Kinder haben die gleichen
Zugänge zu einer guten Entwicklung. Es gibt immer
noch viel zu viele Kinder, die ohne ein gesundes Frühstück aus dem Haus gehen und zu Hause kein Buch vorgelesen bekommen, sondern eher Fastfood und Fernsehen in der Freizeit konsumieren. Das sind
Alltagsrealitäten. Da müssen wir noch stärker auf dem
aufbauen, womit wir begonnen haben, noch stärker vernetzte Angebote in den Stadtteilen machen, früher beginnen, Kinder zu fördern, sowie stärker die Eltern einbeziehen und unterstützen.
({4})
Auch das steht in dem Bericht. Es geht also in der Kinder- und Jugendpolitik um die soziale Integration und
um bessere Teilhabemöglichkeiten für Kinder. Das
Motto „Auf den Anfang kommt es an“, das wir als SPD
als Überschrift gewählt haben und das auch jetzt die
Kinder-, Jugend- und Familienpolitik weiter durchzieht,
verlangt ein Handeln nach der Devise: Je früher man Eltern unterstützt, Familien begleitet und Kinder fördert,
desto positiver. Der Vorschlag des Berichtes, mehr vernetzte Angebote, so genannte Häuser für Familien, zu
schaffen, verdient unseres Erachtens besondere Beachtung. Mit der Förderung von Mehrgenerationenhäusern - Frau Ministerin hat es schon gesagt - und von Familien- bzw. Eltern-Kind-Zentren greifen wir diese Idee
auf. Das ist wichtig für die Entwicklung in den Stadtteilen.
Die zweite wichtige Botschaft lautet: Wir müssen die
gesellschaftliche Verantwortung für Bildung, Betreuung
und Erziehung stärken. Auch da bin ich stolz auf das,
was die frühere SPD-Regierung schon begonnen hat. Ich
erinnere an das 4-Milliarden-Euro-Programm für mehr
Ganztagsschulen - in NRW gibt es jetzt schon
1 000 offene Ganztagsgrundschulen; das ist ein Erfolgsprojekt ({5})
und an das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das den Ausbau der Betreuung für die unter Dreijährigen vorsieht.
Ich will in dem Zusammenhang auch den Erzieherinnen
und Erziehern danken. Ich weiß, dass sie immer viel kritisiert und beschimpft werden, obwohl sie eine wirklich
schwere Arbeit für wenig Geld machen. Wir sollten eigentlich dafür sorgen, dass sie mehr Chancen auf Weiterbildung erhalten, und so neue Wege aufzeigen, statt immer nur zu sagen, die Erzieherinnen und Erzieher in
Deutschland seien alle schlecht.
({6})
Sie sind es nicht. Sie leisten eine wichtige Arbeit. Zugleich müssen ihnen aber mehr Möglichkeiten für Weiterbildung eröffnet werden.
({7})
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zur Botschaft von der
gesellschaftlichen Verantwortung für den Ausbau von
Bildung und Betreuung gehört, ist der Rechtsanspruch
auf einen Kindergartenplatz. Die große Koalition hat
deutlich gesagt, dass dieser Rechtsanspruch auf einen
Kitaplatz ab dem zweiten Lebensjahr kommen wird,
wenn der Ausbau in den Kommunen nicht zügig genug
vorangeht. Dazu stehen wir und das werden wir durchziehen.
({8})
Die dritte wichtige Botschaft lautet: Wir brauchen einen umfassenderen Begriff von Bildung. Diesen Punkt
behandelt der Bericht sehr deutlich und ausführlich. Bildung findet viel früher statt und in viel mehr Kontexten,
als man noch vor einigen Jahren dachte. Bildung findet
nicht nur in der Familie statt, sondern auch in der Nachbarschaft, im Kindergarten, in der Freizeit und in den
Medien. Bildung ist eben nicht nur mit Schule gleichzusetzen, sondern bedeutet, dass Kinder vielfältige Kompetenzen entwickeln. Da betont der Kinder- und Jugendbericht ganz ausdrücklich die frühkindliche Bildung und
empfiehlt deshalb auch, mehr Möglichkeiten zu schaffen, damit Kinder schon ab dem zweiten Lebensjahr,
also nach dem ersten Geburtstag, einen Kindergarten besuchen können. Unter dem schönen Motto „Kinder brauchen mehr als Windeln“ weist der Kinder- und Jugendbericht darauf hin, dass der Kontakt zu Gleichaltrigen als
Ergänzung zur Erziehung in der Familie wichtig ist.
({9})
Die vierte wichtige Botschaft des Berichtes: Wir
brauchen eine nachhaltige Familienpolitik, um Kinder
und Jugendliche zu stärken. Dazu gehört der Ausbau der
Betreuung. Der Bericht weist aber auch noch einmal
sehr deutlich darauf hin, dass wir etwas tun müssen, um
im ersten Lebensjahr des Kindes die Eltern finanziell zu
unterstützen. Deshalb ist der Weg der großen Koalition,
das Elterngeld einzuführen, richtig.
({10})
Ich wundere mich immer über den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten, der einerseits das Elterngeld ablehnt und gleichzeitig im eigenen Land massive
Kürzungen bei Kindertageseinrichtungen, bei der Familienbildung und bei der Jugendförderung vornimmt.
Wenn das Jahr 2006 zum Jahr des Kindes ausgerufen
wird, gleichzeitig aber 75 Millionen Euro bei den Kindergärten gekürzt und stattdessen Polizeipferde und
Landwirtschaftskammern unterstützt werden, dann empfehle ich die Lektüre des Kinder- und Jugendberichtes.
Das müsste eigentlich zu einem Umdenken führen.
({11})
In dieser Woche will ich auch eine Anmerkung zu einem Thema machen, das heute früh schon auf der Tagesordnung stand, nämlich die Reform unserer Verfassung.
Ich denke, wir sollten bei dieser Reform darauf achten,
dass wir handlungsfähig bleiben und uns nicht den Weg
verbauen, notwendige Schritte für die Verbesserung der
Chancen von Kindern und Jugendlichen zu tun. Viele
von uns haben die Umsetzung des 4-Milliarden-EuroProgramms für mehr Ganztagsschulen begleitet. Das
war ein außerordentlich wichtiger Schritt. Es war sehr
schwierig, das im Föderalismus umzusetzen; aber es war
nicht unmöglich. Wir sollten uns solche Möglichkeiten
erhalten; denn Deutschland ist eines der letzten Länder
Europas, die noch eine Halbtagsschule haben. Wenn wir
hier den Anschluss an die europäische Entwicklung
schaffen wollen, müssen wir in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Bildungspolitik und bei den Investitionen
für Kinder und Jugendliche bundesweite Standards setzen können.
({12})
Noch ein Satz zur aktuellen Diskussion über die
Gebührenfreiheit von Kindertageseinrichtungen, die
wir alle zu Recht, wie ich finde, immer wieder fordern:
Ja, auch die SPD will langfristig die Gebührenfreiheit.
Unser erster Schritt ist der Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten. Das ist immer noch nötig, auch angesichts der
regionalen Unterschiede. Wir wollen, dass alle Kinder in
den Kindergarten gehen können und vor der Schule die
deutsche Sprache richtig lernen können. Das ist ganz
wichtig.
({13})
Ich weise auf ein Beispiel hin, wie das positiv umgesetzt werden kann. Rheinland-Pfalz hat das Programm
„Zukunftschance Kinder: Bildung von Anfang an“ umgesetzt. Dort ist seit dem 1. Januar dieses Jahres das
letzte Kindergartenjahr gebührenfrei. Gleichzeitig werden die Kindergärten schon für Zweijährige geöffnet und
damit auch in der Fläche erhalten. Da hat Kurt Beck, wie
ich finde, eine gute Tat vollbracht und ein sinnvolles
Programm vorgeschlagen.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Erich Kästner hat
einmal gesagt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Das Beispiel in Rheinland-Pfalz zeigt: Man kann es tun,
wenn man will. Man kann mehr investieren für Kinder
und Jugendliche. Man kann die Prioritäten richtig setzen,
wie uns das auch der Kinder- und Jugendbericht vorschlägt.
Ich finde, dass wir auf der Bundesebene in der großen
Koalition auf einem guten Weg sind, diese Priorität in
der Kinder- und Jugendpolitik gut zu setzen.
({15})
Unser roter Faden ist, dass Kinder eine gute Zukunftschance haben. Das ist unsere Politik für mehr Chancen
für Kinder. Denn nur eine kinderfreundliche Gesellschaft hat eine gute Zukunft. In diesem Sinne hoffe ich,
dass wir daran gemeinsam weiterarbeiten.
Vielen Dank.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Zum wievielten Mal stehen
bzw. sitzen wir heute eigentlich im Deutschen Bundestag und beklagen gravierende Mängel im deutschen
Bildungs- und Betreuungssystem? Diejenigen unter Ihnen mit mehr Sternchen vor dem Namen im Kürschner
als ich dürften sich an das eine oder andere Mal noch erinnern.
Nun haben wir es mit der etwas außergewöhnlichen
Situation zu tun, dass der Bericht durch die abgewählte
rot-grüne Bundesregierung in Auftrag gegeben und die
vorliegende Stellungnahme ebenfalls durch die Vorgängerregierung vorgelegt wurde. Ich freue mich daher sehr,
dass Frau Ministerin von der Leyen zahlreiche Einschätzungen und Empfehlungen des Berichts teilt.
Welches sind die wichtigsten Feststellungen und Forderungen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts und
welche Schlussfolgerungen sollten wir daraus ableiten?
Die Berichtskommission und die Stellung nehmende
Bundesregierung sind sich darüber einig, dass es gravierende Mängel im öffentlichen Bildungs-, Betreuungsund Erziehungsangebot gibt, und konstatieren übereinstimmend einen großen Nachholbedarf. Ich begrüße besonders das von der Bundesregierung in diesem Zusammenhang abgelegte Bekenntnis zu einem öffentlich
verantworteten System von Bildung, Betreuung und Erziehung sowie zur Verantwortung von Politik für die
Schaffung guter Rahmenbedingungen für das Heranwachsen der jungen Generation. Ich sehe in diesem Bekenntnis der Bundesregierung einen Anlass für einen
Politikwechsel, mit dem die Interessen von Kindern und
Jugendlichen wirklich in den Mittelpunkt gestellt werden und all jenen eine Absage erteilt wird, die Kinderund Jugendpolitik für Luxus halten.
Mit einem Lächeln aufgenommen habe ich das Bedauern der Bundesregierung darüber, dass sich die Berichtskommission nur unzureichend mit dem abgestimmten System in der DDR von Bildung, Betreuung
und Erziehung vom frühen Kindesalter bis zur Ausbildung als Teil deutscher Entwicklung auseinander gesetzt
hat. Ich zitiere aus der Stellungnahme der Bundesregierung:
Der Bericht beansprucht, die bisherige Situation in
Deutschland zu erfassen, und wird dem durch die
im Schwerpunkt eingenommene westliche Perspektive nicht gerecht.
Ich hoffe, die jetzige Bundesregierung schließt sich
schon allein aufgrund der Herkunft der Vorsitzenden von
zwei der drei regierungsbildenden Parteien dem Standpunkt an, dass die Erfahrungen des Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungssystems der DDR zur Verbesserung der jetzigen Situation beitragen können.
({0})
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht steht unter
dem Leitgedanken „Bildung, Betreuung und Erziehung
vor und neben der Schule“. Bereits die kleine Abwandlung im Titel des Berichts - es sollte ja „vor und in der
Schule“ heißen - zeigt, dass die Berichtskommission erkannt hat, dass sich das Leben von Kindern und Jugendlichen an unterschiedlichen Orten abspielt und auf vielfältige Weise geprägt wird. Die Verfasser des Berichts
ziehen eine analytische Grenze am Ende des Besuchs der
allgemeinbildenden Schule. Diese Einschränkung darf
aber nicht den Blick auf eine ganzheitliche Analyse der
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen verstellen.
({1})
Zu diesen Rahmenbedingungen gehören auch die immer stärker um sich greifende Prekarisierung und Verunsicherung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
Diese haben ebenso Auswirkungen auf die Lebenswelt
von Kindern und Jugendlichen wie die Tatsache, dass
Familien nach dem althergebrachten Bild „verdienender
Vater, erziehende Mutter“ längst nicht mehr die dominante Lebensweise sind, in die Kinder hineingeboren
werden. Immer öfter erleben Kinder und Jugendliche
Brüche und Veränderungen von familiären Situationen.
Welche Folgen hat dies nun für die Entwicklung von
Kindern und Jugendlichen? Familie und Schule haben
ihren monopolartigen Anspruch auf die Organisierung
und Umsetzung von Bildung, Betreuung und Erziehung
verloren. Kinder und Jugendliche verbringen einen großen Teil ihrer Zeit an anderen Bildungsorten und in anderen organisatorischen Zusammenhängen. Musik- und
Kunstschulen, selbst organisierte Jugendgruppen oder
einfach lose Gruppen von Gleichaltrigen spielen eine
immer stärker werdende Rolle. Die Berichtskommission
unterstreicht zu Recht, dass diesen Lernwelten eine größere Bedeutung zukommt.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf zwei
Punkte aufmerksam machen, die man auch nachlesen
kann.
Erstens. Bereits 1973 stellte die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung in ihrem Bildungsgesamtplan fest:
Das Bildungswesen umfasst nach neuem Verständnis nicht nur Schule, Hochschule und berufliche
Bildung, sondern auch die Elementarerziehung,
eine systematisierte Weiterbildung und die außerschulische Jugendbildung.
Sie setzte sich deshalb folgendes Ziel:
Verbesserte Koordinierung der Arbeit öffentlicher
und freier Träger und verstärkte Kooperation der
außerschulischen Jugendbildung mit dem übrigen
Bildungswesen.
Diese Forderung findet sich nun auch im Zwölften Kinder- und Jugendbericht wieder. Hier wird großer Wert
auf die Förderung der Zusammenarbeit von Schule, Familie und Jugendhilfe gelegt.
Zweitens. Nun haben wir es aber gleichzeitig mit der
Situation zu tun, dass wir uns morgen in diesem Saal mit
der geplanten Föderalismusreform beschäftigen. Bestandteil dieses Reformvorhabens ist die teilweise Zerschlagung dieser Trias. Denn zumindest auf der Bundesebene wird der Einfluss auf Bildungsstandards und
Bildungschancen aus der Hand gegeben. Nur auf die
Vernunft der Kultusministerkonferenz zu setzen, wie es
der Brandenburger Staatskanzleichef Clemens Appel
von der SPD gestern in der „Märkischen Allgemeinen
Zeitung“ verlautbart hat, ist mir, ehrlich gesagt, zu riskant.
({2})
Ich fordere vor allem die SPD-Mitglieder im Bundestag und Bundesrat auf, diese „größte Kröte“ - Zitat
Appel - nicht zu schlucken.
({3})
Ich warne in diesem Zusammenhang auch davor, das
Kinder- und Jugendrecht aus der Bundeshand zu geben.
Sparzwänge und das Deckmäntelchen Bürokratieabbau
könnten in vielen Bundesländern schnell zu eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten der Jugendämter
führen. Dies darf im Interesse der Kinder und Jugendlichen nicht geschehen.
({4})
Nach meiner Auffassung und der meiner Fraktion
muss die Bundesregierung ihrer Verantwortung für den
chancengerechten Zugang zu allen Lernwelten nachkommen.
Stichwort „chancengerechter Zugang“: Ein realistischer Blick offenbart, dass sich die Chancen vieler Kinder und Jugendlicher auf einen gelungenen Start in ein
selbst bestimmtes Leben in den letzten Jahren massiv
verschlechtert haben. Die Kinder- und Jugendarmut
steigt konstant. Im Kinder- und Jugendbericht wird die
Situation in angemessener Weise und mit zutreffenden
Befunden geschildert. Seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts steigt die Armutsquote unter Kindern und Jugendlichen. Die Verschärfung der Sozialgesetze hat im
Jahr 2005 zu einer erheblichen Verschärfung geführt.
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband errechnete
für Mitte 2005, dass sich bundesweit fast jedes siebente
Kind unter 15 Jahren im Sozialgeldbezug befand.
Im Osten Deutschlands ist das Armutsrisiko noch
größer. In einer Schulklasse mit 28 Kindern leben durchschnittlich sieben unterhalb der Armutsgrenze. Ein
ebenso hohes Armutsrisiko haben Kinder nicht deutscher Eltern oder von Alleinerziehenden.
Armut umfasst aber nicht nur einen Mangel an finanziellen Ressourcen, sondern auch an sonstigen materiellen und immateriellen Gütern, Einschränkungen in sozialen und kulturellen Belangen, einen erschwerten
Zugang zu allgemeiner Infrastruktur und wirkt sich nicht
zuletzt auch auf den gesundheitlichen Zustand aus. Die
Bundesregierung weist in ihrer Stellungnahme zwar auf
die Gefahr von „Armuts-Bildungs-Spiralen“ hin, legt
aber kein Konzept gegen diese insgesamt beunruhigende
Entwicklung vor.
Schon 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung
({5})
stellte der Philosoph Konfuzius fest:
Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine
Standesunterschiede machen.
Diese Weisheit sollte Grundlage für die künftige Kinder,
Jugend- und Bildungspolitik der Bundesregierung sein.
({6})
Für den Fall, dass Ihnen dieses Zitat zu alt oder zu
weit hergeholt erscheint, hier eines aus der jüngsten Geschichte: Die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
stand unter dem Leitgedanken „Mehr Freiheit wagen“.
Lassen Sie mich dazu den polnischen Friedensnobelpreisträger Lech Walesa zitieren:
Der Mensch ist nicht frei, wenn er einen leeren
Geldbeutel hat.
({7})
Deshalb finden Sie in unserem Entschließungsantrag
zum Kinder- und Jugendbericht unter anderem die Forderung nach Anhebung des Kindergeldes auf 250 Euro
als einen ersten Schritt in Richtung einer sozialen
Grundsicherung für alle Kinder.
Mit einer weiteren Forderung, und zwar der nach dem
elternbeitragsfreien Zugang zu öffentlichen Kindertageseinrichtungen für alle Kinder, schließen wir uns einer
Empfehlung der Berichtskommission an.
Wie im Bericht festgehalten wird, darf frühkindliche
Bildung nicht nur als Vorbereitungszeit für die Schule
gesehen werden. Die frühkindliche Betreuung muss darüber hinaus qualitativ verbessert werden. Die Ausbildungsstandards für Erzieherinnen und Erzieher müssen
den künftigen Ansprüchen besser genügen. Ihre Ausbildung muss ein praxisorientiertes Hochschulstudium werden.
({8})
Ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher müssen außerdem kontinuierlich weitergebildet werden.
Ich betone es noch einmal: Wir fordern den elternbeitragsfreien Zugang zu öffentlichen Kindertageseinrichtungen für alle Kinder. Damit verknüpfen wir die Forderung nach der Ausweitung des Rechtsanspruchs auf
einen Kinderbetreuungsplatz ab der Geburt. Diese
Ansprüche sind als Rechte der Kinder und unabhängig
vom sozialen Status der Eltern zu gestalten. Im Bericht
wird dieser Rechtsanspruch für zweijährige Kinder ab
2008 und ab 2010 für alle Kinder mit der Geburt gefordert.
Die Bundesregierung hält diese Forderung für verfrüht. Wie verträgt sich diese Einschätzung aber mit dem
in ihrer Stellungnahme erklärten Ziel - ich zitiere -,
„Deutschland bis zum Jahr 2010 zu einem der kinderund familienfreundlichsten Länder Europas zu machen“? Das Tagesbetreuungsausbaugesetz, in dem bis
zum Jahr 2010 230 000 neue Betreuungsplätze versprochen werden, reicht für die Umsetzung dieses Ziels nicht
aus ({9})
schon allein deshalb nicht, weil die versprochene Entlastung der Länder und Kommunen in Höhe von jährlich
2,5 Milliarden Euro durch die Zusammenführung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Jahr 2005 nicht so
eingetreten ist. Also können Länder und Kommunen davon auch nicht 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau der
Kinderbetreuung für unter Dreijährige verwenden. Beispiel Land Brandenburg: Allein in diesem Bundesland
stehen die Landkreise als Träger der kommunalen Kindertageseinrichtungen in diesem Jahr nach Aussage des
Landkreistages mit 300 Millionen Euro in der Kreide.
Das ist so viel wie noch nie.
Wenn sich also die Bundesregierung 2010 mit dem
Prädikat „kinder- und familienfreundliches Land“
schmücken will, muss sie nicht nur die Rechtsansprüche
ausweiten und die Qualität der Betreuung verbessern,
sondern auch Länder und Kommunen verlässlich in die
Lage versetzen, diese Ansprüche umzusetzen.
({10})
Werte Kolleginnen und Kollegen, die im Zwölften
Kinder- und Jugendbericht benannten Probleme dürfen
nicht weggeredet werden. Der Bericht ist kein Anlass für
Sonntagsreden, sondern für einen politischen Kurswechsel im Sinne der Kinder und Jugendlichen.
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir
brauchen, ist doch tatsächlich eine grundsätzliche Neuausrichtung der Kinder- und Jugendpolitik, und zwar in
allen Bereichen.
({0})
- Ja, ich komme gleich noch zur CDU/CSU-Fraktion.
Gehen Sie doch lieber in Deckung, bevor Sie jetzt schon
Zwischenrufe machen!
({1})
Die Vertreter der CDU/CSU wissen ja, dass zuvörderst die Bundesländer, also im Augenblick mit Mehrheit CDU- bzw. CSU-Ministerpräsidenten, für die Kinder- und Jugendpolitik zuständig sind.
({2})
In diesem Land haben wir diesbezüglich ein Defizit. In
diesem Land merkt man immer noch, aus welchen
Schichten, aus welchen Familien Kinder kommen. Bildung, Lebens-, Teilhabe- und Berufschancen hängen immer noch vom Geldbeutel der Eltern ab. Ob ein Kind gesund ist oder ob es chronische Erkrankungen hat, hängt
in diesem Land überproportional vom Geldbeutel der Eltern ab. Genau deshalb brauchen wir eine systematische
Veränderung der Kinder- und Jugendpolitik, nicht nur
auf Bundesebene, sondern vor allem in den Ländern.
({3})
Ich will Ihnen sagen, um was es an der Stelle geht: Es
geht um ein kindgerechtes und gesundes Lebensumfeld. Dabei geht es nicht allein um die Punkte, die hier
schon angesprochen worden sind; dabei geht es natürlich
auch zum Beispiel um Umweltfragen. Auch REACH,
die Chemikalienrichtlinie der EU, wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Das müsste man auch unter
dem Gesichtspunkt angehen: Welcher Belastung sind eigentlich Kinder ausgesetzt? Um ein weiteres Beispiel zu
nennen: Wann wird die Schadstoffbelastung in den Städten nicht nur auf Höhe der Nasen der Erwachsenen,
sondern auch auf Höhe von Nasen der zwei- oder dreijährigen Kinder, also direkt am Auspuff des Autos, gemessen? Auch das ist damit gemeint, wenn wir sagen,
das Lebensumfeld muss verändert werden.
({4})
Wir brauchen eine gute und gesunde Schule, einen
guten und gesunden Kindergarten, wobei Sport, die richtige Ernährung und Verlässlichkeit dazu gehören. Wir
brauchen ferner eine kinderfreundliche Stadtplanung. Es
sollte nicht so sein, dass man Eintritt zahlen muss, damit
sich ein Kind in der Freizeit körperlich bewegen kann.
Ebenfalls brauchen wir neue Bedingungen für das Leben
mit Kindern im Rahmen der Arbeitswelt. Schließlich benötigen wir auch noch Folgendes: Die öffentlichen
Haushalte müssen daraufhin auf den Prüfstand gestellt
werden, ob Ausgaben für Kinder wirklich in den Mittelpunkt gestellt werden oder ob an alten Subventionen und
Privilegien festgehalten wird.
({5})
- Gut, dass ein Zwischenruf von der FDP gekommen ist.
Das Folgende wollte ich nämlich noch zu der Rede von
Frau Gruß, einer meiner Vorrednerinnen, sagen - ich
wollte es nicht als Zwischenruf machen, weil es ihre
erste Rede war -: Ihre Rede war schön und hörte sich gut
an. Sie waren für Joint-Venture-Projekte; Sie wollten,
dass wir endlich Geld in Kinder investieren. Aber Ihre
Rede ist doch, noch bevor Sie sie gehalten haben, wie
ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Wo ist denn
der FDP-Antrag? Sie wollten ihn hier einbringen, aber
Ihre Finanzer haben ihn zurückgezogen, weil die in ihm
enthaltenen Vorschläge zu viel Geld kosten. So stellt
man Kinder nicht in den Mittelpunkt seiner Politik. Das
ist eben eine zentrale Gerechtigkeitsfrage.
({6})
Wenn Sie, Frau von der Leyen, sagen - auch im Kinder- und Jugendbericht steht das -, wir haben einen unübersehbaren Nachholbedarf, kann ich Ihnen nur entgegnen: Dieser Nachholbedarf ist auch ein Stück weit
das Ergebnis - wie in Italien oder Spanien - einer konRenate Künast
servativen Familienpolitik. Wir könnten längst weiter
sein.
({7})
Das hat ja hier keiner vergessen: Im Jahre 2004 haben
die CDU- bzw. CSU-regierten Länder nahezu hasserfüllt
gegen das Tagesbetreuungsausbaugesetz gestimmt, weil
sie behauptet haben, wir wollten die Frauen aus den Familien herausdrängen.
({8})
Ich sage Ihnen: Die jungen Frauen wollen beides, Erwerbstätigkeit und Kinder. Aber Sie müssen sie auch lassen und ihnen tatsächlich eine Wahlfreiheit geben; darum geht es.
({9})
Sie, Frau von der Leyen, wollen jetzt etwas ändern
und setzen dabei auf Geld. Das allein genügt nicht. Denn
das Modell, das Sie vorgeschlagen haben, ist ein Glücksfall für die Steuerberater. Sie und auch diejenigen, die
heute schon über Privilegien verfügen, bekommen Privilegien eingeräumt.
({10})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage; davon haben wir beide
mehr.
({11})
Wenn Sie sich das Modell genauer ansehen, stellen Sie
fest, dass diejenigen, die heute über wenig Einkommen
verfügen, viel weniger bei den Steuern werden absetzen
können. Ich sage Ihnen dagegen: Uns muss jedes Kind
gleich viel wert sein; das Kind derer, die schon Geld haben, darf uns nicht mehr wert sein.
({12})
Frau Kollegin Künast, die Bestellung von Zwischenfragen ist zwar in der Geschäftsordnung nicht ausdrücklich vorgesehen, aber immer wieder beliebt. Und prompt
hat sich die Kollegin Lenke auch zu einer solchen Zwischenfrage bereit gefunden. Stimmen Sie dem Begehren
zu?
Bitte.
Frau Künast, ich stimme mit Ihrer Kritik überein, dass
das vermurkste Modell der Kinderbetreuungskosten der
großen Koalition den Steuerberatern viel zu tun gibt. Ich
sage Ihnen aber auch: Sie haben in der letzten Legislaturperiode dafür gesorgt, dass die ersten 1 500 Euro gar
nicht absetzbar sind. Das ist der größte Murks gewesen,
der jetzt von der großen Koalition zu einem kleineren
Murks umgewandelt wird. Daher frage ich Sie: Waren
Sie mit dem Modell Ihrer rot-grünen Koalition so einverstanden, dass Sie dafür in der letzten Legislaturperiode
die Hand gehoben haben?
Die FDP ist sehr koalitions- und kompromisserfahren,
daher kann ich Ihnen Ihren Einwand als Koalitionskompromiss zurückgeben. Ich freue mich jedoch, dass auch
die FDP vorwärts will.
({0})
Vielleicht können wir - wir haben uns mit einem Antrag
festgelegt - jetzt gemeinsam über für die Zukunft wichtige Fragen reden. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz war schon immer grüne Position. Wir
brauchen einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung.
Dabei geht es um eine zentrale Infrastruktur. Vielleicht
können Sie dabei mitmachen und Ihren Antrag entsprechend gestalten.
({1})
Wer heute Kinder haben will, braucht Infrastruktur,
Geld und Zeit. Deshalb reicht es nicht, Frau von der
Leyen, nur davon zu reden, dass es auf den Anfang ankomme. Sie müssen darüber hinaus auch für die Strukturen sorgen. Schöne Worte reichen hier nicht aus. Werfen
Sie sich bei der Verfassungsreform in die Bresche! Es
kann doch nicht sein, dass Sie hier sagen, auf den Anfang kommt es an, und den Bund bei der Verfassungsreform aus dem gesamten Themenkomplex „Kinder und
Bildung“ herauskatapultieren und ihm nicht einmal mehr
die Möglichkeit einräumen, Kindern in armen Bundesländern mit Finanzmitteln hilfreich unter die Arme zu
greifen. Es ist doch nötig, verschuldeten Bundesländern
dabei zu helfen, die Infrastruktur, beispielsweise Ganztagsschulen, auszubauen. Ich sage Ihnen: Wir müssen
jetzt etwas tun und nicht erst im Jahr 2010.
({2})
Wir wollen den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr. Frau von der Leyen, Sie
haben ehrgeizige Ziele für das Jahr 2010, aber wir haben
jetzt schon März 2006. Wenn Sie darauf warten, dass die
Länder etwas aufbauen, werden zwei, drei Jahre vergehen und Sie haben bis dahin vielleicht ein Gesetz verabschiedet, aber im Vergleich mit anderen Ländern liegen
wir noch weiter zurück. Deshalb müssen wir jetzt springen. Auf den Anfang kommt es an. Das gilt nicht nur für
die Kinder, sondern auch für die CDU/CSU und diese
Regierung.
({3})
Wir wollen Kinder in den Mittelpunkt unserer Politik
stellen. Wir wollen deshalb die Infrastruktur für sie ausbauen. Unsere Idee ist ein Kinderbetreuungsgeld. Die
Eltern sollen einen Pauschalbetrag bekommen, der den
Kosten für den tatsächlich in Anspruch genommenen
Betreuungsplatz entspricht. Auch hier kommt es darauf
an, mutig anzufangen. Den benötigten Betrag wollen wir
durch die Senkung des Ehegattensplittings gegenfinanzieren. Wir wollen wirklich Geld für die Betreuung und
Förderung der Kinder und nicht für die Ehe ausgeben.
Ich gratuliere jedem, der eine gute Ehe führt, aber die
Ehe an sich geht uns nichts an, uns gehen die Kinder etwas an.
({4})
Ich möchte Herrn Kauder zitieren - gerade war er
noch hier, doch jetzt ist er weg.
({5})
- Ach, da ist er ja. - Er hat vor kurzem gesagt: Die Realität hat sich verändert und die CDU/CSU ändert sich
auch. Ich möchte Ihnen dazu sagen: Schon in den 70erund 80er-Jahren wollten die Frauen beides, Kinder und
Beruf. Realität ist darüber hinaus auch - und das schon
seit Jahrzehnten -, dass Kinder aus armen Familien weniger gute Chancen haben und unsere Unterstützung
brauchen. Die Gesellschaft und die Wirtschaft brauchen
gut ausgebildete Kinder. Geben Sie sich einen Ruck!
Herr Kauder, auf den Anfang kommt es an. Beginnen
Sie jetzt! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es geht
nicht darum, dass die Eltern Belege für die Steuerberater
erhalten, es geht vielmehr darum, dass die Kinder in
Deutschland eine gute Kinderbetreuung erhalten.
({6})
Nun erhält der Kollege Thomas Dörflinger für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast,
dafür, dass Sie sich in den letzten sieben Jahren nicht zuvorderst mit Kinder-, Jugend- und Familienpolitik befasst haben,
({0})
können Sie nichts. Aber in Ihrer Rede hat man das an der
einen oder anderen Stelle gemerkt.
({1})
Ich will mit Blick auf das, was wir am morgigen Tag
unter dem Stichwort Föderalismusreform miteinander
beraten, zunächst einmal festhalten, dass das Kinderund Jugendhilfegesetz ein Bundesgesetz ist und bleibt.
Daran ändert sich auch nichts. Das, was wir am morgigen Tag miteinander beraten, erklärt sich insbesondere
vor dem Hintergrund, dass wir die Finanzbeziehungen
zwischen dem Bund und den Ländern entflechten wollen
und keine neuen Tatbestände schaffen wollen, durch die
sich die Finanzbeziehungen verflechten.
Ich habe mir Ihren Vorschlag angesehen, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen, ein Kinderbetreuungsgeld einzuführen, das sich aus dem bisherigen Ehegattensplitting speist. Es ist nicht unbedingt ein
Beitrag zur Vereinfachung der Finanzbeziehungen, wenn
Sie den Familien, die aus dem Ehegattensplitting profitieren, das Geld wegnehmen und es ihnen anschließend
über das Kinderbetreuungsgeld wiedergeben,
({2})
damit sie dann die Kindertagesstätte bezahlen können.
Wo liegt da der Vereinfachungseffekt bei den Finanzbeziehungen? Das erschließt sich mir nicht.
({3})
Ich will zunächst einmal im Namen der CDU/CSUBundestagsfraktion an die Expertenkommission, die den
Zwölften Kinder- und Jugendbericht für die Bundesregierung erstellt hat, ein herzliches Wort des Dankes sagen.
({4})
Insbesondere im Analyseteil liefert dieser Bericht wertvolle Erkenntnisse. Ich sage dazu: Wenn man diesen
Analyseteil aufmerksam liest und die Titelgeschichte des
„Spiegel“ aus dieser Woche daneben legt, dann wird
man nicht nur als Politiker, sondern auch als Eltern an
der einen oder anderen Stelle nachdenklich
({5})
und stellt sich die Frage, ob wir es ein Stück weit verlernt haben, richtig mit Kindern umzugehen, wie es der
„Spiegel“ in seiner Titelgeschichte beschreibt.
Wir stellen fest, dass die Zahl der Eltern, die mit ihrer
Erziehungsaufgabe überfordert sind, tendenziell steigt.
Das provoziert die Frage: Wie gehen wir als Staat mit
unserem Nachwuchs um und wie schaffen wir die Rahmenbedingungen dafür, dass sich Eltern besser als in der
Vergangenheit der Aufgabe widmen können, ihre Kinder
so zu erziehen, dass sie verantwortungsbewusste Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden?
Lassen Sie mich auf einige Empfehlungen der Kommission zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der
frühen Kindheit eingehen. Die Kommission fordert, die
Politik müsse die Rahmenbedingungen dafür schaffen,
dass Eltern in der Lage sind, ihren Erziehungsaufgaben
im Interesse ihrer Kinder nachzukommen, insbesondere
in den frühen Lebensstadien der Kinder. Ich sage: Die
Bundesregierung tut dies ausweislich des Koalitionsvertrages dadurch, dass wir das Elterngeld einführen - wir
sind auf dem besten Wege dorthin -, dass wir uns intensiv Gedanken darüber machen, was wir leisten können,
um die Erziehungskompetenz von Eltern zu stärken
- weniger im Sinne von Sanktionsmechanismen als eher
im Sinne von Anreizmechanismen, im Sinne von BestPractice-Systemen -, und dass wir als Gesetzgeber dafür
sorgen - wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben in
den letzten Tagen dazu einen Vorschlag gemacht -, dass
die Fälle von Kindesmisshandlungen in unterschiedlichen Lebensstadien der Kinder, die uns wohl alle gleichermaßen schockiert haben, zukünftig der Vergangenheit angehören. Hier ist der Gesetzgeber in der Pflicht.
Ich füge ausdrücklich hinzu: Die Einführung von SankThomas Dörflinger
tionen im Rahmen des Strafgesetzbuches ist eine Möglichkeit. Aber es ist weder die einzige noch die einzig
zielführende. Es braucht einen ganzen Strauß von Möglichkeiten, um Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu
stärken.
({6})
Wenn im Bericht darauf hingewiesen wird, dass Erziehung auch eine Frage der materiellen Rahmenbedingungen für Eltern ist, dann geht es nicht nur um das
Elterngeld und die Abzugsfähigkeit der Kinderbetreuungskosten von der Steuer, sondern dann heißt das auch
- darauf kann am heutigen Tage vor dem Hintergrund
der gestern im Finanzausschuss stattgefundenen Anhörung hingewiesen werden -, dass das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung an
der einen oder anderen Stelle gezielt darauf ausgerichtet
ist, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Eltern
und Familien im Sinne von mehr Jobs für Eltern zu verbessern, sodass die finanziellen Rahmenbedingungen für
Familien in der Zukunft stimmen.
Ich sehe allerdings den Teil des Kommissionsberichtes, der die politischen Forderungen enthält, an der einen oder anderen Stelle kritisch.
Wir befinden uns in der nachgerade klassischen Situation der Spannungsbeziehungen zwischen Bund und Ländern in den Handlungsfeldern Bildung und Erziehung.
Wir sollten uns alle miteinander darauf kaprizieren, dass
im Deutschen Bundestag in Berlin Entschließungsanträge mit wohlfeilen Forderungen, deren Ausführende
in den Bundesländern oder Kommunen sitzen, ein für
alle Mal der Vergangenheit angehören. Auch dazu leistet
der morgige Tag unter dem Stichwort Föderalismusreform einen Beitrag. Es soll gelten: Wer bestellt, bezahlt. Auch in dieser Frage müssen klare Zuständigkeiten und klare Finanzbeziehungen herrschen.
Mit Blick auf das eine oder andere, was ich in diesem
Zusammenhang höre - Entschließungsanträge werden
dem Hohen Hause sicherlich noch vorgelegt -, sage ich:
Es wäre schön, wenn sich alle Fraktionen in diesem Hohem Hause an diese Maxime halten würden und wir das,
was wir an politischen Forderungen erheben, zunächst
einmal im eigenen Zuständigkeitsbereich zu verwirklichen suchen und nicht anderen vor die Haustür legen.
({7})
Lassen Sie mich mit Blick auf die Forderung der
Kommission nach einer Verstärkung von Ganztagsangeboten, die unsere ausdrückliche Unterstützung findet, einen letzten Punkt ansprechen. Ich will auf einen Teilaspekt hinweisen, den die Kommission in ihrem Bericht
antippt und der mir als Baden-Württemberger sehr wichtig ist. Der Ausbau der Ganztagsbetreuungseinrichtungen in den Bereichen Schule und Kindergarten vollzieht sich in einem Spannungsfeld zwischen dem, was
aus bildungspolitischen und erziehungspolitischen
Gesichtspunkten notwendig ist, und dem, was an ehrenamtlichen Strukturen in den Ländern, in den Kommunen bereits besteht. Ich denke etwa an das, was Ehrenamtliche in der Jugendarbeit der Vereine und Verbände
leisten, was gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag zur pädagogischen Qualifikation von Jugendlichen und Kindern ist.
({8})
Deswegen stehen wir in der Pflicht, die Konzeption
der Ganztagsbetreuung in den Bereichen Schule und
Kindergarten bzw. Kindertagesstätte mit bestehenden
ehrenamtlichen Strukturen in unseren Städten und Gemeinden abzustimmen. Wir müssen der Frage nachgehen, ob das an dem einen oder anderen Punkt eventuell
intelligent miteinander verknüpft werden kann. Ich rate
dazu, einen Blick nach Baden-Württemberg zu werfen,
beispielsweise in meinen Wahlkreis, nach Bonndorf.
Dort hat man sich dieser Frage erfolgreich gewidmet und
ein Projekt auf den Weg gebracht, das als wegweisend
gelten könnte und dieser Maxime entspricht.
({9})
In diesem Sinne freue ich mich auf interessante Beratungen im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend zumZwölften Kinder- und Jugendbericht der
Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ekin Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte hat vor allem eines gezeigt, nämlich dass
sich in diesem Land in den vergangenen sieben Jahren
richtig viel verändert hat.
({0})
Der besondere Stellenwert der Förderung der Bildung
von Kindern und Jugendlichen ist erkannt worden. Er
wurde nicht nur von den Parteien und Verbänden erkannt, sondern auch von den Eltern und Familien, von
den Lehrerinnen und Erzieherinnen und sogar von der
CDU und der CSU. Herr Dörflinger, Sie können hier
noch so oft sagen, dass man sich an alten, traditionellen
Werten orientieren sollte. Selbst Frau Stewens und Herr
Koch reden davon. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis
nehmen.
({1})
In diesem Land hat sich noch etwas bewegt. Die Sicht
auf Kinder und auf die Kindheit hat sich verändert. Kinder sind vom ersten Tag an Persönlichkeiten. Sie sind
Rechtssubjekte, sie haben eigene Rechte. Sie entwickeln
frühzeitig Kompetenzen, sie wollen lernen. Unsere
Aufgabe ist es, sie dabei zu fördern, indem wir die richtigen Rahmenbedingungen schaffen.
Im Rahmen dieser Debatte höre ich von allen Seiten
übereinstimmend, dass dieser Kinder- und Jugendbericht, der genau das in den Mittelpunkt stellt, begrüßt
wird. Das ist gut; in unserem Antrag sagen wir das ausdrücklich. Wir wissen, dass heute eigentlich niemand gegen bessere Förderung und Bildung sein kann. Dass wir
dieses Projekt gemeinsam anpacken müssen, liegt auf
der Hand. Das ist klar und übrigens nicht nur Aufgabe
der Politik.
Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Was tun wir
dafür, dass die Empfehlungen aus dem Bericht auch tatsächlich umgesetzt werden? In Sonntagsreden den Kommissionsvorsitzenden Professor Rauschenbach zu zitieren, ist gut. Aber das reicht nicht aus.
({2})
Für die Realisierung brauchen wir klare politische Konzepte, die meiner Meinung nach zwei Punkte beinhalten
müssen: Erstens. Man muss Verantwortung übernehmen;
in dieser Verantwortung steht auch der Bund.
Zweitens. Wir müssen auch in fiskalischer Hinsicht
eine ganz klare Priorität zugunsten unserer Kinder setzen. Wir müssen dabei die Kinder in den Mittelpunkt rücken, statt ideologische Debatten zu führen.
({3})
Wir Grüne beachten beide Aspekte, auch die Verantwortung des Bundes. Er muss und kann - das ist im
Übrigen auch seine Aufgabe - im Kinder- und Jugendhilfegesetz einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige verankern. Das ist der
einzig mögliche Weg, um zeitnah und verbindlich das
notwendige Betreuungsangebot für Kinder dieser Altersklasse zu schaffen.
Der Bund sollte sich auch aus der Finanzierung dieser
Maßnahme nicht heraushalten, sondern sich daran beteiligen. Mit dem TAG haben wir den ersten Schritt in
diese Richtung gemacht. Weitere Schritte müssen nun
folgen. Mit dem Kinderbetreuungsgeld schlagen wir
Grüne Ihnen ein Konzept vor, mit dem wir dafür sorgen
können, dass das Geld genau dort ankommt, wo es gebraucht wird: bei der Inanspruchnahme von Betreuungseinrichtungen. Dadurch stärken wir die Nachfragekompetenz und die Beteiligung der Eltern und lassen die
Kommunen bei der Mammutaufgabe des Ausbaus der
Kinderbetreuung und -erziehung nicht allein.
({4})
Die Kinder in den Mittelpunkt stellen - das und nichts
anderes hat für uns Priorität. In den Reihen der großen
Koalition heißt es, man wolle sich irgendwann, womöglich im Jahre 2010, Gedanken über die Einführung eines
Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz machen.
Das ist uns zu wenig. Sie wollen sich offenkundig nicht
festlegen. Vielleicht fürchten Sie auch Differenzen mit
Ihren Landesfürsten. Nichtsdestotrotz, das ist zu unverbindlich und zu spät. Sie lassen die Betroffenen, die
Mütter und Väter, im Stich. Das ist eine Politik, die an
den tatsächlichen Erfordernissen im Alltag der Menschen komplett vorbeigeht.
({5})
Zur Prioritätensetzung möchte ich Ihnen noch etwas
sagen: Seitens der Landesregierung von NordrheinWestfalen heißt es völlig zu Recht, dass man in der falschen Reihenfolge vorgeht, wenn man zuerst das Elterngeld einführt und sich danach Gedanken über den
Ausbau der Infrastruktur macht. Man muss genau
umgekehrt vorgehen. Lassen Sie uns heute damit anfangen, unseren Kleinen die bestmögliche Förderung zu ermöglichen, damit sie einmal die Größten in unserem
Lande werden.
Danke.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marlene
Rupprecht, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorliegende Zwölfte Kinder- und Jugendbericht zum
Thema „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule“ ist angesichts der gesellschaftlichen und
politischen Diskussion über Bildung sehr wichtig. Herzlichen Dank, dass Sie diesen Bericht vorgelegt haben!
Dies können wir zum Anlass nehmen, um über dieses
Thema statt in den Abend- und Spätabendstunden am
heutigen Vormittag zu diskutieren. Ich danke den Fraktionen, dass sie die Bedeutung des Berichts verstanden
haben und dieses Thema an den Anfang unserer heutigen
Tagesordnung gesetzt haben.
({0})
Unsere Fraktionen und, wie ich an den Redebeiträgen
gemerkt habe, das gesamte Parlament werden die Anregungen und Forderungen des Berichts aufgreifen und soweit wie möglich umsetzen. Ich sage „soweit wie möglich“, weil wir in unserem föderalen Staat nicht auf allen
Ebenen das Zugriffs- und Wirkungsrecht haben. Deshalb
ist eines dringend notwendig: die Kooperation aller
Ebenen im Interesse der Kinder.
Ich danke den Kommissionsmitgliedern nicht nur für
ihre umfangreiche Arbeit, sondern auch dafür, dass sie
die Trias Bildung, Betreuung und Erziehung durchgängig dargestellt haben. Sie haben ihren Blick nicht auf
den Bildungsbegriff verengt, sondern zur Kenntnis genommen, dass Bildung nur stattfinden kann, wenn alle
drei Elemente berücksichtigt werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt dieses Berichts ist, dass
man weggeht von der Diskussion über Bildungssysteme
und hin zu einer Diskussion über Bildungsprozesse im
Lebenslauf von Kindern und Jugendlichen. Das ist wirklich ein Paradigmenwechsel.
({1})
Marlene Rupprecht ({2})
Anders als in vielen anderen Berichten wird in diesem
Bericht endlich aus Kindersicht dargestellt, was Kinder
brauchen und wie die Prozesse bei uns laufen müssen,
damit Kinder die Welt annehmen können und in ihr herzlich willkommen sind; darauf kommt es nämlich an. Das
ist die besondere Leistung des vorliegenden Berichts.
({3})
Ich finde es toll, dass Sie in Ihrem Bericht weggehen
von dem ewigen Gejammer über Kinder und Kinder als
wissbegierig, selbstständig, eigenverantwortlich, lernfähig und lernwillig darstellen. Kinder kommen als Persönlichkeiten auf dieser Welt an.
({4})
Auf die Schule komme ich noch zu sprechen.
Es ist also ein Prozess, in dem sich diese kleinen Persönlichkeiten mit der Welt auseinander setzen und sie
sich aneignen. In diesem erweiterten Bildungsbegriff ist
Bildung verknüpft mit vielen Lernwelten und Bildungsorten, mit vielen Gelegenheiten und Inhalten. Dies müssen wir berücksichtigen und entsprechend reagieren, damit wir Kindern die Vielfalt bieten, die sie brauchen, um
sich zu entwickeln.
Ich will jetzt nicht auf die fiskalischen und materiellen Rahmenbedingungen eingehen - dies wurde von den
Kolleginnen und Kollegen schon ausführlich dargestellt -, sondern als Kinderbeauftragte meiner Fraktion
aus der Sicht der Kinder einige Punkte herausgreifen.
Wenn ein Kind auf dieser Welt ankommt, muss man
ihm vermitteln: Herzlich willkommen!
({5})
Wir wissen aber, dass es Familien gibt, die zwar zum
Zeitpunkt der Geburt noch gern Eltern sind, aber spätestens dann, wenn die ersten Probleme auftreten, an ihre
Grenzen kommen und sich sagen: Wir sind als Eltern
vielleicht nicht so optimal. Wir würden es gern sein, wissen uns aber nicht zu helfen. - Hier - wo notwendig,
auch bereits während der Schwangerschaft - muss die
Begleitung und Betreuung einsetzen, damit Kinder dieses „Herzlich willkommen!“ tatsächlich erfahren. Wir
müssen die Familien unterstützen, damit Kinder diesen
herzlichen Empfang bekommen.
({6})
Was wir nicht brauchen können, ist Strafe oder Druck.
Druck haben die Eltern schon selber, wenn ihr Kind die
Nacht durchschreit, sie vom Gefühl her eigentlich nicht
mehr können und es an die Wand klatschen möchten,
was man natürlich nicht tut. Es ist ein Gefühl der Hilflosigkeit, wenn ein kleiner Wurm schreit und schreit und
man nicht damit fertig wird. Wenn das den ganzen Tag
so geht und man bereits übermüdet ist, braucht man
Hilfe und nicht noch den Druck, vor Gericht gezerrt zu
werden. Diese Menschen brauchen Unterstützung.
({7})
Deswegen haben wir frühe Hilfen für Familien vorgesehen. Das kann nicht ein Einzelner leisten; das muss
immer ein Konzert von Sozialarbeitern, Ärzten, und dem
sozialen Umfeld sein. Wir haben schon viele Hilfsangebote. Sie richten sich aber überwiegend an die Mittelschicht; sie fragt diese Leistungen auch ab. Aber nur
ganz wenige derer, die verzweifelt sind, finden den Weg
zum Stadtteilzentrum, zur Krabbelgruppe. Solche Menschen brauchen aufsuchende Hilfe. Daran mangelt es
uns noch. Ich denke, wir müssen die Familien in die
Lage versetzen, ihren Kindern so viel Stabilität zu
geben, dass sie loslassen können, dass die Kinder in
Krabbelgruppen, in Gruppen mit Gleichaltrigen, in den
Kindergarten gehen. Es ist notwendig, dass die Kinder
neben den Schwierigkeiten, aber auch der Geborgenheit
und Stabilität, die sie in der Familie erfahren, sehen, dass
es auch eine Welt außerhalb der Familie gibt. Trotz seines Wächteramts kann der Staat aber nicht ersetzen, was
die Familie ist, nämlich die Insel, auf die man sich zurückziehen kann und auf der man Kraft tankt, um wieder
hinauszugehen. Der Staat kann und darf die Familie hier
nur unterstützen, damit sie diese Aufgabe wahrnehmen
kann.
Bezüglich der Erziehung in Kindertagesstätten und
Betreuungseinrichtungen ist schon vieles über Qualifizierung und Fortbildung gesagt worden. Natürlich haben
wir hoch qualifizierte und gut ausgebildete Erzieherinnen. Aufgrund der wertvollen Menschen, die sie zu betreuen haben, ist aber darüber nachzudenken, ob die Bezahlung auch ihrer Leistung gerecht wird.
Damit komme ich zum Bereich Schule, in dem ich
20 Jahre lang gearbeitet habe. Ich weiß, dass das Deutsche Jugendinstitut Untersuchungen durchgeführt und
herausgefunden hat, dass nur noch ein Drittel der Kinder
gerne in die Schule geht. Ich frage mich, wo die anderen
zwei Drittel geblieben sind, die einmal lernwillig und
wissbegierig waren.
({8})
- Oh doch, das gibt es. - Die Schule muss also endlich
umsteuern.
Im Kinder- und Jugendhilfegesetz steht die Verpflichtung der Kooperation aller am Kind Beteiligten. Ich frage
mich, warum dies nach 15 Jahren Kinder- und Jugendhilfegesetz immer noch nicht geschieht. Ich verstehe das
nicht. Die kommunale Jugendhilfeplanung schließt
ein, dass sich alle am Kind Beteiligten - die Schule, in
späteren Jahren die Arbeitsagentur, die Polizei, die Jugendverbände und die Jugendgruppen - gleichberechtigt
als Partner mit einbringen sollen. Die Schule darf kein
dominantes Element in diesem Konzert sein. Die Schule
muss sich zurücknehmen und vielleicht auch zu einem
neuen Denken finden. Die anderen müssen mehr Selbstbewusstsein im Umgang entwickeln.
Diese Kooperation würde dazu beitragen, dass die
Welt und das Leben in die Schule hineinkommen. Vielleicht ginge das Burn-out-Syndrom bei denen, die mit
Kindern umgehen, nämlich den Lehrern, zurück, wenn
sie endlich mitbekämen, dass Erzieher - und nicht nur
Wissensvermittler - zu sein eine ganz schöne Aufgabe
ist, weil man sehr viel zurückbekommt, wenn man etwas
gibt. Ich glaube, dies muss in der Ausbildung verankert
Marlene Rupprecht ({9})
und täglich gelebt werden. Hierfür brauchen wir die Unterstützung der Kinder in der Schule, aber auch derer, die
unterrichten.
Das Ganze funktioniert aber nur, wenn man die Kinder in der Familie, in der Kindertagesstätte und in der
Schule endlich als Heranwachsende ernst nimmt und beteiligt, und zwar nicht durch eine Mini-Playback-Show
in der Politik, indem man sie einmal am Jugendparlament teilnehmen lässt und ihnen ansonsten sagt: Du bist
ruhig. Beteiligen heißt, sie ernst zu nehmen und ihnen zu
sagen, wo sie sich beteiligen können.
({10})
Es gibt Dinge, an denen auch ich mich nicht beteiligen
kann. Da ist die Möglichkeit meiner Beteiligung schlicht
und ergreifend begrenzt. Auch das gehört zum Ernstnehmen. Ich denke, wenn man die Kinder in diesem Bereich
wirklich ernst nimmt, dann wird Schule auch anders gestaltet werden, dann werden sie nämlich als Teil der
Schule angesehen und nicht nur als ein Element, in das
Wissen hineingetrichtert wird.
Ich habe schon gesagt, dass das ein langer Weg ist.
Nach 15 Jahren Kinder- und Jugendhilfegesetz stehen
wir trotzdem manchmal noch am Anfang. Manche Kommunalpolitiker glauben immer noch, das sei eine freiwillige Leistung und keine Pflichtleistung.
({11})
- Ja, es ist leider so.
Ich möchte Ihnen deshalb die Schlussfolgerungen in
dem Bericht gerne kurz vorlesen:
Es wird auf allen föderalen Ebenen …
- hier haben wir wieder den Föderalismus und unter Einbeziehung aller wichtigen gesellschaftlichen Akteure … erheblicher Anstrengungen
bedürfen, um gemäß diesen Leitlinien ein Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot aufund auszubauen, so umzugestalten, dass seine Effektivität erhöht wird und dass Kinder und Jugendliche auf dem Weg des Erwachsenwerdens mit dem
Wissen und Können, mit den Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit den personalen und sozialen Kompetenzen ausgestattet werden, die sie brauchen, damit
sie unter den absehbaren Bedingungen künftiger
Gesellschaften über eine ausreichende Kompetenz
zur eigenständigen Lebensführung verfügen.
Es wird noch ein weiter Weg sein, bis diese Anforderungen erfüllt werden. Ich hoffe, dass alle Beteiligten, ob
Bundestag, ob Landtage, ob Kommunalpolitiker, an einem Strang ziehen und dies im Sinne der Kinder und unseres Landes gemeinsam umsetzen. Denn die Kinder
sind nicht nur unsere Zukunft, sondern auch unsere Gegenwart.
Danke schön.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort der
Kollege Johannes Singhammer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kinder sind Leben. Kinder sind Liebe. Kinder sind
das Kostbarste und Wichtigste, das unser Land hat. Kinder wachsen in einer intakten Familie am besten auf.
({0})
Der Bericht befasst sich mit der Situation der Kinder.
Besorgniserregend ist die Entwicklung der Anzahl der
Kinder generell. Die Zahl der Kinder in Deutschland
nimmt immer weiter ab. Sind im Jahr 1965 - damals in
beiden Teilen Deutschlands - noch 1,3 Millionen Babys
geboren worden, so haben im letzten Jahr - der Präsident
des Statistischen Bundesamtes hat vor wenigen Tagen
die Zahlen für 2005 bekannt gegeben - nur noch
680 000 Kinder das Licht der Welt erblickt. Von den
680 000 Kindern hatten 80 000 Kinder nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Vor kurzem wurde in einer
deutschen Zeitung die Frage gestellt: Was geht den
Deutschen eher aus: die Kinder oder das Erdöl? Die
Frage ist auch gleich beantwortet worden: die Kinder.
In dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht wird davon gesprochen, dass die Kinder des Jahres 2006 und der
darauf folgenden Jahre in einer völlig anderen Gesellschaft, nämlich in einer alternden Gesellschaft, aufwachsen, und zwar mit allen ökonomischen, aber auch emotionalen Konsequenzen für Kinder. Der „Spiegel“ hat in
seinem Leitartikel, aus dem vom Kollegen Dörflinger
schon zitiert worden ist, festgestellt - ich zitiere -:
Abnehmende Geburtenraten führen zur Vereinzelung der Kinder in unserer Gesellschaft. Nicht nur
die finanzielle Zukunftssicherung ist davon betroffen - ohne Familie verlernt die Gesellschaft
schlichtweg die Liebe.
Wenn wir aus dem Teufelskreis des Zerfalls familiärer
und damit gesellschaftlicher Strukturen in unserem Land
herauskommen wollen, dann brauchen wir in Deutschland zunächst eines: wieder mehr Kinder. Für diese Kinder benötigen wir dann optimale Bildung, Betreuung
und Erziehung.
({1})
Für uns ist die intakte Familie durch nichts zu ersetzen. Wer Familien und Eltern unterstützt, die sich für
Kinder entschieden haben, der hilft auch den Kindern.
Mit dieser klaren Haltung unterscheiden wir uns von der
Linken. Die Linke fordert in ihrem Antrag:
... Kinder- und Jugendpolitik darf nicht faktisch der
Familienpolitik nachgeordnet werden.
Ich warne davor, einen Gegensatz zwischen Familien
und ihren Kindern zu konstruieren. Wer die Familie unter dem Deckmäntelchen von Kinderinteressen durch
staatliche Organisationen zurückdrängen oder gar ersetJohannes Singhammer
zen will, wird auf unseren entschiedenen Widerstand
stoßen.
({2})
Die Familie ist kein Hort der Unterdrückung oder
Triebverleugnung,
({3})
sondern der richtige Ort, um Kinder aufwachsen zu lassen. Wir wollen Elternhaus, Bildung und Betreuung miteinander verzahnen, sodass Familie und Beruf miteinander vereinbar sind, also die Möglichkeit des Lebens mit
Kindern mit der des Broterwerbs.
Ich will noch auf einige Punkte des Kinder- und Jugendberichts eingehen. Wir wollen - das ist unser Anliegen -, dass vor allem die frühkindliche Entwicklung,
insbesondere die Sprachkompetenz, verbessert wird.
Deshalb halten wir die Einführung von Sprach- und
Entwicklungstests vor der Einschulung für wichtig. Insbesondere die mangelnden Sprachkenntnisse von Familie mit ausländischem Hintergrund müssen uns besorgt
stimmen. Denn wem es in der Schule an Sprachkompetenz fehlt, der läuft Gefahr, seinen Abschluss nicht zu
schaffen, keinen Ausbildungsplatz zu erhalten und keine
Möglichkeit einer beruflichen Karriere eröffnet zu bekommen. 19,2 Prozent der ausländischen Jugendlichen
schaffen keinen Hauptschulabschluss, 40 Prozent stehen
ohne berufliche Qualifikation da. Diese Zahlen geben
Anlass zur Sorge.
Hinsichtlich der Empfehlungen zur Bildung, Betreuung und Erziehung im Schulalter liegt unser Hauptanliegen bei der Umsetzung eines umfassenden Bildungskonzepts im Zusammenspiel von Schule, außerschulischen
Bildungsorten und Elternhaus. Ich möchte ausdrücklich
denen danken, die in dem Bericht erwähnt sind. Ich
möchte insbesondere den Sportvereinen danken, die ein
großes Engagement einbringen,
({4})
um Kinder und Jugendliche nicht nur zu betreuen, sondern auch zu ertüchtigen.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, die Medienkompetenz
zu verstärken. Der Bericht stellt fest - damit wurde ein
wichtiger Punkt angesprochen -, dass in den letzten Jahren bei den etwas älteren Kindern die Dauer des täglichen Fernsehkonsums um über eine Stunde zugenommen hat. Damit sind die Medien zunehmend zu einem
weiteren Erziehungsberechtigten geworden - mit allen
Problemen, die damit verbunden sind. Ich danke insbesondere dem Ministerium und der Ministerin, dass im
Bericht der Bundesregierung auf alle diese Themen eingegangen worden ist und entsprechende Konzepte vorgestellt worden sind.
Manche in unserem Land empfinden Kinder als Belastung. Ein Thermalbadbetreiber in Bad Wörishofen
lässt Kinder nur noch an bestimmten Tagen und zu bestimmten Uhrzeiten in sein Bad. Die Begründung: Die
anderen, hauptsächlich älteren Badegäste fühlten sich
durch den Kinderlärm belästigt. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, wir wollen keine kinderfreien Zonen
in unserem Land.
({5})
Wir wollen, dass sich die Kinder willkommen und Eltern
mit Kindern wohl fühlen, und zwar überall in unserem
Land und zu jeder Tages- und Nachtzeit.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jürgen Kucharczyk für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der
Zwölfte Kinder- und Jugendbericht stellt klar: In unserem Land besteht ein deutlicher Nachholbedarf bei Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangeboten. Zu lange
und zu einseitig waren die Familie vorrangig für die Betreuung und Erziehung der Kinder und die Schule für die
Bildung verantwortlich. Vor allem durch das Alleinernährermodell ließ sich die Halbtagsschule als Regelschule einigermaßen problemlos realisieren. Nur so
konnten auch die frühkindliche Betreuung und Versorgung der Kinder privat möglich werden.
Heute stellen wir fest: Das Alleinernährermodell ist
im Laufe der Jahrzehnte brüchig geworden und nicht
mehr tragfähig. Unverkennbar haben sich die Rahmenbedingungen für diesen deutschen Weg folgenreich verändert. So ist die Zahl der Familien - das heißt: Eltern
mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren - seit 1970
um rund ein Drittel zurückgegangen. Im selben Zeitraum
ist aber die Zahl derjenigen, die Eltern sein könnten, um
mehr als 10 Prozent gestiegen. Haushalte ohne Kinder
ziehen schrittweise mit Mehrgenerationenhaushalten
gleich. Das heißt im Klartext: Keine andere Lebensform
hatte in den letzten Jahrzehnten einen so starken Bedeutungsverlust zu verzeichnen wie die Familie bzw. die Eltern-Kind-Gemeinschaften.
Vor diesem Hintergrund gilt es Folgendes zu hinterfragen: Warum kann das unserer Gesellschaft zum Verhängnis werden? Ist es richtig, dass der Kindermangel
eine Gesellschaft von Egoisten schafft, wie der neue
Titel des „Spiegel“ aussagt?
Fakt ist - das wissen wir, auch ohne das neue, aber sicherlich sehr lesenswerte Buch von Schirrmacher zu
kennen -, dass die Vermittlung von Werten ganz ohne
Familie nicht funktionieren kann. Fakt ist auch, dass unsere Gesellschaft nicht dabei zuschauen darf, wie der
Egoismus über den Gemeinsinn, die Solidarität siegt.
Aus diesem Grund ist es logisch, dass wir handeln müssen. Wir kommen nicht umhin, eine Infrastruktur für
Familien zu schaffen, zum Beispiel durch Angebote zur
Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz. Weiterhin
ist es unerlässlich, eine bedarfsgerechte und gebührenfreie Kinderbetreuung sicherzustellen. Bildungsprozesse müssen unter dem Motto „Bildung ist mehr als
Schule, Schule ist mehr als Bildung“ gestaltet werden.
Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht wird die Situation erkannt und analysiert und werden die notwendigen
Handlungsschwerpunkte benannt. Es wird darauf gedrungen, dass dieses Jahrzehnt zum Jahrzehnt der Kinder und ihrer Familien werden muss.
({0})
Daher ist der Ansatz der jetzigen Koalition richtig, die
Rahmenbedingungen für unsere Kinder und Enkelkinder
in den Bereichen Betreuung, Erziehung und Bildung zu
verbessern und die Angebote auszubauen.
Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht macht uns
aber auch deutlich, wo die Defizite in unserer Gesellschaft liegen. Nicht nur die PISA-Studie verteilt
schlechte Noten an das deutsche Schulsystem. Vielmehr
hat kürzlich auch der UN-Sonderbeauftragte für das
Recht auf Bildung die fehlende Chancengleichheit und
das verschenkte Bildungspotenzial deutlich kritisiert.
Die Kommission führt in ihrem Bericht ein erweitertes
Bildungsverständnis unter Einbeziehung vieler Bildungsorte und Lernwelten an. Ich sage: Richtig, die
Schule muss zu einem Ort vielfältiger Anregungen werden.
({1})
Die Schule in Deutschland muss sich ändern. Nur durch
die Verknüpfung unterschiedlicher Bildungsorte und
Lernwelten kann uns die Erfüllung der Zielvorgabe einer
umfassenden Förderung gelingen. Angefangen von der
Familie über außerschulische Angebote der Kinder- und
Jugendhilfe, Initiativen der Wirtschaft bis hin zu Schulen
müssen dabei alle beteiligten Akteure ihre vorhandenen
Ressourcen zur Verfügung stellen.
Auch in dem vorliegenden Bericht finden wir gute
Praxisbeispiele, die zeigen, wie es gehen kann. So werden in Rostock den Schülern nachmittags Kurse für Keramik, Jazzdance oder kreatives Schreiben angeboten.
Ich bin mir sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
sich in Ihren Wahlkreisen bereits die eine oder andere
Form der verknüpften Bildungsförderung bewährt. Häufig nimmt hierbei der Sportbereich eine Vorreiterrolle
ein. Und das ist auch gut so. Unsere Aufgabe ist, die
Fördernetzwerke auszubauen und institutionell abzusichern. Wir müssen das Sozialisations- und Hilfenetz so
knüpfen und flechten, dass keine Kinder und Jugendlichen durchfallen.
({2})
Das Ziel, unseren Kindern und Jugendlichen Chancengleichheit, die bestmögliche Bildung und damit Zukunft zu geben, muss dabei der Motor unserer täglichen
politischen Arbeit sein. Eines müssen wir alle dabei begreifen: Betreuung, Erziehung und Bildung müssen sich
an den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder und dürfen
sich nicht an den Grenzen der Institutionen orientieren.
Auch wir müssen festgefahrene Denkmuster über Bord
werfen und uns auf das Wagnis des Neuen einlassen. Nur
so können starre Strukturen überwunden, überkommene
Traditionen aufgehoben und nicht mehr zeitgemäße
Konzepte und Organisationsformen verabschiedet werden. Für mich wird eines durch den vorliegenden Bericht
ganz deutlich: Das Handeln nach dem Gießkannenprinzip oder der Einsatz von manchen Feuerwehrtöpfen war
und ist der falsche Weg. Ineffektive und kurzfristige
Maßnahmen bringen uns nicht weiter.
({3})
Eine nachhaltige Kinder- und Jugendpolitik zu betreiben, gelingt uns nur dann, wenn wir diese als gesamtgesellschaftliche Querschnittspolitik erkennen, die für
das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen wichtig
ist. Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Parameter benennen. Geschlechterpolitisch muss die einseitige Bindung der Frauen an Haushalt und Kindererziehung überwunden werden. Familienpolitisch muss die Balance
von Beruf und Familie noch weiter verbessert werden.
Arbeitsmarktpolitisch muss jedem Jugendlichen der Zugang zu Ausbildung und Beruf ermöglicht werden.
({4})
Sozialpolitisch muss der inakzeptable Teufelskreis aus
Einkommensarmut, Kinderarmut und Bildungsarmut
durchbrochen werden. Bildungspolitisch müssen die bislang ungenutzten Lern- und Bildungspotenziale vor und
neben der herkömmlichen Halbtagsschule verstärkt einbezogen und besser ausgeschöpft werden. Kinder- und
jugendpolitisch müssen Kinder und Jugendliche ein bedarfs- und sachgerechtes Angebot an Lern-, Bildungsund Entfaltungsmöglichkeiten erhalten, das sie auf ihre
berufliche und private Zukunft angemessen vorbereitet.
Umso erstaunlicher und ärgerlicher ist, wie das Land
Nordrhein-Westfalen zurzeit diese Querschnittsaufgabe versteht, nämlich als Einschnittspolitik.
({5})
Einen schwarz-gelben Kahlschlag in der Kinder- und Jugendpolitik, der Eltern verunsichert, Kommunen in
Zwangslagen und Jugendverbände auf die Barrikaden
bringt, nenne ich unsozial und nicht zukunftsgerecht.
Die Landesregierung in Düsseldorf ist nicht auf der
Höhe der Zeit. Familienminister Laschet sollte lieber
den Zwölften Kinder- und Jugendbericht aufmerksam lesen. Dann wird auch er erkennen, dass seine Vorschläge
keine langfristige Perspektive für unser Land sein können.
({6})
Wir müssen in den nächsten Jahren die notwendigen
Entwicklungen konsequent vorantreiben.
({7})
Gut ist, dass wir dabei auf die erfolgreiche Kinder- und
Jugendpolitik der Vorgängerregierung bauen können. Sie
hat mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz den Grundstein für eine gute und bedarfsgerechte Kinderbetreuung
für die unter Dreijährigen gelegt. Das Ganztagsschulprogramm sorgt für gleiche Zukunftschancen für jedes
Kind. Unter dem Dach der „Allianz für Familie“ hat die
alte Bundesregierung Initiativen gebündelt, damit eine
gute Balance von Familie und Beruf gelingen kann. Es
gibt noch etliche Punkte, die ich hier nennen könnte.
Die neue Bundesregierung setzt den erfolgreich eingeschlagenen Weg fort. Die Anträge des Bündnisses 90/
Die Grünen und der Linkspartei bestätigen dies. Der
Ausbau einer quantitativ und qualitativ hochwertigen
Kinderbetreuung wird vorangebracht. Von der Regelung
zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten profitieren vor allem
({8})
Alleinerziehende und Geringverdiener. Wir werden unser langfristiges Ziel, die Gebührenfreiheit von Kinderbetreuungsplätzen, intensiv weiter verfolgen. Dies können wir jedoch nur im Zusammenspiel mit Ländern und
Kommunen erreichen. Bringen wir gemeinsam die notwendigen Maßnahmen und Prozesse auf den Weg! Lassen wir uns dabei von dem Nationalen Aktionsplan „Für
ein kindergerechtes Deutschland“ und von den Empfehlungen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts leiten!
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/6014 und 16/817 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Entschließungsantrag auf der Drucksache 16/827
soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf der
Drucksache 15/6014 überwiesen werden. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Renate Künast, Matthias
Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt verwirklichen - Innovationshemmnis Männerdominanz beenden
- Drucksache 16/712 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Frauenpolitik - Gesellschaftlicher Erfolgsfaktor
- Drucksache 16/832 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Lothar Bisky, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes auf
dem Arbeitsmarkt durchsetzen
- Drucksache 16/833 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Interfraktionell wurde verabredet, darüber eineinhalb
Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Internationale Frauentag ist nach wie vor hochaktuell. So feierte ihn gestern sogar die größte Boulevardzeitung mit einer blanke-Busen-freien Ausgabe und
ohne Telefonsexanzeigen. Selbst „Bild“ wollte gestern
eine Frau sein.
Aber weg vom Boulevard. Der 8. März bietet in der
Tat einen guten Anlass, um über den Stand der Gleichberechtigung zu sprechen. Da gibt es viel Licht, aber auch
viel Schatten. Auf der einen Seite haben junge Frauen in
allen Altersstufen und Schulformen bessere Abschlüsse
als Männer, mehr junge Frauen als Männer legen das
Abitur ab, Frauen bilden die Mehrheit der Studierenden;
aber auf der anderen Seite spiegeln sich diese hervorragenden Qualifikationen der Frauen im Arbeitsleben
nicht wider. Nehmen wir zum Beispiel die Bezahlung.
Hier spielt das weibliche Geschlecht immer noch eine
entscheidende, nämlich negative Rolle. Frauen verdienen in Deutschland durchschnittlich 23 Prozent weniger
als Männer.
({0})
Größer ist der Lohnunterschied EU-weit nur noch in
Estland und in der Slowakei, Frau Kollegin Lenke.
({1})
Dass im 21. Jahrhundert ein Rechtsberater fast
1 000 Euro mehr verdient als eine Rechtsberaterin, ist
ein Armutszeugnis für unsere Demokratie.
({2})
Was die Anzahl von Frauen in Führungspositionen
betrifft, gehört Deutschland ebenfalls zu den Schlusslichtern im Vergleich mit anderen Industrienationen.
Führungspositionen in großen deutschen Unternehmen
sind gerade einmal zu 4 Prozent mit Frauen besetzt. Das
ist einfach zu wenig für eine moderne Wirtschaftsnation.
({3})
Das, was mich wütend macht - leider ist Frau von der
Leyen nicht da -, ist, dass Frau von der Leyen hier immer nur ein Vereinbarkeitsproblem sieht. Sie wünscht
sich - ich zitiere aus ihrer Pressemitteilung - „dass künftig deutlich mehr Frauen mit Kindern der Sprung ins
Topmanagement gelingt“. Wohl wahr, allerdings scheint
mir diese Ansicht doch das eigentliche Problem auszublenden; denn in den 30 DAX-Unternehmen finden wir
nahezu keine Frau unter den 200 Vorstandsmitgliedern,
weder mit Kindern noch ohne Kinder. Eine oder auch
einmal zwei Frauen werden als großer Erfolg gefeiert.
So werden 70 Prozent aller Betriebe ausschließlich von
Männern geführt. Frauen gelangen in Deutschland gerade einmal in die Vorzimmer der Macht. Die Männerdominanz in den Spitzenpositionen ist nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern sie stellt auch - ich schaue
zur FDP - den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes
infrage.
({4})
Wieso kann sich eigentlich nur die deutsche Wirtschaft leisten, auf die Potenziale und Fähigkeiten von
Frauen, vor allem was Entscheidungspositionen angeht,
zu verzichten? Warum werden Frauen erst hoch qualifiziert, ohne dass sie danach adäquate Arbeitsplätze finden? In anderen Ländern weiß man, dass eine große Anzahl erwerbstätiger Frauen auch zu vielen neuen Jobs,
zum Beispiel im Dienstleistungsbereich, führt. Das sollte
eigentlich den Wirtschaftsminister und die Frauenministerin auf den Plan rufen. Vom Wirtschaftsminister haben
wir nichts gehört. Die Frauenministerin ist ganz gelassen. Sie sagt: Frauen rücken doch auf; jede Vierte ist
schon in einer Führungsposition. Sie verschweigt allerdings, dass sie sich auf eine Studie bezieht, in der auch
Kleinstbetriebe untersucht wurden. Nach dieser Studie
gilt die Filialleiterin einer chemischen Reinigung mit einer Angestellten als Führungskraft. So kann Frau sich
die Welt wirklich schönreden.
({5})
Ministerin von der Leyen, die sich für Frauen nur
dann zuständig fühlt, sofern sie Mütter sind, sagt aber
auch: Eine Kanzlerin reicht; wir brauchen keine Gleichstellungsgesetze. Sie hält sie sogar für kontraproduktiv.
Dabei sollte ihr das Beispiel Norwegen zu denken geben. 2003 hat Norwegen versucht, mit einer freiwilligen
Vereinbarung mehr Frauen in Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften zu bringen. Das war ein Flop - ebenso
wie die freiwillige Vereinbarung in Deutschland mit den
Spitzenverbänden und der Bundesregierung. Nun gibt es
seit Januar in Norwegen ein Gesetz, das vorsieht, dass
der Frauenanteil bis Ende 2007 bei 40 Prozent liegen
muss; anderenfalls droht die Auflösung der Aufsichtsräte. So viel Mut würde ich uns auch einmal wünschen.
({6})
- Sehr gut, jetzt klatscht sogar die SPD. Das ist toll.
Dabei ist eines interessant: Dieses Gesetz wurde nicht
von einer Feministin eingebracht, sondern vom konservativen Wirtschaftsminister Gabrielsen, der kritisierte,
dass zu viel Wissenspotenzial und Innovation verloren
ginge, wenn Frauen ausgeschlossen werden.
Im Übrigen ist der Minister zutiefst davon überzeugt,
dass viele der internationalen Firmenskandale der letzten
Jahre nicht passiert wären, wenn in den Aufsichtsräten
statt der - jetzt zitiere ich den Minister - „Raffgier der
Männer in den 50ern vielfältigere Interessen dominiert
hätten“.
({7})
- Ja, das kann man eigentlich gar nicht mehr kommentieren. - In der Tat stellt auch in Deutschland die Männerdominanz in den Führungsetagen ein unglaubliches
Innovationshemmnis dar.
({8})
Ich wage die Behauptung, dass es einen Zusammenhang zwischen der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung, der hohen Arbeitslosigkeit und der Männerdominanz in den Spitzengremien der Wirtschaft gibt. Bei der
Frage, warum Frauen trotz bester Qualifikation nicht in
die Toppositionen kommen, stößt man auf sehr provokative Thesen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
Die erste These ist: Männer haben Angst vor mächtigen Frauen. Salman Rushdie geht sogar so weit, die
Angst islamischer Männer vor der weiblichen Sexualität
als eine Ursache für den Terrorismus anzusehen.
Zweite These. Männer wollen unter sich bleiben.
Gleichberechtigte Frauen sind da eher Fremdkörper oder
auch Spielverderberinnen. VW mit seinem reinen Männervorstand ist eigentlich das beste Beispiel dafür. Was
da vor einigen Monaten öffentlich wurde, war sicherlich
nur die Spitze des Eisberges.
({9})
Nach gelungenen Abschlüssen gönnten sich die Herren
sexuelle Dienstleistungen auf Firmenkosten. Klar, da
würden Vorstandsfrauen nur stören. Herr Hartz hatte bei
seinen Vorschlägen zur Arbeitsmarktreform die Halbierung der Zahl der Arbeitslosen angekündigt. Das ist ihm
nicht gelungen. Um den Erhalt der Arbeitsplätze in der
Sexindustrie hat er sich aber offensichtlich verdient gemacht.
({10})
Die Sammelklage der sechs US-Managerinnen gegen
eine zum Allianzkonzern gehörende Bank wegen systematischer Diskriminierung zeigt den richtigen Weg auf:
Frauen brauchen Rechte. Darum ist es dringend notwendig, dass das Antidiskriminierungsgesetz schleunigst
verabschiedet wird.
({11})
Aber das reicht nicht aus. Es gibt nicht die eine Maßnahme oder das eine Gesetz, wodurch die Gleichstellung
auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden kann. Hier müssen viele Maßnahmen zusammenwirken. Aus dem umfangreichen Forderungskatalog unseres Antrages stelle
ich Ihnen einige wesentliche Forderungen vor:
Die Bundesregierung muss aufgrund der Analysen,
die sie ja teilt, endlich ein Programm zur Gleichstellung
von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt auflegen. Wir brauchen endlich gesetzliche Regelungen zur
Umsetzung der Chancengleichheit in der Wirtschaft.
Aber daneben wollen wir auch Anreize geben. Die öffentliche Auftragsvergabe soll daran gekoppelt werden,
dass Unternehmen Maßnahmen zur Gleichstellung ergreifen. Ein gutes Vorbild für Frauenförderung in der
Wirtschaft sind die USA. Auch dort hat nicht der Gleichheitssatz der Verfassung die Frauen vorangebracht. Es
waren vielmehr zum einen die zur Ausführung der Verfassung verabschiedeten Anreizsysteme und zum anderen der Mut, auch vor gesetzlichen Regelungen und
Sanktionen nicht zurückzuschrecken.
Aber zurück zu Deutschland. Damit Frauen endlich
den gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit erhalten,
müssen alle Tarifverträge untersucht und neu bewertet
werden.
({12})
Die Tarifverträge für den öffentlichen Dienst sollten
hierbei ein erster Ansatzpunkt sein.
({13})
Das Ehegattensplitting hat sich vielfach als Hindernis für Ehefrauen erwiesen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Da sagt der Ehemann: Das lohnt sich eigentlich
gar nicht. Ich bekomme doch 9 000 Euro Steuervergünstigung.
({14})
Wir wollen daher eine Individualbesteuerung, damit
Frauen auf ihrer Gehaltsabrechnung sehen, was sie wirklich verdienen.
Viele erwerbslose Frauen werden durch die HartzIV-Regelungen nach wie vor benachteiligt. Auch dies
ist nicht neu. Das haben wir als Grüne schon während
unserer Regierungszeit immer wieder mahnend angemerkt. Diese Frauen haben aufgrund der Anrechnung
des Partnereinkommens nicht nur keine Einnahmen,
sondern auch keinen Anspruch auf Fördermaßnahmen
der Arbeitsagentur. An dieser Stelle muss eine Klarstellung im SGB II vorgenommen werden.
Die Bundesregierung muss diese Maßnahmen zügig
umsetzen. Es ist wirklich schade, dass die Ministerin
nicht hier ist. Ich hätte sie gern selbst angesprochen. Die
Ministerin sollte die Frauenfrage nicht auf die Frage der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf reduzieren; denn es
geht um viel mehr. Es geht um eine grundlegende Veränderung der Geschlechterverhältnisse und damit um
die Veränderung eines wesentlichen Grundprinzips unserer Gesellschaft. Die Frauen haben einen langen Veränderungsprozess hinter sich. Nun sind die Männer am
Zug. Die gesetzlichen Voraussetzungen - ich nenne nur
die Elternzeit - haben wir unter Rot-Grün geschaffen.
Inzwischen gibt es auch viele verbal aufgeschlossene
Männer, aber den Worten müssen jetzt auch Taten folgen.
({15})
Sowohl die Linke als auch die FDP haben Anträge in
die Debatte eingebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, ich freue mich darüber, dass
unser Antrag Sie so inspiriert hat. Viele Analysen und
Forderungen sind wortwörtlich mit denen unseres Antrags identisch.
Was von der FDP kommt, finde ich immer sehr überraschend. Sie stehen wie so oft vor einem Problem. Sie
sehen zwar die Diskriminierung der Frauen, meinen
aber, dass Leistung allein reicht, um sich durchzusetzen.
({16})
- Natürlich, so steht es in Ihrem Antrag! - Ich habe vorhin gesagt - Sie haben es gehört -, wie qualifiziert die
Frauen sind. Demnach müssten sie an der Spitze sein.
Das ist aber nicht so. Sie scheuen gesetzliche Regelungen wie die Teufelin das Weihwasser. Diesen Widerspruch versuchen Sie zu verdecken, indem Sie sagen,
dass die Regelungsdichte am Arbeitsmarkt abgebaut
werden müsste. Von Ihnen wird immer wieder behauptet, eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes würde ausreichen.
({17})
Ich stelle Ihnen einmal die Frage: Wie soll sich denn
eine Frau in einem völlig ungesicherten Arbeitsverhältnis beispielsweise für ein Kind entscheiden?
({18})
Sie sehen, Frau Kollegin Lenke: Ideologie hilft hier
nicht weiter.
({19})
Ich hätte mich gern mit den Vorstellungen der großen
Koalition auseinander gesetzt. Aber offensichtlich sehen
Sie, verehrte Kollegen und Kolleginnen der CDU/CSU
und der SPD, überhaupt keinen Handlungsbedarf.
({20})
Ich finde, das sollten die Frauen in diesem Land wissen.
Sie sollten wissen, dass von Ihnen keine Vorschläge gemacht werden und dass Ihres Erachtens keine Regelungen notwendig sind, um die desaströse Situation von
Frauen, die sehr gut ausgebildet sind, dann aber nicht auf
entsprechende Arbeitsplätze kommen, zu verbessern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
hätte von Ihnen wirklich mehr erwartet. Ich finde schon,
dass das ein Armutszeugnis ist. Vielleicht wird die Debatte in den Ausschüssen das Ganze noch etwas mehr
aufhellen.
Da sich die Union vollauf damit beschäftigt, unter
großen Querelen ihr Familienbild zu entstauben, sehe
ich ein, dass von da nichts zu erwarten ist, wobei eine
Ministerin, die einen kompletten Teil ihres ja nicht sonderlich großen Ressorts einfach vernachlässigt, im besten Fall als ignorant zu bezeichnen wäre.
({21})
Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesem
Land deutlich mehr Anstrengungen, um Antworten auf
die Geschlechterfrage im 21. Jahrhundert zu finden.
Ich danke Ihnen.
({22})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung. Herr Beck,
bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei dieser Debatte über die Frauenpolitik ist merkwürdigerweise die Frauenministerin nicht anwesend. Ich beantrage namens der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen die Herbeizitierung der Frauenministerin. Ich
finde, es zeugt von Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament, dass sie draußen Interviews gibt, während hier
eine Debatte zu einem wichtigen Bereich ihres Ressorts
stattfindet.
({0})
Wird zu diesem Antrag das Wort gewünscht? - Das
ist nicht der Fall. Dann lasse ich darüber abstimmen.
Wer tritt dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen bei? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? ({0})
Wir sind uns hier nicht einig. Deshalb wiederhole ich die
Abstimmung.
({1})
Wer dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen beitreten will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Mehrheit
stimmt eindeutig für den Antrag. Damit ist die Ministerin herbeizuzitieren.
({2})
Die Sitzung ist unterbrochen, bis die Ministerin eintrifft.
({3})
Wir setzen die Debatte fort.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu ihren
Plätzen zu begeben, und gebe das Wort der Kollegin
Dr. Eva Möllring, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen erfreut uns heute mit einer besonders kämpferischen Zeile,
die irgendwie nostalgische Erinnerungen an ihre frühen
Jahre weckt. Sie heißt: „Innovationshemmnis Männerdominanz beenden.“
Als ich Ihre Fraktion vorhin bei dem Beitrag Ihrer
Kollegin gesehen habe, konnte ich feststellen, dass sie
gerade einmal zwei Männer bei dieser Debatte aufzuweisen hatte.
({0})
Jetzt, Herr Beck, nachdem es um Sieg oder Niederlage
bei der Abstimmung ging, sind natürlich - ganz zufällig - mehr Männer Ihrer Fraktion im Saal anwesend.
({1})
- Ich provoziere überhaupt nicht, Herr Beck. Ich gehe
auf die Fakten ein, die Sie selber geschaffen haben.
({2})
Ob Sie aber Ihre Innovationskraft nun gerade dadurch
beweisen, indem Sie heute gesetzliche Gleichstellungsregelungen für die Privatwirtschaft fordern, wage ich zu
bezweifeln. Denn Ihre Forderung stammt aus dem
Koalitionsvertrag von 1998.
({3})
Diese haben Sie heute aufgewärmt. Im Laufe der sieben
Folgejahre haben Sie dann 2001 diese Forderung in eine
freiwillige Vereinbarung umgewandelt.
({4})
Seitdem ruht still der See.
Kämpferisch Extremforderungen zu stellen ist einfacher in der Opposition. Aber dieses Problem ist zu ernst,
als dass man es durch martialische Forderungen noch ins
Lächerliche ziehen sollte.
({5})
Verschiedene Studien belegen auch für das Jahr 2005,
dass Frauen im Erwerbsleben ein deutlich geringeres
Einkommen und weniger Chancen haben als Männer.
Es muss uns alle aufschrecken, wenn Frauen, die Vollzeit arbeiten, in Westdeutschland durchschnittlich
23 Prozent - dies ist der Spitzenwert - weniger verdienen als Männer. Als Gesetzgeber sind wir allein schon
aufgrund der Maßgabe unseres Grundgesetzes, aber
auch aus innerem Gerechtigkeitsempfinden aufgerufen,
die Ursachen für diesen Befund festzustellen und gegenzusteuern.
Die Problematik hat ja Geschichte. Man muss der
Ehrlichkeit halber darauf hinweisen, dass in den letzten
Jahren viele Maßnahmen und Initiativen gestartet wurden, um hier voranzukommen. Das hat dazu geführt,
dass sich der Abstand zwischen dem Einkommen von
Frauen und demjenigen von Männern um einige Prozentpunkte verringert hat, aber eben nicht in dem Maße,
dass wir uns zufrieden zurücklehnen könnten. Manch einer sagt vielleicht auch heute noch - oder er denkt es -:
Muss das denn überhaupt sein? Meine Frau ist ganz zufrieden, ohne groß Geld zu verdienen, und das können
doch auch andere sein.
Was es bedeutet, auf Unterhalt angewiesen zu sein,
keine vernünftige eigene Rente zu erwarten und in der
Arbeitswelt an untergeordneter Stelle hängen zu bleiben,
kann man wohl nur beurteilen, wenn man es persönlich
erlebt. Wenige protestieren laut; aber viele Frauen erleben es. Deswegen setzen wir als CDU/CSU uns dafür
ein, hier im Sinne der Frauen Fortschritte zu machen.
Wir haben das im Koalitionsvertrag in mehreren Kapiteln festgelegt.
({6})
Dazu gehört: Wir brauchen heute - und morgen noch
viel mehr - gut ausgebildete Frauen auf dem Arbeitsmarkt als Fachkräfte. Nur die Nutzung von männlicher
und weiblicher Qualifikation wird uns optimal nach
vorne bringen. Deshalb werden wir uns dafür einsetzen,
dass Frauen die gleichen Chancen und Rechte auf dem
Arbeitsmarkt erhalten wie Männer.
Die Frage ist nun: Was sind die Ursachen für diese
eklatanten Einkommensunterschiede und wie kann
man dem am besten entgegenwirken? Neben vielen einzelnen Gründen springen besonders zwei ins Auge:
Erstens, die Konzentration der jungen Frauen auf Berufe, die geringes Ansehen haben und in denen eine
schlechtere Bezahlung erfolgt als in anderen, oder, anders gesagt, die schlechte Bezahlung in Berufen, die vor
allem von Frauen gewählt werden. Da brauchen wir den
gezielten Einsatz der Tarifparteien.
Der Girls’ Day war ein Anfang und ist wohl die bekannteste von zahlreichen Maßnahmen, um Frauen für
lukrativere Berufe in anderen Feldern zu öffnen. Dieses
Ziel müssen wir konsequent weiterverfolgen, während
wir gleichzeitig Jungen für all das fit machen sollten,
was nicht so in ihrem Blickfeld liegt. Da sind sich wohl
alle Parteien einig.
Zweitens. Der entscheidende Grund für das geringere
Einkommen der Frauen ist zweifellos die Familienarbeit. Andersherum gesagt: Männer verdienen mehr als
Frauen, weil sie eben meist keine Familienarbeit leisten.
Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass Frauen oft
aus dem Beruf aussteigen, sondern nur, dass sie sich
nicht in gleicher Weise beruflich fortentwickeln können
wie ihre männlichen Kollegen. Bis zum 30. Lebensjahr
sind Frauen nämlich zu 43 Prozent an Führungspositionen beteiligt. Danach bricht der Anteil auf 30 Prozent
ein und sinkt kontinuierlich auf 20 Prozent ab. Bei zwei
Dritteln der Frauen in Führungspositionen leben keine
Kinder unter 18 Jahren im Haushalt. Nur 9 Prozent dieser Frauen haben überhaupt mehrere Kinder.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt: Dieses
Problem werden wir nur überwinden, wenn wir unsere
Denkschemata völlig ausplündern und umstellen. Das ist
kein Spruch; denn das ist das Schwierigste an der ganzen
Sache. Das Wichtigste ist, erst einmal zu erkennen, dass
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf uns alle angeht
und der Konflikt von uns allen zu lösen ist und nicht speziell allein von der Frau, die gerade betroffen ist.
({7})
Dazu muss erst einmal zugelassen sein, dass man am
Arbeitsplatz das Thema Familie überhaupt offen ansprechen kann. Bislang ist das ja ein Tabu. Zugelassen sind
Fotos auf dem Schreibtisch und die Erwähnung guter
Schulabschlüsse der Kinder. Aber die Änderung der Arbeitszeit, um zu Hause Kindergeburtstag zu feiern, gilt
als albern und unprofessionell.
Das liegt auch nicht zuletzt daran, dass Väter diesen
Teil des Lebens oft von sich weisen. Die Empörung darüber, dass Väter gegen gutes Entgelt ganze zwei Monate ihres Lebens ihr Kind erziehen könnten, zeigt deutlich, dass Familienarbeit ein erschreckend geringes
Ansehen hat.
({8})
Deshalb müssen wir jetzt diejenigen Väter stärken und
unterstützen, die bereit sind, sich partnerschaftlich und
familienbewusst zu entwickeln. Wir werden ohne aktive
Väter nicht weiterkommen. Davon bin ich überzeugt.
({9})
Wir machen also mit dem Elterngeld einen mutigen,
doppelten Schritt nach vorn, indem wir Anreize für
Frauen und gleichzeitig für Männer schaffen, sich für
Kinder und Beruf zu entscheiden. Die Kinderbetreuungsmöglichkeiten in Deutschland müssen erweitert
werden. Es gibt jetzt hoffnungsvolle Modelle flexibler
Betreuung, die wir auf allen politischen Ebenen positiv
begleiten und stärken müssen. Das ist einfacher gesagt
als getan. Ich war lange Jahre in der Kommunalpolitik
und weiß, was das in Bezug auf die Räte und Kreistage
bedeutet.
Als Nächstes werden wir ein anteiliges Steuersystem
einführen, das wir im Koalitionsvertrag vorgesehen haben. Damit soll erreicht werden, dass auch verheiratete
Frauen Berufstätigkeit nicht als unattraktiv empfinden.
Übrigens, Frau Schewe-Gerigk, die Elternzeit ist
nicht von Rot-Grün, sondern unter einer CDU-geführten
Regierung eingeführt worden. Das möchte ich nur in Erinnerung rufen.
({10})
Fort- und Weiterbildung ist nach meiner Überzeugung ein ganz wichtiger Schlüssel. Deswegen möchte
ich den unter Nr. 7 des Antrages der Grünen formulierten Vorschlag gern aufgreifen, dem ich durchaus zustimmen kann. Er ist aber etwas zu kurz gegriffen. Der Förderanspruch muss vielmehr für alle Frauen gelten, die
keinen Arbeitsplatz haben und gleichwohl keine Leistungen der BA beziehen. Darauf könnten wir uns einigen.
Vor allem ist es notwendig, immer wieder auf Betriebe und Unternehmen zuzugehen, damit sie alle Möglichkeiten schaffen, mit denen sie die besonderen Qualitäten von Frauen erkennen und fördern und gleichzeitig
Familienarbeit anerkennen können. Viele Betriebe haben
ja schon hervorragende Initiativen gestartet, die ich hier
gar nicht aufzählen kann. Diese müssen wir weiter tragen. Ich glaube, es ist ein guter und erfolgreicher Weg,
wenn Frauen in Betrieben, zum Beispiel durch Coaching, persönlich gefördert werden und wenn der Betrieb davon überzeugt ist, dass das eine gute Sache ist.
Daneben erwarte ich von der Offensive „Familienfreundliche Arbeitswelt“, die wir beschlossen haben, zusätzliche Impulse. Ich könnte mir zum Beispiel auch
vorstellen, dass ein Unternehmen anbieten könnte, bei
Verzicht auf einen Dienstwagen eine Haushaltshilfe zu
engagieren. So viel zu den Denkschemata.
({11})
Statt Verpflichtungen und Sanktionen, die die Frauen
womöglich noch Arbeitsplätze kosten, brauchen wir
Einsichten und zahlreiche unterschiedliche Strategien,
um voranzukommen. Die Frauen laufen nicht mit Transparenten und Flüstertüten durch die Straßen. Sie entscheiden sich leise: Jede Dritte arbeitet in einem Betrieb,
der Frauen ausdrücklich fördert - oder die Frauen verzichten eben auf Kinder.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! „Weiblich, qualifiziert, benachteiligt“ - so lautete der Titel einer überregionalen
Tageszeitung, der die Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt treffend beschreibt. Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz verpflichtet den Staat, die tatsächliche Durchsetzung
der Gleichberechtigung zu fördern und aktiv auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Die hohe
Arbeitslosigkeit - über 5 Millionen Menschen sind arbeitslos - hat die strukturell schlechte Situation von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt verstärkt. Mit den rot-grünen Hartz-Gesetzen ist das klassische Modell des männlichen Familienernährers und einer von ihm finanziell
abhängigen Ehefrau oder Partnerin verfestigt worden,
und zwar mit tatkräftiger Unterstützung der Grünen.
({0})
Besonders Frauen aus den neuen Bundesländern empfinden das als starke Diskriminierung. Immer wenn ich in
die neuen Bundesländer komme, gibt man mir es als
Auftrag mit auf den Weg, dies im Bundestag anzusprechen.
Nun haben die Grünen heute einen Antrag mit dem
Titel „Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt verwirklichen“ eingebracht, und das nach sieben Jahren Regierungstätigkeit. Sie hatten doch Gelegenheit, in der rotgrünen Koalition Politik zugunsten von Frauen zu gestalten.
({1})
Stattdessen ist in Ihrer Regierungszeit die Arbeitslosigkeit gestiegen, auch die Arbeitslosigkeit von Frauen.
({2})
- Diese Zahlen können Sie doch nicht in Abrede stellen.
Wenn Sie jetzt in Ihrem Antrag wieder die Keule eines Gleichstellungsgesetzes für die Wirtschaft herausholen,
({3})
wenn Sie wieder Ihre Idee der Bevorzugung von Unternehmen bei öffentlichen Aufträgen als Forderung an die
Regierung richten, dann sage ich Ihnen: Mit diesen alten
Rezepten, Herr Beck, wird der Arbeitsmarkt nicht gesunden.
({4})
Dieser Meinung sind wir. Wir haben andere Rezepte.
({5})
Auf demselben Holzweg ist die große Koalition. Sie
wird die Mehrwertsteuer erhöhen und die Konjunktur
abwürgen. Auch die Konzepte der CDU/CSU, die das
konservative Familienbild
({6})
des allein verdienenden Ehemannes pflegt, tragen nicht
dazu bei, Frauen zu ermutigen, ihre berufliche Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt anzubieten.
({7})
Herr Dr. Kues, Sie mögen vielleicht ein anderes Familienbild haben, aber einer Pressemitteilung der Jungen
Gruppe der CDU/CSU-Fraktion konnte ich entnehmen,
dass man dort dafür ist, das traditionelle Familienbild
weiter zu pflegen. Deshalb führe ich das hier aus. Wenn
Sie eine Einzelmeinung in der CDU/CSU vertreten,
dann sollten Sie als Staatssekretär dafür sorgen, dass es
in Ihrer Fraktion besser wird.
({8})
Wir alle wissen, dass Frauen durch Familienpflichten
im Wettbewerb um einen Arbeitsplatz besonders benachteiligt sind. Allein der Verdacht, die Bewerberin
könnte Mutter werden, reicht aus, um einen Job nicht zu
bekommen. Diese Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt - darüber sind wir uns Gott sei Dank über alle
Fraktionsgrenzen hinweg einig - kann nur durch verlässliche Angebote für eine bedarfsgerechte hochwertige
Kinderbetreuung beseitigt werden.
Ich komme noch einmal auf Sachsen-Anhalt zurück,
das wir letzte Woche besucht haben. In Sachsen-Anhalt
hat die Regierung, an der die FDP beteiligt ist, etwas
ganz Besonderes geleistet. Dort gibt es einen Rechtsanspruch für berufstätige Alleinerziehende und berufstätige Eltern auf Kinderbetreuung vor der Einschulung von
bis zu zehn Stunden täglich. Das finde ich sehr vorbildlich.
({9})
- Ihren Einwurf kann ich aus Zeitgründen nicht weiter
beachten. Stellen Sie eine Frage, dann können wir uns
darüber unterhalten.
Auch die Arbeitgeber sind nicht ganz unschuldig.
Viele Arbeitgeber haben bei Bewerbungen von Männern
und Frauen nicht die Qualifikation als Erstes im Auge,
sondern treffen die Auswahl nach Geschlecht.
({10})
Das ist nicht in Ordnung. Noch heute werden junge Väter, wenn sie Elternzeit in Anspruch nehmen, nicht ernst
genommen. Eine Kollegin von der CDU hat gerade den
Paradigmenwechsel bei den Vätern angesprochen. Dieser Paradigmenwechsel hat bei den jungen Vätern bereits stattgefunden. Ihn müssen wir politisch unterstützen.
Deshalb erwartet die FDP von Ihnen als Bundesministerin, Frau von der Leyen, ein umfassendes und
nachhaltiges Konzept zur Unterstützung berufstätiger
Mütter und Väter. Unsere Forderung an Sie ist - wie
schon seinerzeit an die Familienministerin der rot-grünen Koalition -: Wir wollen keine leeren Schlagworte!
Das Elterngeld, das Sie versprechen und über das Sie
landauf, landab diskutieren, ist bisher nur eine leere
Hülle.
({11})
Auf Nachfrage der FDP musste die Bundesregierung
- Sie können gern die Antwort der Bundesregierung
nachlesen - kleinlaut einräumen, dass sie beim Elterngeld bisher kein Konzept, sondern nur Eckpunkte hat.
({12})
Auch jetzt noch fehlt es in den Firmen und im öffentlichen Dienst an Einsicht, dass zum Beispiel Gender
Mainstreaming Teil einer modernen Personalpolitik
und Innovations- und Erfolgsfaktor einer Organisation
ist. Dass die traditionelle Frauenförderung vom Gender
Mainstreaming abgelöst wurde, ist in der Wirtschaft wie
in der Politik bei den Führungsebenen noch nicht angekommen.
({13})
Die Wirtschaft handelt meines Erachtens sehr kurzsichtig, wenn sie Frauen vor der Tür stehen lässt.
Die Bertelsmann-Stiftung hat diese Woche eine Studie veröffentlicht, die deutlich aufzeigt, dass deutsche
Unternehmen das Leistungs- und Kreativpotenzial von
Frauen noch nicht erkannt haben. Durch die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft - das wissen
wir - werden die Unternehmen die Nase vorn haben, die
jetzt Männer und Frauen einstellen.
({14})
Wir Liberale bringen heute einen Antrag ein, in dem
die Bundesregierung unter anderem aufgefordert wird,
Fehlanreize im Steuer- und Transfersystem, wie zum
Beispiel die Steuerklasse V, zu beseitigen, Schwächen in
der Arbeitsvermittlung und in der Arbeitsmarktpolitik zu
beheben, die hohe Regulierungsdichte am Arbeitsmarkt
abzubauen und die Existenzgründungsförderung für
Frauen konsequent fortzusetzen und im Rahmen bestehender Programme zielgruppengerecht auszugestalten.
Wer Existenzgründerinnen besucht, der hört stets die
Klage, dass Sparkassen und Banken keine Kredite geben
wollen. Dabei wird gerade dort das Hohelied auf Existenzgründungsförderung für Frauen gesungen. Insofern
gibt es also eine große Diskrepanz.
Wir wollen, dass die Bundesregierung zusammen mit
den Ländern in den Schulen und im Berufsbildungssystem unternehmerisches Denken bei Mädchen und Frauen
stärker fördert. Die Berufswahl von jungen Frauen soll
in den Fokus gestellt werden. Wir brauchen mehr Frauen
in männerdominierten Tätigkeiten. Denn diese sind besser vergütet. Über 55 Prozent aller erwerbstätigen
Frauen arbeiten in nur 20 Berufen. Das sollte uns zu denken geben. Deshalb sollten wir im Bundestag auch die
Eigenverantwortung und Eigeninitiative von Frauen ansprechen. Ich finde, dass das sehr wichtig ist. Wir sollten
Frauen nicht immer nur beschützen, sondern wir sollten
sie auffordern, in ihrem eigenen Bereich Stellung zu beziehen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
In einer liberalen Bürgergesellschaft brauchen wir
Menschen, die bereit zu Veränderungen sind. Frauenpolitik muss vorangetrieben werden im Bewusstsein, dass
Frauen mehrheitlich besser qualifiziert sind und dass sie
neue Perspektiven, Wissen und Erfahrungen in die Gesellschaft einbringen. „Weiblich, qualifiziert, benachteiligt“ darf es nicht länger geben. Chancengleichheit muss
endlich selbstverständlich werden. Aber nicht nur das.
„Weiblich, qualifiziert, benachteiligt“ kann sich unsere
Gesellschaft nicht mehr leisten.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Lenke, Sie haben gerade in Ihrer Rede die
Wirtschaft heftig dafür kritisiert, wie sie auf Frauen
reagiert.
({0})
Aber ich entdecke in Ihrem Antrag leider keine einzige
Lösung für dieses Problem. An dieser Stelle wird der
Freiheitsbegriff für mich leider auch ein Begriff der Beliebigkeit.
({1})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, „Tun Sie mehr dafür, dass Frauen ihren Wunsch nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf verwirklichen können!“. Das war ein Appell beim 150-jährigen Jubiläum
der IHK in meinem Wahlreis am letzten Freitag. Dieser
Appell kam nicht etwa von Renate Schmidt oder Alice
Schwarzer, sondern von Ludwig Georg Braun, dem Vorsitzenden des Industrie- und Handelskammertages
selbst. Er wandte sich dabei an ein Auditorium, das zu
95 Prozent aus Männern bestand. Das war völlig neu.
Denn das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“
stand vor sechs Jahren nicht zur Debatte, als Herr Braun
an gleicher Stelle über Innovation und Zukunft sprach.
Ist das schon gleichstellungspolitischer Fortschritt? Ist
das unser frauenpolitischer Erfolg?
Eines ist sicher: Die SPD und allen voran die Ministerinnen Christine Bergmann und Renate Schmidt haben
das Thema Gleichstellungspolitik immer wieder bei den
Wirtschaftsverbänden und Unternehmen in den Vordergrund gestellt.
({2})
- Ja, das darf man ruhig einmal wohlwollend zur Kenntnis nehmen. - Mit beiden Frauen und der SPD-geführten
Regierung verbinden wir heute wesentliche gleichstellungspolitische Fortschritte.
Ich nenne nur das Gender-Mainstreaming-Prinzip als
durchgängiges Prinzip, das Gleichstellungsgesetz für
den öffentlichen Dienst, das Gleichstellungsgesetz für
die Soldatinnen, die Reform der Elternzeit und - das ist
ganz wichtig - den Ausbau der Infrastruktur, das heißt,
mehr Ganztagsschulen und mehr Betreuung für unter
Dreijährige. Das alles sind wichtige Schritte hin zum
Ziel der Gleichstellung der Geschlechter.
Nach fast 100 Jahren Internationalem Frauentag und
nach fast 60 Jahren Grundgesetz und Art. 3 würde ich
mir jetzt allerdings noch schnellere Fortschritte wünschen. Denn es gilt immer noch - das haben wir in den
Reden gerade gehört -: Gerade auf dem Arbeitsmarkt
werden traditionelle Rollenbilder verfestigt. Anders lässt
sich nicht erklären, warum Frauen, die noch nie so gut
ausgebildet waren wie heute, keine entsprechenden Karrierechancen haben, warum Frauen selbst dann ein geringeres Gehalt erhalten, wenn sie im gleichen Büro arbeiten wie ihre männlichen Kollegen und die gleiche
Tätigkeit ausüben, warum Frauen nach einer Familienphase oder Kündigung länger arbeitslos sind als Männer,
warum Frauen mehrheitlich in geringfügiger Beschäftigung zu finden sind und die Frauenerwerbsquote weit
unter der Männererwerbsquote liegt.
Diese Analyse wird von ganz vielen unterschiedlichen Untersuchungen mit Daten belegt. Darum ist es
vielleicht auch zu erklären - das sage ich der Ministerin
Frau von der Leyen -, dass die „Zweite Bilanz der
Vereinbarung der Bundesregierung mit den Spitzenverbänden der Deutschen Wirtschaft zur Förderung der
Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft“ - so lautet der lange Titel - ohne großen
Paukenschlag in der Presse veröffentlicht wurde. Die Bilanz bestätigt, die so genannte freiwillige Vereinbarung
war nicht wirkungsvoll.
({3})
- Das darf man ruhig feststellen. Die Frauen werden es
feststellen.
2004 waren in den 100 größten Unternehmen neben
685 Männern nur vier Frauen in Vorstandspositionen.
Eine Steigerung der Anzahl von Frauen in Spitzenpositionen um durchschnittlich 2 Prozent innerhalb von vier
Jahren ist wirklich kein Ruhmesblatt. Bei diesem Schneckentempo würde es noch ein weiteres halbes Jahrhundert dauern, bis in Führungspositionen Geschlechterproporz hergestellt ist. Auf weitere 50 Jahre Trippelschritte
- das sage ich Ihnen ganz deutlich - können und wollen
wir Frauen nicht warten.
({4})
Wenn die freiwilligen Vereinbarungen nicht zu einem
Erfolg führen, muss ein Gleichstellungsgesetz her.
({5})
Ich betone an dieser Stelle ganz bewusst, dass das die
Forderung der SPD-Frauenpolitikerinnen war und ist.
Das ist gar keine Frage.
Norwegen - Frau Schewe-Gerigk hat das vorhin gesagt - macht es uns vor: Seit Beginn dieses Jahres ist gesetzlich geregelt, dass im Vorstand von Aktiengesellschaften mindestens 40 Prozent Frauen vertreten sein
müssen. Eine zweijährige Phase der freiwilligen Selbstverpflichtung hatte zuvor nicht zu dem angestrebten Erfolg geführt.
Wir Frauen - auch das sage ich an dieser Stelle - haben auf das Antidiskriminierungsgesetz und die damit
verbundene Gleichstellungsstelle gehofft. Beides hätte
den Frauen geholfen, ihre Rechte besser durchzusetzen.
Aber die gleichen Männer aus den Wirtschaftsverbänden, die an die Unternehmer appellieren, mehr dafür zu
tun, dass Frauen Familie und Beruf vereinbaren können,
bekämpfen das Antidiskriminierungsgesetz. Es sei zu
bürokratisch und wettbewerbsfeindlich. Das legt die
Vermutung nahe, dass die Chancengleichheit von Frauen
und Männern zwar in Sonntagsreden als innovatives
Thema angekommen ist, in der Realität aber noch nicht.
Deshalb appelliere ich an Herrn Braun und die Wirtschaftsverbände: Machen Sie sich die Erkenntnis zu Eigen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht
nur ein Problem der Frauen ist. Tatsächliche Gleichstellung bedeutet, dass Männer und Frauen gleichermaßen
und gleichberechtigt am Arbeitsmarkt vertreten sein
müssen.
({6})
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
fordert neben familiengerechten Arbeitsbedingungen
bessere Möglichkeiten der Kinderbetreuung zur Verbesserung der Karrierechancen von Frauen. Der Ausbau
von Kinderbetreuung bleibt auf unserer Agenda. Dafür
stellen wir den Kommunen jährlich 1,5 Milliarden Euro
zur Verfügung.
({7})
- Frau Lenke, hören Sie weiter zu, es wird noch spannender. Wenn wir traditionelles Rollenverhalten aufbrechen wollen, brauchen wir zusätzliche Instrumente. Im
Koalitionsvertrag haben wir uns tatsächlich - das ist vorhin schon erwähnt worden - auf das Elterngeld festgelegt. Bei einer 67-prozentigen Lohnersatzleistung bis zu
einer maximalen Höhe von 1 800 Euro wird es den Vätern zukünftig schwer fallen, nach der Geburt eines Kindes zu sagen: „Schatz, bleib du doch zu Hause. Bei meinem hohen Einkommen lohnt sich Elternzeit nicht.“
({8})
Frau Humme, die Kollegin Lenke würde gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Nein, das möchte ich jetzt nicht - gleich!
Vielen jungen Männern kommt diese Regelung sogar
entgegen. Sie möchten nach der Geburt ihres Kindes
kein Feierabend- und Wochenendpapi sein, sondern sich
mehr und stärker der Erziehungsarbeit widmen. Darum
ist es mir - bis zum heutigen Tag - überaus unverständlich, dass ein Aufschrei durch den Blätterwald und durch
manche männliche Politikerwelt ging, weil mindestens
zwei Monate der Elternzeit den Vätern vorbehalten sein
sollen, ähnlich, wie es uns Schweden und Island erfolgreich vormachen. Haben wir etwa die Männer erwischt,
die sich ihr eigenes Lebensmodell geschaffen haben, die
Hausfrau im Rücken, von der sie gerne als Familienmanagerin schwärmen, während sie selbst erfolgreich im
modernen Ambiente leben und arbeiten? Rasten sie aus,
wenn ihr eigener Lebensentwurf infrage gestellt ist?
Frau Kollegin Humme, würden Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke zulassen?
Vielleicht kann ich diesen Gedanken noch zu Ende
führen. - Ich glaube, es würde eine wesentliche Änderung unseres Politikverhaltens bedeuten, wenn wir nicht
nur Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt ergreifen, sondern gleichzeitig auch das Ziel verfolgen würden - das
ist, soweit ich Sie, Frau Lenke, kenne, unser gemeinsames Ziel -, Rollenverhalten infrage zu stellen und zu
verändern. Gerade das Elterngeld soll, indem auch die
Väter in den Blick genommen werden, dazu ermuntern,
neue Rollenkonzepte zu leben.
Ich weiß, dass Herr Braun bei der IHK-Veranstaltung
genau diese Rollenveränderung nicht unbedingt im Blick
hatte. Ich glaube, ihm sind zwei Erkenntnisse wichtig:
erstens, dass die Wirtschaft aufgrund des zu erwartenden
Fachkräftemangels nicht auf das Know-how von Frauen
verzichten kann, und zweitens, dass eine Gesellschaft
ohne Kinder schrumpft, was auch ein schrumpfendes
Wirtschaftswachstum zur Folge hätte.
Egal, aus welcher Perspektive wir dieses Thema betrachten: Die Förderung der Gleichstellung auf dem
Arbeitsmarkt ist unverzichtbar. Ich teile ausdrücklich
die Auffassung, dass es im Interesse der Gleichstellung
eine richtige Forderung ist, die Männerdominanz im Arbeitsleben zu brechen. Aber das geht meiner Ansicht
nach nur, wenn wir auch die Frauendominanz bei der Familien- und Erziehungsarbeit brechen. Daran auch in
Zukunft zu arbeiten, das wird unsere Aufgabe in der großen Koalition sein.
Danke schön.
({0})
Frau Lenke, bitte.
Frau Humme, die Frage, die ich Ihnen stellen möchte,
ist wirklich keine rhetorische Frage, sondern sehr ernst
gemeint:
({0})
Es geht um das Erziehungsgeld, das normalerweise
zwölf Monate lang bezogen werden kann.
({1})
Diese zwölf Monate können die Eltern frei untereinander
aufteilen. Auch wir wollen, dass der Bezug des Elterngeldes zwischen Vätern und Müttern frei aufgeteilt werden kann.
Ich kenne zwar nur die Umrisse der von Ihnen angedachten Regelung des Elterngeldes, aber bislang kann
ich eine nur zehnmonatige Alimentierung erkennen.
Denn heutzutage nehmen nur 5 Prozent der Männer Erziehungsurlaub.
({2})
Das bedeutet, dass in den nächsten Jahren statt zwölf nur
zehn Monate genommen werden. Meine Frage lautet
nun: Wollen Sie die Frauen bestrafen, die sich in ihrer
Partnerschaft nicht durchsetzen können, dass ihr Mann
zwei Monate zu Hause bleibt? Denn diese Familien bekommen nicht zwölf Monate Elterngeld, sondern nur
zehn Monate. Das finde ich persönlich nicht in Ordnung
und an Ihrem Konzept nicht gut.
({3})
- Natürlich. Das hat Frau von der Leyen doch schon in
jeder Zeitung kommuniziert.
({4})
Frau Lenke, ich gebe zu, dass ich diese Frage vielleicht von Herrn Dörflinger oder Herrn Singhammer erwartet hätte, nicht aber von Ihnen.
({0})
Wenn ich die „Süddeutsche Zeitung“ von heute lese,
wundere ich mich, dass Sie als Frauenpolitikerin Ihrer
Fraktion unsere Forderung, die Väter stärker in die Familienarbeit einzubeziehen und zu diesem Zweck ein
Modell zu kopieren, das in Schweden und Island bereits
hervorragend funktioniert, nicht unterstützen.
({1})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Schweden oder Island schon einmal jemand - erst recht nicht eine Frau eine solche Frage gestellt hat.
Schönen Dank.
({2})
Ich gebe das Wort der Kollegin Karin Binder, Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und
Herren! Im Jahre 1910 hat die deutsche Sozialistin und
Feministin Clara Zetkin den Grundstein für den gestrigen Internationalen Frauentag gelegt. Es ging ihr und ihren Mitstreiterinnen darum, Frauenrecht als Menschenrecht durchzusetzen. Die Frauenrechtsbewegung hat seit
dieser Zeit einige Erfolge und damit auch einen großen
gesellschaftlichen Fortschritt erzielt. Trotzdem gibt es
noch viel zu tun.
({0})
Die Gleichberechtigung von Frauen ist in vielen Bereichen noch lange nicht verwirklicht. Die aktuellen
Berichte der Europäischen Kommission, der Bundesregierung und der Hans-Böckler-Stiftung liefern sehr anschauliches, ausführliches und detailliertes Datenmaterial und ernüchternde Ergebnisse. Sie belegen eines sehr
deutlich: Frauen sind im Erwerbsleben nach wie vor
massiv benachteiligt. Frauen verdienen im Durchschnitt
circa 20 Prozent weniger als Männer. Deutschland steht
damit in der EU an drittletzter Stelle. Die Europäische
Kommission stellte fest, dass die geschlechtsspezifische
Lohndifferenz in Deutschland im Gegensatz zu der in
anderen europäischen Staaten nicht kleiner, sondern größer wird. Wenn diese Tendenz anhält, dann bringen wir
es bald zur roten Laterne in der EU.
Nach dem WSI-Frauendatenreport der Hans-BöcklerStiftung verdienen Frauen in Westdeutschland allein aufgrund ihres Geschlechts bis zu einem Drittel weniger. Im
Osten fällt der Unterschied etwas geringer aus, aber das
ist keine wirklich gute Nachricht; denn dort verdienen
auch die Männer einfach weniger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier besteht eindeutig Handlungsbedarf.
({1})
Es ist nicht damit getan, dass wir § 612 Abs. 3 ins
Bürgerliche Gesetzbuch geschrieben haben, der die unterschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern verbietet. Wir brauchen zudem verbindliche Verfahrensvorschriften, zum Beispiel ein Entgeltgleichheitsgesetz wie
in Schweden. Dort müssen Arbeitgeber, die mehr als
zehn Beschäftigte haben, Entgeltunterschiede identifizieren und sie müssen einen Aktionsplan für die Angleichung der Arbeitsentgelte aufstellen.
Wir fordern deshalb dringend die Einführung eines
Gleichstellungsgesetzes für die Privatwirtschaft.
({2})
Freiwillige Regelungen reichen nachweislich nicht aus.
Nun komme ich zur Erwerbsbeteiligung. In Deutschland arbeiten generell weniger Frauen als Männer in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Wenn Frauen eine Erwerbstätigkeit aufnehmen,
dann ist das immer häufiger nur eine Teilzeitstelle oder
gar ein Minijob. Über zwei Drittel der ausschließlich geringfügig Beschäftigten sind weiblich. Der Anteil der
Frauen, die weniger als 15 Stunden wöchentlich arbeiten,
hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Solange wir
dem nicht entgegenwirken, ist vielen Frauen eine eigenständige Existenzsicherung schlicht und ergreifend nicht
möglich. Das heißt in der Konsequenz, sie sind finanziell
wieder verstärkt von ihrem Partner oder von staatlicher
Unterstützung abhängig. Dieses staatlich geförderte Ernährermodell ist kulturell und sozialpolitisch ein Relikt
aus dem 19. Jahrhundert.
({3})
Abgesehen davon geht es auch gesellschaftspolitisch an
den Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbei. Der
Mann geht arbeiten, sofern er überhaupt Arbeit hat, die
Frau ist wieder für Familie und Hausarbeit zuständig und
verdient dazu - in Lohnsteuerklasse V.
Das Ehegattensplitting ist ein gravierendes frauenfeindliches Element in unserem Steuerrecht. Unser Steuerrecht muss deshalb dringend geändert und gegendert
werden,
({4})
wenn der Staat seinem Auftrag nach Art. 3 Abs. 2
Grundgesetz nachkommen will, der dem Staat vorgibt,
die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken.
Wir müssen in diesem Land endlich anfangen, die bezahlte und die unbezahlte Arbeit umzuverteilen: zwischen Arbeitsplatzbesitzerinnen/Arbeitsplatzbesitzern und
Erwerbslosen,
({5})
aber auch - geschlechtergerecht - zwischen Frauen und
Männern; Arbeit ist schließlich mehr als genug vorhanden. Aber dazu ist ein gesamtgesellschaftliches Umdenken bei der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nötig
und die Abkehr vom Ernährermodell zwingend.
Wir müssen dafür sorgen, dass Frauen - und selbstverständlich auch Männer - von ihrem Einkommen leben können. Dazu brauchen wir neue Arbeitsplatz- und
Arbeitszeitmodelle und dazu ist die Ausweitung des öffentlichen Beschäftigungssektors dringend erforderlich.
({6})
Wir brauchen existenzsichernde, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und einen staatlich festgelegten
Mindestlohn statt 1-Euro-Jobs, Minijobs und Niedriglohntarife.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf dringend - und
das nicht nur auf dem Papier. In Deutschland gibt es auch
heute noch viele Ecken - speziell im Westen -, wo die
Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienpflichten
schlicht unmöglich ist. Wissen Sie, wie die Betreuungssituation in Baden-Württemberg aussieht? Für Kinder unter drei Jahren gibt es so gut wie keine Betreuungsangebote.
({8})
Auf 1 000 Kinder kommen circa 13 Betreuungsplätze.
Wie soll da eine junge Mutter ihre gute Qualifikation erhalten? Die Halbwertszeit für Wissen ist heute extrem
kurz. Wenn sie drei Jahre zu Hause bleibt, gilt ihr Fachwissen eventuell schon als überholt.
Dank unserer hohen Mobilität und Flexibilität in der
Arbeitswelt wohnt Oma heute leider nicht mehr um die
Ecke, nein, sie wohnt am anderen Ende von Deutschland; denn die jungen Menschen müssen ihr soziales
Umfeld für die Chance auf einen Arbeitsplatz häufig
verlassen. Da greifen nicht mehr die gewohnten Strukturen von Familie und Freundeskreis.
Kinderbetreuung, aber auch andere Leistungen müssen heute erkauft werden. Dies geht jedoch nur, wenn
das Geld dafür auch da ist. Wenn das Geld dafür fehlt,
helfen auch keine Steuerbegünstigungen. Dann hat Frau
die Wahl: Entweder sie bleibt ganz zu Hause und kümmert sich um Kinder, Küche und den Gemüsegarten oder
sie hat nebenher noch einen so genannten 400-Euro-Job,
damit wenigstens noch ein kleines Zubrot ins Haus
kommt.
Aus diesem Grund fordern wir einen Rechtsanspruch
auf ganztägige Betreuung für alle Kinder von Geburt an
und ein flächendeckendes, qualifiziertes und kostenfreies Betreuungsangebot für Kinder und Jugendliche
von null bis 14 Jahren.
({9})
Solange es in der Bundesrepublik keine ausreichende
Kinderbetreuung gibt und solange in der Regel Frauen
diesen Mangel auffangen müssen, kann keine Rede von
Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit auf
dem Arbeitsmarkt sein.
Damit bin ich beim Thema Arbeitszeit, das mich seit
mehreren Wochen besonders beschäftigt. Wie Sie wissen, sollen Beschäftigte im öffentlichen Dienst wieder
länger arbeiten. Dabei geht es nicht nur um 18 Minuten
Mehrarbeit am Tag, sondern es geht auch um Zigtausend
Arbeitsplätze im Land - bis zu 250 000 -, die abgebaut
werden sollen.
({10})
Damit geht es auch um einen erneuten Angriff auf die
Gleichstellung von Männern und Frauen.
Die Erhöhung der Arbeitszeit - noch dazu ohne
Lohnausgleich, wie es die Arbeitgeber fordern - bedeutet für die Beschäftigten nicht nur Einkommenseinbußen
und niedrigere Stundenlöhne, längere Arbeitszeiten sorgen auch für weniger Freizeit, weniger Zeit für Familie,
weniger Zeit für Kinder, weniger Zeit für Angehörige,
weniger Zeit für das soziale Umfeld und persönliche Beziehungen
({11})
und auch weniger Zeit für das wichtige und oft geforderte bürgerschaftliche Engagement.
In der Regel werden die Männer diese Arbeitszeitverlängerung auf sich nehmen. Das zwingt aber die in Teilzeit arbeitenden Frauen meist, ihre Erwerbstätigkeit weiter zu reduzieren, da sie in der Regel die soziale
Hauptverantwortung im privaten Bereich tragen und dort
die Hauptarbeit leisten. Dies hat für die Frauen wiederum Einkommensverluste und, was noch schwerer
wiegt, weitere Einbußen bei der Altersrente zur Folge.
Sie, die öffentliche Hand als Arbeitgeber, führen unsere Gesellschaft zurück in eine vermeintlich vergangene Zeit und zementieren längst überholte Rollenverteilungen der Geschlechter. Einmal abgesehen davon, dass
ein Zurück zur 40-Stunden-Woche angesichts der Erwerbslosenzahlen in Deutschland schlicht und ergreifend rückschrittlich und kontraproduktiv ist: Längere
Wochenarbeitszeiten ohne Lohnausgleich sind aus frauenpolitischer Sicht und unter dem Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit ein kompletter Unsinn und der völlig
falsche Weg.
({12})
Deshalb sollten nicht nur meine Fraktion und ich, sondern wir alle die Streikenden in ihrem Bemühen um die
Beibehaltung der bisherigen Arbeitszeit unterstützen.
({13})
Unser Staat muss laut Verfassung die tatsächliche
Durchsetzung der Gleichberechtigung fördern und dafür
sorgen, bestehende Nachteile zu beseitigen. Dazu muss
er gegebenenfalls gesetzliche Regelungen abschaffen
oder zumindest ändern, wenn sich herausstellt, dass sie
in ihrer Wirkung Frauen benachteiligen.
Damit komme ich zum Schluss auf Hartz IV zu sprechen. Durch die Bedarfsgemeinschaft à la Hartz IV und
die Anrechnung des Partnereinkommens werden überwiegend Frauen vom Bezug staatlicher Leistungen ausgeschlossen. Sie werden finanziell in die Abhängigkeit
ihres Partners gedrängt. Außerdem verlieren sie Rentenansprüche und das Recht auf Vermittlung und Weiterbildung durch die Bundesagentur. Auch damit wird das
überkommene Ernährermodell und die ganz konkrete
Benachteiligung von Frauen zementiert.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz. - Das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft ist unsozial, ungerecht und frauenfeindlich
und muss schleunigst abgeschafft werden.
({0})
Es muss durch den Individualanspruch auf eine existenzsichernde Grundsicherung für Frauen und Männer ersetzt werden.
Ich danke.
({1})
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede hier. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses und wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Arbeit.
({0})
Als Nächstes hat das Wort die Kollegin Rita
Pawelski, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Schewe-Gerigk - - Wo ist sie
jetzt?
({0})
- Ich sehe, sie kommt gerade. Setzen Sie sich wieder hin
und hören Sie zu. - Als ich Ihren Antrag gelesen habe,
habe ich gedacht: Donnerwetter, die Grünen haben aber
Mut! Gerade einmal gut 100 Tage aus der Regierungsverantwortung und in der Opposition verfassen sie einen
Antrag, in dem Deutschland als eine frauenpolitische
Wüste dargestellt wird.
({1})
Da muss man sich schon fragen: Was haben denn die
Grünen sieben Jahre lang in der Regierungsverantwortung getan? Eine Ihrer Kolleginnen war doch sogar
Staatssekretärin im Frauenministerium.
({2})
Ich erinnere mich an viele Reden von Ihnen, Frau
Schewe-Gerigk, die Sie im Ausschuss und auch hier gehalten haben. Auf unsere Fragen, ob man nicht mehr machen könne, haben Sie immer wieder versichert: Alles ist
in bester Ordnung, wir haben alles im Griff, es ist wunderbar.
Geschmunzelt habe ich über Ihren klassenkämpferischen Ausdruck „Innovationshemmnis Männerdominanz beseitigen“.
({3})
Ich hatte schon den Eindruck, als hätten die Frauen bei
den Grünen die „Fischer-Ära“ noch nicht ganz verarbeitet. Dass Sie unter der Dominanz von Herrn Fischer gelitten haben, glaube ich Ihnen schon.
({4})
Wir sind auf dem Wege zur Gleichstellung von Mann
und Frau schon viele Schritte vorangekommen. Aber
ganz ehrlich: Wir sind noch lange nicht am Ziel. Es
stimmt: Noch immer sind Frauen in den Führungsetagen
von Unternehmen unterrepräsentiert. Der Frauenanteil
in Managerpositionen beträgt bei uns nur 28 Prozent,
in Litauen 41 Prozent, in Irland 39 Prozent und in Lettland 38 Prozent. In den 200 DAX-30-Vorständen ist nur
eine einzige Frau vertreten.
({5})
Das ist nicht gut; das muss man so deutlich sagen.
({6})
Ich habe nicht immer den Eindruck, dass in den Vorständen der DAX-30-Unternehmen alles in Ordnung ist und
dort die besten Männer vertreten sind. Vielleicht wäre
dort mit einem höheren Frauenanteil mehr los. Hier
muss noch etwas getan werden. Dass Frauen auf Führungsebenen mehr können, beweisen wir doch im Bundestag mit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel.
({7})
Diese Frau ist top. Sie zeigt den Regierungschefs in Europa, wo es langgeht. Frauen können es also.
({8})
Leider muss ich auch sagen: Es stimmt, dass Frauen
noch immer geringere Einkommen als ihre männlichen
Kollegen haben. Von gleichem Lohn für gleiche Arbeit
kann leider keine Rede sein. Weibliche Angestellte im
produzierenden Gewerbe, im Handel, im Kredit- und
Versicherungswesen verdienten im Jahr 2004 durchschnittlich 2 672 Euro, männliche Angestellte dagegen
bei gleicher Arbeit 29 Prozent mehr.
Das ist auch in technischen Berufen so. Der Bruttojahresverdienst einer Technikerin zum Beispiel beträgt
im Durchschnitt 31 400 Euro, der eines Technikers
45 400 Euro. Das ist nicht in Ordnung, zumal Frauen
heute höhere und bessere Schulabschlüsse als Männer
erreichen. Der Frauenanteil bei den Abiturienten lag
2004 bei 56 Prozent; 49 Prozent der Studienanfänger
und Absolventen waren weiblich.
Ich frage mich deshalb, warum Frauen ihre Qualifikationen nicht in Führungspositionen und ein angemessenes Gehalt umsetzen können. Warum gelingt uns das
nicht? Dafür gibt es mehrere Gründe. Das Karrierehindernis Nummer eins sind Vorurteile. Viele karriereund familieorientierte Frauen werden im Job oft mit
überholten gesellschaftlichen Rollenbildern konfrontiert.
Ihr Verhalten wird mit ganz anderen Augen gesehen als
das der männlichen Kollegen. Ein Familienfoto auf seinem Schreibtisch: Er ist ein solider, treu sorgender Ehemann. Ein Familienfoto auf ihrem Schreibtisch: Ihre Familie kommt vor dem Beruf. Er geht mit dem Chef zum
Essen: Er macht Karriere. Sie geht mit dem Chef zum
Essen: Sie haben wohl was miteinander. Bei ihm gibt es
Nachwuchs: Grund für eine Lohnerhöhung. Bei ihr gibt
es Nachwuchs: Sie fällt aus - die Firma zahlt.
Ein weiteres Karrierehindernis ist die Studien- und
Berufswahl. Weibliche Studenten sind in zukunftsträchtigen technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen deutlich unterrepräsentiert. Man trifft sie vor allem in den Sprach-, Kultur- und Geisteswissenschaften
sowie in gesundheitlichen und medizinischen Studiengängen.
54 Prozent - also mehr als die Hälfte - der weiblichen
Auszubildenden wählen lediglich zehn der 360 anerkannten Ausbildungsberufe. Trotz Girls’ Day, Beratung,
Flyern und Hinweisen geht immer noch über die Hälfte
der jungen Frauen in zehn Ausbildungsberufe. Das sind
Berufe wie Büro- und Einzelhandelskauffrau, Friseurin,
Arzthelferin, Verkäuferin und Hotelfachfrau, die als
frauentypische Berufe angesehen werden. Eigentlich
wollen wir das doch nicht. Warum aber machen das die
jungen Frauen immer noch so, obwohl sie wissen, dass
das oft eine Sackgasse für ihre Karriere ist?
Das dritte und wohl größte Hindernis sind die
Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf. Das bestätigen auch Studien: 2003 waren nur
60 Prozent der Frauen mit Kindern unter zwölf Jahren
erwerbstätig. Bei den kinderlosen Frauen waren es
79,5 Prozent. Das ist ein gravierender Unterschied.
Frauen wollen aber beides: Sie wollen Beruf und Familie
vereinbaren.
Familie darf kein Karrierehemmnis sein. Mütter bringen viele wichtige Kompetenzen mit, um die Produktivität von Unternehmen zu steigern. Sie sind gut organisiert,
führungsstark und beherrschen das Zeitmanagement hervorragend. Sie sind ein Gewinn für Unternehmen.
({9})
Das müssen die Unternehmen auch langsam anerkennen.
Unsere Familienministerin Ursula von der Leyen
engagiert sich in vorbildlicher Weise, um Hindernisse
abzubauen. Sie kämpft für Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit und sensibilisiert Unternehmen für den
Erfolgsfaktor Frau. Mit ihr sind wir auf dem richtigen
Weg.
({10})
Denn eines muss klar sein: Wir müssen die Benachteiligungen von Frauen im Erwerbsleben beseitigen.
({11})
Aber dazu brauchen wir meines Erachtens keine neuen
gesetzlichen Keulen. Die von den Grünen erhobene Forderung, öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zu
vergeben, die sich für Gleichberechtigung einsetzen,
hilft nicht weiter.
({12})
Gesetze haben wir genug. Es gibt schon so viele Vorschriften und Gesetze. Was wir brauchen, sind Taten
und Leute, die die Gesetze endlich umsetzen. Wir brauchen mehr Frauen, die den Mut haben, in Männerdomänen einzudringen, und wir brauchen mehr Männer, die
den Mut haben, in Frauendomänen einzubrechen. Dort
sind sie herzlich willkommen.
({13})
Wir brauchen mehr Männer, die sich auch der Kindererziehung und Kinderbetreuung widmen.
({14})
Sie fordern, den Tarifvertrag für den öffentlichen
Dienst im Bereich des Bundes geschlechtsneutral anzupassen. Sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, warum haben Sie das in Ihrer Regierungszeit nicht
getan? Ich sage noch einmal: Wir haben ein Gleichstellungsgesetz - das haben Sie mit verabschiedet - sowie
Gleichstellungsbeauftragte in Bund, Ländern und Kommunen. Alle Gesetze werden heutzutage durchgegendert. Was fehlt, was wir brauchen, sind Vorgesetzte, die
darauf achten, dass die bestehenden Gesetze eingehalten
werden.
({15})
Völlig kontraproduktiv ist der Vorschlag, Unternehmen zu bestrafen, die nicht für Chancengleichheit sorgen. Welche Sanktionen wollen Sie hier eigentlich verhängen? Was ist mit Firmen, in denen körperlich
schwere und gefährliche Arbeit vor allem von Männern
verrichtet wird, zum Beispiel im Straßenbau? Frauen
wollen hier gar nicht arbeiten. Aber gerade Straßenbaufirmen leben von öffentlichen Aufträgen. Daher ist Ihr
Vorschlag nicht in Ordnung. Sie haben außerdem Norwegen als Beispiel genannt. Dazu kann ich nur sagen:
Wir werden das Ganze sehr genau beobachten.
Wir brauchen aber kein neues Gesetz zur Herstellung
der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der
Privatwirtschaft. Ein solches Gesetz hat schon Exbundeskanzler Gerhard Schröder nicht gewollt. Er hat das
von Ihnen geforderte Gesetz 2001 beerdigt mit der Begründung: „Nicht für jedes gesellschaftliche Problem
muss ein Gesetz gemacht werden.“ Sie, meine Damen
und Herren von den Grünen, waren damals Regierungspartner. Statt eines Gesetzes gab es eine freiwillige Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft. Sie haben
jahrelang Zeit gehabt, bei jedem Firmenbesuch und in
jedem Gespräch mit Unternehmern auf diese Vereinbarung hinzuweisen.
Wir wissen, dass die erzielten Erfolge verbesserungsfähig sind. Wir sind sicherlich nicht zufrieden. Aber wir
haben etwas erreicht, und zwar auch aufgrund Ihrer Arbeit. Daher verstehe ich gar nicht, warum Sie das alles so
wegwischen.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Haßelmann zulassen?
Nein. Meine Redezeit ist leider gleich zu Ende. Frau
Haßelmann, bitte stellen Sie Ihre Frage anschließend.
Es gibt eine Zunahme bei der Zahl der weiblichen
Führungskräfte um 2 Prozent. Das ist sicherlich nicht genug. Kluge Chefs brauchen keine gesetzliche Gängelung; denn sie erkennen das Potenzial gut ausgebildeter
und hoch motivierter Frauen und werben rechtzeitig um
sie. Schon allein mit Blick auf den demografischen Wandel müssen sie es tun; denn sonst bleiben ihre Unternehmen nicht wettbewerbsfähig. Es gibt bereits positive
Beispiele, wenn auch nicht genug. Wir brauchen jedenfalls mehr kluge Chefs.
Auch bei den Existenzgründungen berufen Sie sich
auf etwas, was wir eigentlich schon haben. Es gibt bereits Existenzgründerinnenzentren und Beratungsstellen
für Frauen in fast jeder großen Stadt.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja. - Bei den Industrie- und Handelskammern sowie
bei den Handwerkskammern gibt es gute Beratungsstellen, für die sicherlich noch mehr Werbung gemacht werden müsste.
Wir sind auf einem guten Weg. Wir wollen keine
neuen Gesetze, sondern, dass die bestehenden Gesetze
eingehalten werden.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Britta Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Kollegin, schade, dass Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben. Dabei wäre das doch gar nicht auf Ihre Redezeit angerechnet worden. Ich nutze deshalb die
Gelegenheit, eine Kurzintervention bzw. eine Kurzmitteilung zu machen.
Wir haben von Ihnen erfahren, was Sie alles nicht
wollen, nämlich eine klare Aussage dazu, dass das Antidiskriminierungsgesetz eigentlich keinen Beitrag zur
Gleichstellung leistet, und eine Antwort auf die Frage,
wie wir es hinbekommen, dass die Wirtschaft ihren Beitrag zur Gleichstellung leistet. Zuletzt haben Sie gesagt,
es gebe keine Notwendigkeit, gesetzliche Regelungen zu
beschließen. Ich habe Ihren Koalitionsvertrag anders
verstanden. Aber ich gehöre Gott sei Dank nicht zu denjenigen, die mit Ihnen darüber zu verhandeln haben.
Mein Eindruck ist jedenfalls, dass sich SPD und Union
über den Bereich der Gleichstellung eigentlich verständigen wollen.
Da Sie Ihre Redezeit ausschließlich dazu genutzt haben, zu sagen, was Sie alles nicht wollen, interessiert
mich nun, was die Union vorschlägt, damit wir bei den
Themen „Frauenförderung“ und „Gleichstellung“ vorankommen. Damit haben Sie deutlich unter Beweis gestellt, dass Sie keine Antworten zu geben haben.
({0})
Frau Kollegin Pawelski.
Verehrte Frau Kollegin, zuerst einmal muss ich sagen:
Sie haben nicht richtig zugehört;
({0})
denn ich habe sehr wohl gesagt, was wir wollen. Ich
habe gesagt: Wir haben so viele Gesetze, dass sie mittlerweile ganze Bibliotheken füllen. Wir wollen, dass diese
Gesetze endlich von den Behörden und den Unternehmen umgesetzt werden. Sie waren sieben Jahre in der
Regierungsverantwortung. Sie hätten jahrelang Zeit gehabt, bei jedem Besuch in einer Behörde oder in einem
Unternehmen darauf hinzuweisen, dass die Chancengleichheit für Frauen durchgesetzt werden soll. Sie hätten ständig die Vereinbarung vom Juli 2001, die der
damalige Bundeskanzler mit den Unternehmen geschlossen hat, in der Tasche haben müssen, hätten sie jedem Unternehmen zeigen und sagen müssen: Das haben
Ihre Funktionäre unterschrieben. Bitte, richten Sie sich
danach! - Das haben Sie nicht ausreichend getan. Die
Folge davon ist Ihr Antrag.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Renate Gradistanac von
der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der gestrige 95. Frauentag ist der erste Frauentag in Deutschland mit einer Frau an der Spitze der Regierung, Frau Bundeskanzlerin Merkel.
({0})
Schade, dass sie nicht da ist. Ich freue mich aber, dass
unser Vizekanzler die ganze Zeit so aufmerksam zuhört.
Herzlichen Dank!
({1})
Frauen kämpfen noch immer gegen Vorurteile und
traditionelle Frauenbilder in den Köpfen von Männern.
Aber auch viele Frauen haben ein konservatives Rollenbild. Konservative Männer und Frauen erschweren den
Anstieg der Zahl weiblicher Vorbilder. Wir brauchen
mehr Frauen, an denen sich Frauen orientieren können.
Wir heißt es so schön? Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
Wo sind denn Frauen in Gremien oder an der
Spitze von Organisationen gleichberechtigt vertreten?
Nicht im Deutschen Bundestag. Von 33 CDU-Abgeordneten aus Baden-Württemberg sind gerade einmal zwei
Frauen. Bei der SPD sind von 23 Abgeordneten zehn
Frauen.
({2})
Nicht beim DIHK. Bei der Spitzenorganisation der Industrie- und Handelskammern ist nicht eine Frau im Vorstand. Nicht beim Handwerk. Im Präsidium des ZDH ist
eine Frau vertreten. Nicht bei den Arbeitgeberverbänden. Unter den 89 Mitgliedern im BDA-Vorstand befinden sich vier Frauen. Nicht bei den Banken. Vorstand
des Bundesverbandes Deutscher Banken: Fehlanzeige.
Vorstand des Bundesverbands Öffentlicher Banken:
Fehlanzeige. Vorstand der Deutschen Bundesbank: Fehlanzeige. Im Vorstand der KfW-Bankengruppe sitzt eine
Frau, Ingrid Matthäus-Maier.
({3})
Übrigens auch nicht bei den Gewerkschaften. Keine Frau
ist Vorsitzende einer der acht DGB-Gewerkschaften. Von
den 13 Mitgliedern im Bundesvorstand des DGB sind
zwei Frauen.
Da, wo Macht und Geld verteilt werden - das ist ein
alter Hut; umso trauriger -, muss frau schon ganz genau
hinschauen, um überhaupt eine Frau zu finden und um
Fortschritte zu erkennen. In den obersten Leitungsebenen von Betrieben und im Topmanagement findet
Gleichstellung leider nur Schritt für Schritt statt. Wir kritisieren das, wir bedauern das und wir hoffen, dass sich
die Schritte ein bisschen beschleunigen.
({4})
Der Antrag der Grünen stößt bei mir auf viel Sympathie.
({5})
Mir gefällt die Überschrift „Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt verwirklichen - Innovationshemmnis Männerdominanz beenden“. Ich finde das toll. Diese Überschrift provoziert - ich merke das -, aber ich finde auch,
dass es eine unerträgliche Provokation ist, dass Frauen in
Deutschland im Durchschnitt immer noch 23 Prozent
weniger verdienen als Männer. Darüber sollten wir uns
aufregen.
({6})
Im Antrag der Grünen wird darauf hingewiesen, dass die
Unterschiede nicht durch strukturelle Differenzen zu erklären sind, sondern allein durch die Diskriminierung
aufgrund des Geschlechts.
Ich erwarte von den Tarifpartnern, dass sie sich endlich einmal mit dem Thema Gleichstellungspolitik beschäftigen. Sie sollten dieses Thema nicht nebenbei behandeln wie in der Vergangenheit, sondern entschlossen
und prioritär. Hierbei sind die Arbeitgeberseite und die
Gewerkschaftsvertreter gefordert. Ich denke an die Herren Hundt, Sommer, Braun und wie sie alle heißen. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit! Wie lange sollen gut
und bestausgebildete Frauen aller Einkommensstufen
Lohndiskriminierung eigentlich noch hinnehmen?
Das rot-grüne Antidiskriminierungsgesetz war in
der letzten Legislaturperiode - leider, leider! - nicht
durchsetzbar.
({7})
- Es war nicht durchsetzbar, und wir wissen, warum. Dieses Gesetz bietet gute Möglichkeiten. Die geforderte
nationale Stelle - mein Wunsch ist, dass sie beim Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt wird - halte ich für ein hilfreiches Instrument, um
bestehende Diskriminierung abzubauen. Voraussetzung
hierfür sind allerdings die Unabhängigkeit dieser Stelle
und eine ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung.
Ich will, dass wir den Diskriminierungsschutz sowohl
im Zivilrecht als auch im Arbeits- und Sozialrecht für
Frauen jeden Alters, für Migrantinnen, für Lesben und
für Frauen mit Behinderungen umsetzen. Gerade Frauen
mit Behinderungen erzielen - das zeigt der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht - deutlich niedrigere Einkommen als Männer mit Behinderungen.
Ich bedauere - das ist meine persönliche Meinung -,
dass es während der rot-grünen Regierungszeit nicht gelungen ist, ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft durchzusetzen.
({8})
Die Bilanz der freiwilligen Vereinbarung von Spitzenverbänden der Wirtschaft und der Bundesregierung ist
wahrlich kein Grund zum Jubeln. Es gibt Bewegung
beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir
SPD-Frauen wollen aber nicht nur Familienförderung,
sondern auch eine gezielte Frauenförderung.
({9})
Auffallend ist - das haben wir mittlerweile schon
mehrmals gehört -, dass kleine Betriebe häufiger von
Frauen geführt werden und dass große Betriebe eher von
Männern geführt werden. Weibliche Führungskräfte
sind überwiegend in Betrieben des Gesundheitswesens,
des Sozialwesens, im Groß- und Einzelhandel sowie in
den Bereichen Gastronomie und Kosmetik anzutreffen.
Deshalb ist die EU-Dienstleistungsrichtlinie für uns
Frauen von großer Bedeutung. Der Kompromiss, den
wir maßgeblich der SPD-Europaabgeordneten Evelyne
Gebhardt zu verdanken haben, bietet eine gute Arbeitsgrundlage für EU-Kommission und Rat. Ich plädiere dafür, die Dienstleistungsrichtlinie vom Gender-Kompetenz-Zentrum evaluieren zu lassen.
Die Gleichstellung der Geschlechter ist im Rahmen
der Lissabonstrategie ein Instrument für Wachstum und
Beschäftigung. Mehr Arbeitsplätze für Frauen ist eines
der Ziele, deren Erreichung ich von dieser Bundesregierung erwarte. Mit „mehr Arbeitsplätze“ meine ich Arbeitsplätze für Frauen mit existenzsichernden Löhnen.
Wir in Deutschland können den Wettbewerb nur gewinnen, wenn die Kinderbetreuung uneingeschränkt
gesichert ist. Väter und Mütter müssen darauf bauen
können, dass die Infrastruktur in jedem Kindesalter verlässlich ist. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz und
dem Ganztagsschulprogramm haben wir in der letzten
Legislaturperiode eine gute Grundlage gelegt.
({10})
- Ich warte darauf, dass mehr klatschen. ({11})
Mit der Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten und
dem zukünftigen Elterngeld gehen wir diesen Weg weiter.
Die Dienstleistungsverbände in Baden-Württemberg
haben in einem Positionspapier zur dortigen Landtagswahl zu Recht einen Betreuungsplatz für jedes Kind bis
zum Schulalter und bedarfsgerechte Öffnungszeiten von
Betreuungseinrichtungen gefordert, und zwar - das ist
für berufstätige Menschen wichtig - ganzjährig und über
16 Uhr hinaus.
Letztes Thema. Deutschland ist bereits Fußballweltmeister; das gilt jedenfalls für die Frauenmannschaft.
({12})
Jetzt wollen wir einmal schauen, was die Männer so
können! Klaus Wowereit und Theo Zwanziger sind
Schirmherren der Kampagne „Abpfiff - Schluss mit
Zwangsprostitution“, die der Deutsche Frauenrat anlässlich der Fußballweltmeisterschaft gestartet hat. Frauenhandel und Zwangsprostitution sind kriminell und
verletzen die Menschenwürde. Von den Männern, die zu
Prostituierten gehen - wir wissen, dass das sehr viele
sind -, wünsche ich mir, dass sie bei Verdacht auf Zwang
und Gewalt Meldung erstatten. Es wird eine Telefonnummer geben, an die sie sich anonym wenden können.
Den Frauen, die legal und selbstbestimmt der Prostitution nachgehen, wünsche ich gute Geschäfte.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, letzter Satz. - Ich hoffe, dass wir in Kürze weitere
gesetzliche Verbesserungen für Prostituierte erreichen
werden.
Ich wünsche der Bundeskanzlerin und der Ministerin
Ursula von der Leyen viel Freude und Erfolg bei der
Gleichstellungspolitik.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, es freut mich, dass Sie den Weg zu uns noch
gefunden haben. Einer frauenpolitischen Diskussion zuzuhören, ist für eine Ministerin, gerade wenn sie frisch
im Amt ist, sicherlich wichtig und richtig. Ich bin sicher,
dass Sie uns in Zukunft bei frauenpolitischen Diskussionen ganz besonders begleiten.
({0})
Mit dem Thema Männerdominanz ist ein Tag nach
dem Internationalen Frauentag, gewissermaßen am „Day
after“, hier im Deutschen Bundestag ein interessantes
Thema aufgesetzt worden. Die Männerdominanz ist in
Familien und Communities hier lebender Migrantinnen
und Migranten präsent. Gerade auf dieses Thema
möchte ich Ihr besonderes Augenmerk lenken.
Uns ist es noch nicht gelungen, Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund in unsere westliche
und freiheitlich orientierte Gesellschaft zu integrieren.
Tagtäglich ist die Diskriminierung von Frauen und Mädchen in der patriarchialen Gesellschaft, in der sie aufwachsen, präsent.
({1})
Das große Potenzial auch von Migrantinnen für unsere
Wirtschaft und für unser Wirtschaftsleben gilt es zu erschließen. Ohne Wenn und Aber muss die Schulpflicht
zur Bildungschance werden. Das ist eine Aufgabe, der
wir uns verstärkt annehmen müssen.
({2})
Nur so erhält eine offene Zuwanderungspolitik auch ihre
innere Bestätigung.
Wichtigste Instrumente zur Vorbereitung auf die Teilnahme am Arbeitsmarkt sind hierbei die verbindliche
und verbindende Deutschpflicht in der Schule und auf
den Schulhöfen sowie die obligatorische Teilnahme am
Sport- und Biologieunterricht und an den für eine Gruppenbildung wichtigen Klassen- oder Wandertagsfahrten.
({3})
Eine von den Familien diktierte Ausgrenzung der Mädchen im Kindes- und jugendlichen Alter darf es nicht geben.
({4})
Die Bereitschaft von Migrantinnen, selbstständig oder
als Unternehmerinnen tätig zu werden, ist besonders zu
fördern. Frauen mit Migrationshintergrund, die zwei
Sprachen sprechen, können als Mittlerinnen fungieren.
Ihnen kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie Integration authentisch vorleben, auch mit der Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit ihres Lebens, losgelöst
von der Dominanz von Vätern, Brüdern oder Cousins.
Soziale Gettos müssen aufgebrochen und Parallelwelten geöffnet werden. Gleichberechtigung der Geschlechter muss als Wertgerüst Europas und der westlichen Welt
vorgelebt und mit den hier lebenden Migranten entwickelt werden.
In Anbetracht des Gender Mainstreaming müssen wir
uns auch die Situation von Männern vor Augen führen.
Gerade Männern mit Migrationshintergrund wird ein
Rollenbild abverlangt, das sie in Deutschland nur noch
schwer erfüllen können. Hierbei ist es wichtig, dass
schon früh eine Erziehung hin zur westlichen, europäischen Lebenswelt stattfinden kann. Außerdem ist es
wichtig, dass gerade Mütter in Familien mit Migrationshintergrund die deutsche Sprache lernen, damit sie ihren Söhnen die deutsche Gesellschaft erklären können.
Hier gibt es ja interessante Modelle. Ich denke nur an die
Beispiele, die uns gestern die Integrationsbeauftragte
vorgetragen hat.
Meine Damen und Herren, Frauenpolitik ist ein Faktor, der für eine erfolgreiche Gesellschaft wichtig ist. Die
Einbindung von gut ausgebildeten Frauen und Männern
mit Migrationshintergrund in die deutsche Arbeitswelt
stellt auch eine Möglichkeit dar, unserem demografischen Defizit auf wirtschaftlichem Gebiet zu begegnen.
Frau Humme, Sie haben ja Aussagen des Präsidenten
des Deutschen Industrie- und Handelskammertages zitiert. Dazu möchte ich nur ergänzen: Er ist ein Liberaler.
({5})
Insofern, denke ich, war Ihre Bemerkung, mit dem Liberalismus sei eine Politik der Beliebigkeit verbunden,
schlichtweg falsch; denn der Liberalismus ist eine
Emanzipationsbewegung.
({6})
Somit können wir auf eine lange Tradition in diesem
Politikbereich verweisen.
({7})
Frau Kollegin, Sie müssten nun Ihre Rede beenden.
Mein letzter Satz. - Durch die besondere Förderung
von Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund
können wir ein positives Beispiel geben für Gleichberechtigung im doppelten Sinne: Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und zwischen den unterschiedlichen in Deutschland lebenden Ethnien.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth WinkelmeierBecker, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das vor uns liegende Jahrhundert ist das
Jahrhundert der Frauen. Das ist die Prognose des Zukunftsforschers Matthias Horx. Mit diesem Satz leitet
auch die Europäische Akademie für Frauen in Politik
und Wirtschaft ihre neue Studie über Mütter in Führungspositionen ein. Nicht nur in Bezug auf die demografische Entwicklung, sondern auch mit Blick auf die
aktuellen ökonomischen Herausforderungen werden
Frauen die entscheidende Rolle für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes spielen.
In der Analyse sind wir uns einig: Inzwischen erreichen in Deutschland mehr Frauen als Männer die Allgemeine Hochschulreife; bei den Studienanfängern ist die
Bilanz noch ausgeglichen; auf dem Arbeitsmarkt wird
dann aber eine Gleichstellung von Frauen und Männern
bei weitem noch nicht erreicht. Vor allem in den einflussreichen und einträglichen Positionen sinkt der Anteil der Frauen hierzulande immer noch dramatisch ab
und sie erzielen regelmäßig nur etwa 77 Prozent der Gehälter ihrer männlichen Kollegen, auch wenn es sich um
absolut vergleichbare Positionen und Tätigkeiten handelt.
({0})
Das hat viele Ursachen, unter anderem auch die
Berufswahl von Frauen, die sich vielfach für so genannte frauentypische Berufe entscheiden. Das ist meiner Ansicht nach - dieser Gedanke findet sich ja auch in
den Anträgen der Opposition - ein Missstand. Wir müssen Mädchen und Frauen ermuntern, sich nicht durch
einseitige Rollenbilder vom Einstieg in interessante und
lukrative Berufe abhalten zu lassen.
({1})
Hierzu steht allerdings ein Punkt im Antrag der FDP
im Widerspruch: Sie begründen nämlich dort die Forderung nach Abschaffung von Hemmnissen zur Schaffung
neuer Arbeitsplätze vor allem im Dienstleistungssektor
damit, dass hier in der Regel besonders gute Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen bestünden. Damit legen
Sie Frauen ja wieder auf einen frauentypischen Bereich
fest, in dem sie wieder nicht den Einfluss haben und
nicht das Geld verdienen können wie in anderen Positionen, die zukunftsträchtiger sind. Diese Forderung hilft
uns deshalb, auch wenn sie in anderen Zusammenhängen durchaus berechtigt ist, bei dem Punkt, um den es
hier geht, nämlich der Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, nicht wirklich weiter.
({2})
Mir liegt folgender Punkt besonders am Herzen, wobei dieser nicht die einzige Ursache für die Probleme
darstellt: Schwierigkeiten bereitet vielen jungen Frauen
vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Das führt dazu, dass die Frauen, die trotz aller Hindernisse berufliche Karriere machen, mehr und mehr auf
Kinder verzichten. Frauen, die es in Führungspositionen
schaffen, sind häufiger kinderlos als Männer in vergleichbaren Positionen. Bei den Akademikerinnen liegt
der Anteil derjenigen, die sich komplett gegen Kinder
entscheiden, mittlerweile bei bis zu 40 Prozent. Mehrere
Kinder sind in diesem Fall sogar noch seltener. Das
macht uns an anderer Stelle, bei der demografischen
Entwicklung in der Bundesrepublik mit all ihren negativen Auswirkungen auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationsfähigkeit unseres Landes, ganz
erhebliche Sorgen.
Wenn sich eine qualifizierte Frau für Kinder entscheidet, dann führen alte gesellschaftliche Leitbilder, das traditionelle Rollendenken, männliche Vorurteile und Seilschaften, vor allem aber die praktischen Probleme bei
der Vereinbarkeit von Kindererziehung und Karriere immer noch dazu, dass auch begabte junge Mütter aufgeben und sich länger, als sie es selbst wünschen, und mit
großen Nachteilen bezüglich ihrer Chancen auf eine weitere Karriere auf dem Arbeitsmarkt aus dem Berufsleben
zurückziehen.
Ich möchte hier aber auch nicht unerwähnt lassen,
dass sich viele Eltern sehr gerne um ihre Kinder kümmern und dafür die Berufstätigkeit bewusst ganz oder
teilweise zurückstellen. Ich habe das selber so gemacht.
Ich war als Mutter von drei Kindern jahrelang als Richterin teilzeitbeschäftigt und ich bin nicht bereit, mich dafür in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, auch wenn das
die Nachteile, die damit verbunden sind, nicht gerechter
macht.
({3})
Fakt ist, dass zu wenige Frauen in Fach- und Führungspositionen, ein zahlenmäßig zu kleiner qualifizierter weiblicher Nachwuchs in manchen Disziplinen und
zu wenige positive weibliche Vorbilder für die nachkommende Generation vorhanden sind. Diese Benachteiligung von Frauen stellt eine Vergeudung von Ressourcen
und einen Verzicht auf wichtiges Innovationspotenzial
dar.
Die eingangs genannte Studie der EAF zeigt, wie sehr
familienbezogene und berufliche Kompetenzen sich
positiv verstärken. Für Unternehmen wertvolle Verhaltensweisen wie Gelassenheit, Organisationsfähigkeit und
Pragmatismus werden durch den Alltag mit Kindern
deutlich verstärkt und ausgeprägt. Müttern oder auch
praktizierenden Vätern fällt es nachweislich leichter,
Konflikte zu lösen, Arbeiten zu delegieren, Wichtiges
von Unwichtigem zu unterscheiden und sich die Zeit
sinnvoll einzuteilen; es bleibt einem ja auch nichts anderes übrig. In dieser Hinsicht verschwenden wir wertvolles Know-how, wenn wir es nicht schaffen, diese Frauen,
soweit sie dazu bereit sind, in den Arbeitsprozess zurückzuholen.
({4})
Die Union hat früh erkannt, dass Deutschland es sich
nicht länger leisten darf, Frauen zu hoch qualifizierten
Fachkräften auszubilden und sie dann auf einen Arbeitsmarkt zu entlassen, der sie - im Gegensatz zu den männlichen Kollegen - praktisch dazu zwingt, sich zwischen
Kindern und Karriere zu entscheiden. Unsere Gesellschaft braucht Frauen in beiden Rollen: auf dem Arbeitsmarkt als qualifizierte Fach- und Führungskräfte und als
engagierte Mütter.
({5})
Mit unserem Antrag „Tatsächliche Gleichberechtigung durchsetzen - Zehn Jahre Novellierung des Art. 3
Abs. 2 des Grundgesetzes“ haben wir bereits in der vergangenen Wahlperiode gefordert, die Gleichstellungspolitik als zentrales Element der Gesellschafts- und der
Wirtschaftspolitik zu begreifen und die Freiheit der
Wahl zwischen Beruf und Familie durch geeignete
Maßnahmen zu fördern. Diesen Antrag haben Sie, liebe
Kollegen und Kolleginnen von den Grünen, damals abgelehnt.
Inzwischen ist die Union in der Regierungsverantwortung. Gemeinsam mit der SPD haben wir uns im
Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, uns für gleiche Karrierechancen und den gleichberechtigten Zugang zu Führungspositionen in Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung für Frauen und Männer einzusetzen. Gleichzeitig
haben wir umfangreiche familienpolitische Maßnahmen festgeschrieben, die die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf für Mütter und Väter erleichtern sollen.
({6})
Nach nur 100 Tagen im Amt hat die Koalition es bereits geschafft, die Familien- und damit auch die Gleichstellungspolitik ganz oben auf die politische Agenda zu
setzen.
({7})
Familien werden nun die Möglichkeit erhalten, Kinderbetreuungskosten in deutlich größerem Umfang von
der Steuer abzusetzen. Dies erleichtert die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie und davon profitieren vor allem
Frauen, die nach einer Kinderphase in den Beruf zurückkehren wollen.
({8})
Wir brauchen aber auch ein Umdenken bei den Arbeitgebern, vor allem in deren eigenem Interesse. Sie
müssen erkennen, dass die demografische Entwicklung
und der absehbare Fachkräftemangel es unverzichtbar
machen, dass Frauen entsprechend ihrer Qualifikation
beruflich tätig sein können. Das schließt ein, dass zum
Beispiel durch flexible Arbeitszeiten, durch Verständnis
für die Belange von berufstätigen Müttern und durch unkomplizierte praktische Hilfe ein familienfreundliches
Umfeld geschaffen wird.
In diesem Zusammenhang ist auch die Ausgestaltung
des geplanten Elterngeldes wichtig, bei der die Zahlungen für die letzten Monate, nach jetziger Planung für den
elften und zwölften Monat, davon abhängen sollen, dass
beide Eltern mindestens für zwei Monate die Kindererziehung übernehmen. Bislang wird das Risiko, dass
ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin wegen Kindererziehung zumindest vorübergehend aus dem Beruf
ausscheidet, vor allem den Frauen zugeschrieben. Dies
stellt tatsächlich ein Hindernis bei der Einstellung, aber
auch bei der Auswahl für Qualifizierungsmaßnahmen
dar.
Wenn in Zukunft mehr Väter als bislang aufgrund des
Anreizes, den diese Regelung setzt, für einige Zeit für
die Kindererziehung aus dem Beruf ausscheiden - dies
erhoffen wir vor allem im Interesse der Kinder und auch
der Väter selbst, denen wir diese schöne und spannende
Phase nicht vorenthalten wollen -,
({9})
dann wird sich auch hier ein Ausgleich zwischen den
Geschlechtern einstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
wir haben doch alle erkannt, wie vordringlich wichtig es
ist, dass Frauen gleichberechtigt in den Arbeitsmarkt integriert werden.
({10})
- Die Opposition ist in diesem Saal gut verteilt. - Wir
sind als Gesetzgeber nach Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes verpflichtet, hierzu die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Das wird die Union ganz nachdrücklich
auch weiterhin tun.
Die Erfahrung hat aber auch gezeigt, dass Chancengleichheit letztlich nur in geringem Maße per Gesetz
verordnet werden kann. Denn vieles beruht auf den doch
freiwilligen Entscheidungen der Mädchen und Frauen,
um die es geht. Wichtige Änderungen in den Rahmenbedingungen sind auf den Weg gebracht. Darüber hinaus
sind gesetzliche Sanktionen und Eingriffe in die Privatautonomie meiner Ansicht nach nicht wirklich zielführend.
Wir müssen ein Umdenken in der Gesellschaft und in
der Arbeitswelt erreichen. Konzepte wie der Girls’ Day
oder das von der Bundesregierung unterstützte Mentoringprojekt TWIN sind die richtigen Ansätze. Auf diesem Weg müssen wir weitergehen, damit jede Frau in
Deutschland die Chance erhält, sich nach ihren Neigungen und Fähigkeiten in diese Gesellschaft einzubringen
und sie zu bereichern.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Wir gratulieren Ihnen herzlich und wünschen
für die weitere Arbeit alles Gute.
({0})
Als nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Sönke
Rix von der SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wo ich herkomme, sagt man zu dieser Tageszeit,
wie auch zu jeder anderen Tageszeit: Moin.
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern …
So steht es im Grundgesetz: „Der Staat fördert …“ Er
fordert sie nicht und setzt sie nicht tatsächlich durch; er
fördert sie. Das ist auch gut so.
Gleichberechtigung kann nicht befohlen werden. Sie
- das sage ich an die Adresse der Grünen - beschreiben
das ja auch in Ihrem Antrag. Ich zitiere:
Denn Gleichberechtigung ergibt sich nicht automatisch, sondern muss gesellschaftlich, politisch und
- ich füge ein: erst dann gesetzlich begleitet und gestaltet werden.
Die Gleichstellung betrifft Männer und Frauen.
({0})
Also kann auch die Überwindung der noch bestehenden
„Männerdominanz“ nur gemeinsam mit den Männern
gelingen, mit der gleichzeitigen Erkenntnis, dass ein
Beitrag beider Geschlechter in Familie und Beruf und
somit für die Gesellschaft erforderlich ist.
({1})
Hier steht die Kuh auf dem Eis. Wir brauchen ein
Umdenken in den Köpfen aller Beteiligten. Ich habe
nichts dagegen, wenn ein jeder nach seiner Fasson sein
Familienleben gestaltet. Das ist gut und auch richtig so;
so soll man es machen. Wer aber einen anderen Lebensentwurf hat, als Einzelperson oder auch als Familie,
muss die Möglichkeit haben, diesen auch zu leben.
({2})
Der Mann geht zur Jagd und die Frau sitzt in der
Höhle und passt auf die Kinder auf; das ist schon lange
keine zeitgemäße Rollenverteilung mehr. Wenn wir dieses traditionelle Rollenmodell überwinden, haben wir
nebenbei auch das von Ihnen zitierte „Innovationshemmnis Männerdominanz“ überwunden. Dies ist im
Übrigen ein sehr fragwürdiger Ausdruck. Er macht nämlich deutlich, was nicht zum Erfolg führen kann: ein Gegeneinander aller Beteiligten.
({3})
Nun weiß ich ja, dass Sie mit diesem Titel nur provozieren wollen. Aber zu viel Provokation kann dazu führen,
dass nur noch über den Titel geredet wird. Das wollen
wir alle gemeinsam nicht.
({4})
Wir alle wollen das Gleiche, nämlich eine Verstetigung unseres gemeinsamen Ziels: die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Der gestrige Internationale
Frauentag hat noch einmal verstärkt ein Augenmerk auf
die Situation der Frauen in unserer Gesellschaft gerichtet. Dabei wird deutlich, dass es noch viel zu tun gibt,
auch für uns Männer, wie ich an dieser Stelle sagen
muss.
({5})
Wir müssen es gemeinsam schaffen, die politischen Rahmenbedingungen so zu verändern, dass die Väter nicht
mehr in dem üblichen Rollenverständnis verharren müssen.
Wo wollen wir hin? Wir wollen dahin kommen, dass
es für Arbeitgeber nicht mehr selbstverständlich ist, dass
nach der Geburt eines Kindes automatisch die Mutter zu
Hause bleibt. Wir wollen dahin kommen, dass der Vater
sein Recht auf Teilzeit oder Elternzeit in Anspruch
nimmt.
({6})
Wir wollen dahin kommen, dass der Arbeitgeber und die
Arbeitgeberin sich nicht mehr auf der sicheren Seite
wähnen, wenn sie vorwiegend Männer einstellen.
({7})
Diesen Weg wollen wir alle hier im Haus - so hoffe ich
zumindest - gemeinsam beschreiten.
Die vorliegenden Anträge zielen zwar zum Teil in die
richtige Richtung. Aber wir haben mit unserer Familienpolitik bereits die Weichen in die richtige Richtung gestellt. Mit dem Elterngeld sind wir zum Beispiel den
richtigen Weg gegangen, Vätern das Zu-Hause-Bleiben
schmackhaft zu machen. Es gibt sie, die Väter, die den
Nachmittag mit dem Kinderwagen auf dem Spielplatz
verbringen wollen. Viele können sich dies zurzeit aber
einfach nicht leisten. Da haben wir angesetzt. Mit unseren Bemühungen um eine verstärkte Vereinbarkeit von
Familie und Beruf wird vielen Männern - gerade auch
meiner Generation - geholfen, dem Willen auch Taten
folgen zu lassen.
({8})
Zum Schluss möchte ich einen Absatz aus dem Antrag der Grünen zumindest teilweise geraderücken. Ich
zitiere:
Gleichzeitig beschränken Geschlechterklischees
auch Jungen in ihrer Berufswahl, die öffentliche
Diskussion um Männer in Erzieherberufen spiegelt
die individuellen und gesellschaftlichen Nachteile
wider.
({9})
Dazu muss ich als staatlich anerkannter Erzieher sagen:
({10})
Ich konnte weder eine öffentliche Diskussion um meine
Berufswahl noch irgendwelche gesellschaftlichen Nachteile feststellen.
({11})
Insofern möchte ich alle ermutigen, sich nicht auf die
Rollenfestschreibungen in der Berufswelt einzulassen.
Es gibt keine klassischen Männer- und Frauenberufe
mehr.
({12})
Ich füge hinzu: Es gibt hoffentlich auch keine klassische
Rollenverteilung innerhalb der Familie mehr.
Danke schön.
({13})
Herr Kollege Rix, das war Ihre erste Rede hier. Wir
gratulieren herzlich und wünschen Ihnen alles Gute.
({0})
Zum Abschluss der Debatte gebe ich das Wort der
Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Frauen in Deutschland: Riesenfortschritte und hohe
Hürden auf dem Lebensweg“ betitelte die Zeitschrift
„Böckler Impuls“ in ihrer letzten Ausgabe einen Bericht
über den Stand der Gleichstellung in Deutschland. Die
heutige Gleichstellungsdebatte bietet die Möglichkeit,
über beides zu sprechen. Alle Vorrednerinnen haben
deutlich gemacht, dass in den letzten Jahrzehnten viel
passiert ist, dass wir aber mit dem Erreichten noch nicht
zufrieden sein können. Auch die Männer haben das in
dieser Debatte unterstrichen. Ich erinnere an das, was
Kollege Sönke Rix gesagt hat, nämlich dass auch die
Männer mit dem Erreichten nicht zufrieden sind.
Ich möchte die jetzige Debatte zum Anlass nehmen,
das Bild etwas abzurunden, das heute gezeichnet worden
ist, und auf zwei Gruppen von Frauen aufmerksam machen, die den „Riesenfortschritten“ noch etwas hinterher
hinken: Das sind auf der einen Seite die älteren Arbeitnehmerinnen und auf der anderen Seite die Migrantinnen. Beide Gruppen haben ihre spezifischen Schwierigkeiten mit unserem Arbeitsmarkt. Sie bedürfen, zum Teil
im doppelten Sinne, der Integration.
Ältere Arbeitnehmerinnen - das sind Frauen etwa
in meinem Alter, also solche, die kurz nach dem Krieg
bzw. noch im Krieg geboren wurden. Ihre Erwerbsquote
lag 2004 in den alten Bundesländern bei den 56- bis 59Jährigen bei 59,6 Prozent, bei den 60- bis 64-Jährigen
nur noch bei 21,1 Prozent. Die Quoten bei den Männern
liegen in beiden Fällen um etwa 20 Prozent höher. Die
Frauen dieser Generation weisen zum großen Teil noch
klassische Biografien auf: Schule, kein allzu hoher Bildungsabschluss mit der Begründung: „Die heiratet ja sowieso“, Ausbildung oft in einem typischen Frauenberuf,
schlechter Lohn für zum Teil schwere Arbeit, etwa als
Verkäuferin oder Friseurin, Heirat und Aufgabe des Berufs wegen der Kinder. Es folgt ein später Wiedereinstieg ins Berufsleben - wenn überhaupt -, oft unterhalb
der Qualifikation, in Teilzeit und mit schlechter Bezahlung oder in nicht angemeldeten bzw. prekären Jobs.
Weiterbildung - meistens Fehlanzeige. Karriere machen
diese Frauen selten. Ich habe Zweifel, ob das mit der Regulierungsdichte bei uns zusammenhängt, sehr verehrte
Frau Lenke.
Auf eine Rentenbeitragszeit von 45 Jahren bzw. eine
geschlossene Rentenbiografie kann kaum eine dieser
Frauen zurückblicken. Die Folge: niedrige eigene Rentenansprüche - fast ein Drittel weniger als die Männer -,
wenig gesellschaftliche Anerkennung; denn die Definition gesellschaftlicher Anerkennung erfolgt oft über den
Erfolg des Ehemannes. Symptomatisch für das Ganze
ist: Es gibt kaum wissenschaftliche Untersuchungen, die
sich mit der Lage der Frauen dieser Generation beschäftigen. Dabei ist das Alter eindeutig weiblich.
Angelika Graf ({0})
Anmerkung am Rande: Wen wundert es, wenn unter
diesen Bedingungen und aufgrund dieser Eindrücke
viele Töchter von Frauen dieser Generation, die viel besser ausgebildet sind als ihre Mütter, erst Karriere machen
wollen, bevor sie Kinder kriegen, bzw. Karriere und
Kinder als Gegensätze auffassen?
Über die Notwendigkeit der Kinderbetreuung, das Elterngeld und andere familienpolitische Maßnahmen haben wir heute schon ausführlich gesprochen. Ich denke,
wir brauchen zusätzlich ein mit Sensibilität durchgeführtes Programm im Rahmen des Beschäftigungspaktes
für über 55-Jährige,
({1})
das der Situation dieser Frauen gerecht wird. Ferner
brauchen wir Forschungsprojekte. Vielleicht kann die
deutsche Wirtschaft ja ein solches starten. Es könnte
denjenigen die Augen öffnen, die heute noch an den alten Rollenbildern festhalten.
Wissenschaftlich etwas stärker erforscht ist die Situation von Migrantinnen auf unserem Ausbildungs- und
Arbeitsmarkt. Auch Frau Laurischk ist ja darauf eingegangen. Verständlich ist es schon, dass wir uns damit
mehr beschäftigen, weil wir endlich begriffen haben,
dass Integration eine der gesellschaftlich notwendigsten
Gegenwartsaufgaben überhaupt ist.
({2})
Der Newsletter der Arbeitsstelle „Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration“, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert
wird, stellte im Februar 2006 fest, die Arbeitsmarktintegration der männlichen Zuwanderer sei in Deutschland
im internationalen Vergleich relativ gut - übrigens sind
die Zahlen trotzdem schlecht -, bei den weiblichen Zuwanderern aus der Türkei sei sie jedoch extrem niedrig
und liege, über alle Altersgruppen zwischen 15 und
64 Jahren gemessen, nur bei 35 Prozent. Das sei unter
anderem ein Resultat des lange Zeit eingeschränkten Arbeitsmarktzugangs für Ehepartner.
Schauen wir auf die jungen Menschen mit Migrationshintergrund - Herr Singhammer hat das Problem
schon angesprochen -: 16 Prozent der türkischstämmigen Mädchen und 23 Prozent der Jungen verlassen die
Schule ohne Schulabschluss. Ich denke, das ist eine gesellschaftliche Katastrophe. Gleichzeitig machen nur
11 Prozent der jungen Frauen türkischer Herkunft
Abitur; bei den Männern sind es sogar noch weniger.
Von allen türkischen Jugendlichen finden nur 29 Prozent
der männlichen wie weiblichen Bewerber eine Lehrstelle. Dazu kommt: Auch ein gutes Zeugnis beschert einer jungen Türkin noch lange keinen Ausbildungsplatz.
Zu groß sind die Vorbehalte der Arbeitgeber - auch das
ist ein weites Feld für die IHK -, ihr Bruder oder Cousin
hat trotz eines schlechteren Zeugnisses immer noch bessere Chancen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Gern. - Die Konsequenz: Auch diese junge Frau wird
sich - wie ihre Mutter - nicht in unsere Gesellschaft integrieren.
Das Fazit muss lauten: Ohne Gleichstellung keine Integration und umgekehrt. Wir müssen die Chancen, die
die große Koalition bietet, nutzen, um diesen Kreislauf
zu durchbrechen.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/712 und 16/832 sowie 16/833 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Damit sind Sie ganz offensichtlich einver-
standen. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 g sowie
die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
19 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des patentrechtlichen Einspruchsverfahrens und des Patentkostengesetzes
- Drucksache 16/735 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Internationalen Übereinkommen von 2001
über die zivilrechtliche Haftung für Bunkerölverschmutzungsschäden
- Drucksache 16/736 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ölschadengesetzes und anderer
schifffahrtsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/737 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen über das Recht der nichtschifffahrtlichen Nutzung internationaler
Wasserläufe
- Drucksache 16/738 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Juni 1999 über Wasser und
Gesundheit zu dem Übereinkommen von 1992
zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler
Seen
- Drucksache 16/739 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts und des Gesetzes über einen
Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet
- Drucksache 16/754 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({6}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
Vierter Sachstandsbericht zum Monitoring
„Technikakzeptanz und Kontroversen über
Technik“
Partizipative Verfahren der Technikfolgenabschätzung und parlamentarische Politikberatung
- Drucksache 15/5652 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 16/753 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksache 16/858 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 i auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 20 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Siebenten
Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanz-
reformgesetzes
- Drucksache 16/635 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({10})
- Drucksache 16/835 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({11}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/852 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({12})
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/835, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Erneute Überweisung von Vorlagen aus früheren Wahlperioden
- Drucksache 16/820 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses, zunächst zu Tagesordnungspunkt
20 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 14 zu Petitionen
- Drucksache 16/662 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 14 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 15 zu Petitionen
- Drucksache 16/663 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 16 zu Petitionen
- Drucksache 16/664 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 16 mit den
Stimmen der Koalition, von Bündnis 90/Die Grünen und
FDP bei Gegenstimmen der Linksfraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 17 zu Petitionen
- Drucksache 16/665 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 18 zu Petitionen
- Drucksache 16/666 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der
großen Koalition und der FDP gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 19 zu Petitionen
- Drucksache 16/667 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist angenommen mit den
Stimmen der Koalition und der Linksfraktion gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP.
Tagesordnungspunkt 20 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 20 zu Petitionen
- Drucksache 16/668 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 20 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Grünen und Linksfraktion und Enthaltung der FDP.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Die Zukunft der Rente
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi.
({7})
({8})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns in dieser Aktuellen Stunde mit der
Zukunft der Rente. Auch die Debatte danach beschäftigt
sich mit der Rente.
({0})
Ich gehe davon aus, dass wir uns in den nächsten Jahren
noch öfter mit diesem Thema beschäftigen müssen.
Es gibt eine erschreckende Entwicklung der Eckrente.
Man muss einmal erklären, was eine Eckrente ist.
({1})
Diese bekommt ein Durchschnittsverdiener nach
45 Arbeitsjahren, also nach 45 Versicherungsjahren. Die
Prognose ist von 1995 bis heute um über 300 Euro gesunken. Das ist eine dramatische Entwicklung.
({2})
Ich glaube, es war Herr Müntefering, der erklärt hat,
dass die gesetzliche Rente allein in der Zukunft nicht
mehr genügen wird. In der nächsten Debatte wird es darum gehen, dass keine Kürzung der Rente stattfinden
soll, obwohl wir im letzten Jahr einen Rückgang bei den
Löhnen zu verzeichnen hatten. Aber das, was man nicht
kürzt, soll später angerechnet werden, wenn die Löhne
wieder einmal steigen. Im Kern nutzt das, was gleich beschlossen wird, den Rentnerinnen und Rentnern also fast
nicht.
In der Gesellschaft gibt es eine kulturelle Veränderung. Es gab eine Zeit, in der sich die Union besonders
stark für die Rentnerinnen und Rentner eingesetzt hat.
Diese Zeit ist vorbei.
({3})
- Sie ist wirklich vorbei.
({4})
Sie nennen immer wieder den demografischen Faktor,
der hierbei übrigens der unwichtigste Faktor ist. Seit
Tausenden von Jahren werden Menschen älter. Das ist
wirklich nicht neu. Das hätten Sie schon 1949 wissen
können. Ich sage Ihnen dazu: Die Produktivitätsentwicklung ist viel entscheidender. Ich habe das hier schon gesagt und betone es noch einmal: Bei Daimler-Benz
brauchte man vor 20 Jahren vier Arbeitskräfte für etwas,
für das man heute nur noch eine Arbeitskraft braucht; die
schafft dasselbe wie damals vier. Die Lohn- und Abgabenentwicklung hat da nicht mitgehalten. Damals waren
die vier in der Lage, vier Rentnerinnen und Rentner zu
versorgen; heute könnte es der eine alleine leisten. Darauf haben Sie keine Rücksicht genommen. Sie hängen
ausschließlich am demografischen Faktor, der in diesem
Zusammenhang aber unwichtig ist.
({5})
Jetzt nenne ich noch ein kulturelles Moment, das mir
wichtig ist: Ältere Leute sind früher durch die Straßen
der Bundesrepublik gegangen und waren stolz darauf,
dass sie dieses Land aufgebaut haben.
({6})
Heute müssen sie, wenn sie durch die Straßen gehen, erklären, warum sie noch da sind.
({7})
Denn bei jeder Debatte sagen Sie: „Die Menschen werden älter. Das ist schön, aber …“ Die Begründung des
Abers dauert dann 20 Minuten. Das diskreditiert ältere
Menschen. Davon sollten Sie wegkommen!
({8})
Nun stellt man sich die Frage, ob es denn eine Lösung
für das Problem gibt. Ihre einzige Lösung ist immer:
kürzen, kürzen, kürzen, und zwar überall, zum Beispiel
bei der Rente. Ich glaube, es gibt andere Wege, über die
wir vielleicht einmal diskutieren müssten:
({9})
Ist es richtig, dass nur die abhängig Beschäftigten in die
gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, oder sollten
wir nicht für die nächste Generation - ich spreche nicht
über die heute 50-Jährigen; auch ich weiß, dass das für
sie nicht hinzubekommen ist; aber irgendwann muss
man anfangen - einen anderen Weg gehen und sagen:
Alle, die mehr haben als ein bestimmtes Mindesteinkommen, werden verpflichtet, in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen,
({10})
egal ob sie von Mieten oder Zinsen leben, ob sie Rechtsanwälte, Abgeordnete oder abhängig Beschäftigte sind,
was auch immer? Das wäre eine Bürgerversicherung.
({11})
- Ich weiß, dass sie dann Rentenansprüche haben. Das
ist mir nicht völlig fremd.
Das zweite, was wir machen müssen, ist die Aufgabe
der Beitragsbemessungsgrenze. Wer ein hohes Einkommen hat, muss von einem hohen Einkommen seine Beiträge bezahlen. Dann steigt natürlich der Rentenanspruch.
({12})
Ergo muss ich die Rentensteigerung abflachen. Das darf
man bei einer solidarischen Rentenversicherung. Ich
sage Ihnen, für diese Idee gewinnen Sie sogar Besserverdienende, und zwar aus einem einzigen Grund: Bevor
ich Steuern bezahle - ich weiß nicht, ob Sie davon einen
Panzer kaufen oder etwas für die Rente ausgeben -,
zahle ich lieber in eine gesetzliche Rentenversicherung
ein, auch wenn ich weiß, ich müsste 130 Jahre alt werden - werde ich nicht -, um alles wieder herauszubekommen. Dafür bezieht eine Frau länger Rente, als sie
eingezahlt hat. Das geht in Ordnung. Das ist das Wesen
einer solidarischen Rentenversicherung.
({13})
Dafür müssten Sie natürlich an die Besserverdienenden herantreten. Das traut sich die SPD nicht, geschweige denn die Union. Das ist Ihre Feigheit. Das ist
das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben.
({14})
Deshalb kommen Sie nur auf Kürzungen.
Kommen wir zu den Unternehmen. Ich bin der Auffassung, dass die Bindung der Abgaben der Unternehmen für Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung an den Lohnfaktor auf Dauer nicht zu halten ist.
Das machte zu Bismarcks Zeiten noch Sinn, weil damals
noch 90 Prozent abhängig beschäftigt waren. Wir haben
inzwischen eine andere Ökonomie und eine andere Zusammensetzung der Gruppe der Erwerbstätigen in
Deutschland. Man muss berücksichtigen, dass sich die
Technik entwickelt hat. Es gibt Unternehmen mit wenigen Beschäftigen und einem hohen Gewinn und andere,
die bei gleichem Gewinn deutlich mehr Beschäftigte haben. Wie gleichen wir das aus? Das ist doch eine Frage,
über die man einmal diskutieren kann.
Wir haben die Idee entwickelt - die SPD hatte sie übrigens auch einmal; sie hat sie aber sterben lassen -, anstelle der heutigen Lohnnebenkosten - wie man sie
fälschlicherweise nennt - eine Wertschöpfungsabgabe
einzuführen, die wir vom Ergebnis des Unternehmens
abhängig machen.
Herr Kollege Gysi, die Redezeit in der Aktuellen
Stunde beträgt fünf Minuten.
Wir machen sie vom konkreten Ergebnis des Unternehmens abhängig. Damit helfen wir den Unternehmen,
weil wir sie nicht unterfordern und nicht überfordern. Da
wollen Sie nicht ran. Sie wollen gar keine Reformen. Sie
wollen nur Kürzungen. Das ist viel zu wenig in Deutschland.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Rahmen des nächsten Tagesordnungspunktes bringen
wir einen Gesetzentwurf ein, um Rentenkürzungen zu
verhindern. Mein Vorredner sprach gerade davon, uns
falle nichts anderes ein, als Kürzungen vorzunehmen.
Herr Gysi, plumper kann man die Menschen nicht für
dumm verkaufen, als Sie das mit Ihrer demagogischen
Rede getan haben.
({0})
Wenden wir uns lieber den Fakten zu, um die es jetzt
geht. Richtig ist: Die Finanzdecke der Rentenkasse ist so
dünn wie nie zuvor. Das hängt insbesondere mit der prekären wirtschaftlichen Situation in diesem Land zusammen. Seit Ende 2001 haben wir fast 1,2 Millionen arbeitslose Menschen mehr. Im selben Zeitraum haben wir
1,6 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse verloren. Dass sich das auf die Finanzlage der Rentenversicherung auswirken muss, ist
vollkommen klar. Aufgrund der demografischen Entwicklung ist es längerfristig notwendig, das Niveau der
gesetzlichen Rente kontinuierlich abzusenken. Das tun
wir doch nicht, um die Menschen zu ärgern. Es ist vielmehr notwendig und angesichts der demografischen Entwicklung alternativlos, wenn man verantwortungsvolle
und nachhaltige Rentenpolitik machen will.
({1})
Die gesetzliche Rentenversicherung wird die wichtigste Säule der Alterssicherung in Deutschland bleiben.
Genauso klar ist, dass wir neben der gesetzlichen Rente
ein weiteres, kapitalgedecktes Standbein brauchen, dass
wir mehr betriebliche Vorsorge und im engeren Sinne
private Vorsorge brauchen. Das Entscheidende für die
Versorgung der Menschen im Alter ist die Kombination
aus gesetzlicher Rente und privater Vorsorge.
Wenn wir uns wirklich mit den Zahlen beschäftigen,
stellen wir fest, dass die allermeisten Menschen durchaus privat vorsorgen. Bisher nimmt nur eine Minderheit
die staatliche Riester-Förderung in Anspruch. Das ist
wahr. Aber die allermeisten Menschen machen etwas.
Wir tun gut daran, uns kritisch zu fragen, warum bisher
nicht mehr Menschen die staatliche Förderung für die
Altersvorsorge in Anspruch nehmen. Ich glaube, dass
der Sozialbeirat den Finger in die richtige Wunde legt,
wenn er darauf hinweist, dass bei einer Befragung
74 Prozent der Befragten auf die Frage, warum sie bisher
keinen Riester-Vertrag abgeschlossen haben, sagten: Ich
traue dem Staat bzw. der Regierung nicht, weil sie die
Gesetze zu oft ändert.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Tendenz
müssen wir Schluss machen. Genau deswegen verfällt
die große Koalition jetzt nicht in hektische Betriebsamkeit. Vielmehr werden wir genau prüfen, welche Auswirkungen die veränderten Rahmenbedingungen des Alterseinkünftegesetzes, die erst seit dem letzten Jahr gelten,
haben.
Wie wir sehen, sind wir auf dem richtigen Weg. Es
gibt mittlerweile mehr Instrumente der staatlich geförderten privaten Altersvorsorge. Wir werden uns dieses
System genau ansehen und dann entscheiden, ob weitere
Konsequenzen zu ziehen sind. Das werden wir aber
nicht hektisch jedes Jahr tun. Für diese Verlässlichkeit,
die die Menschen zu Recht von uns erwarten, steht die
große Koalition.
({3})
Wir haben ein umfangreiches Maßnahmenpaket vorgelegt, um die Situation der gesetzlichen Rentenversicherung zu stabilisieren. Es gehört zur Ehrlichkeit, zu sagen, dass es angesichts der demografischen Entwicklung
in unserem Land auf absehbare Zeit keinen großen Zuwachs geben wird. Vielmehr geht es um eine Stabilisierung der gegenwärtigen Situation.
Wir dürfen den Menschen keine haltlosen Versprechungen machen. Sie mögen uns als Opposition ja vieles
vorwerfen wollen; aber niemand wird uns ernsthaft vorwerfen können, dass wir den Menschen, was die von uns
in dieser Legislaturperiode zugrunde gelegten Annahmen zur Rentenentwicklung in den nächsten Jahren betrifft, unhaltbare Versprechungen machen. Genau das tun
wir nicht. Wir haben ein Maßnahmenpaket zur Stabilisierung der Situation in der gesetzlichen Rentenversicherung vorgelegt, das durchgerechnet ist und das auf realistischen Annahmen und Bausteinen beruht, die ineinander
greifen.
Jeder weiß: Wir tun das nicht gerne, aber wir müssen
im nächsten Jahr den Rentenversicherungsbeitrag erhöhen, weil die Situation in der Rentenversicherung anders
nicht zu stabilisieren ist. Wir nehmen in diesen Jahren
keine Rentenkürzungen vor. Aber in der Tat müssen wir
die jetzt nicht durchgeführten Kürzungen, wenn sich die
wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land verbessert
hat, nachholen.
Wir werden das gesetzliche Renteneintrittsalter, wie
jeder weiß, ab dem Jahr 2012 schrittweise erhöhen.
Diese Maßnahme wird eine Wirkung entfalten, deren gesamtes Ausmaß erst im Jahr 2029 eintreten wird. Aber
auch dann wird noch nicht einmal die gestiegene Lebenserwartung voll kompensiert sein.
Diese Maßnahmen gehen einher mit einem steigenden Rentenversicherungsbeitrag - darauf habe ich hingewiesen - und mit einem moderat steigenden Bundeszuschuss. Das bedeutet, dass wir alle drei Gruppen - die
Beitragszahler, die Steuerzahler und die Rentnerinnen
und Rentner selbst - in die Finanzierung und Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung einbeziehen
müssen. Genau das tun wir.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines dürfen wir dabei nicht übersehen: Es geht nicht darum, jedes Jahr
politisch auszuhandeln, ob und in welcher Höhe es Rentensteigerungen geben wird. Es war ein politischer Beschluss, keine Rentenkürzungen durchzuführen; das ist
wahr. Aber ob und in welcher Höhe es Rentensteigerungen geben wird, hängt auch von der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung ab. Das ist also keine Verhandlungssache. Das betrifft vielmehr die Frage, ob wir
wirtschaftlich wieder erfolgreicher sein werden. Dafür
müssen wir die notwendigen Rahmenbedingungen
schaffen.
Herr Kollege, auch für Sie gilt eine Redezeit von fünf
Minuten.
Jawohl. - Zu diesem Zweck hat die Bundesregierung
ein Maßnahmenpaket vorgelegt. Alle wesentlichen Zahlen und Prognosen wurden in der letzten Zeit nach oben
korrigiert. Es geht in unserem Land wirtschaftlich wieder aufwärts. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass
auch die Stabilisierung der Rentenversicherung fortgesetzt werden kann.
Herr Kollege, gleich muss ich Ihnen das Mikrofon abschalten.
Jawohl. - Sie können eine Politik gegen viele machen; aber Sie können keine Politik gegen Adam Riese
machen.
Sie haben fünf Minuten. Ich bitte Sie, jetzt zum Ende
zu kommen.
Wir machen eine solide Rentenpolitik.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn meiner Rede möchte ich Sie, Herr Minister
Müntefering, ganz persönlich ansprechen. Wie ich heute
gelesen habe, haben Sie gestern angesichts der im Rentenversicherungsbericht erkennbar gewordenen Versorgungslücken folgende Aussage gemacht:
Da kann man Verschiedenes versuchen: Balalaika
spielen oder Lotto spielen, Riester-Rente oder betriebliche Versicherung machen …
Herr Müntefering, ich denke, diese Äußerung lässt jeden
Respekt und jede Achtung vor der künftigen Rentnergeneration vermissen,
({0})
der Generation, die die höchsten Rentenbeiträge zu zahlen hat, aber die niedrigsten Rentenzahlungen bekommt.
Es ist gerade nicht das Verschulden dieser Menschen,
dass sie es in Zukunft mit einer Versorgungslücke zu tun
haben und nach einem harten Arbeitsleben von Altersarmut bedroht sind. Das ist das Verschulden von Politikern
wie dem amtierenden Bundesarbeitsminister, der es unterlässt, in unserem Land die Voraussetzungen für dauerhaftes Wachstum, neue Arbeitsplätze und damit für neue
Beitragszahler zu schaffen.
({1})
Herr Minister - Sie reden ja gleich nach mir -, ich
fordere Sie in aller Sachlichkeit auf,
({2})
sich für diese Entgleisung öffentlich zu entschuldigen.
({3})
Herr Kollege Küster, sollen sich die Menschen auch
noch dankbar dafür zeigen, dass sie zukünftig bloß Lotto
oder Balalaika spielen sollen und nicht russisches Roulette? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!
({4})
Hier gibt es wirklich Handlungsbedarf. Nutzen Sie die
Gelegenheit, dieses klarzustellen, Herr Minister!
Im Übrigen ist es so, wie Herr Gysi gesagt hat: Die
Rente bzw. die Zukunft der Rente ist ein Dauerthema.
Ich teile Ihre Einschätzung nicht, Herr Minister, dass die
Struktur der Rentenversicherung steht und so bleiben
kann. Das ist eine Neuauflage des blümschen „Die Rente
ist sicher“.
({5})
Bis man davon sprechen kann, muss noch eine Reihe
einschneidender Änderungen ins Bundesgesetzblatt und
nicht nur in Partei- und Koalitionspapiere.
({6})
Wichtig ist eine nüchterne, realistische Bestandsaufnahme. Dazu leistet der gestern im Kabinett beschlossene Rentenversicherungsbericht keinen Beitrag; das
muss man hier so deutlich sagen. Denn er verschleiert
die wahre Lage der Rentenversicherung ein weiteres
Mal. Der großen Koalition fehlt offensichtlich der Mut,
unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Der Not gehorchend, wird die künftige Entwicklung optimistischer
dargestellt, als sie zu erwarten ist. Anders kann man das
nicht sagen; denn beim Wachstum, bei der Entwicklung
der Beschäftigung und bei den Lohnsteigerungen liegen
Sie mit Ihren Erwartungen deutlich am oberen Rand des
realistischen Spektrums, Herr Müntefering.
({7})
Wer diese Zahlen mit den Istzahlen der letzten fünf, zehn
Jahre vergleicht, der muss feststellen, dass das, was Sie
hier vorgelegt haben, einfach nicht zusammenpasst.
({8})
- Wenn Sie es mir nicht glauben, Herr Brandner, dann
lesen Sie, was der Sozialbeirat in seinem Gutachten zum
Rentenversicherungsbericht geschrieben hat; da steht genau dies.
Wenn sich Ihre Annahmen - wovon ich ausgehe - als
zu optimistisch erweisen sollten, wird das ganz konkrete
Folgen haben. Schauen Sie sich doch die Tabelle auf
Seite 41 des Rentenversicherungsberichts an: Schon bei
der angenommenen unteren Variante der Einkommensentwicklung - plus 1,5 Prozent, was deutlich mehr ist als
der Schnitt der letzten zehn Jahre - steigt laut Rentenversicherungsbericht der Beitrag schon im Jahr 2007 - nicht
erst irgendwann in der Zukunft - auf über 20 Prozent an.
Damit wird wahrscheinlich, dass die Bundesregierung
das von ihr selbst formulierte Ziel der Beitragssatzstabilität verfehlt.
Ohne eine grundlegende Änderung der Politik - ich
wiederhole das erneut - wird es zu einer Beitragsanhebung auf über 20 Prozent noch vor Ende dieser Legislaturperiode kommen müssen. Wenn man in dem Bericht
zwischen den Zeilen liest, muss man auch feststellen,
dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Reihe von
Nullrunden kommen wird. Wir haben ja 2004, 2005 und
2006 schon Nullrunden zu verzeichnen gehabt. Für 2007
haben Sie eine weitere angekündigt. 2008 wird dann mit
hoher Wahrscheinlichkeit die fünfte Nullrunde in Folge - und das bei steigenden Lebenshaltungskosten.
({9})
Deswegen ist es unverantwortlich, Herr Bundesminister,
die Mehrwertsteuer zum 1. Januar 2007 um 3 Prozentpunkte zu erhöhen.
({10})
Die Rentner werden durch diese Maßnahme voll belastet;
aber sie profitieren nicht von der Senkung der Lohnnebenkosten. Ich fordere Sie auf: Verzichten Sie auf diese
Mehrwertsteuererhöhung! Damit werden nämlich auch
Verfassungsrechte verletzt. So hat das Bundessozialgericht klar gesagt: Es gehört zur Eigentumssicherung des
Rentenanspruchs, dass mittelfristig Rentenanpassungen
vorgenommen werden, die einen Inflationsausgleich gewährleisten.
Das, was Sie eingeleitet haben, wird also nicht ausreichen und Handlungsbedarf gibt es an vielen Stellen. Zu
meinem ersten Punkt möchte ich Sie, Herr Minister, bitten, jetzt Stellung zu nehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und
Soziales, Franz Müntefering.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Vorlage des Rentenversicherungsberichts
und des Alterssicherungsberichts bringt das Thema ins
Licht der Scheinwerfer. Das ist gut und auch nötig, weil
eine Debatte darüber dringend erforderlich ist. Es ist gut,
dass wir heute darüber diskutieren, weil dann ein bisschen klarer wird, wie die Zusammenhänge eigentlich
sind.
Es geht um die Zukunftsfähigkeit einer insgesamt älter werdenden Gesellschaft. Das und nichts weniger ist
das Thema. Darüber werden wir in den Gesamtzusammenhängen zu sprechen haben. Dabei geht es um mehr
als um die Statistik und um die Dinge, die Sie angesprochen haben und auf die ich gleich gerne noch einmal
kommen werde.
Wir haben uns in unserem Bericht um Realismus bemüht und die Prognosen für die Entwicklung der Löhne
und der Zahl der Beschäftigten im Vergleich zu dem,
was in den Berichten vergangener Jahre gestanden hat,
gesenkt. Wir sind dabei sehr nahe an die Realität herangerückt. Das hat auch Konsequenzen gehabt. Der Beirat
hat ja auch deutlich gemacht, dass er uns zumindest im
Bereich der Lohnentwicklung voll zustimmt. Das ist ein
wichtiger Punkt.
Auf was bereiten wir uns in Deutschland vor? Sagen
wir, dass wir ein Niedriglohnland sind, oder sagen wir,
dass wir ein Hochleistungs- und Hochlohnland bleiben
wollen und dass wir davon ausgehen, dass die Arbeitnehmer auch in Zukunft mehr in ihre Portemonnaies bekommen, was mit einer entsprechenden Wirkung auf die
sozialen Sicherungssysteme - auch auf das Rentensicherungssystem - verbunden ist? Das ist eine ganz wichtige
Entscheidung. Wir gehen davon aus, dass die Dinge, die
wir aufgeschrieben und für unseren Bericht zur Grundlage gemacht haben, realistisch sind.
Zum Kapitel Analyse. Wir gehen in Deutschland im
Schnitt mit 21 Jahren in den Beruf und mit 60,8 Jahren
heraus. Das sind gut 39 Lebensarbeitsjahre. Von den
55-Jährigen und Älteren sind noch 42 Prozent berufstätig. 50 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden, der
älter als 50 Jahre ist. Im Schnitt gehen 33,5 Prozent der
Männer mit 65 Jahren in die Rente. Im Vergleich zu
1960 leben wir sechs bis sieben Jahre länger. Alle, die
sich damit beschäftigen, sagen: Bis zum Jahre 2030 leben wir noch einmal 2,5 Jahre länger. Das ist gut. Wir
klopfen auf Holz und hoffen, dass wir dabei sind. Das
bedeutet aber natürlich auch, dass die Rente 2,5 Jahre
länger zu zahlen ist.
Im Jahre 2050 werden 12 Prozent der Bevölkerung
älter als 80 Jahre, 30 Prozent älter als 65 Jahre und
16 Prozent unter 20 Jahre alt sein. Wenn man die ganzen
Zahlen nebeneinander legt, dann erkennt man, dass man
reagieren und etwas tun muss. Man muss jetzt damit anfangen; denn wenn ich von 2050 spreche, dann weiß ich,
dass durch die Köpfe geht, dass das noch eine lange Zeit
hin ist. Nein, nein, diejenigen, die heute 21 Jahre alt
sind, sind dann gerade 65 Jahre alt. Wir kennen schon einen großen Teil derjenigen. Unsere Enkelkinder und
Kinder werden davon, was wir jetzt tun oder nicht tun,
betroffen sein. Nichts tun kann man nicht. Man muss
handeln.
Was tun wir also an dieser Stelle? Wir tun vor allen
Dingen zwei Dinge:
Wir beginnen mit einer „Initiative 50 plus“. Sie ist angekündigt und wird im Verlauf dieses Jahres konkretisiert. An dieser Stelle werden wir dann auch Dampf machen. Wir müssen dafür sorgen, dass in dieser
Gesellschaft wieder begriffen wird: Leute, die 50,
55 und 60 Jahre alt sind, können noch etwas und werden
dringend gebraucht. Sie dürfen nicht beiseite geschoben
werden. Das ist ein Grundfehler in der ganzen gesellschaftspolitischen Entwicklung in diesem Land.
({0})
Damit verbunden verändern wir den Korridor für den
Eintritt in die Rente um zwei Jahre. Bisher verlief er von
60 bis 65 Jahre. Mit 60 Jahren konnten viele herein; sie
mussten einen Abschlag von 18 Prozent hinnehmen.
Wer mit 65 Jahren ging, erhielt die Rente dann ohne Abschlag. Dieser Korridor von 60 bis 65 Jahre verschiebt
sich bis zum Jahre 2029 auf 63 bis 67 Jahre. Um diesen
Vorgang geht es.
Unten kommen die Menschen ja auch nicht mehr mit
14 oder 15 Jahren in den Beruf, sondern im Schnitt mit
21 Jahren. Zusätzlich werden wir noch 2,5 Jahre älter.
Ich glaube, dass es verantwortbar und sinnvoll ist, das zu
tun, zumal wir sagen: Diejenigen, die 45 Lebensarbeitsjahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben, werden unverändert mit 65 Jahren ihre ungekürzte Rente erhalten.
({1})
In diesem Jahr und im nächsten Jahr werden wir die
Rente nicht kürzen, obwohl das eigentlich fällig gewesen wäre. Einige haben jetzt darüber gesprochen, was
der Vergleich zum Jahre 1995 bedeutet, und gefragt, was
das Ergebnis ist. Es ist richtig: Die Renten sind etwa
20 Prozent niedriger, als 1995 prognostiziert.
({2})
Allerdings sind auch die Löhne etwa 20 Prozent niedriger, als 1995 prognostiziert.
({3})
Ich will damit nur zeigen, dass das nicht eine Frage der
Struktur der Rentenversicherung, sondern eine Frage der
Lohnentwicklung und der Prosperität des Landes insgesamt ist.
({4})
Das ist der Punkt, an dem wir uns bewegen und den man
begreifen muss.
Diese Kürzungen, diese Dämpfungen, die wir nicht
vornehmen, werden wir nicht vor 2010 nachholen. Aber
das ist nötig. Wenn wir das nicht tun, wird das die Generation nach uns bezahlen.
Wir alle miteinander müssen ehrlich sein: Es gibt
arme Rentner und solche, denen es ganz gut geht. Es gibt
arme Beschäftigte und solche, denen es ganz gut geht.
Die Grenze verläuft in diesem Land nicht zwischen
Rentner und Nichtrentner, sondern sie verläuft zwischen
denen, die genug Geld im Portemonnaie haben und denen es gut geht, und denen, die weniger Geld zur Verfügung haben und denen es weniger gut geht. So müssen
wir bitte schön auch denken und so müssen wir auch in
der Rentengesetzgebung die Strukturen festlegen.
({5})
Die Beiträge für die Rente werden sich im nächsten
Jahr auf 19,9 Prozent erhöhen. Wir zahlen allerdings einen langsam wachsenden Betrag von 78 Milliarden Euro
aus der Bundeskasse dazu. Das sei gesagt, damit das einige endlich begreifen. Denn einige sagen, das würde
nur über die Lohnnebenkosten finanziert. Das ist Unsinn, das ist längst nicht mehr so. 78 Milliarden Euro
von den 260 Milliarden Euro des Bundeshaushaltes fließen in diesem Jahr in die Rente oder sind rentennahe
Zahlungen, weil sonst die Rentenversicherungsbeiträge
in diesem Jahr nicht bei 19,5 Prozent, sondern bei
26 oder 27 Prozent lägen. Oder die Renten wären um ein
Drittel niedriger.
({6})
Wir haben schon einen vernünftigen Mix aus Rentenversicherungsbeiträgen und aus den Geldern, die über
Steuern in die Bundeskasse fließen.
Ich will noch zu dem Punkt kommen, den Sie freundlicherweise angesprochen haben. Ich habe gar nicht vermutet, dass Sie auf so etwas hereinfallen. Ich wiederhole
das, was ich bereits gesagt habe: Die Struktur der gesetzlichen Rentenversicherung steht. Sie wird auch in Zukunft der Kernbereich der Versicherung bleiben. Aber
die Rente muss um zusätzliche Maßnahmen ergänzt werden, zum Beispiel die Riester-Rente oder die betriebliche Vorsorge. Bei der Riester-Rente gab es im letzten
Jahr ein Wachstum: Insgesamt 5,6 Millionen Menschen
machen mit. Betrieblich vorsparen tun inzwischen rund
60 Prozent der Beschäftigten in der einen oder anderen
Form.
Was ich gesagt habe, ist Folgendes: Es hilft nicht,
Lotto zu spielen, es hilft nicht, Balalaika zu spielen und
zu hoffen, dass man so morgen oder übermorgen ausreichend Geld in der Tasche hat, sondern man muss jetzt
den Vertrag für eine Riester-Rente oder eine betriebliche
Rente abschließen. Das ist eine vernünftige Vorsorge für
morgen und für übermorgen. Deshalb ist das, was ich gesagt habe, richtig; das wissen Sie ganz genau.
({7})
Die Höhe und die Sicherheit der Renten werden davon abhängen, wie die Wohlstandsentwicklung im
Lande insgesamt ist. Deshalb gehört zu einer kompletten
Debatte über Rente und die Zukunftsfähigkeit der Rente
die Frage dazu: Was investieren wir in Bildung, Qualifizierung, Weiterbildung, Forschung und Technologie?
Wenn unser Land im Jahre 2030 mindestens das gleiche
Wohlstandsniveau wie heute hat, wird es den Alten und
den Jungen gut gehen. Es geht dann nur um die Verteilung von ein paar Prozentpunkten; darüber kann man
dann streiten. Wenn Deutschland in Zukunft dieses
Niveau aber nicht erreicht, werden wir weniger haben,
egal was wir heute in der Rentenversicherung prozentual
vorgeben. Wenn dann von 46 Prozent die Rede ist, fragt
man sich: 46 Prozent von was? Was sind 100 Prozent?
Wenn wir über die Rente sprechen, gehört zu der
schlichten Wahrheit: Wir müssen im Land die Bereitschaft wecken, zu verstehen, dass wir nur dann, wenn
wir in die Köpfe und die Herzen der jungen Menschen
investieren, eine vernünftige Chance haben, langfristig
eine auch für alle nach uns kommenden Generationen
sichere Rente zu haben. Das hängt ganz eng zusammen.
Deshalb dürfen wir die Rente nicht nur als ein spezifisches Problem diskutieren, sondern wir müssen es mit
der Bereitschaft verbinden, einen Teil dessen, was wir
heute erwirtschaften, in die jungen Menschen zu investieren. Um diesen entscheidenden Punkt geht es langfristig bei der Rentensicherung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Menschen müssen sich auch in Zukunft darauf verlassen können, dass ihr Lebensunterhalt im Alter gesichert ist. Dazu braucht die Rentenversicherung ein stabiles wirtschaftliches Fundament. Das setzt einen hohen
Beschäftigungsstand, die Förderung von älteren Beschäftigten und die von Frauen voraus.
In den letzten Tagen wurde der Eindruck erweckt, als
habe die Rentenpolitik der vergangenen Jahre zur Folge,
dass die Rentner und Rentnerinnen einseitig und massiv
von der Entwicklung des Wohlstands abgekoppelt worden seien. In der „Bild“-Zeitung ist von einer
„Schrumpfrente“ die Rede, weil die Voraussagen früherer Rentenberichte nicht eingetroffen sind. Mit diesen
Ängsten der Menschen machen Sie, meine Damen und
Herren von der Linken, Politik.
({0})
Ich möchte dies versachlichen. Im Rentenversicherungsbericht 1995 wurde aufgrund der damaligen Prognosen für das Jahr 2009 eine monatliche Eckrente von
1 510 Euro vorausgesagt. Zehn Jahre später sind es nur
noch 1 180 Euro. Nach den gestrigen Aussagen von
Minister Müntefering läge der Beitrag nach der damaligen Prognose heute bei über 26 Prozent. Wissen Sie,
Herr Kollege Kolb, wer damals im Wirtschaftsministerium die Voraussagen erstellt hat?
({1})
Das war der damalige Parlamentarische Staatssekretär
Kolb 1995.
({2})
Wie ich sehe, tragen Sie das mit Fassung.
({3})
- Nein, die wirtschaftlichen Voraussagen wurden im
Wirtschaftsministerium erstellt.
Aber zu Ihrer Entschuldigung ist festzustellen: Damals wurde offensichtlich die Durchsetzungskraft der
Gewerkschaften unterschätzt.
({4})
Seitdem die Gewerkschaft 1999 mit Oskar Lafontaine
ihre Speerspitze im Bundestag verloren hat, geht die
Lohnentwicklung rapide zurück und wir sind im europäischen Vergleich schon ganz unten angekommen. Das
schlägt systembedingt auf die Renten nieder.
({5})
- Wollen Sie mich etwas fragen? Ich verstehe Sie
schlecht.
Es ist in der Tat ein Problem, wenn die Voraussagen
zur Rente immer wieder nach unten korrigiert werden
müssen. Das droht auch dem Rentenversicherungsbericht 2005.
Umso bemerkenswerter, Herr Minister Müntefering
- so viel zur neuen Ehrlichkeit -, ist Ihre Einschätzung
bei der Pressekonferenz, die ich auf „Phoenix“ verfolgt
habe. Sie haben gesagt, die Rentenversicherung stehe
jetzt und es müsse in diesem Bereich nicht weiter nachgesteuert werden. Eben haben Sie es anders dargestellt.
Aber als ich die Pressekonferenz verfolgt habe, wurde
ich an die Popularität Ihres Vor-Vorgängers Norbert
Blüm erinnert.
Wir wissen, dass die Niveausenkung der Renten vor
allem die jüngere Generation betrifft. Sie überschätzt
ihre Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung
und unterschätzt den Bedarf an ergänzender Vorsorge.
Wenn jemand im Jahr 2030 auf 30 Beitragsjahre bei einem durchschnittlichen Verdienst kommen muss, um
eine Rente auf Sozialhilfeniveau zu bekommen, dann
wird klar - ich finde, auch das erfordert die Ehrlichkeit,
und ich stelle das als Grüne fest -: Die gesetzliche Rentenversicherung wird in der bestehenden Form den
Schutz vor Armut für alle Bürgerinnen und Bürger nicht
mehr zuverlässig gewährleisten können. Das gilt vor allen Dingen für Personen ohne geschlossene Berufsbiografien.
Das wird hier immer verschwiegen, aber man muss es
den Menschen sagen. Wir Grüne werden uns dafür einsetzen, dass die Sozialversicherungen zu Bürgerversicherungen weiterentwickelt werden. Für die Krankenversicherung haben wir bereits einen Vorschlag gemacht.
Inzwischen ist aber eine Debatte darüber entstanden, ob
eine Bürgerversicherung auch für die Rente erforderlich
sein wird. Die Probleme in den einzelnen Zweigen der
Sozialversicherung sind unterschiedlicher Natur. In der
Altersvorsorge ist ein solches Vorhaben eine langfristige
Angelegenheit, die auch verfassungsrechtliche und fiskalische Probleme aufwirft.
Ohne die von Rot-Grün eingeleiteten Reformen läge
der Beitragssatz heute schon viel höher.
({6})
Bezogen auf einen durchschnittlichen Lohn wäre das für
Arbeitgeber wie auch für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen heute eine Mehrbelastung von 750 Euro im
Jahr, Herr Lafontaine.
({7})
Wollen Sie vielleicht den Menschen auch das einmal sagen?
({8})
- Das stimmt nicht.
({9})
Doch die Bundesregierung stellt die Weichen völlig
falsch. Die konjunkturelle Entwicklung der vergangenen
Jahre hat deutlich gezeigt - in dieser Einschätzung liegen wir wieder nahe beieinander -: Die Finanzierung der
sozialen Sicherung durch abhängig Beschäftigte verteuert den Faktor Arbeit und schadet der Beschäftigung.
Was machen SPD und CDU/CSU? Sie gehen den einfachen Weg. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung
soll 2007 auf 19,9 Prozent steigen. Die Beiträge für
Langzeitarbeitslose an die Rentenversicherung sollen
sinken. Der Haushalt soll auf Kosten der Beitragszahler
entlastet werden. Die Kosten für die Arbeitnehmer werden steigen. Das ist Gift für den Arbeitsmarkt.
Die Koalition hofft auf Wachstum. Sie hofft darauf,
dass auf diesem Weg Beschäftigung entsteht und der
Druck auf die Sozialversicherung abnehmen wird. Dabei
ist in den letzten Jahren die Zunahme der Beschäftigung
mit einer Abnahme der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung einhergegangen. Dieses grundlegende
Problem muss gelöst werden. Aber dem weichen Sie,
meine Damen und Herren von der SPD und CDU/CSU,
aus.
An die Adresse von Oskar Lafontaine gerichtet - ich
verspüre gerade eine gewisse Kampfesfreude -: Hören
Sie doch mit Ihren volkswirtschaftlichen Vorträgen auf!
Machen Sie als Linke konkrete Vorschläge zu politischen Alternativen bei der Rente! Vergessen Sie vor allen Dingen nicht den berühmten Satz von Bill Clinton:
„It’s the economy, stupid!“
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Die Rentenpolitik in dieser Republik
ist - hier werden mir alle sicherlich beipflichten - eine
Dauerbaustelle. Wir haben auch in dieser Woche wieder
einiges gelesen und gehört. Es gab viel Kritik an der
Stefan Müller ({0})
Bundesregierung, der großen Koalition und dem System
der gesetzlichen Rentenversicherung sowie kritische Anmerkungen zu dem, was in der Vergangenheit unterlassen oder getan worden ist. Aber selten habe ich in dieser
Woche konstruktive Vorschläge gehört oder gelesen. Die
selbst ernannten Experten haben nicht erklärt, wie das
System der Rentenversicherung stabilisiert werden soll.
Das bezieht sich nicht nur auf Abgeordnete dieses Hauses, sondern auch auf viele andere. Der Herr, den ich
meine, scheint in der Tat zu einer Allzweckwaffe geworden zu sein. Er hat aber offensichtlich das Problem,
selbst in seiner eigenen Fraktion nicht in ausreichendem
Maße Gehör zu finden. Ich wünsche mir jedenfalls, dass
diejenigen, die sich hier ständig kritisch zu Wort melden,
einmal konstruktive Vorschläge machen und diese auch
vertreten. Derjenige, der höhere Rentenversicherungsbeiträge fordert, sollte dann auch den Arbeitnehmern
und den Unternehmern sagen, dass sie höhere Beiträge
zahlen müssen.
({1})
Wer niedrigere Renten fordert, der sollte den Rentnern
sagen, dass sie künftig mit weniger zurechtkommen
müssen.
Der Rentenversicherungsbericht, der in dieser Woche
vorgelegt worden ist, ist jedenfalls ehrlicher als vieles,
was uns in der Vergangenheit beim Thema Rente präsentiert worden ist.
({2})
Der Rentenversicherungsbericht leidet natürlich unter
dem Problem, das alle Prognosen haben, nämlich dass
die zukünftige Entwicklung von niemandem mit absoluter Sicherheit vorhergesagt werden kann. Ich weiß es
zwar nicht, aber ich unterstelle, dass auch der amtierende
Bundesarbeits- und -sozialminister über keine Glaskugel
verfügt, in die er hineinschauen und mit deren Hilfe er
die zukünftige Entwicklung sicher vorhersagen kann. Insofern ist es unredlich, hier Prognosen zu kritisieren;
denn jeder weiß, dass Prognosen generell problematisch
sind.
Der Rentenversicherungsbericht zeigt die Probleme
auf, die das System der gesetzlichen Rentenversicherung
hat. Das alles sind keine Neuigkeiten. Wenn wir ehrlich
sind, müssen wir zugeben, dass wir um die Probleme
dieses Systems schon lange wissen. Die Deutschen werden - Gott sei Dank - immer älter, beginnen immer später, zu arbeiten, und hören immer früher auf. Demzufolge beziehen die Deutschen immer länger Rente.
Darauf ist das bestehende System nicht ausgerichtet, genauso wenig wie darauf, dass in diesem Land immer weniger Kinder geboren werden und dass es demzufolge
immer weniger Beitragszahler gibt und dass 5 Millionen
Menschen arbeitslos sind. Genau deswegen brauchen
wir - das ist schon angesprochen worden - mehr wirtschaftliche Dynamik und Beschäftigung sowie mehr
Beitragszahler. Die Grundlagen für mehr wirtschaftliche
Dynamik und Beschäftigung wird diese große Koalition
legen, auch wenn Sie das nicht erwarten. Es wird selbstverständlich eine Unternehmensteuerreform sowie eine
Initiative für Entbürokratisierung und Deregulierung geben. Zudem werden die Lohnzusatzkosten im nächsten
Jahr sinken. Das alles wird so eintreten.
Das Thema der heutigen Aktuellen Stunde ist die Zukunft der Rente. Damit wird gleichzeitig die Frage nach
der Zukunft des Generationenvertrages gestellt. Der Generationenvertrag war jahrelang ein Garant für Stabilität
und Solidarität zwischen den Generationen. Das solidarische Prinzip sollte auch in Zukunft beibehalten werden. Aber Solidarität ist natürlich keine Einbahnstraße.
Genau deswegen müssen wir uns die Frage stellen, wie
wir es verhindern, dass sich die Generationen in Zukunft
nicht gegenseitig überfordern. Auf der einen Seite sind
die Älteren, die um ihre erworbenen Ansprüche fürchten. Auf der anderen Seite sind die Jüngeren, die befürchten, von zwei Seiten in die Zange genommen zu
werden. Interessanterweise ist angesichts der vorgeschlagenen Maßnahmen, zum Beispiel der Rente ab 67,
die emotionale Betroffenheit bei denjenigen am größten,
die davon nicht mehr betroffen sein werden, während
sich diejenigen, die davon massiv betroffen sein werden,
am wenigsten beschweren.
Beide Seiten, Ältere wie Jüngere, bekommen von uns
klare Signale. Die Älteren bekommen das klare Signal,
dass die Renten in dieser Legislaturperiode nicht gekürzt
werden. Gleichzeitig werden die Renten in Zukunft aber
nicht mehr in dem Maße steigen können, wie es die Lohnentwicklung zuließe. Die Jüngeren bekommen das klare
Signal, dass künftig die gesetzliche Rente nicht mehr ausreichen wird, um im Alter den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, und dass deswegen mehr private Vorsorge
betrieben werden muss. Gleichzeitig haben aber die Jüngeren einen Anspruch darauf, dass wir Politiker ihnen die
finanziellen Spielräume ermöglichen, private Vorsorge
zu betreiben. Ich bleibe dabei: Der Generationenvertrag
und die Solidarität unter den Generationen müssen erhalten bleiben. Allerdings dürfen die Belastungen, die daraus resultieren, nicht nur einer Generation aufgebürdet
werden.
({3})
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedem hier im Haus ist doch bewusst, dass sich die von
Frau Schewe-Gerigk angesprochene Tageszeitung nicht
gerade durch eine immer sachliche und differenzierte
Berichterstattung auszeichnet. Aber immerhin - Frau
Schewe-Gerigk, das werden doch auch Sie zugeben sind die Zahlen in diesem Bericht korrekt wiedergegeben. Die Kernaussage, dass die Bundesregierung in ihrem aktuellen Rentenversicherungsbericht ihre RentenVolker Schneider ({0})
prognose deutlich nach unten korrigiert hat, ist ebenfalls
nicht zu beanstanden.
({1})
- Ich komme noch auf die Art und Weise, wie das dargestellt worden ist. Gedulden Sie sich doch ein wenig!
({2})
Im Vergleich zu den Prognosen im Rentenversicherungsbericht 1995 kann - so dieses Blatt - ein so genannter Eckrentner beim Renteneinstieg 2009 statt dort
prognostizierter 1 510 Euro nach den aktuellen Schätzungen nur noch eine Rente von 1 180 Euro erwarten.
Das bedeutet - wohlgemerkt, darauf weist diese Zeitung
nicht hin -, dass dies nur für zukünftige, nicht aber für
aktuelle Rentenbezieher gilt. Das ist ein Minus von
330 Euro oder 22 Prozent. Weil dieses Blatt so gerne
versucht, Dinge - selbst auf die Gefahr der Verkürzung
hin - auf den Punkt zu bringen und dafür auch gerne auf
Slogans oder Schlagworte zurückgreift, liefert es auch
gleich einen eingängigen Begriff für diesen Vorgang,
nämlich den der Schrumpfrente.
Die Empörung der Bundesregierung ließ nicht lange
auf sich warten. Von Verunsicherungskampagnen und
unsinnigem Vergleich ist die Rede. Auch die Deutsche
Rentenversicherung zeigt sich empört. Schließlich seien
auch die zugrunde gelegten Bruttoentgelte 22 Prozent
hinter der Prognose zurückgeblieben. Auch diese Aussage deckt sich mit den Zahlen der beiden angesprochenen Berichte. An dieser Stelle lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und einige einfache Überlegungen
anzustellen. Dass die Bruttoentgelte hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind, ist nicht die Folge einer
Naturkatastrophe.
({3})
Zum einen ist dies Konsequenz des geänderten Berechnungsverfahrens, das ja gerade die Dämpfung des Anstiegs zum Ziel hatte, zum anderen ist der ausgebliebene
Anstieg schlicht Ausdruck der völlig verfehlten Politik
der Lohnzurückhaltung, die dazu geführt hat, dass die
Löhne in unserem Land weit hinter der internationalen
Entwicklung zurückgeblieben sind.
({4})
Ich wiederhole gerne, was unsere Fraktion, insbesondere
Oskar Lafontaine, hier mehrfach gesagt hat.
({5})
Während in anderen Industriestaaten in den letzten zehn
Jahren Lohnzuwächse von 20 Prozent und mehr erzielt
wurden, sind in Deutschland die Löhne real um 0,9 Prozent zurückgegangen. Die Konsequenz ist schlicht: Wo
die Lohnabhängigen nicht angemessen am Produktivitätsfortschritt beteiligt werden, erhalten auch die Rentner
kein Stück mehr von diesem Kuchen.
({6})
Anders gesagt: Hätten wir die prognostizierte Lohnentwicklung von 22 Prozent plus gehabt, dann könnten
Rentner im Jahr 2009 auch 1 510 Euro Rente erwarten.
({7})
Aber die Bundesregierung sieht dies alles nicht ganz
so tragisch und warnt vor Dramatisierungen. Dabei gibt
sie selbst zu, dass es bis zum Jahr 2010 im Wesentlichen
Nullrunden geben wird. Damit, wie vorausgesagt, im
Jahr 2011 die Rente endlich einmal wieder um 1,4 Prozent steigen soll, wird eine Steigerung der Bruttolöhne
um 2 Prozent angenommen. Warum ausgerecht ab diesem Jahr die Bruttolöhne wieder so viel stärker steigen
sollen, erklärt die Bundesregierung nicht. Sie nennt diese
Schätzung ambitioniert.
({8})
Möglicherweise geht sie davon aus, dass ab 2009 in
Deutschland eine Alternative zum Neoliberalismus Regierungsverantwortung übernimmt. Dies würde auch erklären, warum ausgerechnet im Jahr 2009 erstmals wieder die Renten maßvoll um 0,2 Prozent steigen.
({9})
Eine Eckrente in Höhe von 1 180 Euro - so lautet die
Prognose -, das hört sich gar nicht so schlecht an. Viele
werden aber erst gar nicht in den Genuss einer solchen
Rente kommen. Wie Gregor Gysi ausgeführt hat, heißt
Eckrente, dass jemand 45 Jahre lang in die Rentenkasse
eingezahlt und stets durchschnittlich verdient hat. Derzeit trifft das nur auf knapp 40 Prozent der westdeutschen Männer und nur auf 3,7 Prozent der westdeutschen Frauen zu. Außerdem arbeitet eh kaum jemand
45 Jahre lang. Was die Lebensarbeitszeit angeht, ist die
Tendenz insgesamt sinkend.
({10})
- Ich empfehle Ihnen einfach einmal, die entsprechenden Statistiken zu lesen.
Ergo: Künftige Rentner werden häufig mit einer geringeren Rente starten müssen und sie werden sich auch
auf eine Reihe von Nullrunden bis zum Jahr 2030 einstellen müssen.
({11})
- Ich verstehe Ihre Erregung nicht. Das ist doch Ihr politischer Wille. Schließlich ist es das erklärte Ziel Ihrer
Rentenpolitik, das Nettorentenniveau von derzeit 52,7 Prozent auf 43 Prozent im Jahr 2030 zu senken.
({12})
Wie wollen Sie das anders als mit Nullrunden erreichen?
Abgesehen davon dass eine solche Absenkung zusätzliches Gift für die Binnenkonjunktur sein wird, bedeutet diese Entwicklung für die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner eine reale Rentenkürzung und für viele
von ihnen den direkten Weg in die Altersarmut. Für die
Zukunft der Renten erwarten wir von der Fraktion Die
Volker Schneider ({13})
Linke insoweit keine Erfolgsstory; vielen Betroffenen
droht schlicht eine Katastrophe.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Herr Kollege Schneider, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich
und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Rentendebatten in diesem Land waren im Wesentlichen immer von zwei Haltungen geprägt: Die Opposition hat versucht, den Rentnerinnen und Rentnern Angst zu machen und Panik zu
verbreiten; die Regierungen haben die Situation im
Grunde meistens verharmlost oder die eigentlichen Probleme nicht ansprechen wollen.
({0})
Insofern möchte ich hier dem Minister Franz
Müntefering für seine klaren und wahren Ausführungen
danken. Solche Ausführungen hätten gerade wir Jüngere
uns in den letzten Jahrzehnten von den politisch Verantwortlichen oft gewünscht.
Ich will zu den Fakten kommen. Der 2. Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung weist aus, dass
das relative Armutsrisiko für Lebensältere in Deutschland in den letzten Jahren gesunken ist. Rot-Grün hat mit
der steuerfinanzierten Grundsicherung für Menschen ab
dem 65. Lebensjahr die verdeckte und verschämte Altersarmut erfolgreich und nachhaltig abgebaut. Die Anzahl der Sozialrentnerinnen und Sozialrentner, deren
Versicherungsansprüche unterhalb der Existenzsicherungsgrenze liegen, hat nicht etwa zu-, sondern kontinuierlich abgenommen. Die durchschnittlichen gesetzlichen Rentenbeträge sind in den letzten Jahren nicht
gesunken, sondern sie sind - das gebe ich zu - aufgrund
der Lohnentwicklung, aber auch aufgrund von Maßnahmen, die getroffen werden mussten, eher stagnierend.
Die kontinuierlich länger werdende durchschnittliche
Rentenbezugsdauer zeigt, dass alle Behauptungen, Renten würden absolut gekürzt, absurd sind. Die in den
neuen Bundesländern ausgezahlten Rentenbeträge sind
aufgrund der längeren Versicherungszeiten höher als in
den alten Bundesländern. Die Kollegin Schmidt wird
darauf gleich noch konkreter eingehen.
Auch die höhere Beteiligung der Rentnerinnen und
Rentner an den Gesundheits- und Pflegekosten ist angesichts der Kostenentwicklung und Beitragsbelastungen
maßvoll und gerecht. Der Weg der Regierung Schröder
der Agenda 2010 war in Bezug auf die Alterssicherung
richtig. Deswegen gehen wir ihn auch in der großen Koalition weiter.
Wenn wir die heutigen Rentnerinnen und Rentner und
die zukünftigen nicht im Regen stehen lassen wollen,
wenn wir den solidarischen Generationenvertrag sichern
wollen, dann müssen wir ihn einerseits um demografische Faktoren und andererseits um eine steuerfinanzierte
Grundsicherung im Alter und um die Förderung privater
Vorsorge sowie durch Betriebsrenten ergänzen.
So wichtig und richtig das Vorziehen einer schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ist:
Die wahren Aufreger liegen doch eigentlich ganz woanders. Selbst Herr Lafontaine, dem heute keine demagogische Plattitüde mehr zu peinlich ist, hat, als er noch Sozialdemokrat und Realpolitiker war, die Verlängerung
der Lebensarbeitszeit gefordert. Als er Finanzminister
war, hat er allerdings den öffentlichen Dienst zur Bescheidenheit aufgefordert. Diese Zeiten sind vorbei.
({1})
- Damals habe ich auch noch Bücher von Oskar
Lafontaine gelesen.
({2})
Das lohnt sich heute weniger.
Mich erstaunt, dass wir anstatt des Aufschreis empörter Interessengruppen, die die heutigen Besitzstände verteidigen, nicht die bohrenden Fragen und Proteste derer
hören, die heute das System tragen und morgen eine gesetzliche Rente beziehen werden, die mit jener von heute
nicht einmal ansatzweise zu vergleichen ist. Wenn ein
1968 geborener Arbeitnehmer im Jahr 2035 mit
67 Jahren seinen Ruhestand antritt, wird das Nettorentenniveau angesichts der demografischen Entwicklung
maximal 52 Prozent - bisher sind es 67 Prozent - betragen, auch bei vollen 45 Beitragsjahren. Das Problem
liegt also nicht im Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Es
ist klar, dass bei fortlaufend steigender Lebenserwartung
die Lebensarbeitszeit nicht stagnieren kann.
Der Politik bleiben nur vier Handlungsoptionen: Die
Jüngeren werden noch stärker belastet. Das scheidet aus.
Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal deutlich sagen, Frau Schewe-Gerigk: Für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer sowie für Arbeitgeber steigt der Beitragssatz für die Rentenversicherung in 2007 um 0,4 Prozentpunkte, aber der Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung sinkt um 1 Prozentpunkt. Das ist eine Senkung
der Lohnnebenkosten.
({3})
Dann könnten die Renten gekürzt werden. Das traut
sich aber niemand; ich glaube, auch zu Recht. Deswegen
gibt es trotz der sinkenden Nettoeinkommen keine Rentensenkung.
Die Lebensarbeitszeit wird schrittweise verlängert.
Das ist die Option, die wir wählen.
Wir könnten auch den staatlichen Zuschuss - heute
78 Milliarden Euro, jährliche Steigerungsrate 6 Prozent weiter erhöhen. Dafür ist kein Geld da.
Genau die 30- und 40-Jährigen sind es, die überwiegend nur noch in befristeten Arbeitsverhältnissen unterkommen und immer weniger Kinder haben. Sie sind angesichts der Erfahrungen mit der Politik im letzten
Jahrhundert bestenfalls desillusioniert. Dass sie keine
Kinder bekommen wollen, hat auch mit einer tief greifenden sozialen Verunsicherung zu tun, der wir gemeinsam entgegentreten müssen.
Gerade betriebliche Renten könnten dem Anspruch
neuer Flexibilität und unterbrochenen Arbeitsbiografien
von Arbeitnehmern Rechnung tragen. Die Ansprüche
dürfen auch bei häufigem Betriebswechsel möglichst
nicht mehr verfallen. Gleichermaßen wichtig erscheint
eine Fortführung der Sozialversicherungsfreiheit für die
betriebliche Altersvorsorge, über die wir im Jahr 2008
zu entscheiden haben. Wir müssten den Kreis der förderberechtigten Personen bei der privaten Altersvorsorge,
bei der Riesterrente, deutlich ausweiten. Wir müssen uns
überlegen, ob wir obligatorische Komponenten einbauen. Man muss im Grunde bereits als Schüler und Student anfangen, Altersvorsorge zu betreiben.
Herr Kollege Stöckel, ich muss Sie an Ihre Redezeit
erinnern.
Ja, ich komme zum Schluss; ich kürze meine Rede ab.
Nein, Sie müssen zum Schluss kommen. Es reicht
nicht, die Rede abzukürzen.
({0})
Angesichts der Herausforderungen, die der Rentenbericht der Bundesregierung aufzeigt, gibt es keinen Grund
zur Panikmache. Aber es ist Zeit, zu handeln. Die Maßnahmen geben uns eine solide Basis und einen ausreichenden Zeitkorridor, um die Weichen für eine gute, gerechte und nachhaltige Alterssicherung zu stellen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kaum
ein Thema ist so angstbeladen wie die Rente. Denn die
Mehrheit der Deutschen sorgt sich um die Alterssicherung. Es gibt eine aktuelle Emnid-Umfrage, die besagt,
dass mehr als 50 Prozent der Deutschen ihr Leben im
Alter mit Sorge sehen, und zwar egal ob sie alt oder jung
sind. Zum Wesen der Angst gehört, dass sie nicht immer
auf Fakten beruht - wie auch hier.
Viele fürchten die Altersarmut. Keine Frage, es gibt
Altersarmut in Deutschland, so bei Rentnerinnen im
Westen mit einer Durchschnittsrente von 480 Euro. Fakt
ist aber auch, dass das Versorgungsniveau der meisten
Rentner noch nie so hoch war wie heute.
({0})
So verfügt ein Durchschnittsehepaar über 2 159 Euro
netto monatlich.
In diesem Land sind vor allem jüngere Menschen
arm: allein erziehende Frauen und schlecht ausgebildete
Jugendliche. Hier wäre es an der Politik, aufzuklären
und Lösungen aufzuzeigen. Das könnte auch in einer
Debatte wie heute erfolgen.
({1})
Aber einmal mehr missbrauchen Sie, die Vertreter der
Linken, dieses Instrument. Ich erlebe inzwischen in jeder
Aktuellen Stunde, dass Sie nicht informieren wollen,
({2})
sondern dass es Ihnen immer darum geht, zu polarisieren.
({3})
Leider stehen Sie damit nicht allein, sondern befinden
sich inzwischen in einer sehr unheilvollen Allianz mit
anderen Oppositionsvertretern. Da werden Tiraden abgelassen, statt Sachlichkeit an den Tag zu legen. Dabei
handelt es sich um ein Thema, das die ernsthafteste Debatte verdient,
({4})
nicht nur, weil es die Menschen bewegt, sondern auch,
weil wir wissen, dass es bezüglich der Rente erhebliche
Probleme gibt, die gelöst werden müssen. Sie werden
von dieser Bundesregierung aufgezeigt, und zwar ehrlich und schonungslos.
Die Probleme haben viele Ursachen: die demografische Entwicklung in unserem Land, die leider immer
noch viel zu hohe Arbeitslosigkeit und die schlechte
wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre; schließlich sind die Alterseinkommen an die Arbeitsentgelte gekoppelt. Es gab sicherlich auch politische Versäumnisse.
Ich persönlich halte es für einen Fehler, dass 1998 der
demografische Faktor abgeschafft wurde, denn gerade
durch ihn sollte die sich verändernde Altersstruktur aufgefangen werden. All dies führt dazu, dass es keine
Rentenerhöhungen geben wird. Mithilfe des von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs werden
wir aber auch Rentenkürzungen vermeiden. Im Übrigen
lässt sich an diesen ernüchternden Zahlen kurzfristig
nichts ändern. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt den
Weg aufzeigen, wie man die Probleme bewältigt.
Die Probleme lassen sich nicht durch schrille Verteilungsdebatten lösen, wie Sie, die Vertreter der Linken,
sie hier anzetteln. Sie handeln doch nach dem Prinzip
„Nach mir die Sintflut“. Es wird aber keine zweite Arche
Noah geben, die uns rettet. Keine Hilfe kommt von
Volksvertretern, die dann, wenn sie Verantwortung übernehmen könnten, nicht bereit sind, diese zu übernehmen.
Ich denke nur an den ehemaligen Bundesfinanzminister,
der die Brocken hinwarf, als er hätte handeln können.
({5})
Sie haben lange genug Blankoschecks verteilt. Ich erinnere nur an die Rentner in der ehemaligen DDR. Deren
Absicherung wurde sträflich vernachlässigt, da keinerlei
Rücklagen angelegt wurden.
({6})
Ohne Wachstum werden wir alle diese Probleme nicht
lösen können. Das betrifft auch schon die derzeitigen
Rentner, denn sie werden nur mehr bekommen, wenn
viele Menschen Arbeit haben, die Löhne steigen und die
Wirtschaft wächst. Dieses Szenario ist nicht ausgeschlossen, aber es ist zurzeit auch nicht sehr realistisch.
Das ist die Wahrheit. Zur Wahrheit gehört aber auch,
dass in einer alternden Gesellschaft länger gearbeitet
werden muss.
Wahrheit kann übrigens manchmal wehtun, das gilt
auch für Sie, meine Damen und Herren von der FDP. Sie
schüren die Ängste vor der Rente mit 67. Westerwelle
und Lafontaine, das ist für mich eine seltsame Koalition.
({7})
Aber wo sind Ihre Rezepte oder auch die Rezepte der
Grünen? Ich höre immer nur ein Nein. Sie propagieren
immer höhere Renten bei immer kürzerer Lebensarbeitszeit und sinkenden Beiträgen. Das kann nicht funktionieren.
({8})
Wer die Wahrheit nicht kennt, der ist ignorant. Wer
die Wahrheit aber bewusst leugnet, der macht sich schuldig.
({9})
Die Menschen in diesem Land wissen - anders als Sie -,
dass etwas geschehen muss. Wir haben den Mut, es ihnen zu sagen. Wir stellen uns dem Problem zum Wohl
der Rentner, zum Wohl der Beitragszahler und zum
Wohl zukünftiger Generationen. Wir sind jetzt verantwortlich für das, was in Zukunft passiert.
Alle Beteiligten haben ein legitimes Interesse an einer
sicheren Rente, seien es die Frauen und Männer, die unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut
haben, seien es die jungen Familien von heute. Deshalb
legen wir ein Konzept vor, das die Lasten gleichmäßig
verteilt: auf Rentner, Beitragszahler und Steuerzahler.
Gerade die Rente mit 67 ist ein Muster für ein solches
Langfristprojekt; denn es geht um ein Gesetz, das endgültig ab 2029 wirkt. Wir haben zweieinhalb Jahrzehnte
Zeit, uns zu ändern. Das sollte reichen.
Dazu gehört aber auch, das finanzielle Risiko im Alter durch ein Mischsystem aus gesetzlicher, betrieblicher
und privater Vorsorge abzusichern. Wir werden diesen
Weg gehen. Der beste Weg, die Zukunft vorauszusehen,
ist, sie zu gestalten. Lassen Sie uns an dieser Stelle anstelle von Ängsten Vorausdenken und Voraushandeln
setzen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegin Connemann, ich möchte zunächst
grundsätzlich Ihrer Aussage zustimmen,
({0})
dass die Situation der Rentnerinnen und Rentner in der
ehemaligen DDR unter dem Gesichtspunkt der Absicherung einfach unerträglich geworden wäre.
Ich möchte als Ostdeutsche noch auf einige wesentliche Punkte eingehen. Als Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt kennt man natürlich die Rentensituation in den
neuen Bundesländern sehr gut. Eigentlich müsste sie allen bekannt sein. Die Abgeordneten der ehemaligen PDS
müssten das am besten wissen.
({1})
Ich möchte die Zahlen trotzdem wiederholen. Es sind
ehrliche Zahlen, die nicht einfach aus dem Hut gezaubert
worden sind. Das sollte festgestellt und vor allen Dingen
anerkannt werden.
Bereits 1992 betrug der West-Ost-Transfer in der
Rentenversicherung 2,3 Milliarden Euro; 2004 waren es
schon 13,1 Milliarden Euro. 123 Milliarden Euro sind
von der Rentenversicherung seit der Wiedervereinigung
bis Ende 2004 in die neuen Länder geflossen.
({2})
Silvia Schmidt ({3})
Der Rentenversicherungsbericht 2005 macht deutlich,
dass die durchschnittliche gesetzliche Rente in den
neuen Ländern mit 1 018 Euro bei Männern deutlich
über der vergleichbaren Westrente liegt, die nur
973 Euro beträgt. Bei den Frauen ist die Differenz wegen der unterschiedlichen Erwerbsbiografie sogar noch
größer: In den neuen Ländern liegt die Rente durchschnittlich bei 659 Euro, in den alten Bundesländern bei
479 Euro.
Selbstverständlich kann jetzt eingewandt werden,
dass es in den alten Ländern zusätzlich Betriebsrenten
gibt. Die gab es in der DDR nicht. Dort gab es seit 1972
die freiwillige Zusatzversicherung, in die diejenigen einzahlen konnten, die mindestens 600 Mark verdienten.
Leider war auch mir das nicht vergönnt; denn Krankenschwestern, Pflegedienste usw. haben nicht so viel verdient.
Die gesetzliche Rente in den neuen Ländern ist nicht
nur wegen der Erwerbsbiografie höher. Vielmehr ist die
Rente bereits hochgerechnet worden. Auch dazu eine
klare Zahlenaussage: Wer 1976 in der DDR 500 Mark
brutto verdient hat, wird rentenrechtlich so behandelt, als
hätte er 1 367 Mark verdient. 500 Mark brutto im Jahr
1984 in der DDR werden rentenrechtlich wie
1 644 Mark behandelt. Das kann jeder Einzelne bitte im
SGB VI in der Anlage 10 nachlesen.
Darüber hinaus hat man in den neuen Ländern mittlerweile einen Rentenwert von 88,1 Prozent erreicht.
1990 lag er bei nur 40,3 Prozent.
Ich sage hiermit nicht, dass jemand aus den neuen
Ländern vor Dank auf die Knie fallen muss; aber es ist
doch eine beeindruckende solidarische Anstrengung und
Leistung der gesamten Bundesrepublik, die Anerkennung und Dank verdient, meine Damen und Herren.
({4})
In meinem Wahlkreis Mansfelder Land gibt es auch
für die Rentenempfänger Licht- und Schattenseiten. Bereits 30 Prozent der Bevölkerung sind dort über 60 Jahre
alt; so viel als Anmerkung zur Demografie. Wir haben
im Mansfelder Land viele ehemalige Bergleute und Hüttenarbeiter, die eine Knappschaftsrente von 1 600 Euro
beziehen. Wenn in diesen Fällen auch noch die Frau berufstätig war - man muss sich einmal vergegenwärtigen,
dass die Frauenerwerbsquote in der DDR höher war -,
kann eine solche Familie auf ein Haushaltseinkommen
von 2 250 Euro kommen.
Auch hat sich - das möchte ich betonen - die Lebenserwartung in den neuen Ländern nach der Wiedervereinigung deutlich erhöht. Zum Zeitpunkt der Vereinigung
lag sie noch zweieinhalb Jahre unter dem Durchschnitt
der alten Länder; jetzt ist sie fast angeglichen. Damit
- das sage ich gerade in Richtung der PDS-Abgeordneten oder der Linken, wie auch immer - erhöht sich auch
die Rentenbezugsdauer.
Wie gesagt, die Renten in den neuen Ländern sind
noch höher. Aber das wird sich natürlich verändern. Gebrochene Erwerbsbiografien gibt es auch in den alten
Bundesländern, nicht nur im Osten. Darum hat Rot-Grün
die Grundsicherung im Alter eingeführt; das wurde hier
schon thematisiert. Damit soll Altersarmut verhindert
werden.
({5})
In den alten Ländern - auch das ist vielleicht wichtig
zu wissen - beziehen 270 000 Menschen im Alter von
über 65 Jahren die Grundsicherung, in den neuen Ländern sind es nur 25 000. Das sind gerade 8 Prozent, obwohl der Bevölkerungsanteil in den neuen Ländern
18 Prozent beträgt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch Arbeitslosengeld-II-Empfänger können und sollten eine
Riester-Rente abschließen. Die Riester-Rente gewährt
jenen Menschen, die sich ansonsten keine zusätzliche
kapitalgedeckte Rente leisten könnten und eine solche
steuerlich nicht verwerten können, eine zusätzliche Altersvorsorge. 504 Euro im Jahr bekommt zum Beispiel
eine Arbeitslosengeld II beziehende Familie mit zwei
Kindern. Der Sockelbetrag beträgt 60 Euro im Jahr. Das
sind 5 Euro im Monat. Die Gesamtsparleistung beträgt
somit 564 Euro im Jahr.
Frau Kollegin, auch Sie muss ich an Ihre Redezeit erinnern.
Ich könnte jetzt noch auf viele andere Punkte eingehen.
Nein, das können Sie nicht, da Ihre Redezeit schon
überschritten ist.
({0})
Wir haben ein Zukunftsrepertoire. Das sollte man sich
durchaus einmal genau anschauen. Dann weiß man, dass
die Renten im Osten gesichert sind. Man sollte also
keine Ängste schüren.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Marco Wanderwitz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die PDS scheint es sich zum Ziel gesetzt zu haben, in jeder Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde mit
möglichst populistischem Inhalt zu platzieren ({0})
neben den demagogischen Ausfällen von Ihnen, Herr
Lafontaine, in den Tagen dazwischen, versteht sich.
({1})
Ich habe in der Aktuellen Stunde vor genau einem
Monat, also am 9. Februar, zum gleichen Themenkomplex gesagt, Ihnen, der Linken, gehe es nicht darum, sich
an der wichtigen und seit Jahrzehnten überfälligen Debatte zu beteiligen,
({2})
wie unsere sozialen Sicherungssysteme reformiert werden könnten; Sie wollten vielmehr den sozialen Unfrieden schüren.
({3})
Diesen Vorwurf kann ich heute leider nur wiederholen
und will ihn konkret belegen. Das tue ich weniger für Sie
als für unsere Zuhörer auf der Tribüne und für die Menschen draußen im Land.
Die Zukunft der Rente ist ein wichtiges Thema, viel
zu wichtig, um damit politisch Schindluder zu treiben.
({4})
- Hören Sie einmal zumindest eine Minute zu! - Die Gesellschaft in unserem Land ist überaltert oder besser: Sie
ist unterjüngt. Der Altersquotient, das Verhältnis von arbeitsfähigen Jüngeren zu Älteren im Rentenalter, die auf
Transferleistungen angewiesen sind, entwickelt sich seit
Beginn der 70er-Jahre ungünstig, weil seitdem zu wenig
Kinder geboren werden. Unsere sozialen Sicherungssysteme in Form des umlagefinanzierten Generationenvertrages ohne individuelle Kapitalbildung sind dem nicht
gewachsen. Es stehen schlicht zu wenige Junge zu vielen
Älteren gegenüber. Die Umlagemasse ist endlich.
Diese Geburtenlücke können wir nachträglich nicht
mehr schließen. Wir müssen also den gerechten Lastenausgleich zwischen den Generationen unter diesen Bedingungen neu finden. Die wenigen Jungen werden
mehr für die Älteren leisten müssen als die Generationen
vor ihnen. Dazu sind die jungen Menschen in unserem
Land mehrheitlich bereit. Auch die übergroße Mehrheit
der Älteren hat Verständnis für die Notwendigkeit ihrer
stärkeren Beteiligung, also dafür, dass die Jüngeren nicht
übermäßig belastet werden können. Die jungen Menschen haben zumindest noch nicht zu wenige Kinder bekommen.
Das Gebot der Stunde für die Politik, für uns, muss es
also sein, alles dafür zu tun, dass zumindest künftig wieder mehr Kinder in unserem Land geboren werden.
({5})
Hat aber die PDS Rezepte dafür, dass mehr für Kinder
und Familien getan wird? Ich habe bisher noch nichts
davon gehört. Sie kritisieren nur die Vorschläge anderer.
Ich habe mir einmal Ihre Internetseite angeschaut.
Unter der Überschrift „Stichworte von A-Z“ kann man
unter dem Buchstaben F von feministischer Frauenarbeitsgemeinschaft bis AG Frieden und Sicherheitspolitik
alles finden, nur zum Thema Familie findet sich nichts.
({6})
Unter Buchstabe K ist von „Karl-Liebknecht-Haus“ bis
„Kontakt“ alles zu finden, aber zum Thema Kinder
nichts.
In dem Programm der PDS ist unter „Reformalternativen“ von „1. Demokratie“ bis „8. Ostdeutschland“ alles zu finden, nur nichts zu Kindern und Familien. Wenn
man sich Ihre Reformalternativen genauer anschaut, entdeckt man zehn Punkte, in denen beschrieben wird, was
sozialistische Politik bedeutet. Aber man findet nichts zu
Kindern und Familien.
Wie wir alle haben auch Sie Ihre Fraktion in Arbeitskreise organisiert. Aber keiner Ihrer Arbeitskreissprecher ist - zumindest ausweislich Ihrer Homepage - für
Kinder und Familien verantwortlich.
({7})
Der letzte Punkt. Auch Sie haben Mitglieder im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Einer
davon nennt sich familienpolitischer Sprecher. Ich habe
mir angeschaut, ob es von ihm schon Initiativen gibt.
({8})
- Das tut weh; das ist mir klar. - Aber Initiativen liegen
noch nicht vor. Genau das ist Ihr Problem: Sie haben
keine Rezepte, Sie äußern nur Kritik gegenüber anderen.
({9})
Sie haben die Familie und die demografische Situation
offensichtlich noch nicht als Politikfeld erkannt, zumindest nicht als eines zum Gestalten. Sie wollen die Menschen in einer Gesellschaft, die sich demografisch
wandelt und die noch dazu in den Stürmen der Globalisierung steht, verunsichern. Sie wollen in einem Moment
spalten, in dem die Generationen in einem Land zusammenstehen müssten.
({10})
- Auch diese Frage kann ich Ihnen gern beantworten.
Mehr tun für die Zukunft unseres Landes, für Kinder
und Familien heißt, das Institut der Ehe zu stärken,
({11})
anstatt anderweitige Formen des Zusammenlebens zu
privilegieren, die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf
zu stärken, ohne die Wahlfreiheit und damit die Entscheidung für die Betreuung im Elternhaus zu unterbinden, mehr in Bildung und Forschung zu investieren,
Kindererziehungszeiten bei der Rente verstärkt zu berücksichtigen und damit den vergesellschafteten Kindernutzen wieder zu individualisieren sowie konsumtive
Ausgaben nicht über Schulden zu finanzieren, da das die
Steuern von morgen sind, die die Generationen von morgen bezahlen müssen.
Die Koalition ist auf dem Weg. Die Bundesregierung
wird der Verantwortung für unser Land gerecht, ob Ihnen das passt oder nicht.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Niemand weiß, was in 20, 30 oder 50 Jahren sein wird. Deshalb lassen sich gerade mit dem Thema Rente sehr leicht
Existenzängste schüren. Wen wundert es, dass ausgerechnet die Linkspartei Seit’ an Seit’ mit der „Bild“-Zeitung dieses Thema für sich entdeckt hat. Nach dem
Motto „Immer kräftig drauf“ wird die Stimmung im
Lande angeheizt.
Davon wird die Rente allerdings kein Stück sicherer.
Was wir brauchen, sind die richtigen Rahmenbedingungen. Gemeinsam mit den Grünen haben wir in den letzten beiden Legislaturperioden begonnen, die notwendigen Pflöcke für die Sicherung des solidarischen
Rentensystems einzuschlagen. In der großen Koalition
werden wir diesen Weg fortsetzen. Wir werden nicht nur
die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt zum Beispiel
durch das 25-Milliarden-Euro-Wachstumspaket verbessern, sondern auch das Rentensystem selbst zukunftsfester machen.
Die Zeitungen schreiben heute, die große Koalition
wage mit den vorgelegten Altersvorsorgeberichten eine
neue Ehrlichkeit. Dazu gehört erstens die schrittweise
Heraufsetzung des Rentenalters auf 67 bis zum Jahr
2029. Selbstverständlich wird dies mit einer breit angelegten Beschäftigungsoffensive für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer flankiert, solange die Chancen
für sie am Arbeitsmarkt dermaßen unbefriedigend sind.
Beide Maßnahmen gehören zusammen; so ist das im Koalitionsvertrag festgeschrieben.
Zu der neuen Ehrlichkeit, von der wir in den Medien
lesen, gehört zweitens, dass wir den Menschen sagen,
dass sie selbst vorsorgen müssen, wenn sie ihren Lebensstandard im Alter halten wollen. Der Begriff der
neuen Ehrlichkeit ist an dieser Stelle allerdings nicht
ganz zutreffend; denn bereits unser damaliger Rentenminister Walter Riester hat die staatlich geförderte private
Altersvorsorge eingeführt. Sein Name ist mit ihr untrennbar verbunden. Seit 2001 gibt es die zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge, quasi den „Walter fürs Alter“.
({0})
Über 5 Millionen Menschen nehmen sie in Anspruch.
Herr Lafontaine hat vor ein paar Tagen auf einer
Aschermittwochveranstaltung behauptet, die Bundesregierung habe die Menschen mit der Riesterrente belogen
und betrogen. Herr Lafontaine, ganz abgesehen davon,
dass dies natürlich die Unwahrheit ist, profitieren gerade
diejenigen Menschen von dieser Vorsorgemöglichkeit,
für die Sie sich angeblich stark machen wollen: Arbeitslose, Geringverdiener, Familien und Frauen.
({1})
Sie erhalten bei der Riester-Rente proportional zum eingezahlten Betrag die höchsten staatlichen Zuschüsse. Ich
nenne einmal ein Beispiel: Mit dem Einsatz von nur
5 Euro im Monat kann eine Familie im Arbeitslosengeldbezug mit drei Kindern heute eine Förderung von
520 Euro im Jahr erzielen.
Wir werden an dieser Stelle noch mehr machen, die
Riester-Rente noch attraktiver ausgestalten und die Kinderzulage erhöhen. Ab 2008 würde meine Beispielfamilie dann 1 054 Euro im Jahr erhalten, und das - ich wiederhole es - mit einem Einsatz von nur 5 Euro im
Monat.
Trotz allem gibt es noch viele Menschen, die die Vorteile der Riester-Rente nicht kennen oder diesbezüglich
Vorbehalte haben. Deshalb ist es ganz wichtig, zu informieren. Die Bundesregierung wird deshalb unter anderem „Fit-in-Altersvorsorge“-Kurse an Volkshochschulen unterstützen. Ich empfehle Ihnen, Herr Lafontaine:
Nehmen Sie diese Angebote wahr! Gehen Sie zu den
Volkshochschulen und lernen Sie etwas, damit Sie zukünftig an dieser Stelle nicht mehr so viel Unwahres verbreiten müssen!
({2})
Werfen wir einen Blick auf die Betriebsrenten! Bis
Ende 2001 stagnierten ihre Zahlen. Dann folgte ein regelrechter Boom. Knapp 16 Millionen Menschen haben
inzwischen Betriebsrentenansprüche; das sind rund
60 Prozent aller Beschäftigten. Diese positive Entwicklung ist auf unsere Reformen zurückzuführen. Betriebsrenten in Deutschland sind nämlich keine reinen Goodwillangelegenheiten der Arbeitgeber mehr. Wir haben
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein weit reichendes Recht auf Betriebsrente geschaffen und durch
Steuer- und Abgabenfreiheit die richtigen Anschubreize
gesetzt.
Wir schaffen die notwendigen volkswirtschaftlichen
Rahmenbedingungen. Wir machen die gesetzliche Rente
zukunftsfest und fördern die private und betriebliche Altersvorsorge. Sie sehen: Wo andere auf „Bild“-Zeitungsniveau schrumpfen, handelt die Koalition.
({3})
Letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde ist die
Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Überschrift dieser Aktuellen Stunde lautet:
„Die Zukunft der Rente“. Daher macht es Sinn, in die
Papiere hineinzuschauen, mit denen die Oppositionsparteien in den Wahlkampf gezogen sind. Der Kollege Gysi
hat ja zu Beginn einige wunderschöne Sätze vorgetragen. Er hat in diesem Zusammenhang aber nicht erläutert, wie er die Berechnung der Wertschöpfungsabgabe
vornehmen will. Aber im Wahlprogramm der PDS steht
auch, dass Sie eine Grundrente in Höhe von 800 Euro für
alle einführen möchten, und zwar unabhängig von der
Erwerbsbiografie.
Ich habe mir die Mühe gemacht und nachgeschaut,
wie viele Entgeltpunkte ich heute brauche, wenn ich eine
Rente von 800 Euro erhalten will. Das sind 30,6 Entgeltpunkte. Nach dem, was der Kollege Gysi gesagt hat,
bedeutet das, dass ich 30,6 Jahre Einkommen im Durchschnitt aller Versicherten bekommen haben muss, um
800 Euro Rente - nach heutigem Rentenwert - zu erhalten. Das heutige Durchschnittseinkommen beträgt
2 500 Euro. Was Sie in Ihrem Wahlprogramm vorschlagen, würde bedeuten, dass eine Kassiererin, die nach
dem von der Gewerkschaft Verdi ausgehandelten Tarifvertrag im sechsten Berufsjahr noch nicht einmal
2 000 Euro brutto im Monat verdient, 38 Jahre Vollzeit
arbeiten muss, um eine Rente in gleicher Höhe,
800 Euro im Monat, zu bekommen.
({0})
- Ich glaube nicht, dass ein Bruttoeinkommen von
1 986 Euro unterhalb des Mindestlohns anzusiedeln ist.
Das ergibt sich immerhin aus dem Verdi-Tarifvertrag.
({1})
Insofern ist auch da ein bisschen Nachrechnen gefordert.
Wenn die neue soziale Gerechtigkeit darin bestehen
soll, dass jemand, egal wie lange er gearbeitet hat und
wie viel er verdient hat, die gleiche Rente erhält wie eine
Kassiererin, die sich jeden Tag, sechs Tage in der Woche, an ihre Kasse stellt und 38 Jahre für diese Rente arbeiten muss, muss ich sagen: Herzlichen Glückwunsch!
({2})
Die Leute werden schon beurteilen können, ob das sozial
gerecht ist oder ob das nicht sozial gerecht ist.
Ferner wollen Sie letztendlich die Beitragsbemessungsgrenze aufheben, ohne dass damit auch entsprechende Rentenansprüche verbunden sind. Sie heben das
Beitragsäquivalenzprinzip von unten und von oben auf.
Schließlich werden Sie bei einer Grundrente ankommen, deren Höhe mit der heutigen Beitragsbezogenheit
überhaupt nichts mehr zu tun hat und bei der die Eigentumsgarantie - darauf bezieht sich ja die geltende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - im Prinzip
auch nicht mehr gewährleistet würde. Auch das führt sicherlich zu einem hohen Verunsicherungspotenzial,
zwar weniger für diejenigen, die heute Rente beziehen,
dafür umso mehr für diejenigen, die heute arbeiten und
in Zukunft Rente beziehen werden.
Die FDP hat in ihrem Wahlprogramm gefordert, den
Beitragssatz bei 19 Prozent festzuschreiben. Nun beklagte Herr Kolb gerade, dass es keine Rentenanpassung
geben wird. Was würde passieren, wenn wir im Jahr
2007 Ihrer Forderung nachkämen und den Rentenversicherungsbeitrag auf 19 Prozent festsetzten?
({3})
Der Rentenversicherungskasse würden 9 Milliarden
Euro fehlen.
Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine Möglichkeit ist, die Auszahlung um diesen Betrag zu kürzen,
({4})
was über den Daumen gepeilt eine Rentenkürzung um
5 Prozent ausmachen würde.
({5})
Bei einer Rente von 1 000 Euro wären das 50 Euro im
Monat bzw. 600 Euro im Jahr. Dazu sage ich: Herzlichen
Glückwunsch! Das, was wir gleich debattieren, nämlich
die Festschreibung des Rentenwertes - es gibt keine
Rentenkürzung -,
({6})
ist immer noch besser als das, was Sie als FDP vorgeschlagen haben. Sie betonen ja immer, dass Sie den
Grundsatz ernst nehmen, nach der Wahl zu tun, wovon
Sie vor der Wahl gesprochen haben. Das wäre also eine
Rentenkürzung.
({7})
Die zweite Möglichkeit ist die Erhöhung der Einnahmen der Rentenversicherung über den Bundeszuschuss.
({8})
Da frage ich mich natürlich: Wie wollen Sie das finanzieren?
({9})
Das entspricht in etwa einem Mehrwertsteuersatzpunkt.
In dieser Sache ist mehr Ehrlichkeit angesagt, Herr Kolb.
Ihre aufgeregten Zwischenrufe machen deutlich, dass
ich den richtigen Nerv getroffen habe.
({10})
Wir brauchen in Zukunft - das wissen die jüngeren
Generationen - neben der gesetzlichen Rentenversicherung mehr betriebliche und private Altersvorsorge. Der
Umfang der betrieblichen Altersvorsorge ist deutlich gestiegen und wird durch die getroffenen Maßnahmen bei
einem Betriebswechsel besser ausgestaltet.
Ich glaube, wir haben uns wenig vorzuwerfen, zumal
Sie am Rentenversicherungsbericht 1995 nicht unmaßgeblich beteiligt gewesen sind.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:
5 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab
1. Juli 2006
- Drucksache 16/794 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider ({1}), Klaus Ernst, Katja
Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage
für die Rentenanpassung herausnehmen
- Drucksache 16/826 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Der Koalitionsvertrag aus dem letzten Jahr stellt eindeutig klar: Die gesetzliche Rentenversicherung ist und
bleibt die tragende Säule der Altersversorgung. Klar ist
ebenso, dass zur Sicherung des Lebensstandards im Alter auch eine ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorge
gehört, entweder privat oder über die betriebliche Altersvorsorge.
Die Herausforderungen sind in der Aktuellen Stunde
deutlich geworden. Es geht darum, die Kosten, die durch
die längere Lebenserwartung entstehen, gerecht auf die
Generationen zu verteilen. Wir alle können uns über die
höhere Lebenserwartung freuen. Manchmal mag man
die Zahl bei einer Geburtstagsfeier nicht so gern wahrhaben, aber zunächst einmal ist das Älterwerden schön. Für
die Rentenversicherung hat es jedoch zur Folge, dass die
Rentenbezugsdauer länger wird. Im Vergleich zu den
60er-Jahren wird durchschnittlich sieben Jahre länger
Rente bezogen. Das ist eine finanzielle Herausforderung.
Das ist aber auch eine Bewährungsprobe für den
Generationenvertrag; denn die ältere Generation soll
die Gewissheit haben, dass die jüngere Generation für
sie sorgt. Schließlich hat sie durch die Schaffung der Infrastrukturen in Schulen und Hochschulen die Zukunftschancen für die jüngere Generation aufgebaut. Ich
glaube, daran muss man erinnern, wenn man dafür sorgen möchte, dass der Generationenvertrag aufrechterhalten bleibt.
Wir müssen über den demografischen Wandel sprechen. Es ist bereits gesagt worden, dass die Zahl der älteren Menschen wächst. Jüngere kommen leider nicht
mehr so zahlreich nach, wie das in den 60er-Jahren der
Fall war. Damals hat eine Frau im Durchschnitt zwei
Kindern das Leben geschenkt. Heute sind es nur
1,3 Kinder. Es ist deswegen gut, dass diese Koalition in
die Zukunft von Familien investiert, und zwar mit dem
Ausbau des Angebots von Ganztagsbetreuung in den
Schulen, mit Kinderkrippenplätzen und mit weiteren Erleichterungen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Das ist der richtige Weg.
({0})
Die aktuelle Beschäftigungssituation ist ebenfalls
eine Herausforderung, weil es darum geht, mit den erheblichen Beitragsausfällen in unseren sozialen Sicherungssystemen fertig zu werden. Es ist daher gut, in die
Zukunft zu investieren, wie es mit den 25 Milliarden
Euro geplant ist, die in Verkehr, also in Straße und
Schiene, in Wissenschaft, in Forschung und Entwicklung und ganz konkret in Arbeit, nämlich durch Steuererleichterungen bei der Modernisierung von Eigentumswohnungen und Häusern und bei den persönlichen
Bedingungen zu Hause, investiert werden sollen.
Diese Herausforderungen gilt es anzunehmen. Es gilt,
in einem ausgewogenen Verhältnis dafür zu sorgen, dass
Jung und Alt zusammenbleiben, dass die Rentnerinnen
und Rentner sowie die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ihren Beitrag leisten, und dass auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hier gemeinsam Verantwortung tragen. Das ist das Prinzip unseres solidarischen
Systems und das wollen wir für die Zukunft bewahren.
({1})
Mit den Reformen der Vergangenheit wurde bereits
darauf reagiert. Es ging darum, den Beitragssatz stabil zu
halten. Das haben wir erreicht: Er blieb vier Jahre lang
bei 19,5 Prozent. Wir nehmen nun eine behutsame Anhebung auf 19,9 Prozent vor. Das ist der Beitrag der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Gleichzeitig wird der
Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozent reduziert. Auch die Rentnerinnen und Rentner haben in der
Vergangenheit ihren Beitrag geleistet, durch die Übernahme der Pflegeversicherung und durch die Verbeitragung der Zusatzrenten in der Krankenversicherung. Das
war ein entscheidender Beitrag. Für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gilt - daran wird erinnert werden
dürfen -, dass mittlerweile gut ein Drittel der Rentenleistung, weil es sozialpolitisch so gewollt ist, aus dem
Staatshaushalt gezahlt wird, sodass die Beteiligung der
drei wesentlichen tragenden Säulen der Rentenfinanzierung gewährleistet ist.
Für eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen
Rentenversicherung ist es erforderlich, für mehr Beschäftigung zu sorgen und die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dazu dient das Investitionsprogramm, das auf der
Kabinettsklausur in Genshagen beschlossen wurde.
Dazu dienen aber auch die Mittel, die in die aktive Arbeitsmarktpolitik investiert werden, um Menschen
schneller in Beschäftigung und Arbeit zu vermitteln.
Für die Beitragszahlerinnen und -zahler müssen die
Beitragssätze bezahlbar bleiben. Wir müssen darauf achten, dass die Lohnnebenkosten nicht zu hoch werden und
dadurch Beschäftigung gefährdet wird. Das Signal an
die Rentnerinnen und Rentner ist im Koalitionsvertrag
deutlich gegeben: Es darf keine Rentenkürzungen geben.
Rentnerinnen und Rentner leisten ihren Anteil zur solidarischen Finanzierung der Rentenversicherung und zur
Konsolidierung des Haushalts. Deswegen muss klar
sein: Eine verlässliche Rentenhöhe ist für die Rentnerinnen und Rentner zurzeit von ganz zentraler Bedeutung.
({2})
Allen in dieser Debatte ist bekannt, dass sich die
Anpassung der Renten seit 1957 an der Einkommensentwicklung orientiert. Die Rentnerinnen und Rentner
haben auf diese Weise in den vergangenen Jahren von einer guten Einkommensentwicklung profitiert. Leider ist
es in der Vergangenheit aufgrund der ökonomischen Entwicklung, teilweise auch durch den Einkommensverzicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und dadurch, dass Lohnzuschläge weggefallen sind, zu einer
Verringerung der Einkommen gekommen. Die Rentnerinnen und Rentner haben durch die Dämpfungsfaktoren, die wir in die Rentenformel eingebaut haben, ihren
Beitrag geleistet.
Vor dem Hintergrund der Jahre 2005 und 2004 - diese
Jahre wird man bei der Rentenanpassung zugrunde
legen - muss deutlich gesagt werden, dass die aktuelle
wirtschaftliche Situation nicht zufriedenstellend ist.
Wir arbeiten an einer Verbesserung. Die hohe Arbeitslosigkeit, der Rückgang der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigungsverhältnisse und der Verzicht auf Lohnbestandteile spielen dabei eine Rolle. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu einer Rentenkürzung
kommt. Das wollen wir aber nicht. Mithilfe des von uns
eingebrachten Gesetzentwurfs wird das verhindert und
die Zusage im Koalitionsvertrag, dass es keine Rentenkürzungen geben wird, eingelöst. Damit unterstreicht
diese Koalition, dass sie sich an die Vereinbarungen hält
und dass eine verlässliche Rentenpolitik ihrer Ansicht
nach von zentraler Bedeutung für die älteren Menschen
ist.
({3})
Man könnte fragen: Warum wartet ihr nicht ab, bis die
endgültigen ökonomischen Daten vorliegen? Wir handeln jetzt, damit sich die deutsche Rentenversicherung
rechtzeitig auf die technische Umsetzung einstellen
kann. Wir wollen gewährleisten, dass die Rentenwerte
nach dem 30. Juni 2006 weiterhin gelten. Die aktuelle
Einkommenssituation im Vergleich der Jahre 2005 und
2004 wird erst Ende März vorliegen. Die Rentenversicherungsträger brauchen aber jetzt unsere Entscheidung, damit die Rentenzahlungen zum 1. Juli verlässlich
umgesetzt werden können. Deswegen wollen wir die
endgültigen Daten nicht abwarten, sondern heute handeln und damit eine Zusage einlösen.
Was zugesagt worden ist, gilt. Wir sorgen dafür, dass
der Rentenwert für die Zukunft gesichert ist. Die Entscheidungen der Koalition zielen zudem darauf ab, mehr
Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen und die Jugendarbeitslosigkeit zu reduzieren. Auf diesem Weg verdeutlichen wir, dass in dieser schwierigen Situation alle versuchen müssen, die Lasten gemeinsam zu tragen.
An dieser Stelle muss man deutlich sagen, dass die
Rentnerinnen und Rentner ein Stück weit Einkommenssicherheit erhalten. Aber auch Nachfrage und Kaufkraft
sind für die Konjunktur wichtig. Die Menschen, die in
Arbeit stehen, leisten ihren Beitrag für das solidarische
System über eine leichte Beitragssatzanpassung. Der
Bund beteiligt sich weiterhin in ganz wichtigen Bereichen an der Sicherung der Renten, nämlich durch die
Gewährung zusätzlicher Entgeltpunkte für die Erziehung
von Kindern. Hier trägt der Bund die Verantwortung.
Die Unterstützung der Kindererziehung in den Familien ist eine gemeinsame steuerliche Verantwortung;
denn Kinder stellen die Zukunftssicherung der Renten
dar.
Andererseits muss man auch deutlich sagen: Unser
Rentensystem ist nur sicher, wenn wir in die Zukunft investieren. Wir investieren in die Bereiche Schule, Ausbildung und Hochschule und in neue Produkte, damit
Deutschland auch morgen in dieser Welt wettbewerbsfähig ist. Diese Entscheidung gilt es zu fällen.
({4})
Wir dürfen die Saatkartoffeln, die wir heute ernten, nicht
verfrühstücken. Sie müssen wieder investiert werden.
Das ist die beste Sicherung für die Renten, auch für die
Renten, die wir in Zukunft denjenigen zahlen wollen, die
heute jung sind, die heute zur Schule gehen und sich anschließend, wenn sie in Arbeit stehen, durch ihre Rentenversicherungsbeiträge am Generationenvertrag beteiligen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde das Handeln der Bundesregierung, bezogen auf
den vorliegenden Gesetzentwurf und die damit verbundene Initiative, ein Stück weit scheinheilig. Oft ist es ja
so, dass die große Koalition nach dem Motto handelt: Es
gibt keine Lösung, also gibt es auch kein Problem. Das
ist beispielsweise bei der Krankenversicherung, der Pflegeversicherung oder den Arbeitsmarktreformen der Fall.
({0})
Hier versuchen Sie es einmal mit dem umgekehrten
Motto, Frau Connemann: Es gibt kein Problem, aber wir
lösen es trotzdem.
Man muss klipp und klar sagen, Herr Thönnes, dass
niemand davon ausgeht - das war auch im gestern vorgelegten Rentenversicherungsbericht 2005 nicht der Fall -,
dass es in 2005 tatsächlich eine negative Lohnentwicklung gegeben hat, die eine solche Schutzregelung für
Rentner erforderlich machen würde. Deswegen denke
ich, dass es sich bei diesem Gesetz, mit dem vorgeblich
drohende Rentenkürzungen verhindert werden sollen,
eher um ein Täuschungs- und Ablenkungsmanöver handelt.
({1})
Hier wird die Festschreibung der dritten Nullrunde
für Renter in Folge sehr kunstvoll als Heldentat verkauft,
weil die Rentner angeblich von Kürzungen verschont
bleiben sollen.
({2})
Herr Thönnes, vielleicht soll damit eher ein Beleg für die
Aussage Ihres Ministers erbracht werden, es werde in
dieser Form keine Rentenkürzungen geben. Ich finde,
mit dieser Aussage sollten Sie und vor allem Ihr Minister sehr vorsichtig sein, weil Sie längst Ihre Unschuld
verloren haben.
({3})
- Ja, Herr Schaaf, das muss man so sagen.
Tatsache ist doch, dass dies die dritte Nullrunde in
Folge ist. Und wenn ich Ihnen das erläutern darf: Im genannten Zeitraum, also unter Ihrer Verantwortung, kam
es zur Verbeitragung der Direktversicherungen und Zusatzversorgungen. Der Krankenversicherungsbeitrag
wurde um 0,9 Prozentpunkte erhöht. Darüber hinaus
müssen die Rentner nun den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen. Das bedeutet, dass es entgegen den
vollmundigen Ankündigungen des damaligen Fraktionsvorsitzenden Müntefering bereits zu faktischen Rentenkürzungen gekommen ist.
({4})
- So ist es.
Am 1. Januar 2007 - das kann man gar nicht oft genug sagen; deswegen wiederhole ich es - wird die
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht. Gleichzeitig werden den Rentnern zwei weitere Nullrunden - dann
werden es also fünf in Folge sein - zugemutet.
({5})
Die Rentner sind davon in voller Höhe betroffen. Sie
können nicht darauf reagieren, sie profitieren nicht von
der Senkung der Lohnnebenkosten. Das, Herr Schaaf,
hat eine drastische Beschneidung der verfügbaren Einkommen der Rentnerhaushalte zur Folge. Egal wie Ihre
Rhetorik dazu ausfällt, bedeutet das für die betroffenen
Menschen eine Rentenkürzung. So wird diese Steuererhöhung, die für die tägliche Lebensführung eine einschneidende Maßnahme ist, tatsächlich empfunden.
({6})
Ich fordere Sie auf, auf die Mehrwertsteuererhöhung zu
verzichten; denn sie ist unsozial. Auch das Bundessozialgericht wird auf Dauer nicht bereit sein, einer solchen Abfolge von Nullrunden zuzustimmen.
Jetzt will ich zu dem, was Frau Kollegin Ferner, die
noch anwesend ist - dafür bedanke ich mich -, gesagt
hat, Stellung nehmen. Hätten Sie unser Programm richtig gelesen bzw. richtig daraus zitiert, hätten Sie vielleicht festgestellt, dass es darin heißt, dass wir den Beitragssatz langfristig bei 19 Prozent halten wollen. Ich
gebe Ihnen Recht: Kurzfristig gibt es immer nur drei
Stellschrauben: den Beitragssatz, das Rentenniveau und
den Bundeszuschuss. Aber mittel- und langfristig gesehen besteht sehr wohl die Chance, durch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, also eine florierende
Wirtschaft, und die damit einhergehende Erhöhung der
Zahl der Beitragszahler Beitragssenkungen zu erreichen.
An dieser Stelle, Frau Ferner, setzen wir an. Wir wollen durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Steuersystem sowie durch Entbürokratisierung die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass unsere Wirtschaft
wieder wachsen kann, mehr Menschen in Arbeit kommen und mehr Rentenbeiträge gezahlt werden.
({7})
Dann kann auch das Beitragsniveau insgesamt gesenkt
werden; denn wenn man von einem solchen Szenario
ausgeht, werden auch die absoluten Einnahmen der Rentenversicherung steigen. Das ist der Hintergrund, warum
wir das in unserem Programm niedergeschrieben haben.
({8})
- Ich freue mich, dass ich Ihnen unser Programm erklären durfte, Frau Ferner. Stellen Sie mir doch eine Zwischenfrage.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Ferner?
Nichts lieber als das.
({0})
- Ja, eben.
Herr Kollege Kolb, habe ich Sie richtig verstanden,
dass Sie Ihrer Logik zufolge - ich wiederhole: bessere
wirtschaftliche Rahmenbedingungen, höheres wirtschaftliches Wachstum, mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse - die Annahmen des
Rentenversicherungsberichts, den das Kabinett gestern
beschlossen hat, nach oben korrigieren würden?
({0})
Bleiben Sie bitte lange stehen, Frau Kollegin Ferner.
({0})
Zunächst einmal muss man sagen: Papier ist geduldig.
Man kann viel in einen Bericht schreiben. Aber ob sich
das letztlich realisieren lässt, muss man abwarten.
Tatsache ist, dass führende Wirtschaftsforschungsinstitute - das Institut für Weltwirtschaft in Kiel, Deutsche Bank Research und andere - das Potenzialwachstum unserer Volkswirtschaft, also das spannungsfreie
Wachstum, derzeit eher mit 1,25 bis 1,5 Prozent denn
mit den von Ihnen prognostizierten durchschnittlich
1,7 Prozent pro Jahr beziffern. Ihre Prognosen sind also
zu hoch. Dieses Potenzialwachstum lässt sich natürlich
steigern, Frau Kollegin Ferner; das ist ja nicht gottgegeben. In anderen Volkswirtschaften, beispielsweise in den
Vereinigten Staaten, bedeutet ein Wachstum von 2,5 Prozent pro Jahr fast schon eine Wirtschaftskrise. Für uns
wäre ein Wachstum von jährlich 2,5 Prozent ein großer
Ausreißer nach oben.
({1})
Da wir jede Woche die Chance haben, Gesetze zu verabschieden und Rahmenbedingungen zu verändern, fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns doch gemeinsam dafür
sorgen, dass auf dem Arbeitsmarkt mehr Dynamik entsteht, als es in den letzten fünf Jahren der Fall war.
({2})
- Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben doch die negative Bilanz in diesem Bereich zu verantworten: Unter
Rot-Grün haben wir seit 2001 anderthalb Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren.
({3})
Damit sind auch anderthalb Millionen Beitragszahler
verloren gegangen.
Wer es ernst meint mit der Sicherung der sozialen Sicherungssysteme, muss an genau diesem Punkt ansetzen.
Kurzfristig besteht immer nur die Möglichkeit, die Beitragssätze erhöhen, wie Sie es zum 1. Januar 2007 wieder einmal werden tun müssen. Wahrscheinlich - ich
nehme Wetten darauf an - werden Sie dies danach sehr
schnell wiederholen müssen. Lassen Sie uns also die
Rahmenbedingungen ändern.
Dazu gehört auch, dass jetzt nicht kontraproduktiv gehandelt werden darf. Der Ausbau der privaten und der
betrieblichen Vorsorge ist wichtig. Deshalb darf die Sozialabgabenfreiheit durch die Entgeltumwandlung
nicht ab 2008 beendet werden.
({4})
Das ist ein Fehlanreiz. Das hat auch der Sozialbeirat in
seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht festgestellt. Es kann doch nicht sein, dass wir den Menschen, wenn wir um die Versorgungslücken wissen, auch
noch den Fehlanreiz geben, in diesem Bereich nichts
mehr zu tun. Ich fordere Sie im Namen meiner Fraktion
auf, mit uns gemeinsam die Fortgeltung der Sozialabgabenfreiheit für die Jahre ab 2009 zu beschließen, damit
die aufgetretenen Versorgungslücken ausgeglichen werden können.
({5})
Sie werden mit Ihrer Rentenpolitik des Tarnens und
Täuschens, die jetzt auch von Schwarz mitgetragen wird,
die Zukunft nicht gewinnen. Eine realistische Bestandsaufnahme ist nötig.
({6})
Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus meiner Sicht ein
Scheinhandeln. Deswegen werden wir ihm nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Noch so viel Polemik und Nebelkerzen
({0})
können nicht davon ablenken, dass heute ein wirklich
guter Tag für die Rentnerinnen und Rentner in unserem
Land ist,
({1})
Peter Weiß ({2})
und zwar, weil die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD einen
Gesetzentwurf einbringen, wonach es selbst bei negativer Lohnentwicklung
({3})
zu keiner Rentenkürzung kommt.
Herr Kolb, ob es eine negative Lohnentwicklung gibt
oder nicht, wissen wir erst Ende März endgültig.
({4})
Deswegen ist das, was wir jetzt tun, vernünftig und richtig. Die Botschaft ist: Selbst wenn es eine negative
Lohnentwicklung gegeben hat, kommt es zu keiner
Rentenkürzung. Das ist eine gute Botschaft für alle
Rentnerinnen und Rentner in diesem Land.
({5})
Gerade weil den Rentnerinnen und Rentnern in den
vergangenen Jahren etliche Sonderopfer, die Herr Kolb
aufgeführt hat, auferlegt worden sind, ist es richtig, dass
wir diese Entscheidung gemeinsam treffen. Wenn Sie
schon so reden, Herr Kolb,
({6})
wäre es schön, wenn die FDP dem zustimmen würde.
Die große Koalition hat vereinbart: Mit uns gibt es
nicht nur in diesem Jahr, sondern auch in den kommenden Jahren keine Rentenkürzungen. Wir demonstrieren
mit diesem Gesetzentwurf, dass auf die große Koalition
Verlass ist. Die Rentnerinnen und Rentner sind mit der
großen Koalition auf der sicheren Seite.
({7})
Nun ist es durchaus möglich, dass es in den kommenden Jahren noch einmal zu Nullrunden bei der Rente
kommt.
({8})
Sie sollten aber einmal offen sagen, woran das liegt. Die
Rente folgt den Löhnen. Weder Angela Merkel noch
Franz Müntefering noch die Koalitionsfraktionen und
auch nicht die Opposition legen die Löhne in Deutschland fest.
({9})
Die Löhne werden von den Tarifpartnern frei ausgehandelt; bei ihnen liegt die Verantwortung für die Lohnentwicklung in diesem Land. Wenn die Lohnentwicklung so
schwach ist wie in den vergangenen Jahren, führt das automatisch dazu, dass auch die Rente nicht steigt. Deswegen ist die zentrale Stelle, an der sich entscheidet, ob
künftig wieder Rentenerhöhungen möglich sind, die Entwicklung der Löhne in Deutschland. Das ist die Wahrheit; das ist es, was man klar und deutlich sagen muss.
({10})
Wir, die große Koalition, wollen mit unserer Politik
dafür sorgen, dass wieder mehr Wachstum und
Beschäftigung in Deutschland möglich wird, damit die
Löhne und auch die Renten wieder steigen. Das ist unsere Politik.
({11})
Die Rente ist natürlich - das hat die Aktuelle Stunde
gezeigt - ein schönes Thema für Polemik. Man kann
eine Rede über die armen Rentnerinnen und Rentner halten, die angeblich ihnen zustehende Zuwächse nicht erhalten. Man kann auch eine Rede über die armen jungen
Leute halten, die die höchsten Rentenbeiträge der Geschichte zahlen müssen und dafür relativ wenig herausbekommen.
({12})
Solche Reden kann man halten. Der Punkt ist nur: Damit
wird kein einziges rentenpolitisches Problem gelöst.
({13})
Unser Kurs ist und muss sein,
({14})
beim Thema Rente für Generationengerechtigkeit zu
sorgen, das heißt, für einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Älteren und der Jüngeren.
({15})
Für diesen gerechten Ausgleich kann man Adam Riese
nicht außer Kraft setzen.
({16})
Die Rente hat zuerst einmal etwas mit Mathematik zu
tun. Wer Rentenpolitik ohne Mathematik betreibt, der
hat die Rente verraten und verkauft. Das ist der Punkt.
({17})
Wir können in der Rentenversicherung natürlich
nichts verschenken, was wir nicht eingenommen haben.
Deswegen wird die große Koalition nicht irgendeinen
billigen Trick machen, Herr Kolb, sondern in Zeiten, in
denen eine höhere Rente aufgrund steigender Löhne
möglich ist, die jetzt nicht vorgenommenen Kürzungen
nachholen; das ist der Nachholfaktor. Das halte ich für
die Rentnerinnen und Rentner für gerecht und planbar.
Die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land wissen:
Mit dieser großen Koalition gibt es keine Rentenkürzungen, aber es gibt auch keine riesigen Sprünge nach oben,
da die nicht eingetretenen Kürzungen irgendwann einmal ausgeglichen werden müssen.
Peter Weiß ({18})
Das ist eine einfache mathematische Rechnung, Herr
Kolb. Die Rente hat etwas mit Mathematik zu tun und
wer die Mathematik außer Kraft setzen will, der macht
die Rente kaputt. Das ist die Wahrheit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
({0})
Ja.
Herr Kollege Weiß, ich weiß, dass auch Ihre Redezeit
begrenzt ist. Deswegen möchte ich Ihnen die Gelegenheit geben, noch einige Zeit dranzuhängen.
Danke schön.
Wenn man so redet wie Sie - Sie sagen, Sie wollen
eine generationengerechte Politik -, dann müsste man
eigentlich anders handeln. Dann dürfte man den Zeitraum für die Inanspruchnahme der Frühverrentung nicht
verlängern, wie Sie es beschlossen haben, weil das eine
Subvention der jetzigen Rentnergeneration zulasten
künftiger Rentnergenerationen ist.
({0})
Ich weiß nicht, wie Sie das sehen. Aber eigentlich
dürfte man dann auch nicht das vorliegende Gesetz beschließen. Denn das Grundprinzip der Umlagefinanzierung eines sozialen Sicherungssystems besagt: Man
kann nicht mehr ausgeben, als eingenommen wird. Das
heißt, wenn sich die Einkommen der erwerbstätigen Generation aufgrund einer schlechten wirtschaftlichen Entwicklung nicht positiv bewegen, können die Renten eigentlich auch nicht steigen. Oder wie sehen Sie das?
Herr Kollege Kolb, ich bin doch erstaunt, dass Sie
nach Ihrer Rede, in der Sie sich über mehrere Nullrunden besorgt geäußert haben, in Ihrer Zwischenfrage offensichtlich den wahren rentenpolitischen Kurs der FDP
erkennen lassen, nämlich dass Sie einer Rentenkürzung
das Wort reden. Sehe ich das richtig?
({0})
Ich habe soeben ausgeführt, dass es in der Rentenversicherung nichts zu verschenken gibt. Einnahmen und
Ausgaben müssen zueinander passen. Die Mittel, die wir
dafür aufwenden, eine Rentenkürzung zu vermeiden,
müssen in besseren Zeiten ausgeglichen werden. Die
rentenpolitischen Maßnahmen der großen Koalition werden auf Dauer dazu führen, dass der Rentenversicherungsbeitrag der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
- vor allen Dingen der jungen Generation - nicht in dem
Maße ansteigt, wie er stiege, würden wir nicht gesetzlich
handeln.
Die Deutsche Rentenversicherung hat am Dienstag
dieser Woche zu einem Gespräch eingeladen - Sie waren
dabei - und das Szenario bis zum Jahr 2030 vorgestellt.
Das ist eine lange Zeit.
({1})
- Das ist noch die Antwort auf Ihre Frage.
Die Präsidentin hat mich gebeten, mich zu setzen.
Anhand dieses Szenarios kam zum Ausdruck, dass
wir, wenn wir nicht so handeln würden, wie wir handeln,
im Jahr 2030 bei einem Rentenversicherungsbeitrag in
Höhe von 22,5 Prozent landen würden. Indem wir handeln, halten wir den Rentenversicherungsbeitrag unter
22 Prozent. Das ist eine gute Botschaft für die jüngere
Generation; denn sie weiß: Durch unser Handeln wird
der Anstieg des Rentenversicherungsbeitrages deutlich
und klar begrenzt. Darum geht es.
Nun muss man in einer solchen Debatte der Wahrheit
halber dazusagen:
({0})
Wir müssen deutlich machen, worauf es wirklich ankommt. In der deutschen Rentenpolitik hat es einen
grundlegenden Wechsel dahin gehend gegeben, dass die
gesetzliche Rente für die Zukunft nicht mehr die alleinige Alterssicherung darstellt, sondern sie ist nur noch
ein wichtiger Teil dieser Alterssicherung. Deswegen ist
es wichtig, dass für jeden Arbeitnehmer in Deutschland
zusätzlich eine zweite und dritte Säule der Altersvorsorge aufgebaut wird. Es ist gut, dass in dem Alterssicherungsbericht der Bundesregierung, der gestern vorgelegt worden ist, deutlich gemacht wird: Bei den
Betriebsrenten in Deutschland geht es wieder aufwärts.
Diese Entwicklung muss so weitergehen. Es ist auch gut,
dass in dem Alterssicherungsbericht der Bundesregierung klar gemacht wird, dass die dritte Säule, nämlich
die private kapitalgedeckte Altersvorsorge, in Deutschland gestärkt wird und immer mehr Bürger fürs Alter zusätzlich vorsorgen.
Die große Koalition wird die private kapitalgedeckte
Altersvorsorge noch interessanter und attraktiver machen, indem wir uns entschlossen haben, zum 1. Januar 2007 auch den Bau eines Hauses oder den Erwerb einer Wohnung in die Riester-Förderung aufzunehmen. Ab
dem Jahr 2008 wird der Förderbetrag, den der Staat pro
Kind für die private Altersvorsorge bereitstellt, deutlich
erhöht. Wir werden uns im kommenden Jahr darüber unterhalten, ob wir nicht noch weitere Maßnahmen ergreifen müssen, damit die zweite und die dritte Säule der
Altersversorgung gestärkt werden und das GesamtverPeter Weiß ({1})
sorgungsniveau - darauf kommt es an - der älteren Generation in Zukunft ein Leben in Würde ermöglicht.
({2})
Ich will zum Schluss darauf hinweisen, dass Karl
Doemens, der die Rentenpolitik der Regierung nicht immer lobt, in der gestrigen Ausgabe des „Handelsblatts“
geschrieben hat: Schwarz-Rot ist in der Rentenpolitik
auf dem richtigen Weg. - Gehen Sie diesen Weg mit uns.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es war hier eben die Rede davon, dass es keine Rentenkürzungen geben wird. Ich habe die Situation von vor
zwei Wochen etwas anders in Erinnerung: Bundesminister Müntefering ist als Sheriff von Nottingham durch die
Lande gezogen und hat den eingeschüchterten Untertanen nichts anderes verkündet, als dass die meisten von
ihnen zwei Jahre länger arbeitslos bleiben oder auf
7,2 Prozent ihrer Renten verzichten müssen.
({0})
Was ist das anderes als eine Rentenkürzung?
({1})
Weil solche Ankündigungen in Zeiten von Wahlen
- in drei Wochen werden bekanntlich in drei Bundesländern neue Landesparlamente gewählt - denkbar schlecht
ankommen, erleben wir heute eine Fortsetzung dieser
Soap auf unserer Staatsbühne. Der erste Diener des
Hauptdarstellers hat das grüne Wams von Robin Hood
angezogen und verkündet der staunenden Menge: Fürchtet euch nicht! Wir werden verhindern, dass man euch
auch nur einen Cent eurer Rente wegnimmt.
Das ist zwar sehr löblich, aber diese Inszenierung hat
einen kleinen Schönheitsfehler. Wo sind denn bitte die
Räuber, vor denen dieser Robin Hood die Untertanen
schützen möchte? Eine Verringerung des Renteneckwerts aufgrund der maßgeblichen Lohnentwicklung sehen selbst Sie, wenn ich die Begründung Ihres Antrages
richtig lese, als kaum wahrscheinlich an. Das hat in den
letzten Wochen auch kein Experte ernsthaft ins Kalkül
gezogen.
({2})
Woher der Kollege Stiegler seine andersartigen Informationen bezieht, die er noch letzten Sonntag in der ARD
verkündet hat, entzieht sich meiner Kenntnis.
Am Dienstag - das ist ganz aktuell - hat Dr. Rische
von der Deutschen Rentenversicherung den Anstieg der
Bruttolöhne und -gehälter nur für die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit 0,1 Prozent beziffert.
Ich betone: Die 1-Euro-Jobs sind in diese Zahl bereits
eingerechnet.
({3})
Wie der Kollege Kolb frage ich mich, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition: Was motiviert Sie,
einen Gesetzentwurf einzubringen, der etwas verhindern
soll, was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so ohnehin nicht eintritt? Plagt da einige aus der
vorhergehenden Regierungskoalition die Angst, bei ihren Reformen übersteuert zu haben? Oder setzen die
„Spezialdemokraten“ Traditionen der Regierung
Schröder fort?
({4})
Bundesminister Müntefering hat beim Vorziehen der
Erhöhung des Rentenalters gezeigt, wie es geht: Erst
wird die Öffentlichkeit informiert und dann vollzieht es
die Fraktion zähneknirschend nach. Das ist wahrlich
eine würdige Umsetzung des schröderschen Basta-Prinzips.
Da bietet es sich doch an, ein weiteres Merkmal
schröderscher Politik zum Einsatz zu bringen: Schwächen der Politik werden durch ein gutes Marketing übertüncht. Ganz im Sinne des orwellschen Neusprechs sagt
man nicht: Liebe Rentnerinnen und Rentner, ihr erhaltet
2006 keinen einzigen Cent mehr. Nein, das Vorhaben
wird stattdessen so verkauft, dass man den Betroffenen
verkündet: Wir verhindern, dass euch in diesem Jahr
auch nur ein einziger Cent von eurer Rente weggenommen wird. - So klingt das wirklich gleich viel besser.
Kompliment an den leider nicht mehr anwesenden Vizekanzler: Er ist der wahre und würdige Nachfolger des
letzten „spezialdemokratischen“ Kanzlers.
({5})
Wie dem auch sei, die Fraktion Die Linke kann dem
Gesetzentwurf über die Weitergeltung der aktuellen
Rentenwerte selbstverständlich zustimmen; es könnte
schließlich doch irgendwie der schlimmste aller schlimmen Fälle eintreten und insofern stimmen wir Ihnen zu,
dass eine verlässliche Rentenhöhe für die Rentenbezieher gegenwärtig von größter Bedeutung ist.
Damit wir das nun aber nicht in jedem Jahr wieder neu
beschließen müssen und nicht jedes Jahr erneut die Gefahr entsteht, dass es aufgrund der Berechnung der Bruttolöhne zu diesem Worst Case kommt, sollten wir aber
eines schleunigst beschließen, nämlich die 1-Euro-Jobs
aus der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpassung herauszunehmen und die Rentenanpassung auf der
Basis der solchermaßen bereinigten Berechnungsgrundlage durchzuführen. Nach den aktuellen Berechnungen
des Statistischen Bundesamtes dämpfen die 1-Euro-Jobs
Volker Schneider ({6})
die Entwicklung der Bruttodurchschnittsverdienste in
2005 um 0,8 Prozent.
1-Euro-Jobs sind keine Beschäftigungsverhältnisse.
({7})
Für sie wird kein Lohn gezahlt. 1-Euro-Jobs gehören
insoweit weder in die Statistik der Bruttolöhne und -gehälter noch in die Beschäftigtenstatistik. Ihre Berücksichtigung hat eine sachlich nicht zu rechtfertigende
Minderanpassung der Renten zur Folge.
Das Kabinett hat gestern angekündigt, die 1-EuroJobs aus ihren längerfristigen Vorausberechnungen zur
Rentenentwicklung herausnehmen zu wollen. Wir freuen
uns, dass sich die Bundesregierung insoweit unserer Forderung angeschlossen hat.
({8})
- Ich glaube, unser Antrag hat an einem Dienstag vorgelegen und Sie haben Ihr Vorhaben am Mittwoch verkündet.
({9})
Nachdem Sie schon A gesagt haben, müssen Sie nur
noch B sagen und die 1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage für die aktuelle Rentenanpassung herausnehmen. Die Fraktion Die Linke hofft auch in diesem Punkt
auf Ihre Lernfähigkeit.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Herr Kollege Schneider, nachdem wir hier des Öfteren darüber diskutiert haben, ob die Fraktion Die Linke
als PDS bezeichnet werden darf, gehe ich davon aus,
dass es ein Versprecher war, als Sie die Sozialdemokraten als „Spezialdemokraten“ bezeichnet haben.
Ich gebe das Wort der Kollegin Irmingard ScheweGerigk vom Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unter dem Stichwort „Generationengerechtigkeit“ setzen sich die Grünen seit langem dafür ein, die Renten für
alle Generationen zukunftstauglich zu machen. Wir haben unter Rot-Grün für umfassende Rentenreformen gestritten, die kurz- und mittelfristig den Beitragssatz und
das Rentenniveau sichern.
Ohne die unter grüner Regierungsbeteiligung beschlossenen Rentengesetze läge der Beitragssatz zur
Rentenversicherung heute bereits bei über 22 Prozent
der Löhne und Gehälter. In den letzten Jahren sind die
Löhne und Gehälter nur sehr moderat gestiegen. Das
hatte auch Folgen für die Einnahmen der Rentner.
Nach den Schätzungen der Regierung wäre es möglich gewesen, dass die Renten in diesem Jahr hätten gekürzt werden müssen. Wir erwarten Ende März den endgültigen Bericht; aber ich denke, es ist auch wichtig,
Vorsorge zu treffen. Zu einer Kürzung der Renten
könnte es auch deshalb kommen, weil nach den bestehenden gesetzlichen Grundlagen die 1-Euro-Jobs in die
Berechnung der Löhne einbezogen werden müssen und
die Entwicklung der Renten bekanntlich grundsätzlich
der Entwicklung der Löhne folgt. Das ist der wesentliche
Grund, den die Bundesregierung für den vorliegenden
Gesetzentwurf und ihr Anliegen, den bisherigen aktuellen Rentenwert „freihändig“ zu stabilisieren, genannt
hat. Wir unterstützen diesen Gesetzentwurf, weil wir der
Auffassung sind, dass die Rentnerinnen und Rentner
nicht die Folgen der Einführung der 1-Euro-Jobs tragen
sollten. Wir dürfen sie nicht für unsere Arbeitsmarktpolitik verantwortlich machen.
Herr Kollege Schneider, Sie haben gesagt, dass Sie
die Ersten gewesen seien. Ausweislich des Stenografischen Berichts hatte ich aber schon im Januar dieses Jahres vorgeschlagen, dass die 1-Euro-Jobs aus der Bruttolohn- und -gehaltssumme herauszurechnen sind. Das
Arbeitsministerium hat uns damals die Auskunft gegeben, dass das Europäische System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen die maßgebliche Rechengröße
der gesetzlichen Rentenversicherung sei und eine Änderung dieses Verfahrens nur per Gesetz möglich sei. Mit
dem Rentenversicherungsbericht hat die Bundesregierung nun Eckpunkte beschlossen, aus denen hervorgeht,
dass sie entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen
einleiten wird. Wir unterstützen dieses Vorhaben. Insofern ist der Antrag der Linken obsolet.
Wir sind allerdings der Meinung: Es macht keinen
Sinn, langfristig wirkende rentensichernde Gesetze zu
beschließen, um dann ständig tagespolitisch eingreifen
zu müssen. Vor diesem Hintergrund bewerten wir den
Rentenversicherungsbericht und die Eckpunkte der Bundesregierung zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung als unzureichend. Der Arbeitsminister
hat wesentliche Entwicklungen, die in den letzten Jahren
zu veränderten Rahmenbedingungen geführt haben,
nicht aufgegriffen und demzufolge keine Vorschläge gemacht. Das wurde deutlich, als wir gestern in der Regierungsbefragung nachgefragt haben. Ich nenne in diesem
Zusammenhang vor allem die sinkende Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, und
zwar trotz Zunahme der Beschäftigung, Herr Kollege
Kolb
({0})
- Sie sind also gegen die 400-Euro-Jobs -,
({1})
die fortwährende Tendenz bei Großunternehmen, ältere
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Teilzeit oder
Altersteilzeit nach dem Blockmodell zu schicken und
damit zulasten der Sozialversicherungen Betriebe zu rationalisieren, neue Formen von Selbstständigkeit und
prekären, unsteten Arbeitsverhältnissen, die nicht mit eiIrmingard Schewe-Gerigk
ner ausreichenden sozialen Absicherung verbunden sind,
und die insgesamt fehlende Arbeitsintegration von älteren Beschäftigten und nicht zuletzt von Frauen.
Herr Staatssekretär Thönnes, auch die ablehnende
Stellungnahme Ihres Ministeriums zu den Vorschlägen
der Europäischen Kommission, aus denen hervorgeht,
wie Beschäftigte erworbene Ansprüche bei den
Betriebsrenten verstetigen, das heißt in einen anderen
Betrieb mitnehmen können, ist sehr enttäuschend. Ich
finde, moderne Arbeitsmärkte erfordern mobile Beschäftigte. Daher macht es keinen Sinn, dass man diese
Rentenansprüche erst dann mitnehmen kann, wenn man
mindestens 30 ist und mindestens fünf Jahre eingezahlt
hat. Sie sollten darüber noch einmal nachdenken und das
dann ändern. Ich finde, die betriebliche Altersvorsorge
sollte flexibler werden. Sie darf außerdem nicht als Finanzierungsmasse der Arbeitgeber verwendet werden
und muss stärker vor Insolvenz geschützt werden. Dann
können Sie, Herr Staatssekretär Thönnes, mit mehr Berechtigung ein Gesamtrentenniveau ausweisen, wie es
im Rentenversicherungsbericht vorgesehen ist.
Die große Koalition hofft offenbar auf Wachstum.
Den von mir gerade genannten Problemen weichen aber
SPD und Union aus. Wir sind sehr gespannt, ob Sie mit
der für Mitte des Jahres angekündigten Initiative
„50 plus“ über die Maßnahmen hinausgehen werden, die
schon unter Rot-Grün beschlossen wurden. Bislang haben wir von Ihnen nichts Ergänzendes gehört. Die Zeit
der Werbung um Arbeitgeber ist aber nun vorbei. Sie
sollten jetzt Taten folgen lassen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch bei der heutigen rentenpolitischen Debatte handelt
es sich um die übliche Gemengelage, die ich als gnadenlos bezeichne: gnadenlose Klientelpolitik und gnadenloser Populismus.
({0})
Herr Kolb, Sie beklagen, dass diejenigen, die jetzt Leistungserbringer in der gesetzlichen Rentenversicherung
sind, enorm belastet sind - obwohl sie in Zukunft länger
arbeiten müssen, müssen sie ein geringeres Rentenniveau verkraften und werden sie weniger Leistungen erhalten -, und fordern gleichzeitig, die Mehrwertsteuer
nicht zu erhöhen. Man kann sicherlich darüber streiten,
ob eine Mehrwertsteuererhöhung richtig ist. Ich war anderer Meinung als die Mehrheit. Wenn wir aber die
Mehrwertsteuer nicht erhöhen, um die Lohnnebenkosten
zu senken, dann belasten wir zusätzlich die jetzigen
Leistungserbringer. Das ist ein Widerspruch in sich.
({1})
Gleichzeitig steht in Ihrem Programm, Sie wollten
den Beitragssatz zur Rentenversicherung auf 19 Prozent
senken. Das würde bedeuten, dass wir die zukünftigen
Generationen zusätzlich zu dem, was wir schon auf den
Weg gebracht haben, belasten würden, weil sie zusätzlich privat vorsorgen müssten.
({2})
Wir haben die private Vorsorge auf den Weg gebracht.
Ich erinnere in dieser Debatte gerne daran, dass wir von
Rot-Grün es waren, die gesagt haben, man müsse privat
vorsorgen. Wir haben entsprechende Anreize geliefert.
Sie haben die Betriebsrente erwähnt. Zu der Betriebsrente ist zu sagen, dass wir die Sozialabgabenfreiheit bis zum Jahre 2008 beschlossen haben.
({3})
Als wir das Gesetz damals beschlossen haben, haben wir
eine Anschubfinanzierung bezweckt,
({4})
um die Betriebsrenten in Deutschland üblicher zu machen, als sie in diesem Lande waren. Zu solchen Maßnahmen waren Sie, als Sie an der Regierung beteiligt
waren, nie in der Lage.
({5})
Man könnte durchaus diskutieren, ob man den Zeitraum der Sozialabgabenfreiheit verlängert. Dann muss
man allerdings ehrlicherweise auch sagen, dass die Sozialabgabenfreiheit dazu führt, dass die gesetzliche Rentenversicherung Mindereinnahmen hat. Wen trifft das
am Ende? Das trifft am Ende diejenigen, die keine private Altersvorsorge betreiben wollen oder können, und
diejenigen, die keine Betriebsrente haben, also diejenigen, die auf die Alterssicherung in der Form, die wir beschlossen haben, angewiesen sind. Sie wird es treffen,
wenn das Sicherungsniveau abgesenkt werden muss.
Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Daher: Überprüfen Sie noch einmal Ihre Argumente.
Ich will einige Sätze zu dem gnadenlosen Populismus
sagen, weil wir diesen Populismus in letzter Zeit öfter
erleben. Sie von der Linken wollen die Gut- und Besserverdienenden, die Reichen und die Unternehmen in diesem Lande zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zusätzlich heranziehen. Nach den letzten 30 bis
40 Reden, die ich von der Fraktion der Linken gehört
habe, sollen wir die Besserverdienenden für alles heranziehen: für Bildung, für die Finanzierung von
Hartz IV, für die Rente usw. Würden wir Ihren Vorschlägen folgen, dann hätten wir die Hälfte der Besserverdienenden in diesem Lande schon enteignet.
({6})
Irgendwann ist auch das zu Ende. Ich bin schon der
Meinung, dass man über Beitragsbemessungsgrenzen
realistisch diskutieren kann, aber irgendwo hat alles
seine Grenzen. So wie Sie von der FDP immer nach Privatisierung rufen, so reden Sie von der Linken immer
von Verstaatlichung. Ich glaube, beide Wege sind nicht
zielgerichtet.
Herr Kollege Schaaf, es gibt eine Zwischenfrage des
Kollegen Schneider.
Nein. Danke.
Kurz zum vorliegenden Gesetzentwurf: Das, was wir
für dieses Jahr beschließen, ist eine Vorsichtsmaßnahme.
Das ist ohne Zweifel richtig. Die Botschaft an alle beteiligten Akteure im Zusammenhang mit der gesetzlichen
Rentenversicherung, insbesondere aber an die Rentnerinnen und Rentner, heißt: Der Rentenwert, der für dieses Jahr gilt, wird fortgeschrieben. Es wird also keine
Rentenkürzung geben.
Wenn hier gesagt wird, man könnte den Rentenwert
weiter fortschreiben, dann sage ich, dass bei uns ein bisschen Realismus in Sachen Rente eingekehrt ist. Das
kann man nicht von all denen sagen, die früher Rentenversicherungsberichte verfasst haben. Das gebe ich zu.
Jetzt ist etwas Realismus eingekehrt. Wir beziehen uns
bei dem, was wir machen, nicht nur auf die Projektion
und wir rennen der Projektion nicht mit Gesetzen hinterher, weil wir feststellen, dass wir immer wieder nachbessern müssen, sondern wir schreiben den Rentenwert vor
dem Hintergrund verlässlicher Daten, die erhoben werden, fort. Ich halte das für absolut richtig. Wir sollten an
dieser gesunden Praxis nichts ändern.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass es in den
nächsten Jahren definitiv keine Rentenkürzungen geben
wird. Das ist nicht die freudigste Botschaft, die man sich
vorstellen kann. Wir alle könnten uns freudigere Botschaften vorstellen. Aber ist es eine Botschaft, auf die
sich die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande definitiv verlassen können. Es ist schon eine Leistung, dass
man Aussagen für die Zukunft trifft, auf die sich die
nachfolgenden Generationen verlassen können. Es ist
eine gute Botschaft, weil diese Generationen über das hinaus, was wir jetzt machen, nicht zusätzlich belastet
werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte in der heutigen Aktuellen Stunde und die
jetzige über den Gesetzentwurf der Bundesregierung,
der zum Ziel hat, dass die Renten in unserem Land nicht
sinken, haben einen sehr bemerkenswerten Verlauf genommen. Die Kollegen der FDP beklagen die Situation
- das ist aus Sicht der Opposition vielleicht auch verständlich -, dass es keine Rentenerhöhung gibt und darüber hinaus die Beitragssatzstabilität nicht so gewährleistet ist, wie es ihren Vorstellungen entspricht.
({0})
Die Linken, die ehemalige SED-PDS,
({1})
stellt die Situation so dar, als sei die Rente ein Füllhorn
für die Menschen in Deutschland, ohne darauf hinzuweisen, dass die Rente einer wirtschaftlichen Grundlage bedarf.
Ich glaube, das ist der Diskussion hier nicht würdig;
denn die gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland
ist insgesamt ein großer Erfolg.
({2})
Ich möchte unter anderem herausstellen: Die gesetzliche
Rentenversicherung ist die beste Grundlage dafür, dass
in Deutschland im Alter niemand in Armut leben muss.
Das zeigen auch die Alters- und Armutsberichte. Durch
unser System der gesetzlichen Rentenversicherung ist
Altersarmut in der Vergangenheit mit verhindert worden.
({3})
Ich bin überzeugt, dass diese Form der Armut durch die
gemeinsame Politik von CDU/CSU und SPD auch in der
Zukunft verhindert werden kann.
Dieser Gesetzentwurf zielt darauf ab, dass die Renten
im Jahr 2006 nicht gekürzt werden müssen, was aufgrund der Lohnentwicklung unter Umständen notwendig erscheinen könnte. Der Kollege Kolb hat dies bezweifelt. Er hat behauptet, es handele sich nur um ein
Vorschaltgesetz, für das es eigentlich gar keine Grundlage gebe; schließlich wüssten wir gar nicht, wie sich die
Löhne entwickelt hätten. Ein Blick in die Statistik hätte
vielleicht für Aufklärung gesorgt. Dort wird nämlich
dargelegt, dass die Bruttolöhne und -gehälter von 2004
auf 2005 gesunken sind. Wohlgemerkt, die 1-Euro-Jobs
sind dabei mitgezählt. Trotzdem zeigt das sehr deutlich
die Tendenz aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung
hier in den vergangenen Jahren. Dem will unsere Bundesregierung Rechnung tragen, indem sie dafür sorgt,
dass die Rentnerinnen und Rentner zumindest an dieser
Abwärtsspirale zukünftig nicht beteiligt sind.
Die Löhne und Gehälter werden in Deutschland möglicherweise - aus welchen Gründen auch immer - nicht
steigen. Wir haben bereits eine Sicherungsklausel in die
gesetzliche Rentenversicherung eingebaut und werden
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf quasi eine weitere
einbauen. Die Lohnentwicklung wird sich in Deutschland in der Zukunft nur verbessern, wenn wir insgesamt
bessere wirtschaftliche Ergebnisse erzielen. Entscheidend ist, dass die Wirtschaft in Deutschland in Gang
kommt. Wir brauchen mehr sozialversicherungspflichMax Straubinger
tige Beschäftigungsverhältnisse. Die erfolgreiche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist die Grundlage dafür,
dass die Löhne und Gehälter in Deutschland wieder steigen.
Wir dürfen nicht der Forderung der Linken folgen, für
Mindestlöhne in Höhe von 8 oder 9 Euro zu sorgen
({4})
und darüber hinaus anderweitig kräftige Lohnsteigerungen zu ermöglichen. Solche Forderungen sind für manche wie Schalmeienklänge. Würde man dieser Forderung folgen, würde die Arbeitslosigkeit in Deutschland
noch weiter steigen, weil die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandortes darunter leiden würde.
({5})
Genauso wie viele Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU, der SPD und der FDP bin ich der Auffassung, dass wir die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in unserem Land verbessern müssen.
({6})
Dies hat diese Bundesregierung aber bereits in die Wege
geleitet. Die Genshagener Beschlüsse sehen ein Investitionsprogramm in Höhe von 25 Milliarden Euro für diese
Legislaturperiode vor. Hinzu kommen verbesserte Abschreibungsbedingungen für die Betriebe, insbesondere
für den Mittelstand, und die Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen für Privatpersonen. Ich bin überzeugt,
dass dies Beschäftigungsimpulse im Handwerk setzen
und kräftige Investitionen herbeiführen wird. Damit werden auch mehr Arbeitsplätze in unserem Land entstehen.
({7})
Diese Arbeitsplätze sind eine Grundlage dafür, dass wir
in Deutschland zukünftig stabile Rentenverhältnisse haben.
({8})
Natürlich ist es wichtig und entscheidend, dass wir
zukünftig auch die private Altersvorsorge verstärkt fördern. Ich möchte aber vorausschicken: Nicht erst seit
Einführung der Riesterrente nutzen die Menschen in
Deutschland die Möglichkeit zur privaten Altersvorsorge. 80 Millionen oder 90 Millionen Lebensversicherungsverträge sind ein beredtes Beispiel dafür, dass die
Menschen in unserem Land die Zeichen der Zeit erkannt
haben und wissen, dass sie für das Alter vorsorgen müssen. Das wurde auch von staatlicher Seite ständig gefördert, und zwar mit vielen Regierungsbeschlüssen unter
den jeweiligen Koalitionen, etwa mit der steuerlichen
Absetzbarkeit von Lebensversicherungsbeiträgen. Es ist
also nicht so, dass man dies erst hätte neu erfinden müssen. Dies gilt es aber zu stärken, damit dies breiter zum
Tragen kommt.
({9})
5,6 Millionen Riester-Verträge sind angesichts dessen, dass 40 Millionen Menschen dieses Instrument in
Anspruch nehmen könnten, ein - ich sage es vielleicht
einmal so - bescheidener Erfolg. Deshalb gilt es, diese
Initiative noch zu verstärken. Wir werden uns in der
Koalition natürlich darüber zu unterhalten haben, ob in
der Zukunft wirklich nur die Form der Rentenauszahlung das entscheidende Modell sein kann oder ob nicht
auch mietfreies Wohnen im Alter ein hohes Gut ist, vielleicht ein gleichzustellendes Gut. Diese Form der
Riester-Förderung könnte einen zusätzlichen Impuls dafür geben, dass Menschen Altersvorsorge betreiben.
({10})
Sie müssen bitte zum Schluss kommen, Herr Kollege.
Verehrte Damen und Herren, lassen Sie uns diese Debatte in diesem Sinne gemeinsam aufnehmen, sie nicht
mit Parolen überfrachten, sondern in großer Sachlichkeit, mit der nötigen Gelassenheit, aber vor allem zielorientiert für die Menschen in unserem Land entsprechende Beschlüsse herbeiführen!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/794 und 16/826 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
habe ich einen Nachtrag zur Sitzung heute Vormittag zu
machen. Es gab eine Geschäftsordnungsdebatte, bei der
ich nach der zweiten Abstimmung versäumt habe, im
Präsidium das Einvernehmen mit einem der beiden
Schriftführer herzustellen. Das tut mir Leid und dafür
entschuldige ich mich.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Belarus vor den Präsidentschaftswahlen 2006
- Drucksache 16/816 Interfraktionell ist dafür eine halbe Stunde Aussprache verabredet. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Belarus, Weißrussland, beginnt dort, wo die
Spurbreite der Eisenbahn 89 Millimeter breiter ist als im
übrigen Europa. Dies ist allerdings leider nicht der einzige Unterschied. Im Unterschied zu allen Nachbarn, im
Unterschied zu den europäischen Demokratien ist Belarus eine Diktatur, eine gut funktionierende Diktatur, eine
Präsidialdiktatur. Seit 1994 hat Präsident Alexander
Lukaschenko Belarus fest im Griff. Diesen festen Griff
erleben viele Menschen in Belarus als Würgegriff. Er
verhindert das Entstehen einer Bürgergesellschaft. Er
verhindert das lebendige Atmen der Demokratie. Die Gesellschaft in Belarus ist unter einem Eismantel aus Bevormundung, staatlichem Terror, Demagogie, Desinformation und nackter Angst begraben. Diese Angst lähmt.
Die Menschen haben sich ins Private, ins Häusliche, ins
Unpolitische zurückgezogen. Der Präsident, die Staatsmacht, die Staatssicherheit sind allgegenwärtig. Es gibt
nur eine Wahrheit: Das ist die Wahrheit des Präsidenten.
Es gibt nur einen Willen: Das ist der Wille des Präsidenten. Presse, Funk und Fernsehen sind staatlich und
gleichgeschaltet. Es gibt so gut wie keine unabhängige
Öffentlichkeit, keine Gegenöffentlichkeit. Ausländische
Nachrichtensendungen werden gestört, den Menschen
werden neutrale Informationen vorenthalten. Über allem
wacht als Schild und Schwert des Präsidenten der belarussische KGB.
Wer die Wirklichkeit eines real existierenden Sozialismus kennen lernen will, muss Belarus besichtigen. Es
ist ein großer Feldversuch mit 10 Millionen Menschen,
die diesem System und einem diktatorischen Präsidenten
ausgeliefert sind. Fast alle Belarussen sind wirtschaftlich
und existenziell vom Präsidenten und von seinem Wohlwollen abhängig. Nahezu alle Unternehmen sind Staatsunternehmen und an der Spitze des Staates steht der Präsident. Präsident Lukaschenko sieht alles, weiß alles,
regelt alles. Wer nicht spurt, wer Widerspruch in der Sache oder gegen seine Person riskiert, der riskiert Leib
und Leben. Oppositionelle politische Widersacher und
Journalisten verschwinden in Administrationshaft oder
in der Verbannung - manche spurlos bis heute.
Jenseits dieser politischen Pression gibt es in der Bevölkerung durchaus auch eine gewisse Zufriedenheit mit
der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Situation. In der Abwägung zwischen sozialer Sicherheit auf
der einen Seite und politischer Freiheit auf der anderen
Seite würde wohl eine Mehrheit der Belarussen einer gewissen Sicherheit den Vorrang geben.
Nun finden am 19. März Präsidentschaftswahlen in
Belarus statt. Dazu heute diese gemeinsame Debatte im
Deutschen Bundestag. Wir debattieren auf der Grundlage eines gemeinsamen Antrags. Mit diesem Antrag
und mit dieser Debatte wollen wir die Menschen in Belarus ermutigen, sich frei und unabhängig zu entscheiden.
Wir begrüßen, dass mehrere Kandidaten zur Wahl stehen:
({0})
so neben dem bisherigen Präsidenten ein gemeinsamer
Kandidat der demokratischen Kräfte, Alexander
Milinkewitsch. Alexander Milinkewitsch ist ein respektabler Kandidat. Er war im Februar dieses Jahres zu politischen Gesprächen bei der Europäischen Union in Brüssel und dankenswerterweise hat ihn Angela Merkel hier
in Berlin im Kanzleramt zum Gespräch empfangen.
Mit unserem Antrag wollen wir die Menschen in
Belarus ermutigen, sich selbst als Staatssouverän zu begreifen, Angst abzulegen und sich von einer Diktatur zu
emanzipieren. Wir erwarten, dass es zu freien, fairen und
transparenten Wahlen kommt. Wir fordern Chancengleichheit für alle Kandidaten, gleichen Zugang zur Öffentlichkeit sowie Fairness und Gewaltlosigkeit auch für
die Tage nach der Wahl.
({1})
Es geht uns um die Menschen in Belarus. Sie sind uns
nicht gleichgültig, wir nehmen Anteil an ihrem Schicksal. Wir nehmen deshalb besonderen Anteil, weil die
belarussische Bevölkerung dramatisch unter den Folgen
des Zweiten Weltkrieges zu leiden hatte. 1945 waren alle
Städte zerstört, jeder vierte Einwohner getötet, mehr als
8 000 Dörfer vernichtet. Wir nehmen auch deshalb besonders Anteil, weil Belarus bis heute unter den Folgen
der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zu leiden
hat. Es gibt dankenswerterweise mehr als 800 private
deutsche Initiativen, die mit Sachspenden, finanziellen
Mitteln und Kinderaustausch versuchen, das Leid und
die Not dort zu lindern. Die staatlichen und privaten Hilfen aus Deutschland summieren sich auf über 300 Millionen Euro. Mehr als 100 000 Kinder waren in den
letzten Jahren zu einem Erholungsaufenthalt in Deutschland. Diese, meist privaten, Tschernobylinitiativen sind
praktizierte, gelebte Menschlichkeit.
({2})
Auch dies beweist: Die Menschen in Belarus sind uns
nicht egal.
Wir möchten, dass die Selbstisolierung von Belarus
aufhört. Wahlen, die internationalen Standards entsprechen, sind dazu eine wichtige Voraussetzung. Belarus ist
ein europäisches Land mit einer europäischen Tradition,
keine zwei Flugstunden von hier entfernt. Es ist in aller
Interesse, dass Belarus zu einem wertvollen und geachteten Teil der europäischen Völkerfamilie wird. Wir
möchten, ohne uns aufzudrängen, ohne uns einzumischen, daran mitwirken. Es wäre schön, liebe Freunde,
wenn in Zukunft lediglich die Spurbreite der Eisenbahn
Belarus von seinen Nachbarn trennen würde.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Michael Link von der FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Weltweit gibt es
noch zahlreiche Diktaturen, autoritäre und diktatorische
Regime. Vom Triumph der Demokratie kann zurzeit leider keine Rede sein. Regime wie Nordkorea, Simbabwe
und Syrien, um nur einige zu nennen, unterscheiden sich
von Belarus jedoch in einem Punkt: Sie alle sind weit
weg. Das relativiert nicht unsere Betroffenheit und unsere Sorge bezüglich dieser Regime; aber manchmal,
seien wir ehrlich, relativiert es doch ein bisschen unsere
unmittelbare Beschäftigung mit diesen Ländern. Belarus
dagegen - Herr Grund hat es angesprochen; das ist ein
sehr wichtiger Punkt, den wir uns selten klar machen ist gerade einmal gut eine Flugstunde Richtung Osten
entfernt. Deshalb sollten wir als Parlamentarier dieses
Thema weiterhin auf die Tagesordnung setzen; denn dieses Nachbarland der Europäischen Union ist die letzte
ausgewachsene Diktatur auf europäischem Boden.
In Belarus, gut eine Flugstunde entfernt, werden Journalisten, Studenten und Oppositionelle verhaftet und
körperlich misshandelt. Freie Universitäten werden geschlossen und das Internet und der Postverkehr werden
systematisch gestört. Ein wortgewaltiger Alleinherrscher
verbreitet dort eine Stimmung der Angst unter Menschen
freier Gesinnung.
In Belarus, gut eine Flugstunde entfernt, herrscht
- sagen wir auch das deutlich - noch so etwas wie kalter
Krieg und gibt es noch so etwas wie einen eisernen Vorhang. Wie sonst kann man die Grenze zwischen Polen
und Weißrussland, zwischen der Europäischen Union
und Weißrussland, betrachten? Wer heute mit dem Zug
über die Grenze fährt und die Grenzkontrollen dort erlebt, wer die öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Polen und Weißrussland in den Medien erlebt, der
kann fast nur noch von kaltem Krieg sprechen. Das Problem dabei ist: Es ist nicht noch kalter Krieg, sondern es
ist wieder kalter Krieg.
Vergessen wir nicht: Weißrussland war Anfang der
90er-Jahre schon weiter. Damals war es unter Präsident
Schuschkjewitsch auf dem Weg der Integration in die
euroatlantischen Strukturen.
({0})
Es war bereits auf dem Weg, Mitglied des Europarates
zu werden. Leider ist es das heute nicht mehr. Wir wissen alle, weshalb. Seit Präsident Lukaschenko das Regime umgebaut und das Land zu einem KGB-Staat spätkommunistischer Prägung gemacht hat, regiert er dort
nicht nur mit starken Worten - mit einer kruden rhetorischen Mischung aus sozialistischen und manchmal sogar
nationalsozialistischen Anleihen -, sondern vor allem
mit harter Hand. Wer nicht pariert, wird mundtot gemacht; in einigen Fällen in den letzten Jahren muss man
sogar von politisch motiviertem Mord ausgehen.
Mit unserem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU,
SPD, Grünen und FDP wollen wir - Herr Grund hat es
erwähnt - heute ein starkes Signal aussenden, dass der
Deutsche Bundestag den Vorgängen in diesem Land
nicht weiter zusehen möchte. Wir schließen uns den entsprechenden Initiativen des Europäischen Parlaments,
des Europarats und der OSZE an und fordern für die
Wahlen am 19. März eine faire Chance für alle Kandidaten.
({1})
Es ist gut, dass wir in diesem Parlament über fast alle
Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit herstellen konnten.
Es ist wichtig, dass dieses Signal deutlich wird.
Ich würde mir wünschen, dass auch die PDS bereit
wäre, ein entsprechendes Signal auszusenden. Da habe
ich allerdings manchmal meine Zweifel, wenn ich Aussagen in Zeitungen lese, die Ihnen nicht fern stehen. In
der „Jungen Welt“ vom 18. Februar heißt es zum Beispiel: „Umsturzhilfe Ost für Belarus“. Am 25. Februar
konnte man lesen: „EU-Propaganda gegen Belarus“.
Ein Zitat vom 4. März: „Belarus ist nicht die
Ukraine.“ - Stimmt so weit.
Hier gibt es keine Oligarchen und keine Obdachlosen. Hier hat das soziale Sicherungssystem seine
Autonomie gegenüber der Marktautonomie bewahrt. Hier ist die Wirtschaftspolitik auf die Erhöhung des allgemeinen Wohlstands ausgerichtet.
Weil der Großteil der belarussischen Bevölkerung
das zu schätzen weiß, gibt es auch kaum einen
Zweifel über den Wahlausgang.
Das ist gewagt, würde ich sagen.
Ein Zitat aus einer Quelle, die Ihnen vielleicht noch
näher ist, nämlich von der Website „sozialisten.de“:
Offensichtlich geht es den USA und der EU darum,
einen eigenständigen Weg von Belarus nicht zuzulassen und dem Land die eigenen kapitaldominierten Werte aufzuzwingen.
Ich bitte Sie einfach: Sorgen Sie hier für Klarheit und
bekennen Sie sich dazu, in einem gemeinsamen Anlauf
mit uns zusammen, über alle Fraktionsgrenzen hinweg,
demokratische Wahlen in Belarus zu fordern!
({2})
Herr Grund hat das gesagt, was zum stärksten Kandidaten der Opposition, Herrn Milinkewitsch, zu sagen
ist. Auch wir unterstützen ihn. Er hat eine mutige Politik
gemacht und trotz aller Behinderungen - gestern wurde
zum Beispiel sein stellvertretender Wahlkampfleiter verhaftet - bisher einen guten Wahlkampf gemacht. Wir
möchten, Herr Staatsminister Erler, an dieser Stelle aber
auch - das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt - die
Deutsche Botschaft in Minsk einmal ausdrücklich loben.
Das, was die Deutsche Botschaft in Minsk seit vielen
Jahren mit dem Minskforum, übrigens gemeinsam mit
der deutsch-belarussischen Gesellschaft, macht, ist vorbildlich. Das verdient den Respekt dieses Parlaments.
Michael Link ({3})
({4})
Viele Kollegen nehmen regelmäßig am Minskforum
teil.
Mein Kompliment und mein Dank gelten ausdrücklich unseren Diplomaten, die dort seit vielen Jahren auf
diesem sehr schwierigen Posten ihren Dienst tun und
ohne die Deutschland heute bei weitem nicht so gut informiert dastehen würde.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Belarus ist
heute eines der wichtigsten Felder, auf dem die Länder
der EU gemeinsam handeln müssen. Wir müssen dabei
auch Polen und Litauen, zwei ganz wichtige Stimmen im
europäischen Konzert, immer mit an Bord haben.
Wenn Sie erlauben, Herr Staatsminister, möchte ich
noch eine Bitte an die Bundesregierung äußern. Belarus
ist auch ein entscheidendes Thema für die deutsch-russischen Beziehungen. Skeptiker sagen, solange die
manchmal offene, manchmal verdeckte Unterstützung
Russlands für Lukaschenko unausgesprochen bestehen
bleibt, so lange bleibt Belarus auch ein Modell russischer Möglichkeiten.
Herr Kollege Link, Sie könnten Ihre Redezeit weiter
verlängern, wenn Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dehm beantworten möchten.
({0})
Bitte schön.
Können Sie sich vorstellen, dass Ihr Werben um das
Überschreiten von Fraktionsgrenzen vielleicht wirkungsvoller ausfallen könnte, wenn Sie auf solche Formulierungen wie „Er stellt sich sozialistisch, ja sogar nationalsozialistisch dar“ verzichten würden?
({0})
Ich würde gerne darauf verzichten. Aber leider hat
Lukaschenko vor einiger Zeit selbst gesagt, dass nicht
alles im Nationalsozialismus schlecht gewesen sei. Solange dieses Zitat im Raum steht, kann ich leider nichts
anderes sagen.
({0})
Mein Schlussappell. Das Verhältnis Belarus zu Russland sollte zu einem wichtigen Thema der EU-Diplomatie gemacht werden. Es kann und muss gelingen, Russland im Zuge weitsichtiger Diplomatie davon zu
überzeugen, dass die Fortsetzung des Regimes von
Lukaschenko nicht im wohlverstandenen Interesse Russlands sein kann. Ich denke, dies ist ein wichtiges Feld für
die europäische Diplomatie.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass eine
Flugstunde östlich von uns die Menschen bald die demokratischen Rechte haben werden, die für uns in Europa
schon selbstverständlich geworden sind!
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich bin sehr froh, dass es uns diesmal gelungen ist,
einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen einzubringen.
Es ist ja im Vorfeld von Wahlen nicht das erste Mal, dass
wir einen gemeinsamen Antrag beschließen. Leider haben wir es 2004 nicht geschafft, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren; damals gab es zwei. Aber ich erinnere mich sehr deutlich daran, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und ich uns darüber einig
waren, dass es keinen inhaltlichen Widerspruch gab,
sondern dass es im Vorfeld der Verabschiedung dieses
Antrags sozusagen an der Feinabstimmung gemangelt
hat. Diesmal haben wir es aber geschafft.
Ich glaube, es ist ein gutes Signal, dass in der Bundesrepublik ein breites Engagement für Belarus, für die
Menschen, wie Kollege Grund gesagt hat, und für eine
Demokratisierung vorhanden ist. An dem Umgang mit
den Folgen der Katastrophe von Tschernobyl am
26. April vor 20 Jahren lässt sich das sehr gut festmachen. Seitdem gibt es überall Initiativen, die sich um die
Opfer dieser Katastrophe kümmern, die Unterstützung
leisten, Hilfssendungen verschicken und Erholungsurlaube für Kinder organisieren. Das wurde hier schon
geschildert. Das verbindet die Deutschen ganz eng mit
diesem Land und seiner Bevölkerung. Darüber hinaus
gibt es eine historische Schuld, die wir gegenüber diesem Volk haben und an die wir immer wieder erinnern
müssen. Das tut zum Beispiel auch die Botschaft in
Minsk.
Belarus ist uns also nicht nur geografisch und als
Nachbar der Europäischen Union so nahe.
({0})
Deshalb richten wir eine so große Aufmerksamkeit auf
die politischen Vorgänge in diesem Land. Dies ist keine
Einmischung in die inneren Angelegenheiten, sondern
eine Aufforderung an die belarussische Administration,
also an den Präsidenten und die Regierung, sich an das
zu halten, wozu sie sich als Mitglied der OSZE verpflichtet haben. Dort haben sie sich zur Einhaltung der
Menschenrechte, zu fairen und freien Wahlen, zur PresUta Zapf
sefreiheit und zu einer demokratischen Entwicklung verpflichtet.
Wir haben jeden Grund, dies zu unterstützen. Das tun
wir auch. Wir haben in Deutschland kurz nach der Souveränität Weißrusslands eine Parlamentariergruppe
gebildet. Das ist eine kleine Gruppe. Ich hoffe, sie erhält
ein bisschen mehr Zulauf. Ich werde bald die Vorsitzende sein. Wir haben immer gearbeitet und Aktivitäten
unternommen, auch wenn wir während der Zeit des von
Lukaschenko handverlesenen Parlaments keinen direkten parlamentarischen Austausch hatten.
Die OSZE hat eine Arbeitsgruppe zu Belarus eingerichtet. Ich bin die Vorsitzende dieser Arbeitsgruppe.
Deshalb bin ich häufig in Belarus und rede mit den Menschen, und zwar mit allen, auch mit Parlamentariern und
Vertretern der Administration. Ich halte dies für wichtig.
Auch der Europarat und die EU beschäftigen sich mit
Belarus.
Sie finden in allen unseren Anträgen, die wir gemeinsam verabschiedet haben, einen Satz, den wir jetzt wieder aufgenommen haben und der lautet:
Die Durchführung freier und fairer Wahlen ist eine
Voraussetzung dafür, dass Belarus den Weg zur Demokratisierung einschlägt. Nur ein Land, das sich
demokratischen Grundsätzen verschreibt, hat seinen Platz in der europäischen Familie, kann die Angebote zur Annäherung an die europäischen Strukturen nutzen und wirtschaftliche, soziale und
politische Vorteile daraus ziehen.
Dies ist gewissermaßen das Versprechen, dass es
dann, wenn freie und faire Wahlen stattfinden und damit
eine Rückkehr zur Demokratie erfolgt, Benefits bzw. positive Effekte für die belarussische Bevölkerung geben
wird. Man muss immer wieder betonen: Es geht uns
nicht darum, den so genannten letzten Diktator Europas
zu beschimpfen und sein Regime aus dem Amt zu jagen.
({1})
- Ich bin gar nicht dafür, ihn aus dem Amt zu jagen. Das
müssen die Belarussen schon selber tun.
({2})
Uns geht es vielmehr um Demokratie, Menschenrechte und freie Wahlen. Deshalb wollen wir uns für die
zivile Gesellschaft in Belarus einsetzen. Im Zusammenhang mit den Wahlen in 2004 hat die OSZE-Wahlbeobachtermission festgestellt, dass es eine ganz lebendige, tüchtige, wunderbare zivile Gesellschaft gibt, die
sich für eine Demokratisierung in Belarus einsetzt. Wir
haben dann erleben müssen, dass es nach diesen Wahlen
eine verstärkte Repression gerade gegenüber diesen
Gruppen gegeben hat.
Ein wichtiger Bestandteil unserer Politik sollte es
sein, diese Zivilgesellschaft zu schützen und zu unterstützen. Diese Zivilgesellschaft ist keine subversive Revolution, wie Herr Lukaschenko befürchtet und in ziemlich groben Worten an die Wand malt. Diese Menschen
klagen vielmehr ihre Rechte ein, zu denen sich Belarus
gegenüber der OSZE verpflichtet hat, und wir unterstützen sie darin.
({3})
Deshalb kritisieren wir, dass im Moment die Wahlkämpfe der anderen Kandidaten - Gott sei Dank gibt es
immerhin vier Kandidaten, zwei davon sehr demokratisch ausgerichtet - ständig gestört werden. Heute kam
die Tickermeldung, dass Viacorka, den viele von uns
persönlich kennen und der der stellvertretende Wahlkampfleiter von Milinkewitsch ist, zu 15 Tagen Haft verurteilt worden ist, weil er eine nicht genehmigte Wahlkampfveranstaltung abgehalten hat.
({4})
Dies ist reine Willkür.
({5})
Das müssen wir laut sagen und kritisieren.
Wir müssen ebenso kritisieren, dass die Zeitungen
seit Jahren zunehmend unter Druck stehen. „Narodnaja
Wolja“ zum Beispiel hat, mit Fotos illustriert, gedruckt,
dass der Kandidat Kozulin und ein Journalist zusammengeschlagen worden sind und nun wegen Hooliganism,
also wegen groben Benehmens, angeklagt werden sollen. Diese Auflage ist völlig kassiert und ihr Nachdruck
verhindert worden, einmal abgesehen davon, dass die
freie Presse sowieso an dem Erscheinen ihrer Druckerzeugnisse gehindert wird.
Ich glaube, wir sollten auch bei dieser Gelegenheit
immer wieder an die politischen Gefangenen erinnern
- wir sind es ihnen schuldig -, an die Verschwundenen,
aber auch an die, die jetzt wegen zum Teil ganz geringfügiger Vergehen im Gefängnis sitzen. Ich denke hierbei
an den Sozialdemokraten Statkevich: Er sitzt im Gefängnis, weil er nach den letzten Wahlen aus Protest gegen
die Manipulationen an einer Demonstration teilgenommen hat. Er ist zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden; die Haft ist jetzt auf zweieinhalb Jahre verkürzt
worden.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen!
Bei uns würde man vielleicht eine kleine Geldstrafe bekommen, wenn man polizeiliche Auflagen nicht einhält.
Allerdings würde bei uns erst gar nicht verboten werden,
dass die Menschen gegen etwas protestieren. Das ist ihr
gutes Recht. Die Hintertürchen, die da immer aufgetan
werden, alle möglichen Gründe, die vorgeschoben werden, um irgendwelche demokratischen Aktionen zu verhindern, sind zum Teil schon hanebüchen.
Dabei brauchte Herr Lukaschenko - Herr Grund hat
das gesagt - nicht so viel Angst zu haben, dass er seine
Macht verliert. Alle Umfragen aus seriösen Quellen besagen zwar, dass die Opposition Zustimmung bekommt
und einen gewissen Bekanntheitsgrad hat. Wenn es aber
um die Frage geht, wen man wählen würde, dann tun die
Menschen genau das, was Herr Grund gesagt hat. Sie
denken sich: „Sicher ist sicher! Es geht uns im Verhältnis
zu anderen noch einigermaßen gut.“ Deshalb würden
sich viele wieder für Lukaschenko entscheiden, sicher
nicht 75 Prozent - das war das letzte manipulierte Ergebnis -, aber wahrscheinlich doch 50 Prozent. Ich habe
gerade ein Interview mit jemandem, der solche Umfragen macht, gelesen. Er sagte, dass Lukaschenko mit einem Sieg im ersten Wahlgang rechnen könne.
Frau Zapf, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Ich würde aber gern, wenn
Sie erlauben, ein recht hysterisches Zitat von Herrn
Lukaschenko wiedergeben. Er hat nämlich gesagt, er
würde jeden Versuch, eine Revolution anzuzetteln, unterbinden, indem er all denen, die das versuchen, den
Hals umdrehe und sie zu Boden walze. Ich denke, das ist
Gewaltandrohung, nicht das, was die wahlkämpfenden
oppositionellen Kandidaten verkünden. Sie haben unsere
Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat Monika Knoche, Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Abgeordneter
Link, Sie hätten Ihre wertvolle Zeit nicht darauf verwenden müssen, Zitate aus Zeitungen zu suchen, um die Position der Linken zu erfahren. Sie hätten uns schlichtweg
zu den Gesprächen über einen gemeinsamen Antrag einladen können.
({0})
Wir hätten Ihnen dort sehr gern die Position dargelegt.
Es besteht, meine sehr geehrten Herren und Damen,
kein Zweifel: Lukaschenko ist kein Demokrat; er ist ein
Autokrat. Es herrscht ein staatliches Diktat.
Frau Kollegin Knoche, es gibt eine Zwischenfrage
von Frau Zapf. Möchten Sie sie zulassen?
Wenn Sie gestatten, würde ich einfach weitersprechen; vielleicht erübrigt sich dann Ihre Frage.
({0})
Bitte schön.
In Belarus ist kein Weg zu einer Demokratie zu erkennen. Im Gegenteil: Meinungsfreiheit und politische Betätigung, die nicht regierungskonform ist, werden starken
Repressionen ausgesetzt. Das gilt auch für kommunistische Kräfte in diesem Land. Es gibt also keinen Grund,
diese diktatorischen Strukturen zu verteidigen.
({0})
Wer in Belarus Reformkräfte sucht, die das Land im
postsowjetischen Prozess in ein demokratisches, nicht
kapitalistisches System überführen wollen, wird kaum
offizielle Repräsentanten und Repräsentantinnen finden.
Das ist zum Beispiel für aufgeklärte Linke eine traurige
Tatsache. Dennoch: Lukaschenko hat sich zur Einhaltung der OSZE-Standards verpflichtet. Daran ist der
Wahlverlauf zu messen. Es ist abzusehen: Das Wahlergebnis wird, obgleich eine Opposition antritt, zugunsten des Amtsinhabers ausfallen. Nun kann man darüber
reden - wir hätten das gern mit den Antragstellenden
getan -, wie der innergesellschaftliche Prozess in Weißrussland hin zu einem demokratischen Gebilde gefördert
werden kann. Aber auf die spezifischen Kenntnisse der
Linksfraktion haben Sie keinen Wert gelegt.
({1})
Wichtig ist, dass die Menschen in Weißrussland politisch wach sind und beobachten, was aus den Transformationsprozessen der ehemaligen Sowjetstaaten geworden ist. Das ist große Armut für viele und großer
Reichtum für wenige. In Ex-Jugoslawien herrscht heute
teilweise eine Mafiastruktur. Von Rechtsstaat kann vielerorts keine Rede sein.
Natürlich beobachten die Menschen und wägen ab,
welches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem sie bekämen, würde der politische Begriff Demokratie realiter
mit Lissaboner Wirtschaftsordnung gleichgesetzt werden. Für welchen anderen Reformweg sich die Bevölkerung entscheiden würde, wissen wir nicht, weil sie dazu
keine Chance erhält.
Wir sagen zu Ihrem interfraktionellen Antrag:
Wenn Sie unser Petitum aufnehmen könnten, dass erstens
ausgeschlossen werden muss, dass die zutreffende Kritik
an den Verhältnissen missbräuchlich verwendet wird, um
staatliche Souveränität aufzuweichen, dass zweitens die
Unterstützung der reformwilligen Kräfte zweckfrei erfolgt und keinesfalls - wie sie existieren - antisemitische,
rassistische Kräfte in der Opposition unterstützt werden
({2})
und dass drittens demokratische Verhältnisse in Weißrussland immer auch bedeuten, dass die dortige Bevölkerung ihren Weg als Europäerinnen und Europäer - das
betone ich - selbst bestimmen kann, dann hätten Sie unsere Unterstützung.
Ich vermute allerdings, dass viel Sympathie für das
besteht, was der Oppositionsführer Lebedko politisch
ausführte, als er kürzlich in der „taz“ sagte, dass „für die
Orange Revolution Europa eine Strategie fehle. Heute ist
politischer Wille spürbar, eine Strategie und einen konkreten Aktionsplan zu erarbeiten.“ Ich sage: Die Orange
Revolution hat weder mehr Freiheit und Demokratie
noch wirtschaftlichen Benefit für die breite Bevölkerung
gebracht.
Da meine Redezeit leider sehr begrenzt ist, möchte
ich mir zum Schluss nur noch einen Satz erlauben: Zum
ideologisch motivierten Support darf europäische Menschenrechtspolitik nicht werden. Da wir genau das in der
Intention Ihres Antrages nicht gewährleistet sehen, werden wir uns heute der Stimme enthalten.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Uta
Zapf das Wort.
Ich möchte mich ganz energisch gegen zwei Unterstellungen verwahren, die die Kollegin Knoche in ihrer
Rede vorgetragen hat. Das eine ist die Unterstellung, wir
hätten kein Angebot an die Linke gemacht, diesen Antrag mitzutragen. Er ist an alle Parteien gegangen und
die anderen Parteien, die ursprünglich nicht an der Formulierung beteiligt waren, nämlich FDP und Grüne, haben Rückmeldungen gegeben und mit uns über Inhalte
diskutiert. Anschließend haben wir eine gemeinsame
Formulierung gefunden. Von der Linkspartei ist in keiner Weise, weder durch Anruf noch durch Mail, eine Reaktion erfolgt.
({0})
Deshalb weise ich Ihre Unterstellung, wir hätten Sie
nicht mit einbeziehen wollen, zurück und halte Ihre Behauptung, Sie hätten gern mit uns über dieses und jenes
diskutiert, für reine Augenwischerei.
({1})
Darüber hinaus - das ist der zweite Punkt - haben Sie
durch Ihre Formulierungen unterstellt, dass wir die Opposition unterstützen, um subversive und revolutionäre
Tendenzen zu schüren und damit dem zu dienen, was ich
in meiner Rede sogar ausdrücklich abgelehnt habe, nämlich Lukaschenko aus dem Amt zu fegen. Ich denke, die
demokratische Unterstützung einer Opposition ist legitim. Das haben wir auch schon in der Vergangenheit gemacht. Dass Spanien und Portugal zum Beispiel den
Wechsel von der faschistischen Periode hin zu einer demokratischen Regierung geschafft haben, war nicht zuletzt der demokratischen Unterstützung vieler Länder zu
verdanken.
({2})
Über die Frage, wie wir die Revolutionen, die jetzt
mithilfe verschiedener Farben gekennzeichnet werden,
einschätzen, sollten wir gesondert diskutieren. Meines
Erachtens war der Prozess in der Ukraine ein großer Sieg
einer demokratisch orientierten Bevölkerung, die sich
Wahlbetrug und Wahlmanipulation nicht mehr gefallen
lassen wollte.
({3})
Ich erteile das Wort zu einer weiteren Kurzintervention dem Kollegen Michael Link.
Frau Präsidentin, danke schön. - Ich will mich ganz
ausdrücklich den Worten von Frau Zapf anschließen.
Wir haben natürlich zunächst gemeinsam darüber gesprochen - übrigens hatten Grüne und FDP zuerst einen
eigenen Antrag, dann haben CDU/CSU und SPD einen
entworfen -, wir haben verhandelt und wir haben uns
dann ganz bewusst dem Entwurf der Koalition angeschlossen, weil es hier nicht um Klein-Klein geht, sondern um die Sache.
({0})
Das muss einmal deutlich ausgesprochen werden. Leider
haben Sie heute die Chance verpasst, sich dem anzuschließen. Hierbei geht es nicht um links oder rechts,
hierbei geht es um demokratisch oder nicht demokratisch.
({1})
Ich stelle fest, dass sich die PDS dem nicht anschließt.
Sie haben leider keine Stellung zu dem Zitat auf Ihrer
Homepage genommen:
Offensichtlich geht es … der EU darum, einen eigenständigen Weg von Belarus nicht zuzulassen
und dem Land die eigenen kapitaldominierten
Werte aufzuzwingen.
Welches Weltbild steht dahinter? Ein demokratisches?
Ich habe meine Zweifel daran.
({2})
Herr Kollege Link, ich möchte Sie, weil Sie die Fraktion angesprochen haben, bitten, den korrekten Namen
der Fraktion zu verwenden, nämlich Die Linke und nicht
PDS.
({0})
Frau Knoche, Sie wollen antworten.
Also, diese Fraktion heißt Die Linke im Deutschen
Bundestag.
({0})
Sicherlich sind viele Vertreterinnen aus den neuen Bundesländern mit einer PDS-Geschichte hier. Aber es gibt,
wie Sie wissen, auch viele Linke aus ganz anderen Sozialisationen, die sich zu dieser neuen Formation zusammengefunden haben. Daher ist es ganz gut, von der Linken zu sprechen. Die Linke hat in der Tat, wie ich hier
vorgetragen habe, eine sehr differenzierte Position zu
Weißrussland
({1})
und die ist unmissverständlich zum Ausdruck gekommen. Deshalb wird es Ihnen auch im Nachgang nicht gelingen, uns in der Frage zu Belarus ein zweifelhaftes Demokratieverständnis anzudichten.
Aber ich muss Ihnen sagen - Sie haben ja eine gewichtige Gegenbemerkung gemacht -: In der Runde der
Parlamentarischen Geschäftsführer war eindeutig klar,
dass der Linksfraktion kein Antrag zugegangen war.
Darüber hinaus möchte ich Sie über folgende demokratische Gepflogenheiten in diesem Hause erinnern - ich bin
in meiner Vorzeit bei der Grünenfraktion eine Initiatorin
von vielen Gruppenanträgen, die fraktionsübergreifend
getragen wurden, gewesen -: Es ist gute Übung in diesem Hause, sich an die Abgeordneten zu wenden und,
bevor ein Antrag eine textliche Fassung hat, die Positionen zu kennen bzw. sie zu eruieren und zu einem gemeinsamen Text zu kommen
({2})
und nicht nach dem Motto „Friss, Vogel, oder stirb!“ einen Antrag vorzulegen, zu dem dann gesagt wird:
Schließt euch an oder ihr seid draußen. Für diese billige
Feindbildprojektion möchten wir als Linke im Bundestag nicht zur Verfügung stehen. Das sei hiermit eindeutig
gesagt.
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Marieluise Beck,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erstens: Ich glaube, eigentlich haben die demokratischen Kräfte in diesem Haus keine Veranlassung, sich von demokratischen Revolutionen zu distanzieren. Ich finde demokratische Revolutionen
ausnahmslos gut.
({0})
Zweitens möchte ich sagen: Wenn das, was aus den
Stiftungen, aus der OSZE und aus demokratischen Institutionen an Unterstützung für die Opposition in Belarus
kommt, hier als ideologisch motivierter Support bezeichnet wird, dann, so glaube ich, ist doch sehr offensichtlich, dass die Kolleginnen und Kollegen von der
Linksformation offensichtlich nicht zustimmen wollen.
({1})
Wenden wir uns wieder den demokratischen Kräften
in diesem Haus zu.
({2})
Es ist gut, dass wir uns in vielen Punkten einig sind.
({3})
Manche Erwartungen, die in dem vorliegenden Antrag
formuliert worden sind, wurden leider schon durch die
Wirklichkeit widerlegt. Manches ist hier angesprochen
worden. Wir haben formuliert, dass wir erwarten, dass
die Wahlkämpfe nicht behindert werden. Doch jetzt wissen wir, dass sie massiv behindert werden, dass die freie
Presse in Belarus nicht nur nicht mehr verteilt, sondern
auch gar nicht mehr gedruckt werden darf. Wir wissen,
dass der Aufforderung, die Oppositionskandidaten unangetastet zu lassen, nicht nachgekommen worden ist. Der
Oppositionskandidat Alexander Kozulin ist auf einer
dieser ominösen Volksversammlungen zusammengeschlagen worden.
Es ist gut, wenn wir jetzt, im Vorfeld der Wahlen,
nach Belarus schauen. Auch die Wahlbeobachtung ist
wichtig. Ich glaube aber, dass mindestens genauso wichtig ist, was nach der Wahl passiert; denn die Oppositionsmitglieder haben zu Recht Angst, dass sich
Lukaschenko nach einem vermutlichen Wahlsieg noch
sicherer fühlen wird, es weitere Verhaftungen und noch
mehr Repressionen gegenüber allen zivilgesellschaftlichen und demokratischen Bewegungen geben wird.
Ich möchte die mutigen Vertreter der demokratischen Bewegung nennen. Stellvertretend für viele nenne
ich die politischen Gefangenen Valeri Levanowski,
Sergej Skrebets, Nikola Statkevich - er ist schon genannt
worden -, Michail Marinich und Pavel Severinets. Es
gibt viele andere, die wir hier nicht nennen. Wir müssen
in der Zeit nach den Wahlen, wenn sich Lukaschenko
vielleicht sicher fühlt, ein Auge auf sie haben.
({4})
Viele mutige Menschen in der RADA, in der Kinderund Jugendbewegung, von ZUBR, der demokratischen
Studenten- und Jugendbewegung, der zivilen Initiative
„Charta 97“ und des Helsinkikomitees sind darauf angewiesen, dass wir nach den Wahlen nach Belarus
schauen.
Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Was tut
dem Regime Lukaschenko nach den Wahlen weh? Wir
Marieluise Beck ({5})
sind uns hier im Hause einig, dass zum Beispiel das
NGO-Gesetz - genau wie in Russland wirkt es hier verheerend - weiterhin auf der Tagesordnung bleiben muss.
Die Stiftungen müssen weiterhin tätig sein und diese
mutigen Pflänzchen unterstützen.
Es gibt - darüber wird zu sprechen sein - einen reichhaltigen Instrumentenkasten - von der ILO bis zur EU -,
der angewandt werden muss, wenn die Verpflichtungen,
denen sich Belarus selbst unterstellt hat - von gewerkschaftlichen Rechten bis hin zu demokratischen Freiheiten -, nachweisbar nicht eingehalten werden.
Deutschland ist als starker Handelspartner in der Verpflichtung. Es gibt schon jetzt Visabeschränkungen. Es
tut weh, wenn Funktionäre nicht ins demokratische Ausland reisen dürfen. Wir werden über all das zu sprechen
haben.
Es wird auch - in diesem Punkt schließe ich mich Ihnen, Herr Kollege Link, an - eine Frage an den, wie er
jetzt heißt, strategischen Partner Russland zu stellen sein,
nämlich wie lange Russland das System Lukaschenko,
wenn auch mit geteilten Gefühlen, unterstützen wird.
Diese Frage müssen wir Russland stellen, einem Land,
das den Vorsitz in der G 8 inne hat und am 9. Mai den
Vorsitz im Europarat übernehmen wird. Das ist eine Verpflichtung, an die wir Russland erinnern sollten.
({6})
Ganz kurz möchte ich noch einen Punkt ansprechen,
an dem es in diesem Haus vielleicht keine Einigkeit gibt.
Demokratie braucht Freiheit und Diktatoren fürchten
Freiheit. Nichts ist besser, als wenn möglichst viele
junge Menschen, junge Akademiker, junge Wissenschaftler, Schüler und Studenten, sehen, was Freiheit im
Alltag bedeutet. So wie die Amerikaner im Nachkriegsdeutschland mit den Projekten „American Field Service“
und „Youth for Understanding“ ein demokratisches Bewusstsein stiften wollten - womit sie erfolgreich
waren -, müssen wir Möglichkeiten für den Kontakt
mit Demokratien eröffnen. Das heißt, keine kleinmütige Abschottung durch eine restriktive Visapolitik, sondern Möglichkeiten schaffen, um zu reisen oder in einem
anderen Land zu studieren.
({7})
Ich schlage mich in meinem Wahlkreis gerade mit versagten Visen für Studenten herum. Wir müssen Kontakte
zwischen Wissenschaftlern ermöglichen, Stipendien anbieten und Aupairmöglichkeiten bieten. Auch die Kosten in Höhe von 60 Euro für ein Visum, die mit dem
Schengenvisum entstehen, stellen faktisch eine Kontaktsperre für ganz viele Menschen aus einem Land wie
Belarus, wo 60 Euro unendlich viel Geld sind, dar.
({8})
Frau Kollegin, Ihre Redezeit.
Ich kenne diese Situation aus meinem vorherigen
Amt. Ich meine, dass wir Außenpolitiker unseren Kollegen Innenpolitikern sagen sollten, dass neben dem berechtigten Wunsch nach Sicherheit und Schutz vor unberechtigter Einreise auch die Notwendigkeit der Politik
der Öffnung besteht, um Demokratiebewegungen zu
stärken.
Wenn wir uns hierin vielleicht doch einig sind, dann
unterstützen wir Belarus weiterhin in diesem Sinne. Ich
denke, wir schaffen das auch ohne die Linke.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor wenigen Tagen urteilte der ledige Präsident von
Belarus, Alexander Lukaschenko, über sich selbst wie
folgt: „Eine Frau, die mit mir hätte leben müssen, wäre
zu bemitleiden gewesen.“ Ich will diese Selbsteinschätzung ergänzen und sagen: Das belarussische Volk, das
mit diesem Präsidenten leben muss, ist zu bemitleiden.
({0})
Es gibt in Europa wirklich keinen anderen Präsidenten, der sein eigenes Volk dermaßen knechtet, seine
Würde verletzt und die Menschenrechte so mit Füßen
tritt wie Präsident Lukaschenko. Es ist gut, dass wir die
in Belarus bevorstehende Präsidentschaftswahl heute
zum Anlass nehmen, um auf die politische Lage und auf
die massiven Menschenrechtsverletzungen in dieser
Diktatur hinzuweisen.
Durch einige konkrete Beispiele, die manchmal plastischer als pauschale Urteile sind, möchte ich ein Schlaglicht auf die Unterdrückungsmechanismen und auf die
Verletzung der Menschenrechte in Belarus werfen: Mit
Juri Sacharenko, Viktor Gontschar, Anatoli Krassowski
und Dimitri Sawadski verschwanden vier Oppositionelle
völlig spurlos; ihr Verbleiben ist bis heute absolut ungeklärt. Professor Juri Bandaschewski wurde im Juni 2001
zu acht Jahren Gefängnis verurteilt; seine Verurteilung
steht offenbar allein im Zusammenhang mit kritischen
Äußerungen zur Regierungspolitik. Im Mai letzten Jahres wurden die Oppositionspolitiker Nikola Statkevich
und Pavel Severinets zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt - wegen der Demonstrationen nach den gefälschten
letzten Parlamentswahlen. Und erst im November letzten Jahres wurde die Studentin Tatiana Khoma wegen einer so harmlosen Sache wie der Teilnahme an einem
Studentenkongress in Frankreich von der staatlichen
Universität verwiesen.
Der heute vorliegende interfraktionelle Antrag hebt
zu Recht positiv hervor, dass Beobachter der Präsidentschaftswahlen zugelassen sind. Sie dürfen aber nicht,
wie es bei der letzten Parlamentswahl der Fall war, letztlich nur Feigenblätter für Wahlfälschungen und für die
Unterdrückung der Opposition sein.
Schon heute, zehn Tage vor der Wahl am 19. März,
lassen die Berichte, die uns aus Belarus erreichen, nur
Ungutes erahnen: Schülern und Studenten, die im Februar öffentliche Bekenntnisse gegen Lukaschenko und
für die Freiheit in diesem Lande abgelegt haben, drohen
der Verweis von den Universitäten und Verurteilungen.
Unabhängigen Umfrageinstituten wird der Prozess wegen angeblicher Wahlmanipulationen und wegen Staatsverschwörung gemacht. Ausländischen Journalisten
wurde in der vergangenen Woche zum Teil die Einreise
verweigert; ein Journalist wurde sogar deportiert. Am
letzten Donnerstag wurde der Präsidentschaftskandidat
Alexander Kozulin von zivil gekleideter Miliz massiv
verprügelt und für acht Stunden in Haft genommen.
Vorgestern - darauf ist schon hingewiesen worden wurde der Vorsitzende der oppositionellen Vereinigten
Bürgerpartei im Anschluss an eine Wahlkampfveranstaltung festgenommen und direkt zu 700 Dollar Strafe
verurteilt - 700 Dollar sind in diesem Lande ein unbezahlbares Vermögen -, und das allein wegen der Durchführung einer angeblich nicht zulässigen Veranstaltung.
Erst gestern Nachmittag hat die Miliz den Vorsitzenden
der oppositionellen Belarussischen Volksfront, Vincuk
Viacorka, festgenommen. Vor wenigen Stunden ist er zu
15 Tagen Haft verurteilt worden - wegen des Abhaltens
unerlaubter Wahlkampfveranstaltungen. Liebe Freunde,
mit Demokratie und Menschenrechten ist all das völlig
unvereinbar.
({1})
Wir in diesem Hause tun gut daran, die demokratischen Kräfte in Belarus zu unterstützen. Wir erwarten
von der dortigen Regierung, dafür zu sorgen, dass die
Kandidaten, ihre Parteien und ihre Unterstützer bei ihren
Wahlkämpfen und die Journalisten bei ihrer Berichterstattung in keiner Weise behindert werden. Wir erwarten nichts anderes als freie und gerechte Wahlen und einen fairen Umgang mit den Wahlverlierern, wer auch
immer das sein mag.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/816 mit dem Titel „Belarus vor den Präsidentschaftswahlen 2006“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Antrag ist angenommen mit Zustimmung des ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS.
({0})
- Der Linksfraktion, Entschuldigung.
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Dyckmans, Birgit Homburger,
Hartfrid Wolff ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
GmbH-Gründungen beschleunigen und entbürokratisieren
- Drucksache 16/671 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Es ist verabredet, darüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
dieser Diskussion über einen unserer Nachbarn im nahen
Ausland kommen wir wieder zurück nach Deutschland
und wenden uns den Problemen in unserem Land zu.
Wir Liberalen reden nicht nur von Entbürokratisierung, sondern wir tun auch etwas dafür.
({0})
Anders als die Bundesregierung, die sich zwar auch den
Abbau von Bürokratie auf die Fahne geschrieben hat,
aber weder das angekündigte Programm zur Bürokratiekostenmessung vorlegt, noch den Normenkontrollrat
eingesetzt hat, geht die FDP mit dem Ihnen heute vorliegenden Antrag den eingeschlagenen Weg konsequent
weiter, sich für Entbürokratisierung einzusetzen. Wie bereits in der letzten Legislaturperiode zeigt unsere Fraktion in fast jeder Sitzungswoche exemplarisch auf, wo
unnötige Bürokratie konkret abgebaut werden kann. Der
Antrag, der Ihnen heute vorliegt, ist in dieser Wahlperiode bereits der sechste Antrag, den die FDP-Bundestagsfraktion zum Thema Bürokratieabbau vorgelegt hat,
und ich darf Ihnen ankündigen und versichern, dass wir
weiterhin Wege zur Entbürokratisierung aufzeigen werden.
({1})
Ich komme zu dem Antrag. Auch der FDP ist natürlich nicht entgangen, dass die Regierungskoalition das
GmbH-Recht ändern will; das hat die Bundesjustizministerin wiederholt angekündigt.
({2})
Aber Ankündigungen allein reichen nicht.
({3})
Zum jetzigen Zeitpunkt liegen noch nicht einmal offizielle Eckpunkte vor.
({4})
Der Bürger muss sich bisher auf die wenigen, sehr groben Zielvorgaben im Koalitionsvertrag verlassen.
({5})
Mit unserem heutigen Antrag sprechen wir von der
FDP einen wichtigen Aspekt der Entbürokratisierung an
und zeigen gleichzeitig, in welche Richtung eine Reform
des GmbH-Rechts gehen muss.
({6})
Wenn die GmbH mit ihrer über 100-jährigen Tradition
im Wettbewerb der Rechtsformen bestehen und der europäischen Privatgesellschaft als Vorbild dienen soll,
dann muss vor allem die Schwerfälligkeit des Gründungsvorgangs behoben werden: Die Gründung einer
GmbH in Deutschland ist zu langwierig und zu kostspielig.
({7})
Während andere europäische Staaten die Möglichkeit einer Blitz-GmbH - so Spanien -, einer Online-GmbH
- Dänemark - oder ganz einfach allgemein die rasche
und einfache Gründung von Gesellschaften propagieren,
wie England mit der Limited, vergehen in Deutschland
von der Beurkundung des Gesellschaftsvertrages bis zur
Eintragung in das Handelsregister mehrere Wochen.
Hier setzt unser Antrag an.
Mit der Streichung von § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz kann der Gründungsvorgang vereinfacht und beschleunigt werden, ohne dass wirklich notwendige und
effektive Kontrollmöglichkeiten des Staates beeinträchtigt werden. In § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz wird für
die Eintragung einer GmbH die Vorlage sämtlicher behördlicher Genehmigungsurkunden verlangt, wenn der
Unternehmensgegenstand der GmbH nach anderen
Rechtsvorschriften einer solchen staatlichen Genehmigung bedarf. Hierdurch wird die Eintragung erheblich
verzögert, da zunächst die Frage der Genehmigungsbedürftigkeit oder Genehmigungsfähigkeit beantwortet
werden muss.
Einziger Sinn dieser Regelung ist, zu verhindern, dass
eine juristische Person entsteht, der im Zeitpunkt der
Eintragung die wegen ihres Unternehmensgegenstands
notwendige staatliche Genehmigung fehlt. Alle staatlichen Behörden sind jedoch auch außerhalb dieses Paragrafen dazu verpflichtet, eine Tätigkeit, die ohne eine
erforderliche Genehmigung betrieben wird, zu unterbinden. Wird zum Beispiel eine zuvor erteilte Genehmigung
nach der Eintragung in das Handelsregister widerrufen,
dann hat dies weder auf die Eintragung noch auf den eingetragenen Unternehmensgegenstand Einfluss.
({8})
Eine Löschung von Amts wegen ist grundsätzlich nicht
gerechtfertigt und selbst eine zu Unrecht erfolgte Eintragung in das Handelsregister bleibt zunächst bestehen.
({9})
Die notwendige Genehmigung wird nachgefordert und
im üblichen Genehmigungsverfahren notfalls mit
Zwangsgeldern erzwungen.
Es gibt somit keinen Grund, an der Regelung des § 8
Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz festzuhalten. Auch nach der
Streichung dieser Vorschrift bleiben die Verantwortlichen der GmbH ebenso wie die Fachbehörden verpflichtet, alle notwendigen Genehmigungen einzuholen bzw.
auf deren Einholung zu achten.
Für den Existenzgründer ist jedoch wichtig, dass er
seine wirtschaftliche Betätigung umgehend und unbürokratisch aufnehmen kann.
({10})
Hierfür ist es erforderlich, dass er die Vorteile, die ihm
die Rechtsform der GmbH bietet, möglichst schnell nutzen kann, das heißt, dass die GmbH schnell entsteht.
Frau Dyckmans, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Abschließend möchte ich
noch klarstellen, dass wir mit diesem Antrag natürlich
nur einen Teilaspekt der GmbH-Reform aufzeigen. Das
geltende Recht ist an vielen Stellen reformbedürftig.
Wenn uns der Herr Staatssekretär sagen kann, wann
das Justizministerium einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegt, dann werden wir zu gegebener Zeit sicherlich noch darüber zu diskutieren haben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! So, wie
sich die Marke VW Golf in der Automobilbranche millionenfach als Erfolgsmodell für die gute Mittelklasse
etabliert hat, so ist die GmbH seit ihrer Geburtsstunde im
Jahre 1892 zu dem bevorzugten Modell für unsere mittelständischen Unternehmen geworden. In unserem
Land gibt es über 1 Million Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Wie schön also, dass die GmbH rollt
und rollt und rollt.
Doch Vorsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, es
wäre völlig verkehrt, sich selbstzufrieden auf den vermeintlichen Lorbeeren auszuruhen.
({0})
Denn, Herr Benneter, Erfolgsmodelle bleiben nur dann
erfolgreich, wenn sie den veränderten Wünschen und
Bedürfnissen von Zeit zu Zeit angepasst werden. Dabei
stehen nicht nur die Wünsche der Kunden im Vordergrund. Selbstverständlich spielen auch der Markt insgesamt und damit auch die Konkurrenten und deren attraktive oder auch nicht attraktive Angebote eine Rolle.
Nun hat sich der Markt - um präzise zu sein: der europäische Markt - auch im Gesellschaftsrecht erheblich
verändert. Lange lebten wir in Deutschland quasi abgeschottet in einer Art Paradies. Neben der GmbH als
Golf-Klasse gab es auch die gut etablierte Aktiengesellschaft, wenn man so will: die S-Klasse von Mercedes.
Attraktive Kleinwagen waren dagegen nicht im Angebot
und entsprechenden Modellen aus dem Ausland war der
Zutritt auf den deutschen Markt nicht gestattet.
Diese Zeiten gehören inzwischen der Vergangenheit
an. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
- zuletzt die Inspire-Art-Entscheidung aus dem
Jahre 2003 - hat dazu geführt, dass europäische Gesellschaften hierzulande unter fremder Flagge operieren
dürfen. So stehen Firmengründern aus Deutschland alle
in der EU angebotenen Gesellschaftsformen zur Verfügung. Auf diese ausländischen Gesellschaftsformen
wird in Deutschland rege zugegriffen. Wir als Gesetzgeber müssen wissen, dass wir damit spätestens seit 2003
innerhalb Europas in einem echten Wettbewerb stehen.
Auch beim Verbraucher dürften die für ihn neuen Kürzel
Ltd., S.L., Inc., IBC oder Corp. der Firmen für mancherlei Verwirrung sorgen.
Am bekanntesten und attraktivsten scheint dabei für
deutsche Existenzgründer die britische Limited zu sein.
Mittlerweile erfolgt fast jede fünfte Neugründung einer
Kapitalgesellschaft in unserem Land in der Form der
Limited. Oder in absoluten Zahlen ausgedrückt: Mehr
als 30 000 Limiteds haben sich in unserem Land inzwischen etabliert. Offensichtlich stellt aus der Sicht vieler
Existenzgründer der mit einer GmbH-Gründung verbundene Zeit- und Kapitalaufwand eine Hürde dar,
({1})
die sie dazu veranlasst, nach anderen rechtlichen Einkleidungen ihrer Unternehmungen zu suchen. Allerdings
zweifle nicht nur ich sehr daran, dass jeder auch wirklich
weiß, auf was er sich einlässt, wenn er sein Geschäft in
der Form der Limited gründet.
({2})
Dennoch müssen wir uns als Gesetzgeber fragen lassen: Warum werden deutsche Rechtsformen mehr und
mehr verschmäht? Warum gibt es bisher kein entsprechendes Angebot in der Modellpalette unseres deutschen
Gesellschaftsrechts? Wollen wir ein Angebot offerieren
und, wenn ja, in welcher Form? Die vorgeschlagene Änderung - Frau Dyckmans, Sie haben es gesagt - war nur
ein Teilschritt. Damit allein kann man das Problem nicht
lösen. Das ist ein sektoraler Begriff und würde zu kurz
greifen, wie Sie selbst eingeräumt haben.
({3})
Schnelligkeit und Unkompliziertheit sind das eine.
Wir müssen uns neben vielen anderen Fragen auch die
Frage stellen, ob wir auf ein Mindestkapital bei der bestehenden GmbH oder einer anderen, neuen Rechtsform
verzichten wollen, und, wenn ja, wie dies durch andere
Instrumente des Gläubigerschutzes aufgefangen werden
muss.
Nun ist mir der Hinweis sehr wichtig, dass wir nicht
nur die Wünsche und Interessen einer bestimmten
Gruppe von Existenzgründern im Auge haben dürfen
- so berechtigt das ist -, sondern auch einer Antwort des
Gesetzgebers bedürfen. Es gibt auch ein paar Missstände
und offene Punkte im bestehenden GmbH-Recht, die
ebenso entschlossen und gründlich anzugehen sind. Lassen Sie mich in diesem Kontext nur die Geschäftsführerhaftung und die so genannten Bestattungsfälle - komischer Ausdruck, aber so heißt das nun einmal erwähnen, ohne dass ich jetzt darauf näher eingehen
will.
Der Reformbedarf jedenfalls ist eindeutig vorhanden
und in diesem Haus offenbar auch unstreitig. Nach meiner Überzeugung - diese Überzeugung wird von meiner
Fraktion geteilt - ist die Reform des GmbH-Rechts eines
der wichtigsten Projekte in der Rechtspolitik. Manchmal
hat man hier den Eindruck, die Reformen beschränken
sich auf das Strafrecht.
({4})
Ich kann Ihnen deshalb hier und heute versichern,
dass die CDU/CSU-Fraktion an dieser Diskussion engagiert und sachkundig teilnehmen wird.
({5})
Schließlich haben wir in unserem Koalitionsvertrag als
Ziel einer Novellierung des GmbH-Gesetzes die Erleichterung und Beschleunigung der Gründung, die Steigerung der Attraktivität als Unternehmensform und die
Bekämpfung von Missbräuchen bei Insolvenzen ausdrücklich benannt.
({6})
Aber bei aller Reformnotwendigkeit und Reformfreude sollten wir eines nicht aus den Augen verlieren
- das ist jedenfalls mir ein wichtiges Anliegen -: Die
millionenfach real existierende GmbH ist ein wohl eingeführtes Markenprodukt, das als durch und durch solide
Rechtsform für den Mittelstand konzipiert worden ist.
Die Entwicklung nach unten - das bekannte Schlagwort
lautet „race to the bottom“ -, die sie in den letzten Jahrzehnten genommen hat, hat der Rechtsform bereits erheblich geschadet. Daher werbe ich sehr dafür, dass wir
bei der Gesamtreform ständig im Auge behalten, vor alDr. Jürgen Gehb
lem die Solidität der GmbH aufrechtzuerhalten oder sie
wieder neu herzustellen.
({7})
Es wäre mehr als bitter, wenn das deutsche Marken- und
Erfolgsprodukt GmbH nach einer Reform in dieser Legislaturperiode dadurch abgewertet würde, dass man
diese Rechtsform nur noch als GmbH light wahrnimmt.
({8})
Wir müssen daher in unserer Diskussion ernsthaft der
Frage nachgehen, ob alle Wünsche, Bedürfnisse und Reformnotwendigkeiten in einer einzigen Rechtsform optimal zu befriedigen sind.
Schließlich müssen sich auch Autobauer - um auf
diese Metapher zurückzukommen - immer wieder überlegen, mit welchen Produkten sie am Markt Erfolg haben. Reicht ein Modell für alle Zielgruppen? Reicht es
aus, den von mir bereits erwähnten Golf abzuspecken,
um zusätzliche Kleinwagenkäufer zu gewinnen? Verliere
ich, wenn ich dies tue, dadurch vielleicht alte Golfliebhaber, für die der Golf dann nicht mehr der solide, starke
Mittelklassewagen ist? Ist es dann vielleicht doch besser,
zusätzlich einen Kleinwagen in die Angebotspalette mit
aufzunehmen, damit die spezifische Nachfrage trennscharf und zielgenau bedient wird?
({9})
Es ist nicht nur für Autobauer bitter, wenn ein neues
Produkt weder Fisch noch Fleisch ist und dadurch
schlicht und einfach vom Kunden verschmäht wird. Dies
sollte jedenfalls nicht das Ergebnis zu vieler und womöglich fauler Kompromisse innerhalb einer - ich betone: notwendigen - GmbH-Reform sein.
Lassen Sie uns deshalb die Reform unseres Gesellschaftsrechts zügig anpacken und mutige Schritte gehen.
Orientieren wir uns am Mut des Gesetzgebers im
Jahr 1892. Damals wurde der bereits etablierten Aktiengesellschaft eine Innovation namens GmbH zur Seite gestellt, die äußerst skeptisch beäugt wurde. Das Vorhaben
wurde trotzdem zum größten Erfolg des deutschen Gesellschaftsrechts. Vielleicht wäre ja einem neuen Gesellschaftsrechtstyp - freilich neben der zu reformierenden
GmbH und unabhängig von seiner Etikettierung als
„Kaufmanns-mbH“, „Unternehmensgründergesellschaft“
oder wie auch immer - eine ähnliche Erfolgsgeschichte
beschieden wie der in die Jahre gekommenen GmbH.
Wie Franz Beckenbauer sagen würde: „Schau’n mer
mal!“
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dieter Dehm, Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie ahnen bereits: Wenn hier ein Vertreter der SEDNachfolgeorganisation spricht, dann muss es um den
Kampf gegen den Staatsbürokratismus gehen.
({0})
- Warten Sie einen Moment! Sie werden vielleicht noch
einen Grund haben, das freundliche Lachen beizubehalten.
Die Streichung von § 8 Abs. 1 Nr. 6 GmbH-Gesetz,
die die FDP fordert, kann tatsächlich Start-ups und Existenzgründern den Papierkrieg erleichtern, und dies konkret über das hinaus, was der Koalitionsvertrag im Duktus sattsam bekannter Mittelstandssonntagsreden wolkig
verkündigt. Ich habe in meinem Leben schon einige
GmbHs gegründet, die übrigens alle noch erfolgreich arbeiten
({1})
- Sie sehen, das ist unsere Mittelstandsorientierung -,
und weiß, welcher Irrsinn vor der Registereintragung
lauert.
Der Alltag der Klein- und Mittelverdiener in diesem
unserem Land ist hoffnungslos überreguliert - das habe
ich übrigens auch festgestellt, lieber Reinhard Schultz,
als ich Bundesvorsitzender der 43 000 sozialdemokratischen Unternehmer in Ihrer Partei war -, während über
der Deutschen Bank, dem Allianzkonzern und BMW der
blaue Himmel von Steuerfreiheit und Regelfreiheit
strahlt. Das ist die Wahrheit.
({2})
Der Gläubiger - gerade im Handwerk - muss bei jeglicher GmbH-Novellierung künftig stärker geschützt
werden. Dabei sollte das gezeichnete Stammkapital für
Geschäftspartner transparenter werden. Möglicherweise
muss das Stammkapital auch sukzessive dem Umsatz
angepasst werden. Es geht nicht an, Kollege Gehb, dass
jemand mit einer Mindesteinlage von 25 000 Euro Geschäfte mit einem Umsatz von vielen Millionen tätigt
und der Gläubiger regelmäßig und vorgezeichnet ins
Leere greifen muss.
({3})
- Sie kennen die Realität. In meinem Heimatort Eiterfeld
ist ein Handwerksunternehmen einem Generalunternehmer aufgesessen, dem er Fenster eingebaut hat. Wie Sie
wissen, kann man die Fenster dann nicht mehr zurückholen. Das alles sind auch die Folgen von Intransparenz.
Ich denke, an dieser Stelle sollte bei der Novellierung
nachgearbeitet werden. Darin sollten wir uns in diesem
Hause einig sein.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie
machen es mir als dem Dachverbandsvorsitzenden der
linken Mittelstandsorganisation OWUS nicht eben leicht
mit Ihrem Antrag. Im Feststellungsteil zitieren Sie meines Erachtens zu oft die Stiftung Marktwirtschaft. Das
ist eine Lobby der Konzerne und Großbanken im mittelständischen Tarnanzug.
({4})
Das Hauptproblem unserer Kleinunternehmen ist
nicht der überkommene GmbH-Eintragungsmarathon,
den Sie verkürzen wollen, sondern es sind die mangelnde Binnenkaufkraft und die Arbeitslosigkeit. Der
Feind der Kleinunternehmen sind erst recht nicht die Gewerkschaften, wie uns die Stiftung Marktwirtschaft und
die Arbeitgeberverbände einbläuen wollen. Der Gegner
unseres Handwerks ist vielmehr die politische Übermacht der Konzerne und der Großbanken. Deshalb
unterstütze ich als linker Unternehmer den Streik von
Verdi; denn eine um 18 Minuten kürzere Arbeitszeit
kann 250 000 Arbeitsplätze und damit die entsprechende
Kaufkraft retten.
({5})
Ich bin außerdem für Mindestlöhne als Maßnahme zur
Erhöhung der Kaufkraft und gleichzeitig gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Des Weiteren streite ich für
eine aktive Mittelstandspolitik und den Gläubigerschutz,
aber auch für die Entrümpelung starrer Regeln, welche
die Kleinunternehmen drangsalieren.
Undogmatisch, wirtschaftskompetent und pragmatisch, wie wir Linken von Haus aus sind,
({6})
nehmen wir uns also die Freiheit, sowohl für den Streik
von Verdi einzutreten als auch für den FDP-Antrag zu
votieren.
({7})
Das Wort erhält der Kollege Klaus Uwe Benneter,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe ebenfalls schon viele
GmbHs gegründet, allerdings nicht für mich. Herr Kollege Dehm, ich weiß, dass Sie sehr viele gegründet haben. Ich hoffe, dass Sie nicht allzu viele zugrunde geritten haben.
({0})
Ich weiß zwar, dass es bürokratische Hindernisse und
Überregulierung beim Gründungsvorgang gibt. Aber
bei der Lösung der Probleme im Parlament isoliert vorzugehen und ausschließlich den Schlussfolgerungen der
Stiftung Marktwirtschaft zu folgen, wie es die FDP tut,
halte ich nicht für den richtigen Ansatz. Sie wissen genau, dass wir längst dabei sind, eine gründliche und seriöse Reform des GmbH-Rechtes zu machen. Wir haben
das - Herr Dr. Gehb hat es schon dargelegt - im Koalitionsvertrag festgelegt. Wir haben schon zum Ende der
letzten Legislaturperiode den Entwurf eines Gesetzes zur
Herabsetzung des Mindestkapitals eingebracht, um eines
der größten Hindernisse, gerade was die Wettbewerbsfähigkeit von kleinen Kapitalgesellschaften angeht, zu
beseitigen und die GmbHs zu stärken. Dieser Gesetzentwurf ist aber der Diskontinuität zum Opfer gefallen.
Nun befindet sich der Entwurf eines Gesetzes in der
Ressortabstimmung - das werden Sie sicherlich wissen;
der Stiftung Marktwirtschaft wird das jedenfalls nicht
verborgen geblieben sein -, das dem Abbau von Überregulierung dienen soll. Überregulierung ist aber nur das
eine. Die Stiftung Marktwirtschaft spricht ständig von
einem Regelsumpf, den es auszutrocknen gelte. Das will
ich so nicht stehen lassen. Es gibt sehr wohl vernünftige
staatliche Genehmigungsvorschriften. Ich erinnere beispielsweise daran, dass jemand, der eine Makler-GmbH
gründen will, nach § 34 c der Gewerbeordnung eine entsprechende Genehmigung benötigt. Diese Genehmigung
ist nicht Ausdruck von Überregulierung, sondern dient
ganz konkret dem Verbraucherschutz und letztlich
auch dem Gläubigerschutz. Das sollten wir bei der anstehenden Reform berücksichtigen.
({1})
Zur baden-württembergischen FDP scheint die Stiftung Marktwirtschaft übrigens keinen direkten Zugang
zu haben; denn Baden-Württemberg hat, wie ich mir
habe sagen lassen, im Bundesrat - wahrscheinlich wegen des Wahlkampfes - einen Antrag im Zusammenhang mit der Einführung des elektronischen Handelsregisters eingebracht, der vorsieht, dass die IHKs als
Vorprüfstelle bundesweit neu tätig werden sollen. So
viel zur Überregulierung im Gründungsstadium.
({2})
Wie gesagt, das muss daran liegen - anders ist es nicht
zu erklären -, dass die Stiftung Marktwirtschaft auf die
baden-württembergische FDP keinen so direkten Zugriff
hat wie offensichtlich auf die Kasseler FDP - auf die
FDP, Herr Kollege Gehb, auf sonst niemanden.
Das Entfallen aller staatlichen Genehmigungen im
Gründungsvorgang muss man sich genau anschauen. Es
gibt hier viele Schutzvorschriften für die Verbraucher
und für die Gläubiger. Sie wissen, der Regierungsentwurf beschäftigt sich gerade damit, den Gläubigerschutz
zu verbessern und insbesondere die Haftung der Geschäftsführer stärker ins Auge zu fassen. Das betrifft die
Phase, in der die GmbH schon zahlungsunfähig ist und
dennoch luftige Geschäfte zum Schaden derer gemacht
werden, die sich von solchen GmbHs Geld abknöpfen
lassen.
Wir alle wissen, dass das Stammkapital einer GmbH
längst nicht mehr tatsächlich zur Haftung beiträgt. Die
Banken und diejenigen, die sich sonst in Geldgeschäften
auskennen, begnügen sich nicht mit der Aussage etwa
eines Herrn Dehm, er habe eine GmbH gegründet, und
betrachten diese Gründung nicht ohne weiteres als seriöse Firma, der man Geld leihen kann, sondern sie verlangen auch von Herrn Dehm die Grundbuchauszüge der
ihm persönlich gehörenden Grundstücke. Erst dann geKlaus Uwe Benneter
ben sie Geld, damit Herr Dehm seine Aktivitäten entfalten kann.
Wir machen eine GmbH-Reform aus einem Guss. Wir
schauen uns das genau an und prüfen auch die Frage der
Überregulierung. Wir schauen uns auch den § 8 an.
({3})
Sie können sicher sein, dass wir eine seriöse und gründliche Reform machen.
({4})
- Jetzt wollten Sie eine Zwischenfrage stellen.
Würden Sie die genehmigen?
Aber bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Benneter, Sie haben jetzt erzählt, wie
viele Augen Sie auf alle möglichen Dinge in diesem Bereich werfen wollen und was die anderen schlecht, zu
wenig oder zu viel machen. Sie sagen, Sie wollten etwas
tun. Kriege ich von Ihnen hier die Zusage, dass wir im
Parlament noch vor der Sommerpause einen Gesetzentwurf bekommen, und bekomme ich von Ihnen die Zusage, dass zum Ende des Jahres ein Gesetz im Gesetzblatt steht?
({0})
Es ist ja einerseits schön, wenn man etwas kritisiert; andererseits haben Sie aber bisher keine konkreten Zusagen gemacht.
({1})
Fragen Sie erst einmal die Regierung!
Ich bin zwar nicht der Bundesjustizminister, ich höre
aber von dem zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär, dass ich Ihnen zusagen kann, dass wir bis zur Sommerpause einen Entwurf haben werden. Wenn wir den
bis zur Sommerpause hier im Parlament haben, dann
werden wir ihn auch bis Ende des Jahres beraten und
verabschiedet haben.
({0})
Sie können also Ihre Klientel von der Stiftung Marktwirtschaft trösten. Sagen Sie ihnen, dass wir einen Entwurf einbringen.
({1})
Vielleicht können Sie bis dahin Ihr isoliertes Anliegen
zurückstellen.
Das ist eigentlich ein schönes Schlusswort.
Ja?
Danke schön.
({0})
Das Wort hat Matthias Berninger, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
zunächst einmal sehr froh über die Ankündigung, dass
wir noch vor der Sommerpause einen Gesetzentwurf zur
Novellierung des GmbH-Rechts bekommen. Ich halte es
für richtig, dass wir hier für Tempo sorgen. Ich halte es
für notwendig, dass im Jahr 2007 für die Unternehmerinnen und Unternehmer, und zwar nicht nur für diejenigen,
die neu gründen, sondern auch für solche, die schon tätig
sind, was das GmbH-Recht angeht, für Klarheit gesorgt
wird. Denn die Diskussion über die Novellierung des
GmbH-Rechts, die schon zu Zeiten der rot-grünen
Koalition begonnen hat, kann in der Tat langsam zum
Abschluss kommen. Daher freue ich mich sehr über die
Ankündigung.
({0})
Ich will auch sehr deutlich sagen, dass wir das Anliegen der FDP-Fraktion unterstützen; denn die eine Frage
ist, ob sich ein Unternehmer an alle rechtlichen Regeln
halten muss, beispielsweise der gefürchtete Makler, und
die andere Frage ist, ob der Prozess einer Unternehmensgründung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden muss. Ich glaube, dass man im Vertrauen darauf, dass sich die Unternehmerinnen und
Unternehmer an die Regeln halten, den Gründungsvorgang - nur darum geht es bei dem Antrag - durchaus beschleunigen kann.
Dass die FDP allerdings stolz darauf ist, jede Woche
einen kleinen Antrag zum Bürokratieabbau zu präsentieren, trägt zum Bürokratieaufbau bei.
({1})
Es gibt beispielsweise die Möglichkeit - das wäre ein
Kompromiss -, immer fünf Anträge zu bündeln, sodass
wir hier schneller vorankommen können. So wichtig Bürokratieabbau ist: Man darf es letzten Endes nicht zu einer Schauveranstaltung kommen lassen.
({2})
Ich hoffe, dass dieser Antrag ein Signal für den Regierungsentwurf ist, Herr Staatssekretär Hartenbach, das
dann auch aufgegriffen wird; denn damit ist in der Tat
eine kleine, aber feine Beschleunigung des alten Käfers
oder Golfs GmbH-Recht verbunden.
Ich habe heute genau zugehört, um zu erfahren, was
in der großen Koalition so über die Frage, ob es ausreicht, am GmbH-Recht Änderungen vorzunehmen, diskutiert wird. Der Kollege Gehb hat hier ein paar weiter
gehende Vorschläge gemacht - wir kennen uns aus Kassel -, die mir - das kommt ja nicht so oft vor - sehr sympathisch sind.
({3})
- Das ist mal festzuhalten. In Kassel wird das das Thema
des Wochenendes sein.
Die Frage, welche Gesellschaftsform die richtige ist,
beschäftigt uns schon sehr lange. Stellt man sich die
Frage, ob die Limited, die Limited Liability Partnership
oder andere aus dem Amerikanischen kommende Gesellschaftsformen als Wettbewerber die richtige Gesellschaftsform sind, dann erkennt man, dass wir zu kurz
springen, wenn wir uns nur um die GmbH kümmern.
Der Kollege Gehb hat völlig Recht, dass wir uns darüber
hinaus viel stärker um die anderen Gesellschaftsformen,
um die klassischen Personengesellschaften, kümmern
müssen.
Das macht auch Sinn. Vergleichen wir einmal diese
Debatte um Gesellschaftsformen mit der Debatte um das
Unternehmenssteuerrecht. Da wollen wir eine Angleichung; wir wollen den Unternehmerinnen und Unternehmern möglichst viele Wahlfreiheiten offerieren. Es
macht Sinn, dass wir auch bei der Wahl der Gesellschaftsform in diese Richtung gehen. Daher glaube ich,
dass die Änderungen im BGB und im Handelsrecht, die
dazu zu erfolgen haben - die Personengesellschaften
müssen stärker als Unternehmensform mit beschränkter
Haftung gelten -, der richtige Weg sind.
({4})
Wir werden hierzu konkrete Vorschläge unterbreiten.
Man muss sagen: Es wachsen schon ein paar zarte
Pflänzchen. Bayern, das im Bundesrat initiativ geworden
ist, tritt für einen Kaufmann mit beschränkter Haftung
ein. Das ist fein. Die einzige Frage, die man beantworten
muss, ist: Warum soll es nur einen Kaufmann mit beschränkter Haftung geben? Es gibt auf dem ganzen boomenden Markt industrienaher Dienstleistungen viele
neue Formen von Kooperation und viele neue Anforderungen auch an ein vernünftiges Gesellschaftsrecht. Wir
wären richtig gut beraten, wenn wir der Limited oder anderen ausländischen Gesellschaftsformen nicht hinterherrennen würden; vielmehr sollten wir dafür sorgen,
dass wir in Deutschland einfach das modernste Recht
und damit sehr viel Freiheit haben. Das sollte unser Ziel
sein. An der Erreichung dieses Ziels wollen wir Grüne
gerne mitarbeiten.
({5})
Das Wort hat zum Schluss der Debatte der Kollege
Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich halte die isolierte Perspektive, sämtliche Nachweispflichten ersatzlos zu streichen und anonyme Gestalten mit möglicherweise nicht vorhandenem Kapital
- sie haben nach anderen Geschäften eventuell Überschuldung hinterlassen -, die sich strafbar gemacht haben und ohne festen Wohnsitz sind, eine GmbH anmelden zu lassen, für nicht besonders günstig. Insofern muss
man sich genau überlegen, welche Nachweispflichten
zum Zeitpunkt der Eintragung erforderlich sind, welche
möglicherweise nachzureichen sind und auf welche man
verzichten kann. Bestimmte Nachweise sind aber unverzichtbar. Das gilt auch für diejenigen hinsichtlich der
Zulassung von besonderen Berufen.
Was hat ein Gründer, der als Makler, Bauträger oder
Finanzdienstleister tätig werden will, davon, wenn er
Chef einer eingetragenen GmbH ist, aber noch nicht tätig
werden darf, weil er noch keine Genehmigung nach
§ 34 c Gewerbeordnung hat? Falls er tätig würde, machte
er sich sogar strafbar. Man muss also den Zusammenhang sehen. Selbst das formale Vorziehen eines Gründungsaktes nützt einem Gründer nichts, wenn er nicht tätig werden darf.
Trotzdem bin ich für eine Straffung. Man muss das
Ganze aber in eine GmbH-Reform einbetten, bei der
auch andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Ich
bin froh darüber, dass das Justizministerium angekündigt
hat, bereits Ende März/Anfang April einen Referentenentwurf einzubringen. Das würde bedeuten, dass uns vor
der Sommerpause tatsächlich ein Gesetzentwurf vorliegt. Daran könnten wir uns alle fantasiereich abarbeiten.
Natürlich gibt es Herausforderungen von außen wie
die Limited. Ich sehe, dass es zwar eine große Zahl von
Firmen gibt, die als eine solche Gesellschaftsform gegründet worden sind. Spaß bereitet das aber all diesen
Firmen nicht unbedingt; denn die Gründung muss in
England erfolgen. Hier haben sie nur eine Zweigniederlassung. Sie haben einen englischen Notar zu beschäftigen. Selbst Kleinstunternehmen haben jährlich Berichte
abzuliefern, die gegen horrende Gebühren notariell bestätigt werden müssen. Das heißt, sie haben am Anfang
zwar nur geringe Kosten, aber laufend relativ hohe Kosten, und zwar in England, mit all den damit verbundenen
Problemen. So lustig ist das alles für die überhaupt nicht.
Das spricht sich auch zunehmend herum. Insofern sehe
ich da die Konkurrenz nicht.
Die Frage der Höhe des Eigenkapitals ist zu diskutieren. Da sind zwei Dinge zu beachten. Auf der einen Seite
wollen wir die Eigenkapitalstärkung der Unternehmen
- das ist ein großes Wort - und auf der anderen Seite soll
hier jemand mit beschränkter Haftung tätig werden, der
nur einen Euro auf der Bank hat. Das ist natürlich eine
ganz witzige Angelegenheit. Es ist schon dargestellt
worden: Das läuft sich letztlich tot, weil die Haftung des
Unternehmens selber dann so gut wie keine Rolle mehr
spielt.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Berninger zulassen?
Selbstverständlich. Den Berninger kann ich gut leiden.
({0})
- Ich komme nicht aus Kassel.
Bitte schön.
Herr Kollege Schultz, das beruht, wie Sie seit der
Biokraftstoffdebatte wissen, auf Gegenseitigkeit.
Weil Sie wieder diesen Habenichts angesprochen haben, der mit einem Euro in der Tasche etwas gründet,
frage ich Sie: Sind Sie mit mir der Meinung, dass die
Gründer von Google, die nicht mal einen Dollar in der
Tasche hatten, ihr Unternehmen in Deutschland möglicherweise nicht gegründet hätten, sondern in den öffentlichen Dienst gegangen wären, weil in Deutschland das
Klima herrscht, dass man erst Geld braucht, bevor man
eine Idee in Arbeitsplätze umsetzen kann?
Herr Berninger, ich gebe Ihnen völlig Recht. Zunächst einmal hängt der Kapitalbedarf natürlich auch
vom Unternehmensgegenstand ab. Wenn man kein
schweres Gerät braucht, sondern wenn es lediglich gilt,
pfiffige Ideen an einem Computer, den man noch aus der
Studentenzeit hat, zu verwirklichen, ist der Kapitalbedarf natürlich deutlich geringer als bei anderen Geschäften, bei denen man mit Kunden größere Gewerke durch
irgendeine Art von Haftung abzusichern hat. Die kann
durch das Gesellschaftskapital oder - wie am Beispiel
vom Kollegen Dehm dargestellt worden ist - durch das
persönliche Vermögen gegeben sein. Nur, je geringer das
haftende Kapital ist, umso mehr werden natürlich die
Gesellschafter persönlich in Haftung genommen. Die
Idee der Gesellschaft mit beschränkter Haftung hebt sich
dann auf. Im Grunde genommen haben wir in Wirklichkeit haftungsmäßig dann die BGB-Gesellschaft, bei der
sozusagen jeder gesamtschuldnerisch haftet. Das ist
schon längst die Situation. Insofern muss man immer
schauen, wo man letztlich landet. Aber ich gebe Ihnen
Recht - da pflichte ich Ihnen voll bei -: Natürlich muss
nicht jeder 25 000 Euro haben, um eine Geschäftsidee zu
verwirklichen.
Nur, es gibt ein Spannungsverhältnis. Auf der einen
Seite haben Firmen einen bestimmten Eigenkapitalbedarf und auf der anderen Seite besteht die Versuchung,
es den Leuten leicht zu machen; dann besteht aber die
Gefahr, dass die als Gründer die Risiken häufig unterschätzen.
Ihren Hinweis auf die Unternehmensteuerreform,
Herr Berninger, finde ich wichtig. Wenn wir wirklich das
Ziel verfolgen, eine Unternehmensteuerreform im Großen und Ganzen rechtsformneutral und finanzierungsneutral hinzubekommen, dann müssen wir natürlich
auch bei der Ausgestaltung des Unternehmensrechts, ob
bei der GmbH oder bei der Personengesellschaft,
schauen, wie das eigentlich passend zu machen ist. Das
hat ohne Frage Auswirkungen. Insofern könnte die
kleinste Gesellschaft oder eine ganz kleine Gesellschaft,
die sozusagen aus der Personengesellschaft hervorgeht,
dann aber in Grenzen bilanzierungspflichtig wäre, eine
Möglichkeit sein. Darüber denken wir - ich bin ja Finanzpolitiker - auch nach. Da müssen diejenigen, die
über das Gesellschaftsrecht nachdenken - deswegen
rede ich heute auch, obwohl ich mit euch sonst nichts zu
tun habe -, und diejenigen, die über das Steuerrecht
nachdenken, sehr eng zusammenrücken. Das werden wir
in den nächsten Monaten, in diesem Sommer auch tun.
Die Frage zum Kaufmann war eine Sachfrage, die ich
Ihnen gern beantworten will. Weil jeder, der ein Geschäft betreibt, im Sinne des BGB Kaufmann ist, auch
wenn er Installateur ist,
({0})
ist der Begriff des Kaufmanns oder der Kaufmannsgesellschaft keine in dem Sinne berufsspezifische, sondern
eigentlich eine aus dem bürgerlichen Recht hergeleitete
Bezeichnung.
({1})
Nur am Rande: Weiterbildung im Parlament ist zulässig.
({2})
Tschüss!
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist verabredet, die Vorlage auf
Drucksache 16/671 an die Ausschüsse zu überweisen,
die in der Tagesordnung vorgesehen sind. - Sie sind offensichtlich damit einverstanden. Dann wird das so geschehen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 7 auf:
9 Erste Beratung des von der Fraktion der LINKEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen
-Drucksache 16/731 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Recht auf Girokonto auf Guthabenbasis gesetzlich verankern
- Drucksache 16/818 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell ist verabredet, hierfür eine halbe
Stunde vorzusehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Oskar Lafontaine.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten,
betrifft eine Minderheit der Gesellschaft. Es häufen sich
in letzter Zeit Berichte in der Presse, dass immer mehr
Menschen, die in Not geraten sind, von Banken abgewiesen werden, wenn sie ein Konto beantragen, bzw.
von Banken mitgeteilt bekommen, nachdem sie Pfändungen erlitten haben, dass das Konto nicht weiter geführt werde. Wir sehen darin - ich nehme an, dass bezüglich dieses Punktes große Zustimmung hier im Hause
herrscht - eine Demütigung. Diese Demütigung der
Menschen, die davon betroffen sind, sollte auf dem Gesetzeswege abgestellt werden.
({0})
Man sollte sich einmal kurz vorstellen, wie sich eine
Rentnerin fühlt, der, nachdem sie, vielleicht aufgrund
falscher Entscheidungen, die sie getroffen hat, eine Pfändung erlitten hat, das Konto gekündigt wird
({1})
und die, wenn sie dann versucht, bei einer anderen Bank
ein Konto zu eröffnen, abgewiesen wird.
Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, in der
auch die staatlichen Zahlungen nicht in bar ausgezahlt,
sondern per Überweisung geleistet werden. Es kommen
auch immer mehr Hartz-IV-Empfänger in eine solche Situation. Sie sind dann nicht in der Lage, ihre Geschäfte
und ihr Leben ordentlich zu regeln, weil ihnen der Zugang zu einem Konto verwehrt wird. Hinzu kommt
noch, dass Zusatzkosten entstehen. Das heißt, gerade bei
denjenigen, die wirklich in Not sind, fallen dann bei den
simpelsten Bankgeschäften Zusatzkosten an. Wir glauben, dass das ein unhaltbarer Zustand ist.
Seit zehn Jahren versuchen Sie, durch freiwillige
Selbstverpflichtungen der Kreditwirtschaft die Angelegenheit im Interesse dieser Menschen zu regeln. Die
letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass diese freiwillige
Selbstverpflichtung nicht zu einem guten Ergebnis geführt hat. Auch in Prozessen, die um diese Frage geführt
wurden, wurde festgestellt, dass für die betroffenen
Menschen kein Anspruch auf Eröffnung eines Kontos
besteht. Deshalb glauben wir, dass es jetzt an der Zeit ist,
die Kreditwirtschaft durch ein Gesetz zu verpflichten
- das ist unser Vorschlag -, solchen Kontoeröffnungen
zuzustimmen, auch dann, wenn die Antragsteller in Not
sind. Ich gehe davon aus, dass die Mehrheit dieses Hauses diesem Anliegen zustimmt, weil es unwürdig ist,
wenn Menschen, die auf die Bank geschickt werden,
dort mit der Erfahrung konfrontiert werden, dass sie einfach abgewiesen werden.
({2})
Das Wort hat Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lafontaine,
das Anliegen, das Sie haben, wird durchaus auch von
uns geteilt. Es ist nur die Frage, ob die von Ihnen beantragte Änderung des KWG und damit das Recht auf
Kontoeröffnung dem gerecht wird. Ich möchte nun versuchen, in einigen Punkten darzulegen, warum wir weiterhin auf das bauen, was 1995 mit der Kreditwirtschaft
vereinbart worden ist. Ihrer Schlussfolgerung, dass das
gescheitert sei, können wir nicht folgen.
({0})
Der bargeldlose Zahlungsverkehr ist in unserer
heutigen modernen Gesellschaft eine wichtige Grundlage für die Teilnahme am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben. Daher muss auch einkommensschwachen Haushalten der Zugang zum Girokonto
ermöglicht werden.
({1})
In dieser Einschätzung sind wir uns fachlich und auch
fraktionsübergreifend in diesem Hause bisher einig gewesen. Uneinig sind wir uns allerdings sowohl bezüglich
der Bewertung, wie weit das Girokonto heute tatsächlich
verbreitet ist, als auch bezüglich der Frage, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Erstaunt hat mich schon, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dass Sie den Schulterschluss mit der Fraktion Die Linke suchen. Gemeinsam
- wenn auch in leicht unterschiedlichem Wortlaut - befinden Sie, die im Jahre 1995 beschlossene Selbstverpflichtung des Zentralen Kreditausschusses, ZKA, zum
„Girokonto für jedermann“ funktioniere nicht. Ihre
Schlussfolgerung daraus ist ebenso nahe liegend wie
falsch: Der Staat soll es richten; anstelle der Selbstverpflichtung soll eine gesetzliche Regelung sicherstellen,
dass jeder Bürger ein Girokonto erhält - und behält.
({2})
Dabei ist gerade das „Girokonto für jedermann“ ein Beispiel dafür, dass der Staat nicht alles regeln und schon
gar nicht alles besser regeln kann als die Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen einer bestimmten Selbstregulierung,
auf die wir im Grunde weiterhin setzen.
({3})
Meine Damen und Herren, doch zunächst zur Analyse
und Bewertung der heutigen Situation - rund zehn Jahre
nach Einführung der Selbstverpflichtung zum „Girokonto für jedermann“. Unisono stützen sich die Kollegen
von der Linken und auch vom Bündnis 90/Die Grünen
dabei auf Informationen der Arbeitsgemeinschaft der
Schuldnerberatung der Verbände, wonach noch immer
„hunderttausende Verbraucher“ in Deutschland vom bargeldlosen Zahlungsverkehr ausgeschlossen seien, weil
Banken ihnen die Eröffnung eines Girokontos verweigern würden.
Meine Damen und Herren, damit wir uns nicht falsch
verstehen: Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
kennt die jüngsten Berichte der Schuldnerberatungsstellen und nimmt sie ernst. Unsere Kollegin Julia Klöckner
hat dazu bereits im Januar öffentlich Stellung bezogen.
Aber ich rate dringend dazu, die Bewertung der heutigen
Situation nicht ausschließlich diesen Stellen zu überlassen. Die Bundesregierung wird noch in diesem Jahr einen ausführlichen Bericht zur Umsetzung der Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses zum „Girokonto
für jedermann“ vorlegen. Ein wichtiger Bestandteil dieses Berichts werden verlässliche Zahlen darüber sein,
wie vielen Haushalten tatsächlich ein Girokonto verwehrt worden ist und aus welchen Gründen.
Verehrte Kollegen der Grünen, wenn Sie noch in der
Regierung wären, würden Sie das wahrscheinlich genauso sehen, weil auch Sie dann zur Kenntnis genommen hätten, dass die Berichterstattung in einem zweijährigen Zeitraum erfolgt.
({4})
Sie wissen sehr genau, dass dieser Bericht noch in diesem Jahr vorgelegt wird.
({5})
Schließlich haben wir die Bundesregierung im
Jahre 2002 gemeinsam dazu aufgefordert, alle zwei
Jahre einen Bericht über die Umsetzung der Selbstverpflichtung vorzulegen.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Bericht gemeinsam abgewartet hätten, um ihn sachlich und kritisch
im Finanzausschuss zu diskutieren und daraus gemeinsam Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen haben Sie mit
Ihren heute eingebrachten Anträgen eine ideologiegetriebene Debatte über das „Girokonto für jedermann“
vom Zaun gebrochen, wie wir sie aus den vergangenen
Jahren in bestimmten Bereichen schon kennen.
({6})
Beim Stichwort „ideologiegetriebene Debatte“
möchte ich gerne auch noch auf eine Zahl eingehen, die
im Gesetzentwurf der Linken, Herr Lafontaine, genannt
wird. Um Ihre - nicht explizit ausgesprochene, aber
doch unterstellte - These der so genannten Diskriminierung sozial benachteiligter Menschen durch die Kreditwirtschaft zu untermauern, führen Sie an, dass alleine
bei der Bundesagentur für Arbeit über 100 000 Leistungsempfänger ohne Girokonto gemeldet seien. Ich
zweifle diese Zahl nicht an. Ich möchte Sie nur bitten,
diese nicht losgelöst zu betrachten und sie ins richtige
Verhältnis zu setzen.
Es ist richtig, dass laut Bundesagentur für Arbeit im
Mai 2004 115 000 Leistungsempfänger - das sind
2,74 Prozent - kein Konto angegeben haben. Über die
Gründe dafür lässt sich allerdings trefflich streiten.
Ebenso wahr ist auch, dass - diese Zahl bitte ich dazu ins
Verhältnis zu setzen - 4,102 Millionen Leistungsempfänger - das sind 97,25 Prozent - ihre Monatszahlung
auf ein Konto erhalten haben. Nur 383 Leistungsempfänger haben ihre Zahlung als kostenfreie Zahlungsanweisung zur Verrechnung der Postbank erhalten. Die
tatsächliche Anzahl der Zahlungsempfänger, die ohne eigenes Verschulden kein Konto erhalten haben, lag laut
Bundesagentur für Arbeit im Mai 2004 noch wesentlich
unter der Zahl von 383.
Dennoch, meine Damen und Herren, möchte ich nicht
bestreiten, dass es auch zehn Jahre nach Einführung der
Selbstverpflichtung des Zentralen Kreditausschusses
möglicherweise in der Fläche zum Teil noch oder wieder
Probleme bei der Umsetzung gibt und Haushalte unverschuldet kein Girokonto erhalten. Diesem Problem verschließen wir uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
keineswegs. Ein abschließendes Meinungsbild werden
wir uns dazu aber erst auf der Basis eines fundierten Berichtes der Bundesregierung bilden, nicht auf der Grundlage nur einer Zahl der Schuldnerberatungsstellen.
({7})
Ich schließe dabei keineswegs aus, dass wir möglicherweise zu dem Ergebnis kommen werden, dass die
Selbstverpflichtung des Zentralen Kreditausschusses
an einigen Stellen durchaus der Nachbesserung bedarf.
Ich bezweifle aber sehr stark, dass eine gesetzliche Regelung, wie sie von der Linken und Bündnis 90/Die Grünen gefordert wird, diejenigen Probleme beseitigen
könnte, die beim „Girokonto für jedermann“ heute noch
bestehen mögen.
Beim „Girokonto für jedermann“ stehen wir immer in
dem Konflikt zwischen Kontrahierungszwang und Zumutbarkeit für die Kreditinstitute. Diesen Konflikt wird
auch eine gesetzliche Regelung nicht lösen können.
Denn auch ein Gesetz müsste Ausnahmen vorsehen, in
denen die Verpflichtung eines Kreditinstituts zur Kontoführung unzumutbar sein kann. Der Zentrale Kreditausschuss nennt nachvollziehbare Gründe und gibt Beispiele für Unzumutbarkeit.
Welche Konsequenzen die Verankerung von Unzumutbarkeitsregelungen im Gesetz hätte, ist uns allen
klar: Die Entscheidung von Streitfällen würde auf die
Gerichte verlagert werden. Ich sehe nicht, dass dies im
Sinne der Bürger sein soll. Vielmehr sind wir der Überzeugung, dass die heute praktizierte kostenlose und zeitnahe Bearbeitung von Streitfällen durch außergerichtliche Schlichtungsstellen sachgerechter und bürgernäher
ist.
Nun monieren Sie, meine Damen und Herren Kollegen von den Grünen, dass die kostenlosen Schlichtungsstellen den Betroffenen weitgehend unbekannt seien.
Was Sie unter „weitgehend unbekannt“ verstehen, verraten Sie uns leider nicht. Ich kann Ihre Einschätzung weder mit einer Zahl belegen noch könnte ich sie zum heutigen Zeitpunkt mit einer Zahl entkräften. Fest steht nur,
dass die Kreditwirtschaft in den vergangenen Jahren einiges getan hat, um diese Kommunikationsprobleme zu
beheben. Vielleicht muss in dieser Hinsicht noch mehr
getan werden. Wenn Sie die Zahlen von 1999 bis heute
vergleichen, die von den verschiedenen Bankengruppen
und gerade auch von den Banken des öffentlichen Sektors veröffentlicht werden, dann können Sie feststellen,
dass sich die Zahl der Konten für jedermann teilweise
bis auf das Dreifache erhöht hat. Man kann also nicht
folgern, dass sich die Selbstverpflichtung als nicht erfolgreich erwiesen hat.
Meine Bitte ist daher: Lassen Sie uns den Bericht der
Bundesregierung abwarten und dann kritisch diskutieren! Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, ob und an
welchen Stellen die Selbstverpflichtung des Zentralen
Kreditausschusses noch verbessert werden muss, damit
wir die Anzahl derjenigen Fälle minimieren, in denen
Haushalten unverschuldet ein Girokonto verwehrt wird.
Denn das war und bleibt unser gemeinsames Ziel: Ohne
eigenes Verschulden soll keinem ein Girokonto verwehrt
werden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Was die Grünen und die Linken heute
hier vorlegen, ist billiger Populismus.
({0})
Nächste Woche erhalten wir sicherlich Ihre Anträge zum
Recht auf Brötchen, Arbeit oder eine Haftpflichtversicherung.
({1})
Meine Kollegen von den Linken, Sie drücken damit Ihr
tiefes Misstrauen gegenüber Wettbewerb und sozialer
Marktwirtschaft aus.
({2})
Die Zahlen, die im Antrag der Fraktion der Linken
genannt werden, sind nicht verifizierbar. Dort ist von
über 100 000 Leistungsempfängern ohne Girokonto
die Rede. Woher stammt diese Zahl? Aus der Antwort
der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage aus dem
Februar dieses Jahres können Sie sie sicherlich nicht ableiten. Die Antwort enthält im Kern die Aussage, dass
die Regierung keine Kenntnisse darüber hat.
Ich zitiere aus Ihrer Anfrage:
Welche Gruppen von Leistungsfällen ohne Girokonto sind der Bundesregierung bekannt und wie
lassen sie sich quantifizieren?
Ihre Begriffswahl ist an dieser Stelle entlarvend. Sie
sprechen nicht vom Menschen, sondern von Leistungsfällen. Das ist sehr problematisch.
({3})
Die Bundesregierung antwortet Ihnen, nachdem sie
einige Zahlen aus der BA-Statistik genannt hat:
Die Gleichsetzung dieser Zahlen im Hinblick auf
Empfängerinnen und Empfänger ohne Girokonto
ist nicht zulässig.
Das sehe ich genauso.
Man kann doch nicht den Schluss ziehen, dass Kindergeldauszahlungen per Zahlungsanweisung oder Zahlungsanweisungen zur Verrechnung in der Größenordnung von
360 000 Fällen im Jahr nur deshalb durchgeführt wurden, weil die betroffenen Empfänger gegen ihren Willen
kein Girokonto erhalten. Noch ist es nicht so weit, dass
wir in Deutschland verpflichtet werden, bei Zahlungsempfängen zwingend ein Girokonto angeben zu müssen.
Dass Sie dieses Stückchen Freiheit auch noch beschneiden wollen, traue ich Ihnen zu.
({4})
Fakt ist: Jeder Bürger in diesem Land hat den Zugang
zu einem Girokonto auf Guthabenbasis, unabhängig von
seiner Bonität.
({5})
Dies hat der Zentrale Kreditausschuss, also die Vertretung der Branche, zugesagt. Ein gut funktionierendes
Beschwerdesystem der Branche jetzt durch einen gesetzlichen Zwang zu ersetzen, sorgt gerade für die Bürokratie, die wir hoffentlich alle abbauen wollen.
({6})
Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Es gibt
84 Millionen Girokonten in Deutschland. Die Zahl der
Konten auf Guthabenbasis, also des Kontos für jederFrank Schäffler
mann, ist zwischen 1999 und 2003 um 550 000 gestiegen und liegt inzwischen bei über 1,1 Millionen. Es gab
in 2004 - Herr Dautzenberg hat das angemerkt - bei Privatbanken lediglich 134 Kundenbeschwerden zum
Konto für jedermann.
Was wollen Sie also? Warten Sie doch erst einmal den
Bericht der Bundesregierung ab - auch darauf ist schon
hingewiesen worden -, der in diesem Jahr erscheinen
soll. Dieser Bericht wird alle zwei Jahre vorgelegt. Ich
halte ihn für das richtige Instrument.
Nur, eines verwundert mich - lassen Sie mich das
zum Schluss sagen -: Ein Tag nach dem Internationalen
Frauentag verwenden Sie von der Linken in Ihrem Antrag Formulierungen wie „Konto für jedermann“ oder
sprechen sich die Grünen für einen Forschungsauftrag
aus, im Rahmen dessen die Lebenssituation von kontolosen Bürgern - also nicht von Bürgern und Bürgerinnen,
sondern nur von Bürgern - und deren Schwierigkeiten
im Wirtschaftsgeschehen untersucht werden soll.
({7})
Dass Sie hiermit mehr als die Hälfte unserer Gesellschaft
schlicht ignorieren und außen vor lassen,
({8})
verwundert mich und halte ich für unglaublich. Ich hatte
inzwischen andere Vorstellungen davon, was Feministinnen Ihrer Fraktionen bei der Formulierung von Anträgen
tatsächlich bewegen können. Die jetzige Vorgehensweise enttäuscht mich zutiefst.
Ich darf mich trotzdem für Ihre Aufmerksamkeit,
liebe Kolleginnen und Kollegen, bedanken.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Simone Violka von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, die meisten können es sich nicht vorstellen, wie
es ist, ohne Konto leben zu müssen. Denn viele Dinge,
die im Alltag anfallen, wie zum Beispiel Überweisungen
der Miete, der Kfz-Steuer usw., werden häufig über einen Dauerauftrag allein von der Bank erledigt. Man
muss sich nicht darum kümmern, solange das Konto gedeckt ist. Dennoch gibt es in Deutschland immer noch
Menschen, die ohne eigenes Verschulden nicht in den
Genuss dieser Vorteile kommen können, weil ihnen ein
Konto verwehrt wird.
Wir führen nicht die erste Debatte zu diesem Thema.
Ich möchte dieses Thema auch nicht so herunterspielen,
wie es mein Vorredner getan hat, der ab und zu ein bisschen ins Lächerliche abgewichen ist. Es ist durchaus so,
dass hier Menschen - egal wie viele es sind - ein Problem haben. Wir haben die Verpflichtung, uns mit diesem Problem auseinander zu setzen.
({0})
Das Problem ist nicht neu. Genau aus diesem Grunde
kam es 1995 durch politischen und gesellschaftlichen
Druck zur freiwilligen Selbstverpflichtung der deutschen
Kreditinstitute. Man verpflichtete sich, jedem, der es
wünscht, zumindest ein Girokonto auf Guthabenbasis
einzurichten. Die Sparkassen sind in vielen Bundesländern Vorreiter gewesen - sie sind es noch, aber leider
nicht in allen -, weil viele die besondere Verpflichtung,
ein so genanntes Girokonto für jedermann anzubieten, in
ihre Sparkassenverordnung aufgenommen haben. Ich
möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich dafür bedanken, dass sich gerade diese Kreditinstitute, die in der Fläche noch immer am stärksten vertreten sind, dieses Problems schon frühzeitig angenommen haben.
({1})
Aber auch bei den anderen Kreditinstituten hat sich
etwas getan. Bei aller Kritik, die so lange geäußert werden muss, bis ein akzeptabler Zustand erreicht ist, will
ich auf die positiven Entwicklungen hinweisen, vor allem deshalb, um denen, die sich bemüht haben, zu zeigen, dass wir dies registrieren und honorieren. So hat
sich zum Beispiel die Anzahl der Girokonten merklich
erhöht. Bei drei Verbänden, die Zahlenmaterial geliefert
haben, hat sich die Zahl der Konten in den letzten sechs
Jahren von etwa 630 000 auf über 1 Million erhöht.
Dennoch weist die Verbraucherzentrale darauf hin,
dass es in Deutschland noch immer Hunderttausende
Verbraucherinnen und Verbraucher gibt, die ohne eigenes Verschulden kein Girokonto besitzen. Ich habe sehr
lange gesucht; aber ich habe leider kein verlässliches
Datenmaterial zu dieser Aussage gefunden. Ich habe viel
über Stichproben und Hochrechnungen gefunden. Aber
mir persönlich genügt das nicht; denn ich möchte diese
Zahl nicht einfach unkommentiert im Raum stehen lassen. Ich gehe aber davon aus, dass es natürlich noch
viele solche Fälle gibt und an einem weiteren Abbau gearbeitet werden muss, egal von wie vielen Fällen wir
sprechen.
Wir sollten ehrlich sein. Da ich im Antrag der Linken
gelesen habe, dass bei der Bundesagentur für Arbeit über
100 000 Leistungsempfänger ohne Girokonto gemeldet
sind, habe ich mir einfach die Freiheit genommen, nachzufragen, wie viele es denn wirklich sind. Ich habe hier
die aktuellen Zahlen vom Januar dieses Jahres: Bei der
Bundesagentur für Arbeit sind 161 438 Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen gemäß SGB III und
SGB II ohne Girokonto gemeldet. Allerdings muss man
sehen, dass davon nur 2 374 Personen ihre Zahlungsanweisung gebührenfrei bekommen. Das heißt, diese haben nachgewiesen, dass sie unverschuldet kein Konto
besitzen. Die Übrigen nehmen diese Gebühren hin, aus
welchen Gründen auch immer.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der mit
gutem Grund anführen kann, er sei von den Gebühren
befreit, weil er - obwohl er nichts angestellt hat - kein
Girokonto eröffnen kann, dies der Bundesagentur für
Arbeit nicht anzeigt. Man sollte also genau hinschauen.
Man kann nämlich niemanden zwingen, ein Konto zu
führen oder anzugeben, warum er keines führt. Es gibt
durchaus Menschen, die einen guten Grund haben, das
nicht zu tun.
Ich stimme zu, dass jeder Mensch, der das möchte,
ein Konto erhalten soll. Allerdings gibt es tatsächlich
Fälle, wo es legitim ist, wenn jemandem ein solches Anliegen vonseiten des Kreditinstituts verwehrt wird. Wenn
ein Kunde zum Beispiel die Leistungen des Kreditinstitutes durch Betrug, Geldwäsche oder anderes missbraucht hat, wenn er falsche Angaben macht, wenn er
Mitarbeiter oder Kunden grob belästigt oder gar gefährdet, dann kann nicht gesagt werden: Der muss aber ein
Konto bekommen. - Insoweit sollte es im Ermessen der
Sparkassen und der Banken liegen. Das ist bei den Sparkassen schon heute der Fall, obwohl sie eine entsprechende Verpflichtung abgegeben haben. Das ist auch gut
so.
({2})
Man stelle sich vor, es kommt jemand, der negativ
aufgefallen ist, vielleicht nach verbüßter Haftstrafe in
die gleiche Filiale, zu der Frau oder zu dem Mann, die
bzw. den er bedroht hat, und sagt, er wolle gerne ein
Konto eröffnen, und die Kasse würde per Gesetz gezwungen, dem nachzukommen. Ich halte das für nicht
nachvollziehbar. Man braucht weiterhin diese Freiheit.
Allerdings sollten die Banken gute Gründe für die
Ablehnung haben und diese dem Kunden schriftlich mitteilen, damit sich dieser gegebenenfalls dagegen wehren
kann. Diesbezüglich haben sich in den letzten Jahren die
Schlichtungsstellen bewährt. Ich bin nicht unglücklich
darüber, dass die Zahl derer, die diese Leistung in Anspruch genommen haben, zugenommen hat, und zwar
nicht weil es mehr Fälle gab, sondern weil es sich herumgesprochen hat, dass es solch eine Möglichkeit gibt.
Das zeigt, dass die Akzeptanz dieser Stellen und das
Wissen über ihre Existenz zunehmen. Natürlich ist hier
die Öffentlichkeitsarbeit, vor allem vonseiten der Kreditinstitute, noch verbesserungswürdig.
Positiv ist in diesem Zusammenhang zu werten, dass
der Bankenverband den Verbraucher- und Schuldnerberatungsverbänden mehrfach angeboten hat, den Spitzenverbänden der Kreditwirtschaft konkrete Fälle, in denen
die Führung eines Kontos verwehrt wurde, zu melden,
damit man diese Fälle gemeinsam zügig klären kann.
Abschließend komme ich zu der Beurteilung, dass
sich in den Jahren seit der Einführung der freiwilligen
Selbstverpflichtung tatsächlich viel getan hat. Deswegen
sollte man - natürlich mit regelmäßiger Erfolgsüberprüfung - weiter auf diese freiwillige Leistung bauen, aber
keine zusätzlichen Gesetze verabschieden, jedenfalls
nicht in den vorliegenden Fassungen und zum heutigen
Zeitpunkt.
({3})
Wir haben 2004 den letzten Bericht der Bundesregierung
zu dieser Frage bekommen. Alle zwei Jahre erscheint
dieser Bericht. Jetzt haben wir 2006. Das heißt, wir werden den Bericht noch in diesem Jahr erhalten. Erst dann
haben wir aktuelles Material mit konkreten Zahlen, die
wir brauchen, um das weitere Vorgehen abzustimmen.
({4})
Ich befürchte, dass bei einem solchen Gesetz, wie es
jetzt verlangt wird, die Betroffenen zwar einen theoretischen Anspruch hätten, ihn aber im Zweifelsfall vor Gericht durchsetzen müssten. Ich glaube nicht, dass das im
Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher ist; denn
wer sich heute schwer tut, seinen Fall vor die Schlichtungsstelle zu bringen, der wird sich später mit Sicherheit noch schwerer tun, vor ein Gericht zu ziehen, noch
dazu, wenn dies mit erheblichen Kosten verbunden sein
wird, auch wenn sie eventuell im Rahmen der Prozesskostenbeihilfe übernommen würden. Ich glaube nicht,
dass es im Einzelfall zu einer Verbesserung käme.
Wir sollten einfach abwarten,
({5})
nicht ewig, aber bis zum Erscheinen des nächsten Berichts, und die dann vorliegenden Erkenntnisse als Arbeitsgrundlage für ein gemeinsames Vorgehen bei der
Frage nutzen, wie wir diesen Menschen, die es nach wie
vor gibt und denen geholfen werden muss, in Zukunft
ordentlich helfen können. Es sollte aber nicht zu einer
Gesetzesflut, zu einer Regelungswut kommen, wo man
hofft, dass man etwas tun kann, und letztendlich die Betroffenen allein lässt, indem man sagt: Dann musst du
halt zum Anwalt gehen und dein Recht vor Gericht
durchsetzen. - Ich glaube nicht, dass damit jemandem
geholfen ist.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube
nicht, dass es sinnvoll ist, von einer „ideologiegetriebenen“ Debatte zu sprechen und uns gegenseitig Populismus vorzuwerfen. Es ist eine Tatsache, dass diese Problemlage besteht. Da die Zahlen uns kein eindeutiges
Bild liefern, wissen wir jedoch nicht, wie groß das Problem ist. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir so
tun, als gäbe es dieses Problem nicht.
({0})
Die Verbraucherzentralen sagen uns, dass es immer noch
eine große Rolle bei der Beratung spielt.
Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Menschen,
die schon einmal gescheitert und in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, nicht sofort dagegen wehren, sondern eher geneigt sind, die Gebühren hinzunehmen, als
andere.
({1})
Das ist ganz normal. Dazu kommt: Oft haben wir über
diejenigen, die einmal gescheitert sind oder in Armut leben, keine genauen Zahlen. Das heißt aber nicht, dass
wir in diesem Bereich nichts tun müssen. Das wäre ein
Fehlschluss.
({2})
Der Anlass für diese Debatte besteht nicht darin, dass
wir irgendetwas aus der Luft gegriffen hätten; vielmehr
gab es eine Äußerung der Bundesjustizministerin, einer
Ministerin der Regierung, die Sie mittragen. Sie sagte,
dass eine gesetzliche Regelung geschaffen werden soll.
Von daher haben wir einen Anlass für diese Debatte und
ich finde es merkwürdig, dass hier von Geduld gesprochen wird.
({3})
Wenn etwas angekündigt wird, dann können wir auch
darüber reden. Die Bundesjustizministerin ist am
24. Januar dieses Jahres entsprechend zitiert worden.
({4})
Warum ist es nötig, etwas zu tun? Diese Frage sollte
man aus marktwirtschaftlicher Perspektive genau betrachten. Wir fordern mehr Existenzgründungen und
eine Kultur der zweiten Chance. Die Kultur der zweiten Chance muss aber auch die Sicherheit umfassen,
dass Menschen, die einmal gescheitert sind, neu beginnen können. Dafür ist es extrem wichtig, dass eine
Grundlage vorhanden ist. Deshalb ist es auch richtig,
dass Menschen ein Girokonto haben können.
({5})
Ein Girokonto zu besitzen, ist heute der Normalfall.
Wir wissen, dass Menschen, die kein Girokonto haben,
mehr Geld für den Zahlungsverkehr aufwenden müssen
als Menschen, die ein Konto haben. Gerade den Menschen also, die in Schwierigkeiten geraten sind, wird es
im Zahlungsverkehr besonders schwer gemacht. Darin
kann ja nicht die Kultur der zweiten Chance bestehen.
Wir können nicht zulassen, dass Menschen, die schon
einmal in Schwierigkeiten geraten sind, noch eine weitere Last tragen müssen.
({6})
Ich möchte noch einmal auf die Selbstverpflichtung
eingehen, die wir bereits seit zehn Jahren haben. Immer
noch stellt sie ein Problem dar. Wir müssen uns daher
nach besseren Alternativen umsehen. Das Oberlandesgericht Bremen sagt, dass sie nicht ausreicht. Länder wie
Belgien und Frankreich machen uns vor, dass auch eine
unbürokratische Lösung möglich ist.
Das Problem, dass die Menschen nicht wissen, an
wen sie sich wenden sollen, weil ihnen die Schlichtungsstelle nicht bekannt ist, kann durch eine klare gesetzliche
Regelung gelöst werden. Das Hin und Her über Zahlen
- manche beziehen sich auf die Zahlen des Bankenverbandes, andere auf die der Verbraucherschützer - kann
man bei einer klaren gesetzlichen Regelung, die für alle
transparent ist, vermeiden. Das übliche Problem bei
Selbstverpflichtungen besteht darin, dass wir nicht wissen, was daraus wird, und wir Schritt für Schritt einfordern müssen. Das wäre nicht erforderlich, wenn es von
vornherein gesetzlich klar geregelt wäre.
Aus grüner Perspektive ist der Gesetzentwurf der Linken, der uns vorgelegt wurde, nicht ausreichend, weil es
auch für die Kreditinstitute Kriterien geben muss, bei denen sie Nein sagen dürfen. Ein absoluter Rechtsanspruch
ist meines Erachtens nicht zielführend. Die Einschränkungen, die in der Selbstverpflichtung genannt sind,
weisen in die richtige Richtung. Sie beziehen sich auf
Personen, die falsche Angaben in Bereichen machen, die
für das Vertragsverhältnis wichtig sind, beispielsweise
wenn es um Geldwäsche geht. Deswegen haben wir die
Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Darin kann man diese Regelungen der Selbstverpflichtung aufgreifen. Wir brauchen eine eindeutige
Regelung, damit die jetzige unklare Situation im Interesse der betroffenen Menschen - das sind wirklich nicht
die Begünstigten in unserem Land - verbessert werden
kann.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/731 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 7. Der Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/818 soll an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
werden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen bei
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD - zur Erinnerung: Federführung beim Finanzausschuss - abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.
Damit liegt die Federführung beim Finanzausschuss.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie
Zusatzpunkt 8 auf:
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Moderne Verbraucherpolitik fortführen und
weiterentwickeln
- Drucksache 16/684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft
durch mündige und aufgeklärte Verbraucher
sicherstellen
- Drucksache 16/825 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Bärbel Höhn von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in den letzten Jahren erlebt, dass wir zu einer anderen Verbraucherschutzpolitik gekommen sind. Die
Verbraucherschutzpolitik hat eine vollkommen andere
Dimension bekommen. Das ist auch gut so. Es ist viel
erreicht worden. Es wurde übrigens leider auch viel verhindert, insbesondere von den Bundesländern im Bundesrat. Es gibt aber noch sehr viel zu tun. Deshalb haben
wir diesen umfänglichen Antrag vorgelegt. Wir sagen:
Moderner Verbraucherschutz kann nicht in sechs Jahren
umgesetzt werden; moderner Verbraucherschutz ist viel
umfangreicher. Es gibt noch sehr viel zu tun. Deshalb
sollten Sie uns beim modernen Verbraucherschutz unterstützen!
({0})
Einzelne Erfolge, Herr Bleser, haben wir bereits erreicht. Das sieht man schon, wenn man sich einmal die
Zusammensetzung des Ausschusses betrachtet. Vor
15 Jahren war der Agrarausschuss eine reine Männerdomäne. Jetzt, da der Verbraucherschutz ein stärkeres Gewicht bekommen hat, haben wir in diesem Ausschuss
zumindest eine gute Quotierung. Selbst bei der CDU/
CSU hat der moderne Verbraucherschutz das schon bewirkt.
({1})
Uns, Herr Bleser, geht es aber darum, dass er noch
mehr wirken soll und in dieser neuen Legislaturperiode
nicht zurückgeschraubt wird. Da haben wir schon Sorge.
Denn das Erste, was der Bundesminister gemacht hat,
ist, dass er den Namen seines Ministeriums geändert hat
und den Verbraucherschutz von der ersten auf die letzte
Stelle degradiert hat. Das ist kontraproduktiv.
Unsere Meinung ist, dass ein moderner Verbraucherschutz an erster Stelle Verbraucherinformation bedeutet. Wenn ich mir ansehe, was der Bundesminister beim
Verbraucherinformationsgesetz vorhat, dann muss ich
sagen: Es enthält zwar ein Recht auf Information, aber es
ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Wenn Sie alle
Ausnahmen berücksichtigen - man darf nur die Behörde
fragen und nicht das Unternehmen, man darf nur zu Lebensmitteln fragen und nicht zu Bedarfsgegenständen
und Dienstleistungen und man muss Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse wahren -, dann wissen Sie, dass
nichts dabei herauskommt. De facto gibt es so viele Ausnahmen, dass am Ende vom Verbraucherinformationsgesetz nichts übrig bleibt. Das ist schade. Die Verbraucher
haben ein gutes Verbraucherinformationsgesetz nötig.
({2})
Der zweite Punkt ist, dass eine moderne Verbraucherschutzpolitik auch Wahlfreiheit umfasst. Wahlfreiheit
heißt zum Beispiel auf dem Gebiet der Gentechnik, dass
beachtet werden sollte, dass 75 Prozent der Bevölkerung
in diesem Land gentechnikfreie Lebensmittel wollen.
Aber was Sie in der Koalitionsvereinbarung festgelegt
haben, wird dazu führen, dass diese Wahlfreiheit immer
mehr ausgehöhlt wird. Deshalb brauchen wir in einer
modernen Verbraucherschutzpolitik eben auch mehr Informationen und mehr Wahlfreiheit.
Drittens. Eine moderne Verbraucherpolitik muss auch
bedeuten, dass wir bei wirtschaftlichen Fragen mehr
Verbraucherschutz erreichen. Ein Beispiel sind die gegen hohe Gasrechnungen protestierenden Kunden.
Mittlerweile protestieren 500 000 Menschen gegen die
Erhöhung der Gaspreise. Sie sagen: „Wir wollen wissen,
wie sich die Kosten zusammensetzen. Warum sind die
Preise so hoch? Wir können die Kosten nicht aufschlüsseln.“ Wenn man berücksichtigt, dass die Kosten um
25 Prozent, die Gewinne der Unternehmen, zum Beispiel von Eon um 85 Prozent gestiegen sind, muss man
sagen: Diese Gewinne haben die armen Verbraucher mitbezahlen müssen.
({3})
Gestern gab es eine Nullantwort des Staatssekretärs
Schauerte auf die Frage, wie die Bundesregierung die
500 000 Menschen, die in diesem Land zu hohe Gasund Energiepreise zahlen, unterstützen will.
Ein letzter Punkt für die letzten zehn Sekunden.
Fahrgastrechte bei der Bahn. Jeder - auch Sie, Herr
Bleser, das sehe ich Ihrem Gesicht an - hat sich schon
einmal darüber geärgert, dass die Leistungen bei der
Bahn nicht ausreichend waren.
({4})
Deshalb geht es darum, die Rechte der Verbraucher, der
Fahrgäste zu stärken, und zwar auf Grundlage eines verbrieften Rechts. Man muss einen Rechtsanspruch auf
Entschädigung haben und darf nicht auf den Goodwill
der Bahn angewiesen sein.
Es gibt noch tausend Punkte - ich nenne nur Scoring
und RFID -, bei denen es darum geht, den wirtschaftlichen Verbraucherschutz, die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher zu stärken. Sie sind seit 100 Tagen
an der Regierung. Wir sehen, dass eine moderne Verbraucherpolitik anders aussieht. Strengen Sie sich also
an und machen Sie eine gute Arbeit!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Uda Heller von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Höhn, fast exakt vor einem Jahr ist von
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ein Entschließungsantrag zum Verbraucherpolitischen Bericht
2004 der Bundesregierung vorgelegt worden, also zu einer Zeit, in der Sie, meine sehr geehrten Damen und
Herren von Bündnis 90/Die Grünen, regiert haben.
Die in diesem Entschließungsantrag formulierten
Ziele und Anforderungen an eine wirksame Verbraucherpolitik sind in Ihrem jetzigen Antrag wörtlich übernommen worden. Nicht ein einziger Punkt im Forderungskatalog fehlt. Da frage ich mich natürlich: Was
haben Sie denn eigentlich in dem verbleibenden halben
Jahr bis zur Bundestagswahl, in dem Sie die Regierungsverantwortung trugen, für den Verbraucherschutz erreicht?
({0})
Was ist denn in diesem Zeitraum in Sachen Verbraucherschutz tatsächlich bewegt worden, auf einem Terrain,
das Sie als ureigenes grünes Claim für sich beanspruchen?
Eines ist richtig: Frau Kollegin Künast hat viele Versprechungen gemacht. Es gab medienwirksame Inszenierungen und richtig teure Kampagnen. Ich denke da
zum Beispiel an die Kampagne „Echt gerecht. Clever
kaufen“, von der man nichts mehr hört. Diese Aktion hat
in den Jahren 2004 und 2005 insgesamt über
1,9 Millionen Euro gekostet. Das waren Ausgaben, die
den Steuerzahler belastet und dem Verbraucher schlichtweg nichts gebracht haben.
({1})
Auch an die pressewirksamen Angriffe auf Bahnchef
Mehdorn erinnern wir uns alle noch recht gut. Demgegenüber lassen wir zurzeit von einem Bund-LänderArbeitskreis prüfen, wie und in welchem Umfang wir
den zivilrechtlichen Verbraucherschutz für Bahnkunden konkret verbessern können.
({2})
- Es ist ein zu Recht angerissenes Thema. Das, was Sie
betrieben haben, könnte man auch als Themenhopping
bezeichnen.
({3})
Aus Sicht des Verbrauchers muss der Verbraucherschutz angepackt und vor allen Dingen verbessert werden. Die neue Bundesregierung hat ihn als einen festen
Bestandteil im Koalitionsvertrag verankert. Ich denke,
das ist wichtig und nicht der Name.
({4})
Bundesminister Seehofer hat in den vergangenen Wochen und Monaten erfolgreich unter Beweis gestellt,
dass er mit großem Geschick Krisen wie den Gammelfleischskandal oder die Vogelgrippe bewältigen kann.
Er handelte besonnen, schnell, effektiv und verantwortungsbewusst und ohne den Anspruch, in den Medien
Alleinunterhalter zu sein.
({5})
Er hat die Kompetenzprobleme und den dringenden
Handlungsbedarf, der sich aus den Seuchen wie im akuten Fall der Vogelgrippe ergeben hat, klar aufgezeigt.
Hätte man das nicht auch schon bei früheren Seuchen
wie den BSE-Skandalen so klar erkennen und in Angriff
nehmen können?
Auch in Fragen der Verbraucherpolitik sucht Minister
Seehofer den Dialog mit allen Akteuren, nicht die Konfrontation.
({6})
Das zahlt sich aus, war aber in der Vergangenheit leider
nicht der Fall. So ist es ihm gelungen, in den wenigen
Monaten seiner Amtszeit einige wichtige Dinge auf den
Weg zu bringen, zum Beispiel das Zehnpunkteprogramm
als Konsequenz aus dem Gammelfleischskandal
({7})
und - ganz aktuell - den Entwurf des Verbraucherinformationsgesetzes, welches schlank, effizient und ausgewogen ist und - ganz wichtig - auch von der Wirtschaft
akzeptiert wird. Das ist ein bedeutender Aspekt; denn
auch die Wirtschaft müssen wir ins Boot holen.
({8})
- Im Gegensatz zu Ihnen, sehr verehrte Frau Kollegin,
hat Minister Seehofer es sehr schnell geschafft, die Konferenz der Agrarminister der Bundesländer ähnlich der
turnusmäßig in Brüssel stattfindenden EU-Agrarministerkonferenz zu einer regelmäßigen Einrichtung werden
zu lassen,
({9})
getreu dem Motto: Dialog statt Konfrontation.
({10})
Dies ist meiner Ansicht nach der richtige Weg. Nur so
lassen sich anstehende Probleme frühzeitig erkennen
und Verbraucherschutzfragen nachhaltig lösen.
({11})
Gerne stelle ich nun die Position der Union heraus:
Verbraucherpolitik legitimiert sich für uns allein aus der
Tatsache, dass die Verbraucher als Marktteilnehmer in
einer deutlich schwächeren Position als die Anbieter von
Produkten und Dienstleistungen sind. Diese Unterlegenheit der Konsumenten zeigt sich auch daran, dass
der einzelne Verbraucher oft Probleme hat, die ihm zustehenden Ansprüche im konkreten Fall durchzusetzen,
zumal die Anbieter die üblichen allgemeinen Geschäftsbedingungen regelmäßig einseitig zu ihren Gunsten ausgestalten. Ich denke, in dieser Analyse herrscht unter uns
allen Einigkeit.
Allerdings unterscheiden wir uns deutlich in den
Konsequenzen, die wir aus dieser Tatsache ziehen. Für
die Union gilt, dass wir die Gesundheit, die Sicherheit
und die wirtschaftlichen Interessen und Rechte der Verbraucher schützen müssen. Dabei legen wir das Leitbild
des mündigen Verbrauchers zugrunde. Das ist, wie ich
finde, eine ganz wichtige Aussage.
Die Union wehrt sich strikt dagegen, den Verbraucher
in irgendeiner Weise zu bevormunden und ihm mit moralisch erhobenem Zeigefinger zu sagen, was er gefälligst zu tun oder zu lassen hat.
({12})
Damit erteilt die Union einer ideologisch geprägten Verbraucherlenkung eine klare Absage.
({13})
Unserer Ansicht nach geht der Konsument souverän
mit Produkten und Dienstleistungen um, nicht zuletzt
auch aufgrund der offenen und vielfältigen Informationsangebote seitens der Wirtschaft. Neutrale Institutionen wie die „Stiftung Warentest“ bieten Waren und
Dienstleistungen als Entscheidungshilfen an. Das Ziel
besteht darin, transparente Informationen über den
Markt anzubieten, damit die Verbraucher bewusst und
selbstständig ihre Konsumentscheidung treffen können.
Neben den gesetzlichen Regelungen ist auch weiterhin eine gute Verbraucheraufklärung notwendig, damit die Verbraucher auf Grundlage einer soliden Informationspolitik sachgerecht entscheiden können. Daher
kommt einer unabhängigen Verbraucherberatung eine
zentrale Bedeutung zu.
({14})
- Sie müssen mir zuhören, Herr Kollege. Ich habe gesagt, dass einer unabhängigen Verbraucherberatung eine
zentrale Bedeutung zukommt.
Mit einer schlagkräftigen Verbraucherberatung auf
Bundes- und Landesebene kann der Konsument den Anbietern auf gleicher Augenhöhe begegnen. Dann wird er
auch ernst genommen.
({15})
- Die Verbraucherberatungen sind gut ausgestattet. In
Sachsen-Anhalt sind sie sogar am besten ausgestattet,
verehrte Kollegin.
Gleichermaßen sind beim Thema Verbraucherschutz
die Eigeninitiative und die Selbstverpflichtung der Wirtschaft zu respektieren und zu unterstützen. Für uns Politiker stellt sich die Frage: Wie können wir die Macht der
Verbraucher stärken? Mit dem am 6. März 2006 vorgelegten Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes wird der berechtigten Forderung nach einer gesetzlichen Verankerung der Rechte der Bürger Rechnung
getragen. Unbestritten haben die Verbraucher diesbezüglich noch Bedarf an zusätzlichen Informationen; denn
immer wieder erschüttern Lebensmittelskandale das Vertrauen der Verbraucher. Was täglich auf unseren Tisch
kommt, soll aber gesund und sicher sein. Nur, was nützen gute Verbraucherstandards, wenn sie den meisten
Bürgern unbekannt oder rechtlich nicht durchsetzbar
sind?
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist ein weiterer
Schritt hin zu einer verbesserten Verbraucherinformation
und zu mehr Markttransparenz getan.
({16})
Nach zähem Ringen mit den Ländern und der Wirtschaft
um einen Konsens über die Ausgestaltung des Verbraucherinformationsgesetzes soll dieses jetzt möglichst
schnell auf den Weg gebracht werden. Durch eine deutliche Ausweitung der Befugnisse der Behörden, von sich
aus die Öffentlichkeit zu informieren und bei Skandalen
Ross und Reiter zu benennen, wird so mancher Produzent oder Händler sich hoffentlich dreimal überlegen,
umetikettiertes Gammelfleisch in die Regale zu legen.
Aus der bisherigen Kannvorschrift im Gesetzentwurf ist
eine Sollvorschrift gemacht worden. Das bedeutet einen
Paradigmenwechsel, hin zum Grundsatz der Aktenöffentlichkeit.
({17})
Trotzdem wird dem Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und der Rechte Dritter noch ausreichend
Rechnung getragen.
({18})
Wie Sie der Antwort der Bundesregierung - Drucksache 16/777 - auf Ihre Anfrage zu den Schwerpunkten
des Verbraucherschutzes deutlich entnehmen können,
streben wir eine stärkere Patientenorientierung des Gesundheitswesens an. Geplant ist unter anderem, Patientenvertretern mehr Mitspracherechte in den verschiedenen Gremien des Gesundheitssystems zu geben.
({19})
Grundsätzlich vertrauen wir auf die gestaltende Funktion
der Verbraucherpolitik in einem fairen Wettbewerb:
Wettbewerbspolitik ist die effektivste Form der Verbraucherpolitik, insbesondere dann, wenn der Verbraucher
die Wahl zwischen vielen Alternativen hat.
Frau Kollegin Heller, denken Sie bitte an die Zeit.
Das betrifft besonders die Bereiche Energieversorgung, Telekommunikation, Briefdienst und Personenverkehr auf der Schiene.
100 Tage nach dem Regierungswechsel können wir
bereits eine sehr positive Bilanz vorweisen: Handeln
statt reden, Dialog statt Konfrontation.
({0})
Von diesen Grundsätzen lassen wir uns leiten und wir
sind damit auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ihnen liegen zwei Anträge vor, die nach meiner Auffassung von völlig unterschiedlichen Gesellschaftsbildern ausgehen. Mit dem einen Antrag soll sehr
viel geregelt und legitimiert werden; im Grunde genommen wird der Staat an die erste Stelle gestellt. Das ist der
Antrag von Ihnen, von Bündnis 90/Die Grünen. Frau
Höhn, da muss man natürlich schon sagen: Wenn jemand
nach so vielen Jahren Regierungsverantwortung einen
Antrag vorlegt, in dem 26 Punkte enthalten sind, die neu
geordnet werden müssen, dann fragt man sich schon:
Was haben Sie bis jetzt eigentlich gemacht?
({0})
Vieles ist nett formuliert in Ihrem Antrag, aber im
Grunde genommen geht es in ihm immer darum, mehr
Geld auszugeben, mehr zu bevormunden, kurz: Es geht
um mehr Staat. Das ist nicht unsere Welt. Deswegen bin
ich froh, dass Frau Heller unseren Antrag so positiv gesehen hat, dass sie über ihn eigentlich gar nichts gesagt
hat.
({1})
Liebe Frau Heller, ich nehme an, dass wir dann davon
ausgehen können, dass Sie unserem Antrag im Ausschuss mit vollem Herzen zustimmen,
({2})
wie Sie das ja vor der Regierungsteilübernahme immer
getan haben.
({3})
Frau Heller, wir sind sehr gespannt darauf, wie Sie sich
im Ausschuss verhalten.
Lassen Sie mich nun etwas zu dem Antrag sagen, den
wir einbringen. Ich schaue mir immer gerne die Überschriften an: Wir sind dafür, dass Verbraucherschutz in
einer Marktwirtschaft einen hohen Stellenwert hat.
({4})
Das ist völlig klar, weil guter Verbraucherschutz eine zusätzliche Chance für die Marktwirtschaft und für die Unternehmen bietet. Deswegen, Frau Höhn, wollen wir die
Dinge klug einbinden. Wir wollen die Dinge mit der
Wirtschaft zusammen machen, weil wir davon überzeugt
sind, dass guter Verbraucherschutz nur in dem Miteinander von Unternehmen und Gesellschaft - sprich: auch
denjenigen, die die Gesetze machen - zu leisten ist.
({5})
Sie können an dieser Stelle ruhig einmal auf etwas
Gutes verweisen: Die Plattform „Ernährung und Bewegung“ ist eigentlich ein klassisches Beispiel dafür, wie
man die Dinge zusammenführt.
({6})
Die Wirtschaft ist dabei und die Krankenversicherungen
sind auch dabei. - Ja, Frau Höhn, ich habe mich ja auch
darüber gefreut, dass ich da mitarbeiten darf; das ist
überhaupt keine Frage. Ich habe mich allerdings darüber
geärgert, dass bis jetzt nichts dabei herausgekommen ist.
Das müssen wir leider auch feststellen.
({7})
- Ja, das stimmt, bei Ihnen funktioniert das nur selten.
({8})
Wir wollen sicherstellen, dass es mündige und aufgeklärte Verbraucher gibt. Wir wollen den Verbraucherschutz in die Bildung einbinden. Wir wollen, dass die
Menschen die nötigen Informationen haben, um sich
frei so zu entscheiden, wie das kluge Verbraucher tun
können. Das ist das, was auch Sie ansprechen. Deswegen setzen wir auf Bildung und Information und nicht
darauf, bestimmte Dinge zu diskriminieren. Wir treten
dafür ein, dass eine kluge und gute Informationspolitik,
die von der Wirtschaft getragen und durchaus auch von
der Gesellschaft begleitet werden kann, dazu führt, einen
mündigen und aufgeklärten Verbraucher zu haben,
({9})
der sich dann mit dem vorhandenen Kenntnisstand entscheidet.
Wir sagen auch klar Ja zur Werbung. Wir halten gar
nichts von der Idee, jede Form von Werbung zu diskriminieren und schlecht zu machen. Wir sind dafür, dass
ein gutes Unternehmen für sein gutes Produkt gut werben kann und dass sich dieses Unternehmen damit auch
Marktanteile erschließen kann.
({10})
- Überlassen Sie doch dem Verbraucher die Entscheidung.
({11})
Wir reden immer vom mündigen Wähler und Bürger und
tun gerade so, als ob es in Deutschland in allen Bereichen nur noch eine Bildungskatastrophe gibt.
({12})
Das ist doch nicht so. Wir haben auch in den Geschäften
gute Fachkräfte.
({13})
Lasst den Kunden doch auch die Fachkraft in Anspruch
nehmen. Die Fachkraft hat dann die Chance, ihr Wissen
an den Kunden heranzubringen.
({14})
- Frau Höhn, in diesem Wettbewerb miteinander werden
Fachgeschäfte eine Überlebenschance haben.
({15})
- Liebe Frau Höhn, wir führen zu Hause ein Fachgeschäft und ich kann Ihnen sagen, dass wir über die
Schiene der Fachinformation, über die Schiene der Kundenbegleitung, über die Schiene der guten Werbung und
über die Schiene der Bildung und Information durchaus
im Markt sind. Allerdings gibt es in der Nachbarschaft
auch Betriebe, die relativ wenig für die Kundenaufklärung tun.
({16})
Lassen Sie uns deswegen doch gemeinsam dafür sorgen,
dass die, die uns am Herzen liegen, die Arbeitsplätze
schaffen und sichern, im Markt bleiben.
({17})
Lassen Sie mich noch eines zur Kennzeichnung sagen, weil Sie uns hier auch immer Unrecht tun. Wir sind
für eine klare Kennzeichnung. Wir sind aber nicht dafür,
etwas auszuschließen. Wir wissen, dass die Menschen in
Deutschland zum überwiegenden Teil noch keine gentechnisch veränderten Produkte wollen. Lassen Sie uns
aber doch in den Wettbewerb der gentechnisch veränderten Produkte mit den traditionellen Produkten eintreten.
Lassen Sie uns für diese Schiene werben und lassen Sie
uns den Menschen ehrlich gegenübertreten. Sagen Sie
nicht Nein zur Grünen Gentechnik, wann immer es Ihnen passt, während Sie gleichzeitig Ja zum Impfen auf
der Basis von gentechnisch verändertem Impfstoff sagen. Frau Höhn, das ist nicht miteinander in Einklang zu
bringen und das ist zu kritisieren.
({18})
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Verbraucherinformationsgesetz sagen. Wir werden das Verbraucherinformationsgesetz auf den Prüfstand stellen. Ich denke,
das müssen wir auch.
({19})
Ich sage auch hier: Seien Sie froh, dass die FDP diesen
Teil im Vermittlungsausschuss verhindert hat, sonst hätten Sie heute nämlich gar kein Verbraucherinformationsgesetz mehr auf den Weg bringen können.
({20})
Ihre lieben Mitstreiter von der CDU - ich denke da an
meine geschätzte Kollegin Ulla Heinen - waren damals
eigentlich dafür, das beim Futtermittelgesetz und beim
Lebensmittelgesetz eben mal holterdiepolter über die
Bühne gehen zu lassen.
Ich will Ihnen aber auch ganz deutlich sagen, liebe
Frau Heller: So doll ist das mit den Leistungen von
Herrn Seehofer nicht. Lassen Sie also die Kirche einmal
im Dorf.
({21})
Jetzt liegt zum ersten Mal ein wirkliches Gesetz vor.
Beim Zehnpunkteprogramm sind wir meilenweit von
Lösungen entfernt und bei der Vogelgrippe haben wir es
auch mit einem Versagen zu tun,
({22})
das auch bei dem Herrn Minister liegt. Das wollte ich
zum Schluss doch noch einmal sagen.
Herzlichen Dank.
({23})
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Goldmann, es ist ja schön, wenn Sie von Ehrlichkeit reden. In den letzten Ausschusssitzungen hätte ich
mir mehr davon gewünscht.
({0})
Die Vogelgrippe und das Gammelfleisch, die eingeknickten Strommasten als Ausdruck mangelnder Versorgungssicherheit im Strombereich, der preistreibende
Wettbewerbsrahmen auf dem Gasmarkt, die fehlende
Transparenz bei Telefonmehrwertdiensten - also bei diesen miesen Geschäften mit den 0190er-Nummern - und
unfaire Verträge von Lebensversicherungen haben für
Schreckensmeldungen und Schlagzeilen gesorgt.
Frau Kollegin Rawert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Goldmann?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage.
Sie erlauben also keine Zwischenfrage.
({0})
Diese haben den Blick auf Missstände und Skandale
im Verbraucherschutzbereich offen gelegt. Diese Schreckensmeldungen haben vielfache Ursachen, aber immer
ein Ergebnis: Sie tragen zur Verunsicherung der Verbraucherinnen und Verbraucher bei. Sie untergraben das
Vertrauen in ganze Wirtschaftszweige und verlangen
dringend nach effektiven politischen Rahmensetzungen.
Frau Kollegin Heller hat hierzu einige Ausführungen gemacht.
Wir reagieren hierauf je nach politischem Standort.
Die Oppositionsfraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP haben heute Anträge dazu vorgelegt.
Diese Anträge enthalten eine sehr lange Liste von Forderungen, die wir selbstverständlich zur Kenntnis nehmen.
Wir, die Regierungsfraktionen und unsere Regierung,
haben im Gefolge des Gammelfleischskandals mit einem
Zehnpunktekatalog die angemessenen Schutz- und Präventivmaßnahmen schnell und kompetent getroffen und
sind damit auf dem richtigen Weg der Fortführung einer
modernen Verbraucher- und Verbraucherinnenpolitik.
({0})
Wir orientieren uns am Leitbild der selbstbestimmten
und informierten Verbraucherin; Gleiches gilt selbstverständlich auch für die Männer. Dennoch reicht dies nicht
aus; denn nicht nur Orientierung ist gefragt, sondern
auch Taten. Als neue Parlamentarierin habe ich manchmal den Eindruck, dass Verbraucherschutzpolitik immer
noch eher - jetzt schaue ich ganz gezielt nach rechts - als
nachsorgende Politik einer Reparatur des ökonomischen
Wildwuchses angesehen wird und nicht als selbstverständlicher, integrierter und integraler Teil von Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik.
({1})
Herr Goldmann, Sie hatten vorhin angemerkt, dass
man Ihren Antrag möglicherweise nicht gelesen habe. In
Ihrem Antrag steht:
In einer sozialen Marktwirtschaft hat der Schutz der
Verbraucher seinen festen Platz. Es kann aber nicht
angehen, dass die Marktwirtschaft durch vermeintlich gut gemeinte Überregulierung zum Schutz der
Verbraucher gelähmt wird.
Hier geht es nicht um Sozialarbeit. Hier geht es um Politik, und zwar um Querschnittspolitik.
({2})
Ich will das am Beispiel der EU-Dienstleistungsrichtlinie deutlich machen. Wir alle wissen, wie umstritten diese Richtlinie ist und war. Meines Erachtens ist der
Grund dafür, dass der Entwurf der Kommission genau
die Wettbewerbspolitik befördern will, die vom Modell
der modernen Marktwirtschaft weit entfernt ist. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen die Wahlmöglichkeit
ohne großen Informationsaufwand haben. Dies geht nur
über Qualität, Leistung und Kosten.
Mit den Regeln des Herkunftslands der Dienstleister
wäre diese Grundvoraussetzung für verbraucherfreundliches Wirtschaften nicht machbar gewesen. Daher bin ich
ebenso wie viele Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
froh, dass das Herkunftslandprinzip durch das Europäische Parlament am 16. Februar gekippt wurde.
({3})
Hierzu haben die Proteste und Demonstrationen der Gewerkschaften wesentlich beigetragen.
Ich verweise auch auf die klarstellende Antwort auf
mein Schreiben an Herrn Bundesminister Seehofer, die
mich just heute erreichte. Darin wird versichert, dass der
Ausschluss vertraglicher und außervertraglicher Schuldverhältnisse aus dem Anwendungsbereich dieser Richtlinie bedeutet, dass der Verbraucher in jedem Fall in den
Genuss des Schutzes kommt, den ihm das geltende Verbraucherschutzrecht in seinem Mitgliedstaat gewährt. Weil Herr Schäffler vorhin die geschlechtergerechte
Sprache erwähnt hat, gilt diese Klarstellung selbstverständlich auch für Verbraucherinnen. Wichtig ist es, zu
sagen, dass das Ziellandprinzip eine wesentliche Rolle
gespielt hat.
Wir werden den Prozess der EU-Dienstleistungsrichtlinie aktiv begleiten; denn wir wissen: Effizienter Lohn-,
Sozial- und Verbraucherschutz sind integraler Bestandteil einer Öffnung des Dienstleistungsmarktes. Danach
handeln wir. Grundsätzlich sind wir der Meinung, dass
die EU-Kommission ansonsten sehr zukunftsorientierte
und innovative Themen auflegt. Erwähnt wurden hier
schon alle Maßnahmen des Grünbuches zur Prävention.
Dieses Grünbuch ist ein gutes Beispiel dafür, wie moderne Verbraucherinnen- und Verbraucherpolitik in effektiver Zusammenarbeit auf nationaler und europäischer Ebene aussehen kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Goldmann.
Liebe Kollegin Rawert, ich kann mich nicht erinnern,
dass Sie in der letzten Ausschusssitzung etwas gesagt
haben.
({0})
Insofern ist es relativ angriffsfreudig, jemand anderem
vorzuwerfen, er habe die Unwahrheit gesagt. Das müssten Sie schon belegen.
Ich darf Ihnen die Themen noch einmal in Erinnerung
rufen: Schweinepest, Geflügelpest und die Problematik
des verdorbenen Wildfleischs aus Bayern. Wir können
uns gerne noch einmal darüber austauschen. Es wäre interessant, zu wissen, an welcher Stelle Sie mir Unehrlichkeit oder Unwahrhaftigkeit vorwerfen.
Wenn Sie darauf anspielen, dass ich meiner Meinung
nach sehr interessiert danach gefragt habe, wie die Wildgeflügelverordnung umgesetzt werden soll, dann darf
ich Sie darauf hinweisen, dass es in der Presse heute eine
Berichterstattungsflut zu der Frage gibt, wie zukünftig
mit Katzen umzugehen ist, die eingesperrt werden müssen. Ich bin froh darüber, dass auch Landesminister erklärt haben, dass sich die Jäger nach wie vor an die gute
jagdliche Praxis zu halten haben und Katzen nicht einfach abschießen dürfen. Ich finde, es tut den Jägern gut,
dass die Position klar ist, und es tut auch den Haltern
gut.
({1})
- Das tut auch den Katzen gut.
({2})
- Jetzt auch noch Sie, Frau Höhn!
({3})
- Lassen wir das doch. Wir sollten wieder so miteinander umgehen, wie wir das auch sonst machen.
({4})
Sie sind sicherlich viel in Berlin unterwegs. Besuchen
Sie doch einmal die Tierheime und erkundigen Sie sich,
wie viele Katzen in der letzten Woche dort abgegeben
worden sind! Es gibt ein hohes Maß an Verunsicherung.
Ich denke, dass man im Ausschuss die Aufgabe hat,
nachzufragen.
Denken Sie an Ihre Redezeit.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Sie erinnern sich möglicherweise daran, dass ich über die Definition des Verdachtsfalls geredet habe.
({0})
Vielleicht sind auch Sie angerufen worden. Es hat einen
Verdachtsfall gegeben. Ein Schwein ist auf dem Transport zu einem Schlachtbetrieb in Südoldenburg zu Tode
gekommen. Die Gesamtladung des Transporters ist
durch Keulung getötet worden. Die Arbeit in der Versandschlachterei in Südoldenburg stand fünf Stunden still.
Heute wurde bei uns angefragt, wer die Kosten dafür
trägt. Es ist eine entscheidende Frage, ob es ein Verdachtsfall war, der auf behördliche Anordnung abgewickelt wurde, oder ob sich sozusagen nur jemand etwas
ausgedacht hat.
Herr Kollege Goldmann.
Insofern bin ich der Meinung, dass Sie zuhören sollten, bevor Sie Vorwürfe erheben.
Herr Kollege Goldmann, die drei Minuten sind abgelaufen.
Ich bin auch fertig. Danke.
Frau Rawert, wollen Sie etwas erwidern?
Nein, das klären wir so.
({0})
Dann erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann von der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Viele der im Antrag der Grünen
konkret genannten Forderungen waren und sind auch
Forderungen meiner Fraktion. Wir selbst haben bereits
die Streichung der Ministererlaubnis beantragt. Unsere
Kritik am Herkunftslandsprinzip der EU-Dienstleistungsrichtlinie war unüberhörbar. Ebenso wichtig ist uns
die Forderung nach Unisextarifen bei Versicherungsverträgen, die Sicherung der Postversorgung im ländlichen
Raum und vieles mehr.
Allerdings unterscheidet uns, glaube ich, die Sicht auf
die Verbraucherinnen und Verbraucher. Die Linke hat
ein anderes Grundverständnis von Verbraucherschutzpolitik: Für uns steht der Mensch als Sozialwesen im Mittelpunkt, das seinen Mitmenschen, aber auch der Umwelt und den nachfolgenden Generationen verpflichtet
ist. Dieser Mensch ist aufgrund der Machtverhältnisse in
der Marktwirtschaft schutzbedürftig, Herr Goldmann,
und zwar als Konsument von Sach- und Dienstleistungen, als alltäglicher Vertragspartner und als Adressat von
hoheitlichen Vorschriften, Informationen und behördlichem Handeln.
Historisch gesehen resultiert der Verbraucherschutzgedanke aus der Erkenntnis, dass wirtschaftliche Machtunterschiede zwischen Vertragsparteien oft zu Defiziten
beim Interessenausgleich führen.
({0})
Mündigkeit und Aufgeklärtheit allein - darauf reduziert
es die FDP - ändern noch nichts am Bedarf der Sicherstellung eines gerechten Interessenausgleichs.
({1})
Verbraucherinteressen unterliegen ganz konkreten sozialen Rahmenbedingungen. Daher fordern wir, dass die
Wahrnehmung von Verbraucherrechten nicht von den
sozialen Lebensbedingungen abhängig sein darf.
({2})
Das erfordert unter anderem kostenlose Informationszugänge, langfristig gesicherte, kostenfreie und dezentral
verfügbare Beratungsstrukturen sowie ein Verbands- und
Vereinsklagerecht, das es auch den Armen ermöglicht,
ihre Rechte wahrzunehmen.
({3})
Rot-Grün hat unbestritten das Verdienst, Fragen des
Verbraucherschutzes politisch aufgegriffen und die Sensibilität dafür verstärkt zu haben. Das war und bleibt
richtig. Allerdings fordern wir zum Beispiel einen Informationsanspruch statt einer elitären Informationsgewährung. Diese unterschiedliche Sichtweise zeigte sich
kürzlich bei § 28 a des Gentechnikgesetzes, den wir als
einzige Fraktion abgelehnt haben, weil er eben keinen
Anspruch auf Informationen sichert, erst recht keinen
umfassenden.
({4})
So ganz freiwillig war aber auch die Neuorientierung
hin zu mehr Verbraucherschutz nicht. Erst die BSEKrise hat den Stein richtig ins Rollen gebracht. Ob aus
den damaligen Analysen wirklich die richtigen Schlussfolgerungen gezogen wurden, muss angesichts immer
neuerer Skandale hinterfragt werden. Bei den damals
neu gegründeten Bundesämtern, dem BVL und dem
BfR, wurden immerhin die personellen Voraussetzungen
geschaffen, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Das muss nun für den Bereich der Risikobewertung
bei Infektionskrankheiten von Tieren im FriedrichLoeffler-Institut dringend nachgeholt werden. Hier muss
die Bundesregierung endlich die richtigen Schlussfolgerungen aus den vergangenen Wochen ziehen.
Werden andererseits die Bewertungen der politikberatenden Bundesforschungseinrichtungen von den Entscheidungsträgern ernst genug genommen? War beispielsweise die Entscheidung zugunsten niedrigerer
Altersgrenzen bei BSE-Untersuchungen - das soll nun
korrigiert werden - wirklich wissenschaftlich begründet? Warum reagiert die Bundesregierung so zögerlich
auf den Nachweis der Druckerchemikalie ITX in Getränken, obwohl das BfR feststellt, dass „die zum Teil hohen
Rückstände … aus Sicht der Risikobewertung nicht
akzeptabel“ sind? Warum wird hingenommen, dass die
Industrie die zur Bewertung notwendigen Daten erst
2010 bzw. 2015 vorlegen will, obwohl das BfR das beanstandet hat?
Allein diese Fragen zeigen, wie wichtig das Anliegen
der vorliegenden Anträge ist. Aber über die Umsetzung
werden wir uns noch streiten müssen.
Recht herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elvira DrobinskiWeiß von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sagt den Leuten nicht, wie gut Ihr die Güter macht,
sagt ihnen, wie gut Eure Güter sie machen.
Das ist ein Zitat eines amerikanischen Werbefachmanns
namens Leo Burnett. Es verdeutlicht auf einfache Weise
den Unterschied zwischen Verbraucherinformation und
Werbung. Den informierten Verbraucher fordern alle in
diesem Haus. Aber wer informiert ihn in welcher Form
und worüber? Hier stehen auch die Anbieter in der Verantwortung, die schließlich ihre Ware an den Mann bzw.
an die Frau bringen wollen.
({0})
Auf unserem Markt, auf dem es an nichts mangelt,
sind die Produkte angesichts des reichhaltigen Angebots
schwer zu unterscheiden.
({1})
Deshalb sind Informationen über Produkte für die Kaufentscheidung der Verbraucherinnen und Verbraucher
wichtig. Sie können ein echter Wettbewerbsvorteil sein,
({2})
wenn die Kunden ihre Wahl nicht ausschließlich nach
dem Preis oder der besseren Werbung, sondern nach der
Qualität treffen.
({3})
Unser Leitbild ist der mündige Verbraucher, der eigenverantwortlich und bewusst am Marktgeschehen teilnimmt und dadurch den Markt mitgestaltet.
({4})
Die aktive Verbraucherpolitik, für die wir stehen, beschränkt sich nicht allein auf den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher. Vielmehr wollen wir die Nachfrageseite des Marktes als gestaltende Kraft stärken, die
auch qualitative Ziele des Umwelt- und des Gesundheitsschutzes sowie Produktinnovationen und Qualitätsverbesserungen im Marktgeschehen verankert.
({5})
Wir wollen, dass die Menschen nachhaltig konsumieren können, das heißt, dass sie ihre Möglichkeiten nutzen, durch bewusste Kaufentscheidungen Verantwortung
für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu übernehmen,
der am schonenden Umgang mit unseren natürlichen
Ressourcen, an Gesundheits- und Sozialstandards und
dem Erhalt von Arbeitsplätzen festhält und diese nicht
für kurzfristige Gewinne an der Börse opfert.
({6})
Dass es bei den Verbrauchern die Bereitschaft gibt,
durch bewusste Kaufentscheidungen den Markt mitzugestalten, zeigen die enormen Zuwachsraten im Bereich
der Ökolebensmittelwirtschaft.
({7})
Dort ist inzwischen die Nachfrage größer als das Angebot. Wir haben vorletzte Woche darüber diskutiert. Voraussetzung für die Bereitschaft der Konsumenten, sich
mit der Wahl bestimmter, eventuell auch teurerer Produkte in das Wirtschaftsgeschehen einzumischen, ist allerdings, dass für den Käufer der Vorteil dieses Produktes erkennbar ist.
({8})
Er will und er muss über die Qualität der Produkte informiert sein; denn nur dann kann er Produkte unterscheiden und sich bewusst für Qualität entscheiden. Qualität
ist nicht nur im Interesse der Verbraucher, sondern auch
im Interesse unserer Wirtschaft; denn der weltweite
Wettbewerb um Niedrigpreise ist für unsere Wirtschaft
nicht zu gewinnen, der Wettbewerb um Qualität schon.
({9})
Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik von der
Nachfrageseite. Verbraucherinteressen müssen ein integraler Bestandteil des politischen Handelns sein. Die
Wirtschaft muss den Verbrauchern nützen; denn wo der
Kunde König ist, da kauft er, und das nützt der Wirtschaft.
({10})
Ein funktionierender Wettbewerb erfordert starke
Verbraucherrechte. Ein Gleichgewicht zwischen Anbietern und Nachfragern ist für eine moderne und innovative Wirtschaft unverzichtbar.
({11})
Wir wollen mehr Markttransparenz und Orientierung auf
immer unübersichtlicheren und komplexeren Märkten.
Dazu gehört auch, dass wir die unabhängige Verbraucherberatung sicherstellen, damit sich Abnehmer und
Anbieter auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen.
({12})
Die Verbraucherzentralen der Länder und des Bundesverbandes sowie die Stiftung Warentest sind von zentraler Bedeutung für die Beratung und Information der Verbraucher.
Die Anträge der Opposition lehnen wir ab. Die Forderungen der Grünen stehen längst auf unserer Agenda.
Der Antrag der FDP steckt voller Widersprüche und
Wortmonstren wie - ich zitiere - „einem staatlich reglementierten subsidiären Verbraucherschutz“. Es bleibt
unklar, was Sie wollen. Diesen Antrag hätte man diesem
Haus wohl besser erspart.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/684 und 16/825 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Landwirte durch die Umsetzung der EU-Richtlinie
zur Haltung von Nutztieren in nationales
Recht
- Drucksache 16/590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucher! Es geht hier um Nutztiere.
Vielleicht weiß der eine oder andere Besucher nicht, was
ein Nutztier ist. Es geht hier konkret um das Halten von
Schweinen mit dem Ziel, sie zu mästen, um mit Schweinefleischprodukten zu wirtschaften.
({0})
- Wir sind jetzt in der Bildungsphase, Herr Tauss. Hören
Sie ruhig einmal zu! Das tut Ihnen gut.
({1})
Ich weiß wohl, dass dieser Sachverhalt nicht so wahnsinnig viele Menschen direkt berührt, weil sie nicht wissen, welche Problematik dahintersteckt. Wir alle verlangen von der Landwirtschaft, dass sie sich am Markt
orientiert, dass sie ihr Geld auf dem Markt verdient.
Manche beschimpfen die Landwirtschaft und stellen sie
als Subventionsempfänger hin. Frau Höhn, Ihre Aussage, die heute auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung zu
lesen ist, ist durchaus richtig. Auch ich bin für Transparenz. Aber ich bin entschieden dafür, das, was den Bauern gegeben wird, nicht als Subvention im klassischen
Sinn zu bezeichnen. Vielmehr ist es eine Ausgleichshilfe, damit es in Deutschland überhaupt Landwirtschaft
gibt.
Wenn wir in Deutschland Landwirtschaft haben wollen, dann muss man den Landwirten eine Chance geben.
Die Landwirte selbst sind sehr wohl bereit, ihre Chance
zu nutzen. Ich bin davon überzeugt, dass die deutschen
Landwirte von der fachlichen Seite her die besten in der
Welt sind.
({2})
Wir haben hervorragende Strukturbedingungen. Wir
sind beim Landmaschinenbau absolute Spitze. Wir haben
großartige Forschungseinrichtungen. Außerdem sind die
klimatischen Bedingungen bei uns vielerorts sehr günstig. Wie ich schon sagte, sind die infrastrukturellen und
damit auch die Vermarktungsbedingungen sehr gut. Deswegen kommt es nicht von ungefähr, dass wir durchaus
den Weltmarkt erobern. Im letzten Jahr hatten wir in diesem Bereich einen Zuwachs von 6,5 Prozent.
So wie wir alle vom mündigen Verbraucher sprechen,
so sollten wir auch den mündigen Produzenten im
Blick haben. Warum in drei Teufels Namen muss eine
Verordnung der europäischen Ebene - sonst lasten wir
solche Verordnungen sehr schnell den bösen Bürokraten
in Europa an - bei uns überholt werden? Warum müssen
wir national draufsatteln, wenn wir doch wissen, dass
der Landwirt die Entscheidung darüber, was für das Tier,
was für die Produktion und was für den Ertrag gut ist,
am besten allein treffen kann? Warum gehen wir diesen
Weg auch jetzt noch?
({3})
- Frau Höhn, jetzt sind Sie aus dem Geschäft. Ihre Idee
war früher: Immer noch einen draufsatteln und dann
müsste das schon irgendwie klappen. Ihre Erfolge waren
ja nicht so üppig. Ein Ökoanteil von 2,5 Prozent ist nicht
gerade eine glänzende Bilanz.
({4})
Alle, die im Bereich der Landwirtschaft tätig sind, sagen Ihnen: Die Landwirte haben darunter gelitten, dass
diese Vorgabe überholt wurde. Was machen Sie, liebe
Freunde von CDU/CSU und SPD? Sie machen genauso
weiter. Das ist mir völlig unverständlich.
Irgendwie ist man manchmal betroffen. Als Frau
Merkel hier vor einiger Zeit einmal sagte, ich bin für
Sachlichkeit und Fachlichkeit, da habe ich gedacht: Das
ist die richtige Frau, sie sollte unser Land führen; wir
machen das mit.
({5})
In Ihrer Koalitionsvereinbarung steht - die trägst auch
du mit, Kollege Zöllmer -, man wolle diese EU-Verordnung eins zu eins umsetzen. Daher haben die Menschen
geglaubt, sie werde eins zu eins umgesetzt. Was passiert
jetzt? Es wird draufgesattelt. Es ist zu viel und es gefährdet die Existenz unserer Betriebe.
({6})
Der Kollege Priesmeier hat gesagt: Irgendwann
kommt von der europäischen Ebene möglicherweise
eine Verordnung, die über die bisherige hinausgeht. Man
kann das Vorgehen der Koalition daher als vorauseilenden Gehorsam interpretieren. Warum eigentlich vorauseilender Gehorsam? Warum überlässt man die Entscheidung nicht denjenigen, die es genau wissen? Wer meint,
er müsse über die Eins-zu-eins-Umsetzung hinausgehen, der sollte das tun. Für denjenigen, der sich auf dem
internationalen Markt bewähren muss, ist eine Eins-zueins-Umsetzung völlig ausreichend, weil er den Wettbewerb mit den Niederländern, mit den Dänen und mit den
Franzosen sonst verliert. Genau das wird passieren,
wenn Sie die Schweinehaltungsverordnung nicht eins zu
eins in nationales Recht umsetzen.
({7})
Ich möchte noch etwas zu den vorhin angesprochenen
Erfolgen sagen. Im Agrarbereich ist bis jetzt ein einziger
Erfolg erzielt worden: Wir sind, was das BSE-Testalter
angeht, endlich vernünftig geworden.
({8})
Dafür ist aber nicht Herr Seehofer verantwortlich; vielmehr haben wir, die FDP, gedrängt und gedrängt und gedrängt und gedrängt.
({9})
- Frau Kollegin Rawert, Vorsicht! Ich hatte schon vorhin
den Eindruck, dass Sie nicht gut zuhören. Jetzt habe ich
auch noch den Eindruck, dass Sie die Fachpresse nicht
lesen. Wenn Sie die Fachpresse läsen, wüssten Sie, dass
die FDP für ihren mutigen Einsatz in dieser Frage nachhaltig unterstützt worden ist.
({10})
- Glauben Sie mir: Unsere Fleischwirtschaft, unsere Betriebe sind in diesem Fall der FDP und den Länderlandwirtschaftsministern dankbar; die haben nämlich Herrn
Seehofer zur Vernunft gebracht. Jetzt testen wir so, wie
in Europa getestet wird, und belügen die Verbraucher
nicht, indem wir sagen, dass das Rindfleisch, was auf
dem deutschen Markt ist, irgendwie besonders getestet
ist, weil Deutschland anders als andere Länder auch bei
noch jüngeren Tieren testet.
({11})
In diesem Fall war es gut. Seien Sie vernünftig! Machen Sie eine Eins-zu-eins-Umsetzung! Dann können
wir agrarpolitische Freunde werden.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Röring von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Jahrhundertelang wurden in Deutschland Tiere gehalten - ohne Tierhaltungsverordnung.
({0})
Man hat den Menschen ganz einfach zugetraut, mit ihren
Tieren, mit ihrem Vieh verantwortungsvoll umzugehen.
Dieser Bereich ist heute wie fast alle Bereiche natürlich
genauestens geregelt. Da die Landwirtschaft in Europa
wie kein anderer Wirtschaftszweig vergemeinschaftlicht
ist, übernimmt dies natürlich die Europäische Union.
Dies geschieht dann durch Richtlinien und Verordnungen, die sie erlässt.
Die Änderung der EU-Richtlinie zur Haltung von
Nutztieren vom 9. November 2001 muss in Deutschland
dringend umgesetzt werden, da wir sonst hohe Strafzahlungen leisten müssten.
({1})
Die vorherige Verbraucherschutzministerin Künast hat
mehrere Anläufe unternommen - glücklicherweise vergeblich -, die Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Hierbei
hat sie völlig überzogen und versucht, die Vorgaben der
EU in einer Weise zu verschärfen, die der deutschen
Land- und Agrarwirtschaft großen Schaden zugefügt
hätte.
({2})
- Moment, Herr Goldmann! - Die 26 Millionen Schweine, gehalten von 91 000 verantwortungsvollen Bäuerinnen und Bauern, haben nämlich in dieser Zeit der Nichtumsetzung in Form einer Schweinehaltungsverordnung
nicht gelitten. Sie haben keinen Schaden genommen. Sie
sind nicht gequält worden. Sie haben sich wohl gefühlt.
({3})
Tierhaltung ist keine starre Angelegenheit; Tierhaltung wird ständig fortentwickelt. So ist es in den letzten
Jahrzehnten gelungen, durch ein sehr gutes Zusammenarbeiten von Praxis, Wirtschaft und Wissenschaft die
Schweinehaltung in Deutschland auf ein weltweit führendes Niveau zu bringen.
({4})
Nur ein kleines Beispiel für die Innovationsfähigkeit
der Branche in der landwirtschaftlichen Tierhaltung
möchte ich Ihnen geben: Die tierischen Leistungen in
unseren Haltungssystemen haben sich enorm verbessert.
Waren für die Erzeugung von 1 Kilogramm Schweinefleisch in früheren Jahren - in Teilen Osteuropas trifft
das noch heute zu - etwa 6 bis 7 Kilogramm Futter notwendig, haben es die Tierhalter geschafft, dass heute mit
etwa 2,7 Kilogramm Futter 1 Kilogramm hochwertiges
Schweinefleisch erzeugt wird.
Das hört sich einfach an, ist aber ein Beispiel mit gravierenden Auswirkungen. Wenn man diese Zahl auf die
4,2 Millionen Tonnen Schweinefleisch hochrechnet, die
in Deutschland im Jahr erzeugt werden, entspricht das
einer Ersparnis von 18 Millionen Tonnen Getreide. Das
ist mehr als ein Drittel der deutschen Getreideproduktion. Zu berücksichtigen ist, dass ähnliche Effekte auch
bei den anderen Tierarten zu erreichen sind. Da kommt
also noch einiges hinzu.
Wenn ich diese Ergebnisse der heutigen zukunftsorientierten, modernen und innovativen Landwirtschaft,
diese gewaltigen Verbesserungen zusammen betrachte,
dann muss ich klar sagen: Wenn wir dies nicht geschafft
hätten, dann dürften wir zum Beispiel über Biomasse
und deren Einsatz zur energetischen Verwertung überhaupt nicht reden. Dann würden nämlich sämtliche Erträge unserer Ackerflächen für die Tierhaltung benötigt.
Wir hätten nicht so große Potenziale, zusätzlich auch
noch Energie und Rohstoffe auf unseren Äckern zu erzeugen.
({5})
Tierhaltung, meine Damen und Herren, ist in der Vergangenheit ständig weiterentwickelt worden. Jeder neu
gebaute Stall ist ein Fortschritt bei der Tierhaltung und
damit für den Tierschutz.
({6})
Beheizte und voll klimatisierte Schweineställe verbessern nicht nur die Bedingungen für die Tiere, sondern
schaffen auch einen für den Tierhalter angenehmen Arbeitsplatz. Wer möchte da noch zurück zu den Verhältnissen der guten alten Zeit? Ich nicht, da ich diese Zeit
und diese Verhältnisse noch selbst erlebt habe.
({7})
- Aber ich habe Erfahrung, Herr Goldmann. - Für die
Milchviehhaltung haben die Tierhalter - übrigens ohne
gesetzliche Regelung - völlig neue Haltungsformen entwickelt. Die Tiere werden hier nicht mehr den ganzen
Winter angekettet, sondern laufen mittlerweile frei herum und liegen teilweise sogar auf Wasserbetten.
({8})
- Auf Wasserbetten. Sie können das nicht kennen, da Sie
nicht aus der Praxis kommen.
({9})
Kommen wir zurück zu den Schweinen.
({10})
Wir diskutieren hier und heute über eine neue Schweinehaltungsverordnung, die den Anforderungen an eine moderne Tierhaltung gerecht wird. Sie entspricht den Bedürfnissen der Tiere, indem sie ihnen mehr Platz und
Licht zugesteht, als die Vorgaben der EU vorsehen.
({11})
Die Schweinehaltungsverordnung entspricht auch den
Bedürfnissen des Verbrauchers, denn dieser will - das
hat er in vielen Umfragen deutlich bekundet - deutsches
Schweinefleisch. Das bekommt er aber nur, wenn die
Tierhaltung bei uns im Lande bleibt.
({12})
Aktuell wird 90 Prozent unseres Bedarfes mit heimischem Schweinefleisch gedeckt.
Die Schweinehaltungsverordnung entspricht darüber
hinaus den berechtigten Forderungen der Bevölkerung
nach Tierschutz. Doch eines ist ebenso klar: Nehmen wir
keine Abwägung zwischen Tierschutz und Wettbewerbsfähigkeit bei der heimischen Produktion von tierischen Nahrungsmitteln vor, besteht die große Gefahr,
dass die Erzeugung aus Kostengründen in andere Standorte außerhalb Deutschlands verlagert wird.
({13})
Dort hätten wir wenig Einfluss auf den Umgang mit den
Tieren und wir würden hier bei uns Arbeitsplätze in erheblichem Maß verlieren.
Dies gilt neben Schweinen in besonderem Maße auch
für Legehennen, also für die Erzeugung von Eiern. Hier
versorgen wir uns in Deutschland zu 69 Prozent selbst;
vor vier Jahren, 2002, waren es noch 74 Prozent. Diesen
Warnhinweis sollten wir beachten. Über die zukünftigen
Haltungsvorschriften wird auch in diesem Fall schon
viel zu lange diskutiert. Lassen Sie uns deshalb dafür
Sorge tragen, dass wir, wie jetzt bei den Schweinen geplant, möglichst schnell die neue Form der Legehennenhaltung beschließen, damit die Landwirtschaft auch in
diesem Bereich endlich wieder Planungssicherheit bekommt.
({14})
Wir müssen wissen, dass wir durch zu zögerliches
Handeln nicht nur Arbeitsplätze in der Landwirtschaft,
also direkt auf den Bauernhöfen, verlieren, sondern noch
weit mehr krisenfeste Arbeitsplätze in den vor- und
nachgelagerten Bereichen gefährden, die wir dringend
benötigen und erhalten müssen. Die deutsche Agrarwirtschaft ist immerhin der viertgrößte Gewerbezweig mit
4 Millionen Arbeitsplätzen. Dabei nimmt die Tierhaltung den größten Anteil ein. Darüber hinaus - das wird
viel zu oft vergessen -, sorgen wir für die Ernährung unserer 82 Millionen Einwohner, und das fast zu 100 Prozent.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Der
Antrag der FDP, Herr Goldmann, wurde von der Wirklichkeit überholt. Die gute fachliche Praxis auf unseren
Bauernhöfen ist schon einige Schritte weiter.
({15})
Nichts anderes berücksichtigt die unionsgeführte Bundesregierung in der jetzigen Verordnung. Daher lehnen
wir Ihren Antrag ab.
({16})
Herr Kollege Röring, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann
von der Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste und Besucher! Es ist schon erstaunlich, welche Konjunktur die Schweine in diesen Tagen in der Öffentlichkeit haben. Das Schwein ist politisch gesehen sozusagen in aller Munde.
({0})
Jetzt geht es also um das Schwein an sich und um einen Verordnungsentwurf, den das Bündnis Tierschutz
den Schweinekompromiss nennt und der ein weiteres
Beispiel dafür ist, wie im Bund-Länder-Kompetenzgerangel und politischen Profilierungsdschungel manch
wichtiges Anliegen auf der Strecke bleibt.
({1})
Es geht in der Bundesrepublik immerhin um knapp
27 Millionen Schweine in etwa 90 000 Beständen. Das
heißt, hier geht es unbestritten auch um wirtschaftliche
Existenzen.
Die von der FDP als letztes Wort beschworene EURichtlinie sollte bis 2003 in nationales Recht umgesetzt
sein und sieht bereits in zwei Jahren ohnehin eine Revision vor. Angesichts dieser Situation greift nun die FDP
in ihr Antragsarchiv 2002 und fordert erneut eine Einszu-eins-Umsetzung mit dem Argument der Wettbewerbsverzerrung.
Nun haben solche Argumente ja im Moment Hochkonjunktur. Standardabbau wird, neben Bürokratieabbau, zum Generalschlüssel erklärt. Natürlich kann jeder
von uns treffliche Beispiele als Beleg dafür nennen.
Aber auf einen merkwürdigen Umstand wurden wir neulich bei einer Anhörung unserer Fraktion zum Koalitionsvertrag hingewiesen: In der EU hat man sich sehr
schnell auf so absonderliche Standards wie die Krümmung der Banane oder die Länge der Gurke einigen können; nur bei gesellschaftlich wichtigen Standards wie
Sozial-, Umwelt-, Steuer- oder Tierschutzstandards versagt der politische Wille zur Einigung oft sehr jäh.
Aber davon abgesehen: Es muss doch die so liebevoll
gepflegten politischen Vorurteile mächtig ins Wanken
bringen, wenn jetzt ausgerechnet die Fraktion Die Linke
die FDP in diesem Hohen Haus daran erinnern muss,
dass in der vorneoliberalen Zeit gerade die hohen Standards den Wirtschaftsstandort Deutschland international
konkurrenzfähig gemacht haben. Hohe Löhne können
wir nur mit hohen Qualitätsstandards sichern.
({2})
- Gemach, gemach. - Das hat man mir in der vergangenen Woche in Neuruppin in einem mittelständischen Unternehmen, das Feuerlöscher herstellt, erklärt. Diese hohen Qualitätsstandards solle ihnen die Politik unbedingt
erhalten.
({3})
Das sei erfolgreiche Mittelstandpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Aber gut. Fragen wir konkret, welche Regelungen
denn in dem vorliegenden Entwurf der Schweinehaltungsverordnung den Wettbewerb verzerren könnten.
Der Entwurf orientiert sich sehr stark an dem ArbeitsDr. Kirsten Tackmann
stand im Dezember 2004 und tritt damit gleichzeitig
wieder zwei Schritte hinter bereits Erreichtes zurück.
An folgenden zweieinhalb Punkten geht der Entwurf
der Verordnung in der Tat über Angaben in der EURichtlinie hinaus: Er genehmigt den Schweinen 3 Prozent Fensterfläche, bei bestimmten Stalltypen 1,5 Prozent. Das sind 60 bis 80 Lux Tageslicht - welch ein
Luxus! - statt 40 Lux Kunstlicht in der EU-Richtlinie.
Zum Vergleich: Selbst ein trüber Dezembertag bringt
3 000 Lux. Zweitens sollen jedem Mastschwein mit
0,75 Quadratmetern 0,1 Quadratmeter mehr Fläche als
in der EU-Richtlinie zugestanden werden.
({4})
Außerdem werden fünf Kategorien aufgestellt, die die
EU-Richtlinie nicht enthält, wobei der Sinn von drei dieser Kategorien kaum bestritten wird. Und das soll den
Wettbewerb tief greifend verzerren?
Wagen wir einmal einen Blick über den Tellerrand:
Auch ein Land wie Dänemark, das mit 85 bis 90 Prozent
Schweinefleischexport auf den internationalen Märkten
sehr erfolgreich ist - leider ohne ein Musterland in Sachen Tierschutz zu sein -, spendiert seinen Sauen eine
größere Fläche, als in der EU-Richtlinie vorgesehen.
({5})
In den Niederlanden trifft das auf Ferkel und Mastschweine zu.
Gönnen wir also den Schweinen etwas mehr als das
EU-Minimum! Standarddumping würde die Marktchancen unserer Landwirtschaft nur schwächen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute erleben, ist die Fortsetzung der unendlichen Geschichte des Herrn Goldmann:
({0})
Er begründet einen relativ kurzen Antrag, der aber in der
Sache relativ unpräzise, in den Grundaussagen falsch
und daher vollständig überflüssig ist.
({1})
Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren, Herr Goldmann:
… da das zwangsläufig zum Verlust weiterer
Marktanteile in der Schweineproduktion … führt.
({2})
Ich frage Sie, Herr Goldmann: Wie viele Marktanteile
haben wir denn in den letzten Jahren verloren?
({3})
Wenn Sie sich ein bisschen mit Statistik beschäftigen
würden, dann wüssten Sie, dass allein im Zeitraum von
1998 bis 2005 die deutsche Schweineproduktion um
20 Prozent gestiegen ist,
({4})
und zwar auch in Niedersachsen zum überwiegenden
Teil auf Grundlage einer Rechtslage, die genau das beinhaltet, was Bestandteil der jetzt im Bundesrat zur Beratung anstehenden Schweinehaltungsverordnung ist.
({5})
- Der alte Erlass beinhaltet genau das. Wenn Sie das
nicht glauben, dann darf ich aus der Pressemitteilung des
niedersächsischen Landschaftsministers Ehlen zitieren:
Seitens der niedersächsischen Schweinehalter ist
festzustellen, dass der von der Bundesregierung vorgelegte Kompromiss für eine nationale Schweinehaltungsverordnung weitestgehend der hiesigen
Landesregelung entspricht.
({6})
Der Bundesvorschlag beinhaltet Mindestanforderungen, die zu Beginn der seit Jahren andauernden
politischen Debatte mit landwirtschaftlichen Interessenverbänden, dem Tierschutzbeirat, Veterinärbehörden und Wissenschaftlern beraten bzw. abgestimmt wurden.
Was wollen Sie, Herr Goldmann? Sie wollen auf
Standards zurück, die auf Erkenntnissen von 1991 beruhen. Sie nehmen einfach nicht zur Kenntnis - der Herr
Kollege hat es Ihnen vorhin bewiesen -, was sich zwischenzeitlich in Deutschland in der Schweinehaltung getan hat und welche Fortschritte wir erreicht haben.
({7})
Diese Entwicklung ist nicht durch die niedersächsische
Erlasslage aufgehalten worden, die genau das wiedergibt, was wir jetzt in der Schweinehaltungsverordnung
im Wesentlichen umsetzen werden.
({8})
Herr Kollege Goldmann, wenn es um Wettbewerb,
Wettbewerbsfähigkeit und Konkurrenz geht, schauen Sie
doch einmal über die Grenze auf die Niederlande. Es
gibt nur eine große Region, in der die Niederländer
Schweine produzieren. Grundsätzlich gibt es fast die
gleichen Voraussetzungen. Aber die niederländische
Schweineproduktion zeichnet sich, was ihre Entwicklung angeht, durch das genaue Gegenteil aus.
({9})
Während bei uns die gesamte Schweineproduktion seit
1998 um 750 000 Tonnen zulegte, verringerte sie sich in
den Niederlanden um exakt 472 000 Tonnen und damit
um 30 Prozent.
({10})
Aber Sie reden davon, dass es unter diesen Marktbedingungen keine Wettbewerbsgerechtigkeit gibt und dass
wir nicht wettbewerbsfähig sind.
({11})
Das, lieber Herr Kollege Goldmann, kauft Ihnen doch
wirklich keiner ab.
Herr Priesmeier, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Goldmann?
Ja, ich erlaube das immer.
Bitte, Herr Goldmann.
({0})
Ich mache es ganz kurz; sonst sind Sie überfordert,
Frau Kollegin.
Lieber Wilhelm Priesmeier, ist dir bekannt, dass die
Niederländer völlig andere Voraussetzungen in ihrem
Staat haben? Sehr viele Menschen leben dort auf relativ
wenigen Quadratkilometern. Deshalb haben die Niederländer mit enormen finanziellen Mitteln ein Modell entwickelt, das es vielen Landwirten ermöglicht, außerhalb
des Landes tätig zu sein. Die niederländischen Landwirte betreiben heute im großen Stil Schweinewirtschaft
beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern.
Weil dort die Erlasslage ähnlich ist wie in Niedersachsen.
Herr Kollege, Sie müssen mich wenigstens ausreden
lassen. - Ist dir ferner bekannt, dass die Regelungen, die
die Niederländer in ihrer Schweinehaltungsverordnung
getroffen haben, auf Vorgaben der EU beruhen? Wenn
einer mehr machen will, dann kann er es dort tun. Genau
das ist die Grundlage der Vereinbarung in Niedersachsen.
Niedersachsen hat sich bis jetzt eindeutig auf einer
Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Richtlinien bewegt
und hat den Landwirten die Freiheit gegeben, dass derjenige, der will, beispielsweise eine besondere Form der
Züchtung ausüben oder Ökolandwirtschaft betreiben
kann. Ist dir das bekannt?
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass die Landwirte aus Holland nicht zu uns kommen, weil es hier
Wettbewerbsnachteile gibt, sondern weil es sich lohnt, in
unserem Land zu investieren, Arbeitsplätze zu schaffen
und zu produzieren.
({0})
Einige gehen natürlich auch woanders hin, weil es
dort unter Umständen aussichtsreichere Märkte gibt.
Aber wenn man in der EU unter hervorragenden Bedingungen produzieren will, dann kann man das in unserem
Land tun.
({1})
In Deutschland haben wir 20 Prozent aller Mastschweine EU-weit. Da sind wir in der Tat wettbewerbsfähig.
({2})
- Das wird auch so bleiben, Herr Goldmann, ob Sie Ihren Antrag zurückziehen oder nicht. Denn ich halte ihn,
wie gesagt, von der Sache her für vollständig daneben
und falsch.
({3})
Sie wiederholen in Ihrem Antrag all das, was Sie schon
vor vier Jahren gesagt haben. Da hat sich in Ihrem Kopf
anscheinend nicht allzu viel bewegt. Gegenüber neuen
Erkenntnissen
({4})
sind Sie resistent.
Gehen Sie doch einmal auf Beratungstour, Herr Kollege! Gehen Sie einmal in die Bundesländer, an deren
Landesregierungen Ihre Partei beteiligt ist! Gehen Sie
einmal nach Niedersachsen und überzeugen Sie die Niedersachsen davon, dass diese EU-Richtlinie vom Bundesrat eins zu eins umgesetzt werden muss! Gehen Sie
nach Nordrhein-Westfalen und überzeugen Sie Ihre Kollegen im Landtag von Nordrhein-Westfalen davon, darauf zu bestehen, dass die Landesregierung die EURichtlinie eins zu eins umsetzt!
({5})
Dafür wünsche ich Ihnen viel Erfolg.
Die Entwicklung und die Diskussion sind an Ihnen
vorbeigegangen, Herr Goldmann. Sie haben es nur nicht
gemerkt.
({6})
- Selbstverständlich. - Sie haben es nicht gemerkt; so ist
das nun einmal. Wenn man Anträge gründlicher erarbeiDr. Wilhelm Priesmeier
ten würde, würde einem manches auffallen und würde
man einiges mitbekommen.
Sie verlangen natürlich nicht die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie bei der Hennenhaltung in
Deutschland.
({7})
- Das verlangen Sie jetzt auch? Zurück in die alten Käfige bis 2012! Das ist Tierschutz, wie er im Buche steht,
Herr Goldmann. Wenn das die Position der FDP zum
Tierschutz ist, dann tut mir das Leid.
({8})
Eines muss man doch erkennen: Ich kann mich noch
an die Zeiten erinnern, als es in diesem Zusammenhang
überhaupt keine Regelung gegeben hat. Da waren bis zu
35 bzw. 40 Prozent der Bestände überbelegt. Da habe ich
als Tierarzt relativ gutes Geld verdient,
({9})
weil sich der Einsatz von Antibiotika zum Teil in Größenordnungen bewegt hat, die wir alle heute Gott sei
Dank nicht mehr kennen.
({10})
Man muss einmal zur Kenntnis nehmen, was sich in
diesem Bereich getan hat. Das ist nicht darauf zurückzuführen, dass wir keine Regelung hatten, sondern darauf,
dass man irgendwann angefangen hat, über diese Verhältnisse nachzudenken und adäquate Regelungen im
Sinne des Tierschutzes zu treffen. Denn all das, was wir
in einer Verordnung festschreiben, hat seine Grundlage.
Die Ermächtigungsgrundlage für eine Verordnung ist das
Tierschutzgesetz. Also ist sie zunächst einmal unter
Tierschutzaspekten zu sehen und abzuhandeln. Dabei
geht es natürlich um den Ausgleich von ökonomischen
Interessen auf der einen Seite und Tierschutzaspekten
auf der anderen Seite. Tierschutz und Ökonomie widersprechen sich im Grunde überhaupt nicht. Im Gegenteil: Die Mastleistung und der Gesundheitsstatus, den
man in den Betrieben erreichen kann,
({11})
sind natürlich unmittelbar von den Bedingungen abhängig, unter denen die Tiere aufwachsen und gehalten werden.
Eine Bemerkung zu dem, was Sie zu Holland gesagt
haben: Die Holländer schreiben bei Stallneubauten
0,8 Quadratmeter pro Schwein vor. Das ist mehr als das,
was wir im Augenblick vorschreiben. Ab 2012 schreiben
sie 1 Quadratmeter in der Mastgruppe 85 bis 110 Kilogramm vor.
({12})
Es ist bei weitem nicht richtig, was Sie eben behauptet
haben. Sie haben behauptet, die Holländer lägen unter
den Standards, die wir im Augenblick formulieren. Das
ist nicht zutreffend und sachlich falsch, Herr Kollege
Goldmann.
Ich hoffe, dass wir uns heute im Deutschen Bundestag
das letzte Mal über die Schweinehaltungsverordnung
streiten und unterhalten. Denn die ist längst überfällig;
das wissen wir. Es hat eine unsägliche Verknüpfung zwischen der Schweine- und der Hennenhaltung gegeben.
({13})
Ich halte es auch heute noch nicht für richtig, dass man
so vorgegangen ist. Wir hätten so nicht zu vernünftigen
Regelungen kommen und Rechtssicherheit und Planungssicherheit für die landwirtschaftlichen Betriebe
schaffen können. Das können wir jetzt tun. Ich glaube,
das werden die Bundesländer mit der Unterstützung und
der Unterschrift des Bundesministers in die Tat umsetzen.
Positionen, wie sie heute von Ihrer Seite vertreten
werden, werden zwangsläufig nicht zum Zuge kommen.
Sie sollten in diesem Hause keine Schwarzmalerei betreiben und nicht versuchen, den schwarzen Peter hin
und her zu schieben. Das ist nicht zweckdienlich. Das
führt nicht weiter. Der vernünftige Konsens, den wir in
reiflicher Auseinandersetzung und Diskussion mit den
Kollegen von der CDU/CSU in diesem Zusammenhang
erreicht haben, trägt. Er wird auch im Bundesrat tragen;
davon bin ich fest überzeugt.
Herr Kollege Goldmann, Ihre Argumente - das wird
man rückblickend sehen - laufen ins Leere.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Goldmann, ich freue mich, dass Sie mit Ihrer wirklich veralteten Position der Eins-zu-eins-Umsetzung des
Schweinehaltungserlasses allein in der Ecke stehen. Es
ist richtig, dass Sie dafür keine Unterstützung bekommen.
({0})
Ich freue mich auch, dass die Bundesregierung schon
beim ersten wichtigen Fall von dem abweicht, was sie
vorher verkündet hat. Im Koalitionsvertrag steht nämlich, alles werde eins zu eins umgesetzt. Schon beim
ersten konkreten Fall wird das nicht getan. Das ist richtig
so.
Herr Goldmann, wie sollen denn die Landwirte in
Deutschland Spitze bleiben - das haben Sie zu Recht gesagt -, wenn es nur zu einer durchschnittlichen Eins-zueins-Umsetzung kommt? Mit dem Durchschnitt kann
man nicht Spitze sein, Herr Goldmann. Das wissen gerade Sie von der FDP.
({1})
- Ja, weil Sie mit einer Eins-zu-eins-Umsetzung Durchschnitt sein wollen, können Sie nicht Spitze sein. Das
haben Sie mittlerweile verstanden.
({2})
Herr Goldmann, was Sie wollen, ist auch deshalb ungehörig - auch den Schweinen gegenüber -,
({3})
weil sich die FDP noch 2002 vollmundig für die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung ausgesprochen hat. Aber beim ersten konkreten Fall sagen Sie:
Tierschutz muss bei wirtschaftlichen Gesichtspunkten
zurückstehen.
({4})
Also, Herr Goldmann: Nicht einfach nur lautstark etwas
fordern, sondern es am Ende auch in die Tat umsetzen!
Der Tierschutz steht heute in der Verfassung. Zudem
gibt es ein Verfassungsgerichtsurteil von 1999, das sich
auf die Käfighaltung bei Hennen bezieht, aber bei anderen Tieren, zum Beispiel bei Schweinen - das sagen die
Richter -, genauso umgesetzt werden muss.
Deshalb finde ich es wichtig, dass man sich einmal
überlegt, was das, was Sie, Herr Goldmann, wollen, bedeutet.
Wir haben gerade über die Fläche gesprochen.
Schauen wir uns jetzt einmal genau an - ich habe hier
die Tabelle -, was die EU vorschreibt. Die EU fordert für
Schweine von 86 bis 110 Kilogramm eine Fläche von
0,65 Quadratmetern. 110 Kilogramm, das kann sich jeder vorstellen. Es gibt ein paar Kaventsmänner, die vielleicht 110 Kilogramm wiegen.
({5})
Herr Goldmann, jetzt beziehen Sie das einmal auf
Ihre Wohnung. Wir nehmen nicht das Ehebett, sondern
ein Einzelbett. Ein Einzelbett hat eine Größe von einem
Meter mal zwei Metern, also zwei Quadratmetern. Jetzt
rechnen Sie sich das einmal aus: Drei Schweine
à 110 Kilogramm sollen in dieses Einzelbett passen. Ich
sage Ihnen: Drei Schweine im Bett, das ist zu viel! Das
dürfen wir nicht zulassen.
({6})
Deswegen sollte wenigstens das, was diese und die vorherige Bundesregierung vorgesehen haben, eingehalten
werden: ein Quadratmeter für ein 110-Kilo-Schwein.
Zwei Schweine im Bett, das finde ich okay.
({7})
Unabhängig davon, dass Diskussionen über Schweine
manchmal belustigend sein können, will ich noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Wir müssen nämlich
überlegen, was das für die Landwirte bedeutet. Wir haben eben über die Niederländer gesprochen, die in die
neuen Bundesländer gehen und dort große Schweineställe bauen. Teilweise sind bis zu 90 000 Schweine in
einem Schweinestall geplant.
({8})
90 000 Schweine in einem Schweinestall!
({9})
Herr Röring, das ist eben etwas anderes als das, was
Bauern vor hundert Jahren gemacht haben.
Ich glaube, wir alle sind uns - unabhängig davon, was
wir genau wollen - in einem Punkt einig: Wir wollen die
Batteriekäfighaltung nicht mehr.
({10})
Wir müssen aufpassen, dass wir mit den Ställen für
90 000 Schweine nicht wieder zu einer Form der Industrialisierung in der Landwirtschaft kommen, wie wir
sie mit den Batteriekäfigen hatten und leider in einigen
Betrieben noch immer haben. Ställe für 90 000 Schweine
bedeuten nämlich, dass auf der anderen Seite 50 Familienbetrieben à 2 000 Schweine die Existenzgrundlage
entzogen wird.
({11})
Die Leute werden nicht deshalb mehr Schweinefleisch
essen, weil in Mecklenburg-Vorpommern neue Schweineställe gebaut werden.
({12})
Auf dieses Problem gibt die Schweinehaltungsverordnung keine Antwort. Eine solche Antwort müssen wir
finden, auch um Arbeitsplätze zu erhalten.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/590 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Bärbel Höhn, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mehr Datenschutz beim so genannten Scoring
- Drucksache 16/683 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Silke Stokar von Neuforn
von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin Merkel hat in ihrer Rede zur Eröffnung der
CeBIT in Hannover in sympathischer Offenheit gesagt:
Es wird für die Politik immer schwieriger, der rasanten
Entwicklung im IT-Bereich zu folgen und die Auswirkungen der neuen Begrifflichkeiten wie RFID zeitnah zu
bewerten. Ich kann ihr hier nur zustimmen.
Auch wir verwenden in unserem heutigen Antrag den
Ausdruck „Scoring“, so wie er sich in der Fachöffentlichkeit durchgesetzt hat. Ich habe aber zunehmend das
Gefühl, dass mit diesen angelsächsischen Fachbegriffen
der Datenverarbeitung das eigentliche Problem für die
Menschen immer mehr verdeckt wird. Viele haben mich
gefragt: Zu was redest du? Scoring, was ist das eigentlich? - Auch Leute, die sich mit Themen wie Datenschutz oder IT befassen, wissen das nicht.
({0})
Wir müssen erkennen, dass wir alle ohne unser Wissen und auch gegen unseren Willen zum Objekt privater
Ausforschung werden. Dies hat zunehmend Einfluss auf
unsere ganz persönliche Lebensgestaltung. Wir brauchen
eine breite gesellschaftliche Debatte über die Risiken der
modernen Informationstechnologien.
({1})
Die Schufa verfügt deutschlandweit über 362 Millionen Einzeldaten von 62 Millionen Bundesbürgern. Mit
dieser Datensammlung bietet die Schufa verschiedene so
genannte Scores an, die auf einzelne Branchen wie Banken, Versandhandel oder Telekommunikationsanbieter
zugeschnitten sind. Die Kunden, das heißt wir, werden in
diesem Verfahren mit Punkten zwischen eins und
1 000 bewertet. Diese Bewertung entscheidet dann mit
darüber, ob und zu welchen Konditionen wir einen Kredit oder einen Mobilfunkvertrag erhalten.
Wir sehen in diesem Verfahren die Gefahr einer weiteren Diskriminierung sozial Schwächerer in unserer Gesellschaft. Kein Betroffener darf allein aufgrund von
Score-Werten bei Vertragsabschlüssen schlechter gestellt
werden. Jeder hat einen Anspruch darauf, zu erfahren,
welche Gründe zur Ablehnung eines Vertrages geführt
haben.
Die Zusammensetzung dieser Score-Werte hütet die
Schufa wie ein Geschäftsgeheimnis. Sie verspricht zwar
auf ihrer Internetseite: Wir haben kein Geheimnis. Trotzdem erfahren die Bürgerinnen und Bürger über ihren
aktuellen Score-Wert hinaus nicht, aus welchen Informationen er sich zusammensetzt und an wen dieser ScoreWert weitergeleitet wird.
Deswegen fordern wir hier mehr Transparenz und
Verbraucherschutz. Ich rege an, dass wir uns auf einen
interfraktionellen Antrag verständigen, mit dem die Auskunftsrechte der Betroffenen im Bundesdatenschutzgesetz erheblich gestärkt werden.
({2})
Ich will aber nicht nur über die Schufa reden. Auch in
Deutschland hat sich längst ein breiter Markt privater
Auskunfteien entwickelt. Sozialdaten wie Wohngegend,
Beruf, Familienstand, Einkommen und Vermögen werden gesammelt, mit Privatadressen kombiniert und dann
verkauft. So werden Kunden- und Konsumprofile über
uns erstellt, ohne dass wir es bemerken. In Verbindung
mit der RFID-Technik werden die Bürgerinnen und Bürger zunehmend zum Objekt kommerzieller Interessen
und damit zum gläsernen Kunden.
Wir müssen uns dieser bürgerrechtlichen Herausforderung dringend stellen. In den Fachausschüssen sollten
wir uns gemeinsam darauf verständigen, die Lücken im
Datenschutzgesetz zu schließen. Wir brauchen eine Dokumentationspflicht über die Erstellung von Scores und
darüber hinaus ein Auskunftsrecht für die Betroffenen.
Ich freue mich auf die fachliche Diskussion, die erhebliche gesellschaftspolitische Auswirkungen haben wird.
Zu Recht hat die Europäische Kommission heute im Zusammenhang mit der CeBIT gefordert, breite öffentliche
Debatten über die Folgen dieser neuen Technologie in
unseren Gesellschaften zu führen.
Ich hoffe, dass wir mit unserem heutigen Antrag eine
Anregung geben und einen Impuls setzen, endlich eine
grundlegende Reform des Bundesdatenschutzgesetzes in
Angriff zu nehmen. Wir müssen es schaffen, bürgerrechtliche Standards auf der Grundlage einer völlig veränderten Technik neu festzuschreiben. Ich freue mich
auf die Zusammenarbeit.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Beatrix Philipp von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Das kommt vielleicht noch, Herr Tauss. Aber wenn
Sie nicht dauernd dazwischenquatschen, muss ich auch
nicht zurückkeilen.
({0})
Meine Damen und Herren! Frau Stokar und mich
wird es nicht erstaunen. Diejenigen, die kundig sind, was
sich im Bereich des Datenschutzes in den letzten Legislaturperioden abgespielt hat, werden wissen, dass wir eigentlich immer sehr vernünftig und an der Sache orientiert miteinander umgegangen sind. Sonst hätte es keine
gemeinsamen Entschließungen gegeben. Frau Stokar,
Sie wissen natürlich, dass sich die CDU/CSU vernünftigen Argumenten noch nie verschlossen hat, und Angst
vor den Grünen hatten wir auch noch nie.
({1})
Deswegen bin ich voller Hoffnung und Zuversicht, dass
das klappt.
({2})
- Jetzt geht es schon los.
Auch ich habe gestern vernommen, dass die Bundeskanzlerin auf der CeBIT die Sorge zum Ausdruck gebracht hat, die man nur teilen kann, dass die Politik
Mühe hat, der rasanten Entwicklung im technologischen
Bereich nachzukommen. Ich stimme Ihnen auch ganz
ausdrücklich darin zu, dass wir für das Thema, über das
wir uns auf der Grundlage Ihres Antrages unterhalten,
eine breite fachliche und, wenn möglich, ideologiefreie
Diskussion brauchen.
({3})
Wir müssen uns Zeit dafür nehmen. Es gibt einige Beispiele aus der letzten Legislaturperiode, bei denen das
leider nicht möglich war. Aber wir geben die Hoffnung
nicht auf.
({4})
- Herr Tauss! - Deswegen setzen wir uns intensiv mit
Ihrem Antrag auseinander.
Sie haben zu Recht gesagt, dass, wenn man über
Scoring spricht, viele fragen: Was ist das denn? Man
muss sicherlich nicht nur erreichen, dass die Bevölkerung diesen Begriff versteht und weiß, was sich dahinter
verbirgt, sondern man muss auch auf das eingehen, was
einen beunruhigen muss, wenn man weiß, dass Daten
gesammelt werden und das Scoringverfahren angewendet wird. Die meisten kennen die Schufa oder die Creditreform, die Prognosen basierend auf mathematischstatistischer Analyse von Erfahrungswerten erstellen,
und zwar unabhängig vom tatsächlichen Verhalten des
oder der Betroffenen. Es gibt ein Punktesystem von eins
bis 1 000. Dort finden die so genannten Vertragsdaten
der Betroffenen Verwendung - das ist noch in Ordnung -, zum Beispiel Bankverbindungen, Kredite, Verpflichtungen und Kontoumsätze, aber nicht das tatsächliche Vermögen. Das möchte ich nur anmerken, weil das
bei der Vergabe von Krediten eigentlich eine gewisse
Rolle spielen sollte.
Aber nun wird es spannend; denn die Daten der betroffenen Personen werden so genannten Vergleichsgruppen zugeordnet. Zu den angewandten Kriterien gehören Alter, Geschlecht, Wohndauer und Häufigkeit der
Umzüge, soziales Milieu, Geschlecht, Familienstand,
Anzahl der Kinder, Haushaltstyp, Bildungsstand, Beruf
und berufliche Qualifikation, Art und Dauer der Beschäftigung, Arbeitgeber, möglicherweise eine Haft, die
man abgesessen hat, Nationalität, Kfz-Besitz, Gesundheitszustand und Religion. Diese Merkmale werden
dann gewertet. Das heißt, sie sind nicht mehr auf die
Person bezogen, sondern werden auf Gruppen übertragen und dann verglichen. So wird eine Prognose über
das zukünftige Verhalten der infrage stehenden Person
erstellt. Das Besondere an dieser Prognose ist, dass sie
besagt, wie sich eine Person wahrscheinlich verhalten
wird.
Nun könnte man sagen, dass das, wenn es dem Einzelnen bekannt ist, hinnehmbar wäre. Es ist dem Einzelnen aber nicht bekannt. Wie weit dies verbreitet ist, dass
es im täglichen Kreditgeschäft, aber auch im Wirtschaftsleben, bei Kaufverträgen - insbesondere bei
Versandhäusern -, bei Handyverträgen, bei Mietverträgen und Ähnlichem, ständig an Bedeutung gewinnt, wissen vielleicht auch nicht alle.
Auf der anderen Seite wird man verstehen, dass sich
Kreditgeber bzw. Unternehmen in irgendeiner Weise absichern müssen. Früher fand das, wie Ältere wissen,
durch ein persönliches Gespräch bei der Bank statt.
Heute ist es so, dass praktisch keine kommerzielle Entscheidung ohne vorangegangenes Scoring gefällt wird.
So läuft beispielsweise bereits während eines Bestellvorgangs im Internet im Hintergrund ein entsprechendes
Scoring ab. Die Kreditwürdigkeit eines Kunden wird geprüft. Je nach Ergebnis wird veranlasst, dass man per
Vorkasse, per Nachnahme oder gegen Rechnung bezahlt.
Böse Zungen behaupten, es gäbe Stadtteile, beispielsweise in Berlin - da wohnen die beiden Herrschaften sicherlich nicht -, die nur noch per Nachnahme beliefert
werden. Das ist zweifellos nicht in Ordnung; denn es
könnte ja sein, dass ich in den Besitz einer Wohnung
oder eines Hauses gekommen bin und deshalb dort
wohne, wo mich niemand vermutet.
Es ist wichtig, zu wissen, dass der Umgang mit diesen
Daten und Merkmalen datenschutzrechtlich, aber auch
gesellschaftspolitisch äußerst bedenklich ist. Der EinBeatrix Philipp
zelne hat keine Möglichkeit, auf sein Erscheinungsbild
in der Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen, weil ihm die
zugrunde gelegten Daten und Merkmale nicht bekannt
sind. Schon gar nicht ist ihm bekannt, wie sie gewertet
werden. Das ist bereits mehrfach Gegenstand kritischer
Nachfragen gewesen. Auch ich habe im Januar und Februar die Bundesregierung gefragt.
Aus § 6 des Datenschutzgesetzes geht eindeutig hervor, dass eine negative Entscheidung dann unzulässig
ist, wenn sie ausschließlich auf eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten gestützt wird. Das
weiß aber kein Verbraucher bzw. Betroffener.
({5})
- Das war für Ihre Verhältnisse ausgesprochen sparsam;
das gebe ich zu. Ich muss Sie auch einmal loben.
({6})
Wir werden den Kreditinstituten selbstverständlich
nicht vorschreiben können, wie und an wen sie Kredite
vergeben. Dass die Gesetze, auf die sie sich beziehen,
eingehalten werden, muss aber schon gewährleistet sein.
({7})
Dazu gehört zweifellos, dass das ganze Verfahren transparent gemacht wird.
Es gibt zweifellos Handlungsbedarf. Bei aller Bereitschaft zu einer offenen und breiten Diskussion muss ich
aber sagen, dass das so einfach nicht ist. Frau Stokar, Sie
haben eben gesagt - das wusste ich bisher nicht -, dass
Sie den Antrag nur als Anregung verstanden wissen wollen. Bisher wollten Sie ja immer, dass Ihre Anträge auch
beschlossen werden. Wenn Ihr Antrag nur eine Anregung ist, muss ich ja nicht weiter darauf eingehen. Aber
so einfach, wie es in dem Antrag steht, ist es natürlich
nicht.
Erstens. In den beiden letzten Datenschutzberichten
- ich habe mich eben schon darauf bezogen - ist bereits
auf die Problematik des Scoring-Verfahrens aufmerksam
gemacht worden.
Zweitens. In der Beschlussempfehlung zum 19. Tätigkeitsbericht ist die damalige Bundesregierung aufgefordert worden, bis zum Ende des Jahres 2005 einen Bericht darüber vorzulegen, welche Maßnahmen zur
Stärkung der Rechtsposition und zum wirksamen Schutz
der Betroffenen insbesondere bei der Verarbeitung unrichtiger Daten - das passiert natürlich auch, wenn auch
selten - ergriffen werden müssen.
({8})
Drittens. Das Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein - so heißt es ({9})
hat im Auftrag der damaligen Ministerin Künast ein
Forschungsprojekt in Auftrag gegeben, dessen Endfassung, wie wir herausgefunden haben, am 25. Januar
2006 übergeben wurde. Nun muss man über den Wert
dieses Forschungsprojektes ein bisschen länger nachdenken; denn von 500 Fragebögen sind nur 29 zurückgekommen. Das ist nicht besonders viel und als Basis für
eine sachliche, fachliche Diskussion nicht ausreichend.
Wir sind aber - nicht nur in dieser Frage, sondern auch
sonst - voller Vertrauen in das Bundesinnenministerium.
({10})
- Das unterscheidet uns.
Aber Sie sind ja lernfähig. Deswegen glaube ich, dass
Sie diese Einschätzung teilen werden.
({11})
Natürlich wissen auch Sie, dass entsprechend dem Auftrag des Datenschutzberichts im Bundesministerium des
Innern heftig und mit Dampf daran gearbeitet wird, das
zu erledigen, was in der letzen Legislaturperiode eigentlich noch Ihre Aufgabe gewesen wäre.
({12})
Aber wir machen das schon; darüber müssen wir nicht
reden.
In ein bis zwei Monaten wird vom BMI ein Bericht
vorgelegt.
({13})
- Ich kenne ihn noch nicht. Sie schon?
({14})
Herr Winkler, dieser Bericht wird sich zumindest dadurch von dem Forschungsprojekt unterscheiden, dass
sein Inhalt seriös und belastbar sein wird.
({15})
Das wird dann auch der Bedeutung des Themas gerecht.
Denn bei aller Neigung, hier etwas lockerer zu formulieren, muss ich sagen: Es geht immerhin um das Recht
auf informationelle Selbstbestimmung.
({16})
Ich will ausdrücklich zusätzlich betonen: Hier macht
sich der Mittelstand im Zusammenhang mit Basel II
große Sorgen.
({17})
Die Kundigen wissen, dass vonseiten der Banken bei der
Prüfung der Schuldnerbonität strenge Maßstäbe angelegt
werden. Dabei geht es um Existenzen und um Arbeitsplätze.
({18})
Man kann nicht einfach in einem Hauruckverfahren
und auf der Basis des Schlussberichts eines von wem
auch immer erarbeiteten Forschungsprojekts - wie gesagt: das ist bis auf seinen Umfang ein bisschen dünn zu dem Ergebnis kommen, dass das schon ausreichen
wird. Deswegen, Frau Stokar, muss ich Ihnen Folgendes
sagen: Ihr Antrag datiert vom 15. Februar dieses Jahres.
({19})
Dieser hervorragende Schlussbericht des Forschungsprojekts ist der Öffentlichkeit trotz mehrfacher Nachfrage erst am 27. Februar, also fast 14 Tage nachdem Sie
Ihren Antrag formuliert hatten, zugänglich gemacht worden. Wir haben diese Informationen, weil wir uns darum
bemüht haben, allerdings erst am 1. März bekommen
und gehen davon aus, dass das Bundesinnenministerium
mit diesem sensiblen Thema auch sensibel umgehen
wird. Nun brauchen wir eine gemeinsame Basis für eine
Debatte, die diesem Thema gerecht wird. Auf diese Diskussion freue ich mich.
Frau Stokar, trotz aller Hase-und-Igel-Spielchen, die
im Zusammenhang mit Ihrem Antrag stattgefunden haben - als es zum Beispiel darum ging, dass er ein bisschen dünn ist -, könnte er eine Basis und Anregung sein.
Deswegen sind wir mit der Überweisung an den Ausschuss selbstverständlich einverstanden.
Vielen Dank.
({20})
Ich erteile das Wort für die FDP-Fraktion der Kollegin Marina Schuster.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Begriff „Verbraucherscoring“ sind Verfahren gemeint, bei denen unter
Verwendung mathematisch-statistischer Methoden versucht wird, ein bestimmtes Konsumentenverhalten vorherzusagen. Im vorliegenden Antrag der Grünen wird
explizit nur die Schufa genannt. Solches Scoring findet
aber auch in vielen anderen Bereichen unseres täglichen
Lebensumfeldes statt, beispielsweise bei Versicherungs-,
Handy-, Kfz- oder Leasingverträgen.
Bei den Scoringverfahren handelt es sich in der Tat
um ein datenschutzrechtlich sensibles und gesellschaftspolitisch bedenkliches Phänomen.
({0})
Zu genau diesem Problem hat die FDP-Fraktion gerade
erst eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Seit
ungefähr drei Stunden liegt uns die Antwort vor, die wir
genau prüfen werden. Für uns Liberale ist eines allerdings klar: Scoring darf nicht dazu führen, dass dem einzelnen Bürger die Möglichkeit genommen wird, selbst
über sein Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit zu entscheiden oder dieses auch nur durch eigenes rechtstreues
Verhalten zu beeinflussen.
({1})
Es kann und darf nicht sein, dass ein Bürger, nur weil
er zum Beispiel in der „falschen“ Straße wohnt, keinen
Handyvertrag bekommt oder nur noch gegen Vorkasse
beliefert wird. Rechtstreue Bürger gibt es überall, nicht
nur in bestimmten Stadtteilen und Straßenzügen. Mit anderen Worten: Mein Auto, mein Familienstand, die Anzahl meiner Kinder oder der Bildungsabschluss meiner
Eltern darf ebenso wenig über mein wirtschaftliches
Schicksal entscheiden wie die Straße, in der ich wohne.
({2})
Wir schielen dabei aber nicht einzig und allein auf
den Gesetzgeber. Mindestens genauso wichtig ist es, die
massiven Vollzugs- und Informationsdefizite zu beseitigen. Wenn Scoringunternehmen ihre Informationspflicht unterlaufen, müssen wir uns fragen, woran das
liegt. Hier kommt es ganz wesentlich auf die richtige
Anwendung der vorhandenen Gesetze an. Es ist in der
Tat nicht hinnehmbar, wenn die Erteilung einer Auskunft
unter Berufung auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse
verweigert wird.
({3})
Wir müssen uns überlegen, wie wir den Druck erhöhen,
damit wie vorgeschrieben Auskunft erteilt wird. Als Ultima Ratio könnten fehlerhafte oder unvollständige Auskünfte mit einem Bußgeld sanktioniert werden.
({4})
Außerdem müssen wir alles tun, um die Verbraucher
zu informieren; wir müssen den Verbrauchern durch
Informationen den Rücken stärken. Es gibt bereits eine
Reihe von Institutionen, an die sich der Verbraucher
wenden kann: Datenschutzaufsichtsbehörden, Verbraucherzentralen und eine ganze Reihe von Schlichtungsstellen. Das Problem ist, dass das nicht jedem Verbraucher bekannt ist. Hier herrscht ein massives
Informationsdefizit. Aber nur ein mündiger, informierter
Verbraucher kann sich auch wehren. Eine Idee wäre ein
so genanntes Datenschutzaudit, eine Art datenschutzrechtliches Gütesiegel. Seit Jahren ist diese Möglichkeit
im Bundesdatenschutzgesetz verankert. Leider läuft
diese Vorschrift bis heute ins Leere, weil Rot-Grün es
versäumt hat, ein entsprechendes Ausführungsgesetz zu
initiieren.
({5})
Unabhängig von diesen Versäumnissen möchte ich an
die Verbraucher grundsätzlich appellieren: Lassen Sie
sich nicht abspeisen, wenn es um Ihre Daten geht! Fordern Sie Ihr Recht ein! Seien Sie wachsam beim
Scoring, bei Kundenkarten, bei Gewinnspielen und auch
bei harmlos ausschauenden Fragebögen! Manchmal ist
es sinnvoller, auf 2 Prozent Rabatt zu verzichten und dafür die Herrschaft über die eigenen Daten zu behalten.
({6})
Abschließend appelliere ich an die Wirtschaft. Um
Missverständnisse auszuschließen, sage ich: Wir wissen,
dass sich Unternehmen vor Betrügern und vor zahlungsunfähigen und -unwilligen Kunden schützen müssen.
Gleichwohl sehen wir datenschutzrechtliche Gefahren,
wenn Auskunftssysteme beliebig zusammengeschaltet
werden und aus verschiedenen Systemen beliebig Informationen abgerufen werden können. Hier ist die Wirtschaft gefordert: Entwickeln Sie Best-Practice-Standards, kommen Sie Ihrer Verantwortung nach!
Sehr geehrte Damen und Herren dieses Hohen Hauses, Datenschutz ist für uns Liberale nicht nur eine Frage
der Gesetzgebung, es ist für uns eine umfassende Aufgabe.
({7})
Frau Kollegin Schuster, das war Ihre erste Rede in
diesem Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles
Gute.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Bürsch, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend zeigt sich: Der Bundestag ist doch ein
Ort lebenslangen Lernens. Wir müssen uns ständig fortbilden. Wir alle lernen heute, was es mit dem neudeutschen Begriff „Scoring“ auf sich hat. An dieser Stelle
richte ich ein altmodisches Wort an die Grünen: Ich bin
ein großer Freund und Verfechter der deutschen Sprache.
Ich habe das schon bei den öffentlich-privaten Partnerschaften betrieben und werbe auch an dieser Stelle dafür,
einen deutschen Begriff für „Scoring“ zu finden. Denn
die englischen Begriffe sind abschreckend und verwirrend und dem Publikum ist nicht geläufig, was damit gemeint ist. Mein Angebot: „die statistische Bewertung
der Kreditwürdigkeit“.
({0})
Das ist ein bisschen länger, aber es beschreibt vielleicht,
was wir meinen.
An Frau Philipp gerichtet sage ich: Frau Philipp, gerade bei diesem Thema sind wir sehr gerne zur ideologiefreien Diskussion bereit; denn bei dem, was wir bei
diesem Thema lernen, ist es mir so wie Ihnen ergangen:
Manches in der Welt des Internets und der Daten, die
heute ausgetauscht werden, erinnert in der Tat an
„1984“: Wir sind der gläserne Mensch und die Daten
werden ohne unser Wissen ausgetauscht und bewertet,
und zwar zu unserem Nachteil, ohne dass wir dort tatsächlich nachfassen können.
Die statistische Bewertung der Kreditwürdigkeit wirft
also auch aus Sicht der SPD eine Reihe von Problemen
auf, die von der Öffentlichkeit bisher nicht wahrgenommen worden sind und die uns alle - jede Verbraucherin
und jeden Verbraucher - betreffen. Insofern meinen
herzlichen Dank an die Adresse der Grünen, die das als
Erste aufgegriffen und zu einem Antrag formuliert haben.
Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben schon die
Frage beantwortet, was mit dem Begriff „Scoring“ eigentlich gemeint ist. Wenn man in ein Lexikon sieht,
dann weiß man, dass das auf gut Deutsch so viel heißt
wie rechnen, zählen und einstufen. Gerade im Bereich
der Vergabe von Kleinkrediten und Krediten an Privatkunden, beim Versandhandel und im Bereich der Telekommunikation wird diese Methode genutzt, um langwierige Bonitätsprüfungen der jeweiligen Personen zu
vermeiden.
Die große Gefahr liegt darin - darauf ist hingewiesen
worden -, dass bei der Ermittlung eines solchen Erfahrungswertes nicht nur die individuell zurechenbaren Informationen über die Personen verwendet werden, sondern dass auch zusätzliche Daten in die Berechnung mit
einfließen, auf die der Einzelne gar keinen Einfluss hat
und von denen er auch gar nichts weiß. Die Beispiele
sind genannt worden: der Wohnort, das Geschlecht, die
Rasse usw.
Manche Bewertung ist nicht nur datenschutzrechtlich
zu kritisieren, sondern - und darin liegt nun wirklich ein
Problem - manche Bewertung basiert nicht einmal auf
der persönlichen Vorgeschichte des Kunden, sondern auf
anderen, teilweise wirklich diskriminierenden Merkmalen.
Insofern richtet sich die erste Kritik dagegen, welche
Daten, auf die der Kunde keinen Einfluss hat, überhaupt
verwendet werden. Die zweite Kritik kommt aus der
Richtung des Datenschutzes; auch sie ist schon genannt
worden. Hier müssen wir kritisieren, dass die Auskunfteien die Berechnung ihrer Scoringwerte gewöhnlich geheim halten. Dadurch kann der Bürger überhaupt nicht
nachvollziehen, welche Daten und Merkmale mit welchem Gewicht in die Berechnung des Prognosewertes
eingeflossen sind.
Auf diesen Bericht, den das Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz erarbeitet hat, ist schon hingewiesen worden. Ich meine, wir
müssen alle Erkenntnisse, die es dazu gibt - nicht nur
diesen Bericht, sondern auch andere Erkenntnisse, vielleicht auch Erkenntnisse aus anderen Ländern -, hinzuziehen, um auszuwerten, was die Ansatzpunkte sind, um
diese Verfahrensweisen, die es gibt, wirklich transparent
zu machen und für den Kunden mit einem solchen
Schutz zu versehen, dass ihm dort kein Leid und keine
Unbill droht.
Der Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen ist gut. Das
kann ich eindeutig sagen.
({1})
Er bietet Anlass, über das Thema zu diskutieren.
({2})
Es ist aber vielleicht noch ein bisschen zu früh dafür,
verehrte Kollegin Stokar von Neuforn, weil wir uns,
wenn wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern wirklich etwas bieten wollen, den komplexen Problemen, die
wir damit erfassen wollen, handwerklich wirklich sauber
nähern müssen.
Deshalb schlage ich vor, dass auch hier der Grundsatz
gilt, den sich die große Koalition vorgenommen hat:
Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Jan Korte, Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich schließe mich hier heute ausnahmsweise einmal den
anderen Fraktionen an. Es ist eine schöne Sache, einen
gemeinsamen Lernort hier im Bundestag zu deklarieren.
Ich hoffe, wir setzen das auch um; denn hier herrscht Einigkeit darüber - das sehen wir genauso -, dass die
Scoringverfahren insbesondere der Schufa,
({0})
aber auch anderer Auskunfteien elementare Interessen
der Verbraucherinnen und Verbraucher betreffen und
dass es hier eine Lücke im Datenschutz gibt, die geschlossen werden muss. Die Wertermittlung ist dem
Zufall überlassen. So kann es sein - das ist schon genannt worden -, dass ein Selbstständiger benötigte Kredite nicht bekommt, nur weil er in der falschen Gegend
wohnt, das falsche Alter oder Geschlecht hat und - auch
das haben wir schon gehört - mehrere Kreditangebote
eingeholt oder ein Bankkonto zu viel hat. Bereits das
kann zu einem schlechten Wert führen. Daraus können
sich durchaus existenzbedrohende Situationen ergeben.
Gerade vor dem Hintergrund, dass Unternehmen das
Scoringverfahren inzwischen - darauf ist hingewiesen
worden - exzessiv nutzen, sieht die Linke, wie in dem
Antrag der Grünen formuliert, dringenden Handlungsbedarf.
({1})
Die Regelungslücke im Bundesdatenschutzgesetz
führt dazu, dass jeder einer allmächtigen Schufa ausgeliefert ist. Der Verbraucher kann nicht einschätzen, welches Tun oder Unterlassen den Score und damit meistens
auch die Kreditwürdigkeit positiv oder negativ beeinflusst. Selbst tadelloses Bedienen von Krediten hilft
nicht, wenn man einer Gruppe zugeordnet wird - auch
darauf ist hingewiesen worden -, in der es öfter zu Zahlungsausfällen kommt. Ebenso ist erwähnt worden, dass
hier das informationelle Selbstbestimmungsrecht tangiert wird.
Der Antrag der Grünen geht also in die richtige Richtung. Wir brauchen eine Begrenzung solcher Auskunftsverfahren, die nicht auf relevante individuelle Daten setzen, sondern Aussagen allein aufgrund statistischer
Daten und Wahrscheinlichkeit errechnen. Damit wäre
dann auch der Forderung des § 6 a des Bundesdatenschutzgesetzes Genüge getan. Im Übrigen könnten wir
damit eine soziale Schieflage beseitigen.
({2})
Das heißt, die Auskunfteien müssen für Transparenz
sorgen. Der Verbraucher hat das Recht und muss das
Recht haben, bei einer Selbstauskunft mehr zu erfahren
als den tagesaktuellen Score. Die Auskunfteien müssen
Rechenschaft ablegen, welche Faktoren den Score wie
beeinflussen und welcher Score weitergeleitet wird.
Bedauerlich finde ich - das muss ich sagen -, dass
von den grünen Verbraucherschützern eine solche Initiative nicht schon früher gestartet wurde, und zwar in der
Zeit, in der sie noch mitregiert haben; denn der Bundesdatenschutzbeauftragte hat zuletzt in seinem Tätigkeitsbericht 2003/2004 ebenso wie 2001/2002 auf diese Problematik eindringlich hingewiesen. Das steht alles ab
Seite 129 des Berichts.
({3})
All das hätte man in der Zeit Ihrer Regierungsbeteiligung gut machen können.
({4})
- Ich habe schon festgestellt, dass wir hier gefehlt haben.
Ich halte den Antrag für gut. Deswegen sollten wir insbesondere dem Datenschutz in Zukunft mehr Beachtung schenken.
({5})
Liebe Silke Stokar, eine Anmerkung muss ich noch
machen. Ich finde es gut, Silke, diesen Antrag einzubringen. Aber wenn man Anträge schreibt und alles aus dem
Datenschutzbericht ab Seite 129 fast wortgleich abschreibt,
({6})
sollte man sich wenigstens die Mühe machen, den Satzbau ein wenig zu verändern. Trotzdem ist der Antrag
richtig und wir unterstützen ihn.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Jörg Tauss von der
SPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Lieber Kollege Korte, lesen
Sie das Ganze noch einmal nach. Das, was Sie hier angesprochen und angemahnt haben, ist in der Tat bereits
2001 umgesetzt worden. 2001 hat die damalige Koalition mit der Einführung des § 6 a des Bundesdatenschutzgesetzes Regelungen, die es bis dahin noch nicht
gab, zur automatisierten Einzelfallentscheidung getroffen. Es ist also nicht richtig, dass in der letzten Legislaturperiode unserer Regierungszeit nicht gehandelt worden ist. Es gab hier - da waren Sie noch nicht Mitglied
dieses Hauses - eine ganze Reihe von parteiübergreifenden Stellungnahmen zu diesem Thema.
({0})
Ganz nebenbei will ich ein paar Worte an die FDP
richten. Kollegin Schuster, Sie können nichts dafür, aber
Ihre Fraktion hat damals explizit gegen diese Regelungen bestimmt; das haben wir sehr bedauert. Aber, wie
gesagt, ich finde es gut, wenn ihr von der Realität eingeholt werdet.
Der Deutsche Bundestag hat - insofern haben wir gehandelt - am 17. Februar 2005 die Bundesregierung gebeten, einen Bericht vorzulegen. Dieser Bericht ist in
Arbeit. Er wird im Bundesinnenministerium auf den
Weg gebracht. Ich denke, Frau Kollegin Philipp, wir
sollten anhand dieses Berichtes in eine Diskussion einsteigen.
Ich habe eine Anmerkung - vielleicht war es ein
Missverständnis Ihrer Bewertung des vorliegenden Berichts eines Forschungsprojekts -: Sie haben über das
Unabhängige Landeszentrum für Datenschutz, gegründet von Herrn Bäumler, einem der anerkanntesten
Experten auf dem Gebiet, sehr negativ geredet.
({1})
- Dann war es in der Tat ein Missverständnis; denn ich
glaube, dass uns die Expertise, die wir aus SchleswigHolstein bekommen haben, weiterbringen kann. Sie enthält eine ganze Reihe von bedenkenswerten Punkten.
({2})
Einige sind bereits angesprochen worden, beispielsweise
die Frage der Bewertung des Wohnortes. Dazu hat das
Gutachten deutlich Stellung genommen.
Was zu dem Rücklauf von 29 Antworten gesagt
wurde, hat sich ein bisschen negativ angehört.
({3})
- Das ist zwar so, aber ich würde zum Umkehrschluss
kommen. Es war doch so, dass der beauftragte Gutachter
500 Kreditinstitute angeschrieben hat, von denen nur 29
geantwortet haben. Das halte ich für den eigentlich problematischen Hintergrund.
({4})
Entweder nimmt die Kreditwirtschaft das nicht ernst
oder sie will etwas vertuschen. Letzteres will ich nicht
hoffen, aber ich denke, dass wir in diesem Punkt mit den
Banken bzw. mit dem Bundesverband deutscher Banken
eine heftige Diskussion führen müssen. So geht es nämlich nicht.
({5})
Aus diesem Bericht ist eine ganze Reihe von Erkenntnissen gezogen worden, so zum Beispiel, dass die Zusammenhänge mit dem Wohnort evident sind. Ich habe
es übrigens kürzlich in eigener Sache gemerkt. Ich hatte
bei einer Bank Gelegenheit, einzusehen, was zu meiner
Person gespeichert ist. Es war hochinteressant: Eine
Schufa-Auskunft ergab „unklare Wohnverhältnisse“ bei
Jörg Tauss.
({6})
Ich weiß nicht, womit das zusammenhängt. Ich bin
glücklich verheiratet, wohne mit meiner Frau in einem
netten Häuschen auf dem Dorf und habe eine Wohnung
in Berlin. Es ist alles wunderbar geregelt. Ich weiß deshalb nicht, wie es zu dieser Einschätzung kam. Ich vermute, dass es mit unserem unsoliden Lebenswandel in
Berlin zusammenhängt; wir haben nämlich zwei Wohnsitze. Das ergibt wohl solche so genannten unklaren
Wohnverhältnisse.
Es gibt auch den umgekehrten Fall. Bevor ich umgezogen bin, habe ich in einem schönen Häuschen zur
Miete gewohnt. Es gehörte einem Zahnarzt, der Geld
hatte und es entsprechend hergerichtet hat. Ich habe es
dann bewohnt.
({7})
- Nein, denen geht es immer noch gut. Gejammert haben
sie immer, aber das ist ein anderes Thema. Es geht jetzt
nicht um die Gesundheitsreform.
Seinerzeit ging aus einer entsprechenden Auskunft
hervor: Herr Tauss gilt als Eigentümer eines Einfamilienhauses. Das hat meine Kreditwürdigkeit ungeheuer
erhöht, aber das Haus hat mir gar nicht gehört. Es hat
entweder meinem Zahnarzt oder einer Sparkasse gehört.
Daran wird deutlich, dass solche Angaben gelegentlich von zweifelhaftem Wert sind. Ich glaube, wir sind
uns alle darin einig, dass es nicht sein kann, dass beispielsweise aufgrund von Fehlern, die in solchen Gutachten enthalten sind, die Existenz eines Menschen gefährdet wird.
Frau Präsidentin, Sie leuchten.
({8})
Ich komme deshalb zum Ende.
Dass Handlungsbedarf besteht, ist eindeutig festgestellt worden. Wir müssen das gemeinsam beraten. Ich
halte es für sinnvoll, Frau Kollegin Stokar - auch Frau
Kollegin Philipp hat das positiv erwähnt -, zu einer gemeinsamen Initiative zu kommen. Lassen Sie uns in
Fortsetzung dessen, was wir in datenschutzrechtlicher
Hinsicht bereits auf den Weg gebracht haben, mit den
Gutachten befassen.
Danke schön.
({9})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/683 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, dass das der Fall ist. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Kerstin
Andreae, Bärbel Höhn und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Offene Immobilienfonds - Marktstabilität
sichern, Anlegervertrauen stärken
- Drucksache 16/661 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner Herr Dr. Gerhard Schick von der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in den letzten Wochen und Monaten bei den offenen
Immobilienfonds eine erhebliche Verunsicherung erlebt. Das hat damit angefangen, dass die Deutsche Bank
Real Estate die Rücknahme der Anteile an dem Fonds
Grundbesitz-Invest ausgesetzt hat, und ist im Januar
weitergegangen, als bei zwei weiteren Fonds die Rücknahme der Anteile ausgesetzt wurde. Das hat zu erheblicher Verunsicherung bei den Anlegern und zu einer Diskussion in der Branche über die Zukunft dieses Produkts
geführt. Aber als die Deutsche Bank in der letzten Woche die Rücknahme eingeführt hat, war der Abschlag mit
2,4 Prozent nicht so dramatisch hoch wie teilweise befürchtet. Nun ist wieder etwas Ruhe eingekehrt. Trotzdem bleibt die Unsicherheit. Die Anleger wissen nicht,
wie es mit einem Produkt weitergehen soll, das ihnen
häufig als „so sicher wie Omas Häuschen“ - wir alle
kennen den Spruch - verkauft worden ist.
Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag
auf, hier gesetzgeberisch tätig zu werden; denn man darf
nicht zur Tagesordnung übergehen, weil sich die Situation beruhigt hat, und warten, bis wieder Unruhe entsteht. Es ist richtig, nun gesetzgeberisch zu handeln.
({0})
Schließlich ist es nicht das erste Mal - Stichwort
„Deka“ -, dass so etwas passiert.
Wir vom Bündnis 90/Die Grünen sind nach wie vor
der Meinung, dass offene Immobilienfonds gute Produkte sind. Sie ermöglichen Kleinanlegern, an der Wertentwicklung auf dem Immobilienmarkt teilzuhaben.
Wichtig ist aber, dass wir nun aufgrund der Erfahrungen,
die wir in den letzten Wochen und Monaten gesammelt
haben, die gesetzlichen Rahmenbedingungen anpassen. Unseres Erachtens reicht es nicht, dass die Branche
selber etwas tut; denn dort gibt es die Tendenz, irgendwann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Vielmehr
ist es Aufgabe des Staates, den gesetzlichen Rahmen dafür zu schaffen, dass diese Produkte gut und sicher sind,
dass die Marktstabilität gewährleistet ist und dass das
Anlegervertrauen langfristig gestärkt wird.
({1})
Wir verfolgen mit unserem Antrag drei Ziele. Das
erste Ziel ist, zukünftig Unsicherheiten bei der Bewertung zu vermeiden. Sie wissen, dass das bei der Deutschen Bank eine Rolle gespielt hat. Ich möchte noch etwas hinzufügen, was für die zukünftige Diskussion
wichtig werden könnte. Es wird allgemein darüber diskutiert, ob wir REITs einführen sollen. Wir wenden uns
strikt dagegen, REITs-Anteile offenen Immobilienfonds
beizumischen; denn das würde die Unsicherheit bei der
Bewertung massiv erhöhen. Das sollte auf keinen Fall
geschehen.
Unser zweites Ziel ist, die Liquidität zu sichern. Wir
müssen bei den Regelungen betreffend die Mindestliquidität nachjustieren. Außerdem brauchen wir Lösungen
bei der Fristeninkongruenz. Hierzu erwarten wir konkrete Vorschläge von der Bundesregierung.
Unser drittes Ziel ist, mehr Transparenz für die Anleger zu schaffen. Das bedeutet, dass einzelne Verkehrswerte zu veröffentlichen sind und dass in den Verkaufsprospekten konkret gesagt wird, wo die Risiken liegen.
Es darf nicht passieren, dass Menschen durch eine Beratung, in der die wahren Risiken verschwiegen werden,
dazu gebracht werden, ihr gesamtes Vermögen in offene
Immobilienfonds zum Zwecke der Altersvorsorge zu investieren. Offene Immobilienfonds sind zwar gute Produkte und können Teil eines Anlegerportfolios sein.
Aber in diese Fonds sollte nicht alles angelegt werden,
weil das Risiko zu groß ist.
Unser Ziel ist, für eine nachhaltige Finanzmarktentwicklung zu sorgen. Das geht nur, wenn der Humus für
den Finanzmarkt, das Anlegervertrauen, gut gepflegt
wird. Wir bitten Sie deswegen, unserem Antrag zuzustimmen, damit wir hier zu stabilen gesetzlichen Rahmenbedingungen kommen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus-Peter Flosbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer ruhig schlafen möchte, setzt auf Beton. Das ist ein
bekannter Spruch aus der Baubranche. Aber das Weltbild ist in den letzten Monaten gründlich in Unordnung
geraten. Der offene Immobilienfonds ist als Produkt seit
47 Jahren bekannt und so lange weist er jedes Jahr Steigerungen - manchmal waren es nur 3 Prozent, ein anderes Mal 8 Prozent - auf. So etwas kennt man sonst in der
Finanzbranche nicht. Der offene Immobilienfonds war
für viele Anleger ein stabiler Baustein der Vermögensbildung. Es gibt Kleinanleger, die bereits mit 50 Euro
eingestiegen sind, und natürlich auch Großanleger.
Heute verfügen diese Fonds noch immer über ein Volumen von 85 Milliarden Euro.
Für viele Personen, die im Alter nicht auf die gesetzliche Rentenversicherung oder eine betriebliche Altersvorsorge zurückgreifen können und auch nicht Leistungen von Versorgungswerken oder eine Pension beziehen,
waren die offenen Immobilienfonds, wie der Kollege
Schick bereits dargelegt hat, ein Stabilisator der Altersversorgung, ein - im Rahmen einer gewissen Streuung - ganz wesentlicher, stabiler Baustein.
Nun hat es durch die kurzfristigen Schließungen von
insgesamt drei Fonds und die Ankündigung der Neubewertungen ordentliche Turbulenzen gegeben. Inzwischen ist sicherlich etwas Ruhe eingekehrt, aber es ist
unsere Aufgabe, jetzt die Probleme aufzulisten und zu
prüfen, was die Branche leisten kann und wo der Gesetzgeber gefordert ist.
({0})
Der Antrag allerdings, den die Kolleginnen und Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen vorgelegt haben,
schüttet das Kind mit dem Bade aus. Wir werden das so
nicht unterstützen können.
({1})
In Ihrem Antrag gibt es zahlreiche positive Ansätze.
Ihr zentraler Punkt ist, dass Sie den Anlegerschutz stärken wollen. Das ist gut gemeint,
({2})
aber es ist nicht gut gemacht. Wenn Sie umsetzen, was
Sie in Ihrem Antrag fordern, dann machen Sie das Produkt des offenen Immobilienfonds kaputt. Dabei können
wir natürlich nicht mitmachen.
({3})
Die Schließung des Fonds hat überhaupt nichts mit
der Qualität der Fonds zu tun. Das ist ein bewährtes Produkt, aber wir müssen hier differenzieren. Ein offener
Immobilienfonds ist kein Sparbuch, kein Sparbrief und
auch kein festverzinsliches Papier. Bedenken Sie einmal,
was mit Rentenfonds und Rentenpapieren, die notiert
sind und gehandelt werden, passiert, wenn die Zinsen
steigen: Die Kurse sinken; sogar Verluste in zweistelliger Höhe sind für Anleger im Bereich der festverzinslichen Wertpapiere möglich. Müssen wir dafür Sicherungen seitens des Staates einrichten? Das kann sicherlich
nicht der Sinn sein. Ein offener Immobilienfonds bewegt
sich wie eine Einzelimmobilie im Markt. Wir müssen
darauf achten, dass der einzelne Anleger durch die Banken und durch die Vermittler aufgeklärt ist, damit er
weiß, was er tut.
Der offene Immobilienfonds war bis zum Jahr 2000
im Grunde ein langweiliges Produkt. Viele haben ihre
Altersversorgung dort hineingesteckt, weil diese Anlageform sicher war und immer zwischen 3 und 7 Prozent
brachte. Es gab aber niemals die Sprünge, die es am Aktienmarkt gegeben hat. Erst im Jahr 2000, als die Aktienblase - vor allem am Neuen Markt - platzte, hat man erkannt, wie wertvoll ein solches Produkt am Kapitalmarkt
ist. Deswegen ist es sehr problematisch, wenn Sie in Ihrem Antrag von Totalverlust sprechen, auf den der Anleger hingewiesen werden müsse. Das verkennt völlig
die Tatsachen. Vor allem aber schadet es dem einzelnen
Produkt. Es kann nicht der Sinn eines Antrags sein, in
eine politische Diskussion etwas einzubringen, was mit
dem Produkt überhaupt nichts zu tun hat.
({4})
- Das ist in der Tat falsch, lieber Kollege.
47 Jahre ist dieses Produkt positiv gewesen. Es ist sicherlich eine Illusion, zu glauben, dass die Rendite immer positiv sein muss. Es hat aber nur fünf von 38 Fonds
gegeben, die einen Wertberichtigungsbedarf hatten. Dieser bewegte sich in der Größenordnung von 2 bis
7 Prozent. Deshalb sollten wir die Kirche im Dorf lassen
und nicht von der Möglichkeit eines Totalverlustes sprechen.
Wir sollten uns auf die wirklichen Probleme konzentrieren. Das erste Problem ist, dass ein offener Immobilienfonds wie jede Immobilie eine langfristige Anlage
ist,
({5})
viele ihn aber als kurzfristige Anlage nutzen. Für diese
langfristige Anlage musste ein Fonds bislang 5 Prozent
Liquidität vorhalten, damit der einzelne Anleger, wenn
er Geld braucht, an dieses Geld herankommt. Ein Problem ergibt sich, wenn große, auch institutionelle Anleger oder Banken erkennen, dass die Rendite in einem offenen Immobilienfonds größer als die bei Festgeld ist,
entsprechend große Beträge anlegen und kurzfristig wieder dem Fonds entziehen. Noch problematischer finde
ich allerdings, dass die großen Anleger gegenüber dem
Kleinanleger einen Informationsvorsprung haben. In
diesem konkreten Fall wussten sie, dass es zu einem
Wertberichtigungsbedarf kommen könnte; daraufhin haben sie die Beträge abgerufen und damit die 5 Prozent an
Liquidität ausgeschöpft. Somit kam es zur Schließung,
was im Grunde genommen nichts Schlimmes ist; denn
das könnte auch zum Schutz der Kleinanleger sein. Daraus ist die Vertrauenskrise entstanden. Diese ist auch
nicht aufgefangen worden - höchstens zum Teil - durch
den Schadensausgleich, den eine große deutsche Bank
angeboten hat. Das führt natürlich dazu, dass eine Lawine losgetreten wird und viele Kleinanleger ebenfalls
ihr Geld abrufen.
Wir sollten also dort ansetzen, wo wir aus Gründen
des Verbraucherschutzes den Kleinanleger schützen
müssen. Die erste Frage ist, ob es überhaupt richtig ist,
dass Großanleger in diese Publikumsfonds Beträge einlegen und auch wieder abziehen können. Es ist auch die
Frage zu stellen, ob nicht gerade an dieser Stelle Kündigungsfristen einzuhalten sind, zum Beispiel je nach
Größe der Anlagesumme.
({6})
Aber bitte, liebe Antragsteller, fordern Sie nicht Sicherungsinstrumente wie einen Sicherungsfonds oder die
Haftung der Muttergesellschaft. Dies entspricht überhaupt nicht dem Produkt. Es handelt sich hier nicht um
eine staatlich verordnete oder vom Staat gesicherte Anlage. Wir dürfen es auf keinen Fall zulassen, dass hier
eine Verlagerung der Risiken auf eine Gemeinschaft erfolgt. Davon sollten wir in der Tat Abstand nehmen.
({7})
Wir als Gesetzgeber sind für die Rahmenbedingungen
zuständig. Dazu gehört natürlich auch, dass wir die BaFin beauftragen müssen, diesen Rahmen zu kontrollieren. Der offene Immobilienfonds ist nach wie vor ein
sicheres Instrument im Rahmen einer vernünftigen
Streuung. Der beste Tipp für einen Anleger ist eben immer eine vernünftige Streuung. Wer die Chance haben
möchte, einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen, der
muss natürlich auch kalkulatorisch ein gewisses Risiko
eingehen.
Wir sollten im Rahmen der weiteren Beratungen über
die weiteren Maßnahmen diskutieren. Gefragt wird beispielsweise, ob die Mindestliquiditätsquote von 5 Prozent auf 10 Prozent erhöht werden muss. Wir alle wissen, dass das selbstverständlich zulasten der Rendite
geht. Aber man kann darüber natürlich diskutieren. Gefragt wird außerdem, ob der Vertrieb eingestellt werden
muss, wenn ein Fonds über mehr als 40 Prozent Liquidität verfügt. Vor vier oder fünf Jahren war die Liquidität
so hoch, dass man kaum genügend Immobilien kaufen
konnte. Zu diesem Zeitpunkt hat man im Rahmen dieser
Fonds zu teure Immobilien gekauft.
Wir werden über die Kündigungsfristen bei großen
Anlagebeträgen diskutieren müssen. Sie haben die Frage
der Beimischung von REITs angesprochen. Das wird
möglicherweise ganz anders gesehen. Man fragt, ob
nicht gerade diese Immobilienaktien wieder ein Stück
Liquidität schaffen können und ob sie beigemischt werden sollen. Eine andere Frage ist natürlich, ob es richtig
ist, die Bewertung, wie derzeit, einmal im Jahr vorzunehmen, oder ob man, wie in anderen Ländern, kürzere
Fristen braucht. Gefragt wird auch nach der Rotation
von Sachverständigen und - das haben auch Sie getan nach der Transparenz bezüglich der Details der einzelnen Formen im Rahmen dieser Anlage.
Das Fazit der ganzen Sache ist: Es besteht schon ein
erheblicher Verbesserungs- und Änderungsbedarf im
Rahmen des Investmentgesetzes, und zwar nicht erst seit
heute durch die Schließung dieser drei Fonds. Die Immobilie bleibt eine langfristige Anlageform. Machen Sie
da bitte mit! Wir müssen dieses - sicherlich ganz gute Produkt stärken und wir dürfen es nicht kaputtregulieren.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Frank Schäffler, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf diesen Antrag habe ich eigentlich längst gewartet. Da verhält sich ein Marktteilnehmer ungeschickt,
was dem Unternehmen selbst wirtschaftlich sicherlich
besonders geschadet hat, und die Grünen wollen gleich
einen Paragrafen hinterherwerfen. Herr Kollege Schick,
ich glaube, wir sollten dem Wettbewerb an dieser Stelle
eine Chance geben.
({0})
Gleichzeitig werfen Sie alle Marktteilnehmer in einen
Topf. So ist die Aussetzung der beiden Kan-Am-Fonds
keine Frage der fehlenden Abwertungsnotwendigkeit gewesen, sondern eher eine Frage, wie sich eine Ratingagentur verhalten hat. Sie spielen mit Ihrem Antrag der
Verunsicherung des Marktes in die Hände. Dabei hat
sich der Markt für offene Immobilienfonds in den letzten
Wochen erkennbar beruhigt und wir sollten froh sein,
dass hiermit keine weitere Verunsicherung der Finanzmärkte einhergeht.
({1})
Ihre Vorschläge sind teilweise überlegenswert, teilweise aber auch sehr gefährlich. Fakt ist jedoch, dass die
Diskussion im Markt läuft. Und das ist gut so. Ich halte
es daher für absolut richtig, dass wir jetzt nicht mit einem Schnellschuss reagieren, sondern im Sommer dieses Jahres überlegen, wie wir das Investmentgesetz novellieren können.
Vor umfassenden Änderungen will ich aber warnen.
Offene Immobilienfonds sind aufgrund der geringen
Schwankungsbreite und ihrer weitgehend steuerfreien
Wertentwicklung sehr beliebt. Ein vollständiges Verlustrisiko ist ausgeschlossen, da ein Sachwert dahintersteht.
Wir sollten die Anlageklasse der offenen Immobilienfonds daher nicht verwässern. Wir sollten daraus keine
verkappten REITs oder Immobilienaktienfonds machen,
sondern diesem Markt mit seinen Besonderheiten Raum
lassen.
So bin ich auch skeptisch, ob eine Erhöhung der Liquidität den Fonds in Extremsituationen wirklich helfen
kann. Eine höhere Liquidität nimmt den Fonds allemal
Renditechancen. Auch eine Beimischung von REITs
muss kritisch geprüft werden. REITs werden zwangsläufig risikoreichere Anlagen sein. Lassen wir diese Klasse
als Beimischung zu, dann erhöhen wir automatisch auch
das Risiko für Anleger in offenen Immobilienfonds.
Eines ist in der öffentlichen Diskussion deutlich geworden. Offene Immobilienfonds sind kein Sparbuch,
sondern haben eigene Risiken - und wenn es nur das Risiko ist, dass die Fonds bei starken Mittelabflüssen kurzfristig nicht liquide sind und daher die Rücknahme der
Anteilscheine ausgesetzt werden muss.
Wir als Parlamentarier müssen dafür sorgen, dass Vertrauen in die Anlagemärkte wieder zurückgewonnen
wird. Das ist unsere Hauptaufgabe. Einen parteipolitischen Streit über eine Veränderung in diesem Bereich
halte ich für fatal. Wir sollten aufpassen, dass wir an dieser Stelle nicht dem Populismus zu viel Rechnung tragen.
({2})
Sie von den Grünen haben viele beachtenswerte Vorschläge gemacht, aber auch vieles Falsche gesagt. Nach
meinem Kenntnisstand ist es beispielsweise nicht so,
dass in Frankreich die Immobilien quartalsweise überprüft werden. Auch andere Länder haben dies nicht gemacht. Die Schweiz und Österreich beispielsweise überprüfen die Immobilien jährlich. Man muss sich auch
fragen, ob eine Immobilie innerhalb eines Vierteljahres
tatsächlich so radikal an Wert verlieren kann. Im Übrigen zeigen auch die aktuellen Beispiele, dass das nicht
nötig ist. Der Fonds der Deutschen Bank - das wurde
schon gesagt - ist um knapp 2,5 Prozent abgewertet worden. Die anderen Investmentfonds in diesem Bereich
sind am Ende sogar höher bewertet worden.
Es gibt aus meiner Sicht also nur einen eingeschränkten Handlungsbedarf. Den sollten wir in Ruhe klären
und auch in Ruhe überlegen, was wir tun können. Einen
Schnellschuss an dieser Stelle sollten wir ablehnen. Deshalb würde ich mich freuen, wenn die Grünen ihren Antrag überdenken würden.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Nina Hauer,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Der
Antrag der Grünen greift ein aktuelles Thema auf. Ob er
zum jetzigen Zeitpunkt hilfreich ist, wird sich noch zeigen.
Wir haben uns mit dem Thema der Schließung des offenen Immobilienfonds der Deutschen Bank auch im Finanzausschuss beschäftigt. Man kann sagen, dass wir einer Meinung sind, was die Fragen betrifft: Wie stärken
wir das Vertrauen, das beim Anleger durch diese Schließung verloren gegangen ist? Wie sorgen wir auch dafür,
dass für diese offenen Fonds in Zukunft klarere Regeln
- die sind offensichtlich notwendig - gelten?
Ihr Antrag nimmt das richtige Thema zum falschen
Zeitpunkt auf und setzt auch die falschen Akzente.
({0})
Das ist der Grund dafür, dass er von meiner Fraktion abgelehnt wird. Es besteht Anlass zu ein bisschen mehr
Gelassenheit. Wir haben in der letzten Woche eine positive Entwicklung bei der Deutschen Bank erlebt. Der
Fondsbesitz wurde nur um 2,4 Prozent abgewertet und
die Anleger sollen entschädigt werden. Wenn man einmal bedenkt, dass die Bank davon geredet hat, es könne
eine Abwertung um 10 oder 15 Prozent erfolgen, ist es
doch eine Blamage, die die Deutsche Bank da erlebt hat.
({1})
Ich kann verstehen, dass sich die Anleger - wenn ich
das einmal auf Hessisch sagen darf - veräppelt fühlen,
wenn oben in der Chefetage darüber geredet wird, dass
der Fonds geschlossen wird, und am selben Tag unten
am Schalter noch Anteile verkauft werden. Das darf natürlich nicht passieren.
({2})
Ob die Entschädigungen über den Vertrauensverlust
hinweghelfen, muss die Deutsche Bank selbst beantworten.
Ich finde, dass Ihre Vorschläge, meine Damen und
Herren von den Grünen, zum Teil gar nicht auf dieses
Problem eingehen. Sie wollen, dass viermal im Jahr der
Wert einer Immobilie durch Sachverständige beurteilt
wird. Das wird die Anleger nicht freuen; denn die Volatilität der Verkehrswerte von Immobilien ist gering, die
Kosten dieser Bewertungen sind hoch und am Ende zahlen das die Anleger. Ich halte es für sinnvoller, das einmal im Jahr zu machen. Das wird der Bewegung, die in
diesem Markt ist, gerecht, ohne dass ein unnötiges Risiko eingegangen wird.
Sie wollen, dass die BaFin in Zukunft darüber entscheidet, ob die Annahme von Anteilen ausgesetzt werden darf oder nicht. Wir haben diese Finanzmarktaufsicht zum einen gegründet, um alle Aufsichten über den
Finanzmarkt in einer Hand zu haben. Zum anderen soll
dieser Behörde aber auch in einem hoch flexiblen Markt
Achtung zukommen. Vor diesem Hintergrund halte ich
es für problematisch, die Kompetenz für alles, was uns
auf dem Finanzmarkt begegnet, dieser Behörde zuzuschieben. Dem ehemaligen Arbeitsamt, der heutigen
Bundesagentur für Arbeit, haben wir über Jahre hinweg
Verantwortlichkeiten zugeschoben und uns dann gewundert, dass da nicht mehr viel funktionierte. Ich denke,
das darf sich bei der BaFin nicht wiederholen. Die BaFin
kann einen aktuellen Einzelfall wahrscheinlich nicht in
der Geschwindigkeit prüfen, in der das nötig wäre. Abgesehen davon würde sich so die Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit auf die Aufsicht lenken und nicht auf das
eigentliche Unternehmen, das die Schließung eines
Fonds plant. Umgekehrt kann die BaFin jedoch, wenn
eine Schließung notwendig sein sollte, diese anordnen
bzw. nach einer Prüfung verlangen, dass die Anteile zurückgenommen werden. Bei Ihrem Antrag hat man den
Eindruck, dass die Aussetzung des Anteilshandels im
Ermessen der Kapitalgesellschaft liegt. Das ist nicht der
Fall. Hierfür wurde schon längst eine gesetzliche Regelung geschaffen, auf die die BaFin zurückgreifen kann
und auf die sich die Anleger und Anlegerinnen verlassen
können.
Auch ich finde, dass die Privatanleger gegenüber den
Großanlegern und den institutionellen Anlegern gestärkt
werden müssen, gerade vor dem Hintergrund, dass offene Immobilienfonds als Tagesgeldanlage genutzt werden bzw. innerhalb kurzer Zeit Geld hineingepumpt und
dann wieder abgezogen wird. Deswegen ist die Überlegung, Kündigungsfristen von zwölf Monaten oder länger einzuführen, legitim. Wir müssen im Einzelfall noch
einmal bereden, was da zweckmäßig ist. Ich denke aber,
dass der Vorschlag generell sinnvoll ist. Für problematisch halte ich es allerdings, die Rücknahmeabschläge
analog zur Haltedauer festzusetzen, wie es in Ihrem Antrag vorgeschlagen wird. Stellen Sie sich das einmal
ganz real vor: Die Pflicht, bei anonymen Anlagen
- schließlich kann ja im Regelfall gar nicht nachvollzogen werden, wem welcher Anteil in welcher Höhe gehört - festzustellen, wann welches Geld dem Fonds zugeflossen ist und wann es wieder abgezogen wurde,
führt zu einer Bürokratisierung und einem irrsinnigen
Verwaltungsdruck, dem die Anlageform Fonds kaum gewachsen sein wird. Wenn das zur Auflage wird, können
die Fonds eigentlich zumachen. Grundsätzlich halte ich
also den Vorschlag, eine Kündigungsfrist einzuführen,
für sinnvoll. Das darf aber nicht dazu führen, den Fonds
Verwaltungsaufgaben aufzubürden, die am Ende ihre
Rentabilität gefährden.
Ich habe auch nichts dagegen, die liquiden Mittel zu
erhöhen. Eine Mindestliquiditätsquote von 10 Prozent,
wie von einigen Seiten vorgeschlagen, hätte im aktuellen
Fall gereicht, wenn die Einschätzung der Deutschen
Bank richtig gewesen wäre. Natürlich kostet das etwas.
({3})
- Es ist klar, dass das zulasten der Rendite geht. In Anbetracht dessen, was da geschützt werden soll, sollte
man aber in der Tat darüber nachdenken, ob dieser Vorschlag sinnvoll ist.
Die schon geübte Kritik an der Einführung eines Hinweises auf die Möglichkeit eines Totalverlustes teile
ich. Wir haben die Pflicht zu diesem Hinweis in einigen
Bereichen eingeführt, zum Beispiel bei den HedgeFonds, wo er absolut angemessen ist. Wir entwerten die
Bedeutung, die ein solcher Hinweis für die Kunden hat,
wenn wir ihn überall da zur Pflicht machen, wo ein Risiko bestehen könnte. Schließlich versichern Sie sich,
wenn Sie auf einem Berg wohnen, auch nicht gegen
Hochwasser. Wir würden also den Anlegern das Gefühl
eines Risikos vermitteln, welches es bei diesem Anlageprodukt definitiv nicht gibt. Anders als etwa bei Aktien
wäre die Möglichkeit eines Totalverlustes bei Immobilien ja nur dann gegeben, wenn ihr Wert auf null sinken würde, was absolut unwahrscheinlich ist. Das ist
also kein adäquates Mittel, um auf die bei Immobilienfonds bestehenden Risiken hinzuweisen. Außerdem
würden wir, wenn wir diesen Begriff, den wir als Warnsignal bisher gut im Aktienrecht eingeführt haben, hier
verwenden würden, auch Leute verwirren, die zu einem
Produkt greifen wollen, wo wirklich der Totalverlust als
Gefahr drohen kann und dieser Hinweis angebracht ist.
Insgesamt greift Ihr Antrag die richtigen Themen auf,
allerdings, wie ich finde, zum falschen Zeitpunkt. Wir
müssen jetzt einmal abwarten, wie es bei der Deutschen
Bank weitergeht. Ich finde, diese Gelassenheit sollten
wir haben. Wir werden uns aber im Laufe dieses Jahres
damit auseinander setzen, wie wir die Regeln, die von
den Kolleginnen und Kollegen hier schon aufgegriffen
und besprochen worden sind, zur Grundlage machen
können, um die gesetzlichen Bestimmungen so zu gestalten, dass wir das Vertrauen, aber auch die Sicherheit
der Anleger stärken. Für den Anleger muss klar werden:
Wo lege ich mein Geld an, wie hoch ist mein Risiko und
vor welchen Entscheidungen auf Unternehmensebene
werde ich als Anleger geschützt?
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Dr. Herbert Schui von der Fraktion Die Linke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bekanntlich ist es für die Linke nicht das politische Ziel
Nummer eins, das Geldvermögen der Anleger bei Immobilienfonds zu schützen.
({0})
- Das ist unglücklicherweise nicht mein Vermögen. Ich
habe als Mitglied der WASG auf der Liste der Linkspartei kandidiert
({1})
- ja, Herr Kollege Mittelbänkler -, sonst würde ich natürlich höhere Nebeneinkommen angeben.
Wichtig ist die Sache natürlich insofern, als Kleinstanleger betroffen sein könnten. Wichtig ist sie vor allen
Dingen deswegen, weil eine Krise des Finanzsektors, die
bei den Immobilienfonds ihren Anfang nehmen könnte,
sehr rasch Wirkungen auf den realen Sektor der Wirtschaft, auf Beschäftigung und Wachstum haben könnte.
Auch wenn die Gefahr in Bezug auf den aktuellen Immobilienfonds einigermaßen gebannt zu sein scheint,
machen wir uns nichts vor: Viele Immobilien in diesen
Fonds haben effektiv einen wesentlich geringeren Wert,
als das bei der Analyse der Bilanzen prima facie der Fall
zu sein scheint.
Die Maßnahmen, die der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen vorschlägt, sind meiner Auffassung nach ein
Weg in die richtige Richtung. Die Ultima Ratio im Antrag der Grünen allerdings soll, wenn ich das richtig dechiffriert habe, darin bestehen, die Liquidierung von
Fondsanteilen seitens der Anleger durch administrative
Maßnahmen zeitweise zu unterbinden.
Wenn ein solcher Antrag in den Bundestag eingebracht wird, dann wird eines deutlich: Die Privatwirtschaft, im vorliegenden Fall vertreten durch die Immobilienfonds, braucht einen regulierenden Staat. Die
Autonomie der Unternehmer, der Erfindungsreichtum
und die Freiheit des Marktes müssen beschränkt werden,
um die Stabilität der Privatwirtschaft zu verbessern und
die Existenz ganzer Geschäftszweige zu sichern.
Spontan ist man da an eine Bemerkung von Joseph
Schumpeter in „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ erinnert.
({2})
Gemeint ist aber nicht die Sache mit der „schöpferischen
Zerstörung“, woran die Fatalisten sehr gerne glauben,
sondern seine etwas apodiktische Feststellung: Die
Bourgeoisie braucht ihren Herrn.
({3})
Bis zu Schumpeter hat es Kollege Spiller, der finanzpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, noch
nicht gebracht, auch nicht die letzte SPD-geführte Regierung. Kollege Spiller setzt auf Eigenverantwortung
der Institute, so das „Handelsblatt“ im Januar. Ähnlich
Kollege Meister von der CDU/CSU, der in der gleichen
Zeitungsmeldung darauf baut, dass die Fondswirtschaft
selbst aktiv wird. Ob die Regierung weiterhin den Überblick behält, ist offen; ich wünsche es. Immerhin haben
sich die Staatssekretäre Frau Hendricks und Herr Mirow
für einen Eingriff des Gesetzgebers ausgesprochen.
Weniger emphatisch formuliert als bei Schumpeter:
Der Staat muss Gegenpol zur Privatwirtschaft sein; sonst
kann weder die Privatwirtschaft noch der Staat funktionieren. Das ist der entscheidende Punkt. Infolgedessen
müssen wir, wenn wir ein solches Gesetz machen, überlegen, was zweckmäßig ist, und dürfen uns nicht durch
Zurufe aus der entsprechenden Branche aus der Balance
bringen lassen. Aber dazu gleich noch ein paar kleine
Bemerkungen.
Eine konkrete Frage zum Antrag der Grünen ist:
Wenn die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht im beginnenden Katastrophenfall die Liquidierung
von Fondsanteilen durch die Anleger aussetzen soll,
dann benötigt sie umfassende Informationen, um einerseits nicht unnötig zu handeln und die sprichwörtlichen
Pferde nicht scheu zu machen und um andererseits stets
dann zur Stelle zu sein, wenn alle anderen Mittel nicht
mehr greifen. Die notwendigen Informationen aber sind
nur zu haben, wenn die Fonds, die Unternehmen des
Finanzsektors, einige wesentliche Geheimnisse, sozusagen Bankgeheimnisse, preisgeben. Werden sie dazu bereit sein, auch wenn das im wohlverstandenen Brancheninteresse liegt? Sicherlich kann das Gesetz sie dazu
zwingen.
Eine flankierende Maßnahme wäre, den Fonds für
Zeiten einer bevorstehenden tiefen Krise Diskontmöglichkeiten zu eröffnen, damit sie sich die erforderliche
Liquidität bei anhaltendem Abfluss von Einlagen verschaffen können. Das aber dürfte politisch voraussetzen,
dass die Europäische Zentralbank mitspielt. Die aber ist
unpraktisch veranlagt, wie das auch die Bundesbank
beim Börsenkrach im September 1987 war. Sie erinnern
sich: Greenspan, der damals ins Amt gekommen war,
ließ durch seine Leute die Bundesbank als „Inflationsneurotiker“ beschimpfen, weil die Bundesbank im Rahmen eines konditionierten Reflexes beim Verfall der
Börsenkurse den Zins erhöht hat.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Danke, für den Hinweis.
({0})
- Danke.
Weiter flankierende Maßnahmen -
Herr Kollege, das bedeutet, dass Sie zum Schluss
kommen müssen.
Gerne. Auch ich will nach Hause, Frau Präsidentin.
({0})
Darum geht es allerdings nicht.
Es gäbe schon noch einige flankierende Möglichkeiten. Stellen Sie sich vor, es gäbe weniger Spekulation.
Herr Kollege, ich bitte um Verständnis, dass Sie damit
nicht mehr beginnen können. Sie haben Ihre Redezeit
wirklich überschritten. Ich war schon großzügig.
Gut. - Dann danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen angenehmen Abend. Vergessen Sie nicht, das Licht auszumachen!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/661 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. März 2006, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist damit geschlossen.