Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung zu Steuersenkungsvorhaben
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Gudrun Kopp, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rechtliche Grundlagen für die Einführung
von CCS-Technologien unverzüglich schaffen
- Drucksache 16/11751 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({1}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Überwachungsanordnung rechtsstaatlich absichern - Stellungnahme gemäß
Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
- Drucksache 16/12856 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 10 wird abgesetzt. An dieser Stelle wird der Tagesordnungspunkt 12 aufgerufen.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen ({4})
- Drucksachen 16/12254, 16/12674 überwiesen:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Handlungskonzept der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der ländlichen
Räume.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz, Frau Ilse Aigner. - Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie gerade erwähnt, hat das Bundeskabinett heute das Handlungskonzept der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der ländlichen Räume
Redetext
verabschiedet. Hiermit wurde ein wichtiger Grundstein
für weitere Initiativen der Bundesregierung gelegt.
Wir wollen mit unserer Politik für ländliche Räume
die ländlichen Regionen stärken und langfristig den
unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven gerecht
werden. Die Bundesregierung zielt mit ihrer Politik für
ländliche Räume darauf ab, in allen Regionen Deutschlands gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen.
Das Handlungskonzept, das die interministerielle Arbeitsgruppe erarbeitet hat, enthält eine Reihe von innovativen Ansätzen zur längerfristigen Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur in den strukturschwachen
ländlichen Regionen, zur nachhaltigen Verbesserung der
Agrarstruktur und zur Weiterentwicklung der ländlichen
Infrastrukturen.
Es gibt zahlreiche Politikmaßnahmen, die zwar nicht
speziell für die ländlichen Räume entwickelt wurden,
aber dennoch für die ländlichen Räume sehr wohl von
großer Bedeutung sind. Hierzu zählen zum Beispiel
Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und Verkehr. Die interministerielle Arbeitsgruppe hat diese Maßnahmen im Handlungskonzept angemessen berücksichtigt.
({0})
Bei einem so komplexen und schwierigen Thema wie
der Entwicklung der ländlichen Räume sind Sorgfalt und
Behutsamkeit angebracht. Insbesondere auf die ländlichen Regionen, die strukturschwach und vom demografischen Wandel besonders stark betroffen sind, müssen wir ein besonderes Augenmerk richten. Sie dürfen in
ihrer Entwicklung nicht dauerhaft zurückfallen. Wir
wollen die Voraussetzungen dafür verbessern, dass die
Menschen in den wirtschaftlich schwächeren Regionen
an der Entwicklung der Gesamtgesellschaft teilhaben
können sollen.
Mit dem heute beschlossenen Handlungskonzept sind
die Bemühungen der Bundesregierung längst noch nicht
abgeschlossen. Als Nächstes wird die interministerielle
Arbeitsgruppe Gespräche mit Ländern und Kommunen
führen. So soll die Umsetzung der im Konzept enthaltenen Maßnahmen vorbereitet werden. Wir werden außerdem sehr genau zuhören, wenn uns Vorschläge unterbreitet werden, wie darüber hinaus Beiträge zu einer
Stärkung der ländlichen Regionen geleistet werden können. Das Handlungskonzept bietet hierfür gute Ansatzpunkte.
Die erste Nachfrage kommt vom Kollegen Peter
Bleser.
Sehr verehrte Frau Ministerin, zunächst einmal herzlichen Dank dafür, dass dieser Bericht auf Ihre Initiative
hin erstellt wurde und Ihr Haus erkannt hat, dass in den
ländlichen Räumen für eine im Verhältnis zu den Ballungsgebieten gleichwertige Entwicklung gesorgt werden muss.
({0})
Ich bin der Meinung, dass das erstmalig in fundierter
Form geschehen ist. Deswegen möchte ich Sie fragen,
was Sie bzw. Ihr Haus machen wollen, um diese gleichwertige Entwicklung zu fördern, und zwar zum einen
hinsichtlich der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“, und zum anderen hinsichtlich der Infrastrukturmaßnahmen, die insbesondere jungen Menschen, die
über höher qualifizierte Berufsausbildungen verfügen, in
den ländlichen Räumen Lebensmöglichkeiten eröffnen.
Aufgrund gewisser Abwanderungstendenzen ist nämlich
eine Entleerung der ländlichen Räume zu befürchten.
Welche diesbezüglichen Initiativen planen Sie, und wie
ist die GAK finanziell ausgestattet?
Vielen Dank, Herr Kollege Bleser. Zunächst einmal
möchte ich darauf hinweisen, dass wir die Mittel für die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“ erheblich erhöht haben, zum
ersten Mal für das Jahr 2008, aber dann auch für das Jahr
2009. Mittlerweile belaufen sich die Bundesmittel auf
700 Millionen Euro. Da diese Gemeinschaftsaufgabe
von den Ländern mitfinanziert wird, kommen wir insgesamt auf eine Summe von 1,1 Milliarden Euro pro Jahr.
Hinzu kommen europäische Mittel. Es können also insgesamt fast 1,4 Milliarden Euro für diesen Bereich, insbesondere für integrierte ländliche Entwicklung, verwendet werden. Dazu gehören auch der Aufbau von
Netzwerken und anderer Infrastruktur.
Die Möglichkeit, Gut- und Hochqualifizierten auch
auf dem Land eine Zukunft zu eröffnen, hat beispielsweise sehr viel damit zu tun, in welchem Umfang Breitbandanschlüsse gefördert werden. Schon in der Vergangenheit wurde diesbezüglich ja eine sehr wichtige
Initiative auf den Weg gebracht. So stellen wir hierfür
jährlich 10 Millionen Euro im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ zur Verfügung. Wir haben des Weiteren
gemeinsam mit dem Wirtschaftsministerium ein integriertes Konzept auf den Weg gebracht mit der Zielsetzung, bis 2010 allen Haushalten Zugang zu schnellen Internetverbindungen zu verschaffen und diese in den
Folgejahren noch schneller zu machen. Dies ist eine
schwierige Aufgabe. Allein die Tatsache, dass wir über
diese Frage diskutiert haben, hat meines Erachtens bei
den Anbietern für viel Bewegung gesorgt. Es wurden
Lösungen gefunden, die zuvor technisch noch nicht
möglich waren oder überhaupt noch nicht angedacht
wurden.
Es ist wichtig, dass in diesem integrierten Gesamtkonzept nun auch eine Übersicht enthalten ist, aus der
zum Beispiel hervorgeht, wo künftig gebaut wird, sodass
man dort Leerrohre legen kann, die dann auch entsprechend mitfinanziert werden.
Außerdem wurde die Förderquote im Rahmen der
GAK für diesen Bereich deutlich angehoben, und zwar
auf insgesamt 90 Prozent. Das ist deshalb so wichtig,
weil gerade die finanzschwachen Kommunen aufgrund
der Verpflichtung zur Kofinanzierung offensichtlich
Schwierigkeiten hatten, die Mittel abzurufen. Da hat der
Bund nun wesentliche Vorleistungen erbracht. Ich
glaube, dass schon viele richtige Infrastrukturmaßnahmen in die Wege geleitet wurden.
({0})
Nun hat Frau Kollegin Happach-Kasan Gelegenheit,
zu fragen.
Frau Ministerin, vielen Dank für Ihren Bericht, wobei
ich anerkennen muss, dass Sie wegen Ihres Stichwortgebers aus München nicht unerhebliche Schwierigkeiten
hatten, Politik für die ländlichen Räume in ganz
Deutschland zu gestalten. Das wird an vielen Beispielen
deutlich.
Wir sind in der Situation, dass die Milchpreise auf einem Tiefstpunkt angelangt sind. Melkbetriebe müssen
10 Cent und mehr je Liter Milch hinzugeben, ohne dass
wir ihnen Perspektiven aufzeigen können.
Wir sind in der Situation, dass für Biokraftstoffe Kapazitäten in Höhe von 5 Millionen Tonnen aufgebaut
wurden, diese aber nur zu 20 Prozent genutzt werden.
Auch das ist eine für den ländlichen Raum fatale Situation.
Außerdem hat Ihr Staatssekretär heute berichtet, dass
das Kormoran-Problem weiterhin Schwierigkeiten beim
Ausbau der Aquakultur, der ja gewünscht ist, bereitet.
Frau Ministerin, was wollen Sie in diesen drei Bereichen tun, um den ländlichen Raum nachhaltig zu stärken? Es sollten ja keine falschen Botschaften an die
Landwirte gesendet werden, sondern vielmehr sollte
deutlich gemacht werden, welche Betriebe gefördert
werden und eine Überlebenschance haben. Wie wollen
Sie nun die Situation dieser Betriebe am Markt verbessern?
Vielen Dank, Frau Kollegin Happach-Kasan. - Wie
Sie wissen, bin ich in der Angelegenheit der Milchpreise
tätig. Aber auch in anderen Bereichen der Landwirtschaft gibt es Schwierigkeiten mit der Preisentwicklung.
Ich erinnere an die Getreidepreise, die innerhalb eines
Jahres um 40 Prozent gesunken sind. Darüber hinaus haben mittlerweile auch die Schweinezüchter Probleme,
und zwar aufgrund der etwas irreführenden Bezeichnung
der neuen Grippe als Schweinegrippe, wobei es sich jedoch in Wirklichkeit um eine Humangrippe handelt. In
diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich darauf
hinweisen, dass von Schweinen oder von Schweinefleisch in keiner Weise eine Gefahr ausgeht.
({0})
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, dies auch entsprechend zu transportieren, weil wir, wie ich glaube,
rechtzeitig dagegen angehen müssen. Es trifft also die
Landwirtschaft insgesamt.
Das Problem bei den Milchpreisen ist, dass die Festsetzung nicht durch die Politik erfolgt, sondern eine
Frage des Marktes ist. Ich weise aber darauf hin, dass
ich, insbesondere mit den Einzelhandelsverbänden, intensive Gespräche geführt habe und dabei sehr dafür plädiert habe, keine Werbung für Milchprodukte zu machen.
({1})
Daran hat man sich leider nicht gehalten. Wir werden
diese Gespräche aber fortsetzen.
In der Produktionskette ist meines Erachtens aber
noch ein größerer Bereich zu beackern. Es geht dabei
unter anderem um die Molkereien, die sich konsolidieren müssen. Das ist eine Forderung, die auf dem Milchgipfel vor einem Jahr aufgestellt wurde. In diesem
Marktbereich ist für meine Begriffe noch zu wenig geschehen; auch hier muss eine Konsolidierung durchgeführt werden.
Die nächste Frage ist, was wir für die Milchbauern
konkret machen können. Ich möchte darauf hinweisen,
dass ich mich auf der europäischen Ebene bei den Verhandlungen intensiv dafür eingesetzt habe, Ausgleichszahlungen vorzusehen, um den Ausstieg aus der Quote
abzufedern. Es geht hier nicht um Milchbegleitmaßnahmen, bei uns besser bekannt als Milchfonds.
Wenn ich die ganzen Mittel, bis zum Jahr 2013 zur
Verfügung gestellt werden, zusammenzähle, stehen inklusive der Kofinanzierung theoretisch bis zu
1,1 Milliarden Euro für diesen Bereich zur Verfügung.
Dazu zählen unter anderem die einzelbetriebliche Förderung, die Ausgleichszahlungen und die Weideprämie.
Zusätzlich haben wir im Rahmen des Konjunkturprogramms zur Bewältigung der neuen Herausforderungen
weitere Mittel für die ländliche Region - in dem Fall
sind sie auch für die Milch zu verwenden - in Höhe von
90 Millionen Euro aktivieren können; sie stehen für
2009 und 2010 zu Verfügung.
Im Moment arbeiten wir an einem Liquiditätsprogramm, durch das diejenigen, die jetzt unverschuldet in
Zahlungsschwierigkeiten kommen, unterstützt werden
sollen. Das kann in Form von Bürgschaften oder in Form
von zinslosen Krediten geschehen. Dies wird gerade erarbeitet. Ich bitte um Nachsicht, dass ich Ihnen noch
nicht das Endergebnis verkünden kann. Aber in diesem
Bereich sehen wir momentan das Hauptproblem.
Ich weise darauf hin, dass es in allen Landesteilen der
Bundesrepublik und in ganz unterschiedlichen Strukturen zu großen Problemen kommt. Es betrifft die großen
Betriebe, insbesondere in den neuen Bundesländern, die
mit den Zahlungen zu kämpfen haben - sprich: Lohnzahlungen -, die sie jeden Monat auf den Tisch legen
müssen. Teilweise können sie sie nicht mehr leisten, weil
sie schon Schwierigkeiten bei den Kreditlinien haben.
Das betrifft aber genauso Familienbetriebe in kleinstrukturierten Gebieten.
Ich weise auch darauf hin - das war eine Unterfrage
von Ihnen -, dass es im Zusammenhang mit dem Agrardiesel unterschiedliche Regelungen gibt. Ich mache keinen Hehl daraus, dass es auch in der Bundesregierung
unterschiedliche Meinungen dazu gibt. Das Ziel bleibt
meines Erachtens bestehen. Das wäre eine der größten
Entlastungen.
({2})
- Stichwort Kormoran: Wir versuchen immer wieder,
auf europäischer Ebene einen Aktionsplan zu schaffen,
um das Problem - das ist ein europäisches - zu lösen.
Auch in der letzten Agrarratssitzung ging es um die Aufstellung eines europäischen Kormoran-Managementplans.
Bevor ich der nächsten Fragestellerin das Wort erteile, erlauben Sie mir, dass ich auf der Besuchertribüne
den ehemaligen Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel
begrüße.
({0})
Wir dürfen Ihnen sicher im Namen von uns allen nachträglich zu Ihrem 70. Geburtstag, den Sie erst vor wenigen Tagen gefeiert haben, von hier aus unsere herzlichen
Glückwünsche überbringen. Alles Gute!
({1})
Als nächste Fragestellerin hat das Wort die Kollegin
Cornelia Behm.
Vielen Dank, Frau Ministerin, für Ihren Bericht. Wenn man sich das Konzept und vor allen Dingen das
Verfahren genauer ansieht, dann stellt man fest, dass das
Bundesagrarministerium die Federführung, die es
eigentlich innehat - dies wurde auch von Ihrem Vorgänger, Herrn Minister Horst Seehofer, sehr deutlich
gemacht -, im Grunde genommen an das Bundeswirtschaftsministerium abgegeben hat. Das halte ich für außerordentlich bedauerlich. Denn Minister Seehofer hatte
in seiner Amtszeit über ein Jahr lang sehr aufwendige
Veranstaltungen durchgeführt, um vor allen Dingen Anregungen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung
ländlicher Räume stehen, aus unterschiedlichen Gruppen
in der Bevölkerung zusammenzutragen.
Ich würde gern Folgendes wissen: Horst Seehofer hat
im Januar 2008 auf der Grünen Woche das Ziel verkündet, dass vom BMELV die GAK, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“, zu einer Gemeinschaftsaufgabe für die
ländlichen Räume entwickelt werden soll und damit einhergehend eine Änderung des GAK-Gesetzes bzw. eine
Verfassungsänderung anzustreben ist. Warum hat das
BMELV dieses Ziel vom Januar 2008 aufgegeben?
Dieses Ziel ist nicht generell aufgegeben. Wir haben
aber überprüft, ob eine komplette Ausweitung der jetzigen Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ erfolgen kann. Dies ist
nach Verfassungslage wohl nicht möglich. Da es eine
Gemeinschaftsaufgabe mit den Ländern ist, müsste dieses Vorhaben in einer Verfassungsänderung münden.
Dies schien uns momentan nicht realistisch. Das heißt
aber nicht, dass das Ziel aufgegeben ist; das möchte ich
ausdrücklich betonen.
Damit einhergehend wären ja auch zusätzliche Mittel
erforderlich. Auch darauf möchte ich hinweisen, weil die
Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ zwar aufgestockt
wurden, wie ich vorhin ausgeführt habe, aber ich für die
Unterstützung weiterer zusätzlicher Maßnahmen, was
ich ohne Zweifel sehr begrüßen würde, zusätzliche Mittel bräuchte.
Ich sehe es übrigens nicht so, dass wir uns vom Wirtschaftsministerium diese Aufgabe haben abnehmen lassen. Das Wirtschaftsministerium bearbeitet den Bereich
der Wirtschaftsförderung, wir haben die ländliche Entwicklung bis hin zur dörflichen Entwicklung mit vielen
Maßnahmen sehr stark unterstützt. Auch viele andere
Maßnahmen, wie die Breitbandstrategie, die ich angesprochen habe, werden von unserem Haus finanziert. Ich
gehe davon aus, dass wir dieses Thema weiterhin beackern werden.
Ich meine, dass durch die Diskussionen in der interministeriellen Arbeitsgruppe ein wesentliches Ziel erreicht wurde: Sie haben dazu geführt, dass alle beteiligten Ressorts - ich bedanke mich ausdrücklich bei den
Kolleginnen und Kollegen - die Entwicklung der ländlichen Regionen in den Blick genommen haben und auch
der Blickwinkel sich weiter geöffnet hat, sodass bei allen
Entscheidungen auf die Entwicklung der ländlichen
Räume geachtet wird. Ich halte das für eine Zukunftsaufgabe. Es ist die Verpflichtung der einzelnen Ressorts,
darauf zu achten, wie sich zukünftige Entwicklungen auf
die ländlichen Räume auswirken.
Frau Kollegin Dr. Tackmann, bitte.
Auch von mir herzlichen Dank, Frau Ministerin. - Im
Bereich der ländlichen Räume gibt es sozusagen zwei
Problemzonen.
Die eine Problemzone ist Ostdeutschland. Wir wissen
aus der aktuellen Studie der Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft, dass auf den letzten 40 Plätzen auf der
Rankingliste der Landkreise ostdeutsche Landkreise zu
finden sind. Insofern interessiert mich, ob Sie eine Strategie für die ländlichen Räume in Ostdeutschland haben,
zum Beispiel indem Sie der BVVG Einhalt gebieten, damit sie mit der Preistreiberei, an der sie im Zusammenhang mit Boden- und Pachtpreisen beteiligt ist, aufhört.
Schließlich ist der Besitz eigenen Bodens die Grundlage
für Agrarwirtschaftsbetriebe. Gibt es vielleicht auch andere Ansätze speziell für Ostdeutschland?
Ein anderes Problem ist die Abwanderung von jungen
Frauen. Ich freue mich, dass in der Arbeitsgruppe auch
das Familien- und Frauenministerium vertreten ist.
Diese Anregung haben wir vorgetragen. Meine Frage ist,
ob es eine Strategie gibt, um der Entwicklung entgegenzuwirken, dass junge qualifizierte Frauen besonders aus
den ländlichen Räumen in Ostdeutschland, aber nicht
nur, abwandern? Eine zielgenaue Maßnahme wäre zum
Beispiel, dass man wissenschaftliche Einrichtungen wie
etwa die in Waldsieversdorf und Wusterhausen in Brandenburg - das gilt auch für Ihren Ressortbereich - nicht
auflöst. Gerade in ländlichen Räumen arbeiten nämlich
viele Frauen in solchen Einrichtungen.
Ich beginne mit der Beantwortung der Frage zu den
Frauen. Ob es gelingt, Frauen in ländlichen Regionen zu
halten, hängt natürlich ganz wesentlich von der Infrastruktur ab. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir uns
über Bildungsmöglichkeiten und Kindertagesstätten unterhalten. Hier haben wir von der Bundesregierung sehr
viel auf den Weg gebracht, wovon auch die neuen Bundesländer profitieren.
Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“, die
auch die ländliche Entwicklung beinhaltet, haben die
Länder gewisse Spielräume bei der Verwendung der
Mittel. Sie können sie gemäß den eigenen Vorgaben entsprechend einsetzen. Ich möchte darauf hinweisen, dass
die als Kofinanzierung geforderten Mittel gerade in den
neuen Bundesländern deutlich geringer als in den alten
Bundesländern sind. Das stellt also eine deutliche Unterstützung der Kommunen insbesondere in den neuen
Bundesländern dar, von deren Richtigkeit wir auch überzeugt sind.
Ich komme zur Frage der Agrarstrukturen insgesamt.
Ich war erst vor kurzem bei einigen großen Milchbetrieben in Brandenburg. Ich halte die Frage der Liquiditätshilfen für die Bereiche, in denen es ansonsten schwierig
ist, die Struktur der Arbeitsplätze aufrechtzuerhalten, für
eines der zentralen Themen, um das ich mich, wie ich
vorher schon ausgeführt habe, intensiv bemühen werde,
auch damit Arbeitsplätze für junge Frauen - es sind hier
sehr viele Frauen in diesen Bereichen beschäftigt - erhalten werden.
Nächster Fragesteller ist der Kollege Josef Göppel.
Frau Ministerin, ich gehe davon aus, dass wir uns einig sind, dass die unselige Debatte über die finanzielle
Ausstattung der Programme für ländliche Räume, in der
es darum geht, wie die Mittel zwischen der ersten und
der zweiten Säule der europäischen Agrarpolitik verteilt
werden, beendet werden muss. Vor diesem Hintergrund
frage ich Sie: Sind Sie wie ich der Meinung, dass wir auf
europäischer Ebene im Hinblick auf die Periode nach
2013 eine eigenständige finanzielle Säule für die Entwicklung ländlicher Räume schaffen sollten, um dieses
europäische Charakteristikum, nämlich das fruchtbringende Zusammen- und Wechselspiel zwischen urbanen
und ländlichen Räumen, aufrechtzuerhalten und in Zukunft weiterentwickeln zu können?
Im Hinblick auf die Gemeinschaftsaufgabe möchte
ich Sie gerne fragen, mit welchen neuen Maßnahmen der
zunehmende Nutzungsdruck auf die Landschaft zur Erhaltung wildlebender Pflanzen und Tiere aufgefangen
werden kann.
Zunächst zu Ihrer grundsätzlichen Frage zur Gewichtung von erster und zweiter Säule der europäischen
Agrarpolitik. Die Diskussionen darüber, wie es auf diesem Gebiet nach 2013 weitergeht, stehen noch ganz am
Anfang. Auch die Bundesregierung hat ihre Meinungsbildung in dieser Frage noch nicht abgeschlossen. Insofern kann ich Ihnen nur meine persönliche Auffassung
schildern, die allerdings, wie ich glaube, im Wesentlichen der Meinung der Agrarpolitiker entspricht.
Zunächst einmal ist nach wie vor von Bedeutung,
dass in der Fläche eine Struktur vorhanden ist, die ermöglicht, dass Landwirtschaft auch künftig existiert und
Land bewirtschaftet wird. Dafür ist eine hinreichende
Ausstattung erforderlich; das betrifft letztendlich auch
die Prämien, die auf den Hektarbetrag umgelegt werden.
Ich halte dies deshalb für wichtig, weil wir von unseren
Landwirten verlangen, dass sie höhere Tierschutz- und
Naturschutzstandards als Landwirte in anderen Ländern
einhalten, was eine Wettbewerbverzerrung gegenüber
Drittländern zur Folge hat. Was die erste Säule angeht,
sollten wir uns also gemeinsam dafür einsetzen, dass ein
vernünftiges Niveau erhalten bleibt, um vor allem die
vorhandenen Wettbewerbsverzerrungen auszugleichen.
({0})
Das zweite Standbein ist mindestens genauso wichtig.
Im Hinblick auf die ländliche Entwicklung geht es um
die benachteiligten Gebiete, die auch künftig noch in
diesem Rahmen gefördert werden können. Aber auch die
integrierte ländliche Entwicklung spielt eine wichtige
Rolle. Hier sehen wir uns mit neuen Herausforderungen
konfrontiert. In diesem Bereich, in dem es um die verschiedensten Themen vom Klimaschutz bis zur Energieversorgung geht, werden wir zwar von der Europäischen
Union unterstützt, müssen uns aber vieles erkämpfen.
Ich mache kein Geheimnis daraus, dass der Kampf
um die Verteilung der Mittel der EU mit Sicherheit sehr
hart wird. Ich kann Ihnen aber zusichern, dass ich mich
sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch auf europäischer Ebene dafür einsetzen werde, dass sowohl die
finanziellen Mittel für die zweite Säule, die im Zusammenhang mit den von Ihnen angesprochenen Maßnahmen sehr wichtig ist, als auch die für die erste Säule auf
einem angemessenen Niveau erhalten bleiben.
Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass mir noch eine
Fülle weiterer Wortmeldungen vorliegt. Wie Sie wissen,
ist die Zeit, die uns für die Regierungsbefragung zur Verfügung steht, begrenzt. Es ist daher im Interesse aller
Kolleginnen und Kollegen, die noch zu Wort kommen
wollen, dass sich alle Fragesteller kurzfassen.
Frau Kollegin Bärbel Höhn, bitte.
Das versuche ich, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin,
ich will an die Frage des Kollegen Göppel anschließen.
In den letzten Jahren war in der Tat zu beobachten, dass
es insbesondere bei den Mitteln für die zweite Säule, bei
der es um die ländliche Entwicklung geht, zu einem dramatischen Abschmelzen gekommen ist. Das stellen auch
Sie fest, wenn Sie wie aktuell zum Beispiel den Milchbauern helfen wollen.
Angesichts der Tatsache, dass auf EU-Ebene momentan eine heftige Diskussion darüber geführt wird, ob man
nicht nach 2013 die Zuständigkeit für bestimmte Teile
der zweiten Säule von der Generaldirektion Agrar zur
Generaldirektion Regio verschieben sollte, ist es aber
brisant, dass Sie Ihr eigenes Handlungskonzept erst so
spät vorgelegt haben und dass der Erstentwurf nach meinen Informationen vom Bundeswirtschaftsministerium
und nicht von Ihrem Ministerium erstellt worden ist. So
frage ich Sie: Ist nicht die Tatsache, dass, wie Sie vorhin
sagten und auch Ihr Staatssekretär heute im Ausschuss
ausgeführt hat, in dieser Legislaturperiode in diesem Bereich gar nichts mehr getan werde, Wasser auf die Mühlen der EU-Kommission, die ja daraus ableiten könnte,
dass es besser wäre, weil die Landwirtschaftsminister
gar nicht in der Lage sind, ein Konzept für den ländlichen Raum zu erstellen, die Zuständigkeit dafür auf eine
andere Generaldirektion zu verschieben?
Sehr geehrte Frau Höhn, ich bin mir sicher, dass der
Staatssekretär - er sitzt ja hier - das in dieser Form nicht
gesagt hat. Auch ich habe nur gesagt, dass wir in dieser
Legislaturperiode keine Änderung des Grundgesetzes
zugunsten der GAK machen werden; aber wir werden in
diesem Bereich selbstverständlich weiterarbeiten.
Der erste Schritt war, dass sich die Bundesregierung
abstimmt. Ihre Behauptungen zur Federführung kann ich
nicht kommentieren; ich gehe aber davon aus, dass
selbstverständlich wir die innehatten, vom Anfang bis
zum Ende. Das Vorhaben ist ja auch von meinem Vorgänger, Horst Seehofer, dementsprechend eingebracht
worden. Insofern stellt sich diese Frage nicht.
Wir werden dieses Konzept weiterentwickeln. Wir
werden mit einem entsprechenden Handlungskonzept auf
die Länder und auf die Kommunen zugehen. Sie wissen
genauso gut wie ich, dass die Länder und die Kommunen
in diesem Bereich eigentlich das treibende Element sein
sollten. Sie müssen jetzt zwingend eingebunden werden;
das ist der nächste Schritt.
Wir werden auch noch in dieser Legislaturperiode einen Bericht über den Fortgang vorlegen. Im Übrigen
werden sich alle Ressorts dafür einsetzen, dass die Entwicklung des ländlichen Raums vernünftig vonstatten
geht.
Zur europäischen Ebene. Ich weiß nicht, was Sie genau meinen, wenn Sie sagen, da sei etwas abgeschmolzen worden. Ich kann nur sagen: Unter Ihrer Regierung
wurden die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“,
mit der die zweite Säule kofinanziert wird, deutlich gekürzt.
({0})
Wir haben, wie ich schon gesagt habe, diese Mittel wieder erhöht, damit entsprechende Maßnahmen im ländlichen Bereich überhaupt finanziert werden können. Dass
das so bleibt, dafür werde ich mich auch künftig einsetzen, allein damit die Kofinanzierung für die Mittel, die
wir auf der europäischen Ebene organisiert und erkämpft
haben, sichergestellt bleibt. Das alles kommt dem ländlichen Raum entgegen.
Sie können sich sicher sein: Ich werde mich auch auf
der europäischen Ebene dafür einsetzen, dass die Zuständigkeit dafür im Agrarbereich bleiben wird.
Herr Dr. Jordan.
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie wissen, dass ich
mich insbesondere für die weitere Breitbanderschließung des ländlichen Raums eingesetzt habe. Ich bin Ihrem Ministerium und Ihnen dankbar, dass wir - Sie haben dazu schon Stellung bezogen - diese Entwicklung
jetzt so weit vorangebracht haben.
Für mich persönlich - das scheint auch die Auffassung
dieses Hauses insgesamt zu sein - ist es sehr wichtig,
dass die Unterstützung des ländlichen Raums eine breite
interministerielle Förderung genießt. Mich würde interessieren, wie sich die 2007 per Beschluss eingesetzte interministerielle Arbeitsgruppe „Ländliche Räume“ weiterentwickeln soll, welche Berichte zu erwarten sind und
welche Schlussfolgerungen sich für die Entwicklung in
den nächsten Jahren ergeben.
Wir werden, wie gesagt, noch dieses Jahr einen Arbeitsbericht vorlegen, welche Fortschritte insbesondere
bei den Gesprächen mit den Kommunen und den Ländern, aber auch innerhalb der Bundesregierung im
Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ erzielt wurden.
Bei der Breitbandverkabelung sind wir - das verhehle
ich nicht - noch nicht so weit, wie wir es eigentlich erwartet haben. Das liegt oft auch an europarechtlichen
Notifizierungsfragen. Die Kommunen wissen, dass auch
sie deutlich nachbessern müssen.
Es wird in diesem Bereich nicht die eine Lösung
geben; wir müssen mit Sicherheit eine Mischung von verschiedenen Maßnahmen in Betracht ziehen. Es geht beispielsweise darum, vorzusorgen, dass Leitungen einfacher verlegt werden können: Stichwort „Leerrohre“. Wir
haben die digitale Reserve aktiviert: Freiwerdende Funkfrequenzen können jetzt auch für die Breitbandversorgung verwendet werden. Es wird bestimmt auch einen
Mix aus Festverkabelung und Funklösungen geben, weil
die Fläche so groß ist, dass nicht alles in einem zu erledigen ist. Der Ausbau der Breitbandversorgung ist eine
Daueraufgabe.
Ich betone noch einmal, dass schnelles Internet ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor ist. Betriebe, die darauf angewiesen sind, große Datenmengen zu verschicken - ich
nenne als Beispiel nur Architekten -, werden sich im
ländlichen Raum nur dann ansiedeln, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Deshalb ist der Ausbau der Breitbandversorgung für uns ein Schwerpunkt. Die Bundesregierung hat sich klar dazu bekannt, dass sie diese
vorantreiben wird. Wir haben schon ein Konzept auf den
Weg gebracht.
Frau Kollegin Zimmermann.
Frau Ministerin, ich will an dieses Thema anschließen. Ich habe wohlwollend zur Kenntnis genommen,
dass Sie von gleichwertigen Lebensverhältnissen in
Stadt und Land gesprochen haben. Dazu gehört nun einmal die Überwindung der digitalen Kluft, die durch fehlende schnelle Internetanschlüsse im ländlichen Raum
entstanden ist.
Teilen Sie unsere Meinung, dass die bisherigen Breitbandaktivitäten der Bundesregierung gescheitert sind? In
der Zeit Ihrer Regierung ist die digitale Kluft zwischen
Stadt und Land nämlich immer größer geworden. Man
muss auch die Übertragungsraten dort mitberücksichtigen. Es geht schließlich nicht um 128 Kilobit, sondern in
den Ballungsgebieten sind es schon 50 Megabit.
Deswegen ist Ihre Strategie aus unserer Sicht gescheitert. Denn die von Ihnen zur Verfügung gestellten Fördermittel werden nicht abgerufen. Wir haben dazu eine
Kleine Anfrage gestellt, die von der Bundesregierung
beantwortet wurde. Mehrere Bundesländer lehnen das
Konjunkturpaket II in dem Sinne ab, dass sie für Breitband keine Mittel zur Verfügung stellen wollen. Die Telekom hat angekündigt, für den Ausbau des Breitbandnetzes weniger Geld zur Verfügung zu stellen. Teilen Sie
unsere Meinung, dass Sie mit Ihrer Breitbandstrategie
gescheitert sind?
Ich schließe noch eine zweite Frage an.
Frau Kollegin, denken Sie aber bitte daran, dass wir
noch andere Fragesteller haben.
Ja, ich bin auch gleich fertig. - Wie stehen Sie zur
Einführung des Breitbanduniversaldienstes? Denn diese
Möglichkeit wäre gegeben.
Was Ihre erste Frage angeht, teile ich Ihre Ansicht
nicht, dass die Breitbandstrategie gescheitert ist. Ich
weise noch einmal darauf hin, dass mit den 10 Millionen
Euro jährlich zum ersten Mal Mittel dafür bereitgestellt
worden sind. Ich gebe aber zu, dass der Mittelabfluss
noch etwas ausbaufähig ist. Wir arbeiten zusammen mit
den Ländern und Kommunen hart daran, dass dies vollzogen wird. Dabei geht es, wie gesagt, teilweise auch
sehr stark um europarechtliche Themen. Wir werden das
auch künftig weiter vorantreiben und haben jetzt eine gemeinsame Strategie erarbeitet.
In Ihrer zweiten Frage nach den Universaldienstleistungen spielen Sie wahrscheinlich auf Pflichtleistungen
an. Wir werden auf alle Fälle darauf drängen, dass die
Grundversorgung auch in den ländlichen Gebieten in
diesem Maße sichergestellt wird. Wie wir das erreichen
können, werden wir in der nächsten Zeit noch heiß diskutieren.
Das Wort hat der Kollege Franz-Josef Holzenkamp.
Frau Ministerin, ich bin dankbar dafür, dass Sie sehr
deutlich gemacht haben, dass Sie die Diskussion Landwirt gegen Landrat nicht führen wollen. Herzlichen
Dank dafür.
Sie haben in Ihren Ausführungen deutlich gemacht,
dass das zentrale Instrumentarium für die Förderung des
ländlichen Raumes innerhalb Ihres Hauses die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ ist. Sie haben aber ebenfalls deutlich
gemacht - das ist auch absolut richtig -, dass der ländliche Raum mehr bedeutet, nämlich Infrastruktur, Bildung
und Gesundheitswesen. Das BMELV hat zum Beispiel
das Thema Breitband sehr intensiv angeschoben.
Meine Frage lautet: Machen die anderen Ressorts genug? Wir haben die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe
aufgestockt. Kommt von den anderen Ressorts genug,
oder müssen wir mehr tun?
Gerade im Bereich des Wirtschaftsministeriums
wurde die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ sehr stark an die ländlichen Räume angepasst. Das begrüße ich außerordentlich
und gehe davon aus - ich sehe auch Anzeichen dafür -,
dass durch die interministerielle Arbeitsgruppe ein deutlicher Bewusstseinswandel stattgefunden hat.
Ich nenne nur das Stichwort Gesundheitspolitik. Die
Frage der ärztlichen Versorgung auf dem flachen Land
ist ein wesentlicher Punkt für die Attraktivität der ländlichen Räume.
Ich betone noch einmal, dass die Bundesregierung
insgesamt gerade in den Bereichen Kindererziehung und
Schulen deutliche Schwerpunkte gesetzt hat, was auch in
den Konjunkturprogrammen deutlich wird. Wir setzen
insbesondere in den Bereichen Bildung und Kindergärten wie auch im Bereich der energetischen Verwertung
sehr viele Mittel ein, und wir haben speziell für die Entwicklung des ländlichen Raumes massiv Mittel eingesetzt. Das alles kommt sinnvollerweise dem ländlichen
Raum zugute.
Der Kollege Hans-Michael Goldmann ist der nächste
Fragesteller.
Frau Ministerin, mir ist nicht bekannt, was im Kabinett beraten wird. Sie haben vorhin einen ergiebigen Bericht gegeben. Können Sie einige Bausteine nennen, die
heute zur Sprache gekommen sind? Die Breitbandverkabelung ist ein alter Hut. Gott sei Dank sind wir vor Ort
schon viel weiter. Wir sind auch nicht auf Hilfe des Bundes angewiesen, sondern in diesem Fall sind die Länder
zuständig.
Ich habe noch eine andere Frage. Sie haben bei dem
sogenannten Health Check - also der Gesundheitsüberprüfung bei der Bereitstellung von Finanzmitteln für die
Agrarwirtschaft in Europa insgesamt - dem Ausstieg aus
der Quote ab 2015 zugestimmt. Halten Sie an diesem
Beschluss fest, oder wollen Sie am Wochenende auf Ihrem Parteitag in Süddeutschland anders entscheiden?
Sehr geehrter Herr Goldmann, Sie wissen genau, dass
es nicht um den Beschluss zum Ausstieg aus der Quote
gegangen ist, sondern um den Health Check.
({0})
- Nein, es ist nicht um die Bestätigung, sondern um eine
Anpassung gegangen. Dabei ist es um viele Bereiche gegangen, zum Beispiel um die Modulation, die Ihnen sehr
gut bekannt ist, oder um die Frage, um wie viel die Quoten erhöht werden. Wie Sie wissen, gibt es hier sehr unterschiedliche Ansätze innerhalb der Europäischen
Union, aber auch in der Bundesrepublik. Aber ich glaube
- das sage ich mit voller Überzeugung -, dass sich die
Ergebnisse, die ich erzielt habe, durchaus sehen lassen
können und angesichts der Ausgangssituation einen
ziemlich großen Verhandlungserfolg darstellen; das ist
die grundsätzliche Ausrichtung.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass eine Änderung
der Quote nach meinem Kenntnisstand einen aktiven
Vorschlag der Kommission verlangen würde.
({1})
- Nein. Die Kommission müsste einen Vorschlag vorlegen, aus dem hervorgeht, dass die Gültigkeitsdauer der
Quotenregelung verlängert wird. Das wird die amtierende Kommissarin nach meinem Kenntnisstand nicht
tun.
Ich habe bereits alles angesprochen, über das heute im
Kabinett diskutiert wurde. Auch Fragen betreffend die
Infrastruktur, die Schulen, die Kindergärten, die Gesundheitsversorgung und die Verkehrsinfrastruktur bis hin zu
den Breitbandnetzen, wurden heute ebenfalls angesprochen.
Ulrike Höfken ist die nächste Kollegin.
Schönen Dank. - Ich möchte nach der Milchpolitik
fragen. Könnten Sie die Haltung des Freistaates Bayern
und die genauen Vorstellungen bezüglich der Mengenregulierung und der nationalen Maßnahmen seitens des
Bundes sowie die Konsequenzen, die Sie daraus ziehen,
darlegen?
Ich kann Ihnen die Haltung der Bundesregierung darlegen. Wir haben uns in den Verhandlungen im November gegen eine Quotenerhöhung eingesetzt. Wir haben
dafür keine Mehrheit gefunden. Wir hatten zwar mit
Österreich einen wackeren Mitstreiter, sehr viel mehr
waren es aber nicht. Wir haben uns dann aufgrund der
Preisentwicklung erneut dafür eingesetzt, dass die beschlossene Quotenerhöhung von 1 Prozent nicht vollzogen wird. Auch dafür konnten wir keine Mehrheit erlangen. Ich sage deutlich: Das Vorhaben, mit einer
Quotenerhöhung ein sogenanntes Soft-Landing zu erreichen, hat momentan nicht ganz funktioniert. Da die
Milchpreise zurzeit im Keller sind, wie Sie alle in den
Zeitungen lesen können, glaube ich aber, dass wir seitens der Bundesregierung dieses Thema immer wieder
auf die Tagesordnung setzen werden.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Maximilian
Lehmer.
Vielen Dank, Frau Ministerin, für den Bericht über
das Handlungskonzept der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der ländlichen Räume, das ich sehr begrüße. Heute wurde aber auch der Stadtentwicklungsbericht
2008 der Bundesregierung im Kabinett verabschiedet.
Dieser konzentriert sich sehr stark auf Großstädte und
Metropolregionen mit ihren spezifischen Problemlagen
und Chancen. Meine Frage lautet - darin kommt auch
eine gewissen Sorge zum Ausdruck -: Spiegelt das insgesamt ein gewisse Ungleichgewicht in der Regionalpolitik zugunsten der Großregionen wider, und kommen
die ländlichen Räume dabei nicht etwas zu kurz?
Ich habe den Bericht des Kollegen Tiefensee sehr genau verfolgt. Es stimmt, dass der Schwerpunkt auf den
Metropolregionen liegt. Wir müssen in Zukunft sehr
stark darauf achten, dass die Vernetzung zwischen den
Metropolregionen und den ländlichen Räumen in ausreichendem Maße berücksichtigt wird. Die Stadt-LandBeziehung ist ganz entscheidend. Die eine Seite braucht
die andere. Es geht mir aber - darin sehe ich einen weiteren Schwerpunkt - nicht nur um die ganz großen Metropolregionen, sondern auch um die kleinen und mittleren
Zentren in den ländlichen Regionen, die ebenfalls Städte
sind. Diese dürfen wir nicht vernachlässigen. Hier besteht in Zukunft noch Ergänzungsbedarf. Ich möchte
aber dem Kollegen Tiefensee zugutehalten, dass man
nicht in einem Bericht alle Problempunkte aufgreifen
kann. Ich gehe davon aus, dass man sich damit noch befassen wird.
({0})
Frau Ministerin, mir liegen noch zwei Wortmeldungen vor.
Ich muss eigentlich weg.
Sie müssen weg. - Dann sollten wir auf die Ministerin
Rücksicht nehmen, zumal die Zeit schon überschritten
ist.
Danke.
Frau Ministerin, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
({0})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/12816, 16/12845 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 der
Richtlinien für die Fragestunde die dringliche Frage des
Kollegen Jürgen Trittin auf:
Warum wurde eine mit 200 deutschen Polizistinnen und
Polizisten vorbereitete Befreiungsaktion für die Geiseln des
Frachters „Hansa Stavanger“ kurzfristig abgebrochen, und
welche Auswirkungen hat der Abbruch der Operation für die
aktuelle weitere Planung ({1})?
Für die Beantwortung der Frage steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier zur Verfügung.
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Trittin,
die Entscheidung, den Einsatz der GSG 9 der Bundespolizei abzubrechen, erfolgte zum einen im Einvernehmen aller Beteiligten, zum anderen auf der Grundlage
der Gesamtbewertung der für den Einsatz erforderlichen
Bedingungen. Das ist die Antwort auf den ersten Teil
Ihrer Frage. Ich möchte gerne noch hinzufügen, dass die
Bundesregierung nach dem Abbruch dieser Operation
vor dem Hintergrund, dass die Entführung der MS Stavanger bis zur heutigen Stunde andauert, und vor dem
Hintergrund möglicher künftiger Entwicklungen am
4. Mai, also am Montag, die Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Fraktionen und etwas später die Obleute des Auswärtigen, des Innen- und des Verteidigungsausschusses über die Einzelheiten der Operation in
einer umfassenden und offenen Weise unterrichtet hat.
Wir haben darüber hinaus heute Morgen sowohl im Verteidigungsausschuss als auch im Auswärtigen Ausschuss
und im Innenausschuss des Deutschen Bundestags über
die Details der Operation gesprochen und berichtet. Das
ist vor allen Dingen vor dem Hintergrund geschehen,
dass öffentliche Auskünfte über die Art, den Umfang
und den Zeitpunkt solcher Maßnahmen geeignet sein
könnten, Rückschlüsse auf Handlungsoptionen der Bundesregierung und der Sicherheitsbehörden zu ermöglichen. Dadurch könnte der Erfolg künftiger Einsätze der
GSG 9 der Bundespolizei gefährdet werden. Das wollen
wir auf jeden Fall ausschließen.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege?
Herr Staatssekretär, ich habe Verständnis dafür, dass
die Bundesregierung den Versuch gemacht hat, die Geiseln zu befreien. Ich habe auch dafür Verständnis, dass
sie nach Abwägung der verschiedenen Umstände zu der
Entscheidung gekommen ist, die sie letztlich getroffen
hat. Ich frage allerdings, wieso die Bundesregierung - da
muss ich auf das verweisen, was öffentlich nachlesbar ist
und offensichtlich vor den Augen von Journalisten vorbereitet worden ist -, nachdem sie zehn Tage vor der geplanten Operation einsatzbereit war, diesen Zeitraum gebraucht hat, um letztendlich zu dieser Risikoabwägung
und Entscheidung zu kommen. Also, es geht nicht um
die Substanz, sondern um den Zeitablauf und die
Gründe, die Sie am Ende dazu bewogen haben, dieses
Risiko nicht einzugehen, woran ich, wie gesagt, nichts
auszusetzen habe.
Herr Kollege Trittin, ohne auf Einzelheiten eingehen
zu wollen, möchte ich sagen: Man muss zwischen der
Eröffnung einer Einsatzoption und der Durchführung
des Einsatzes unterscheiden. Das betrifft zunächst einmal die Verlegung der GSG 9 in die Region. Auf diesen
Zeitpunkt haben Sie hingewiesen. Dann stellt sich die
Frage eines konkreten Einsatzes, der im Übrigen in § 8
Abs. 2 des Bundespolizeigesetzes, in dem auch die Entscheidungsverantwortlichkeiten klar geregelt sind, festgelegt ist. Es ist ganz klar, dass der Zeitpunkt der Verlegung nicht immer mit dem Zeitpunkt der Entscheidung
über den Einsatz zusammenfällt. Dazu müssen bestimmte
Voraussetzungen erfüllt sein, wie Sie wahrscheinlich
selbst aus eigener Erfahrung wissen. Am Ende muss eine
Entscheidung getroffen werden. Diese Entscheidung hat
im vorliegenden Fall so ausgesehen, die Operation abzubrechen. Darüber und über die logistischen und die politischen Fragen, die damit zusammenhängen, haben wir
die Ausschüsse des Bundestages unterrichtet. Es wäre
nicht weiterführend, wenn wir dies in öffentlicher Sitzung bis in alle Details noch einmal rekonstruieren würden.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, können Sie die Information bestätigen, dass das Nichtbekanntwerden der Vorbereitung
dieser Operation nur darauf zurückzuführen ist, dass sich
die Chefredakteure der Medien, die das wussten, so verhalten haben, dass sie das, was sie wussten, erst nach der
Entscheidung über den Abbruch der Operation gedruckt
haben?
Herr Kollege Trittin, wenn dem so wäre, dann wäre es
Ausdruck eines sehr gereiften staatspolitischen Verantwortungsbewusstseins.
Herr Kollege Goldmann, haben Sie eine Nachfrage
dazu? - Bitte.
Herr Staatssekretär, ich bin für die FDP-Fraktion zum
Thema Häfen und Schifffahrt politisch aktiv. Für mich
ist der ganze Umgang mit dem Schutz von Schiffen und
der Rettung von Menschen in dem Bereich eigentlich ein
Aneinanderreihen von Unglücklichkeiten, um es einmal
vorsichtig zu sagen.
Ich bin sehr dafür, dass bestimmte Dinge nicht öffentlich werden, aber ich bin schon dafür, dass man zum
Beispiel einem Reeder aus Leer, von dem mittlerweile
fünf Schiffe gekapert werden sollten, doch Auskunft
darüber gibt, was die Bundesregierung macht, wenn ein
solcher Kaperfall eintritt. Wird sie wieder 200 Menschen
in Bewegung bringen und den Einsatz dann kurz vorher
absagen, oder wird sie sich jetzt auf den Weg machen,
Konzepte zu entwickeln, um dann auf die jeweilige Situation angemessen reagieren können? Es kann doch nicht
hingenommen werden, dass sich diejenigen, die Schiffe
entern und dann kapern wollen, im Grunde genommen
über das, was die Bundesrepublik Deutschland macht,
kaputtlachen. Die werden wohl nach Hause gegangen
sein und gesagt haben: Die Burschen haben wir aber gut
vorgeführt.
Es kann, Herr Kollege, vor allen Dingen auch nicht so
sein, dass wir den Piraten im Voraus sagen, was wir machen werden, sondern es liegt im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, alle Handlungsoptionen zu behalten
und unter Abwägung der konkreten Situation zu entscheiden, was getan werden kann und getan werden
muss. Ich bitte um Verständnis, dass wir auch einem
Reeder nicht im Voraus sagen können, mit welcher Option zu rechnen ist und was zu erwarten ist. Im Übrigen
hat sich die Bundesrepublik Deutschland auf derartige
Situationen vorbereitet. Solche Einsätze werden auch
geübt. Das war ja auch der Grund für eine Verlegung der
GSG 9 im konkreten Fall.
Damit ist die dringliche Frage beantwortet. Herr
Staatssekretär, vorerst herzlichen Dank.
Ich rufe nun die weiteren Fragen in der üblichen Reihenfolge auf, zunächst die Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Für die Beantwortung der Frage steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hartmut Schauerte zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk auf:
Mit welcher Lohnentwicklung rechnet die Bundesregierung in diesem Jahr, und zwar mit und ohne nochmalige Verlängerung des Kurzarbeitergeldes?
Herr Kollege, bitte.
Frau Präsidentin! Frau Schewe-Gerigk, die Bundesregierung erwartet für dieses Jahr einen Zuwachs der Bruttolöhne je Kopf der Beschäftigten von 1 Prozent. Eine
Verlängerung des Kurzarbeitergeldes von 18 Monaten
auf 24 Monate dürfte in diesem Jahr keine nennenswerten Auswirkungen auf die Lohnentwicklung haben, da
im Jahr 2009 wegen der Verlängerung keine höhere Inanspruchnahme zu erwarten ist. Eine 18-monatige Kurzarbeit, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 begonnen hat, läuft unabhängig von der Verlängerung ja durch
das ganze Jahr 2009. Die Verlängerung greift erst im
Jahr 2010.
Eine Nachfrage?
Das ist eine sehr interessante Auskunft. Wenn wir von
einer positiven Lohnentwicklung im Jahre 2009 ausgehen und wenn wir wissen, dass das Kurzarbeitergeld darauf keinen Einfluss genommen hat, würde ich Sie gerne
fragen, warum die Bundesregierung trotz positiver Bilanz heute im Kabinett ein Gesetz beschlossen hat, wonach Rentenkürzungen ausgeschlossen sind.
Die Bundesregierung sah sich zum Handeln verpflichtet, weil aufgrund von unterschiedlichen Einschätzungen der Lohnentwicklung in 2009 in erheblichem
Umfang Beunruhigung in die Rentnerschaft getragen
wurde. Sie haben nach der Veränderung gefragt, die sich
durch die Verlängerung ergibt. Ich habe darauf zunächst
einmal geantwortet, dass durch die Verlängerung keine
Veränderung in 2009 eintritt. Ich glaube, das ist jetzt
klar.
Über die Lohnentwicklung in 2009 gibt es unterschiedliche Auffassungen: Es gibt Sachverständige, die
mit einem Minus von 2 Prozent rechnen; die Bundesregierung geht in ihren Schätzungen hingegen von einem
Zuwachs von 1 Prozent aus.
({0})
Die Verunsicherung, die dadurch entsteht, dass auf die
Einschätzung der Sachverständigen und nicht auf die der
Bundesregierung abgestellt wird, hat zum Handeln geführt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Dem Ministerium werden regelmäßig am 1. März
vom Statistischen Bundesamt genaue Angaben zur Lohnentwicklung mitgeteilt; die Renten werden jeweils zum
1. Juli angepasst. Warum haben Sie nicht bis zum
1. März 2010 gewartet? Man hätte bis dahin genügend
Zeit, um nachzusteuern. Wahrscheinlich wird das nicht
notwendig sein. Sogar Herr Minister Scholz geht davon
aus, dass das Gesetz, das er jetzt auf den Weg bringt,
überhaupt nicht gebraucht wird. Er behauptet, es verursache keine zusätzlichen Kosten. Sind Sie mit mir der
Meinung, dass das nichts als ein Rentnerberuhigungsgesetz in Wahlkampfzeiten ist?
Nein. Ich halte es schon für sinnvoll, auf eine solche
Diskrepanz, wie es sie zwischen der Erwartung der Sachverständigen - minus 2,3 Prozent - und der der Bundesregierung - plus 1 Prozent - gibt, mit einer entsprechenden Erklärung zu reagieren, um zur Beruhigung der
Rentnerinnen und Rentner beizutragen. Das ist nicht negativ zu bewerten; vielmehr ist es gerade für alte Menschen ausgesprochen positiv. Auch Sie wissen, wie leicht
dort Aufregungen - auch ganz persönliche - entstehen
können, die zu einer schweren Belastung des Lebensgefühls werden.
({0})
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die Frage 2 der Kollegin Ina Lenke wird schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 3 der Kollegin Cornelia
Hirsch aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Für die Beantwortung der
Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Karl
Diller zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Britta Haßelmann
auf:
In welcher Höhe sind zu welchem Zeitpunkt Mittel aus
dem Investitions- und Tilgungsfonds für die im zweiten Konjunkturprogramm beschlossenen Zukunftsinvestitionen für die
Kommunen in dem Schwerpunkt Bildungsinfrastruktur und in
dem Investitionsschwerpunkt Infrastruktur abgeflossen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin, ich
kann Sie darüber informieren, dass die Länder bis gestern aus den im Rahmen des Zukunftsinvestitionsgesetzes bereitgestellten Finanzhilfen für zusätzliche Investitionen der Länder und der Kommunen noch keine Mittel
abgerufen haben.
Frau Kollegin, Ihre erste Nachfrage.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihre kurze und
prägnante Antwort. - Was gedenkt die Bundesregierung
zu tun, um die Länder dazu zu bewegen, diese Mittel abzurufen? Ich gehe davon aus, dass regelmäßig Gespräche und Arbeitstreffen zwischen Vertretern von Bund
und Ländern stattfinden, bei denen die Frage des Abflusses der Mittel des Konjunkturpaketes behandelt wird.
Frau Kollegin, ich glaube, auch Ihre zweite Frage
hängt damit zusammen, dass hier ein Missverständnis
Ihrerseits vorliegt. Den Gemeinden und den Ländern
werden nicht vorab pauschal irgendwelche Beträge überwiesen; vielmehr haben die Kommunen in dem Moment,
wo Rechnungen tatsächlich oder voraussichtlich einge23854
hen, das Recht, gegenüber ihrem Land ihren Bedarf anzumelden, und das Land bucht dann beim Bund ab. Das
Ganze hängt mit den Zuwendungsregeln der Länder zusammen. Diese Regeln sind unterschiedlich gefasst; sie
haben unterschiedliche Wirkungen gegenüber ihren eigenen Gemeinden.
Entscheidend ist: Der Bund hat zugestanden, dass die
Gemeinden bis zu zwei Monate vor Fälligkeit die Mittel
beim Bund abrufen können, sodass keine Gemeinde in
die Situation kommt, eine Rechnung nicht begleichen zu
können, weil das Geld des Bundes nicht zur Verfügung
steht. Dieser Fall wird nicht eintreten.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
ein Ziel des Konjunkturprogramms war, kurzfristig konjunkturelle Impulse auszulösen. Wenn in vielen Kommunen Entscheidungen über Investitionen getroffen worden
sind, also darüber, welche Projekte realisiert werden sollen, aber noch keine Mittel abgeflossen sind, dann besteht doch eine große Diskrepanz zwischen dem von Ihnen dargestellten Ziel sofortiger konjunktureller Impulse,
die dringend notwendig sind, und dem, was faktisch gegeben ist. Wie sehen Sie das?
Entscheidend ist, dass seit dem 2. April die Unterschriften der Chefs aller Staatskanzleien der Länder unter der Verwaltungsvereinbarung vorliegen. Seitdem
kann bei uns problemlos abgebucht werden. - Erste Bemerkung.
Zweite Bemerkung. Von den Ländern wird ein unterschiedliches Verfahren gegenüber den Kommunen angewandt. Die einen geben den Kommunen einen virtuellen
Verfügungsrahmen in Höhe der Hälfte des Betrages vor,
während für die andere Hälfte Anträge vorzulegen sind;
die anderen arbeiten nur mit dem Antragsverfahren. Ich
war kürzlich im Saarland und kann berichten, dass seitens der dortigen Landesregierung die Anträge der Kommunen um den 24. April herum endgültig beschieden
worden sind.
Entscheidend für den konjunkturellen Impuls ist nicht
das Bezahlen der Rechnung, sondern die Auftragsvergabe. Dazu ist Folgendes zu beachten: Zunächst müssen
Ausschreibungsunterlagen erstellt werden. Dann muss
das Ausschreibungsverfahren laufen. Wir haben darauf
gedrungen, dass bei Bauleistungen bestimmte Erleichterungen zum Tragen kommen, was auch mit der Europäischen Union abgestimmt ist. So gelten verkürzte Vergabefristen. Bis zu einem Schwellenwert bis 100 000 Euro
kommt die freihändige Vergabe und bis zu einem
Schwellenwert von 1 Million Euro eine beschränkte
Ausschreibung zum Zuge. All das soll helfen, dass kurzfristig Aufträge erteilt werden können.
Hinzu kommt Folgendes: Wie mir auch viele Kommunalpolitiker sagen, sollte die Sanierung einer Schule
am besten in den Sommerferien stattfinden, weil das Gebäude dann komplett für Bauarbeiten zur Verfügung
steht. Ich gehe davon aus, dass schon in diesen Tagen
Vergaben erfolgen und erste Bauarbeiten anlaufen. In
dem Moment, wo die Gemeinde eine Rechnung in Aussicht hat, kann sie im Vorgriff darauf über das Land das
Geld bei uns abbuchen, damit keine Verzögerung bei der
Auszahlung an die Betriebe entsteht.
Zum gleichen Themenkomplex gibt es noch die Frage 5
der Kollegin Haßelmann:
Aus welchen Gründen erfolgt der Mittelabfluss rund zehn
Wochen nach dem abschließenden Bundesratsbeschluss so
zögerlich?
Für den Mittelabfluss ist nicht der Bundesratsbeschluss maßgebend, sondern die Unterzeichnung der
Verwaltungsvereinbarung. Sie ist am 2. April endgültig
erfolgt, sodass der Abruf der Mittel seit dem 3. April
möglich ist.
Eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
da Sie bei der Beantwortung der Frage 4 gesagt haben,
dass auch Sie mit den Kommunen und Ländern intensiv
im Gespräch sind, möchte ich Sie fragen: Liegen Ihnen
Erkenntnisse darüber vor, dass einige Kommunen keine
Anträge oder nur Teilanträge zur energetischen Sanierung stellen, da sie sich von der Debatte über die
Föderalismusreform II erhoffen, dass es zu einer Korrektur der Beschlüsse im Rahmen der Föderalismusreform I
- Art. 104 b Grundgesetz - kommt?
Bei allen Veranstaltungen mit Kommunalpolitikern,
verehrte Frau Kollegin, habe ich darauf hingewiesen,
dass in dem Gesetz zum Konjunkturpaket II bei Investitionen in die Schulinfrastruktur wegen der Verfassungsproblematik der Zusatz „({0})“ steht; denn wir sind für die EnEV, für die
Energieeinsparverordnung, zuständig. Diese Verordnung
gilt auch für Nichtwohngebäude. Eine Schule ist ein solches Nichtwohngebäude. Also können wir darüber Einfluss generieren. Aber das Wörtchen „insbesondere“ bedeutet auch, dass nicht nur die energetische Sanierung
- also zu 100 Prozent - gefördert werden kann: Wenn
beispielsweise die energetische Sanierung 80 Prozent
des gesamten Sanierungsvorhabens in einer Schule umfasst und 20 Prozent für die Sanierung der Toilettenanlagen, der Duschräume in der Turnhalle usw. vorgesehen
sind, dann kann das selbstverständlich auch realisiert
werden, ohne dass abgewartet werden muss, ob im RahParl. Staatssekretär Karl Diller
men der Föderalismusreform II noch eine Änderung des
Grundgesetzes erfolgt. Dies würde den Kommunen einen viel größeren Handlungsspielraum bei der Verwendung der Mittel geben.
Frau Kollegin, haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Frau Präsidentin, ich würde gerne noch die letzte Zusatzfrage stellen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung dieser Frage. Das fand ich sehr interessant; denn
diese Ausführungen waren mir bislang völlig unbekannt.
Von einem solchen Interpretationsrahmen, insbesondere
in Bezug auf nicht energetische Sanierung, habe ich bislang in keinem der Fachausschüsse - auch nicht auf
Nachfrage - Kenntnis erhalten. Ich glaube, wenn die
Kommunen diese Kenntnis hätten, würden die Diskussionen dort ganz anders laufen. Also vielen Dank.
Meine letzte Frage: Können Sie beziffern, in welcher
Höhe Sie Mittel für Ihre sogenannte BaustellenschildKampagne veranschlagt haben? - Ich konnte der Presse
entnehmen, dass überall dort, wo mit Mitteln aus dem
Konjunkturpaket II Bauleistungen erbracht werden, dieses im Rahmen einer großen Schilderkampagne zum
Ausdruck gebracht werden soll. Können Sie beziffern,
welchen finanziellen Aufwand das für Sie bedeutet und
aus welchem Etat Sie das finanzieren?
({0})
Verehrte Frau Kollegin, die Verpflichtung, einen solchen Hinweis auf dem sowieso zu errichtenden Bauschild - dafür entstehen ja sowieso Kosten - anzubringen, ist auf ausdrücklichen Wunsch aller Mitglieder des
Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages aufgenommen worden. Denn sie haben sich in der Vergangenheit beispielsweise beim Ganztagsschulprogramm
darüber geärgert, dass der Bund den Ländern zwar
4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hat, aber auf
den Bauschildern nirgendwo ein Hinweis stand, dass die
entsprechende Schule, Turnhalle, Mensa usw. aus dem
Ganztagsschulprogramm, also aus Bundesmitteln, gefördert wird. Ein solcher Hinweis fehlte komplett. Deswegen hat der Haushaltsausschuss in diesem Fall größten
Wert darauf gelegt, dass ein solcher Hinweis aufgenommen wird. Wir vollziehen das jetzt, indem wir darauf bestehen, dass darauf hingewiesen wird, dass die Baumaßnahme aus Mitteln des Bundes gefördert wird.
({0})
Damit vollziehen wir den Willen des Haushaltsausschusses. Die Kosten, die damit verbunden sind, halte ich für
vernachlässigbar.
({1})
Herr Staatssekretär, herzlichen Dank für die Beantwortung dieser Frage.
Die Frage 6 der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch aus
Ihrem Geschäftsbereich wird schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums der Finanzen.
Wir kommen zu dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Hier werden die
Fragen 7 und 8 des Kollegen Dr. Ilja Seifert schriftlich
beantwortet.
Für die Beantwortung der weiteren Fragen steht der
Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 9 der Kollegin Sabine
Zimmermann:
Kann die Bundesregierung sicherstellen, dass sie die Mitglieder des nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz,
MiArbG, zu bildenden Hauptausschusses innerhalb der nächsten sechs Wochen berufen wird, und wird es nach Ansicht der
Bundesregierung möglich sein, bis zum Ablauf der Legislaturperiode Mindestentgelte nach dem MiArbG für die Callcenter zu vereinbaren?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
Frau Präsidentin! Werte Frau Kollegin Zimmermann!
Die Antwort auf Ihre Frage lautet wie folgt: Eine Prognose über die Dauer des Verfahrens zur Berufung der
Mitglieder des Hauptausschusses kann die Bundesregierung nicht treffen. Es bestehen keine Erfahrungswerte
hinsichtlich der Dauer des Berufungsverfahrens, da
durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
erstmalig ein Hauptausschuss errichtet wird. Die Bundesregierung kann nicht abschätzen, ob bis zum Ablauf
der Legislaturperiode Mindestarbeitsentgelte nach dem
Mindestarbeitsbedingungengesetz für Callcenter festgesetzt werden. Es ist Aufgabe des Hauptausschusses, festzustellen, ob in einem Wirtschaftszweig Mindestarbeitsentgelte festgesetzt werden sollen.
Ihre Nachfrage, Frau Kollegin, bitte.
Danke schön, Herr Staatssekretär. Ich habe eine
Nachfrage: Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass laut einer Marktstudie die Unternehmen der
Callcenterbranche zwischen 1996 und 2006 ihre Gewinne jährlich um etwa 12 Prozent gesteigert haben, den
Beschäftigten aber oftmals Armutslöhne zahlen? Warum
unterstützt die Bundesregierung mit ihrer Weigerung, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, solche Entwicklungen?
Ich kann die Zahlen, die Sie genannt haben, nicht
überprüfen. Ich kann nur darauf verweisen, dass die
Große Koalition im Entsendegesetz Regelungen für bestimmte Branchen getroffen hat, die bei der Bundesregierung beantragt haben, Mindestlöhne einzuführen.
Zudem haben wir das in Ihrer Frage angesprochene Mindestarbeitsbedingungengesetz verabschiedet, um für die
Branchen, bei denen man soziale Verwerfungen feststellt, Mindestarbeitsentgelte zu regeln. Damit wird
deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir solchen Verwerfungen entgegenwirken und dafür sorgen, dass die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer
Arbeitsbedingungen und der Löhne vernünftig und fair
behandelt werden.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Frau Kollegin?
Die Studie kann ich Ihnen gerne zur Verfügung stellen, wenn Sie Wert darauf legen.
Ich habe noch eine zweite Frage. Ist der Bundesregierung bekannt, dass in der Callcenterbranche die Stundenlöhne zwischen 5 und 7 Euro liegen, dass es keinen
Tarifvertrag gibt, dass der Anteil von Teilzeitarbeitsplätzen doppelt so hoch und der Anteil von Aufstockern
dreimal so hoch ist wie in der Volkswirtschaft insgesamt? Diese Zahlen belegen doch, dass es soziale Verwerfungen gibt und dass dringender Handlungsbedarf
besteht. Was gedenkt die Bundesregierung hier so
schnell wie möglich zu tun?
Nach den Erkenntnissen der Bundesregierung gibt es
bei den branchenunabhängigen Callcentern keinen Branchentarifvertrag. Über weitergehende objektive Daten
bzw. Statistiken zur Tarifbindung in diesem Bereich verfügt die Bundesregierung nicht. Wenn ich mich recht
erinnere, gab es bereits eine Anfrage Ihrer Fraktion, in
deren Beantwortung auch Fragen zur Struktur von Arbeitsverhältnissen - Teilzeitarbeitsverhältnisse, Bedingungen, unter denen aufgestockt werden muss - beantwortet worden sind. Hier gilt das, was ich gerade gesagt
habe, nämlich dass ein Hauptausschuss festzustellen hat,
ob es soziale Verwerfungen gibt. Dieses Verfahren ist
mit dem Mindestarbeitsbedingungengesetz eröffnet.
Aber zu dem Zeitrahmen, in dem die Prüfungen stattfinden, in dem sich möglicherweise ein Fachausschuss mit
Kennern der Branche, wie er im Gesetz vorgesehen ist,
zusammensetzt oder wann dieser zu einem Abschluss
kommt, kann ich Ihnen nichts sagen.
Jetzt kommen wir zur Frage 10 der Kollegin Sabine
Zimmermann:
Wie viele Monate darf es nach Ansicht der Bundesregierung maximal dauern, bis der Hauptausschuss eine Branche
mit Tarifbindung von weniger als 50 Prozent geprüft hat, der
Fachausschuss konstituiert ist und die Bundesregierung die
vom Fachausschuss beschlossenen Mindestarbeitsentgelte als
Rechtsverordnung erlassen hat?
Herr Staatssekretär.
Die Antwort, Frau Präsidentin, werte Kollegin
Zimmermann, lautet: Für den Beschluss des Hauptausschusses, die Konstituierung des Fachausschusses sowie
den Erlass der Rechtsverordnung durch die Bundesregierung legt das Mindestarbeitsbedingungengesetz keine
Fristen fest.
Ihre Nachfragen, bitte.
Danke schön. - Ich habe eine Nachfrage zu dem
Thema Subventionen. Wird die Bundesregierung weiterhin eine Politik der Dreifachsubventionierung für Callcenterunternehmen betreiben, nämlich erstens über die
Wirtschaftsförderung - da sind in den letzten vier Jahren
100 Millionen Euro geflossen -, zweitens über die Lohnkostenzuschüsse und drittens über die Aufstockerbeiträge?
Die jeweiligen Förderungen sind meines Wissens abhängig von den regionalen Förderkriterien, die für alle
Unternehmen bzw. ganz gezielt für bestimmte Branchen
gelten. Ich kann Ihnen jetzt nicht genau sagen, ob es
konkrete Förderbedingungen für den Bereich der Callcenter gibt. Das Instrumentarium des Sozialgesetzbuches II steht allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zur Verfügung, denen - was wir bedauern und
nicht in Ordnung finden - Löhne gezahlt werden, die einer Aufstockung bedürfen. Vor diesem Hintergrund hat
es die Debatte um das Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz gegeben. Die Gesetze dienen
dem Zweck, dass auf Dauer darauf hingewirkt werden
kann, dass die Menschen zu fairen Arbeitsbedingungen
arbeiten, und leisten einen Beitrag dazu, dass Transferzahlungen überflüssig werden.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ja, ich habe noch eine Frage.
Was wird die Bundesregierung dagegen tun, dass die
Callcenterbranche in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktstatistik nicht vollständig erfasst ist, nämlich nur zu
einem Viertel? Ich nenne Ihnen dafür ein Beispiel: In der
Antwort auf eine Kleine Anfrage haben Sie 440 000 Beschäftigte genannt. Die Statistik der Arbeitsagentur gibt
nur 88 000 an. Werden Sie das korrigieren?
Mir sind im Moment die einzelnen Zuordnungskriterien für die Bereiche - sie sind nach Nummern geordnet nicht geläufig. Aber ich bin gerne bereit, darüber zu
sprechen, welche Einschätzung Sie dazu haben und welche Einschätzung diejenigen haben, die die Kriterien
festsetzen, und zu einer Klärung Ihrer Fragestellung zu
kommen.
Die Frage 11 der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk
wird schriftlich beantwortet.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Für die Beantwortung
der Fragen steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin
Marion Caspers-Merk zur Verfügung.
Die Fragen 12 und 13 der Kollegin Elisabeth
Scharfenberg und die Frage 14 der Kollegin Bettina
Herlitzius werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zur Frage 15 des Kollegen
Markus Kurth:
Wie bewertet die Bundesregierung die Entschließung des
Europäischen Parlaments vom 23. April 2009 zu dem Vorschlag für eine Empfehlung des Rates für eine europäische
Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten, und wie bewertet die Bundesregierung insbesondere die Abänderung 15,
wonach die Mitgliedsländer Bemühungen unterstützen sollten, seltene Erbkrankheiten unter anderem durch die Auswahl
gesunder Embryos vor der Implantation zu verhindern?
Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Kurth, ich darf Ihre Frage folgendermaßen beantworten: Mit seiner Entschließung vom
23. April 2009 nimmt das Europäische Parlament zu
dem von der Kommission vorgelegten Vorschlag für
eine Ratsempfehlung zu seltenen Krankheiten Stellung.
In dieser Stellungnahme finden sich neben unproblematischen Anregungen - darunter sind auch sehr viele wertvolle - auch die von Ihnen als Fragesteller zitierten Formulierungen in der Abänderung 15.
Ich teile ausdrücklich Ihre Besorgnis. Auch das Gesundheitsministerium hält diese Festlegungen für problematisch. Die Präimplantationsdiagnostik und die Embryonenselektion sind in Deutschland nach dem
Embryonenschutzgesetz verboten. Wir haben auch nicht
vor, eine andere Initiative zu ergreifen. Das Europäische
Parlament stellt seine Empfehlung in Abänderung 15
zwar unter den ausdrücklichen Vorbehalt der nationalen
Gesetzgebung. Dennoch hält es die Bundesregierung für
schädlich, dass Formulierungen gewählt werden, die den
Eindruck erwecken könnten, Embryonenselektion und
Eugenik seien akzeptable Konzepte. Wir glauben, dass
dies der falsche Weg ist und es in die falsche Richtung
zielt. Deshalb lehnt die Bundesregierung die
Abänderung 15 in ihrer jetzigen Fassung ab.
Herr Kollege Kurth, Ihre Nachfrage bitte.
Es freut mich, Frau Staatssekretärin, diese klare Antwort zu hören. Um es deutlich zu machen: Auch die
Bundesregierung sieht also in dieser Empfehlung die
Gefahr einer Abkehr vom Prinzip der Nichtdirektivität
der humangenetischen Beratung, also der Nichtzielgerichtetheit einer Beratung dahin gehend, dass Embryonen, bei denen eine Erbkrankheit vorliegt, abgetrieben werden?
Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich die Ansätze
der Resolution für begrüßenswert halte. Es geht ja darum, dass man die Situation der Menschen mit seltenen
Krankheiten verbessert. Dazu ist zunächst einmal im Rat
eine Empfehlung erarbeitet worden. Diese Empfehlung
ist unproblematisch.
Das Europäische Parlament hat die Diskussion durch
einen Zusatz verschärft und in eine völlig andere Richtung gedrängt. Ich glaube, dass es Menschen mit seltenen Krankheiten überhaupt nichts bringt, wenn man
sagt: In Zukunft soll durch eine Embryonenselektion dafür gesorgt werden, dass es weniger seltene Krankheiten
oder Erbkrankheiten gibt. Das ist eine Wertediskussion,
die wir in der Bundesrepublik Deutschland anders beurteilen, gerade vor dem Hintergrund unserer sehr belasteten Geschichte. Wir haben nicht vor, uns an einer solchen Vorgehensweise zu beteiligen. Wir halten diese
Empfehlung des Europäischen Parlaments für durchaus
problematisch, und deswegen stimmen wir ihr nicht zu.
Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte.
Der von Herrn Trakatellis eingebrachte Änderungsantrag 3 legt der Formulierung nach eine Meldepflicht
für seltene Krankheiten nahe. Dort heißt es:
Auf der Grundlage dieser statistischen Häufigkeit
sollten seltene Krankheiten von einem wissenschaftlichen Ausschuss sorgfältig erfasst und überprüft werden ...
Wie steht die Bundesregierung zu dieser möglichen Meldepflicht? Sieht die Bundesregierung an dieser Stelle einen Ansatzpunkt für die Einführung einer Meldepflicht
für seltene Krankheiten?
Wir versprechen uns im Moment nichts von der Einführung einer Meldepflicht. Ich glaube, dass wir im Hinblick auf seltene Krankheiten erst einmal in nationalstaatlicher Verantwortung Lücken in der Versorgung
feststellen müssen. Des Weiteren müssen wir in den Be23858
reichen Forschung und Behandlung Impulse geben, um
Menschen mit seltenen Krankheiten besser zu helfen.
Das Problem ist, dass die Forschung - beispielsweise
in der pharmazeutischen Industrie - auf die Krankheiten
gerichtet ist, von denen sehr viele Menschen betroffen
sind. Natürlich wird dabei die Frage der Markteinführung und der Marktchancen abgewogen. Deswegen bedarf es staatlicher Impulse, damit Menschen mit seltenen
Krankheiten nicht vergessen und die therapeutischen
Möglichkeiten erweitert werden. Dort sehen wir die
Aufgabe der Bundesregierung. Die Tendenz, die sich in
Abänderung 15 widerspiegelt, wird die Bundesregierung
nicht weiter verfolgen.
Zum gleichen Themenkomplex liegt noch die Frage 16
des Kollegen Markus Kurth vor:
Wann soll die Entschließung des Europäischen Parlaments
im Ministerrat voraussichtlich behandelt werden, und wie
wird sich die Bundesregierung zu dieser Entschließung verhalten?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Die Empfehlung selbst soll voraussichtlich am
9. Juni 2009 im Ministerrat angenommen werden. Stellungnahmen des Europäischen Parlaments werden dann
üblicherweise nicht mehr diskutiert. Vielmehr wird zu
Beginn der Verhandlungen über den Empfehlungsentwurf auf der Ratsarbeitsebene dem EP Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben. Die Stellungnahme des Europäischen Parlaments, wie sie in der Entschließung vorliegt,
muss aber nicht zwingend im Text der Ratsempfehlung
berücksichtigt werden. Der Rat kann frei entscheiden,
wie er mit Änderungsvorschlägen des Europäischen Parlaments umgeht; er kann sie wörtlich, sinngemäß, teilweise oder gar nicht berücksichtigen.
Die Verhandlungen auf Ebene der Ratsarbeitsgruppe
sind inzwischen weitestgehend abgeschlossen. Bisher
hat sich keine Delegation für die Übernahme der
Abänderung 15 aus der Stellungnahme des Europäischen
Parlaments ausgesprochen. Dies ist auch nicht zu erwarten, da Mitgliedstaaten, die eine andere Ansicht als beispielsweise Deutschland zum Embryonenschutz haben,
wissen, dass die Annahme der Gesamtempfehlung gefährdet wäre, wenn Formulierungen in sie aufgenommen
würden, die Präimplantationsdiagnostik und Embryonenselektion als akzeptable Konzepte darstellen.
Herr Kollege, haben Sie Nachfragen? - Das ist nicht
der Fall.
Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Für die Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter auf:
Inwieweit plant die Bundesregierung eine Novellierung
des Personenbeförderungsgesetzes, PBefG, zur Anpassung
des PBefG an die am 3. Dezember 2009 in Kraft tretende EUVerordnung 1370/2007, oder glaubt die Bundesregierung,
ohne eine solche Novellierung auskommen zu können?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Dr. Hofreiter,
Sie fragen, ob angesichts der Tatsache, dass wir zum
3. Dezember 2009 eine Verordnung der Europäischen
Gemeinschaft umzusetzen haben, eine Anpassung des
nationalen Personenbeförderungsgesetzes notwendig ist.
Es ist nicht notwendig, weil die Verordnung unmittelbar
geltendes Recht sein wird.
Herr Kollege, Ihre Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe die Bitte,
dass der sehr geehrte Herr Staatssekretär die zweite
Frage auch gleich beantwortet, da sie direkt mit der ersten zusammenhängt. Anschließend frage ich nach.
Dann rufe ich die Frage 18 des Kollegen Dr. Hofreiter
auf:
Inwieweit hält die Bundesregierung eine Interimslösung
für die Zeit von dem Inkrafttreten der EU-Verordnung 1370/
2007 und dem Inkrafttreten eines novellierten PBefG für erforderlich, und wie ist der entsprechende Sachstand?
Bitte sehr.
Ihre Frage bezieht sich darauf, ob wir bis zum
3. Dezember 2009 eine Interimslösung brauchen. Diese
ist nicht erforderlich, weil das nationale Gesetz bis dahin
uneingeschränkt gilt.
Herr Kollege, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
ich habe die Frage, ob Sie eine Änderung des PBefG für
nötig halten, deshalb gestellt, weil die Verordnung 1370/
2007 gegen Ende dieses Jahres geltendes Recht wird.
Die Verordnung 1370/2007 steht nach fast einhelliger
Meinung aller Rechtsexperten in Widerspruch zu unserem geltenden PBefG. Es löst eine große Rechtsunsicherheit aus, wenn es nicht angepasst wird.
Deshalb habe ich eine Nachfrage. Sie sagen, es sei
nicht nötig, etwas zu unternehmen. Sie sind also nicht
der Meinung, dass PBefG und die EU-Verordnung 1370/
2007 sich widersprechende Rechte sind?
Wir teilen Ihre Auffassung nicht. Wir glauben, dass
die europäische Verordnung als unmittelbar geltendes
Recht für die notwendige Klarheit sorgen wird. Ich
weise darauf hin, dass wir in der Vergangenheit in
Deutschland mit den Anbietern öffentlicher Dienstleistungen im Nahverkehr Diskussionen geführt haben, und
der Bundesminister sich auf europäischer Ebene für eine
Lösung eingesetzt hat, die den deutschen Unternehmen
geholfen hätte.
Der Kompromiss, den wir in Europa erzielt haben, ist
von den beiden Verbänden, die wir in Deutschland haben, im Nachgang nicht mitgetragen worden. Daher
stellte sich die Frage: Kann man in Vorbereitung auf die
Verordnung ein nationales Gesetz erlassen, und würde
man dafür eine Mehrheit im Parlament finden? Diese
Mehrheit kam nicht zustande. Deshalb verfolgt die Bundesregierung eine Novellierung des Gesetzes nicht mehr.
Die Verordnung wird daher unmittelbar geltendes Recht
sein.
Die Verkehrsministerkonferenz hat diese Information
des Bundesverkehrsministeriums mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Man hatte sich erhofft, dass der Bund
den Ländern ein wenig unter die Arme greift, um zu
mehr Klarheit zu kommen. Sie wissen, dass der Bund in
der Verkehrsministerkonferenz nur Gast ist. Die Verkehrsministerkonferenz der Länder hat jetzt entschieden,
eine Arbeitsgruppe einzusetzen, um den Ländern bei der
Interpretation des Textes zu helfen, damit die Bundesländer, die für die Umsetzung verantwortlich sind, möglichst
abgestimmt vorgehen. Die Verkehrsministerkonferenz
hat das Bundesministerium gebeten, in dieser Arbeitsgruppe mitzuwirken. Das haben wir zugesagt.
Ihre weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich bin jetzt schon etwas verblüfft. Habe ich Sie richtig verstanden: Weil Lobbyverbände sich untereinander nicht einigen können, ist die
Große Koalition nicht in der Lage, eine Gesetzesänderung vorzunehmen? Wollten Sie das ausdrücken?
Nein, ich habe klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der Kompromissvorschlag, der erzielt worden ist, keine ausreichende parlamentarische
Mehrheit gefunden hat.
Haben Sie weitere Zusatzfragen?
Zur Interpretation des ganzen Vorgangs: Mit der EUVerordnung wird die Unterscheidung zwischen eigenwirtschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Verkehren
abgeschafft, was momentan de facto die Grundlage unseres ÖPNV-Marktes ist. Dieser Markt ist immerhin
14 Milliarden Euro schwer. Täglich werden viele Millionen Menschen mit Bussen und Straßenbahnen bewegt.
Das ist also kein abseitiges Thema. Im PBefG wird die
Unterscheidung zwischen eigenwirtschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Verkehren aufrechterhalten. Mich
würde interessieren, was nach Meinung des Bundesverkehrsministeriums gilt: Gilt die Verordnung, die die Unterscheidung zwischen gemeinwirtschaftlich und eigenwirtschaftlich abschafft, oder das PBefG, also das
Personenbeförderungsgesetz, das diese Unterscheidung
aufrechterhält?
Wir haben ein geltendes Bundesgesetz. Das gilt. Das
wird zum 3. Dezember dieses Jahres durch eine europäische Verordnung geändert.
Eine weitere Zusatzfrage.
Das war überhaupt keine Antwort auf meine Frage.
Meine Frage war: Was gilt am 3. Dezember, das Bundesgesetz, das bis dahin nicht geändert wird, oder die direkt
geltende EU-Verordnung? Haben wir ab dem 3. Dezember noch eine Unterscheidung zwischen gemeinwirtschaftlichen und eigenwirtschaftlichen Verkehren, oder
haben wir sie dann nicht mehr?
Herr Dr. Hofreiter, ich wiederhole es jetzt zum dritten
Mal: Ab dem 3. Dezember gilt das europäische Recht
unmittelbar.
Wir kommen zur Frage 19 der Kollegin Veronika
Bellmann. Sie wird schriftlich beantwortet. Ebenso wird
die Frage 20 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch schriftlich
beantwortet.
Ich rufe die Frage 21 des Kollegen Hellmut
Königshaus auf:
Welche Havarien sind nach Kenntnis der Bundesregierung
und/oder des Eisenbahn-Bundesamtes die Ursache dafür, dass
auf der Anhalter Bahn im Abschnitt zwischen dem Bahnhof
Südkreuz und dem Berliner Außenring ein „Havarieverkehr“
auch mit - nach dem Planfeststellungsantrag ausdrücklich
nicht vorgesehenen - Güterzügen abgewickelt wird - bitte mit
genauen Angaben über Bahnstrecke, Streckenabschnitt, Ursache und voraussichtliche Dauer -, und trifft es zu, dass deswegen zumindest an Wochenenden am dafür nicht zugelassenen
Bahnhof Südkreuz ohne Genehmigung des Eisenbahn-Bundesamtes gefüllte Kesselwagen rangiert werden?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Königshaus, die Anhalter Bahn in Berlin ist ein
großes Thema. Wir haben darüber schon mehrfach ge23860
sprochen. Sie fragen nach den Ursachen für notwendige
Umleitungen. Die Fachleute in meinem Haus haben
mich darüber informiert, dass die Ursache für den Güterverkehr auf der Anhalter Bahn zwischen Berlin-Südkreuz und Berlin-Lichterfelde seit Januar dieses Jahres
notwendige Umleitungen von Güterzügen im Gelegenheitsverkehr sind. Dabei handelt es sich vor allem um
Mineralölzüge und Müllzüge. Mir liegt eine genaue Statistik vor, die zeigt, wie viele Züge das sind.
Der Grund für diese Umleitung war zunächst ein Havarieschaden auf den Strecken 6142 und 6145 im Bereich Grünauer Kreuz zwischen den Bahnhöfen BerlinSchöneweide und Berlin-Grünau. Hier wurde bei Bauarbeiten ein Regenwasserkanal der Berliner Wasserbetriebe beschädigt. Gleissperrungen und Lasteinschränkungen bis zum 16. Februar dieses Jahres wurden
dadurch notwendig. Hinzu kam, dass in der Zeit zwischen dem 9. Februar 2009 und dem 30. April dieses
Jahres am Berliner Innenring, auf der Strecke 6170, das
ehemalige S-Bahnbetriebswerk Papestraße abgerissen
wurde. Infolgedessen kam es zu Sperrungen der Verbindung Neukölln-Tempelhof. Auch aus diesem Grund
mussten Züge über die Anhalter Bahn umgeleitet werden.
Drittens wurde eine neue Fußgängerverbindung zwischen dem Bahnhof Südkreuz und dem Einkaufszentrum
am Sachsendamm gebaut. Damit ist der Neubau einer
Eisenbahnüberführung auf der Strecke 6172, Tempelhof-Mariendorf, verbunden. Dieser Brückenneubau ist
für den Zeitraum vom 2. Mai dieses Jahres bis zum
1. August dieses Jahres geplant und führt zu einer Totalsperrung der Strecke. Deshalb werden auch in diesem
Zeitraum Güterzüge über die Anhalter Bahn umgeleitet.
Der Hintergrund Ihrer Frage ist, ob die Strecke überhaupt für Güterzüge zugelassen ist. Deswegen möchte
ich klarstellen: Die Strecke Berlin Südkreuz-Teltow ist
sowohl für den Personen- als auch für den Güterverkehr
zugelassen.
Herr Kollege, haben Sie eine Nachfrage?
Herr Staatssekretär, wir reden in der Tat nicht zum
ersten Mal über die Anhalter Bahn. Deshalb wissen Sie,
wie meine nächste Frage lauten muss.
Wir hatten darüber gesprochen, ob - gerade weil es
zugelassen ist - dieses Betriebsprogramm bei der Ermittlung der notwendigen Schallschutzmaßnahmen nicht
hätte berücksichtigt werden müssen. Die Bundesregierung hat damals - im Jahr 2004, im Jahr 2005, im Jahr
2006, im Jahr 2007 - jeweils geantwortet, es gebe keine
hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass so etwas überhaupt eintreten könne, und deshalb werde auch nichts
unternommen.
Sind Sie nunmehr, nachdem Sie gerade erzählt haben,
welche Umleitungen jetzt und vermutlich in Zukunft erforderlich sind, bereit, entsprechende Maßnahmen einzuleiten?
Sie wissen, wir haben es mit einem Planfeststellungsbeschluss zu tun. Beim Planfeststellungsbeschluss ist
nicht von zusätzlicher Belastung ausgegangen worden.
Es gab damals keine Indizien dafür. In den Unterlagen
zum Planfeststellungsantrag zum Thema der Lärmschutzmaßnahmen wird also kein Güterverkehr berücksichtigt.
Damit ist er aber nicht grundsätzlich verboten. Das
heißt, im Falle einer Havarie, eines Neubaus oder einer
Brückeninfrastrukturmaßnahme sind Umleitungsverkehre
zu schaffen. Wir reden hier übrigens über einen sehr begrenzten Umfang. Der Statistik ist zu entnehmen, dass
durchschnittlich ein Zug pro Tag notwendig ist. Deshalb
gehen wir davon aus, dass der Güterverkehr für solche
Fälle auf der Strecke möglich ist und nicht eingeschränkt
werden muss.
Nun stellt sich die spannende Frage nach nachträglichen Lärmschutzmaßnahmen. Wenn ein Planfeststellungsbeschluss gefasst worden ist, dann kann man den
Klageweg beschreiten. Das wissen Sie auch. Man kann
Einspruch erheben, wenn die Werte nach dem Planfeststellungsbeschluss deutlich von den Werten abweichen,
die der Planung zugrunde gelegen haben. Dann steht der
Rechtsweg offen.
Haben Sie eine weitere Frage?
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, dass wir ein
Rechtsstaat sind, in dem auch die Verwaltungen und die
Bundesregierung an Recht und Gesetz gebunden sind,
und dass § 75 Abs 2 Verwaltungsverfahrensgesetz eben
nicht vorsieht, dass der Bürger erst klagt, wenn es ersichtlich Anlass gibt, etwas zu veranlassen, sondern dass
die Bundesregierung dazu gehalten ist, dann entsprechende Maßnahmen zu ergreifen? Können Sie sich im
Übrigen erinnern, dass die Bundesregierung stets so geantwortet hat?
Dabei bin ich mit Ihnen ganz einer Meinung. Selbstverständlich hält sich die Bundesregierung an Recht und
Gesetz. Außerdem halten wir uns an gefasste Planfeststellungsbeschlüsse.
Den Planfeststellungsbeschlüssen sind die von Ihnen
angemahnten Lärmemissionen nicht zugrunde gelegt
worden, weil es keine Anhaltspunkte dafür gab. Wir haben jetzt die Sondersituation, dass in drei Fällen Umleitungen notwendig waren, die zu mehr Emissionen führen, die von einem Zug pro Tag verursacht werden.
Wir vertreten die Auffassung, dass diese Verkehre zulässig sind. Ferner besteht aus unserer Sicht keine Notwendigkeit zu entsprechenden Anpassungsmaßnahmen.
Wenn Sie anderer Auffassung sind, steht Ihnen der Klageweg offen.
Ich rufe die Frage 22 des Kollegen Königshaus auf.
Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung und/oder des
Eisenbahn-Bundesamtes zu, dass die Anlieger der Anhalter
Bahn - Fern- und S-Bahn - im Bereich zwischen den Bahnhöfen Südkreuz und Teltow bzw. Teltow Stadt erhöhten Lärmemmissionen ausgesetzt sind, weil mit den derzeit auf den
Fernbahngleisen fahrenden Güterzügen und einer Verdoppelung des Verkehrs auf der S-Bahn-Strecke von Lichterfelde
Süd nach Teltow Stadt das dort vorgesehene Betriebsprogramm weit überschritten und zudem wegen der pflichtwidrig
nicht durchgeführten Schleifarbeiten im Rahmen des Verfahrens „Besonders überwachtes Gleis“ die in dem Planfeststellungsbeschluss erwarteten Prognosewerte weit überschritten
werden, und beabsichtigt die Aufsichtsbehörde nunmehr, gemäß § 75 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes nachträgliche Lärmschutzmaßnahmen - Geschwindigkeitsbeschränkungen, bauliche Maßnahmen - anzuordnen?
Diese Frage bezieht sich ebenfalls auf die Strecke
Berlin Südkreuz-Teltow. Ich habe bereits deutlich gemacht, dass diese Strecke für den Güterverkehr zugelassen ist.
Sie beziehen sich auf die notwendigen Schleifvorgänge, weil es sich um ein „Besonders überwachtes
Gleis“ handelt. Nach Auskunft der DB Netz AG sind die
erforderlichen Schleifvorgänge jetzt abgeschlossen. Wir
gehen davon aus, dass die Arbeiten, die zu machen waren, erledigt sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege?
Ja. - Es wird Sie nicht überraschen, dass ich nach-
frage. Es geht nicht nur um das Verfahren „Besonders
überwachtes Gleis“, sondern auch um die Schleifvor-
gänge. Wenn überhöhte Lärmwerte festgestellt und
Schleifarbeiten angeordnet wurden, sind diese innerhalb
von zwei Monaten durchzuführen. Dies wurde vom Ei-
senbahn-Bundesamt nicht durchgesetzt. Ihre Aussage
heute ist möglicherweise richtig; aber das bedeutet nicht,
dass stets und sofort nach Recht und Gesetz verfahren
wurde.
Ist die Bundesregierung a) bereit, in Zukunft dafür zu
sorgen, dass dies der Fall ist? Ist sie b) bereit, zur Kenntnis zu nehmen und dazu Stellung zu nehmen - danach
hatte ich ausdrücklich gefragt -, dass die Taktfrequenz
auf der betroffenen S-Bahn-Strecke demnächst verdoppelt wird, sodass auf dieser Strecke erhöhte Lärmemmissionen eintreten werden, und dass darüber hinaus der zukünftige Zubringerverkehr zum Flughafen BBI, der in
der Verkehrsprognose, die dem Planfeststellungsbeschluss zugrunde lag, nicht vorgesehen war, eine weitere
Verstärkung bringt?
Ist die Bundesregierung bereit, darauf zu reagieren,
und zwar entsprechend § 75 Abs. 2 Verwaltungsverfahrensgesetz, der den Fall beinhaltet - hier nehme ich Ihre
vorherige unzutreffende Antwort noch einmal auf -,
dass sich die Grundlagen eines Planfeststellungsbeschlusses geändert haben? Sie dürfen hier nicht einen
Zirkelschluss machen und sagen, dass es einen Planfeststellungsbeschluss gibt. Es geht darum, dass die Prognose nicht eingetreten ist. - Entschuldigung, Frau Präsidentin, das musste schon sein.
Herr Abgeordneter Königshaus, Sie können davon
ausgehen, dass die Bundesregierung nach Recht und Gesetz handelt.
({0})
Sie können auch davon ausgehen, dass sie sich an verabschiedete Planfeststellungsbeschlüsse hält.
Herr Kollege, haben Sie noch eine Frage dazu?
Ja. - Ich habe natürlich noch viele Fragen. Ich beschränke mich jetzt auf die Frage nach den Kesselwagen
am Bahnhof Südkreuz, die noch nicht beantwortet ist.
Nachdem man am Bahnhof Karow nur sehr knapp einer
ziemlich schweren Katastrophe entgangen ist, stellt sich
die Frage, ob - aus welchen Gründen auch immer - es
zulässig sein kann, dass in einem der größten Personenbahnhöfe in Berlin, der dafür nicht zugelassen ist, Rangierarbeiten mit Kesselwagen durchgeführt werden.
Hierbei ist egal, ob sie gefüllt sind oder nicht; denn wenn
sie leer sind, sind sie noch gefährlicher. Ist die Bundesregierung bereit, dagegen einzuschreiten?
Damit wir Klarheit in den Begriffen haben: Es handelt sich um Gelegenheitsverkehre.
({0})
Wir haben uns den Zugverkehr für den Monat Januar,
vom 1. Januar bis zum 31. Januar, einmal angesehen. Es
handelt sich im Tagesdurchschnitt um einen Zug. In der
Zeit, die wir uns genau angesehen haben, verkehrten dort
neun Müllzüge der BSR, 24 Mineralölzüge - diese haben Sie angesprochen - und ein weiterer Zug. Die Führung dieser Mineralölzüge über diese Strecke ergab sich
vorrangig aus der Sperrung des Streckenabschnittes Berlin-Grünau-Berlin-Neukölln aufgrund einer Havarie an
der Baustelle Teltowkanalbrücke. Die genannten Mineralölzüge fahren auf dieser Strecke ausnahmslos im Gelegenheitsverkehr.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
({0})
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Ministeriums
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die
Fragen 23 und 24 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl wer23862
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
den schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 25 der Kollegin Veronika Bellmann.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Für die Beantwortung der Fragen steht
zur Verfügung Herr Staatsminister Günter Gloser.
Die Frage 26 der Kollegin Bettina Herlitzius wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe Frage 27 der Kollegin Inge Höger auf:
Wie steht die Bundesregierung zu Vorstößen, die Bekämpfung von Piraten auch auf somalischem Festland durchzuführen, wie etwa zu Äußerungen der Abgeordneten ErnstReinhard Beck ({1}), CDU/CSU, und Rainer Arnold,
SPD, die in der Stuttgarter Zeitung vom 18. April 2009 forderten, „die Seeräuberei auszutrocknen“, unter anderem durch
Zerstörung der „Stützpunkte und Häfen in Somalia“?
Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kollegin,
ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten: Deutschland
beteiligt sich seit dem 19. Dezember 2008 an der EU-geführten Operation „EU NAVFOR Atalanta“ zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika. Die Gemeinsame Aktion des Rates aus dem Jahr 2008 mit der
Bezeichnung 2008/851 der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik bzw. das Mandat des Deutschen Bundestages beschränken die Operation „Atalanta“ und die
daran beteiligten deutschen Streitkräfte auf ein Vorgehen
auf See. Eine operative Planung zur Bekämpfung der Piraterie auf dem somalischen Festland findet deswegen
weder in der Europäischen Union noch in der NATO
statt.
Frau Kollegin, Ihre Nachfrage bitte.
Ich möchte nachhaken, ob Sie wirklich definitiv ausschließen, dass deutsche Soldaten einschließlich Spezialkräften auf somalischem Festland oder in somalischen Territorialgewässern eingesetzt werden sollen
oder können.
Ich habe ausdrücklich ausgeführt - Sie haben auf Diskussionen in der Öffentlichkeit Bezug genommen -,
dass sich dieser Einsatz nur auf das Seegebiet beschränkt. Ich räume allerdings ein, dass das allumfassende Mandat - das Mandat, das die Vereinten Nationen
verabschiedet haben - auch das zulässt. Aber es gibt derzeit überhaupt keinen Anlass, über einen Einsatz auf
dem Land zu spekulieren.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte.
Zurzeit wird ein deutsches Handelsschiff im - so
heißt es immer - „Hafen“ von Harardere festgehalten.
Nachdem mir ein Luftbild von Harardere vorlag, hat es
mich erstaunt, dass immer von einem Hafen die Rede ist.
Wenn überhaupt, dann ist das ein Binnenhafen. Würde
die Tatsache, dass es sich um einen Binnenhafen handelt,
ausschließen, hier einzugreifen?
Ich sage noch einmal: Das Mandat, das für die Bundeswehr, aber auch für die EU gilt, bezieht sich auf Eingriffe auf See. Es gibt keinen Anlass, darüber zu spekulieren, ob hier bestimmte Maßnahmen vorgesehen sind.
Ich rufe nun die Frage 28 der Kollegin Inge Höger
auf:
Welche konkreten Maßnahmen gegen Raubfischerei und
Giftmüllentsorgung vor der somalischen Küste sind vonseiten
der Bundesregierung geplant?
Hier darf ich wie folgt antworten: Die Europäische
Union unterhält kein Fischereiabkommen mit Somalia
und geht dort keinen Fischereiaktivitäten nach. Es ist
auch nicht bekannt, dass EU-Fischereifahrzeuge vor der
Küste Somalias illegale Fischerei betreiben. Fischereifahrzeuge unter deutscher Flagge oder, soweit bekannt,
deutscher Eigner oder in deutschem Auftrag sind vor der
somalischen Küste nicht tätig. Deshalb besteht für die
Bundesregierung unter fischereipolitischen Gesichtspunkten derzeit kein unmittelbarer konkreter Handlungsbedarf.
Auch in Bezug auf Giftmüllentsorgung sieht die Bundesregierung keinen Anlass für konkrete Maßnahmen.
Ich darf hierzu ausführen: Die Entsorgung von Giftmüll
auf hoher See ist durch eine internationale Konvention,
MARPOL, aus dem Jahre 1978 sowie die Londoner
Konvention aus dem Jahr 1972 weitestgehend verboten.
Deutschland ist Vertragspartei bei beiden Konventionen
und setzt sich für deren konsequente weltweite Durchsetzung ein.
Es ist nicht bekannt, dass unter deutscher Flagge oder,
soweit bekannt, in deutschem Eigentum stehende oder in
deutschem Auftrag fahrende Schiffe vor der somalischen
Küste Giftmüll entsorgen.
Frau Kollegin, Ihre Nachfrage.
Sehr viele Untersuchungen zeigen, dass die Fanggebiete vor der somalischen Küste von internationalen
Fischtrawlern leer gefischt werden und dass dort in großem Umfang, da es in Somalia an Rechtsstaatlichkeit
fehlt, Giftmüll abgeladen wird und dass diese beiden
Dinge für die Piraterie mitverantwortlich sind. Die Menschen in diesem Land haben keine andere Erwerbsmöglichkeit, insbesondere die Fischer.
Von daher ist meine Frage: Was tun Sie, um diese von
mir genannte Ursache der Piraterie zu bekämpfen?
Erste Anmerkung. Die Europäische Union hat vielfach Initiativen unternommen, um beispielsweise den
illegalen Fischfang zu unterbinden. Hier ist auch etwas
in Vorbereitung: Die Europäische Union wird darüber
mit entsprechenden Staaten in Verhandlungen eintreten.
Zweite Anmerkung. Ich gebe Ihnen recht, dass die
Gefahr besteht, dass andere diesen rechtlosen Zustand
ausnutzen. Daher sage ich im Zusammenhang mit der
Raubfischerei und der Giftmüllentsorgung, dass dies auf
den Zustand der Rechtlosigkeit in Somalia selbst zurückzuführen ist.
Dritte Anmerkung. Der Bundesregierung ist natürlich
bewusst, dass es nicht genügt, die Piraterie zu bekämpfen, sondern dass in Somalia auch gewisse Strukturen
hergestellt werden müssen - vor kurzem gab es eine
große Geberkonferenz für Somalia -, zum Beispiel der
Aufbau der Justiz.
Haben Sie eine Zusatzfrage?
Ich möchte auf die Giftmüllabladung zurückkommen.
Der Sprecher des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, Nick Nuttall, hat erklärt, dass es um radioaktives
Uran, um Blei und Schwermetalle wie Kadmium und
Quecksilber, um Industrieabfälle, Krankenhausmüll und
Chemieabfälle geht, dass es sich also um eine Müllabladung in großem Umfang handelt. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung, um daran etwas zu ändern?
Werte Frau Kollegin, ich kenne diese Äußerung im
Detail nicht. Wenn dem aber so ist, dann werden wir
dem sicherlich nachgehen; denn es gibt internationale
Konventionen, an die man sich halten muss. Das muss
auch kontrolliert werden. Daran, dass die Vorfälle, von
denen Sie gerade sprachen, durch die Situation in Somalia begünstigt werden, wird deutlich, dass eine besondere
Anstrengung erforderlich ist, um in Somalia Strukturen
zu schaffen, die dies verhindern. Ich gehe dieser Frage
gerne nach. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich Ihnen weitere Informationen darüber geben können.
Herr Staatsminister, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung zu Steuersenkungsvorhaben
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Christine Scheel für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es zeichnet sich ab, dass Teile der Bundesregierung - ({0})
- Genau, Renate, im Moment ist sie nicht anwesend.
({1})
- Frau Merkel ist nicht hier, und der Bundesfinanzminister ist nicht hier. Da es jetzt um die Steuerpolitik geht,
sollte man eigentlich meinen, dass die dafür Zuständigen
anwesend sein müssten.
({2})
Es ist so, dass vor allen Dingen von der Union und damit
auch von der Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Wahlbetrug vorbereitet wird.
({3})
Ich sage Ihnen: Wer Steuersenkungen in den Größenordnungen, von denen die Rede ist, fordert, der muss
auch sagen, wie sie finanziert werden sollen; das gilt übrigens auch für die FDP.
({4})
Wer heute auf Pump Steuern senken will, der bereitet die
Steuererhöhungen von morgen vor oder plant massive
Kürzungen im Sozialbereich.
({5})
Das ist in der Krisensituation, in der wir uns derzeit befinden, und im Hinblick auf den Zusammenhalt der Gesellschaft unverantwortlich.
({6})
Die Kanzlerin hat den Bürgern und Bürgerinnen in ihrer Neujahrsansprache versprochen - ich zitiere -:
Wir handeln schnell, und wir denken dabei an die
kommenden Generationen.
({7})
Allerdings müssen wir feststellen, dass die Kanzlerin unter totalem Realitätsverlust leidet.
({8})
Die Situation ist verdammt ernst: Aufgrund der gegenwärtigen Krise wurden ein Bankenrettungsfonds und
ein Unternehmensrettungsfonds ins Leben gerufen. Außerdem wurden zwei insgesamt 80 Milliarden Euro
schwere Konjunkturpakete geschnürt. Das alles sind ungedeckte Schecks. Hinzu kommt ein Wachstumseinbruch um ungefähr 6 Prozent. Fachleute erwarten bis
zum Jahr 2013 Steuerausfälle von mehr als 300 Milliarden Euro, und wir stehen in diesem Jahr vor einer historischen Rekordverschuldung.
Die Bürger und Bürgerinnen zittern um ihre Arbeitsplätze. Sie fragen sich zu Recht: Wer soll das alles bezahlen? In einer solchen Situation erwartet man von einer Regierung eine klare Linie. Sie muss sagen, was geht
und was nicht geht. Klarheit, Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit, das sind die Gebote der Stunde, aber nicht
der Politzirkus, den Sie in der Koalition jeden Tag veranstalten.
({9})
Mit ihrem Ja zu Steuersenkungen zerstört die Bundeskanzlerin den letzten Rest ihrer politischen Seriosität.
({10})
Die Bundeskanzlerin lässt sich von Guido Westerwelle
am Nasenring durch die Manege ziehen.
({11})
Wenn man sich dieses Bild vor Augen hält, kann man
sich vorstellen, dass auch der eine oder andere Ministerpräsident durch einen Reifen springt. Fakt ist: Dieses Hü
und Hott macht die Orientierungslosigkeit der Bundesregierung deutlich.
({12})
Steinbrück stellt Studienplätze, die wir dringend brauchen, unter Haushaltsvorbehalt. Auch die SPD ist mittlerweile auf den Steuersenkungszug aufgesprungen: Sie
will den Eingangssteuersatz auf 10 Prozent absenken,
und sie will denjenigen, die darauf verzichten, eine
Lohnsteuererklärung abzugeben, einen Bonus zahlen.
Die Finanzierung ist ihr anscheinend egal.
({13})
Wir sehen, dass diese Kakofonie jeden Tag größer
wird: Der Wirtschaftsflügel der Union fordert Steuergeschenke für Großunternehmen. Die Erbschaftsteuer soll
abgeschafft werden, sagen die einen. Der Solidaritätszuschlag soll abgeschafft werden, sagen die Nächsten.
Ferner soll die Progression korrigiert werden, und die
Wohnungsbauförderung soll wiedereingeführt werden.
Die neueste Idee ist: Steuerprivilegien für dicke Dienstwagen sollen weiter ausgedehnt werden. - Ja sind Sie
denn mittlerweile völlig durchgeknallt?
({14})
Sie haben nicht nur ordnungspolitisch die Orientierung verloren, Sie haben insgesamt ein Orientierungsproblem. Statt Prioritäten bei Bildung und Zukunft zu
setzen, predigen die Kanzlerin und Minister Steinbrück
einen Dreiklang von Schuldentilgung, Investitionen in
Innovation und steuerlicher Entlastung.
({15})
Ich sagen Ihnen: Das ist eine Schönwetterstrategie.
Niemand glaubt das mehr. Es schafft auch kein Vertrauen, so etwas dauernd zu wiederholen. Jetzt ist es an
der Zeit, zu entscheiden, was man für die Zukunft finanzieren will. Es ist nicht die Zeit für Steuersenkungsversprechen, und es gibt auch keine Aufschwunggewinne
mehr zu verteilen.
({16})
Ich empfehle der Union, ihre wirren Steuersenkungsvorschläge im Giftmüllschrank der Bad Bank zu entsorgen; da gehören sie hin.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind uns alle sicherlich einig darüber, dass
wir in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise
durch ein tiefes Tal gehen. Hier braucht es eine Politik,
die mit Mut und Konzept durch diese Krise führt.
({0})
Wir dürfen dabei insbesondere nicht auf den Wahlkampf
schielen.
In dieser Wirtschafts- und Finanzkrise darf die Politik
nicht in Schockstarre verfallen. Selbst wenn die Steuerschätzung nächste Woche negativ ausfallen wird, dürfen
wir hinsichtlich unseres politischen Handlungsspielraums auf keinen Fall kapitulieren. Es geht jetzt darum,
Perspektiven zu erarbeiten, Anreize zu schaffen. Es geht
nicht darum, die Steuerzahler auf Pump zu entlasten, es
geht vielmehr um eine ökonomische Gesamtkonzeption,
um eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik,
({1})
die Kaufkraft und Investitionen begünstigt und Arbeitsplätze in der Zukunft sichert.
({2})
Diese Aktuelle Stunde zeigt gut, welche politischen
Unterschiede es in unserem Land gibt.
({3})
Frau Scheel und die Grünen machen deutlich, dass sie
nichts anderes wollen als statische Umverteilungspolitik.
({4})
Wir wollen Wachstum und Beschäftigung für alle. Darum geht es letzten Endes.
({5})
Mit Steuersenkungen lässt sich die Wirtschaft stärker stimulieren, sodass anschließend auch der Staat wieder
mehr Einnahmen haben wird. So funktioniert Ökonomie: jetzt investieren und damit Erträge in der Zukunft
schaffen. Das ist die Grundlage eines ökonomischen Gesamtkonzepts.
({6})
Für ein Erfolgsprogramm braucht es einen Politikmix
aus dem Dreiklang von Schuldentilgung, Investitionen
in Innovationen und Bildung und natürlich auch steuerlicher Entlastung.
({7})
Denn Leistung muss sich lohnen, meine Damen und
Herren.
Der Anstieg der Staatsverschuldung darf uns nicht davon entbinden, zu entscheiden, ob und in welchem Umfang steuerliche Belastungen der Bürger gerechtfertigt
sind. Es kann doch nicht sein, dass von Lohnerhöhungen, die in der Höhe des Inflationsausgleichs liegen, die
Arbeitnehmer nichts haben, sondern nur der Fiskus begünstigt wird. Unser heutiges Einkommensteuerrecht
mit der kalten Progression ist teilweise ungerecht, kompliziert und leistungsfeindlich. Es ist eine Tatsache, dass
50 Prozent der Steuerzahler im oberen Bereich inzwischen 93 Prozent des Einkommensteueraufkommens bestreiten. Das muss man wissen, und man muss deutlich
machen, worum es uns geht: Wollen wir diese Menschen
überfordern, oder wollen wir sie stimulieren, um ihre
Leistung für die Allgemeinheit und das Gemeinwohl anzuerkennen?
({8})
Trotz der Lohnerhöhungen der vergangenen Jahre haben die Arbeitnehmer nicht mehr Netto vom Brutto. Das
muss sich wieder ändern, und das haben wir auch mit
den Konjunkturprogrammen beschlossen. Was bei den
Konjunkturprogrammen als richtig empfunden wurde
- nämlich Steuerentlastungen -, wird auch für die Zukunft der richtige Weg sein. Deswegen müssen wir diesen Weg beschreiten.
Ich verstehe die Gegnerschaft und Meinungsverschiedenheiten nur insoweit, dass man über das Ziel diskutiert. Wir haben unsere Konjunkturprogramme auf den
Weg gebracht. Sie werden Wirkung zeigen und uns weiter voranbringen. Wenn wir ein Wachstum verzeichnen,
dann wird es notwendig sein, dieses auch ökonomisch
weiter zu fördern. Dann werden wir auch die Chance zu
Steuerentlastungen bekommen.
An einem Steuerreformkonzept mit Vereinfachungen
und Tarifabflachung führt kein erfolgversprechender
Weg vorbei. Es kann nicht sein, dass Arbeitnehmer
1 Prozent mehr Lohn bekommen, aber 2 Prozent mehr
Steuern zahlen müssen. Das ist nicht gerecht.
({9})
Diese Menschen müssen wir motivieren, indem wir Anreize bieten, damit sich Leistung wieder lohnt.
Bei Steuersätzen von 15 bis 42 Prozent ist insbesondere schon bei Einkommen bis 12 500 Euro ein steiler
Anstieg zu verzeichnen. Wir brauchen diesen Mittelstandsbauch nicht. Hier wird Leistung nicht belohnt.
({10})
Wir müssen diesen Mittelstandsbauch abbauen. Der
Höchststeuersatz greift schon bei 52 000 Euro.
Eine Steuerreform zugunsten der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit in unserem Land ist ohne Alternative.
Es geht nicht um eine statische Umverteilungspolitik;
Stimulierung, Anreize und Leistungsfähigkeit sind die
Themen, denen wir uns zuwenden müssen.
({11})
Das ist eine erfolgversprechende Politik.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die
FDP-Fraktion.
({0})
Besten Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Michelbach, was Sie gesagt
haben, ist größtenteils richtig.
({0})
Aber der CDU/CSU muss man sagen: Deutschland
kommt nicht voran, indem Parteien vor der Wahl das
Richtige versprechen, sondern indem man nach der Wahl
das Richtige umsetzt.
({1})
Das haben Sie versäumt, meine Damen und Herren von
der CDU/CSU.
({2})
Es ist erstaunlich, welche Parteien auf einmal das
Steuerrecht als Wahlkampfthema entdecken. Die Große
Koalition der Mehrwertsteuererhöher, Pendlerpauschalenstreicher und Sparerfreibetragskürzer überbietet sich
jetzt wechselseitig mit Entlastungsvorschlägen.
({3})
Ihren Vorschlägen ist aber vor allem eines gemein: Sie
sind unglaubwürdig.
Wenn es um Unglaubwürdigkeit geht, darf vor allem
eine Partei nicht fehlen: die SPD, die Partei der Mehrwertsteuerlüge.
({4})
- Sie haben sich damals auch beteiligt, Herr Kollege
Pronold. Ich erinnere an den Wahlkampfslogan „Merkelsteuer, das wird teuer“. Im Widerspruch dazu haben Sie
dann für die Mehrwertsteuererhöhung gestimmt. Das
macht Sie unglaubwürdig, und das werden Sie auch mit
Ihren leeren Versprechungen vor dieser Bundestagswahl
nicht los.
({5})
Die SPD greift wieder tief in die Mottenkiste und zaubert alte sozialdemokratische Wiedergänger hervor. Sie
schwadronieren von einer Börsenumsatzsteuer und der
Wiedereinführung der Vermögensteuer. Auch eine Reichensteuer darf bei Ihnen nicht fehlen, vor allen Dingen
dann, wenn es auf Wahlen zugeht. Als besonderes Highlight bringen Sie jetzt auch noch den Vorschlag, jedem
300 Euro zu zahlen, der auf die Abgabe seiner Steuererklärung verzichtet.
Der Nachweis, dass die SPD selbst nichts, aber auch
gar nichts von all diesen Vorschlägen umsetzen möchte,
fällt leicht. Sie stellen nämlich seit zehn Jahren den Bundesfinanzminister und haben in dieser Zeit nichts von
dem, was Sie jetzt für so wichtig erachten, auch nur in
Angriff genommen.
({6})
Sie haben keine Börsenumsatzsteuer eingeführt und
die Vermögensteuer nicht aufgegriffen. Auch die Reichensteuer dient nur der Befriedigung Ihrer sozialdemokratischen Neidreflexe. Nichts von dem haben Sie in
Angriff genommen.
({7})
Sie wollen soziale Gerechtigkeit und meinen, es sei
gut, wenn es den Wohlhabenden schlechter geht. Aber
Sie tun nichts dafür, dass es den sozial Schwachen in
Deutschland besser geht. Aber das ist die Aufgabe einer
vernünftigen Steuer- und Finanzpolitik. Ihre Finanzpolitik ist nichts anderes als der traurige Restposten real
existierender Sozialdemokratie.
({8})
Seit 1998 tragen Sie Verantwortung im Finanzressort.
Aber in all den Jahren haben Sie nichts erreicht. Das
Steuersystem ist nicht einfacher, nicht gerechter, geschweige denn sozialer geworden.
({9})
Egal ob sie Lafontaine, Eichel oder Steinbrück heißen,
eines haben Ihre Finanzminister gemein: große Versprechungen und kleinste Ergebnisse.
Mit dem Herannahen der Bundestagswahl stellt sich
die SPD wieder hin und versichert den Wählerinnen und
Wählern treuherzig, dass man vielleicht die letzten Jahre
verschlafen habe. Das kann ich bestätigen.
({10})
Aber man fragt sich, warum Sie jetzt endlich aufgewacht
sein sollten. Ihnen wird in diesem Wahlkampf niemand
glauben. Welche großen Aufgaben der Finanzpolitik haben Sie denn gelöst? Haben Sie etwa den Haushalt konsolidiert? Haben Sie Schulden abgebaut oder das Steuerrecht reformiert?
({11})
Ist irgendetwas in unserem Steuerrecht einfacher oder
effizienter geworden? Haben Sie vielleicht die Finanzaufsicht im Griff? Nichts davon ist geschehen. In allen
Bereichen haben Sie eine miese, negative Bilanz vorzuweisen.
({12})
Nun schlagen Sie als Meilenstein Ihrer Finanzpolitik
einen 300-Euro-Steuerbonus für die Bürgerinnen und
Bürger vor, die auf eine Steuererklärung verzichten. Sie
schaffen es nicht, das Steuerrecht zu vereinfachen, meinen aber, dass man die Menschen zufriedenstellen
könnte, wenn man ihnen 300 Euro schenkt, damit die Finanzverwaltung Ihre vermurksten Steuergesetze nicht
mehr umsetzen muss. Selten ist politischer Gestaltungswillen deutlicher negiert worden als durch Sie.
Aber Sie, meine Damen und Herren von der SPD, befinden sich in der Großen Koalition in bester Gesellschaft mit der Union. Meine Damen und Herren von der
CSU, Sie sind nun angeblich auch für Steuersenkungen
und kämpfen dafür.
({13})
Das tun Sie aber immer nur vor Wahlen. Nach der letzten Bundestagswahl haben Sie 19 Steuererhöhungen zugestimmt. Damals war nichts vom Protest der CSU zu
hören.
({14})
Der Kürzung der Pendlerpauschale haben Sie im Bundestag zugestimmt, während Sie in Bayern Unterschriften gegen die eigene Politik gesammelt haben. So kann
man nicht glaubwürdig vor die Wählerinnen und Wähler
treten.
Eine steuerliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger ist gerade in einer Krise überfällig. Wir brauchen zudem Korrekturen der Unternehmensteuerreform. Frau
Kollegin Scheel, Sie haben sich hier hingestellt und gesagt, nun müsse alles für die Bürgerinnen und Bürger
teurer werden und niemand dürfe entlastet werden. Das
ist absurd.
({15})
Sie wissen genau, dass wir bei der Unternehmensteuerreform massive Fehler der Großen Koalition beseitigen müssen, und zwar dringend; denn diese Fehler können sich rezessionsverschärfend auswirken.
({16})
- Herr Kollege, die Zinsschranke
({17})
- was Sie sagen, ist falsch -, Verschlechterung der Mantelkaufregelung, Ihre absurde Funktionsverlagerung, die
Forschung und Entwicklung aus unserem Land treibt, all
diese Dinge müssen dringend korrigiert werden. Die
Verweigerungshaltung der Grünen führt dieses Land jedenfalls nicht weiter.
Wir brauchen jetzt eine Partei, die vor der Wahl ein
klares Konzept hat und die nach der Wahl ein klares
Konzept umsetzt. Wenn wir aus der aktuellen Krise herauskommen wollen, dann werden wir das ohne Korrekturen unseres Steuersystems nicht schaffen. Wir befinden uns in einem harten Wettbewerbskampf mit unseren
Nachbarn.
({18})
Wir von der FDP wollen diesen für unser Land gewinnen und nicht wie die Grünen in Untätigkeit verharren und auch nicht wie SPD und CDU/CSU die Probleme des Landes mit leeren Versprechungen lösen.
({19})
Man kann Deutschland nur nach vorne bringen, wenn
man Deutschland reformiert. Das Ganze muss mit einer
Steuerreform beginnen. Wir haben Konzepte dazu vorgelegt. Wir stehen dazu.
Vielen Dank.
({20})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Titel der von Bündnis 90/Die Grünen beantragten Aktuellen Stunde lautet: „Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bundesregierung zu Steuersenkungsvorhaben“. Ich habe, als ich das gelesen habe,
zuerst gestaunt:
({0})
Meinungsverschiedenheiten? - Okay. Aber welche Steuersenkungsvorhaben? Hat die Bundesregierung eine
Steuerreform angekündigt, ohne dass ich es weiß,
({1})
über die nun gestritten wird? Weit gefehlt! Das heißt
aber nicht, dass es keine Auseinandersetzung zwischen
der SPD und den Unionsparteien um die Zukunft des
Steuersystems gibt. Eine solche Auseinandersetzung gibt
es sehr wohl. Wer allerdings im Politikunterricht aufgepasst hat, der weiß: Es gibt einen Unterschied zwischen
Parteien, Fraktionen und der Bundesregierung.
({2})
Es ist eben auch ein Unterschied, ob eine Partei ein Programm für die Zeit nach der kommenden Bundestagswahl präsentiert oder ob eine Koalition die Politik bis
zur kommenden Bundestagswahl bestimmt.
({3})
Ich erkläre Ihnen das gern anhand Ihrer Koalition in
der Hansestadt Hamburg. Dort haben Sie gemeinsam mit
der Union im Koalitionsvertrag die Elbvertiefung und
den Bau des Kohlekraftwerks Moorburg beschlossen. Im
Wahlkampf waren diese beiden Punkte noch Pest und
Cholera gleichzeitig. Ich bin davon überzeugt, dass die
GAL in Hamburg den nächsten Wahlkampf trotzdem
nicht mit einem Plädoyer für Kohlekraftwerke und Hafenausbau führen wird, auch wenn sie genau das jetzt in
dieser Koalition tut. Eine Frage an Sie: Werden Sie Ihr
nächstes Wahlprogramm in Hamburg mit Ihrem Koalitionspartner Union abstimmen? Nein, sage ich Ihnen. Ich
könnte mir wunderbar vorstellen, dass es da zu ganz
erheblichen Meinungsverschiedenheiten käme. Ebenso
wenig stimmen wir unser Programm mit unserem Koalitionspartner CDU/CSU ab und umgekehrt. Deshalb - da
haben Sie recht - gibt es deutliche Unterschiede in den
Aussagen von Politikerinnen und Politikern aus unterschiedlichen Parteien.
In der Koalition werden wir unsere gemeinsame Arbeit fortsetzen. Auch das Bürgerentlastungsgesetz, das
letzte große Steuergesetz, das ansteht, werden wir in dieser Wahlperiode gemeinsam verabschieden.
({4})
Die Menschen können sich darauf verlassen, dass wir bis
zum 27. September gemeinsam unserer Arbeit verantwortlich und verlässlich nachgehen werden.
({5})
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen SPD pur und
CDU pur. Diese Differenzen zu benennen und aufzuzeigen, das ist die Aufgabe der Parteien, und das ist ihre
Pflicht vor der Wahl. Sie bieten unterschiedliche Bilder
von der Rolle des Staates an. Das geht vom allmächtigen
Staat, der alles regelt, den die Linken wollen, bis zum
ausgehungerten Staat, den die FDP will. Wir halten an
der sozialen Marktwirtschaft und am Sozialstaat fest, gebaut auf Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. In guten
Zeiten nehmen die Menschen das als selbstverständlich
hin; aber gerade in der derzeitigen Krise mit den immensen Anforderungen an unseren Staat zeigt sich doch, wie
wichtig es ist, einen starken und handlungsfähigen Staat
zu haben. Den gibt es nicht zu Dumpingsteuersätzen.
({6})
Alle Anstrengungen, die wir in der Krise unternehmen, unternehmen wir für die Menschen, für ihre Familien, für ihre Arbeitsplätze, für ihre kleinen Sparguthaben und für ihre Sicherheit, aber weder für Banker noch
für DAX-Kurse. Es geht einzig und allein darum, dass
aus der Finanzkrise keine Existenzkrise für Millionen
Menschen wird, vor allem nicht für die, die am unteren
Ende der Leiter stehen. Wer aber ehrlich zu den Bürgerinnen und Bürgern ist, muss ihnen gerade jetzt sagen,
dass nach diesem finanziellen Kraftakt, den wir leisten,
schlicht kein Geld für Steuersenkungen da ist. Es wird
ein hartes Stück Arbeit, die öffentlichen Haushalte wieder zu konsolidieren, und es bedeutet viele Jahre der
Disziplin und des Sparens. Das sollten wir uns und unseren Kindern und Enkelkindern schuldig sein.
Vorstellungen wie die der CSU - Herr Oswald, es tut
mir leid, aber ich muss es ansprechen -, 28 Milliarden
Euro mal ebenso nach dem Motto „Hurra, was kostet die
Welt?“ zu versprechen, kenne ich eigentlich nur von der
selbsternannten Steuersenkungsankündigungspartei FDP.
({7})
Die CDU streitet noch, ob sie will oder nicht. Das ist in
Ordnung und bedeutet noch lange keinen Koalitionsstreit. Vor der Wahl müssen alle Karten auf den Tisch.
Nur dann können sich die Menschen am 27. September
entscheiden, in welchem Staat sie leben wollen.
({8})
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ich
Ihnen den Unterschied zwischen Koalitionsstreit und
Streit um das bessere Programm der Parteien deutlich
machen konnte. Nur schade, dass wir dafür eine Aktuelle
Stunde opfern mussten! Aber ich will das Positive sehen
und sage mit Daniel Libeskind: Streit fördert die Erkenntnis, und das ist viel wert.
({9})
Das Wort hat nun Kollegin Barbara Höll für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer jetzt, in der tiefgreifenden Wirtschafts- und Finanzkrise, über Steuersenkungen schwadroniert, hat weder
den Ernst der Lage begriffen noch irgendetwas aus der
Krise gelernt.
({0})
Wenn Frau Merkel am Wochenende wieder einmal betont hat, die Lehre aus der Krise heiße: „Wir dürfen nicht
über unsere Verhältnisse leben“, so sage ich Ihnen: Wir
müssen endlich die Verhältnisse ändern, in denen wir leben.
({1})
Millionen Menschen sind verunsichert, bangen um ihren
Arbeitsplatz, sind als Leiharbeiterinnen oder Leiharbeiter bereits auf die Straße gesetzt und fragen sich: Woher
kommt auf einmal das Geld? Wer soll das alles bezahlen? Was wird mit meinem Arbeitsplatz? Was wird mit
meiner Altersvorsorge? Wann gibt es endlich einen
Schutzschirm für die Menschen und nicht nur einen
Schutzschirm für die Banken?
Zur Ehrlichkeit würde auch gehören - das wäre erforderlich, um überhaupt Antworten geben zu können; aber
dem verweigern Sie sich hier -, den beispiellosen Einbruch der Wirtschaft einmal zu analysieren; denn er ist
das Ergebnis Ihrer Politik, sowohl der früheren rot-grünen als auch der jetzigen rot-schwarzen Politik.
({2})
Wir haben seit Jahren eine absolute Orientierung der
deutschen Wirtschaft auf den Export. Ich erinnere: Das
ist politisch durch Sie gewollt und wird durch Sie auch
befördert. Sie haben in Europa den massiven Steuersenkungswettbewerb mit vorangetrieben. Mehrmals haben
Sie die Unternehmensteuern gesenkt. Sie haben die
Steuern für die wirklich Vermögenden gesenkt und dadurch überhaupt erst die Spielräume eröffnet, um in diesen Größenordnungen spekulieren zu können.
Sie haben einen Wettbewerb um die niedrigsten
Löhne angefacht. Im Vergleich mit den anderen europäischen Staaten sind wir das einzige Land, in dem in den
letzten zehn Jahren die Löhne nicht gestiegen sind, sondern gesenkt wurden, politisch gewollt durch die Installation des Niedriglohnsektors, durch eine massive Ausweitung der Leiharbeit und durch die Installation von
Mini- und Midijobs. Sie sind mitverantwortlich für die
Lohnsenkungspolitik der letzten Jahre.
({3})
Sie haben sehenden Auges die Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme in Kauf genommen und die
Schwächung des Gemeinwesens massiv vorangetrieben.
Wenn man durch unsere Städte geht, sieht man den wirklich desolaten Zustand unserer Schulen und Kindergärten; Kindergärten sucht man in den alten Bundesländern
allerdings oft vergebens. Bildung fängt aber mit den Gebäuden an, und schon lange hätte etwas getan werden
müssen, damit Schulen und Kindergärten nicht so aussehen, wie sie jetzt aussehen.
Die akute Krisensituation erfordert ein Umdenken.
Wir müssen die Verhältnisse ändern. Dazu habe ich von
Frau Scheel leider nichts gehört. Es kam nur Kritik; ansonsten war das hier ein Geplänkel im Vorwahlkampf,
bei dem immer darauf geachtet wird, wer wem wehtun
darf oder nicht. Wir sind da zum Glück frei und können
die Dinge beim Namen nennen.
Wir brauchen endlich eine Stärkung der Binnennachfrage. Das erfordert natürlich entsprechende Maßnahmen. Wir brauchen eine Neuausrichtung der deutschen
Wirtschaft, weg von der absoluten Exportabhängigkeit
in Richtung ökologische und soziale Ausrichtung. Ein
Schutzschirm für die Menschen ist notwendig. Die meisten Menschen wollen von ihrer Hände Arbeit leben können, und dafür brauchen sie Arbeitsplätze. Die Kluft
zwischen Arm und Reich darf nicht weiter auseinandergehen, sondern muss endlich geschlossen werden. Dazu
brauchen wir endlich eine Positionierung zum Mindestlohn. Wir brauchen die Abschaffung der Mini- und
Midijobs. Wir brauchen die Überwindung von Hartz IV.
Wir brauchen mindestens 500 000 bis 1 Million neue
Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, und wir brauchen
zusätzlich einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor.
({4})
Das alles sind Voraussetzungen, damit die Menschen
überhaupt Arbeit haben und so bezahlt werden, dass sie
in der Lage sind, Steuern zu zahlen.
Frau Merkel will die Verhältnisse nicht ändern. Heute
knallen in den Chefetagen zum Teil schon wieder die
Champagnerkorken. Wenn wir die Verhältnisse ändern
wollen, müssen wir endlich die Augen öffnen. Sie müssen endlich die Augen öffnen und dürfen nicht schon
wieder wie Frau Merkel andeuten, dass wir über unsere
Verhältnisse leben. Wir müssen endlich die Einnahmeseite stärken und dafür sorgen, dass sich auch diejenigen
beteiligen, die diese Krise mit verursacht haben, die daran im Vorfeld verdient haben und die zum Teil auch
jetzt noch an der Krise verdienen.
Wir brauchen eine Reform der Erbschaftsbesteuerung. Wir brauchen eine Vermögensteuer. Wir müssen
über eine Millionärsabgabe reden. Die Steuerdiskussion,
die Sie jetzt führen, muss beendet werden, weil sie einfach pervers ist. Durch das, was Sie planen, werden immense Kosten verursacht und wird nicht ein einziger
neuer Arbeitsplatz geschaffen.
Sozial gerecht heißt, einen Schutzschirm für die Menschen zu schaffen. Das schließt eine sozial gerechte Einkommensteuerreform ein. Die sieht aber anders aus als
das, was Sie vorhaben. Dazu bedarf es eines anderen
Spitzensteuersatzes, einer Erhöhung des Grundfreibetrages und einer linear-progressiven Besteuerung.
Frau Kollegin!
({0})
Darüber können wir miteinander reden. Es darf nicht
nur um Steuersenkungen für Reiche, Vermögende und
Unternehmer gehen. Kein Problem wird dadurch gelöst.
Ihre Politik wird nur weiter in den Abgrund führen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat Kollege Laurenz Meyer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wegen der fantastischen Rede, die Sie gerade gehalten
haben, Kollegin Höll, will ich vorab fragen: Könnte es
sein, dass Sie viele Jahre lang irgendetwas nicht mitbekommen haben?
({0})
Haben Sie eigentlich nicht mitbekommen - darüber haben wir heute Morgen im Wirtschaftsausschuss gespro23870
Laurenz Meyer ({1})
chen -, dass das System, das Sie wollen - es erlaubt Eingriffe des Staates in die einzelnen Unternehmen -,
untergegangen ist? Haben Sie nicht mitbekommen, dass
die Arbeitslosigkeit nicht über Anstellungen im öffentlichen Dienst abgebaut werden kann? Haben Sie nicht
mitbekommen, dass das von Ihnen erwünschte System
mit dem Untergang der DDR gescheitert ist? Haben Sie
das alles nicht mitbekommen?
Eine Zeit lang haben Sie in einigen Ländern Verantwortung getragen, und überall, wo die PDS und die
Linke in der Regierung war, war das jeweilige Land hinterher Schlusslicht in Deutschland. Das ist die Wahrheit,
und damit müssen Sie sich auseinandersetzen.
({2})
Sobald Sie einer Regierung nicht mehr angehören, etwa
der von Sachsen-Anhalt oder der von Mecklenburg-Vorpommern, werden die Daten des jeweiligen Bundeslandes besser und nicht schlechter. Das sollte die Menschen
im Lande eigentlich überzeugen. Ich hoffe, dass wir
diesmal offensiv diskutieren können.
({3})
Zunächst einmal möchte ich mich bei den Grünen dafür bedanken, dass dieses Thema auf die Tagesordnung
gesetzt worden ist. Es ist wichtig.
Auch wenn ich den Kollegen der SPD ein bisschen
weh damit tue, darf ich Sie bitten, sich einmal vorzustellen, die Krise, in der wir uns jetzt befinden - voraussichtlich 5 Millionen Arbeitslose, eine immense Verschuldung, ein Nullwachstum über Jahre -, wäre zum
Ende Ihrer Regierungszeit eingetreten. Man darf nicht
eine Minute lang darüber nachdenken, was das für Konsequenzen für das Land, für die Bürger und für die Arbeitnehmer gehabt hätte.
({4})
Die SPD hat steuerpolitische Vorschläge gemacht,
etwa den Eingangssteuersatz zu verändern und den Spitzensteuersatz heraufzusetzen. Die klare Botschaft der
SPD ist - das muss jeder in Deutschland wissen -, dass
die Krankenschwester, dass der Facharbeiter in Zukunft
höher belastet werden, weil die Einkommensteuerkurve,
durch die die Menschen hier so belastet werden, noch
steiler ansteigt.
({5})
Die SPD schlägt vor, eine Börsenumsatzsteuer einzuführen. Jeder in Deutschland muss wissen, dass durch eine
solche Steuer auch die Riester-Sparer, die einen Fondssparvertrag abgeschlossen haben, in Zukunft die Gekniffenen wären. Wir streiten also zu Recht; die Abgeordneten dieser Koalition haben unterschiedliche Positionen in
der Frage, wie es demnächst weitergehen soll.
Ich sage ganz klar: Wir brauchen Steueränderungen,
aber zum richtigen Zeitpunkt. Wir müssen darauf achten,
dass diese Veränderungen nicht zulasten der zukünftigen
Generationen gehen. Wenn das so wäre, würden uns unsere Kinder beschimpfen.
({6})
Wir müssen aber auch diejenigen entlasten, die den Karren aus dem Dreck ziehen. Das sind die ganz normalen
Facharbeiter, die heute durch die Höhe des Eingangssteuersatzes und steigende Steuern belastet werden. Es
darf nicht sein, dass zusätzliche Einkünfte von Menschen mit einem durchschnittlichen Verdienst mit Spitzensteuersätzen belastet werden, die ursprünglich für die
Reichen im Lande vorgesehen waren.
({7})
Spitzensteuersätze dürfen nur für Reiche gelten.
Wir müssen den Menschen möglichst viel von dem
lassen, was sie verdienen. Hier geht es gar nicht um
große Entlastungseingriffe; vielmehr geht es darum, dass
der Einzelne in Zukunft mehr übrig hat. Wir führen zurzeit, 2008 und 2009, das größte Entlastungsprogramm
für die Bürger seit vielen Jahren durch.
({8})
Es umfasst Steuerentlastungen in Höhe von 17 Milliarden Euro. Der erste Schritt dabei ist eine leichte Veränderung der Steuerkurve. Der nächste Schritt muss folgen. Das sind wir den Menschen im Lande schuldig.
({9})
Neben den Ansätzen bei der Steuerprogression gibt es
einen zweiten Punkt. Familien mit Kindern müssen in
diesem Lande anders gestellt werden. Da hilft meines
Erachtens unter sozialen Gesichtspunkten ein Steuerfreibetrag pro Kopf der Familie am besten. Das muss unsere
Konzeption sein. Deshalb bekenne ich mich nach wie
vor zu dem, was wir in Leipzig als unser Steuerkonzept
beschlossen haben: einfach, niedrig und gerecht; das
muss die Philosophie für die kommenden Jahre sein.
({10})
Die SPD und die Linken wollen Steuererhöhungen.
Die Grünen wollen das Ehegattensplitting abschaffen.
({11})
Wir wollen einen anderen Weg gehen. Darüber muss
man streiten und ganz offensiv diskutieren. Die FDP tut
so, als gäbe es die Verschuldung nicht. Da haben wir
Differenzen.
Wir müssen mit Vernunft handeln und zum richtigen
Zeitpunkt eine Steuerreform für die nächste Legislaturperiode vorsehen. Wir müssen unser Land wieder auf
Laurenz Meyer ({12})
Wachstumskurs bringen. Wir müssen die Krise überwinden. Das wird ohne die Union nicht gehen; das weiß jeder im Land, das weiß jeder hier im Parlament.
({13})
Auch beim Umgang mit der Krise hat sich gezeigt: Ohne
die Union geht es nicht.
({14})
Wir haben einen Fahrplan. Wir werden das den Bürgern
vor der Wahl vorlegen, und zwar in der ehrlichen Form,
wie wir das auch beim letzten Mal getan haben.
({15})
Das Wort hat nun Kollege Alexander Bonde, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
interessante Nachricht aus dem Beitrag des Kollegen
Meyer war die Ankündigung, es werde ein CDU-Wahlprogramm geben.
({0})
Das ist eine Neuigkeit. Wir alle sind gespannt.
Bei allem, was wir heute hier diskutieren, müssen wir
einmal ehrlich sagen, wie die Ausgangslage ist. Wenn
die FDP wieder einmal ankündigt, wie heute, sie habe
ein Konzept für den Weg aus der Krise - es besteht darin, Weihnachten auf Mai vorzuziehen -, dann ist das,
mit Verlaub, nicht das Maß an Ehrlichkeit, das die Menschen in dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation
brauchen.
Wir diskutieren hier im Aufgalopp zum Wahlkampf.
CDU/CSU und FDP versprechen Steuersenkungen in einer Situation, in der wir in der Bundesrepublik eine Rekordverschuldung haben. Selbst der Finanzminister, der
darum kämpft, von der Neuverschuldung noch möglichst viel unter den Teppich zu kehren, muss zugeben,
dass die Neuverschuldung inzwischen bei 55 Milliarden
Euro liegt. Wir müssen dann noch berücksichtigen: Bankenrettung, finanziert am Haushalt vorbei, in einem
Schattenhaushalt; Konjunkturpakete I und II - Schattenhaushalte. Bei den Lohnnebenkosten mauscheln Sie.
Auch die Bundesagentur für Arbeit entwickelt sich langsam zum Schattenhaushalt. - Wenn wir einmal alles zusammenzählen, um festzustellen, wie die Verschuldungssituation dieses Landes wirklich ist, dann kommen
wir für dieses Jahr schon fast auf eine Neuverschuldung
von 100 Milliarden Euro.
({1})
Es ist die Aufgabe dieses Parlaments, finde ich, auf der
Basis dieser Ausgangslage in aller Ernsthaftigkeit zu diskutieren.
Schauen wir uns die Bundesagentur für Arbeit einmal
genau an! 17 Milliarden Euro Puffer - innerhalb von einem Jahr aufgebraucht, zum Teil aus folgendem Grund:
Für den Gesundheitsfonds, den größten Murks dieser
Koalition, mussten Sie die Beitragssätze erhöhen, und
dann haben Sie getrickst, indem Sie zur Kompensation
bei dem Arbeitslosenbeitrag angesetzt haben. Das holt
Sie jetzt bei der Bundesagentur wieder ein. Auch der Gesundheitsfonds holt Sie ein. Wir werden schon in diesem
Jahr eine Diskussion über Milliardenzuschüsse des Bundes führen. Bei der BA ist für das nächste Jahr ein Defizit von 20 Milliarden Euro kalkuliert. Wie soll es gedeckt werden, wenn nicht aus dem Bundeshaushalt?
Beim Gesundheitsfonds ist es ähnlich.
In der Situation erwarten wir beim Bund Steuermindereinnahmen von 10 Milliarden Euro allein für dieses
Jahr, und das ist die optimistische Schätzung Ihres Finanzministers. Sie wissen, wie viel Sie drauflegen müssen, um zumindest in die Nähe der Realität zu kommen.
Wenn Sie in dieser Situation hier, in der Bundespressekonferenz oder auch an den Marktständen verkünden,
es gebe jetzt einen Dreiklang von Schuldentilgung, Investitionen in Innovation und steuerlicher Entlastung,
muss ich wirklich fragen, was Sie als Nächstes verkünden. Die Erde ist eine Scheibe - das wäre ein ähnlich realistischer Ansatz.
Ich finde, dass wir an dieser Stelle ehrlich sagen müssen, was geht und was nicht geht.
({2})
Sie müssen ehrlich sagen, was Sie wollen und was Sie
nicht wollen.
({3})
Schuldentilgung in dieser Konstellation, ergänzt um
Steuersenkungen, weitere Milliardenlöcher im Haushalt das kann man wollen, Herr Kollege Wissing; dann muss
man es hier aber auch sagen. Man kann natürlich auch
bei einem großen Posten, nämlich im Sozialbereich, kürzen wollen. Dann muss man aber auch sagen, Herr
Meyer, dass das die Konsequenzen aus den Forderungen
nach Steuersenkungen sind. Schenken Sie den Leuten
reinen Wein ein und sagen Sie offen, welches Programm
zur Wahl steht!
({4})
Noch schriller klingt es im Wahlkampf aus Bayern. Man
hat den Eindruck, der Kollege Seehofer will seine Steuersenkungen mit den grandiosen Gewinnen der
Bayern LB gegenfinanzieren. Das ist der Seriositätsgehalt der Debatte, die wir hier erleben.
Die Bürgerinnen und Bürger sind da weiter. In einer
aktuellen Umfrage wurde festgestellt, dass sich
68 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in der Krise gegen eine Neuverschuldung aussprechen. Ich glaube, dass
bei den Bürgerinnen und Bürgern schon vieles an Problemwahrnehmung angekommen ist, wovon Sie von
CDU/CSU und FDP offensichtlich noch weit entfernt
sind. Sie haben in der Krise in die Mottenkiste gegriffen
und die alte Schallplatte der Steuersenkungen herausgekramt, aber merken nicht, dass sie einfach nicht in den
iPod passt.
({5})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wachen Sie auf! Werden
Sie der Situation gerecht! Lassen Sie uns gemeinsam
über Antworten auf die Krise diskutieren. Lassen Sie uns
nicht so tun, als gäbe es keine Rekordverschuldung bei
gleichzeitig hohen Steuereinnahmen, als gäbe es keinen
massiven Investitionsbedarf in Bildung und soziale Gerechtigkeit, aber auch im Bereich ökologisches Umsteuern unserer Wirtschaft. Wenn Sie ernsthaft einen sinnvollen Kurs in diese Richtung einschlagen wollen, dann
geht das nicht über Steuererleichterungen. Lassen Sie
uns das den Leuten gemeinsam ehrlich sagen. Die Krise
ist nicht der richtige Zeitpunkt im Wahlkampf, um den
Leuten Honig ums Maul zu schmieren. Sie wissen
längst, was Ihr Honig kostet. Lassen Sie das bleiben!
Lassen Sie uns gemeinsam einen ehrlichen Wahlkampf
machen und um ehrliche Konzepte ringen und nicht solche Scheinrechnungen aufstellen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Kollege Florian Pronold für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seitens der FDP ist heute wieder eine richtig
spannende Rede gehalten worden. Alle anderen wurden
niedergemacht, es wurde kein einziges Wort über das eigene Konzept verloren - nicht eine einzige Silbe. Es
wurde nicht gesagt, wie Ihre Versprechungen finanziert
werden sollen und in welchen anderen Bereichen dafür
gekürzt werden soll. Das ist das Motto der FDP: Feuerwehr und Brandstifter zugleich; das beherrscht sie perfekt.
({0})
Vielleicht sollte man aber auch einmal die Fakten zur
Kenntnis nehmen. Als Sie an der Regierung waren, waren Steuerlast und Abgabenlast in Deutschland höher, als
sie es heute sind. Das ist Fakt.
({1})
Als die FDP mit an der Regierung war, sind die Steuern
erhöht worden. Seit die Sozialdemokratie regiert, sind
Steuer- und Abgabenlast gesenkt worden. Das ist Fakt.
Vielleicht nehmen Sie das einmal zur Kenntnis und erwähnen das in Ihren Reden der Ehrlichkeit halber zumindest.
({2})
Ich nenne ein Beispiel und vergleiche die Situation in
1998 mit der in 2005. Im Jahr 2005 hat eine Familie mit
durchschnittlichem Einkommen und zwei Kindern mit
der Kindergelderhöhung und den Steuersenkungen, die
wir vorgenommen haben, 2 500 Euro im Jahr
- 5 000 DM - mehr im Geldbeutel gehabt als zur Zeit
Ihrer Regierungsbeteiligung. Das können Sie doch nicht
leugnen. Das ist so.
({3})
Wollen Sie das bestreiten? - Das können wir jederzeit
nachrechnen.
({4})
Es ist schade, dass durch die etwas merkwürdige Debattenlage innerhalb der Union - ich habe der Ankündigung entnommen, dass es ein gemeinsames Wahlprogramm von CDU und CSU gibt; vermutlich darf sich im
Multiple-Choice-Verfahren jedes CDU- bzw. CSU-Mitglied den jeweiligen Punkt aussuchen - verdeckt wird,
was wir derzeit machen. Wir entlasten die Bürgerinnen
und Bürger mit der Kindergelderhöhung und den Maßnahmen im Konjunkturpaket sowie denen, die im Bürgerentlastungsgesetz geplant sind, in einer Größenordnung
von rund 20 Milliarden Euro.
({5})
Wenn wir die Änderungen der Sozialversicherungsbeiträge hinzunehmen, sprechen wir über eine Größenordnung von fast 40 Milliarden Euro. Da kann man doch
nicht so tun, als würde in diesem Bereich nichts geschehen.
({6})
Jetzt haben wir eine Wirtschaftskrise, wie wir sie seit
100 Jahren nicht hatten. Demnächst werden wir die
Steuerschätzungen vorgelegt bekommen. Man muss kein
großer Prophet sein, um zu wissen, wie diese aussehen
werden. Deshalb stellt sich die Frage: Was kann man seriös versprechen? Ich finde, seriös kann man nur etwas
versprechen, was man gegenfinanzieren kann. Ohne GeFlorian Pronold
genfinanzierung sind solche Versprechen mit Sicherheit
unseriös.
({7})
Wenn jetzt zusätzlich 30 oder 40 Milliarden Euro an
Steuerentlastungen versprochen werden, hat das dieselbe
Konsistenz wie seinerzeit die Aussage von Helmut Kohl,
die deutsche Einheit werde aus der Portokasse finanziert.
({8})
Auch das hat nicht funktioniert. Genauso wird es nicht
funktionieren, nach der Krise die höheren Schulden und
die Ausfälle in den sozialen Sicherungssystemen dadurch zu finanzieren, dass wir weniger Geld einnehmen.
Egal, mit welchem Dreisatz Sie das rechnen, diese Formel geht niemals auf.
({9})
Wir müssen, unabhängig von den anstehenden Wahlkämpfen, seriös bleiben.
Wenn wir das Steuersystem ändern - dagegen habe
ich nichts -, können wir gern auch über die Frage der
Progression reden. Es ist aber schon erstaunlich, lieber
Kollege Meyer, dass Sie noch nicht ganz verstanden haben, wie das Steuersystem funktioniert.
({10})
Wenn man nur den Eingangssteuersatz absenkt, ist die
Progressionswirkung im Verlauf der Kurve höher; das ist
richtig. Trotzdem zahlen alle weniger Steuern.
({11})
Wenn man den Eingangssteuersatz absenkt, ist sowohl
der Geringverdiener als auch der Besserverdiener steuerlich weniger belastet, selbst wenn die Progression höher
wird.
({12})
Wenn Sie nicht verstehen, wie das Steuersystem funktioniert, ist es gefährlich, darüber nachzudenken, es zu ändern, und falsche Versprechungen zu machen, um die
Wahlen zu gewinnen.
({13})
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Wer sich hier darüber beklagt, dass Deutschland
Exportweltmeister ist, hat wohl völlig vergessen, Frau
Kollegin Höll, worauf Wohlstand in Deutschland beruht.
Wohlstand beruht in Deutschland insbesondere darauf,
dass in der alten Bundesrepublik seit 1949 mit Innovation und Kreativität daran gearbeitet wurde, dass
Deutschland Exportweltmeister wurde. Wozu es führt,
wenn man Mauern zieht und nur auf Binnenwirtschaft
setzt, hat man 1989 in der ehemaligen DDR gesehen.
Um das nachzulesen, sollten Sie sich noch einmal den
Schürer-Bericht vom Oktober 1989 ansehen. Ich bin jedenfalls stolz darauf, dass jeder zweite Euro des Bruttosozialprodukts in Deutschland über den Export erwirtschaftet wird.
({0})
Ein Zweites. Wenn Sie sich heute darüber beklagen,
wie Schulen und Kindergärten aussehen, dann sollten
Sie sich daran erinnern, wie diese 1989 im Ostteil von
Berlin ausgesehen haben; Pflegeheime, Behinderteneinrichtungen und Krankenhäuser können Sie gleich mit dazunehmen.
Sie beklagen den Einbruch bei den Steuereinnahmen.
Dazu will ich Ihnen sagen - dies gilt auch für die Grünen -:
Wer im Juli 2000 eine Steuerreform beschlossen hat, die
dazu geführt hat, dass im Jahr 2001 das Aufkommen aus
der Körperschaftsteuer um 24 Milliarden Euro zurückgegangen ist - im Laufe der Jahre sind es kumulativ weit
über 120 Milliarden Euro gewesen -, wer wie die PDS in
Schwerin bei der Entscheidung im Bundesrat über die
Steuerfreistellung der Veräußerung von Kapitalbeteiligungen die Hand gehoben hat, wer also gewissermaßen
im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
({1})
- Sehr verehrte Frau Kollegin Höll, Sie, die PDS, haben
die entscheidenden drei Stimmen geliefert. Wenn die Regierung in Schwerin nicht zugestimmt hätte, hätte es ab
dem Jahr 2001 nicht solche Einbrüche bei der Gewerbesteuer gegeben.
Die Grünen sagen, wir hätten kein Konzept; Frau
Kollegin Dückert, diese Pressemitteilung stammt von Ihnen. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, warum uns
die beiden Volkswirte Frau Professor Weder di Mauro
und Herr Professor Bofinger in einer Anhörung im Wirtschaftsausschuss bestätigt haben, dass allein die Maßnahmen von 2008 und 2009 Konjunkturimpulse und
Entlastungen von insgesamt 48 Milliarden Euro und damit beim Bruttosozialprodukt einen Aufwuchs von
2 Prozent ergeben; darin sind die Auswirkungen des
Bürgerentlastungsgesetzes noch gar nicht enthalten. Das
heißt, das, was die Bundesregierung getan hat, führt zu
einem Konjunkturimpuls und einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von rund 60 Milliarden Euro. Wer
sagt, wir hätten kein Konzept, der, so muss ich sagen,
sitzt im falschen Film.
Einen Appell möchte ich insbesondere an die SPD
richten. Es gibt noch ein paar Baustellen. Als Politiker
muss man auch in der Lage sein, in einer Krise Fehler zu
korrigieren.
Erstens. Wir müssen dafür sorgen, dass die Istbesteuerung von Betrieben in Deutschland vereinheitlicht und
verlängert wird. Das heißt, dass die für die neuen Bundesländer geltende Regelung auch im Westen Deutschlands für Betriebe bis zu einem Jahresumsatz von
500 000 Euro gilt und diese Regelung im Osten weitergeführt werden muss. Diese Regelung läuft nämlich aus.
Dies würde nicht zu weiteren Steuerausfällen führen,
sondern würde lediglich eine Verschiebung mit sich
bringen. Es führt insbesondere für kleine Mittelständler
- gerade auch in den neuen Bundesländern - zu mehr
Liquidität, wenn diese erst dann ihre Mehrwertsteuer
zahlen müssen, wenn die von ihnen gestellte Rechnung
bezahlt ist.
Zweitens. Einige auch aus Ihren Reihen klagen darüber, dass es der Milchwirtschaft schlecht geht. Man
könnte sich auf den faulen Kompromiss einlassen, dass
die Länder den beim Agrardiesel bestehenden Selbstbehalt von 350 Euro übernehmen. Mit Blick auf die Senkung der Steuer auf Agrardiesel sollten wir hier aber
Korrekturen vornehmen.
({2})
- Herr Poß, Sie haben sich dagegengestemmt. Wir wollten eine flächendeckende Lösung für alle Milchbetriebe
in Deutschland. Das haben Sie verhindert. Das ist die
Wahrheit.
Lassen Sie mich als Letztes noch drei Komponenten
ansprechen. Wenn wir über eine Weiterführung von Opel
in Deutschland ernsthaft reden wollen, dann müssen wir
die Themen „Zinsschranke“, „Verlustvorträge“ und „Anrechnung von Mieten, Leasing und Pachten bei der Gewerbesteuer“ in den Griff bekommen.
({3})
Wenn wir dies nicht tun, dann brauchen wir über die
Rettung von Opel gar nicht zu reden.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat Reinhard Schultz für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
hat etwas Aufklärerisches an sich, was wir heute veranstalten. Auf der einen Seite wird gesagt, die Arbeit der
Regierung in dieser Wahlperiode sei aus einem Guss,
nachdem sich die Koalitionspartner geeinigt haben - wegen der Krise bis zum Anschlag. Das finde ich zunächst
einmal gut. Auf der anderen Seite besteht die Möglichkeit, die Unterschiede herauszuarbeiten, mit denen man
meint in die nächste Wahlperiode gehen zu können.
Wenn man sich diese Unterschiede allerdings anschaut,
dann muss man sich schon sehr wundern.
Ich glaube, es gibt keinen Streit darüber, dass die
Krise zu erheblichen Steuer- und Abgabenausfällen führen wird, dass wir in den nächsten Jahren aufgrund der
Bürgschaftsschirme eine erhebliche Risikolast zu bewältigen haben und dass es deswegen nur sehr wenig Spielraum geben wird, im Bereich der Steuern und Abgaben
unter dem Strich erheblich zu entlasten. Das bestätigt ein
einfaches Rechenexempel, bei dem man nur zwei von
den vier Grundrechenarten anzuwenden braucht.
Wer sich darüber hinwegsetzt, der erteilt gleichzeitig
eine klare Absage an jeden Versuch der Konsolidierung,
um wieder auf eine Neuverschuldung von Null herunterzukommen, wie wir sie uns eigentlich gemeinsam vorgenommen haben. Er predigt vielmehr die Maximierung
der Neuverschuldung durch eine Schuldenspirale nach
oben, die man sich in dieser Form gar nicht vorstellen
kann. Diese Versprechungen werden den Wählern von
heute gemacht, ohne an die Kinder und Kindeskinder
von morgen und übermorgen überhaupt nur einen Gedanken zu verschwenden.
({0})
- Das sagen genau die Richtigen.
Ich bin erstaunt darüber, dass die SPD geradezu solitär ist, dass sie die Krisenbewältigung und die Wachstumsimpulse auf der einen Seite und den Schuldenabbau
in der Zukunft auf der anderen Seite als Programm aus
einem Guss sieht und auch vertritt. Das ist möglicherweise sogar riskanter.
({1})
Neben dem Fresstrieb und dem Geschlechtstrieb gibt
es ja noch den Steuerspartrieb. Es kann im Wahlkampf
möglicherweise zu Erfolgen führen, ständig an diesen zu
appellieren. Es ist aber völlig unverantwortlich, daran zu
appellieren und die Zukunft der nächsten und der übernächsten Generation dabei gleichzeitig zu verfrühstücken.
({2})
Ich denke, dass wir mit unserem Steuerprogramm als
Bestandteil unseres Wahlprogramms - das ist ja das einzige Wahlprogramm, das es schon gibt; insofern kann
man darüber ernsthaft reden - sehr konkret darlegen,
dass wir insbesondere für die Empfänger kleinerer und
mittlerer Einkommen auf eine Entlastung im Rahmen
des Möglichen Wert legen. Deswegen wollen wir den
Eingangssteuersatz auf 10 Prozent senken. Dadurch wird
der Progressionsverlauf natürlich verändert. Wir lassen
dabei sogar einen gewissen Knick zu, weil wir in unserem Programm präzise sagen: Bis zu einem Einkommen
von circa 53 000 Euro für Alleinverdiener und circa
106 000 Euro für Verheiratete wollen wir eine Entlastung garantieren. Das ist angesichts der Einkommensverteilung in Deutschland, die sich im Laufe der letzten
Jahre zulasten der Empfänger kleiner Einkommen und
zugunsten der Besserverdienenden völlig verändert hat,
das einzig Verantwortbare, was man tun kann. In diesem
Zusammenhang sagen wir natürlich auch etwas zu den
Kinderfreibeträgen.
Reinhard Schultz ({3})
Ich finde es auch völlig richtig, dass wir sagen: Diejenigen, die durch eine Steuererklärung keine nennenswerte Rückzahlung erwarten können, erhalten einen Bonus, wodurch die Finanzverwaltung entlastet wird. Das
führt gleichzeitig dazu, dass die Betroffenen etwas besserstehen, als es ansonsten der Fall wäre.
({4})
Ich denke, dass man das als klare Kante bezeichnen
kann.
({5})
Diese Maßnahme wird dadurch gegenfinanziert, dass
wir Leute wie uns etwas stärker belasten. Ich finde das
völlig in Ordnung; es ist auch verantwortbar. Ich will
den Kanzlerkandidaten der SPD zitieren: Wegen der
47 Prozent, die wirklich gut Verdienende dann zu zahlen
hätten, muss keiner von ihnen an einem trockenen Kanten Brot kauen. - Ich finde, dadurch wird wirklich keiner
ärmer, und es stellt sich niemand schlechter. Die Besserverdienenden werden in die Verantwortung genommen,
um eine gerechtere Einkommensverteilung zu erreichen.
Sie werden gleichzeitig in die Pflicht genommen, gerade
im Lichte der Krise einen besonderen Beitrag für die
Finanzierung des Gemeinwesens zu leisten.
({6})
Ich denke, das ist darstellbar und finanzierbar. Alles andere sind Wolkenkuckucksheime, mit denen auf den dritten Trieb gezielt wird und die in der nächsten Wahlperiode nie im Leben Wirklichkeit werden würden.
Wenn ich mir anschaue, was innerhalb der CDU und
der CSU los ist, dann kann ich nur sagen: Viel Vergnügen! Der Mittelstand kommt mit einem eigenen Wahlprogramm. Es geht dabei um eine Steuerentlastung von
48 Milliarden Euro. Das ist schon eine interessante Größenordnung. Die Ministerpräsidenten rotten sich inzwischen gegen die Steuerentlastungsversprechen zusammen, die nicht eingehalten werden können. Das wird
sicherlich noch ganz munter. Machen Sie nur so weiter!
Wir sehen es mit einer stillen Zufriedenheit, wie sich die
Union im Augenblick steuerpolitisch aufstellt.
Die FDP tut beides: Im Sinne Ihrer alten Wahlprogramme fordern Sie eine Senkung für alle und Vereinfachungen unter dem Strich.
({7})
Gleichzeitig erklärt Guido Westerwelle: Das gilt natürlich nur unter dem Vorbehalt eines Kassensturzes. - Den
haben wir aber bereits gemacht. Bis 2013 haben wir unter dem Strich voraussichtlich etwa 300 Milliarden Euro
an Steuermindereinnahmen zu verkraften. Selbst wenn
es ein bisschen weniger sein sollte, was mich freuen
würde, trifft der Vorbehalt aufgrund dieser Größenordnung zu. Daher werden weder Sie von der FDP noch
CDU und CSU in der Lage sein, die Steuern nennenswert zu senken.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Überschrift dieser Aktuellen Stunde hat wenig mit der inhaltlichen Auseinandersetzung zu tun. Ich
verstehe gar nicht, warum Sie dieses Thema gewählt haben. In der Bundesregierung ist man sich einig. Deshalb
ist sie hier auch kaum vertreten.
({0})
Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf steuerpolitische Maßnahmen geeinigt. Die haben wir durchgeführt.
Bei neuen Problemen, die entstanden sind - zum Beispiel infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts
zu den Krankenversicherungsbeiträgen -, haben wir uns
in der Großen Koalition auf einvernehmliche Lösungen
geeinigt. Bis zum letzten Tag dieser Legislaturperiode
werden wir gemeinsam arbeiten.
Die Auseinandersetzung, die hier geführt wird, dreht
sich um die Frage, was welche Fraktion in der nächsten
Legislaturperiode will.
({1})
Das ist nicht Aufgabe der jetzigen Bundesregierung. Das
ist Aufgabe der Parteien, die sich um Wählerstimmen
bemühen. Nach der Wahl werden wir mehrere Parteiprogramme zusammenbringen müssen; denn es wird wahrscheinlich eine Koalition geben. Ich befürchte nämlich,
dass wir nicht die absolute Mehrheit erreichen werden.
Daher wird man sich dann wieder einigen müssen.
Die FDP hat zu diesem Thema ein Programm vorgelegt, aus meiner Sicht ein in vielen Punkten sehr vernünftiges Programm.
({2})
Auch die CSU hat einen Programmentwurf vorgelegt. Er
enthält aus meiner Sicht viel Vernünftiges.
({3})
Wir von der Union sind jetzt dabei, ein gemeinsames
Programm zu erarbeiten.
Wer in einer Zeit wie heute nicht zur Kenntnis nimmt,
dass die Frage, was man zum Thema Steuern in das gemeinsame Programm hineinschreibt, eine schwierige
Frage ist, der liest keine Zeitungen.
({4})
Es kristallisiert sich eine Formulierung für unser gemeinsames Programm heraus. Auch das weiß jeder, der
die Berichterstattung in den Zeitungen ein wenig verfolgt. Unsere Partei wird sich dafür einsetzen, dass in der
nächsten Legislaturperiode eine grundlegende Einkommensteuerreform durchgeführt wird; was die Regierung
hinterher daraus macht, werden wir sehen.
({5})
Das sage ich in aller Deutlichkeit.
({6})
Einkommensteuerreform heißt nicht schwerpunktmäßig
Senkung;
({7})
es heißt auch Senkung. Wir haben die drei Punkte, die
für uns wichtig sind, genannt:
An erster Stelle steht: einfacher. Ich weiß, dass wir
diesbezüglich in dieser Legislaturperiode nicht viel geleistet haben.
({8})
Es ist dennoch dringend notwendig - da gibt es keine
zwei Meinungen -, dass wir das Einkommensteuerrecht
vereinfachen.
({9})
Auch der zweite Aspekt - gerecht - ist leichter zu formulieren, als im Detail durchzusetzen. Ich glaube aber,
dass das notwendig ist. Schauen Sie sich die Diskussion
in Deutschland doch einmal an.
Es bleibt der dritte Punkt: geringere Steuern. Was
würde eigentlich passieren, wenn wir am Tarifverlauf
nichts ändern würden?
({10})
Auch wenn die Gehälter nur entsprechend der Inflationsrate steigen würden, müssten aufgrund des Tarifverlaufs
alle mehr Steuern zahlen. Das kann es doch nicht sein.
({11})
Die Sozialdemokraten haben ein Konzept vorgelegt,
das eine Entlastung von 10 Milliarden Euro bringen soll
- diese Zahl habe ich gelesen -, wovon einige Millionen
Menschen profitieren sollen. Ich halte den Bonus in
Höhe von 300 Euro eher für einen Wahlschlager. Auf der
anderen Seite sollen die Besserverdienenden stärker belastet werden. Nicht ohne Grund gehen die meisten
Deutschen, die auswandern, in die Schweiz oder nach
Österreich. Ich sage hierzu sehr deutlich: Wenn Sie noch
mehr vertreiben wollen, dann machen Sie das ruhig. Mit
höheren Steuersätzen bekommen Sie letztendlich weniger Geld. Das kann nicht das richtige Konzept sein.
({12})
Laut Ihrem Konzept - darauf bezieht sich die Auseinandersetzung - erhielte die Mehrzahl der Steuerpflichtigen überhaupt keine Erleichterung. So etwas können Sie
mit uns nicht machen. Wir wollen deshalb an den Tarifverlauf herangehen.
({13})
Ich sage sehr deutlich: Natürlich ist der Spielraum für
Senkungen kleiner geworden. Wir müssen aber etwas
unternehmen.
({14})
Andere Länder haben einen Tarif auf Rädern. Damit
wird der Tarifverlauf automatisch im Umfang der Inflationsrate verschoben.
Meine Damen und Herren, ich kann Sie beruhigen.
Die Union wird in Kürze - wir warten natürlich die Steuerschätzung ab; denn wir wollen uns an der Realität orientieren - einen gemeinsamen Vorschlag zum Thema
Einkommensteuer vorlegen. Darin wird manches stehen,
was heute schon im FDP-Programm und im CSU-Programm steht. Davon können Sie ausgehen. Damit werden wir vor die Wähler treten. Ich glaube, mehr Netto ist
das Entscheidende. Dafür werden wir uns mit unserem
Steuerkonzept einsetzen.
Danke schön.
({15})
Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich
dem Kollegen Bernhard Brinkmann für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man am
Schluss der Aktuellen Stunde drankommt, dann hat man
es im Vergleich zum letzten Redner in Debatten, nach
denen namentliche Abstimmungen folgen, ein ganz gewaltiges Stück leichter.
Herr Kollege Bernhardt, einem einfacheren, einem
gerechteren und einem transparenteren Steuersystem
stimme ich voll und ganz zu. Ich habe aber eine herzliche Bitte: Ersparen Sie uns den Professor aus Heidelberg, der alles durcheinandergebracht hat. Den dürfen
Sie kein zweites Mal aufbieten.
({0})
Bernhard Brinkmann ({1})
Seine Vorschläge führen nicht dazu, dass das Steuersystem einfacher, gerechter und transparenter wird.
({2})
Der Kollege Wissing von der FDP hat Korrekturen
bei der Unternehmensteuerreform gefordert. Dabei hat
er allerdings zwei zentrale Punkte ausgeblendet. Das zu
erwähnen, gehört auch zur Seriosität und Wahrheit dazu.
({3})
Herr Dr. Wissing, wenn Sie die Zinsschranke kritisieren, wie dies einige andere Redner auch getan haben,
dann müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass sich
damals, als Sie noch in diesem Hause mitbestimmt haben - das war noch in Bonn; das ist lange her, und es
wird auch noch lange dauern, bis Sie wieder mitzubestimmen haben -, der Körperschaftsteuersatz auf
45 Prozent belief, während er heute bei 15 Prozent liegt.
Franz Müntefering würde sagen: Es genügt Volksschule
Sauerland, um festzustellen, dass 15 in jedem Fall weniger ist als 45.
In der Frankfurter Rundschau vom 29. April heißt es:
Die besonders umstrittene Zinsschranke führt nach
einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung nur bei 600 Firmen zu einer
Mehrbelastung.
Bitte nehmen Sie auch das zur Kenntnis. Ihre Argumentation hinsichtlich des Mittelstandes entspricht nicht der
Realität.
Herr Kollege Meyer, Sie haben davon gesprochen,
dass die Krankenschwester oder der Facharbeiter den
Spitzensteuersatz zahlt. Ich weiß nicht, wie Sie dazu
kommen. Offensichtlich haben Sie lange Zeit keinen
Blick mehr in die Steuertabellen geworfen. Zahlen die
nämlich nicht! Selbst der Durchschnittssteuersatz des
Abgeordneten, der jetzt spricht - zusammenveranlagte
Ehegatten, also Berechnung nach Splitting-Tabelle, und
nur Einnahmen aus der Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter - liegt unter 20 Prozent. Das ist weit entfernt
von 42 Prozent. Und dann reden wir über eine Größenordnung jenseits der 80 000 Euro. Das sind rund
160 000 DM. Wenn eine Krankenschwester oder ein
Facharbeiter das verdienen würde, wären sie gern bereit,
einen Durchschnittssteuersatz von 20 Prozent zu zahlen.
Das ist also weit weg von dem, was Sie hier zum Besten
gegeben haben.
({4})
Ich will noch eines dazu sagen, um weiter bei der
Wahrheit zu bleiben.
({5})
Herr Kollege Kalb, in Ihrem Wahlprogramm 2005 war
die Absicht enthalten, die steuerfreien Zuschläge für
Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit für die Krankenschwester, für den Facharbeiter, für den Busfahrer und
für die Altenpflegerin abzuschaffen. Das wären Nettoeinbußen in einer Größenordnung von bis zu 300 Euro
pro Monat gewesen. Auf die Frage, wie das ausgeglichen werden soll, ist geantwortet worden: Dies sollten,
bitte schön, die Tarifpartner regeln. - Das hätte bedeutet,
dass es seit dem Jahr 2006 Einkommenssteigerungen
von mehr als 10 Prozent hätte geben müssen.
({6})
Daher geht diese Rechnung auch nicht auf, Herr Kollege
Michelbach.
({7})
Wir sollten auch nicht so tun, als hätten wir gegen die
Krise, in der unser Land und alle anderen Länder auf der
Welt sind, nichts unternommen. Wenn man alle Entlastungen, die bereits im Gesetzblatt stehen oder im Zusammenhang mit dem Bürgerentlastungsgesetz noch auf uns
zukommen, addiert, dann sieht man, dass die Entlastungen bei ungefähr 50 Milliarden Euro liegen. Dies erreichen wir durch Maßnahmen im Bereich von Steuern und
Abgaben, durch Anpassung des Kindergeldes und der
Grundfreibeträge sowie durch Anpassungen bei den
ALG-II-Empfängern. Dieses Geld kommt zu Recht bei
denen an, die es jeden Tag bitter nötig haben.
({8})
Wer jetzt über Steuersenkungen nachdenkt, wer jetzt
den Menschen verspricht, man könnte eben mal so Steuersenkungen in Höhe von 40 oder 50 Milliarden Euro in
2010 und den Folgejahren auf den Weg bringen, handelt
fahrlässig, verantwortungslos und unseriös. Darum ist
das mit der SPD nicht zu machen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Kinderpornographie in Kommunikationsnetzen
- Drucksache 16/12850 Überweisungsvorschlag:
Auschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Auschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Schauerte für die Bundesregierung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinderpornografie ist ein abscheuliches Verbrechen. Kinder
werden missbraucht, und anschließend wird der Missbrauch vermarktet und damit Geld verdient. Man muss
sagen: Sie werden missbraucht, um damit Geld zu verdienen. Dabei werden die Opfer immer jünger; betroffen
sind kleine, ja sogar kleinste Kinder. Da packt alle das
kalte Grauen.
Selbstverständlich muss man diese Verbrechen an der
Wurzel bekämpfen, die Kriminellen ergreifen und ihrem
Tun ein Ende setzen. Das geschieht mit allen Mitteln, die
den Polizeibehörden und dem Rechtsstaat zur Verfügung
stehen. Leider reichen der Arm des deutschen Gesetzes
und der Zugriff der deutschen Behörden nicht über die
deutschen Grenzen hinaus. Dabei leistet das Internet inzwischen - manchmal allein durch die technischen Möglichkeiten - den traurigen Dienst, gewerbsmäßige Verbreitung von Kinderpornografie zu erleichtern.
In vielen Ländern ist es längst gängige Praxis, dass
die Internetzugangsvermittler Sperrmaßnahmen vornehmen. Diese Länder wurden schon oft genannt: Norwegen, Dänemark, Schweden, Finnland, Italien, die
Schweiz, Neuseeland, Großbritannien, Südkorea, Kanada und Taiwan. Mir ist nicht bekannt, dass es in diesen
Ländern Diskussionen darüber gibt. Im Gegenteil: Die
Sperrmaßnahmen sind gesellschaftlich akzeptiert.
Für mich ist es unerträglich, dass Kinderpornografie
in Deutschland leichter zugänglich ist als anderswo. Die
Bundesregierung hat darüber unter Federführung von
Ministerin von der Leyen in den letzten Wochen und
Monaten intensive Gespräche und Verhandlungen mit
der betroffenen Wirtschaft geführt. Dabei sind zwei
Dinge deutlich geworden: Erstens. Die Access-Provider
sind dazu bereit, den Zugang zu kinderpornografischen
Inhalten zu erschweren. Fünf große Unternehmen haben
sich inzwischen auf vertraglicher Basis dazu verpflichtet. Das wird sehr begrüßt. Zweitens. Wir brauchen eine
darüber hinausgehende gesetzliche Regelung; diese haben wir sehr kurzfristig erarbeitet.
Lassen Sie mich die wichtigsten Punkte hervorheben.
Alle großen Internetzugangsanbieter werden verpflichtet, durch geeignete technische Maßnahmen den Zugang
zu kinderpornografischen Inhalten zu erschweren. Basis
sind täglich aktualisierte Sperrlisten des Bundeskriminalamtes. Aus präventiven Gründen wird gegenüber den
betroffenen Nutzern durch eine Stoppmeldung klargestellt, warum der Zugang zu einem kinderpornografischen Angebot erschwert wird.
({0})
Die Zugangsanbieter haften nur, wenn und soweit sie
die Sperrliste des Bundeskriminalamts nicht ordnungsgemäß umsetzen. Diese Begrenzung muss sein; sonst
könnte man auch für etwas in Haftung genommen werden, das man beim besten Willen nicht erkennen oder
nicht verhindern kann. Das muss vermieden werden. Wir
wollen Betreiber nicht zu Unrecht kriminalisieren. Das
ist eine schwierige Grenzziehung.
Die anfallenden Daten können für die Strafverfolgung
genutzt werden, soweit hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Da mit den Regelungen gesetzgeberisches Neuland betreten wird, sollen sie innerhalb
von zwei Jahren nach Inkrafttreten evaluiert werden. Wir
gehen also an dieses Thema mit Festigkeit und Vorsicht
heran.
Noch ein Wort zu dem gelegentlich vorgebrachten
Vorwurf, wir wollten hier die Tür für Internetzensur öffnen. Ich sage ganz deutlich: Darum geht es hier nicht.
Das wollen wir auch nicht ansatzweise.
({1})
Aber Informations- und Kommunikationsfreiheit sind
nicht schrankenlos. Sie finden ihre Grenzen in den allgemeinen Gesetzen. Hier geht es darum, den Zugang zu
strafbaren, insbesondere kinderpornografischen Angeboten zu erschweren.
({2})
Wir können nicht zulassen, dass Kinderpornografie
durch unsere Kommunikationsnetze zirkuliert, wenn wir
etwas dagegen unternehmen können.
({3})
Mir ist klar, dass das Gesetz kein Allheilmittel ist.
Aber es ist ein weiterer Baustein in der Gesamtstrategie
der Bundesregierung, Kinder zu schützen und diesen
Markt, soweit es geht, auszutrocknen. Jetzt ist es Zeit,
entschlossen zu handeln; denn uns alle eint das Ziel:
Mehr Schutz für Kinder!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Max Stadler für die FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Schauerte hat seinen Beitrag mit
dem Satz begonnen, dass Kinderpornografie ein abscheuliches Verbrechen ist. Dem stimmen wir voll und
ganz zu.
({0})
Die Täter müssen konsequent verfolgt und die Straftaten
geahndet werden.
({1})
Kinderpornografische Seiten im Netz müssen, wo immer
das möglich ist, gelöscht werden. Es reicht nicht, nur den
Zugang zu erschweren. Auch die Seiten müssen, wie gesagt, gelöscht werden.
({2})
An dieser Stelle würde ich meinen Diskussionsbeitrag
am liebsten beenden. Man läuft nämlich Gefahr, bewusst
missverstanden zu werden, wenn man zu Ihrem Gesetzentwurf kritische Fragen stellt. Solche kritischen Fragen
muss man aber stellen, weil noch nicht alles richtig ausdiskutiert ist, was Sie uns hier vorlegen.
Das beginnt schon mit der Gesetzgebungskompetenz.
Sagen Sie nicht, das sei eine Petitesse am Rande. Nein,
der Bund darf nur das regeln, wofür er zuständig ist. Sie
meinen, es gehe um Wirtschaftsrecht und damit sei der
Bund zuständig. Wir sagen: Hier geht es - genau das haben Sie ausgeführt, Herr Staatssekretär - um die Abwehr
von Straftaten, also um Prävention und Gefahrenabwehr.
Das ist nach unserer Verfassungsordnung Ländersache.
Darüber muss man in den weiteren Beratungen ernsthaft
reden.
({3})
Immerhin legen Sie jetzt einen Gesetzentwurf vor.
Die vertragliche Regelung wäre rechtsstaatlich auf keinen Fall ausreichend gewesen; denn es geht um Grundrechtseingriffe. Bei dem Gesetzentwurf, den Sie vorlegen, stellen sich dennoch weitere Fragen. Die erste Frage
lautet: Greifen Sie überhaupt zu tauglichen Mitteln? Ich
habe schon erwähnt, dass auf der Grundlage Ihres Gesetzentwurfs kinderpornografische Seiten keineswegs
gelöscht werden sollen. Vielmehr wird dadurch nur der
Zugang erschwert. Die Zugangserschwernis ist aber
leicht zu umgehen; das sagen uns die Fachleute aus der
Computerbranche.
Ist das noch ein taugliches Mittel, wenn man es so
leicht umgehen kann und wenn die hauptsächlichen Verbreitungswege von Kinderpornografie in sogenannten
Peer-to-Peer-Gruppen von den Maßnahmen in Ihrem
Gesetzentwurf gar nicht erfasst werden? Die Frage nach
der Tauglichkeit einer Regelung ist sehr wohl zu stellen;
denn der Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit
der Eingriffsmittel umfasst eben auch das Erfordernis,
dass Eingriffe tauglich sein müssen.
({4})
Ich komme zu einem weiteren Punkt, der uns Sorgen
macht. Wollen wir wirklich, dass eine Polizeibehörde,
und zwar nur sie, einen Eingriff in ein Grundrecht, nämlich die Informationsfreiheit, formuliert und dafür Vorgaben macht? Ist das der richtige Weg, oder braucht man
nicht zumindest einen Richtervorbehalt? Als Beispiel
nenne ich Gremien, die entsprechende Entscheidungen
im Falle von jugendgefährdenden Schriften treffen. Da
ist in Ihrem Gesetzentwurf noch nicht alles zu Ende gedacht.
Es gibt im Übrigen einen entscheidenden Punkt, wo
wir Sie beim Wort nehmen müssen, da Sie gerade den
Ausführungen des Staatssekretärs Beifall gezollt haben.
In der Gesetzesbegründung heißt es, dass mit diesem
Gesetz der Kampf gegen kinderpornografische Seiten
gesetzlich abgesichert werden soll. So weit, so gut. Dem
stimmen wir zu. Aber dann folgt ein wichtiger Satz:
Eine Ausweitung auf andere Zwecke ist nicht beabsichtigt.
Meine Damen und Herren, das ist eine gute Absicht. Allein uns fehlt der Glaube,
({5})
weil wir in der Vergangenheit häufig genug erlebt haben,
dass Sie weitere Eingriffe vorgenommen haben.
Nehmen wir das aktuelle Beispiel heimlicher Onlinedurchsuchungen. In den Diskussionen in diesem Hause
hieß es, dass sie nur ausnahmsweise und nur zur Bekämpfung des Terrorismus durchgeführt werden sollen.
Aber schon wenige Monate nach der Verabschiedung
dieses Gesetzes wurde die Forderung erhoben, die Regelungen auf weitere Bereiche auszudehnen. Deswegen
sage ich: Bei allen Maßnahmen, über die wir jetzt diskutieren, muss völlig klar sein, dass man nicht weitergehen
darf.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sind Sie allerdings weiter gegangen als in der vorherigen Debatte angekündigt. Nach Ihrem Gesetzentwurf wird künftig auch
derjenige, der nur versehentlich auf eine gesperrte Seite
gerät und gar nicht weitersurft, dem Bundeskriminalamt
gemeldet; das ist zumindest zulässig, also wird es auch
geschehen. Wollen wir das? Ist das noch verhältnismäßig? Oder wollen wir die wirklichen Täter aufspüren?
({6})
Mein Fazit: Sie verfolgen mit Ihrem Gesetzentwurf
eine gute Absicht. Kinderpornografie muss bekämpft
werden; das ist auch die Position der FDP. Aber über die
Ausführung, die Sie vorschlagen, werden wir in den
Ausschüssen noch sehr gründlich diskutieren müssen.
Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
({7})
Das Wort hat nun Kollege Martin Dörmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schauerte, ich bin gerne bereit, mit Ihnen
zu diskutieren. Allerdings wundere ich mich, dass Sie
hier zwar einige Bedenken vorgetragen haben, aber noch
nicht einmal eine Anhörung beantragen wollen.
({0})
Das passt aus meiner Sicht nicht zusammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Internet gewinnt im Zusammenhang mit der weltweiten Kommunikation immer mehr an Bedeutung. Von Tag zu Tag wachsen die Möglichkeiten, sich im Internet zu informieren
und mit anderen Nutzern in Kontakt zu treten. Das stärkt
die Entfaltungsmöglichkeit jedes Einzelnen von uns
ebenso wie die Entwicklung demokratischer Inhalte. Der
kulturelle Austausch bereichert uns alle. Diese positiven
Wirkungen des freien Internets gilt es auch für die Zukunft zu bewahren und zu sichern.
Wie im richtigen Leben gibt es im Hinblick auf das
Internet neben zahlreichen Chancen aber auch ernst zu
nehmende Gefahren, denen wir uns stellen müssen.
Ebenso schnell wie sich im Internet Liebesgrüße und demokratische Inhalte verbreiten lassen, ist dies auch hinsichtlich rechtswidriger Inhalte und krimineller Handlungen möglich. Daher stellen sich die grundsätzlichen
Fragen: Ist das Internet ein rechtsfreier Raum?
({1})
Sehen wir tatenlos zu, wenn über das Internet schwerwiegende Straftaten begangen und rechtswidrige Inhalte
verbreitet werden?
Diese Fragen werden von der deutschen Rechtsordnung beantwortet, zumindest für Deutschland.
({2})
Wer über das Internet die Rechte anderer verletzt oder
Straftaten begeht, kann selbstverständlich gerichtlich belangt werden. Es ist also keineswegs so, dass unsere
Rechtsordnung sagt: Es ist egal, was im Internet passiert. Das ist auch gut so.
Wie sieht es beim Thema Kinderpornografie aus, um
das es im vorliegenden Gesetzentwurf geht? Wer kinderpornografische Inhalte ins Internet stellt, macht sich
strafbar. Deshalb nehmen die Internetprovider in
Deutschland entsprechende Inhalte schon nach heutiger
Rechtslage von ihren Servern. Die Forderung, die Sie an
dieser Stelle erhoben haben, ist also bereits erfüllt.
In Deutschland macht man sich auch dann strafbar,
wenn man vorsätzlich eine Seite mit kinderpornografischem Inhalt aufruft, um sich in den Besitz der eingestellten Fotos oder Filme zu bringen. In Bezug auf kinderpornografische Inhalte gilt in Deutschland eine sehr
weit reichende Strafbarkeit. Derartige Straftaten werden
hierzulande auch entsprechend verfolgt.
Heute geht es um ein besonderes Problem. Was nützen all die Erfolge bei der Strafverfolgung in Deutschland, wenn die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Ausland von Tag zu Tag dramatisch zunimmt?
Selbst dann, wenn es durch die Anwendung von Rechtshilfeabkommen gelingt, die Täter im Ausland ausfindig
zu machen und an sie heranzukommen - das ist allerdings nur in einigen Ländern möglich -, stellt man häufig fest, dass diese bereits andere Adressen haben. Kapitulieren wir vor diesem Umstand?
({3})
Schließlich hat nicht nur die Menge der kriminellen Inhalte stark zugenommen, sondern gleichzeitig ist auch
die Tendenz zu immer jüngeren Opfern festzustellen. Erschwerend kommt hinzu: Zunehmend werden solche
kinderpornografischen Inhalte auch von Jugendlichen in
Deutschland gesehen. Heranwachsende, die aus sexueller Neugier im Internet surfen, kommen immer häufiger
ungewollt auf Seiten mit kinderpornografischen Inhalten. Es liegt auf der Hand, dass hier besondere Gefahren
für die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bestehen.
Nun würden alle Eltern, wenn sie könnten und davon
wüssten, sicherlich dafür sorgen, dass ihr Kind solche Inhalte über das Internet nicht abrufen kann. Doch wer
weiß schon davon? Ich glaube, es ist vor diesem Hintergrund eine staatliche Verpflichtung, im Fall der Kinderpornografie - das ist ein besonderer Fall - dafür zu
sorgen, dass der Zugang zumindest erschwert wird. Wir
wissen, dass wir den Zugang niemals vollständig unterbinden können, weil es immer technische Umgehungsmöglichkeiten geben wird. Wir dürfen aber nicht tatenlos
zusehen, dass die Hemmschwelle im Internet immer
mehr gesenkt wird. Vielmehr kommt es darauf an, die
Hemmschwelle wieder heraufzusetzen. Dem dienen die
im Gesetzentwurf vorgesehene Sperrung von Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten und die Umleitung auf die Stoppseite, auf der entsprechende Warnhinweise gegeben werden. Das erhöht die Hemmschwelle.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat stets deutlich gemacht, dass sie für ein solches Vorgehen eine gesetzliche
Grundlage einfordert, damit rechtsstaatliche Grundsätze
gewahrt werden. Schließlich geht es hier um einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis, der eine klare gesetzliche Regelung erfordert. Auch die betroffenen deutschen
Internetprovider haben immer wieder eine klare Rechtsgrundlage gefordert. Dem kommen die Koalitionsfraktionen mit diesem Gesetzentwurf nach. Selbstverständlich werden wir im weiteren parlamentarischen
Verfahren prüfen, inwieweit es noch Verbesserungsbedarf gibt.
Ich finde es gut, dass nun eine intensive Diskussion
über den Umgang mit Kinderpornografie und dem freien
Internet begonnen hat. Wir alle sind gut beraten, diese
Debatte sehr sensibel zu führen. Wir wissen, dass viele
Menschen, die sich täglich im Internet bewegen - ich
sage einmal: die Internetcommunity -, mit diesem Gesetz Sorgen verbinden. Es geht hierbei aber eben nicht
um eine Internetzensur. Es geht um die Bekämpfung krimineller Handlungen und Inhalte in einem ganz besonders gelagerten Fall.
({4})
Die Freiheit eines jeden Einzelnen muss hier ihre Grenze
haben, weil es um schwere Straftaten geht. Vor allem
geht es um eine Personengruppe, die in besonderer
Weise schutzbedürftig ist, nämlich um missbrauchte
Kinder.
({5})
Der Markt für Kinderpornografie muss, so gut es eben
geht, nach und nach ausgetrocknet werden, mit allen angemessenen und rechtsstaatlichen Mitteln.
({6})
Dass es, um Kinderpornografie weltweit effektiv zu bekämpfen, weiterer Maßnahmen bedarf, wissen wir. Die
SPD-Bundestagsfraktion hat hierzu gestern ganz aktuell
einen Zehnpunkteplan vorgelegt.
({7})
- Wir werden Ihnen diesen Zehnpunkteplan gern zur
Verfügung stellen.
Um es, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf den
Punkt zu bringen: Es gibt kein Recht darauf, im Internet
die Vergewaltigung Sechsjähriger betrachten zu können.
Genauso deutlich sage ich: Es geht auf der anderen Seite
auch nicht darum, sämtliche rechtswidrigen Inhalte im
Internet zu kontrollieren und aus dem Netz zu entfernen.
Ein solcher Eingriff wäre völlig unverhältnismäßig und
würde das freie Internet grundsätzlich infrage stellen. So
etwas steht aber - auch wenn Teile der Opposition suggerieren, dass dem so wäre - überhaupt nicht zur Debatte.
({8})
Der Einsatz für ein freies Internet wird nicht dadurch
gewonnen, dass man in Kauf nimmt, dass kinderpornografische Inhalte verbreitet werden. Im Gegenteil: Es besteht die Gefahr, dass so auf Dauer das Internet insgesamt diskreditiert wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns die
parlamentarischen Beratungen dazu nutzen, klare Kriterien zu entwickeln, auch im Hinblick auf gute datenschutzrechtliche und Verfahrensregeln. Der Schutz missbrauchter Kinder und die Rechte der Internetnutzer
schließen sich nicht aus. Wir sind in der Pflicht, beidem
gerecht zu werden.
Vielen Dank.
({9})
Nun hat Kollege Jörn Wunderlich für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundesregierung legt heute den Gesetzentwurf von Frau von der Leyen - die ich hier übrigens
vermisse; es ist ja eigentlich ihr Thema ({0})
zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen vor. - Sagen wir es so: Frau von der Leyen
hat das zu ihrem Thema erhoben. - Bei diesem Gesetzentwurf geht es um technische Einrichtungen, die den
Zugang zu Internetseiten, welche Kinderpornografie enthalten, und zu Internetseiten, die auf derartige Seiten
verweisen, erschweren sollen. Dies alles soll zunächst
dadurch erreicht werden, dass der Domain-Name gesperrt wird. Ich betone: zunächst. Denn wie Frau von der
Leyen ausgeführt hat, sollen die Sperren technikoffen
sein. Das heißt, eine Erweiterung der Sperren ist jederzeit möglich.
Man kann es gutheißen, dass der Zugriff auf solche
Seiten erschwert wird. Aber was soll damit erreicht werden? Der Titel des Gesetzentwurfs suggeriert die Bekämpfung von Kinderpornografie.
({1})
- Herr Singhammer, Sie haben es nicht begriffen. Diese Suggestion wird bewusst falsch hervorgerufen.
({2})
In der Anhörung im Unterausschuss Neue Medien zu
dieser Frage haben alle Sachverständigen unisono bestätigt, dass derartige Sperren wirkungslos sind.
({3})
Gegenwärtig kursiert im Internet ein Video, das zeigt,
wie diese Sperren umgangen werden können. Das Video
dauert 27 Sekunden.
Im Übrigen werden die Seiten nicht aus dem Netz
entfernt. Es gibt praktisch nur einen löcherigen Sichtschutz. Die Regierung muss sich fragen lassen, warum
man nicht gezielt gegen die Anbieter vorgeht.
({4})
Laut Begründung des Gesetzentwurfes soll die Kinderpornografiebeschaffung binnen eines Jahres um
111 Prozent zugenommen haben; die Zahl der Fälle ist
von 2 936 auf 6 206 gestiegen. Das ist ein alarmierendes
Signal. Aber was steckt hinter diesen Zahlen?
Ausweislich eines Artikels in der Computerzeitschrift
ct handelt es sich dabei um die Zahl von Ermittlungsverfahren, die überwiegend eingestellt worden sind. Laut ct
hat der Pressesprecher des Ministeriums dazu geäußert,
dass es sich - ich zitiere - um „nicht zu widerlegende
Fakten“ handelt, wobei der Umstand, dass die Verfahren
eingestellt worden sind, nicht belege, dass die Taten
nicht begangen worden sind, allerdings auch nicht das
Gegenteil.
({5})
Das heißt so viel wie „Ich sage nicht, dass es nicht sein
kann, aber ich sage auch nicht Ja“, oder auch, das Minis23882
terium zieht als Hauptargument für dieses Gesetz unwiderlegbare Fakten heran, die niemand belegen kann.
({6})
Das unbelegte Argument von Frau von der Leyen, mit
dieser unwirksamen Sperre die Anbieter empfindlich zu
treffen, da weniger Geld eingehe, sieht das LKA Niedersachsen ganz anders. Laut ct wird Kinderpornografie
nach Angaben der Polizei in der Regel über den Postweg
an zahlende Kunden versandt. Das hat auch Herr Stadler
schon ausgeführt. Das Internet diene zwar der Kommunikation, nicht aber als Transportmedium.
({7})
Dass durch Sperren Klicks auf Kinderpornoseiten
verhindert werden, wird auch von Fachleuten der Internetwirtschaft bezweifelt. Sie gehen davon aus, dass ein
Großteil der Klicks durch die sogenannten Suchmaschinen verursacht wird. Seitens des Ministeriums werden
immer wieder Vergleiche mit dem Access-Blocking in
Skandinavien gezogen. Diese Vergleiche hinken laut
Aussagen der Sachverständigen. Zwar gibt es Zahlen
über die geblockten Seitenaufrufe - ob sie durch Suchmaschinen verursacht sind, weiß niemand -, es gibt aber
keine Zahlen darüber - deshalb kann man auch keine
Rückschlüsse ziehen -, ob sich ein geblockter Nutzer anschließend auf anderem Wege Zugang zu der Webseite
verschafft hat.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die kürzlich
öffentlich gewordenen geheimen Sperrlisten aus Dänemark zu 90 Prozent keine Seiten mit Kinderpornografie
betrafen.
Vertreter von UNICEF haben mir bestätigt, dass das,
was in Skandinavien geschieht, zwar schön klingt, aber
kaum Wirkung entfaltet, schon gar nicht im Kampf gegen Kinderpornografie. Der Chef der Ermittlungsgruppe
gegen Kinderpornografie in Stockholm hat gegenüber
dem Focus erklärt, dass die Sperrmaßnahmen nicht dazu
beitragen, die Produktion von Webpornografie zu vermindern. Wann ist mit einem Gesetzentwurf zu rechnen,
mit welchem dem Ansinnen der Bekämpfung von Kinderpornografie Rechnung getragen wird und in dem
wirksame Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch von
Kindern aufgezeigt werden?
Inzwischen liegt eine Petition mit etwa 35 000 Unterschriften vor, welche fordert, dass der Bundestag eine
Änderung des Telemediengesetzes ablehnt, da die Sperrung der durch das BKA indizierten Seiten zu undurchsichtig und unkontrollierbar sei und damit das Grundrecht auf Informationsfreiheit gefährde. Herr Stadler hat
dazu schon Ausführungen gemacht.
In diesem Punkt haben die Petenten recht: Die Listen
der zu sperrenden Seiten sind geheim und können nicht
überprüft werden. Im Gesetzentwurf steht ausdrücklich,
dass durch dieses Gesetz auf alle Fälle das Grundrecht
des Fernmeldegeheimnisses eingeschränkt wird. Inwieweit Art. 5 des Grundgesetzes tangiert wird, wäre dann
noch zu prüfen.
Es bleibt die Sorge gegenüber Zensur und Internetüberwachung, für die die Union aber auch selbst sorgt.
In der Pressemeldung vom 25. März 2009 der Kollegen
Börnsen und Dr. Krings wird insbesondere klargestellt,
dass es nicht um Kinderpornografie alleine geht. Erst
heute hat die SPD in der Berliner Zeitung gewarnt, dass
es schon Forderungen nach Sperrung von Webseiten mit
Killerspielen oder Lotteriespielen gibt und damit die Gefahr besteht, dass das freie Internet in Gefahr ist.
Bereits am 22. April 2009 hat der Rheinische Merkur
die Meldung gebracht, dass der Vorstandsvorsitzende des
Bundesverbandes Musikindustrie, Dieter Gorny, eine
staatliche Kontrolle des Internets gutheißt, da dazu auch
der Schutz des geistigen Eigentums gehöre. Ob die Regierung die Sorge um die Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses ausräumen will, bezweifle ich. In der Regierungsbefragung in der letzten Woche ist Frau von der
Leyen - sie ist leider nicht da - mir die Antwort auf
meine diesbezügliche Frage schuldig geblieben. Eine
Absichtserklärung reicht uns jedenfalls nicht.
Ich denke, es ist an der Zeit, endlich wirkungsvoll aktiv zu werden und die Strafverfolgungsbehörden entsprechend sachlich und personell auszustatten,
({8})
statt verpuffende Maßnahmen ohne Hilfe für die Opfer
als Riesenerfolg zu feiern und zugleich Herrn Schäuble
Tür und Tor zu öffnen. Da stehen wir von der Linken im
Schulterschluss mit dem Bund Deutscher Kriminalbeamter und auch mit Mitgliedern der Gewerkschaft der
Polizei. Es sollte nicht darum gehen, zu versuchen, Seiten unsichtbar zu machen, sondern darum, sie wirklich
aus dem Netz zu entfernen und die Täter zu verfolgen.
Ich kann nur wiederholen: Wir sollten an die Opfer denken und nicht an die nächsten Wahlen.
({9})
Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über eines brauchen wir wirklich nicht zu streiten - das ist für
uns Grüne keine Floskel, die man dieser Debatte voranschicken muss -: Kinderpornografie ist eine der widerlichsten Formen von Kriminalität. Man macht Geschäfte
mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern, traumatisiert sie und zerstört Lebenswege, nur um im Ergebnis
Kapital daraus zu schlagen. Wer dieses perverse Geschäft betreibt, der kann sich unseres Erachtens weder
auf die Freiheit des Internets noch auf die Informationsfreiheit berufen.
({0})
Wir sagen ganz deutlich: Kinderpornografie im Internet
ist mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu bekämpfen. Der
Rechtsstaat ist nicht wehrlos. Das gilt auch hier. Aber im
Rechtsstaat gilt nicht der Satz: Not kennt kein Gebot.
Der Rechtsstaat lebt davon, dass er transparente und
nachvollziehbare Regularien hat.
Wenn ich dies als Maßstab an den von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf anlege, dann muss ich leider sagen: Der Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung fällt
durch den Rechtsstaat-TÜV. So geht es nicht.
({1})
Der Kollege Stadler hat schon einige kritische Punkte
genannt. Man muss nach unserer Zuständigkeit fragen.
Hier wird mit der Regulierung der Wirtschaft argumentiert. Diese Argumentation gab es schon in der Diskussion über die Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene.
Da es um Kriminalitätsbekämpfung und Kriminalitätsprävention geht, stellt sich die Frage, ob der Weg einer
herangezogenen Bundeszuständigkeit tatsächlich richtig
ist.
({2})
Man hätte das Telemediengesetz und den Rundfunkstaatsvertrag ändern können. Dann wäre man im bisherigen System geblieben. Das wollte man aber nicht. Nun
begibt man sich auf ganz dünnes Eis.
Dasselbe gilt für das Bundeskriminalamt. Wie haben
wir uns hier gestritten, ob wir ihm eine Präventivkompetenz im Kampf gegen den internationalen, grenzüberschreitenden Terrorismus geben sollen! Nun wird auf
einmal eine solche Präventivkompetenz - es geht nur um
präventive Schritte - unterstellt, und zwar mit Zentralstellenfunktion, was auch immer das sein soll. Auch dies
ist sehr kritisch zu sehen. Das ist aber nicht unser Hauptkritikpunkt.
Unser Hauptkritikpunkt ist folgender: Wir haben gehört, dass das Sperren von Internetseiten nur begrenzt
wirkt; das hat der Kollege Wunderlich gesagt. Das ist so,
als ob man einen Vorhang vor einem Kriminalitätsopfer
herunterfallen ließe. Dann muss man die Frage beantworten, warum man nicht zuerst die Täter sucht, findet
und dingfest macht und schließlich Opferschutz betreibt.
Es handelt sich also nur um eine begleitende Maßnahme.
Sie ist wirklich nur teilweise und sehr begrenzt effektiv.
({3})
Wenn man um die begrenzte Wirkung weiß, muss
man umso genauer sehen, wie viele Daten von Unbeteiligten, von Zufallsnutzern, gleichzeitig miterfasst werden. Das BKA spricht von 80 Prozent Gelegenheitskonsumenten. Darunter können völlig Unbescholtene sein.
Was geschieht mit denen? Werden die Daten derjenigen,
die an dem Stoppsignal stoppen, sich keine Umgehungssoftware besorgen und nicht weitermachen, etwa ignoriert? Nein, sie werden es perverserweise nicht. Sie stehen zu Zwecken der Strafverfolgung zur Verfügung. Im
Grunde wird aus der Stoppseite, auf die umgeleitet wird,
eine Art Fahndungsinstrument gemacht. Das kann es
wirklich nicht sein; das halten wir für völlig unmöglich.
({4})
- Ja, Kollege Stadler, das muss deutlich geändert werden. Sie waren es, der die Frage gestellt hat, ob es keine
Richter mehr in Berlin oder Deutschland gibt. - Wo
bleibt bei dem ganzen Vorgang die richterliche Anordnungsbefugnis oder wenigstens die Kontrolle?
({5})
Wir schaffen eine ständige Beschlagnahmemöglichkeit
für die Polizei, und offenbar ist niemand auf die Idee gekommen, sich zu fragen, ob das - keinerlei justizielle
Kontrolle - in unserem Rechtssystem möglich ist. Mich
hat das wirklich sehr bestürzt. Einen Satz im Gesetzentwurf muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: „Die
Ausgestaltung - gemeint ist die Umleitung der Nutzeranfragen - bestimmt das Bundeskriminalamt.“ Wer ist
denn hier Gesetzgeber? Ist das BKA Gesetzgeber, oder
sind wir es, der Deutsche Bundestag? Seit wann überlasse ich die Gestaltung von Vorgängen einer Polizeibehörde? All das ist erschreckend; das muss ich Ihnen so
sagen.
({6})
Vor diesem Hintergrund bleibt unser Fazit: Wir Grünen sehen einerseits das Großartige am Internet - das
wurde gesagt -, die weltweite Kommunikationsbörse
und die weltweite Kommunikationsmöglichkeit; wir sehen andererseits sehr genau die dunklen Seiten des Internets und stellen uns dem in der Debatte. Foren für Kannibalen, Foren für Amoklaufbefürworter, Anleitungen
zum Bombenbau, Köpfung von Geiseln - auf all das hat
man per Klick Zugriff, aber gegen all das kann man
keine Sperren einrichten.
({7})
Auch das muss Ihnen klar sein. Beispiele wurden hier
schon genannt: Die Sperrung von Lotterie- oder Tauschbörsenseiten ist in der Diskussion. Man wird ganz genau
die Grenze ziehen müssen. Bei der Kinderpornografie
sagen wir: Auch mit uns kann man darüber reden, weil
das ein besonders widerwärtiges Delikt ist, aber nicht so,
wie es hier mit dieser Vorlage geschehen ist.
({8})
Deswegen sage ich abschließend: Das Internet ist
kein rechtsfreier Raum, das Internet ist aber auch kein
bürgerrechtsfreier Raum. Deswegen kann dies nicht die
Grundlage für die von Ihnen geplante Änderung sein.
({9})
Das Wort hat nun Kollegin Michaela Noll für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Wieland, Herr Stadler, Herr Wunderlich, ich
wundere mich nur. Egal was Sie gerade hier vorgetragen
haben - ich werde auf die einzelnen Ausführungen noch
eingehen -, Sie können mich nicht überzeugen. Bei Ihnen, Herr Wunderlich, ist es ganz einfach: Ein Blick auf
die Regierungsbank hilft bei der Wahrheitsfindung. Da
sitzen zwei Parlamentarische Staatssekretäre, unter anderem Dr. Hermann Kues. Das heißt, die Regierung ist
sehr gut vertreten.
In einem Punkt haben wir Gott sei Dank Konsens:
Alle sagen, dass Kinderpornografie eines der schwersten
Verbrechen ist. In dieser Hinsicht sind wir einer Meinung. Gemeinsam sagen wir auch, dass wir sie bekämpfen wollen, die Schänder stoppen wollen und das lukrative Massengeschäft stören wollen. Das ist unser
eigentliches Ziel.
Ich sage als Familienpolitikerin: Wenn ich mir den
Tatort Internet anschaue und feststelle, welcher Missbrauch dort sichtbar ist, dann übersteigt das jegliche Vorstellung. Es sind die Kinder und die Kleinsten, die erniedrigt und gequält werden, oftmals von den eigenen
Eltern und von nahen Verwandten. Es gibt keinen größeren Vertrauensbruch, den man gegenüber Kindern begehen kann.
({0})
- Herr Stadler, seien Sie vorsichtig mit Ihrem Klatschen;
denn jetzt komme ich zu den Verschwörungstheoretikern, zu denen auch Sie, soweit ich eben gehört habe,
teilweise gehören.
Sie behaupten, die Sperrung sei der Anfang vom Ende
der Informationsfreiheit. Bald werde jeder missliebige
Inhalt von Amts wegen im Netz unterdrückt, es drohten
Zensur, chinesische Verhältnisse.
({1})
- Das haben nicht Sie gesagt.
Ich möchte den Parlamentarischen Geschäftsführer
der Grünen zitieren. Er sprach davon, das Gesetz sei an
Populismus kaum zu überbieten, die Bundesregierung
ergreife wider besseres Wissen eine Maßnahme, die wirkungslos sei. Beck erklärte, die Regierung wolle lediglich vor den Wahlen demonstrieren, dass sie wirkungsvoll gegen Kinderpornografie vorgehe, das Gegenteil sei
aber der Fall. Eine solche Sperre sei leicht zu umgehen
und niemand könne vorhersagen, welche Seiten noch
künftig auf Sperrlisten gesetzt würden. Ich sage Ihnen
eines: Die Unterstellung, wir wollten tatsächlich etwas
anderes erreichen und nicht nur Kinderpornografie verfolgen, ist für mich unerträglich.
({2})
Ich hoffe, das ist eine Einzelmeinung Ihres Parlamentarischen Geschäftsführers.
Auch noch ein kurzer Kommentar zu den Ausführungen des Kollegen Benneter, der die Gefahr der Blackbox
ansprach: Wir wollen keine Blackbox. Es geht ausschließlich darum, den Zugang zu diesen Seiten zu sperren, und eine Ausweitung ist auch nicht ansatzweise geplant. Ich rate den Bedenkenträgern, einfach einmal in
den Gesetzestext zu schauen, in dem steht:
Ziel des Gesetzentwurfs ist es, den Zugang auf
diese Inhalte
- ich betone: diese zu erschweren.
Deshalb noch einmal mein Appell: Versuchen wir,
Mittel zu finden, um gegen Kinderpornografie vorzugehen. Herr Kollege Schauerte hat eben erwähnt, dass
nicht wenige andere europäische Länder das Ganze mit
Erfolg praktizieren. Allein in Schweden werden pro Tag
50 000 Zugriffe abgewehrt. Warum nutzen wir diese guten Erfahrungen nicht?
({3})
Warum ist in den anderen europäischen Ländern mit
95 Prozent die Akzeptanz so groß? Warum hat in Finnland nur ein einziger gemeckert? Warum sagen wir hier
permanent: „Was die anderen Europäer machen, ist
schrecklich, ist verwerflich“? Das kann ich nicht nachvollziehen.
({4})
Auch die Europäische Kommission drückt aufs
Tempo, wenn es um die Sperren geht. Ich möchte als Familienpolitikerin noch einmal an alle appellieren: Hinter
jedem Bild steckt ein missbrauchtes Kind, und jeder
Klick auf solch eine Seite gibt Anreiz zu noch mehr Kindesmissbrauch.
Internetsperren wirken präventiv. Das sagte auch der
Direktor des BKA, Herr Maurer, in der Anhörung, die
der Kollege Wunderlich auch gerade erwähnt hat. Wir
haben über verschiedene Sperren gesprochen, aber wir
sagen doch nicht, dass allein mit dem Sperren von Seiten
Kinderpornografie verhindert wird. Wenn wir jedoch
durch das Sperren 80 Prozent der Gelegenheitstäter erreichen können, ist damit schon sehr viel geschafft; denn
heute erreichen wir keinen.
({5})
Dass diese Sperren technisch nicht perfekt sind, dass
man sie umgehen kann, stellt doch niemand von uns in
Abrede. Aber warum sollen wir jetzt auf ein Präventionsmittel verzichten? Ich möchte es jedenfalls nicht.
({6})
Natürlich sind diese Zugangserschwerungen für uns
in Deutschland Neuland. Deswegen wollen wir ja eine
Evaluierung. Deswegen wollen wir nach zwei Jahren
prüfen, was das Gesetz tatsächlich gebracht hat.
Access-Blocking ist aber nicht alles. Ich bin für eine
bessere Opferidentifizierung. Ich bin für eine bessere
Technik, die auch Sie, Herr Kollege Stadler, angesprochen haben. Es geht darum, endlich eine weltweite Lösung für die Löschung solcher Bilder im Netz zu finden;
denn das Internet vergisst nichts. Aber so weit sind wir
noch nicht. Ich bin ebenso für mehr Personal bei der Ermittlung, und ich bin auch für mehr Täterarbeit im Vorfeld, wie sie zum Beispiel an der Berliner Charité geleistet wird.
Außerdem kann Deutschland dieses Problem nicht allein lösen. Wir müssen versuchen, auf internationaler
Ebene verstärkt zusammenzuarbeiten. Bedauerlicherweise gibt es immer noch Länder, in denen Kinderpornografie nicht strafbar ist. Das kann ich überhaupt nicht
nachvollziehen.
({7})
Die Reise unserer Delegation nach Rio war ebenso wichtig wie die Fachtagung der Bundesregierung zu diesem
Thema vor wenigen Monaten. Am 30. Juni treffen wir
uns erneut auf europäischer Ebene. Wir verfolgen also
auch international unser Ziel, Kinderpornografie auszuräumen.
Jetzt sage ich einmal Danke, zunächst an die Provider; denn es war nicht selbstverständlich, dass sie sich
freiwillig zu dem Ganzen bereit erklärt haben. Sie haben
auch im Vorfeld schon sehr viel getan, und sie tragen die
Mehrkosten. Aber ich sage auch Danke an die Ministerin, ganz einfach deshalb: Sie ist souverän, sie hat der
Entrüstung standgehalten, sie hat keinen Rückzug angetreten, und sie hat mit dem Bundeswirtschaftsminister
einen Verbündeten gefunden.
({8})
Heute ist die erste Lesung des Gesetzentwurfes. Ich
würde mich sehr freuen, wenn es gelingen würde, dass
wir alle zusammenarbeiten; denn für mich zählt am Ende
nur eines: Wenn durch das Sperren von Internetseiten
auch nur ein einziger Fall von sexuellem Missbrauch eines Kindes verhindert wird, dann hat es sich für mich gelohnt.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Kollege Christoph Waitz für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Hier und heute geht es um die effektive Bekämpfung von kinderpornografischen Inhalten im Internet. Es geht um den effektiven Schutz von Kindern und
Jugendlichen, und es geht insbesondere darum, die Täter
strafrechtlich schnell und wirksam zu verfolgen.
({0})
Für die FDP ist Kinderpornografie im Internet unter
keinen Umständen hinnehmbar. Max Stadler hat dazu in
seiner Rede schon Ausführungen gemacht.
({1})
Ich bin froh, dass die Bundesregierung nun einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, nachdem sie es bislang bei
vertraglichen Regelungen mit einigen Providern belassen hatte. Jetzt hat die Debatte um die Sperrung von kinderpornografischen Seiten die Ebene erreicht, auf die sie
gehört, wenn Grundrechte betroffen sind: Diese Debatte
gehört hierher, ins Plenum des Deutschen Bundestages,
und nicht in die Konferenzsäle des Familienministeriums.
({2})
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wirft eine
ganze Reihe von Fragen auf, deren Klärung nötig ist. Ich
beschränke mich hier auf vier dieser Fragen.
Erstens. Der Entwurf der Bundesregierung sieht die
Erhebung von personenbezogenen Daten durch die Internetprovider vor. Diese sollen an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden übermittelt werden können. Die
Bundesregierung selbst geht davon aus, dass die allermeisten Klicks auf solche Seiten von Zufallsnutzern
stammen, die irrtümlich Links in Spam-E-Mails anklicken oder ohne Vorsatz diese Seiten besuchen. Damit
wären diese Personen einer möglichen Strafverfolgung
unterworfen.
Für die Möglichkeit von strafrechtlichen Ermittlungen gegen wenige müssten die Daten aller Nutzer unter
Beachtung des Bundesdatenschutzgesetzes gespeichert
werden. Die Provider müssten deutlich sichtbar auf die
Speicherung persönlicher Daten wegen Zugriffs auf eine
kinderpornografische Seite hingewiesen werden. Dabei
sichert die derzeitige Version der Stoppseite des BKA
zu, dass keinerlei Daten erfasst werden. Denjenigen, die
sich davon überzeugen wollen, habe ich ein Exemplar
mitgebracht.
Vergessen ist die Zusage der Bundesregierung aus den
Vertragsverhandlungen, dass personenbezogene Daten
nicht erhoben werden.
Weiterhin besteht aus meiner Sicht die Gefahr, dass
aus der Kannvorschrift in der Praxis eine Mussvorschrift
wird. Ich bin mir sicher, dass die Provider dem Druck
der Ermittlungsbehörden oder auch der Politik nicht widerstehen könnten, diese Daten zu erheben und an das
BKA und andere Strafverfolgungsbehörden weiterzugeben. Die datenschutzrechtlichen Konsequenzen Ihres
Gesetzentwurfes werden die Bürgerinnen und Bürger
ausbaden müssen.
({3})
Zweitens. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass auf
das Länderkürzel „.de“ endende Adressen nicht gesperrt
werden. Diese können als nationale Webseiten schon
jetzt bei rechtswidrigen Inhalten jederzeit gesperrt wer23886
den. Ich vermisse eine Ausnahmeregelung in Ihrem Gesetzentwurf.
Drittens. Es fehlt eine Widerspruchsregelung für die
Fälle, in denen jemand zu Unrecht auf der geheimen
Sperrliste des BKA gelistet wird. Wir haben heute schon
von einem Richtervorbehalt gesprochen. Dabei kann
eine irrtümliche Sperrung und Umleitung auf die BKASperrseite auch nur für wenige Stunden oder einen Tag
schnell das wirtschaftliche Aus für ein Unternehmen
oder zumindest den Rufmord einer Person bedeuten.
Solche Fälle sind aus dem Ausland schon bekannt. Angesichts der Tragweite des potenziellen Schadens weist
Ihr Gesetzentwurf in diesem Punkt eine gravierende Lücke auf.
({4})
Viertens. Die FDP-Bundestagsfraktion hält die Verquickung der Sperrung von kinderpornografischen Seiten mit dem Telemedienrecht für falsch. Es geht nicht
um die allgemeine Regulierung von Internetangeboten.
Es geht ganz konkret um das Gesetz zur Bekämpfung
der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen. Wenn
schon in das Internet eingegriffen werden muss, dann
müssen wir auch ganz deutlich machen, dass es sich hier
um einen Einzelfall handelt. Eine spezialgesetzliche Regelung ist in diesem Fall geeigneter. Jegliche Möglichkeit einer Analogie zu anderen Rechtsbereichen, zum
Beispiel zum Urheberrecht - Stichwort „Lizenzverletzung“ -, muss vermieden werden. Das Letzte, das wir
brauchen, ist die allgemeine Regulierung des Internets
durch die Hintertür.
({5})
Die Bundesregierung begeht hier einen Etikettenschwindel. Mit diesem Gesetz bekämpfen wir die Kinderpornografie nicht. Mit Ihrem Gesetzentwurf verhält
es sich wie mit dem Scheinriesen von Michael Ende: Je
genauer man hinschaut, desto kleiner wird er.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Renate Gradistanac für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bekämpfung der Kinderpornografie durch
Zugangssperren im Internet braucht eine klare gesetzliche Grundlage. Ich bin froh, dass sich die SPD mit ihrer
Forderung durchgesetzt hat.
({0})
Nur eine gesetzliche Regelung schafft Rechtssicherheit
und genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Unser Gesetzentwurf - es ist kein Gesetzentwurf der
Bundesregierung, sondern der Koalitionsfraktionen sieht Änderungen beim Telemediengesetz und beim Telekommunikationsgesetz vor. Das Bundeskriminalamt
wird eine Liste von Telemedienangeboten erstellen, die
Kinderpornografie enthalten. Alle großen Zugangsvermittler werden gesetzlich verpflichtet, den Zugang zu Inhalten, die in dieser Sperrliste aufgeführt sind, durch geeignete und zumutbare technische Maßnahmen zu
erschweren. Nutzeranfragen werden auf eine „Stopp!“Seite umgeleitet. Die anfallenden Daten können für die
Strafverfolgung genutzt werden. Die Zugangsanbieter
übermitteln dem BKA wöchentlich eine anonymisierte
Aufstellung über die Anzahl der Zugriffsversuche. Die
Zugangsanbieter werden nur dann haften, wenn sie die
Sperrliste des BKA nicht ordnungsgemäß umsetzen.
Wichtig und gut ist aus meiner Sicht, dass innerhalb
von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes eine
Evaluierung erfolgt. Schließlich betreten wir Neuland,
und manche kritisieren ja - das nehme ich sehr ernst -,
das Gesetz wäre nutzlos, unverhältnismäßig und würde
zum Einfallstor für Internetzensur. Daher hätte ich - das
ist meine persönliche Meinung - die Regelung über ein
eigenständiges Gesetz vorgezogen.
({1})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird ein Signal
zur Ächtung von Kinderpornografie gesetzt und der Zugang zu kinderpornografischen Internetseiten erschwert.
Klar muss uns allen aber auch sein: Trotz dieser nationalen Initiative und trotz aller internationalen Anstrengungen zur Täterermittlung und zur Schließung von Internetseiten ist zu befürchten, dass Angebote mit
Kinderpornografie im Internet abrufbar bleiben.
Um effektiv gegen die Straftäter - Produzenten und
Nutzer von Kinder- und Jugendpornografie - vorzugehen, brauchen wir - ich glaube, das ist unstrittig - eine
bessere Ausstattung der Ermittlungsbehörden.
({2})
Um die weltweite Verfügbarkeit der Angebote so schnell
wie möglich zu beenden, sollte im Gesetz zudem geregelt werden, dass das BKA den ausländischen Anbieter
und die zuständige nationale Polizeibehörde über die
Aufnahme in die Sperrliste informiert.
Das Gesetz - das will ich ganz deutlich sagen - ist ein
einzelner Baustein gegen den sexuellen Missbrauch von
Kindern und die Darstellung auf den Internetseiten.
({3})
Wir Jugendpolitikerinnen - jetzt merken Sie, dass es
dazu unterschiedliche Meinungen in der SPD gibt - und
einige wenige Jugendpolitiker halten es für sinnvoll,
auch die Bekämpfung von Jugendpornografie in den Gesetzentwurf einzubeziehen
({4})
und nicht zwei Jahre bis zum Bericht der Bundesregierung zu warten. Warum? Erstens. Nach der UN-Kinderrechtskonvention ist jeder Mensch unter 18 Jahren Kind.
Zweitens. Die EU-Kommission sieht das genauso. Drittens. Wir haben die Verbreitung von Pornografie mit
Darstellern, die zwischen 14 und 18 Jahre alt sind, im
Sommer 2008 unter Strafe gestellt.
({5})
Diese Seiten würden nach dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht gesperrt.
({6})
- Das ist eine Frage der Kompetenz. Wenn wir von Kinderpornografie sprechen, wissen Fachleute, dass Menschen bis 18 Jahre Kinder sind. - Ich erwarte eine konsequente und keine widersprüchliche Gesetzgebung.
Wir werden den Gesetzentwurf, zu dem es von vielen
Seiten für mich auch nachvollziehbare Kritik gab, in einer von uns gewünschten Anhörung und den weiter geplanten Beratungen genau prüfen.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion haben gestern
eine umfassende Gesamtstrategie, einen 10-Punkte-Plan
zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt, beschlossen. Ich gehe davon aus, dass die
Familienministerin - auch wenn sie heute nicht anwesend ist, denken wir an sie ({7})
den angekündigten Aktionsplan II fristgerecht vorlegt.
Die Messlatte ist hoch. Die Ministerin wird sich an den
Worten messen lassen müssen, mit denen sie die Aktionspläne unserer Drogenbeauftragten Sabine Bätzing
gerade abgelehnt hat. Die Ministerin eignet sich immer
für ein Zitat. Ich zitiere sie also:
Maßgebliche Teile der heute vorgestellten Aktionsprogramme haben lediglich prüfenden und empfehlenden Charakter.
Schade, was ihre Äußerung betrifft, und danke, dass
Sie zugehört haben.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Ingo Wellenreuther von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute ist ein guter Tag im Kampf gegen die
Kinderpornografie. Mich persönlich freut das ganz besonders, weil ich mich bereits seit der Herbsttagung des
Bundeskriminalamtes im Jahre 2007 sehr intensiv mit
diesem Thema beschäftige.
Zur Sache: Mit der beabsichtigten Änderung des Telemediengesetzes führen wir eine gesetzliche Handlungspflicht ein, wonach Zugangsvermittler für das Internet technische Maßnahmen ergreifen müssen, um den
Zugang zu kinderpornografischen Angeboten im Internet zu verhindern. Das Bundeskriminalamt erstellt dann
tagesaktuell eine Sperrliste mit kinderpornografischen
Internetseiten und leitet diese den Providern zu. Spätestens sechs Stunden später müssen diese die Nutzer der
Seiten auf eine „Stopp!“-Seite umleiten. Darum geht es.
Wer sich gegen eine solche gesetzlich normierte
Handlungspflicht der Internetprovider wendet, der hat
meines Erachtens entweder völlig die Wertemaßstäbe
verloren oder weiß nicht, worum es bei dem Thema Kinderpornografie geht. Dahinter stehen nämlich - das
wurde vorhin schon angesprochen - allein in Deutschland 120 000 Kinder, die vor laufender Kamera vergewaltigt, geschändet oder missbraucht werden. Im Internet kann man dabei zuschauen. 43 Prozent der Kinder
sind jünger als sechs Jahre, 10 Prozent sind jünger als
zwei Jahre. Manche dieser Kinder sterben sogar einen
qualvollen Tod. Alle übrigen - da bin ich mir sicher leiden ihr Leben lang unter den Folgen dieser abscheulichen Taten. Damit man die Dimension begreift: Weltweit sind 11 Millionen kinderpornografische Fotos online im Umlauf, mit denen jährlich ein Umsatz von
5 Milliarden Euro erzielt wird. Die Fallzahlen steigen
jährlich - das haben wir schon gehört. Täglich sind
1 000 Seiten mit kinderpornografischen Inhalten im Internet aktiv.
Ich persönlich kann Ihnen sagen - Herr Stadler, ich
nehme an, Sie wissen das auch -: Mit das Schlimmste,
was ich in meiner 13-jährigen richterlichen Praxis erlebt
habe, waren die Fotos in den Akten der Jugendschutzkammer. Die wirken noch nach.
Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass wir mit
dieser gesetzlichen Maßnahme ein Instrumentarium an
die Hand geben, das zwar die Kinderpornografie im Internet nicht verhindern, aber den Zugang wesentlich erschweren kann.
Nachdem bereits vor wenigen Wochen durch die erzielte vertragliche Einigung zwischen dem Bundeskriminalamt und den Providern ein ganz klares Signal einer
gesellschaftlichen Ächtung von Kinderpornografie an
die Öffentlichkeit und vor allem auch an die Gruppe der
Täter gegeben worden ist, ist mit diesem Gesetz eines
jetzt ganz klar: Kinderpornografische Seiten müssen gesperrt werden. Daran müssen sich in Zukunft alle Provider halten, auch die neuen - wenn es neue geben sollte.
Ich schließe mich dem Dank an, den vor allem unsere
Familienministerin, Frau von der Leyen, verdient hat,
unterstützt durch den Wirtschafts- und den Innenminister. Sie haben sich mit vollem Einsatz und hartnäckig
dieses Problems angenommen und dieses Gesetz auf den
Weg gebracht.
({0})
Wenn in Skandinavien und anderen europäischen Ländern - das wurde auch schon angesprochen - täglich
durch solche Webfilter Zigtausende von Zugriffen auf
kinderpornografische Seiten verhindert werden, warum
sollte dies ausgerechnet in Deutschland nicht möglich
sein? Alle Maßnahmen, die rechtlich möglich sind, müssen genutzt werden. Jedes Kind - das wurde auch schon
gesagt -, das durch diese Maßnahmen geschützt werden
kann, rechtfertigt dieses Vorgehen.
Natürlich gibt es technische Möglichkeiten, die Sperrung zu umgehen. Erschreckenderweise übrigens werden die Anleitungen dazu sogar in Internetforen angeboten. Dies ist allerdings überhaupt kein Argument dafür,
nichts zu tun.
Eines ist ganz klar - das wurde im Vorfeld der heutigen Debatte auch schon besprochen -: Unser gesetzliches Vorgehen kann nur Teil einer Gesamtstrategie sein.
Bundeskriminalamt, Landeskriminalämter und Staatsanwaltschaften arbeiten mit Europol zusammen, um einschlägige Seiten im Internet zu ermitteln, Täter im Inland zu ermitteln und ausländische Quellen zu schließen.
Diese Zusammenarbeit muss intensiviert werden, stößt
aber dann an Grenzen, wenn in Ländern Kinderpornografie nicht unter Strafe steht. Deswegen muss im Bundeskriminalamt in diesem Bereich die Mitarbeiterzahl
erhöht werden, was gerade passiert. Bereits
13 europäische Staaten arbeiten auf polizeilicher Ebene
zusammen und tauchen Täterprofile und Bilddatenbanken aus. Diesem Kreis wird auch Deutschland demnächst beitreten. Das wird von der EU-Kommission ausdrücklich unterstützt.
Seiten mit kinderpornografischem Inhalt, die von
deutschen Servern bereits eingestellt wurden oder noch
werden, müssen weiterhin gelöscht werden.
Den Bedenkenträgern, die heute zum Teil aufgetreten
sind, möchte ich Folgendes zurufen: Die verfassungsrechtlichen Bedenken sind meines Erachtens unbegründet. Die Freiheit der Kommunikation oder das Fernmeldegeheimnis stehen nicht entgegen. Die individuelle
Kommunikation wird nicht behindert; nur der Zugang zu
kriminellen Inhalten, der Aufruf einer Website, wird gesperrt. Das heißt, eine Verbindung ist dann noch gar
nicht entstanden.
({1})
Wer das mit der chinesischen Zensur vergleicht, Herr
Stadler, ist vollkommen auf dem falschen Dampfer.
({2})
- Nicht Sie; aber ich sage es an Ihre Adresse.
({3})
Auch die Meinungsfreiheit ist nicht in Gefahr; denn
ausschließlich Websites mit kinderpornografischem Inhalt sind betroffen, keine anderen. Diese Form von
schwerster Kriminalität will unser Grundgesetz ausdrücklich nicht schützen.
Falls in wenigen Ausnahmefällen durch das Bundeskriminalamt nicht die richtigen Seiten identifiziert werden sollten, übernimmt das Bundeskriminalamt und damit der Bund die volle Haftung; das heißt, der Bund
stellt die Provider in diesen Fällen von den Ansprüchen
Dritter frei.
Zusammenfassend kann ich sagen: Der Gesetzentwurf ist ein wichtiger weiterer Baustein im Kampf gegen
Kinderpornografie. Ich darf Sie alle bitten, die Beratungen in unserem Hause zügig fortzusetzen, damit in
Deutschland schon bald eine gesetzliche Grundlage für
umfassende Zugangssperren zu kinderpornografischen
Internetseiten geschaffen werden kann.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jürgen Kucharczyk, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
beraten heute in erster Lesung den Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen. Ich freue mich, dass es
uns in der Bundesregierung und in den Koalitionsfraktionen gelungen ist, uns auf Eckpunkte für ein solches
Gesetz zu einigen, und zwar innerhalb kurzer Zeit. Dies
ermöglicht uns nun, den vorliegenden Entwurf zu diskutieren und rund zu machen.
Gestatten Sie mir, eingangs in aller Deutlichkeit klarzustellen: Die SPD-Fraktion hat immer - und wird das
weiterhin tun - in jeder Hinsicht die Bemühungen um
einen besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen,
insbesondere zur Bekämpfung von Kinderpornografie,
unterstützt. Wir sind uns einig: Kinderpornografie ist gesellschaftlich zu ächten, und zwar auf allen Ebenen.
Dieses Gesetzesvorhaben wird in der Öffentlichkeit
sehr aufmerksam und von vielen auch mit einiger Sorge
verfolgt und diskutiert. Das zeigt beispielsweise die von
Demonstrationen begleitete Unterzeichnung des Vertrags mit den Providern. Auch in vielen Blogs wird heiß
diskutiert. Häufig allerdings bewegen sich die Beiträge
am Rande von Verschwörungstheorien und werfen der
Bundesregierung schon mal geheimstaatliche Methoden
und Allmachtsfantasien vor.
Es gibt aber auch viele Beiträge, die zum Nachdenken
anregen. Die Onlinepetition des Deutschen Bundestages,
das Gesetz zu kippen, haben in wenigen Tagen bereits
über 30 000 Menschen unterschrieben. Die Furcht vor
einer Zensur durch den Staat, die viele Bürgerinnen und
Bürger äußern, nehmen wir ernst. Wir tragen dem Rechnung und werden die zielgenaue Sperrung von Internetseiten im Auge haben. Auch wir haben kein Interesse daran, über das Ziel hinauszuschießen und chinesische
Verhältnisse zu schaffen. Es geht uns nicht darum, künftig Kavaliersdelikte im Internet zu jagen und nur noch
gefilterte Inhalte in unser Land zu lassen. Das geht im
weltweiten Netz nicht, selbst wenn das für einige sehr
verlockend klingt. Auch wir wollen das nicht.
Natürlich wissen wir, dass die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten unterschiedlich zielgeJürgen Kucharczyk
nau und auch umgehbar sind. Das ist aber aus unserer
Sicht hinnehmbar, wenn es gelingt, einen großen Teil der
Zufallsrunde oder der Ersttäter mit dieser Sperrung und
dem Stoppschild abzuschrecken.
Ein Wort an diejenigen, die ihre Persönlichkeitsrechte
angegriffen fühlen: Ich möchte keine Straftaten gegen
andere auf- oder abwerten, betrachte aber Kinderpornografie als besonders grausame und menschenverachtende Tat. Denn dadurch wird ein Menschenleben geschändet, und die seelischen Narben heilen nie.
Davor können und dürfen wir unsere Augen nicht
verschließen. Wir wissen, dass ein Gesetz zur Sperrung
von Internetseiten nur ein kleines Teil im Mosaik der Bekämpfung von Kinder- und Jugendpornografie sein
kann. Notwendig ist darüber hinaus die Erarbeitung einer längst überfälligen Gesamtstrategie auf Bundesebene
zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt und Ausbeutung.
Die zögerliche Umsetzung durch die Bundesregierung
({0})
zeigt, dass wir hier das Engagement endlich deutlich
verstärken müssen, gerade beim Opferschutz und bei der
Täterverfolgung.
Hier haben der Innenminister und die Familienministerin noch viel zu tun. Wir müssen Kinderpornografie
auf allen Ebenen bekämpfen. Dazu gehört auch die Sperrung von einschlägigen Seiten im Internet.
Das oberste Ziel jeglicher Aktivitäten müssen neben
der Ermittlung der Täter die Stärkung des Opferschutzes, die Verhinderung weiterer Missbräuche und damit
die Austrocknung des kommerziellen Marktes für entsprechende Inhalte sein - sei es offline, sei es online.
Meines Erachtens widerspricht es sich im Übrigen nicht,
auch einmal die problematischen Inhalte im Netz, aber
auch darüber hinaus zu thematisieren und unter ethischen Gesichtspunkten zu debattieren. Wir werden im
parlamentarischen Verfahren, welches heute beginnt,
sorgfältig prüfen und beraten, inwieweit der Gesetzentwurf korrekturbedürftig ist; einige Kolleginnen und Kollegen haben dies zu Recht angesprochen.
Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für eine öffentliche Anhörung ein; auch andere Fraktionen haben
sich dazu positiv geäußert. Ich rechne mit einer großen
Resonanz. Dort kann jeder Stellung nehmen. Ich bin mir
sicher, dass wir gemeinsam im Interesse der Kinder und
Jugendlichen vernünftige Lösungen finden werden.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 16/12850 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig
Thiele, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie in den Ländern ({0})
- Drucksache 16/10309 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 16/12072 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Carl-Ludwig
Thiele, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto
Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Keine Steuererhöhung bei der Erbschaftsteuer - Gesetzentwurf zur Reform des Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts zurückziehen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Ulla Lötzer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Den Reichtum umverteilen - für eine sozial
gerechte Reform der Erbschaftsbesteuerung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Scheel, Dr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eckpunkte für eine gerechte Reform der
Erbschaft- und Schenkungsteuer
- Drucksachen 16/7765, 16/3348, 16/8185,
16/12072 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Freiherr von Stetten
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Lothar Binding, SPD-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP will die Erbschaftsteuer abschaffen. Man kann darüber nachdenken;
denn nur 7 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger und ein
noch viel geringerer Prozentteil der Unternehmen zahlen
überhaupt Erbschaftsteuer. Diese Steuer wurde so sanft
eingeführt, wie man es sich nur irgendwie vorstellen
kann.
Bei jedem einzelnen Punkt, den die FDP in dieser
Richtung beantragt, merkt man nicht, was sie wirklich
will. Denn sie will zum Beispiel auch mehr Autonomie
für Gebietskörperschaften und sagt: Die Erbschaftsteuer
soll in die Kompetenz der Länder gelegt werden. Man
muss sich einmal vorstellen, was es bedeuten würde,
wenn der Steuerbürger in Deutschland auf 16 verschiedene Erbschaftsteuergesetze stieße. Dies böte sicherlich
keinen Grund, sich über den Abbau von Bürokratie zu
freuen.
({0})
Aber die FDP will noch mehr. Sie will die Gewerbesteuer abschaffen. Sie ist gegen die Mehrwertsteuererhöhung gewesen und setzt sich für Mehrwertsteuergeschenke in bestimmten Branchen ein. Sie ist für einen
großzügigen Grundfreibetrag. Sie ist für einen Zweistufentarif bei den Unternehmen. Ich will dazu weiter
vortragen, damit man eine Gesamtschau hat und den
ideologischen Rahmen, in dem die FDP denkt, sieht: Sie
will die degressive AfA wieder einführen und die Sofortabschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter wieder
ausweiten. Sie will Sparer und Kapitalanleger mit einer
verbesserten Abgeltungssteuer bedienen. Sie will die
Abschaffung der kalten Progression; das Wort ist nicht
ganz korrekt. Sie will steuerfinanzierte Sozialleistungen.
Sie will sozialversicherungsfreie Minijobs bis 600 Euro
zulassen und das gesamte Steuersystem auf nur 33 Seiten zusammenfassen; irgendwie kommt mir das bekannt
vor.
Die FDP will aber noch viel mehr. Sie will die Konsolidierung der Staatsfinanzen. Nun kommt etwas ganz
Tolles - denken wir daran, dass wir Zukunftsinvestitionen auf Kredit zu finanzieren haben -: Sie will ein Neuverschuldungsverbot in die Verfassung aufnehmen. Sie
macht jedoch jämmerliche Vorschläge, woher das Geld
eigentlich kommen soll; denn alle bekommen mehr, und
dem Vernehmen nach zahlt keiner dafür. Dies ist ein geniales Konzept, das es noch zu erklären gilt.
Ich will anhand eines Beispieles andeuten, wie die
FDP vorgeht. Es wurde hier eine absolut weinerliche
Aktuelle Stunde zur Pendlerpauschale abgehalten. Alle
waren traurig, dass die ganze Sache für die Arbeitnehmer schlecht ausgehen könnte. Dieselbe FDP, die diese
Aktuelle Stunde beantragt hat, hat in ihrem aktuellen
Programm jedoch die Abschaffung der Pendlerpauschale
vorgesehen.
Die FDP geht perfekt mit diesen Widersprüchen um.
Das erlaubt ein Erklärungsmuster, warum sie jetzt für die
Abschaffung der Erbschaftsteuer ist. Ich fasse es so zusammen: Die FDP hat insgesamt ein großes Interesse daran, den Staat, also die Gemeinschaft, zu schwächen.
Aber sie will damit nicht nur Schlechtes. Sie sagt, die
Privaten würden das Geld besser einsetzen. Da wir angesichts der aktuellen Situation gelernt haben, dass neoliberale und liberale Ideen die Weltwirtschaft und auch
unsere Wirtschaft in Deutschland in den Abgrund führen
- dies wurde in der Praxis bewiesen -, könnte man dafür
einen Gedanken mehr verschwenden.
Der Staat - das stimmt - hat zu wenig Vorsorge getroffen. In den letzten 60 Jahren galt das immer wieder:
In einer Hochkonjunktur wurde zu wenig gespart, in einer Depression hat er meistens versucht, hinreichend
viel auszugeben.
Schauen wir aber einmal zu den Privaten, also den
Managern, Bankern, Aktionären, Fondsgesellschaften
und auch Unternehmen. Ich frage mich: Wo haben sie eigentlich Vorsorge getroffen? Sie können die Gelder ja
besser ausgeben. Wir stellen jetzt fest, dass die Gewinne
der vergangenen Jahre überhaupt nicht mehr vorhanden
sind. Sie sind jedenfalls nicht da, wo sie der Vorsorge
dienen. Wo sind eigentlich die Rücklagen, die uns jetzt
in den Stand setzen würden, Arbeitsplätze zu retten und
Unternehmen zukunftsfähig zu machen? All das ist verloren. Hohe Dividenden und hohe Gehälter wurden bezahlt. Jedes Steuerschlupfloch wurde genutzt. Wo ist die
Vorsorge für schlechte Zeiten?
Die Antwort ist, dass der Staat sich kümmert. Der
Staat kümmert sich um die Liquidität der Banken, er
stärkt die Binnennachfrage, und er hilft den Familien
und den Unternehmern, damit die Arbeitsplätze möglichst erhalten bleiben. Die FDP kümmert sich auch um
jemanden. Sie ist traurig, dass der Flowers jetzt das Geld
nicht zurückbekommt, das er bei seinen Aktienspekulationen verloren hat.
Wir kümmern uns darum, dass die Kurzarbeit verlängert wird, damit Arbeitsplätze erhalten bleiben, und dass
die betriebliche Bildung in der Kurzarbeit verstärkt wird.
({1})
- Die Haifische könnte ich auch nennen. Sie kennen sich
dort besser aus. Deshalb schlage ich vor, dass Sie dazu
vortragen.
({2})
Wir haben das Kindergeld auf 164 Euro angehoben - hier
können Sie wiederum nicht mitreden -, die Kinderfreibeträge auf über 6 000 Euro angehoben, einen Kinderbonus von 100 Euro eingeführt, den Kinderregelsatz für
Arbeitslosengeld-II- und Sozialhilfeempfänger erhöht
und das Bürgerentlastungsgesetz eingeführt.
Alles zusammen führt zu einer Entlastung von mehr
als 20 Milliarden Euro. Dort obendrauf will die FDP
noch Steuern abschaffen. Das halte ich für eine außerordentlich komplizierte Operation. Ich bin sehr gespannt,
wie diese einfache arithmetische Aufgabe von der FDP
heute erläutert wird. Ich glaube, alle Kolleginnen und
Kollegen dürfen sehr gespannt darauf sein.
Schönen Dank.
Lothar Binding ({3})
({4})
Ich gebe dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele, FDPFraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Binding, wir
scheinen schon mitten im Wahlkampf zu stehen.
({0})
Das wird ja auch durch Plakate deutlich, wobei ich sagen
muss: Einen Klassenkampf in diesem Haus habe ich in
den letzten Monaten und Jahren eher von der Linkspartei
und nicht von der SPD erwartet.
({1})
Dass sich das momentan in der Form verschiebt, zeigt,
dass Sie selbst kein eigenes Konzept haben und nur davon leben, mit Schlagworten politische Mitbewerber zu
diskreditieren. Das finde ich nicht in Ordnung, und das
kritisiere ich.
({2})
Es ist ganz erstaunlich, dass Sie sagen - um Sie zu zitieren -, dass die FDP gegen die Mehrwertsteuererhöhung ist.
({3})
Ich kann mich noch an die letzte Vorwahlzeit erinnern.
Die komplette SPD hat damals eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgeschlossen.
({4})
Sie hat sogar gesagt, die Mehrwertsteuererhöhung sei
eine Merkel-Steuererhöhung, die sie auf keinen Fall mitmachen würde. Wer danach aus der Unionsforderung,
die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte zu erhöhen,
eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte macht und hier in
der Steuerdebatte das Wort „glaubwürdig“ in den Mund
nimmt, der muss sich sehr überlegen, ob sein Verhalten
mit seinen eigenen Worten in der Vergangenheit überhaupt übereingestimmt hat.
({5})
Lassen Sie mich noch eines zu der Wirtschaftskrise
und zu den Konjunkturprogrammen sagen. Wir als FDP
wissen auch, dass der Staat hier handeln muss. Wir unterscheiden uns nur in einer Frage grundsätzlich: Die
Große Koalition folgt den Wünschen der SPD und beschließt im Wesentlichen ein Ausgabenprogramm, durch
das vielleicht 10 Prozent der Wirtschaft etwas haben.
Wir als FDP sagen dagegen: Tut etwas für das Wachstum und fördert die Investitionen durch eine Verbesserung bei den Abschreibungssätzen, sodass den Bürgern
und Unternehmen mehr Geld für Investitionen bleibt!
Das ist der Weg, um aus der Krise zu kommen.
({6})
Das kostet vielleicht kurzfristig Liquidität, aber langfristig wird das Geld durch Wachstum wieder hereinkommen. Das ist übrigens ein Rezept, mit dem die
Große Koalition zu Beginn dieser Wahlperiode gestartet
ist.
Lassen Sie mich aber zu dem eigentlichen Kern dieser
Debatte kommen, nämlich zur Erbschaftsteuer. Abgesehen davon, dass das technisch verunglückt ist und dass
es verfassungsrechtliche Probleme gibt, kommt es nach
dem Modell und der Blaupause von Ministerpräsident
Koch und Finanzminister Steinbrück an einigen Stellen
- insbesondere für Familien - zu massiven Steuererhöhungen. Dass jetzt innerhalb der Familie differenziert
wird ({7})
es gibt eine Kernfamilie, zu der Geschwister und die
Kinder von Geschwistern nicht mehr zählen, weshalb sie
erheblich höher besteuert werden als in der Vergangenheit -, kann weder die SPD ihren Wählern noch die
Union ihren Wählern erklären.
({8})
Der Eingangssteuersatz für diese nahen Verwandten
steigt um 250 Prozent, von 12 auf 30 Prozent.
Wir alle wollen doch, dass die Bürger Vermögen bilden, dass sie Eigentum bilden. Auch die FDP tritt für die
Eigentumsbildung der Bürger ein. Wir benötigen Eigentumsbildung in unserem Land. Eigentum schafft Sicherheit. Eigentum ist auch Vorsorge. Das ist einer der
Gründe, warum die Menschen auf diesem Gebiet aktiv
werden. Das kann doch nicht in dieser Form bestraft
werden. Die Frage ist, wer über das Eigentum verfügen
darf. Dazu sagen wir: Der Bürger sollte darüber verfügen dürfen, und so muss das auch weiterhin bleiben.
({9})
Man muss berücksichtigen, dass das, was an Vermögen aufgebaut wird, aus versteuertem Einkommen
stammt.
({10})
Das ist also schon einmal besteuert worden. Den Steuersatz an dieser Stelle in einem Maße anzuheben, dass fast
ein Drittel des Vermögens abzuführen ist, halten wir für
unverantwortlich. Ich gehe davon aus - solche Fälle gibt
es noch nicht, aber sie werden kommen -, dass sich viele
innerhalb der Union und innerhalb der SPD noch kräftig
umgucken werden, wenn die entsprechenden Steuerfälle
eintreten. Sie werden sehr schwer an dem zu knabbern
haben, was sie beschlossen haben.
({11})
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt eingehen,
der in diesem Zusammenhang zentral ist. Die Ursache
für die gegenwärtige Finanzkrise ist im Wesentlichen in
kapitalgeführten Gesellschaften auszumachen und nicht
in inhabergeführten Betrieben. In inhabergeführten Betrieben - das ist der Mittelstand unseres Landes - haften
die Inhaber für ihre Entscheidungen und ihr Tun. Deshalb sind sie nicht ganz so risikofreudig, in mancher
Hinsicht vielleicht sogar langweilig, aber ihre Betriebe
sind wesentlich stabiler.
Wenn eine Regierung nun sagt: „Auch wenn ihr die
Lohnsummen zehn Jahre lang fortführt, könnt ihr nur
dann von einer Steuerbefreiung profitieren, wenn ihr
keine 10 Prozent Verwaltungsvermögen habt“, dann
wird dadurch die Schaffung von Substanz in Familienunternehmen behindert. Wer mehr als 50 Prozent Verwaltungsvermögen hat, kommt nicht einmal in den
Genuss der sogenannten siebenjährigen Fortführungsklausel. Hier werden ganz bewusst Hürden aufgebaut,
die gegen die Interessen des Mittelstandes gerichtet sind;
und das, obwohl wir in der derzeitigen Krise erleben,
dass ein Unternehmen, welches über Kapital verfügt,
besser in der Lage ist, schwere Zeiten zu überstehen, als
ein Unternehmen, welches nicht in dem Maße über Eigenkapital verfügt. Insofern ist das Gesetz falsch konstruiert.
({12})
Wir müssen auch feststellen, dass die Lohnsummenklausel gerade in Phasen der Rezession - wir hatten in
der Bundesrepublik noch nie eine solche Rezession wie
derzeit - kontraproduktiv wirkt. Dass man jetzt einfach
sagt, das haben wir im letzten Jahr so beschlossen, als
man das noch nicht absehen konnte, und untätig bleibt,
kann ich nicht verstehen. Da kann ich dem Präsidenten
des Deutschen Industrie- und Handelskammertages,
Hans Heinrich Driftmann, nur zustimmen, der sagte:
„Brandbeschleuniger müssen beseitigt werden.“ Das ist
unsere Aufgabe. Wir dürfen doch nicht zusehen, wie die
Unternehmen in eine problematische Situation geraten.
({13})
Ich will das der breiten Öffentlichkeit verdeutlichen:
Gerade bei der Erbschaftsteuer besteht ein großer Unterschied zwischen börsennotierten Aktiengesellschaften
und mittelständischen Unternehmen. Wenn Aktien vererbt werden, erhält der Erbe die Aktien. Deren Wert wird
festgesetzt. Auf den Wert wird eine Steuer erhoben. Um
die Steuer bezahlen zu können, kann der Erbe Aktien
verkaufen. Das Unternehmen verliert dadurch keinen
Cent Kapital. Das ist beim deutschen Mittelstand komplett anders: Dort wurde das Geld in das Unternehmen
investiert. Dort soll es nach unserer Auffassung auch
bleiben, weil das im Interesse der Arbeitnehmer ist.
Daran zeigt sich, dass die Erbschaftsteuer im Bereich
der Wirtschaft eine reine Mittelstandsteuer ist. Die mittelständische Wirtschaft steht aber im Wettbewerb mit
börsennotierten Kapitalgesellschaften. Es kann doch
nicht sein, dass ein mittelständisches Unternehmen die
Gewinne, die es erwirtschaft hat, nicht investieren darf,
sondern zurücklegen muss, um irgendwann Erbschaftsteuerforderungen begleichen zu können. Das schwächt
die Position des Unternehmens und gefährdet damit die
Zukunftsfähigkeit der Arbeitsplätze in dem Unternehmen.
({14})
Deshalb - damit möchte ich zum Ende kommen, Frau
Präsidentin - halten wir es für dringend angezeigt, eine
Reform der Reform zu beschließen, je schneller desto
besser. Wenn die Erbschaftsteuer eine Ländersteuer ist,
was spricht denn dann dagegen, die entsprechende Kompetenz den Ländern zu überlassen?
({15})
Das ist doch die Aufgabe. Dann sollen die Länder die
Verantwortung übernehmen. Angesichts der Bemühungen der Länder um mittelständische Unternehmen und
um Arbeitsplätze sollten auch wir uns an dieser Stelle für
den Mittelstand einsetzen und verhindern, dass durch
dieses Gesetz weitere Arbeitsplätze verloren gehen. Das
können wir unserer Wirtschaft nicht zumuten. Das können wir den Arbeitnehmern in unserem Lande nicht antun. Deshalb ist eine Reform der Erbschaftsteuer dringend angezeigt.
Wir als FDP mahnen das heute an, wir haben in der
Vergangenheit gemahnt und werden auch in Zukunft
mahnen. Wir hoffen, dass zwischendurch auch seitens
der Koalition die Brisanz dieses Themas für den Mittelstand und für die Arbeitsplätze im Mittelstand erkannt
wird.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich gebe dem Kollegen Christian Freiherr von Stetten,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die große Schlacht um die Reform der Erbschaftsteuer ist im Deutschen Bundestag in den Jahren
2007 und 2008 ausgefochten worden. Ich füge deutlich
hinzu: Für diese Wahlperiode, die nur noch vier Sitzungswochen beinhaltet, ist die Diskussion um die Neuregelung der Erbschaft- und Schenkungsteuer beendet
und abgeschlossen. In den nächsten vier Sitzungswochen
werden wir nichts mehr an dem bestehenden Gesetz verändern.
({0})
- Das mögen Sie bedauern, aber glauben Sie denn im
Ernst, unser Koalitionspartner würde auch nur einen
Millimeter von dem im Dezember geschlossenen Kompromiss bei der Erbschaftsteuer abweichen?
({1})
- Das kann ich mir vorstellen. Man muss nur euer Wahlprogramm lesen. Dann käme es aber vielleicht auch
dazu, dass die Betriebe so weit heruntergewirtschaftet
sind, dass in Zukunft der Freibetrag für jeden Betrieb
ausreicht.
({2})
Wir wollen als Fraktion hervorheben: Der im Dezember geschlossene Kompromiss hat vielen Betroffenen
geholfen. Der verabschiedete Gesetzentwurf hat jedoch
auch Tücken. In der Wirtschaftskrise wird nun deutlich,
welche fatalen Auswirkungen die Lohnsummenklausel
auf den einen oder anderen Betrieb hat.
({3})
Denken Sie nur an die Betriebe, die Kurzarbeit anmelden mussten. Die Unternehmer haben ihre soziale
Verantwortung übernommen und die Mitarbeiter nicht
entlassen, sondern in Kurzarbeit geschickt, obwohl keine
Aufträge mehr da sind. Das verreißt ihnen nun völlig die
Lohnsumme. Im Erbfall müssen die unzumutbaren Folgen
von den betroffenen Unternehmen bzw. den Familienangehörigen des verstorbenen Unternehmers getragen
werden. Deshalb ist es wichtig, hierüber nachzudenken.
Auf die Anträge der Linken und die Grünen möchte
ich jetzt gar nicht ausführlich eingehen.
({4})
- Liebe Frau Höll, wenn das umgesetzt wird, was Sie
uns heute hier von diesem Rednerpult vorstellen werden,
dann wird der letzte mittelständische Unternehmer seine
Koffer packen und ins erbschaftsteuerfreie Ausland abwandern. Wenn Sie das wollen, dann machen Sie weiter
so. Meine Fraktion wird dies auf jeden Fall nicht unterstützen. Deswegen werden wir Ihren Antrag heute konsequent ablehnen.
({5})
Wir wollen in Zukunft auch weiterhin den Familienbetrieb haben, der in der Region fest verwurzelt ist
({6})
und der Verantwortung für seine Mitarbeiter übernimmt.
Reden Sie doch einmal mit Ihren Gewerkschaftsmitgliedern und mit den Mitarbeitern, die in Familienbetrieben
tätig sind. Fragen Sie sie einmal, was sie von Ihrem Programm halten. Sie sind froh und dankbar, dass sie bei
Familienbetrieben beschäftigt sind, dass sie noch wissen,
wo der Chef zu Hause ist und wo der Chef sitzt. Sie wollen nicht abgewickelt und von Großkonzernen übernommen werden. Ich denke, das wäre der falsche Weg.
Die ideologische Neidkampagne, die wir nachher
wieder von Ihnen hören werden, ist sicherlich unverantwortlich. Schon allein deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
({7})
Ich komme aus Baden-Württemberg. Ich bin stolz auf
die Strukturen, die wir haben. Es gibt sicherlich kein
Bundesland, das über derart gute Strukturen in Form von
großen und kleinen mittelständischen Familienbetrieben
verfügt und in dem die Unternehmer so eng mit ihren
Mitarbeitern zusammenarbeiten und so engagiert sind.
Herr Thiele, ich kann mir übrigens sehr gut vorstellen, dass die beiden Schwesterparteien CDU und CSU in
ihr gemeinsames Wahlprogramm 2009 das Ziel einer
Regionalisierung der Erbschaftsteuer aufnehmen.
({8})
Im Herbst werden wir sehen, ob wir das Wahlergebnis
bekommen, mit dem wir dann gemeinsam regieren können. Ich bin mir sicher, dass wir sehr schnell und konsequent in diesem Parlament einen neuen Gesetzentwurf
auf den Weg bringen können, wenn wir die erforderliche
Mehrheit bekommen. Da werden wir sicherlich auf die
Vorschläge zurückkommen.
({9})
Folgendes wäre mir jetzt wichtig - das können wir
auch kurzfristig in den verbleibenden vier Wochen umsetzen -: Unseren Familienbetrieben würde gerade in der
jetzigen Krise helfen, wenn wir die letzten Wochen der
Legislaturperiode völlig unideologisch gemeinsam nutzen würden, um das eine oder andere Problem, das bei
den Gegenfinanzierungsmaßnahmen zur Unternehmensteuerreform 2008 - ich denke an die Zinsschranke, die
Nutzung des Verlustvortrages und die gewerbesteuerliche Hinzurechnung bei Mieten und Pachten - aufgetreten ist, zu entschärfen.
({10})
Diese Verschärfungen stellten für die Unternehmen
schon in guten Zeiten starke Belastungen dar. Jetzt, in
der Krise, wird deutlich, dass sie für den einen oder anderen Familienbetrieb tödliche Folgen haben können.
Deswegen besteht hier dringender Handlungsbedarf.
({11})
Selbstverständlich sind die Belastungen zum Teil tödlich. Nehmen Sie nur folgendes Beispiel: Für eine gepachtete Lagerhalle muss auch dann, wenn sie das ganze
Jahr leer steht, weil es keine Aufträge gibt, Pacht gezahlt
werden, und auf diese Pacht muss noch ein gewerbesteuerlicher Anteil entrichtet werden, also eine Ertragsteuer
gezahlt werden, obwohl es gar keinen Ertrag gibt. Das ist
niemandem zu erklären. Wir sollten dies jetzt ruck, zuck
ändern.
({12})
Das Gleiche gilt übrigens für die Möglichkeit des
Verlustvortrages. Viele Familienbetriebe müssen gerade
in diesen Wochen neue Gesellschafter aufnehmen, sei es,
weil sie - wie das vorhin angeführt wurde - Erbschaftsteuer zahlen müssen, was zum Teil nur geht, wenn man
einen neuen Gesellschafter aufnimmt,
({13})
oder sei es schlichtweg, um das Unternehmen zu retten.
Es gibt derzeit genügend Fälle, in denen die Existenz des
Unternehmens davon abhängt, dass neue Gesellschafter
aufgenommen werden. Wenn ein neuer Gesellschafter - ob
man es will oder nicht - mit einem Anteil von 50 Prozent in den Betrieb einsteigt und den Betrieb und die Arbeitsplätze rettet, dann bedeutet das für das überschuldete Unternehmen, dass der Verlustvortrag praktisch
wegfällt, der neue Investor vor den Kopf gestoßen ist
und das Unternehmen eventuell in weitere große
Schwierigkeiten gerät.
({14})
Übrigens, Frau Staatssekretärin, der Bundesfinanzminister hat dieses Problem präzise erkannt, als es darum
ging, in welcher Form sich der Staat an privaten Banken
beteiligen soll.
({15})
Durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz - übrigens
auch mit Zustimmung der FDP ({16})
ist dafür gesorgt, dass der Verlustvortrag, wenn sich der
Staat an Privatbanken beteiligt, erhalten bleibt.
({17})
Zugleich fällt aber, wenn die privaten Banken das machen, was wir von ihnen erwarten, nämlich sich gegenseitig zu stützen, der Verlustvortrag weg. Wenn sich dagegen der Staat an einem Unternehmen beteiligt, bleibt
der Verlustvortrag, zum Teil in Milliardenhöhe, erhalten.
Da wundert man sich noch, dass alle nach dem Staat
schreien
({18})
und keine privatwirtschaftliche Lösung gelingt! Dieses
Problem müssen wir in den nächsten Wochen lösen.
({19})
Ich möchte jetzt nicht so weit gehen, zu behaupten,
dass der Bundesfinanzminister sich da eine eigene Steueroase geschaffen hat.
({20})
Aber darüber, dass der Verlustvortrag wegfällt, wenn andere sich beteiligen, und nur erhalten bleibt, wenn der
Staat sich beteiligt, sollten wir nachdenken; zumindest
sollten wir berechtigte Zweifel anmelden.
Ich bin übrigens gespannt, wie das in den nächsten
Wochen bei Opel funktionieren soll.
({21})
Wir wollen, dass sich private Investoren an dem Unternehmen beteiligen, und hoffen, dass sie dies tun. Spätestens dann aber, wenn durch die Aufnahme neuer Investoren in die Firma Opel - wie auch immer das Konstrukt
aussieht - die Gefahr besteht, dass Verlustvorträge in
Milliardenhöhe wegfallen, werden wir, weil wir alle ein
Interesse an der Rettung der Firma Opel haben, diese
Diskussion im Bundestag erneut führen.
Ich hoffe, dass wir alle dann, in wenigen Wochen oder
Tagen, den Mut haben, einzugestehen, dass das eine oder
andere, was im Rahmen der Unternehmensteuerreform
2008 beschlossen wurde, in Hochzeiten zwar möglich
war, aber in Krisenzeiten unverantwortungsvoll auf Firmen drückt und Sanierungen geradezu behindert. Hoffentlich werden wir dann gemeinsam, obwohl Bundestagswahlkampf ist und obwohl die Legislatur bald zu
Ende geht, im Interesse aller Mitarbeiter kleine Änderungen beschließen.
Herzlichen Dank.
({22})
Für die Linke gebe ich das Wort der Kollegin
Dr. Barbara Höll.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir befinden uns in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Steuereinnahmen brechen weg, und die
FDP möchte zusätzlich auf die Erbschaftsteuer verzichten. Dabei geht es für die Landeskassen um 4 Milliarden
Euro pro Jahr.
Im Rahmen der Steuerschätzung rechnet das Bundesfinanzministerium laut Spiegel mit Steuerausfällen in
Höhe von 300 Milliarden Euro bis 2013. Laut der aktuellen Prognose der EU-Kommission muss Deutschland für
2009 mit einer Neuverschuldung von 3,9 Prozent und für
2010 mit einer Neuverschuldung von 5,9 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts rechnen. In Eurobeträgen ausgedrückt bedeutet dies zusätzliche Schulden von circa
90 Milliarden Euro für dieses und über 130 Milliarden
Euro für nächstes Jahr.
Was macht die Regierung? Sie spannt für die maroden
Banken milliardenschwere Schutzschirme auf. Der SchutzDr. Barbara Höll
schirm für die Menschen fehlt aber bisher. Millionen
Menschen sind von Arbeitslosigkeit und wachsender Armut bedroht. Der Gipfel der Absurdität in dieser Wirtschaftslage ist, dass Frau Merkel und Herr Steinbrück
die Steuern senken, vor allem für Besserverdienende.
Das wird dann der Öffentlichkeit auch noch als Konjunkturmaßnahme verkauft. Im Konjunkturpaket II wird
der Tarif der Einkommensteuer abgesenkt. Summa summarum verursacht dies dieses und nächstes Jahr Mindereinnahmen in Höhe von 9 Milliarden Euro.
Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner
Fraktion geht hervor, dass für dieses und nächstes Jahr
eine Entlastung um 150 Millionen Euro für Bezieher von
niedrigen Jahreseinkommen bis 10 000 Euro bzw. bis
20 000 Euro bei Verheirateten erfolgt. Gutverdiener mit
einem Jahresverdienst von über 53 000 Euro bzw.
106 000 Euro werden hingegen um 1 450 Millionen Euro
entlastet. Das ist das Zehnfache. Das heißt, bei der Einkommensteuerentlastung bleibt sich die Große Koalition
leider treu. Auch in der Krise verteilen Sie weiter von
unten nach oben um.
({0})
Die Steuersenkungen in Ihrem Konjunkturpaket,
meine Damen und Herren von der Regierung, helfen der
Konjunktur nicht; dazu greifen sie viel zu spät. Das liegt
daran, dass Ihr Blick einzig und allein starr auf die Bundestagswahl gerichtet ist. Mittlerweile veranstalten Sie
einen regelrechten verbalen Steuersenkungswettbewerb,
indem Sie munter weitere Steuersenkungen versprechen.
Auf der anderen Seite sind Sie bereit, eine fatale
Schuldenbremse im Grundgesetz zu installieren. Das
Ende vom Lied wird sein, dass Sie sagen: Die Schuldenbremse ist nun im Grundgesetz verankert. Wir haben
sehr viele Schulden und dürfen keine neuen aufnehmen.
Daher müssen wir massiv im sozial-, kultur- und bildungspolitischen Bereich einsparen: Rentner, Arbeitslose und Familien mit Kindern werden die Zeche für die
Krise, die auch Sie mitverschuldet haben, zahlen müssen. Das ist purer Hohn.
Wer soll denn nun für die Krise und die Milliardenverluste aufkommen? Die Menschen haben das Recht,
eine Antwort auf diese Frage zu bekommen; auch und
gerade im Wahlkampf. Antworten sind Sie alle miteinander aber bisher schuldig geblieben. Milliarden kann man
nicht einfach so einstreichen. Sie können natürlich die
Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte erhöhen. Das
würde 20 Milliarden Euro ausmachen.
Und da fordert die FDP offen die Abschaffung der
Erbschaftssteuer, die CDU diskutiert es, und die SPD hat
in Bezug auf die letzte Reform der Erbschaftsteuer gesagt: Wir wollen nicht mehr Geld - nur 4 Milliarden
Euro, wie auch immer sie erzielt werden.
Gerade die Erbschaftsteuer ist doch eine ideale
Steuer. Denn die Steuer wird bei demjenigen erhoben,
der etwas bekommt, ohne dass er dafür etwas getan hat.
Es handelt sich um ein leistungslos erzieltes Einkommen. Die Frage ist, wie wir es als Gesellschaft regeln,
wenn jemand etwas leistungslos bekommt. Bekommt
dieser dann 100 Prozent, oder bekommt er 70 Prozent
und gibt 30 Prozent an die Gemeinschaft ab, oder bekommt er 20 Prozent und gibt 80 Prozent ab? Das ist die
Frage, die im Raum steht.
({1})
- Zu den mittelständischen Betrieben komme ich noch.
Da die FDP angeblich für Chancengleichheit und
Leistungsgerechtigkeit kämpft, sage ich Ihnen: Wenn Sie
wirklich für Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit wären, dann müssten Sie eigentlich die Vorkämpferin für den Ausbau der Erbschaftsteuer sein.
({2})
Denn mit den Einnahmen aus der Erbschaftsteuer könnte
man zum einen die realen Einkommens- und Vermögensunterschiede, die in den letzten sieben Jahren rasant
gewachsen sind, ausgleichen. Zum anderen hätte dann
die öffentliche Hand wieder Geld zur Verfügung und
könnte für einen realen Ausgleich sorgen, indem zum
Beispiel Bibliotheken finanziert, Kindertagesstätten saniert und neue Schulen gebaut werden. All dies wäre
möglich.
Indem Sie aber in der gesamten Diskussion immer
nur Familienbetriebe in den Blick nehmen, führen Sie
Beispiele an, die mit der Realität nichts zu tun haben.
Erstens möchte ich darauf hinweisen, dass bisher
nicht ein einziger Familienbetrieb pleitegegangen ist,
weil er Erbschaftsteuer zu zahlen hatte; das ist nachgewiesen.
({3})
Zweitens. Auch wir setzen uns für eine andere Behandlung des Betriebsvermögens ein. Die Probleme
aber, dass ein Firmeninhaber keinen Nachfolger findet
oder dass ein Firmeninhaber drei Söhne hat, die sich um
das Erbe streiten, werden wir nicht lösen können. Wie
auch immer wir die Erbschaftsteuer ausgestalten, diesen
Streit können wir nicht ausräumen. Man kann aber zielgerichtet vorgehen. In unserem Antrag - Sie hätten ihn
ruhig einmal lesen können, Herr von Stetten - schlagen
wir eine Ermäßigung der Erbschaftsteuer auf die gegenständlichen Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens vor.
Damit wird die wesentliche Betriebsgrundlage verschont.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil unseres Antrags ist
die Stundung der Erbschaftsteuer auf bis zu zehn Jahre.
({4})
Man muss sie doch nicht heute oder morgen zahlen.
({5})
Diese Maßnahmen würden wirken und der Besonderheit
des Betriebsvermögens Genüge tun.
Sie geben vor, für die soziale Marktwirtschaft einzutreten, vergessen aber zugleich, dass sich die Hälfte aller
Haushalte niemals Gedanken über die Erbschaftsteuer
machen muss, weil sie nichts erbt. In Deutschland verfügen nämlich 10 Prozent aller Haushalte über 60 Prozent
des Gesamtvermögens. Wer angesichts dessen für die
Abschaffung der Erbschaftsteuer eintritt,
({6})
setzt sich damit nur für die Vermögenden ein. Eine solche Politik machen wir nicht mit.
Wir sind für eine Neugestaltung der Erbschaftsteuer.
Daran werden wir festhalten. Das DIW hat nachgewiesen, dass es gut möglich wäre, durch eine Verbreiterung
der Bemessungsgrundlage 10 Milliarden Euro mehr einzunehmen. Ich glaube, dieses Geld hätte die Bundesrepublik derzeit bitter nötig.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorab eine Bemerkung zu Ihrem Redebeitrag, Frau Kollegin Höll: Ich finde, dass sich beim Thema Einkommensteuer die angeblich ungerechte Verteilung von
unten nach oben, die Sie heute wieder einmal angesprochen haben, nicht festmachen lässt, weil wir einen linear-progressiven Steuertarif haben.
({0})
Bevor Sie das anprangern, müssen Sie die Frage beantworten, wie Sie sich die Einkommensteuer vorstellen:
Wollen Sie zukünftig eine Flat Tax einführen, oder was
wollen Sie?
({1})
Denn wenn man gewisse Einkommensklassen entlastet
- es wurden ja nur die unteren entlastet -, ist es schlicht
und ergreifend so, dass derjenige, der mehr Steuern
zahlt, relativ gesehen eine größere Entlastung hat. Das
ist die Logik eines linear-progressiven Steuertarifs. Sie
sollten schon einmal sagen, was Sie stattdessen wollen.
({2})
Ich bin auch der Meinung, dass es nicht angemessen
ist, im Zusammenhang mit der Einkommensteuer solche
Neiddebatten zu führen und sogar der Bevölkerung den
Eindruck zu vermitteln, dass es gerecht sei, die Grenzsteuersätze auf 70 Prozent zu erhöhen. Bei Ihnen gibt es
sogar Leute, die eine Erhöhung bis auf 90 Prozent fordern.
({3})
- Gut, auf 80 Prozent. Danke. - Stellen Sie sich einmal
vor, was das für die kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Republik, die als Personengesellschaften
geführt sind, bedeuten würde.
({4})
Für diese Unternehmen würde dann, weil sie zur Einkommensteuer veranlagt werden, ein Einkommensteuersatz von 80 Prozent gelten.
({5})
Für Körperschaften würde dagegen ein Steuersatz von
15 Prozent gelten, einschließlich Gewerbesteuer ein
Steuersatz von 30 Prozent.
({6})
Es ist absurd, zu glauben, dass man dadurch Arbeitsplätze schafft und einen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit
in diesem Land leistet.
({7})
- Ich nicht.
({8})
- Und viele andere auch nicht.
({9})
Damit komme ich zur Debatte über die Erbschaftsteuer. Der Gesetzentwurf der FDP würde dazu führen,
dass die Erbschaftsteuer abgeschafft würde. Das ist ja
das Ziel der FDP; da muss die FDP ehrlich sein.
({10})
Auch Teile der Union sähen das gerne.
Wir haben heute schon mehrere Male darüber gesprochen, dass Bund, Länder und Gemeinden - davon geht
auch das BMF mittlerweile aus - bis 2013 mit Steuerausfällen in der Größenordnung von 300 Milliarden
Euro rechnen müssen. Damit man sich vorstellen kann,
wie die Relationen sind: Der Bundeshaushalt für ein Jahr
umfasst nicht einmal 280 Milliarden Euro.
Jeder weiß, dass die wirtschaftliche Lage schwierig
ist: Die Arbeitslosigkeit wird steigen. Damit kommen
weniger Sozialversicherungsbeiträge herein. Das wird
unsere sozialen Sicherungssysteme entsprechend belasten. Gleichzeitig werden die Ausgaben des Staates steigen. In einer solchen Phase von geringeren Steuereinnahmen vorzuschlagen, eine Steuer abzuschaffen - bzw.
sie so zu konzipieren, dass das im Ergebnis zu ihrer Abschaffung führt -, halte ich für unverantwortlich.
({11})
Bei den Ausgaben für Bildung liegt Deutschland, wie
man sieht, wenn man sich die Zahlen anschaut, um einiges unter dem OECD-Durchschnitt, und das, obwohl
wir, wenn man so will, ein reiches Land sind. Es gibt
aber Länder in Skandinavien, die für die Bildung ihrer
Kinder bis zu 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgeben. Auch Spanien und Großbritannien geben für die
Bildung ihrer Kinder mehr aus als der OECD-Durchschnitt. Deutschland aber gibt für Bildung weniger aus
als der OECD-Durchschnitt, und das, obwohl wir im
Verhältnis zum Rest der Welt eine gute allgemeine Situation haben.
({12})
Wir Grünen sagen: Leute, werdet euch darüber klar, was
wir im Bildungssektor für die Zukunft erreichen wollen!
Unser Ziel als Grüne ist, dass die Einnahmen aus der
Erbschaftsteuer zur Verbesserung der Bildungsfinanzierung herangezogen werden. Das ist zwingend notwendig. Wenn wir das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer
zur Verbesserung der Bildung einsetzen,
({13})
sind wir auf dem richtigen Weg, Herr Thiele. Die Erbschaftsteuer ist ja eine Ländersteuer. Auch die Bildungsfinanzierung ist Ländersache. Das passt wunderbar, das
kann man verknüpfen.
({14})
- Ich weiß schon, wie Sie das meinen; dazu ich komme
ich jetzt. - Die FDP will nun, dass die Gesetzgebungskompetenz für die Erbschaftsteuer auf die Bundesländer
übertragen wird.
({15})
- Ja, das ist Ihr Vorschlag. - Dann bekommen wir eventuell 16 Erbschaftsteuergesetze. Supergeile Idee! Das
bringt eine unheimliche Steuervereinfachung, vor allem
dann, wenn jemand in verschiedenen Bundesländern Vermögen vererbt bekommt. Welcher Freibetrag gilt denn
dann wo?
({16})
Vielleicht hoffen Sie, dass Bayern dann wegen der Nähe
zu Österreich auf die Erbschaftsteuer verzichtet und damit gegenüber Baden-Württemberg oder auch Hessen
Steuerdumping betreibt. Das ist die schöne neue Welt
der FDP.
({17})
Übrigens würden auch die Vorschläge aus der Union,
persönliche Steuerfreibeträge in den Ländern zuzulassen, das Chaos eher vergrößern. Was soll denn geschehen, wenn ein Vermögender steuerpflichtiges Vermögen
in mehreren Bundesländern hat? Soll eine Schiedsstelle
eingerichtet werden, um festzustellen, welcher persönliche Freibetrag wo anzuwenden ist? Ja, sind Sie denn
völlig bekloppt? Auf der einen Seite fordern Sie Steuervereinfachung, auf der anderen Seite machen Sie Vorschläge, die letztendlich zur Verkomplizierung führen!
({18})
Der Herr Kollege Fricke möchte eine Zwischenfrage
stellen.
Frau Kollegin Scheel, da ich weiß, dass Sie keine
Gegnerin des Föderalismus sind, frage ich Sie unter dieser Voraussetzung Folgendes: Wenn wir nun eine Schuldenbremse bekommen, die nach dem Wunsch der Großen Koalition den Ländern zukünftig verbietet, Schulden
zu machen, halten Sie es dann nicht für eine logische
Schlussfolgerung, dass die Länder eigene Steuern brauchen, um mit ihrer eigenen Steuerpolitik auf mögliche
Verschuldungssituationen reagieren zu können?
Wenn nach Ihrer Meinung die Erbschaftsteuer dafür
nicht infrage kommt, würden Sie mir sagen, mit welchen
anderen Steuern die Länder künftig gegen eine Verschuldung angehen könnten?
Bei den gesamten von Ihnen eingebrachten Vorschlägen - auch im Laufe des heutigen Tages wurden einige
davon angesprochen -, die Steuerentlastungsprogramme
in einer Größenordnung von 100 Milliarden Euro - das
BMF hat das aktuell nachgerechnet - beinhalten, kann
von einer Schuldenbremse nicht mehr die Rede sein.
({0})
Dann wäre die Schuldenbremse längst obsolet. Wenn
man die Politik der FDP umsetzen würde, dann hätten
wir nämlich eine Wahnsinnsverschuldung in diesem
Land, die die nächsten drei bis fünf Generationen nicht
abbauen könnten.
({1})
Sie haben gefragt, welche Steuern man den Ländern
zuweisen sollte. Sie wissen genau, dass es Sinn macht,
wenn der Bund gerade in dem sehr sensiblen Bereich der
Gerechtigkeitssteuern einen Rahmen vorgibt. Diesen
Rahmen hat der Bund mit den jeweiligen Freibeträgen
geschaffen. Sinnvoll ist auch, sich auf einen Ausgleich
zu verständigen, wie wir es getan haben. Wie Sie wissen,
wird das Erbschaftsteueraufkommen unter den Ländern
aufgeteilt.
Es macht in einem föderalen System durchaus Sinn,
sich an dieser Aufteilung zu orientieren, statt vorzuschlagen, dass künftig jeder macht, was er will. Sie glauben doch selbst nicht, dass jemand, der einen größeren
Wettbewerbsvorteil anstrebt, bereit ist, keine Steuern
mehr zu erheben. Das kann nicht funktionieren.
({2})
Das würde die Gerechtigkeit in diesem Land nicht erhöhen. Im Gegenteil: Es würde zu großen Problemen kommen.
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung. Um Missverständnisse auszuschließen: Auch wir Grünen sind der
Auffassung, dass die Umsetzung der Erbschaftsteuer im
Zusammenhang mit der Unternehmensnachfolge ziemlich missglückt ist. Wir hätten gerne - das haben wir
auch im Wirtschaftsausschuss beantragt -, dass sich der
Normenkontrollrat damit und mit den bürokratischen
Hemmnissen befasst. Man sollte sich fragen, ob eine solche Regelung, wie sie in der Großen Koalition beschlossen worden ist, in Krisenzeiten von den Unternehmen
umsetzbar ist, weil die Parameter in wirtschaftlich
schweren Zeiten nicht so funktionieren wie vorgesehen.
Frau Kollegin Scheel.
Ja. - Ich wünschte mir, dass man sich noch einmal damit befasst. Ansonsten wünsche ich bei allen Steuersenkungsvorhaben frohe Verrichtung.
Frau Kollegin Scheel.
Sie müssen langsam ein bisschen ehrlich werden.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Höll.
Danke, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegin Scheel,
noch einmal langsam zum Mitdenken, damit wir alle
- auch Sie - es gut verstehen:
({0})
Wir haben ein Konjunkturpaket, in dem eine Anhebung
des Grundfreibetrages und eine Absenkung des Eingangssteuersatzes um einen Prozentpunkt verabredet
wurden. Das hat aufgrund des bisherigen Tarifs im unteren und oberen Bereich unterschiedliche Auswirkungen.
Menschen mit einem niedrigen Einkommen erfahren
eine sehr geringe Entlastung auch im Gesamtvolumen.
Dieses Geld wird sofort zugunsten der Binnennachfrage
eingesetzt. Das ist völlig klar. Sie brauchen das Geld und
müssen es ausgeben.
Was im oberen Bereich ankommt, wird nicht vollständig ausgegeben. Dort ist relativ viel Geld vorhanden;
wer weiß schon, ob 1 000 oder 1 100 Euro im Monat für
irgendwelche Konsumgüter ausgegeben werden. Es wird
nicht mehr ausgegeben. Deshalb ist es eine Verhöhnung,
wenn man diese Maßnahme als Konjunkturmaßnahme
verkauft.
Des Weiteren ist es eine Verfestigung eines ungerechten Einkommensteuersystems. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie es nicht geschafft haben, unsere Anträge
zu lesen, da wir sie im Ausschuss ausführlich diskutiert
haben. Wir schlagen Ihnen einen Einkommensteuertarif
vor, durch den eine alleinstehende Person mit einem zu
versteuernden Jahreseinkommen bis 53 000 Euro entlastet wird. Aber oberhalb dieser Grenze müssen die Menschen mehr Einkommensteuer zahlen. Das ist auch richtig, weil es sozial gerecht ist. Dazu sind die Anhebung
des Grundfreibetrags und ein Spitzensteuersatz von
50 Prozent ab einem Jahreseinkommen von 60 000 Euro
notwendig. Wir haben Ihnen schon vor über einem Jahr
vorgeschlagen, endlich die Inflation beim Einkommensteuertarif zu berücksichtigen. Unsere Vorschläge liegen
vor. Es ist möglich, den Einkommensteuertarif sozial gerecht zu gestalten.
An einem Punkt hatten Sie vorhin leider nicht recht:
Der bisherige Einkommensteuertarif ist nicht durchgängig linear-progressiv. Es gibt einen Mittelstandsbauch.
Dieser führt dazu, dass gerade die Menschen, die über
niedrige bis mittlere Einkommen verfügen, überproportional belastet werden. Der Verlauf des Einkommensteuertarifs stellt keinen Strich dar, sondern zeichnet sich
durch einen Bauch aus. Wir wollen diesen Bauch abschaffen; denn das würde für wesentliche Entlastungen
sorgen.
({1})
Dieser Bauch im Einkommensteuertarif muss weg! Was
wir vorschlagen, ist machbar. Wir brauchen eine sozial
gerechte Politik. Dafür ist politischer Willen notwendig.
Dann kann man das realisieren und finanzieren.
Bei der Reform der Erbschaftsteuer im vergangenen
Jahr ist die Möglichkeit vertan worden, Mehreinnahmen
zu erzielen. In der aktuellen Krise stellt sich die Frage
nach einer erneuten Reform ganz vehement. Die Linke
unterstützt die Forderung vieler Menschen auf der
Straße: Wir zahlen nicht eure Zeche! - Diese Forderung
ist berechtigt. Wir werden alles dafür tun, dass nicht
letztendlich die Menschen, die über kleine Einkommen
verfügen oder sogar von Transferleistungen leben müssen,
({2})
die Zeche durch Einschränkung zum Beispiel im Bereich
der gesellschaftlichen Teilhabe zahlen müssen.
Danke.
({3})
Frau Kollegin Scheel, Sie können antworten.
({0})
Ich muss nicht, aber ich will.
Liebe Kollegin Barbara Höll, selbstverständlich lesen
wir die Anträge der Linken sehr aufmerksam; denn wir
setzen uns im Finanzausschuss mit den Fragen sehr detailliert auseinander. Ich sage noch einmal: Ich glaube
nicht, dass Ihr Vorschlag, den Grundfreibetrag zu erhöhen und den Eingangssteuersatz um einen Prozentpunkt
zu senken und gleichzeitig den Spitzensteuersatz auf
50 Prozent anzuheben - Sie versuchen, den Eindruck zu
erwecken, dass sich so Gerechtigkeit im Einkommensteuertarif herstellen lässt -, irgendeinen Sinn macht,
wenn man die Belastungen durch den Einkommensteuertarif kennt und weiß, welche Bevölkerungsgruppen
wie viel zum Einkommensteueraufkommen beitragen.
Bezieher mittlerer und hoher Einkommen erarbeiten
über 90 Prozent des Einkommensteueraufkommens.
Diese werden auch entsprechend besteuert.
({0})
Genau diese wollen Sie - auch im Unternehmenssektor - wieder höher belasten. Ich akzeptiere nicht, dass
Sie hier so tun, als ginge es hier um irgendwelche Manager
oder Leute, die einen Haufen Geld verdienten und die
dementsprechend belastet werden müssten, damit sie einen Beitrag leisten. Vielmehr geht es immer auch um die
kleinen und mittelständischen Unternehmen. Das unterschlagen Sie an dieser Stelle. Sie können rechtlich nicht
zwischen der Einkommensteuer im Unternehmenssektor
- diese wird erhoben, wenn ein Unternehmen als Personengesellschaft geführt wird - und der privaten Einkommensteuer trennen; das wissen Sie auch. Ein bisschen
mehr Ehrlichkeit an dieser Stelle wäre angesagt.
({1})
Sie wollen den Bauch im Einkommensteuertarif beseitigen. Das ist okay. Ich glaube nicht, dass es jemanden
unter den Anwesenden gibt, der sagt: Das ist keine gute
Idee.
({2})
Aber darum geht es nicht. Es kostet allein 25 Milliarden
Euro, den linear-progressiven Einkommensteuertarif so
zu glätten, dass es keinen Bauch mehr gibt und er kontinuierlich verläuft. 25 Milliarden Euro!
({3})
Das beinhaltet aber noch nicht einen Inflationsausgleich,
die Beendigung der kalten Progression, eine Anhebung
des Grundfreibetrags und eine Senkung des Eingangssteuersatzes. Wenn ich mir Ihr Programm anschaue,
dann sehe ich, dass Ihre Vorschläge überhaupt nicht finanzierbar sind. Den Vorwurf, den Sie an die Union, die
FDP und Teile der SPD richten, Steuersenkungen seien
letztendlich nicht finanzierbar, müssen Sie sich selbst
gefallen lassen; denn die Anhebung des Spitzensteuersatzes kompensiert das alles nicht.
({4})
Letzte Bemerkung. Ich halte es für verrückt, immer
zu sagen: Die Ärmsten in der Gesellschaft müssen wir
entlasten.
Frau Kollegin Scheel, Sie haben für die Erwiderung
auf eine Kurzintervention drei Minuten Zeit. Diese sind
überschritten. Sie können jetzt keine Ausführungen
mehr machen.
Ein Satz?
Ein Satz.
50 Prozent der Erwerbstätigen zahlen überhaupt keine
Steuern. Wenn man keine Steuern zahlt, kann man auch
nicht entlastet werden.
({0})
Das Wort hat der Kollege Florian Pronold, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Höll, ich bin wirklich geplättet,
dass Sie im Zusammenhang mit der Einkommensteuer
wiederholt die Zahlen so durcheinanderwerfen und sich
immer das herauspicken, was Sie gerade brauchen. Sie
sprechen in Ihrem ersten Beispiel davon, dass die Bezie23900
her niedriger Einkommen - 10 000 Euro und bei Verheirateten 20 000 Euro - durch den Waigel-Buckel besonders belastet würden.
({0})
Das war das Ende Ihrer Rede. Das können Sie im Protokoll nachlesen. Jetzt muss man doch zur Kenntnis nehmen, was Frau Kollegin Scheel ausgeführt hat, nämlich
wie sich die Verteilungswirkung bei der Einkommensteuer darstellt. Es sind tatsächlich die Bezieher mittlerer
und hoher Einkommen, die überproportional zum Aufkommen der Einkommensteuer beitragen. Das ist deswegen der Fall, weil wir einen Grundfreibetrag von derzeit 7 664 Euro und zukünftig 8 000 Euro haben, für den
keine Steuer zu zahlen ist. Damit bleibt für denjenigen,
der ein Einkommen von 10 000 Euro hat, nur ein sehr
geringer Betrag, der versteuert werden muss. Eine Entlastung in diesem Bereich ist logischerweise absolut und
relativ gering, obwohl sie für die Menschen eine erkleckliche Summe darstellt. Auch das gehört zur Wahrheit. Das kann man nicht beliebig hin- und herdrehen.
({1})
Da wir schon bei der Wahrheit sind, müsste ich jetzt
eigentlich zur FDP kommen, die damit allerdings gar
nichts zu tun hat.
({2})
Sie beschließen auf Ihrem Parteitag
({3})
- das ist eine spannende Frage, die Sie klären müssen -,
die Erbschaftsteuer zu erhalten. Selbst die FDP traut sich
nicht, auf einem Bundesparteitag zu beschließen, die
Erbschaftsteuer abzuschaffen.
({4})
- Es gab auch in Ihrer Partei, nicht nur in der CDU/CSU,
Leute, die die Erbschaftsteuer abschaffen wollten, falls
ich mich nicht irre. Die Mehrheit der FDP aber hat beschlossen, sie solle fortbestehen.
({5})
Jetzt wollen Sie die Erbschaftsteuer über die Hintertür
abschaffen, weil Sie sich nicht trauen, ehrlich zu sein.
Sie sprechen sich für eine Regionalisierung aus und wollen einen Steuerwettbewerb unter den einzelnen Ländern. Das wollen Sie mit der Frage des Bürokratieabbaus
verbinden. Man könnte fast meinen, Edmund Stoiber
wäre in die FDP eingetreten und hätte dieses Konzept
zum Bürokratieabbau geschrieben.
({6})
Das Konzept bedeutet in der Konsequenz, dass wir dann,
wenn Ihr Vorschlag Gesetz würde, 120 Doppelbesteuerungsabkommen zwischen den einzelnen Bundesländern
brauchen, weil es dummerweise nicht so ist, dass das
vererbte Vermögen immer nur in einem Bundesland
liegt; es kann vielmehr auch in unterschiedlichen Bundesländern liegen. Dann müssen Sie Regelungen treffen,
wie damit umzugehen ist.
({7})
120 zusätzliche Doppelbesteuerungsabkommen sind der
Beitrag der FDP zum Bürokratieabbau.
({8})
Damit entlarven Sie sich selber. Das ist eine der dümmsten Ideen, die je in den Deutschen Bundestag eingebracht worden sind, zumindest unter dem Gesichtspunkt
des Bürokratieabbaus.
({9})
Der nächste Punkt hat etwas mit der Verteilungswirkung und der Gerechtigkeit zu tun. Jedes Jahr werden
250 Milliarden Euro vererbt. Davon werden derzeit Erbschaftsteuern in Höhe von gerade einmal 4 Milliarden
Euro bezahlt. Steuerklasse I gilt für die nahen Familienangehörigen. Um der Wahrheit willen hätten Sie, Herr
Thiele, sagen sollen, dass diese Neueinteilung in Steuerklassen, die Sie behauptet haben, gar nicht stattgefunden
hat. Es galt schon immer für enge Familienangehörige
Steuerklasse I, für weiter entfernte Angehörige Steuerklasse II und für nicht oder sehr weit entfernt Verwandte
Steuerklasse III. Daran hat sich nichts geändert. Das war
früher so, das ist heute so.
({10})
- Dazu komme ich gleich. Eines nach dem anderen, Herr
Thiele. Ich muss all den Unsinn, den Sie hier erzählt haben, der Reihe nach widerlegen.
({11})
Wir müssen bei der grundsätzlichen Frage, wie sich
das verteilt und was mit dem Geld gemacht wird, die
Feststellung treffen, dass der Freibetrag für die nahen
Familienangehörigen 400 000 Euro und für Ehefrauen
500 000 Euro beträgt.
({12})
- Ich komme gleich zu der zweiten Kategorie. Eines
nach dem anderen, Herr Thiele. Nur die Ruhe.
({13})
50 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland kommen nie in die Lage, Erbschaftsteuer
zahlen zu müssen, weil sie nichts erben. Bei den anderen
50 Prozent beträgt das durchschnittliche Erbe 60 000 Euro.
Pro Erbfall gehen in der Bundesrepublik Deutschland
also durchschnittlich 60 000 Euro über, aber wir erhöhen
den Freibetrag in der Steuerklasse I auf 400 000 Euro.
({14})
Das bedeutet, dass in der Steuerklasse I nicht nur Omas
kleines Häuschen, sondern eine ganze Menge mehr steuerfrei übergeht, ohne dass dafür irgendwo etwas geleistet
worden ist.
Ich bin schon überrascht, weil die Liberalen zumindest in ihren Ursprüngen sogar das Erbrecht abschaffen
wollten. Ganz früher haben die Liberalen gesagt, es sei
eine Marktverzerrung, wenn Menschen mit unterschiedlichen Chancen im Leben starten, weil der eine etwas
erbt und der andere nicht. Die frühen Liberalen waren
dafür, das Erbrecht abzuschaffen.
({15})
Wir wollen, dass ein kleiner Teil von dem, was Menschen erben, ohne dass sie etwas dafür tun, zum Beispiel
in den Ländern für mehr Bildung eingesetzt wird. Wir
wollen ein Stück weit Solidarität von denen, die die großen Erbschaften machen, mit denen, die nie etwas erben
werden.
Wenn wir über den Mittelstand reden, müssen wir bedenken, dass der Mittelstand auch wegen der gut ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so erfolgreich ist. Diese guten Arbeitskräfte haben wir, weil
es in der Bundesrepublik Deutschland Schulen gibt, und
diese Schulen werden von den Ländern und Kommunen
aus Steuermitteln finanziert.
({16})
Die Abschaffung der Erbschaftsteuer würde zum Beispiel für den Freistaat Bayern bedeuten, dass er
800 Millionen Euro weniger im Staatshaushalt hätte.
({17})
- Natürlich sind es 800 Millionen.
({18})
- Wir können alles so oder so rechnen.
({19})
Überwiegend hat jetzt der Kollege Florian Pronold
das Wort.
({0})
Das Erbschaftsteueraufkommen beträgt in Bayern
800 Millionen Euro. Das ist so. Als Herr Faltlhauser
noch Finanzminister war, hat er gesagt, darauf könne
Bayern nicht verzichten, weil er dann eben kein Geld
mehr habe für Lehrer und für Schulen. Jetzt erklären Sie
mir - Länderfinanzausgleich hin oder her -, woher Sie
das Geld nehmen, wenn Sie die Erbschaftsteuer nicht
mehr wollen. Sagen Sie den Leuten, dass das, was man
den Reichen schenkt, nachher den Armen genommen
wird. Das genau soll doch hier passieren. Das will die
FDP, aber sie traut sich nicht, das offensiv zu betreiben.
Sie sagen, jedes Bundesland solle selber bestimmen,
und starten damit einen Steuersenkungswettlauf, wie wir
das bei der Unternehmensteuerreform oder in anderen
Bereichen erleben, wo zum Schluss alles bis auf null herunterkonkurriert ist. Aber von null Steuereinnahmen
kann man eben keine Lehrer bezahlen. Sie müssen schon
sagen, woher das Geld kommen soll.
({0})
- Wir können gern das Beispiel Österreich nehmen, dann
müssen wir uns aber auch deren Kompensationen anschauen. Ich bin gespannt, ob die FDP auch für solche
Regelungen ist.
({1})
Jetzt zur Steuerklasse II, zu den entfernteren Familienangehörigen.
({2})
Es geht hier nicht um die individuellen geschwisterlichen Beziehungen. Das Verhältnis zwischen Brüdern
kann entfernter oder näher sein.
({3})
Hier geht es um einen rein steuertechnischen Begriff.
({4})
- Jetzt lenken Sie nicht ab.
({5})
Für die engen Familienangehörigen gilt seit jeher
Steuerklasse I und für die entfernteren Familienangehörigen die Steuerklasse II. Das ist über Jahrzehnte hinweg
ohne irgendein Drama in diesem Haus immer so behandelt worden. Das wird aller Voraussicht nach auch so
bleiben.
Jetzt geht es darum, dass wir die Freibeträge in der
Steuerklasse II verdoppelt haben.
({6})
- Von 10 000 Euro auf 20 000 Euro.
({7})
- Entschuldigung, für eine ganze Menge Menschen ist
das mehr, als sie überhaupt erben.
({8})
Dass ein entsprechender Freibetrag für Sie vielleicht
nicht viel Geld bedeutet, kann ich noch verstehen. Ich
kenne aber eine ganze Menge Menschen, die froh wären,
wenn sie 20 000 Euro erben würden. Sie wären vielleicht
sogar bereit, dafür etwas zu zahlen.
Herr Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?
({0})
Ich gestatte sie.
Herr Kollege Pronold, zunächst einmal verwehre ich
mich gegen Ihre Unterstellung, für meine Partei oder für
mich seien 10 000 Euro ein geringer Betrag.
({0})
- Das ist genau diese verleumderische Art: zu behaupten, ich hätte gesagt, 10 000 Euro seien ein geringer Betrag. Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass die
Verdoppelung des Freibetrags von 10 000 Euro auf
20 000 Euro - bei Geschwistern will der Staat gerade
einmal 20 000 Euro schützen; für den restlichen Betrag
soll ein erhöhter Steuersatz gelten - ein falsches Verständnis dessen vermittelt, was Familie bedeutet.
({1})
Familie ist mehr als nur Eltern und Kinder. Ihr Vorhaben
ist gerade mit dem von Ihrer Fraktion immer wieder vertretenen Ansatz eines weitgefassten Familienbegriffs
- Familie soll nicht zwingend daran gebunden sein, dass
Menschen eine Ehe eingegangen sind - überhaupt nicht
in Einklang zu bringen.
Ich frage Sie, Herr Kollege Pronold: Warum ist der
Freibetrag bei Geschwistern so viel geringer als bei Kindern oder Eheleuten? Sind Geschwister so viel weiter
weg von den jeweiligen Erblassern? Warum wollen Sie
das?
({2})
Ich neige dazu, Ihre Frage mit einer Gegenfrage zu
beantworten - ich glaube, Schwarz-Gelb hat die Freibeträge auf 10 000 Euro festgelegt -: Warum haben Sie in
Ihrer Regierungszeit keine doppelt so hohen Freibeträge
festgelegt? Ich bitte um eine Antwort auf meine Gegenfrage, auch wenn das in diesem parlamentarischen Kontext schwer möglich ist.
({0})
Herr Fricke, möchten Sie noch mehr hören? - Gerne!
({1})
Ich frage ja nur. Ich finde, die Frage ist hinreichend beantwortet.
Ich denke auch, Herr Kollege Pronold. Fahren Sie mit
Ihrer Rede fort.
Vielen herzlichen Dank. - In dieser Debatte ist die angebliche Bevorzugung der Kapitalgesellschaft gegenüber dem Mittelständler, der eine Personengesellschaft
ist, angesprochen worden. Das Gegenteil von einer Bevorzugung ist der Fall. Mit unserer Erbschaftsteuerreform haben wir gerade auf den Mittelständler geblickt.
Es ist eben ein Unterschied, ob man Aktien hat, die man
ganz einfach versilbern kann, oder ob es sich um ein Unternehmen mit Beschäftigten, mit Betriebsmitteln usw.
handelt, das, wenn es übergeben wird, fortgeführt werden soll. Deswegen haben wir die Erbschaftsteuer auf
diesem Gebiet um 85 Prozent gegenüber dem, der Aktien erbt, ermäßigt.
Um das zu tun - die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in diesem Punkt eindeutig -,
brauchen wir eine Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung. Die Rechtfertigungsgründe für diese Ungleichbehandlung sind die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und der Erhalt der Arbeitsplätze. Deswegen gibt es
die Lohnsummenklausel. Wenn wir sie nicht schaffen
würden, könnten wir diese Ermäßigung einfach nicht gewähren. Das gehört zur Wahrheit hinzu.
({0})
In einer Krise ist eine Lohnsummenklausel natürlich
immer eine schwierige Angelegenheit.
({1})
Mit einer solchen Klausel greift unter Umständen ein
Mechanismus, der den Abwärtstrend verstärkt. Bei der
Ausgestaltung dieser Klausel haben wir dieses Problem
berücksichtigt. Herr von Stetten, wir haben das alles
über Jahre hinweg diskutiert. Wir haben den Zeitraum,
in welchem die Lohnsumme insgesamt erbracht werden
muss, auf zehn Jahre erweitert.
({2})
Es soll nur noch ein anteiliges Abschmelzen bei der
Steuernachzahlungspflicht geben. Wir haben das Ganze
so in Watte gepackt, dass dadurch ganz sicher kein einziges Unternehmen jemals Probleme bekommen wird.
({3})
Herr Kollege Pronold, die Kollegin Höll würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Herr Kollege Pronold, ich habe Ihre Rede aufmerksam verfolgt. Ich habe gehört, wie vehement Sie die soziale Funktion der Erbschaftsteuer dargestellt haben und
wie vehement Sie die Reform verteidigt haben. Mir ist
von der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs eines
Erbschaftsteuerreformgesetzes in Erinnerung, dass Sie
gesagt haben: Wir haben nicht alles erreicht. Eigentlich
ist es nicht wirklich gut. Jetzt haben wir aber eine
Grundlage für eine erneute Vermögensbesteuerung. Das vermisse ich nun ein bisschen. Vielleicht könnten
Sie einen Ausblick geben und darstellen, wie es weitergehen soll, wenn das alles nicht ganz so gut war.
Sie haben - das fällt mir immer wieder auf - eine
ganz merkwürdige Wahrnehmung.
({0})
Aber ich werde mich bemühen, die Frage trotzdem zu
beantworten.
Wir hatten die Debatte - Sie erinnern sich vielleicht
noch daran -, weil ein großer Teil der politischen Kräfte
in diesem Land offen oder verdeckt das Schicksal der
Vermögensteuer auch der Erbschaftsteuer angedeihen
lassen wollte; die 4 Milliarden Euro sollten nicht erhoben werden. Über der Steuer schwebte das Damoklesschwert der Verfassungswidrigkeit, weil das Bewertungsrecht nicht in Ordnung war. Das
Bundesverfassungsgericht hatte erklärt: Die Erbschaftsteuer muss insoweit neu geregelt werden; sonst darf sie
nicht mehr erhoben werden. - Sie hätte dann dasselbe
Schicksal wie die Vermögensteuer erlitten.
Ich habe hier dargelegt, dass es uns gelungen ist, das
Bewertungsrecht in eine verfassungsgemäße Form zu
bringen. Dieses Bewertungsrecht ist nicht nur für die
Erbschaftsteuer, sondern auch für den Fall einer möglichen Wiedereinführung der Vermögensteuer von Bedeutung.
Wenn Sie alles so aufmerksam lesen würden, wie wir
die Anträge der Linken lesen, wäre Ihnen im SPD-Programmentwurf aufgefallen, dass wir höhere Vermögen
stärker heranziehen wollen.
({1})
Ich hoffe, dass Sie das befriedigt. - Gut.
Noch einmal zu der Lohnsummenklausel. Wir haben
sie so ausgestaltet, dass die verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine Begünstigung erfüllt sind und wir trotzdem konjunkturgerecht damit umgehen können.
Von entscheidender Bedeutung ist, dass man eine
Grundfrage klärt - jenseits dieses Geplänkels darüber,
was da richtig oder falsch ist -, nämlich: Wollen wir als
Gesellschaft Geld dafür in die Hand nehmen, dass Menschen gut ausgebildet werden? Wollen wir in dieser Gesellschaft Ungleichheiten beseitigen? Wollen wir einen
Staat, der zum Beispiel das Kurzarbeitergeld länger zahlen kann, weil er entsprechende Steuereinnahmen hat,
({2})
oder wollen wir den Nachtwächterstaat, der allen alles
überlässt und getreu wohl dem Motto der FDP verfährt:
„Wenn alle an sich denken, ist an jeden gedacht“?
({3})
Wenn man so einen Nachtwächterstaat nicht will,
dann muss man dafür sorgen, dass der Staat handeln
kann. Er muss in der Lage sein, Lehrer einzustellen,
Krankenhäuser zu errichten, Straßen zu bauen, und dafür
braucht er Geld.
({4})
Man muss ehrlich sagen, woher das Geld kommen soll,
wer zahlen soll, wie die Verteilungswirkung ist.
Die Erbschaftsteuer ist und bleibt ein gerechter Beitrag, weil dadurch diejenigen, die etwas erben - ohne eigene Leistung -,
({5})
einen kleinen Bruchteil dafür einsetzen, dass es anderen
besser geht und dass es mehr Gerechtigkeit, mehr Chancengleichheit und bessere Bildung gibt. Deswegen werden wir die Erbschaftsteuer verteidigen und dafür sorgen, dass sie auch in Zukunft so erhoben wird, dass die
Unternehmensnachfolge nicht gefährdet wird, in den
Ländern dennoch mehr Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden können.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Pronold, ich halte es für
eine etwas verengte und verkürzte Sichtweise, wenn Sie
die Frage, ob der Staat Lehrer einstellen kann, von einer
einzigen Steuerart abhängig machen.
({0})
- Vielen Dank auch für den Applaus aus den Reihen der
FDP.
Eigentlich hätten wir uns diese Debatte sparen können,
({1})
weil sich der Gesetzentwurf überlebt hat. In der Begründung steht, der Regierungsentwurf habe bisher keine
Mehrheit gefunden und stoße nicht einmal bei den Koalitionsfraktionen auf Zustimmung. Das steht in der Begründung des Gesetzentwurfs. Wir haben das Gesetz
aber am 26. November letzten Jahres beschlossen. Es hat
dann auch den Bundesrat passiert und ist am 1. Januar
dieses Jahres in Kraft getreten.
({2})
- Ich gebe zu, Herr Kollege Thiele, dass Sie Rücksicht
genommen haben. Ich will auch zugeben, dass es nicht
einfach war, überhaupt in der Gesetzesberatung voranzukommen: Die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts
und die Interessen der Länder mussten berücksichtigt
werden, das Aufkommen sollte in etwa neutral bleiben,
die Unternehmensnachfolge musste geregelt werden
- darüber ist bereits ausführlich diskutiert worden -, und
der Verantwortungsverbund der Generationen sollte
nicht gefährdet werden. Das war uns ganz wichtig.
({3})
Herr Kollege Kalb, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Thiele?
Gerne.
Nur ganz kurz, Herr Kollege Kalb: Diesen Antrag
hätten wir schon gerne im November abschließend beraten. Das wurde uns formal von der Koalition verwehrt,
weil es in einzelnen Koalitionsfraktionen erhebliche
Schwierigkeiten gegeben hätte, sicherzustellen, dass
Mehrheiten der Fraktionen nicht unserem Antrag zugestimmt hätten.
({0})
Das ist die Begründung dafür, dass es erst heute passiert.
({1})
Herr Kollege Thiele, ich habe vorhin ja erwähnt, dass
Sie in gewisser Weise auf den Beratungsgang Rücksicht
genommen haben. Das will ich hier gerne erwähnen und
nicht unterschlagen.
Aber die Dinge haben sich weiterentwickelt; wir befinden uns jetzt in einer anderen Situation. Wir haben
aber, denke ich - das darf ich schon sagen, bei allen Unterschiedlichkeiten, die es in der Koalition gegeben
hat -, unter dem Strich gesehen insgesamt eine sehr vertretbare, vernünftige Lösung gefunden. Wir haben allerdings auch immer deutlich gemacht, dass wir manche
Dinge lieber anders geregelt sehen würden und dass wir
einen bestimmten Korrekturbedarf sehen. Vorhin ist gerade lange über die Frage der Zuordnung zu den
Steuerklassen II und III gesprochen worden; Stichwort
nahe oder entfernte Verwandte - lassen wir das jetzt einmal dahingestellt sein.
({0})
Wir sehen beispielsweise ein Problem bei der Behandlung von Geschwistern, Nichten und Neffen. Wir sehen
auch Probleme bei der Regionalisierung, die dieser Gesetzentwurf zum Hauptgegenstand hat.
Lieber Herr Kollege Thiele, Sie haben in Ihrem Redebeitrag schon den Eindruck erweckt, als wollte die FDP
die Erbschaftsteuer in Wirklichkeit völlig abschaffen.
({1})
- In Ihrem Redebeitrag. - Mir ist allerdings kein Antrag
oder Beschluss der FDP bekannt, der dieses fordern
würde. Sie haben das dann dankenswerterweise zum
Schluss erwähnt.
Tatsächlich geht es um den Gesetzentwurf, mit dem
Sie die Gesetzgebungskompetenz ausschließlich auf die
Länder übertragen wollen. Wir als CSU-Landesgruppe
haben schon in der Gesetzesberatung deutlich gemacht,
dass wir gerne eine Regionalisierung der Freibeträge und
der Steuersätze realisieren würden,
({2})
weil die Verhältnisse in Mecklenburg-Vorpommern, in
Bayern, in Baden-Württemberg und Hessen höchst unterschiedlich sind und ein einheitliches Gesetz zu rasenmäherhaft wirken würde. Insofern sind wir gar nicht so
weit auseinander, und das, was Sie beantragen, ist im
Grunde genommen in gewisser Weise in unserem Sinne.
({3})
Bayern hat im Bundesrat für die Regionalisierung der
Freibeträge und der Steuersätze gekämpft und um Unterstützung gebeten. Allerdings hat seinerzeit kein Bundesland, in dem die FDP mitregiert, Bayern im Bundesrat in
dieser Forderung unterstützt. Auch das muss der Redlichkeit halber gesagt werden.
({4})
Das zweite Thema, das hier in Rede steht, ist die Herausnahme aus dem Länderfinanzausgleich. Dazu hat
Kollege Pronold ja einiges gesagt. Das ist natürlich nicht
ganz einfach. Erstens müsste das Grundgesetz geändert
werden. Hier sind viele Dinge nicht berücksichtigt.
Zweitens ist es problematisch, die Wirkung auf die Länder zu berücksichtigen: Wie ist zu verfahren, wenn ein
Erbfall eintritt? Es sind verschiedene Gesichtspunkte zu
berücksichtigen: der Wohnsitz des Erblassers, unter Umständen der Wohnsitz des Erwerbers und natürlich auch
die Gegenstände, die vererbt werden sollen. All das sind
Dinge, die nicht ausreichend geklärt worden sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
hier keine neidpolitischen Debatten führen, sondern daBartholomäus Kalb
rüber nachdenken, was uns gut gelungen ist und was wir
noch verbessern müssen. Ich habe einige Punkte genannt, die wir uns vornehmen sollten; darüber brauchen
wir auch keine großen Auseinandersetzungen zu führen.
Vor wenigen Stunden haben wir eine Debatte über die
allgemeine Steuerpolitik geführt. Es hätte mich gereizt,
dazu etwas zu sagen, weil es mir nicht in den Kopf gehen will, wie man hier solche Gegensätze konstruieren
kann. Wir sind uns alle einig, dass strukturelle Reformen
beim Einkommensteuertarif - im Übrigen auch bei der
Umsatzsteuer - notwendig sind. Wenn die Finanz- und
Wirtschaftskrise nicht wäre, hätten diese Reformen für
uns erste Priorität. Jetzt sind aber Umstände eingetreten,
die neue Schwerpunktsetzungen erfordern. Die erste
Schwerpunktsetzung ist, die Krise einzudämmen und
den konjunkturellen Abschwung so gering wie möglich
zu halten. Darum bemühen wir uns seit vergangenen
Herbst in vielen Beratungsrunden und durch verschiedene Maßnahmen, durch Konjunkturprogramme, das
Finanzmarktstabilisierungsgesetz usw. Das Zweite wird
sein, die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren. Drittens müssen wir alles dafür tun, der Inflation vorzubeugen. Viertens müssen wir finanzielle Spielräume erarbeiten, um die notwendigen strukturellen Reformen
durchführen zu können, auch im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes.
Wir sollten vermeiden - Kollegin Scheel hat dankenswerterweise darauf hingewiesen -, die steuerpolitischen
Themen zum Anlass für Neiddebatten zu nehmen, um
dadurch etwas in die eigene Scheuer fahren zu können.
Die Bundesrepublik Deutschland muss sich einer neuen
Herausforderung im Wettbewerb mit anderen Ländern
stellen. Das gilt mit Blick auf die Belastungen der Unternehmen - in der Debatte sind dazu einige Punkte genannt worden -, in Bezug auf die Belastung durch die
Erbschaftsteuer, durch die Einkommensteuer und sonstige Steuern. Wir müssen deutlich machen, dass wir
größten Wert darauf legen, dass alle, die leistungswillig,
leistungsfähig und leistungsbereit sind, möglichst in unserem Land diese Leistung erbringen,
({5})
damit wir das erwirtschaften können, was notwendig ist,
um in den nächsten Jahren Geld für die Finanzierung des
Wohlstandes zur Verfügung zu haben. Dabei sollten wir
- das wird auch die Wettbewerbsfähigkeit erfordern Menschen, die etwas haben, die es zu etwas gebracht haben, die ihr Vermögen hier im Land gelassen haben,
nicht ohne Not aus dem Land treiben. Wir sollten hochqualifizierte Menschen - da schließe ich unsere Facharbeiter durchaus mit ein - nicht dazu veranlassen, darüber nachzudenken, ob sie vielleicht lieber im Ausland
einer Arbeit nachgehen als in unserem Land.
({6})
Wir brauchen die Menschen dringend in unserem Lande,
um auch in der Zukunft, gerade mit Blick auf den demografischen Wandel, ausreichend erwirtschaften zu können, um Wohlstand für alle gewährleisten zu können.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der FDP eingebrachten Entwurf eines Erbschaftsteu-
erreformgesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/12072 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/10309. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung bei Gegenstimmen der FDP abgelehnt. Damit ent-
fällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 16/12072
fort. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7765
mit dem Titel „Keine Steuererhöhung bei der Erbschaft-
steuer - Gesetzentwurf zur Reform des Erbschaftsteuer-
und Bewertungsrechts zurückziehen“ für erledigt zu er-
klären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an-
genommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3348 mit dem Ti-
tel „Den Reichtum umverteilen - für eine sozial gerechte
Reform der Erbschaftsbesteuerung“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/
Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/8185 mit dem Titel „Eckpunkte für eine ge-
rechte Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Abscheidung, Transport und dauerhafter Speicherung von Kohlendioxid
- Drucksache 16/12782 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({1}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({2})
CO2-Abscheidung und -Lagerung bei Kraftwerken
Sachstandsbericht zum Monitoring „Nachhaltige Energieversorgung“
- Drucksache 16/9896 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Gudrun Kopp, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rechtliche Grundlagen für die Einführung
von CCS-Technologien unverzüglich schaffen
- Drucksache 16/11751 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesumweltminister Sigmar Gabriel.
({5})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Bundestag berät heute in erster Lesung über den Entwurf
eines - so heißt es - CCS-Gesetzes, also über den Entwurf eines Gesetzes zu Carbon Capture and Storage, zur
Abscheidung und Abspeicherung von CO2 insbesondere
aus Kohlekraftwerken. Wesentliche Zielrichtung des Gesetzentwurfes ist die Bekämpfung des Klimawandels. Es
soll aber auch einen Beitrag zur Energieversorgungssicherheit und zur Wahrung der Technologieführerschaft
Deutschlands im Kraftwerksbereich leisten.
Weil wir wissen, dass in der öffentlichen Debatte zumindest unter Fachleuten umstritten ist - diese Fragen
werden sicher auch hier gleich gestellt -, ob wir diese
Abscheidetechnik wirklich brauchen, ob sie funktioniert
und ob sie nicht eine Verlängerung des fossilen Zeitalters
ist, das wir hinter uns lassen wollen, würde ich gerne zu
Beginn der Einbringung dieses Gesetzentwurfes aus einem Beitrag zitieren, der heute in der taz erschienen ist.
Es handelt sich um ein Interview mit Ottmar Edenhofer.
Für die nicht an der Klimaschutzdebatte Beteiligten:
Wann immer jemand aus den Umweltverbänden, den
Grünen, der Sozialdemokratie, der CDU/CSU, der FDP
oder der Linken, der ein engagierter Befürworter der
Klimaschutzpolitik ist, einen Experten zitieren will, wird
er die Gelegenheit nutzen, Ottmar Edenhofer zu zitieren.
Denn er ist ein deutsches Mitglied in dem Wissenschaftsgremium, das im Zusammenhang mit dem Klimawandel die größte Bewegung verursacht hat, nämlich
das IPCC. Er ist Ökonom und kommt aus dem PotsdamInstitut für Klimafolgenforschung, also aus dem Institut,
das am weitreichendsten in unserem Land über den Klimawandel forscht, über ihn berät und sich öffentlich
dazu äußert. Ottmar Edenhofer - offensichtlich unverdächtig, ein interessengeleiteter Lobbyist zu sein - sagt
in seinem Interview - ich zitiere -: Wir brauchen
… die CCS-Technologie, also die Abscheidung von
Kohlendioxid aus Kohlekraftwerken, seine Lagerung und unterirdische Speicherung. Wir fordern
auch
- also die Vertreter des PIK, diejenigen, die die Auffassung von Ottmar Edenhofer teilen -,
dass der Staat in Versuchskraftwerke mit dieser
Technik investiert.
Dann weiter:
Wenn wir jetzt den schnellen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern fordern, dann werden wir
Russland, China und Indien, aber auch die USA für
ein internationales Abkommen verlieren.
Meine Damen und Herren, die beiden Zitate zeigen,
dass es absolut unumstritten ist, dass wir die CCS-Technik brauchen, dass wir sie entwickeln müssen und dass
wir im Dezember 2009 in Kopenhagen kein international
erfolgreiches Klimaschutzabkommen werden verabreden können, wenn wir ignorieren, dass der Umstieg von
fossilen Energieträgern zu einer Welt der ausschließlich
mit erneuerbaren Energien funktionierenden Gesellschaften Zeit braucht und wir deshalb die Kohle in Zukunft modernisiert werden nutzen müssen.
({0})
Ich sage das deshalb, damit die Grundlage der Debatte klar ist. Wir führen keine ausschließlich deutsche
Diskussion. Wir wollen diese Technologie zum eigenen
Nutzen entwickeln, aber auch deshalb, damit sie in den
Ländern eingesetzt werden kann, die das von sich alleine
aus nicht tun werden, nämlich zum Beispiel China, Indien und andere.
In den Klimaschutzverhandlungen wird das also eine
große Rolle spielen. Ich würde gerne etwas zu den wichtigsten Argumenten sagen, die in der deutschen Debatte
gegen CCS vorgetragen werden.
Das erste Argument ist - auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen äußerte sich heute leider in dieser
Hinsicht -, durch CCS würden andere wichtige Projekte
im Bereich der erneuerbaren Energien, wie Geothermie
oder Druckluftspeicher, behindert.
Druckluftspeicher liegen aber in einer völlig anderen
geologischen Höhe. Deswegen können sie davon nicht
betroffen werden. Hinsichtlich der Geothermie muss
man wissen, dass in Deutschland derzeit rund 180 Anträge für Geothermie vorliegen. Wenn ich mich jetzt
richtig erinnere, wurden etwa zehn davon in Norddeutschland gestellt. Für den Rest gilt das nicht. Die salinen Aquifere und ehemaligen Gaslagerstätten, die wir
für CCS brauchen, liegen aber fast alle in Norddeutschland. Das zeigt, dass schon das Verhältnis nicht stimmt.
Es geht aber noch weiter: Entgegen dem, was manchmal behauptet wird, gibt es in diesem Gesetzentwurf keinen Vorrang für CCS-Speicher. Vielmehr haben erstens
Geothermieprojekte, die vorher beantragt wurden, natürlich Vorrang in der Prüfung, und zweitens ist es die Aufgabe der Länder, in ihren Landesraumordnungsprogrammen und ihren regionalen Raumordnungsprogrammen
Vorranggebiete zur Nutzung festzulegen. In den Verfahren gibt es keine Bevorzugung der CCS-Technik.
Das zweite Argument lautet, wir würden die Industrie, die dort etwas ablagern will, zum Beispiel die Energiekonzerne, nur 30 Jahre lang sozusagen mit der Haftung betreuen. Das ist schlicht falsch. Die Unternehmen
haften erstens selbstverständlich in der gesamten Betriebsphase - das sind 40 bis 50 Jahre - und zweitens
30 Jahre lang nach Abschluss des Speichers, das heißt
insgesamt rund 80 Jahre.
Ich persönlich sage Ihnen: Es ist völlig egal, ob wir
10 Jahre, 20 Jahre, 100 Jahre oder 150 Jahre dort hineinschreiben. Die entscheidende Frage ist doch: Wer sagt
uns eigentlich, dass die Unternehmen nach 10 Jahren,
50 Jahren oder 100 Jahren noch existieren? Das hilft uns
doch gar nicht.
({1})
- Ja, Frau Kollegin Höhn, ein Blick ins Gesetz erhöht
die Rechtskenntnis - auch bei Ihnen.
Deswegen wird das in dem Gesetzentwurf völlig anders geregelt. Von der ersten Tonne CO2 an, die dort abgelagert werden soll, müssen die Unternehmen eine Abgabe zahlen, durch die die Nachsorge, die Finanzierung
der Sicherheit, die Überprüfung der Sicherheit und im
Zweifel auch das Reparieren von Leckagen auch in der
Nachbetriebsphase und nach dem Aus-der-Haftung-Gehen der Unternehmen - 30 Jahre nach Abschluss des
Speichers - zu finanzieren ist.
Entscheidend ist, dass diese Mittel für die Nachsorge
eben nicht irgendwann gezahlt werden und auch nicht
bei den Unternehmen bleiben, sondern in einen von den
Ländern, in denen sich die Speicher befinden, verwalteten Fonds zu fließen haben oder dass eine Versicherung
das zu übernehmen hat - das sind die beiden Alternativen - und dass das Geld von der ersten Tonne CO2 an
reichen muss, um auch nach 80 Jahren, wenn der Haftungsübergang erfolgt, die Absicherung durch die Finanzierung der Unternehmen sicherzustellen. Das ist viel
besser, als vorher so zu tun, als könne man die Lebensdauer eines Unternehmens prognostizieren. Dass sie gelegentlich nicht 100 Jahre überleben, wissen wir.
Zum nächsten Argument. Es wird ein Vergleich mit
dem Risiko des Atommülls angestellt. Ich will dazu nur
sagen: Wer das tut und den Begriff Endlagerung einführt, der minimiert und verniedlicht die Probleme mit
dem Atommüll.
({2})
Ich bin nicht dafür, dass man CCS-Blankoschecks
ausstellt. Das tun wir hier auch nicht. Ich bin aber schon
dafür, dass wir sachgerecht damit umgehen und nicht
versuchen, eine Hysterie auszulösen, weil es gerade so
schön in die innenpolitische Debatte passt.
Wir leben in Berlin auf einem riesengroßen Erdgasspeicher. In Nordrhein-Westfalen und überall im Land
gibt es Kohlenmonoxid- und Polypropylenleitungen. All
das ist für uns selbstverständlich. CO2-Pipelines und
-Speicher sind ein Problem für die Atmosphäre, wenn
sie leck sind. Sie sind aber keine dramatische Gefahr, die
mit Erdgasspeichern, Atommüll und Kohlenmonoxidleitungen vergleichbar ist. Lassen Sie also bitte die Kirche
im Dorf und den CO2-Speicher unter der Erde.
({3})
Meine Damen und Herren, die CCS-Technik ist kein
Königsweg in Sachen Klimaschutz. Ob sich die CCSTechnik durchsetzt, wird am Ende davon abhängen, wie
teuer sie ist und wie teuer die Tonne CO2 im Emissionshandel an der Börse ist. Ist sie einen Euro teurer als das
CO2 an der Börse, werden die Unternehmen nicht in die
CCS-Technik investieren; ist sie einen Euro preiswerter,
werden sie es machen. Genau das wollen wir; denn die
eigentliche Sicherheit für den Klimaschutz ist nicht
CCS, sondern die Budgetierung der Emissionen im Rahmen des europäischen Emissionshandels und die Absenkung der Emissionen. Diejenigen, die das permanent
verschweigen, machen sich zum Helfershelfer derjenigen, die den Emissionshandel zerstören wollen, und das
sind in der Regel keine Umwelt- und Klimaschützer.
({4})
Auch das gehört dazu:
Wir haben vorgesehen, dass der aktuelle Stand hinsichtlich Wissenschaft und Technik berücksichtigt wird.
Anders als bei anderen Genehmigungen unterscheiden
wir weder zwischen Demonstrationsvorhaben und kommerziellem Betrieb noch gilt das, was in Deutschland
ansonsten gang und gäbe ist: Wenn Sie die Genehmigung für eine Anlage erhalten, dann gilt diese Genehmigung normalerweise bis zum Ende des Betriebs. Das ist
hier anders: Sie haben dynamische Betreiberpflichten.
Stellen Sie sich vor - ich hoffe, dass das nicht passiert -,
wir würden eine Speicherung genehmigen, und anschließend würde sich herausstellen, dass das unsicher ist. Das
würde bedeuten, dass die Technik, die für die Speicherung gebraucht wird, nicht ausreichend ist. Es ist auch
möglich, dass sich der Stand von Wissenschaft und
Technik in der Zwischenzeit weiterentwickelt hat. Der
Betreiber einer solchen Anlage hat die Pflicht, die Anlage entsprechend anzupassen, und zwar obwohl er eine
rechtskräftige Genehmigung hat. Ich finde, das ist ein
vernünftiges Vorgehen.
Ich glaube, dass wir hiermit einen guten Rahmen geschaffen haben, der Energieversorgungssicherheit und
Klimaschutz zusammenbringt und uns auch international
voranbringt. Außerdem gilt, was Ottmar Edenhofer sagte
- damit hat er eine Gefahr ausgeschlossen -:
Es gibt jetzt keine Notwendigkeit, den Ausstieg
rückgängig zu machen. Wir wären gut beraten,
wenn wir uns europaweit um CCS-Kraftwerke bemühten und europaweit ein effizientes Stromnetz
aufbauten.
Wer gegen CCS ist, macht sich, gewollt oder ungewollt,
zum Helfershelfer der Atomenergie. Ich empfehle gelegentlich ein Gespräch mit demjenigen, den man öffentlich so gerne lobt, mit Ottmar Edenhofer.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Meierhofer,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ohne Kohleverstromung wird es auf absehbare Zeit
nicht gehen. Das gilt für Deutschland genauso wie für
die ganze Welt. Aber auch ohne ambitionierten Klimaschutz wird es in Deutschland, in Europa und weltweit
nicht gehen. Genau aus diesem Grund ist es wichtig und
richtig, dass wir uns heute mit dem Gesetzentwurf zur
CCS-Technologie beschäftigen, dass wir uns mit klimaverträglicher Nutzung der Kohle mittels CCS auseinandersetzen. Das ist von immenser Bedeutung.
({0})
Wir müssen CO2 abscheiden, weil es - darin sind wir
uns alle einig - klimaschädlich ist und zum Klimawandel beiträgt. Weil wir keine Alternative haben, ist es
wichtig, die CCS-Technologie zu fördern und nicht zu
verhindern. Kohle ist weltweit in riesigen Mengen vorhanden. Auch dürfte jedem bewusst sein, dass Kohle ein
relativ günstiger Energieträger ist. Aus diesem Grund
wird sie verbraucht werden, auch wenn die Grünen sich
etwas anderes wünschen. Auch die Linken wünschen
sich etwas anderes, zumindest diejenigen, die im Umweltausschuss sitzen. Diejenigen von den Linken, deren
Wahlkreis sich in Kohleabbaugebieten befindet, sind begeisterte Fans der Kohlekraft.
({1})
Es geht darum, dass wir die Kohle so verwenden, dass
das Klima geschützt wird, und zwar nicht nur in
Deutschland, sondern auch in China, in Indien und allen
anderen Ländern; der Minister hat darauf bereits hingewiesen. Mittlerweile gibt es kein ernstzunehmendes Zukunftsszenario mehr, das die Energieversorgung ohne
diese Technologie als machbar ansieht, zumindest nicht,
wenn man die Klimaschutzziele erreichen will. Auch das
sollte jedem hier bekannt sein. Wir leben nicht in einem
Wolkenkuckucksheim, wo wir nur miteinander diskutieren müssen, sondern wir müssen auch darüber nachdenken, was weltweit passiert. Mit erneuerbaren Energien
werden wir es in absehbarer Zeit leider nicht schaffen,
den Energiebedarf zu decken. Wir werden die Kohlekraft weiterhin brauchen.
Klar ist, dass im Zusammenhang mit der CCS-Technik noch einige Fragen zu klären sind: Wenn wir das
CO2 zum Beispiel unterirdisch abspeichern und in Saline
Aquifere, sprich: in verschiedene Gesteinsformationen
hineinpressen, besteht die Gefahr - Herr Gabriel hat darauf hingewiesen -, dass Wasser und Salz aus diesen
Gesteinen austreten. Ich bitte darum, genau darauf zu
achten, dass Formulierungen gefunden werden, die dafür
sorgen, dass zumindest das Grundwasser absolut sicher
ist; denn es darf natürlich nicht dazu kommen, dass eine
Konkurrenzsituation entsteht und wir das Grundwasser
und damit unser Trinkwasser gefährden. Das ist ein ganz
entscheidender und wichtiger Punkt.
({2})
Wir Liberale glauben, dass wir diese Technologie
nicht aus ideologischen Gründen abstempeln dürfen. Es
darf nicht darum gehen, dass wir dadurch die Nutzung
der Kohlekraft und damit das fossile Zeitalter verlängern. Es ist anders: Die fossile Kohlekraft machen wir
durch die CCS-Technologie energiefreundlicher, umweltfreundlicher und brauchbar, und zwar nicht nur für
uns, sondern für die ganze Welt. Diejenigen, die in
Deutschland Kohlekraftwerke betreiben, benötigen natürlich Rechtssicherheit. Diese kann es nur geben, wenn
man vernünftigerweise ein Gesetz verabschiedet. Ein
erster Vorschlag dazu kam aus Brüssel. Die Bundesregierung hat relativ schnell gehandelt.
Anfänglich gab es ein längeres Hin und Her um die
Frage, ob nun das Umweltministerium oder das Wirtschaftsministerium zuständig ist. Das hat sich erst gestern entschieden. Jetzt liegt aber ein Entwurf vor, über
den man sagen kann, dass er an der einen oder anderen
Stelle ganz vernünftig ist. Vor allem ist dieser Entwurf
vernünftiger als die früheren. Einiges von dem, was das
Umweltministerium zwischenzeitlich vorgelegt hatte,
glich eher einem CCS-Verhinderungsgesetz. Das haben
wir Gott sei Dank überwunden. Ich glaube wirklich, dass
man mit diesem Entwurf einigermaßen arbeiten kann.
Es gibt allerdings einige Probleme, beispielsweise im
Hinblick auf die 1:1-Umsetzung der Vorgaben aus Brüssel. Es sei dahingestellt, ob es vernünftig ist, die Haftung
in Deutschland auf mindestens 30 Jahre auszudehnen,
wenn Brüssel verlangt, sie auf 20 Jahre zu beschränken,
zumal man davon ausgehen muss, dass andere Länder
nicht so vorgehen werden.
Ein weiteres Problem betrifft unter anderem die Frage
der Deckungsvorsorge. Hier sind VerordnungsermächtiHorst Meierhofer
gungen vorgesehen. Das heißt, wir, das Parlament, hätten keine Möglichkeit mehr, mitzubestimmen. Ich denke,
das Thema ist zu sensibel, als dass man ohne politische
Beteiligung darüber entscheiden sollte. Hier hoffen wir
auf deutliche Nachbesserungen, auch weil sonst keine
Transparenz und damit keine Akzeptanz in der Bevölkerung erreicht werden kann.
Die Vorschläge in unserem Antrag zur Anwendbarkeit des Planungsbeschleunigungsgesetzes wurden Gott
sei Dank in den Gesetzentwurf aufgenommen. Darüber
sind wir glücklich.
({3})
Es ist wichtig, dass eine Planungsbeschleunigung möglich ist, damit die Planungen vernünftig vorangehen können.
Ein weiteres Stichwort, das ich nennen will: Nutzungskonkurrenzen. Es ist, glaube ich, nicht ganz so einfach, wie es Herr Gabriel dargestellt hat. Es gibt diese
Nutzungskonkurrenzen. Gerade unter denjenigen, die im
Bereich der Geothermie tätig sind, gibt es Befürchtungen, dass es zu langen Verhinderungen kommen kann,
weil vielleicht der eine oder andere sagt: Irgendwann
wollen wir diese Flächen für CCS nutzen; deswegen
dürft ihr sie nicht für Geothermie nutzen. Ich meine, der
Entwurf ist an dieser Stelle ein bisschen schwammig formuliert. Vielleicht sollte man konkrete Zeitpunkte setzen
und sagen, dass innerhalb von so und so vielen Jahren
tatsächlich etwas passieren muss. Solche Jahreszahlen
stehen nicht im Entwurf. Das halte ich für ein relativ
großes Problem.
({4})
Ich hoffe, dass wir zu einem vernünftigen Ergebnis
kommen. Es ist nämlich nötig, dass wir auf der einen
Seite auf die erneuerbaren Energien setzen und auf der
anderen Seite die Nutzung der Kohle umweltfreundlicher gestalten. Nur wenn wir beides in Einklang bringen,
ist es möglich, eine Mehrheit in der Bevölkerung dafür
zu gewinnen.
Hier möchte ich die Pipelines nennen, die unter Umständen quer durch Deutschland laufen werden. Ich
könnte mir vorstellen, dass unter Umständen der eine
oder andere nicht besonders glücklich darüber sein wird.
Es stellt sich die Frage, warum man bisher nicht auf eine
zentrale Genehmigungsbehörde setzt, die alle Überprüfungen durchführt. Wenn erst jedes einzelne Bundesland
einbezogen werden muss, könnte es schwierig und langwierig werden. Das halte ich für ein Problem.
({5})
Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Ich
bitte darum, CCS als das zu erkennen, was es ist: eine
große Chance für die Zukunft, wenn auch mit Risiken
verbunden. Dafür müssen wir den Weg bereiten.
Danke.
({6})
Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dies ist ein wichtiger Tag für die Energiewirtschaft in Deutschland, die sich in einem schwierigen Gelände befindet. Wir wollen uns trauen, eine neue, wichtige Technologie in der Energiewirtschaft einzuführen.
Damit wollen wir erreichen, dass Kohle weiterhin, mittel- und langfristig, eingesetzt wird, nicht weil wir zur
Kohlelobby gehören, sondern weil alle Daten zur Energiewirtschaft, national wie international, eindeutig besagen: In den nächsten 20 bis 30 Jahren kann die Energiewirtschaft weltweit nicht ohne Kohle betrieben werden.
Die Kohle hat nun einmal den enormen Nachteil, dass
das CO2-Problem nur sehr unbefriedigend gelöst werden
kann. CCS ist ein Weg, die CO2-Problematik beim Kohleeinsatz, insbesondere beim Braunkohleeinsatz, soweit
zu reduzieren, dass die Umweltverträglichkeit der Kohle
gewährleistet ist und sie weiterhin eine wichtige Rolle in
der Energiepolitik der Welt spielen kann.
({0})
Wer einen solchen Schritt gleich mit mehr Fragen als
Antworten versieht, handelt im Prinzip hasenfüßig und,
liebe Frau Höhn, energiepopulistisch. Ich hoffe, dass wir
diesen Populismus nachher in Ihrer Rede nicht erleben;
ich befürchte es allerdings sehr.
({1})
Es würde mich sehr wundern, wenn Sie einen anderen
Kurs wählten. Trotzdem werbe ich in dieser Frage um einen Kurs der Vernunft.
Der Gesetzentwurf, den wir jetzt vorlegen, ist eindeutig ein lernendes System.
({2})
Wir schließen die Entwicklung nicht ab. Vielmehr gehen
wir sie vorsichtig, aber konsequent an. Wir haben keine
Zeit zu verlieren. Wir können nicht zum Staunen großer
Teile der Welt aus der Atomenergie aussteigen wollen
und nun gleichzeitig auch die Kohleenergie dauerhaft ins
Abseits stellen. Das wäre mehr als leichtsinnig. Das
kann sich Deutschland als Energiestandort und als Technologieführer weltweit nicht erlauben. Wir sind als Wirtschaftsministerium - deswegen haben wir sehr intensiv
an dieser Entwicklung gearbeitet - sehr daran interessiert, dass Deutschland bei der Entwicklung dieser hochinteressanten Technologie weltweit führend mitspielen
kann.
({3})
Das ist ein wichtiger Schub für die Modernisierung unserer Ingenieurkunst.
({4})
Frau Höhn, wir werden die Energieprobleme der Welt
nicht mit Beamten, Geboten und Vorschriften lösen, sondern mit Ingenieuren und neuen technologischen Ansätzen.
({5})
Dies ist ein mutiger Ansatz, um diese Technologie vorwärtszubringen und damit gegen die schädlichen Auswirkungen des weltweit wachsenden Kohleeinsatzes
vorzugehen. Weltweit wird nach wie vor mit einem Zuwachs des Einsatzes von Kohle in Höhe von 2 Prozent
über viele Jahre gerechnet; Deutschland gewinnt 42 Prozent seines Stroms, seiner Energie, aus Kohle. Das ist
also ein ganz wichtiger Block. Das alles auszusortieren,
auslaufen zu lassen, zu verteufeln, keine Auswege anzubieten, sondern engstirnig allein auf alternative Energien
zu setzen, ist mehr als leichtsinnig und leichtfertig. Es
kann deswegen nicht verantwortbarer Teil deutscher
Energiepolitik sein.
Wir müssen in diesem Zusammenhang mit den Ländern zusammenarbeiten. Es handelt sich hier um Bergrecht. Deswegen ist der Versuch, sie aus dieser Verantwortung oder Mitwirkung herauszunehmen, unnütz; er
kostet nur Zeit. Der Gesetzentwurf sieht ihre Mitwirkung von vornherein vor; wir brauchen die Länder dabei. Es soll nicht im Gegeneinander organisiert werden,
sondern im Miteinander.
Zur Konkurrenz mit anderen Lagerstätten hat der
Umweltminister schon einiges gesagt. Hinsichtlich der
Vorsicht, der Vorkehr, der Risikoverringerung, der Überwachung und der Frage, wer gegebenenfalls Altlasten
trägt, ist der Gesetzentwurf ausgesprochen intelligent
und ordentlich aufgestellt. Ich meine, für den Standort
Deutschland, für die Sicherheit und Bezahlbarkeit seiner
Energie und die Innovationskraft Deutschlands ist dies
ein guter Tag; es hilft bei der Erreichung dieser Ziele.
Noch eine Bemerkung zu der Frage, was sich am
Ende durchsetzt. Wir setzen auf die Kräfte des Marktes.
Die Prinzipien von Sicherheit und Bezahlbarkeit müssen
neben der Umweltverträglichkeit, die immer im Fokus
ist, dafür sorgen, dass sich diese Technologie am Markt
durchsetzt. Wir werden es nicht anordnen. Am Ende
müssen die Investitionspläne ordentlich durchkalkuliert
sein. Wir wollen den Weg, eine Alternative eröffnen.
Wir wollen zeigen, dass das möglich ist, wenn es sich
rechnet und wenn die Risikoabschätzung in Ordnung ist.
Sie ist nach unserer Meinung verantwortbar und gestaltbar.
Wir wünschen sehr, dass es nun vorangeht. Dass der
Umweltausschuss die Federführung in diesem Feld innehat, ist vielleicht für die Beruhigung bestimmter Nervenstränge in gewissen gesellschaftlichen Strukturen hilfreich.
({6})
Es kann ja sein, dass es ansonsten die Sorge gegeben
hätte, hier würde ausschließlich und ohne Rücksicht auf
Verluste unter wirtschaftlichen Aspekten gehandelt. Es
ist durchaus möglich, dass dies die Verträglichkeit erhöht. Wir befinden uns nicht in einem künstlichen Wettbewerb. Wir wollen, dass diese Technologie eine Chance
bekommt, und zwar aus den Gründen, die vom Bundesumweltminister und vom Wirtschaftsminister übereinstimmend genannt werden.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva BullingSchröter, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Technologieversprechen CCS, also die Abscheidung, Verflüssigung und unterirdische Verpressung von
Kohlendioxid aus Kraftwerken, ist für die Linke ein unlauterer Versuch der Energiewirtschaft, die Ära der Kohleverstromung um weitere 50 Jahre zu verlängern. Ich
sage Ihnen: Eine solche Strategie machen wir als Linke
nicht mit.
({0})
Es ist schon bezeichnend, dass beispielsweise das
Top-Runner-Programm zur Energieeffizienz nach jahrelanger Debatte bis heute weder auf EU-Ebene noch in
der Bundesrepublik eine Chance hatte.
Auch das deutsche Energieeffizienzgesetz wurde vorher beerdigt. Demgegenüber dauerte es nur ein Jahr bis
zu einer CCS-Regelung auf europäischer Ebene. Zwischen der Verabschiedung der EU-Richtlinie und der
heutigen ersten Lesung des deutschen CCS-Gesetzentwurfs lag lediglich ein Vierteljahr, also nur drei Monate.
Dieser Zwiespalt macht einfach misstrauisch. Geht es
bei CCS wirklich um Klimaschutz, oder geht es vielleicht eher darum, einen tatsächlichen Wandel in der
Energiewirtschaft zu verhindern, und zwar indem man
den Leuten weismacht, fossile Energien stellten in Kürze
überhaupt kein Problem mehr dar?
Milliarden von Tonnen des Klimakillers sollen dahin
verfrachtet werden, wo sie überhaupt nichts zu suchen
haben, nämlich unter die Erde. Dabei weiß bis heute niemand, ob wir uns mit dem verflüssigten CO2 nicht ein
neues und gigantisches Endlagerproblem unter die
Schuhsohlen pressen.
({1})
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hält die
ökologischen Risiken ebenfalls für ungeklärt. Es sei offen, ob es überhaupt sinnvoll sei, in Deutschland CO2 unterirdisch zu lagern, erklärte er heute in einer Presseerklärung. Er sagte außerdem, dass sich Konkurrenzen
um die Nutzung der unterirdischen Räume abzeichneten,
etwa bei Druckluftspeichern und Geothermie. Das würde
die Etablierung erneuerbarer Energien dauerhaft blockieEva Bulling-Schröter
ren. Zudem lehnt der Rat die indirekte Subventionierung
der Technologie ab.
Es ist wirklich ein Witz, dass die Betreiber für die
Nutzung der unterirdischen Räume keinen Cent zahlen
sollen und dass nach dem Willen der Bundesregierung
alle Risiken bereits 30 Jahre nach der Schließung der
Speicher auf die Allgemeinheit abgewälzt werden sollen. Unter dem Strich fordert der Sachverständigenrat,
den Gesetzentwurf in ein Forschungsgesetz umzuwandeln und nicht bei all den Unklarheiten übereilt Tatsachen zu schaffen. Dem können wir uns als Minimalforderung anschließen.
Ich möchte auch auf den TAB-Bericht, den Bericht
des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Bundestag, aufmerksam machen. Dieser verweist ebenfalls auf
eine Reihe von Speicherrisiken. So kann das schützende
Deckgebirge durch das saure CO2-Wasser-Gemisch aufgelöst werden. In Texas ist das bei Experimenten bereits
passiert. Weiter können durch den Überdruck der CO2Injektion bestehende kleinere Risse im Deckgestein aufgeweitet werden. Es besteht die Gefahr von Leckagen
durch bestehende alte Bohrungen oder unentdeckte Klüfte
im Deckgestein. Schließlich wird in der Tiefe Formationswasser vom eingepressten CO2 verdrängt. Wohin genau
es verdrängt wird, weiß niemand.
Angesichts dessen ist es ein Unding, dass der Gesetzentwurf den Haftungszeitraum auf 30 Jahre nach Schließung beschränkt. Das sagen nicht nur wir, das sagen
auch die Umweltverbände. Die Bundesregierung will offensichtlich eine Hochrisikotechnologie etablieren und
greift dabei in die gleiche Kiste, aus der einst das Atomgesetz bestückt wurde - auch wenn das hier bestritten
wurde.
({2})
- Natürlich. - Zudem sind im Gesetzentwurf viele wichtige Details ungeregelt, die erst später über Verordnungen geklärt werden sollen. So bleibt vorerst unklar, wie
dicht die Speicher sein müssen oder wie der Kohlendioxidstrom beschaffen sein soll. Das gilt auch für die Details für die Genehmigungsverfahren für Kohlendioxidleitungen, die Anforderungen an die Speicher oder die
Überwachungskonzepte. Klarheit werden erst die Verordnungen bringen. Damit werden jedoch zentrale Inhalte am Gesetzgeber vorbei festgelegt. Das alles halten
wir für inakzeptabel.
({3})
Auch aus ökonomischer Perspektive spricht nichts für
CCS. Der ganze Spuk wird extrem teuer, weil die mühsam hochgetriebenen Wirkungsgrade der Kraftwerke mit
CCS um ein Drittel sinken werden. Warum, so frage ich,
nutzen wir die Gelder nicht und bauen davon lieber einen internationalen Stromverbund für erneuerbare Energien? Warum forschen wir nicht mit den Milliarden, um
die Effizienz bei der Nutzung von Biomasse zu erhöhen
oder den öffentlichen Verkehr auszubauen? Das, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wäre im Gegensatz zur CO2Verklappung zukunftsfähige Politik.
({4})
Ich gebe das Wort der Kollegin Bärbel Höhn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass wir heute über das CCS-Gesetz und nicht über das
Effizienzgesetz sprechen, sagt einiges über die falsche
Prioritätensetzung in der Klimaschutzpolitik der Bundesregierung aus.
({0})
Denn die Technik, die wir für mehr Effizienz brauchen
- wir alle kennen sie -, ist sicher, wirtschaftlich, schafft
enorm viele Jobs und ist sogar günstig. Eine eingesparte
Kilowattstunde ist schließlich besser als eine verbrauchte
Kilowattstunde. Trotzdem diskutieren wir heute über
CCS-Technologien und nicht über das Effizienzgesetz.
All die Fragen, die wir im Zusammenhang mit der
Energieeffizienz bereits beantwortet haben, sind bei den
CCS-Technologien noch nicht geklärt. Deshalb halte ich
den Angriff auf den Sachverständigenrat für Umweltfragen, den Sie, Herr Minister Gabriel, gefahren haben, für
falsch. Was hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen heute ausgeführt? Er hat vor einer voreiligen Weichenstellung durch die Bundesregierung gewarnt.
({1})
Außerdem hat er darauf hingewiesen, dass die Eile des
Gesetzgebungsverfahrens angesichts der gesellschaftlichen Relevanz des Gesetzes nicht angemessen sei und
viele Fragen im Zusammenhang mit CCS bislang ungeklärt seien. Was Sie vorhaben, ist also Folgendes: Sie
wollen ein Gesetz, in dem es um eine Großtechnologie
geht, durch das Parlament peitschen, obwohl viele Fragen noch ungeklärt sind. Das ist der Vorwurf, und dieser
Vorwurf ist berechtigt.
({2})
Herr Schauerte, auch wenn ich es eigentlich nicht
will, muss ich an dieser Stelle auf einen Ihrer Vorgänger
zu sprechen kommen. Ich möchte Ihnen sagen, wie Herr
Tacke, in Ihren Augen doch sicher ein seriöser und solider Mann, der einmal Staatssekretär im Wirtschaftsministerium war, die CCS-Technologie beurteilt. Er ist der
Meinung, dass sie zu teuer ist und von der Bevölkerung
nicht akzeptiert wird. Deshalb lehnt Herr Tacke sie ab.
So viel zu Ihrem Vorgänger, Herr Schauerte. Diese Kritik an CCS machen Sie einfach nieder.
Jetzt komme ich auf die Fragen, die noch nicht geklärt
sind, zu sprechen. Wie ist es um die Sicherheit von CCS
bestellt? Erst einmal müssen wir uns fragen: Was bedeutet es überhaupt, wenn man vom Pilotkraftwerk in Hürth,
Nordrhein-Westfalen, bis nach Schleswig-Holstein, also
über Hunderte von Kilometern, Leitungen verlegt? Ich
sage nur: Gute Fahrt!
({3})
Was bedeutet es eigentlich, wenn man für Gebiete mit
einer Größe von 50 mal 50 Kilometern, die man unter
Tage verfüllen will, Planfeststellungsverfahren durchführt? Auch hier sage ich nur: Gute Fahrt! Was die Sicherheit angeht, gibt es viele Fragen, die noch beantwortet werden müssen.
In der Tat, Herr Gabriel, darf man CO2 nicht mit
Atommüll vergleichen; hier gebe ich Ihnen recht. Das
wäre absolut falsch. Man muss aber fragen: Was heißt
es, wenn man ein CO2-Gas für Hunderte, vielleicht sogar
für über Tausend Jahre in ein Lager unter der Erde verbringt? Hier geht es nämlich um die Sicherheit der Bevölkerung. Auch diese Frage stellen wir, und zwar zu
Recht.
({4})
Die zweite Frage, die Herr Tacke aufgeworfen hat,
betrifft die Wirtschaftlichkeit. CCS ist mit hohen Investitionskosten verbunden. Außerdem geht CCS mit einem
höheren Rohstoffverbrauch einher; denn man braucht
30 bis 40 Prozent mehr Kohle. Die Effizienz der neuen
Kohlekraftwerke ist dann nämlich schon aufgezehrt.
Herr Gabriel, eines stimmt nicht: Sie behaupten immer, am Ende werde das Ganze durch den Emissionshandel gedeckelt und damit geregelt. Sie verschweigen
aber, dass Sie im Rahmen der Regelungen zum Emissionshandel gerade erst die Möglichkeit geschaffen haben, neue Kohlekraftwerke mit 15 Prozent der Investitionssumme zu bezuschussen. Die Industrie weiß also
selbst, dass dieses Vorhaben zu teuer ist. Jetzt will sie
Geld von Ihnen. Sie regeln das über den Emissionshandel. Herr Gabriel, es ist nicht fair, wenn Sie behaupten,
durch den Emissionshandel würde das Ganze geregelt.
Geregelt wird dadurch mit Ihrem Zutun lediglich eine
Subvention von 15 Prozent für diejenigen, die auf CCS
setzen.
({5})
Zum dritten Punkt, der Verfügbarkeit. Wann ist die
CCS-Technik verfügbar? Alle sagen, auf dem Markt
wird es erst in 10, 15 Jahren verfügbar sein. Wir wissen
aber, dass der Anteil der erneuerbaren Energien in 10,
15 Jahren viel größer sein wird als heute. Sie sagen, dass
er 30 Prozent betragen wird, wir gehen von 40 Prozent
aus, und die Branche der erneuerbaren Energien selbst
prognostiziert einen Anteil von 47 Prozent.
({6})
Das heißt, in Zukunft brauchen wir überhaupt keine
Kohlekraftwerke mit CCS mehr, weil wir dann einen
großen Anteil an erneuerbaren Energien haben. Sie setzen also auf eine Technologie, die in Deutschland gar
nicht mehr zum Tragen kommen wird.
({7})
Herr Gabriel, ich finde es wirklich spannend, dass Sie
sagen: Wir führen keine ausschließlich deutsche Diskussion. - Damit räumen Sie doch ein, dass es CCS-Anlagen in Deutschland in großem Stil nicht geben wird.
Auch das muss man der Bevölkerung sagen, wenn man
über die CCS-Technologie diskutiert.
Damit stellt sich die Frage: Warum wird CCS dann
eine so hohe Priorität eingeräumt? Momentan gibt es
Riesensubventionen: 3 bis 9 Milliarden Euro stellt die
EU für die Unternehmen bereit, und es gibt die
15 Prozent Zuschuss für die Kohlekraftwerke, die ich
eben genannt habe.
Das Ganze soll gehen an große Energiekonzerne, von
denen zum Beispiel Eon heute auf seiner Pressekonferenz einen Jahresgewinn von 9,9 Milliarden Euro angekündigt hat. Das ist eine Menge Geld. Deshalb brauchen
wir keine Subventionen für CCS, genauso wenig wie
Herr Bernotat Hartz IV benötigt.
({8})
Warum sollte Eon für CCS Zuschüsse bekommen? Das
wäre absurd. Eon kann CCS selber bezahlen und muss
keine Zuschüsse vom Staat bekommen.
({9})
Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, ist der -
Nein, Frau Kollegin, Sie müssen Ihren letzten Punkt
reduzieren. Sie haben Ihre Redezeit überschritten.
Das mache ich, ich reduziere ihn.
Es kann nicht sein, dass heute Kohlekraftwerke gebaut werden mit dem Freifahrschein, irgendwann einmal
könnte es CCS geben. Nachrüsten mit CCS können wir
nicht; das ist - das sagen die Experten - viel zu teuer.
Deshalb sage ich: CCS darf nicht als Vorwand dienen,
um neue Kohlekraftwerke ohne CCS durchzusetzen!
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Marco Bülow, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Beurteilung der CCS-Technologie reicht von Verteuflung bis Anpreisung als großen neuen Heilsbringer.
Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wie immer irgendwo
dazwischen.
CCS bietet eine gute Chance, die Energiegewinnung
aus fossilen Energieträgern umweltfreundlicher, zumindest aber nicht ganz so klimafeindlich, wie sie im Augenblick ist, zu machen.
Es gibt aber auch die Chance - darüber wird selten
geredet; übrigens sagt Herr Edenhofer im gleichen Interview etwas dazu -, die CCS-Technologie nicht nur bei
Kohlekraftwerken, sondern auch bei Biomassekraftwerken einzusetzen, um zusätzlich CO2 aus der Atmosphäre
zu holen. Auch das sollte noch einmal erwähnt werden.
Das ist natürlich eine Chance.
({0})
Die CCS-Technologie ist noch nicht ausgereift, sie
muss noch erprobt werden. Egal wie gut sie am Ende dastehen wird: CCS wird die Effizienz von Kraftwerken
deutlich mindern und damit den Preis für die Vermeidung einer Tonne CO2 nach oben treiben. Das müssen
wir im Hinterkopf behalten.
Es besteht zudem die Gefahr, dass allzu große Hoffnungen in die CCS-Technologie gesetzt werden, dass
Leute anfangen, sich zurückzulehnen und zu argumentieren: Wenn wir CCS haben, brauchen wir die erneuerbaren Energien eigentlich nicht weiter auszubauen oder
auf Energieeffizienz zu setzen. - Das ist jedoch ein Irrglaube. Denn eines ist klar: In erster Linie muss es darum gehen, die Nutzung erneuerbarer Energien auszubauen und die Energieeffizienz zu steigern. CCS kann
nur „on top“ dazukommen und dazu beitragen, Minderungsziele zu erreichen. Wir dürfen das nicht schon jetzt
einpreisen, weil wir dann - diese Gefahr sehe ich - bei
unseren anderen Bemühungen nachlassen; doch das dürfen wir auf keinen Fall.
({1})
Wir sprechen heute über ein Gesetz, mit dem der
Rechtsrahmen für einige Demonstrationsvorhaben geschaffen werden soll. Das ist richtig so, und das ist notwendig.
Unser Dank für die gute Vorarbeit gilt dem Bundesumweltministerium und speziell Bundesumweltminister
Sigmar Gabriel. Jetzt wird das Parlament darüber beraten. Wir tun gut daran, das ausführlich und sorgfältig zu
machen. Wir werden am 25. Mai eine Anhörung durchführen, um noch einmal intensiv über dieses Thema zu
diskutieren. Wir werden auch bei anderer Gelegenheit
über verschiedene Punkte reden müssen, weil dieses
Thema sehr umstritten und sensibel ist.
Viele von Ihnen, die hier sitzen, haben wie ich eine
Massenrundmail bekommen, bei der etwa tausend Mails
in der letzten Woche aufgekommen sind. Das wird nur
der Anfang gewesen sein. Viele Leute werden sich mit
diesem Thema beschäftigen. Noch wissen viele nicht,
was CCS ist. Dieses Thema wird die Leute spätestens
dann betreffen, wenn die Pipelines gebaut werden, nicht
unbedingt wegen der Technologie als solcher, sondern
weil vor Ort etwas passiert, was der eine oder andere
nicht will. Das heißt, wir müssen mit diesem Thema sehr
sorgfältig umgehen. Gerade diejenigen, die CCS wollen
- wie wir; wir wollen diese Technologie erproben -,
müssen deutlich machen, dass sie mit den ungelösten
Fragen und Problemen sorgfältig umgehen. Das sollten
wir noch einmal ganz deutlich machen.
In dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um viele
Details. Ich will nur einige zentrale Fragen herausgreifen, die wir in den nächsten Wochen beantworten müssen.
Erstens. Wollen wir eine Gesetzesgrundlage nur für
Demonstrationsanlagen auf den Weg bringen, die genau
das regelt und in diesem Bereich Rechtssicherheit bringt,
oder wollen wir schon jetzt ein Gesetz schaffen, das auf
Dauer und für alle möglichen weiteren Kraftwerke gilt?
Das sollten wir uns sehr gut überlegen.
Zweitens. Welche Sicherheitsstandards wollen wir
dem zugrunde legen? Können wir es uns bei einem so
wichtigen Thema leisten, an irgendeinem Standard die
Schrauben zu lockern?
Drittens. Wie können wir sicherstellen, dass diesmal
letzten Endes nicht nur der Staat und damit die Steuerzahler die Zeche zu zahlen haben, was die Risiken und
Kosten angeht, sondern dass die Unternehmen, die die
gute Chance erhalten, nicht nur Klimaschutz zu betreiben, sondern auch Geld zu verdienen, deutlich beteiligt
werden? Auch das ist eine wichtige und zentrale Frage.
Ich gehe darauf ein, was Herr Staatssekretär Schauerte
gesagt hat: Wenn wir eine wirklich günstige Lösung
- gerade für den Staat - wollen, dann ist es doch klar,
dass die Unternehmen auch an den Risiken beteiligt werden müssen, die vielleicht erst nach ein paar Jahrzehnten
auftreten werden.
Viertens. Wollen wir als Parlament zulassen, dass uns
mit Verordnungen das Heft des Handelns aus der Hand
genommen wird? Auch darüber haben wir zu diskutieren
und am Ende abzustimmen. Es gibt viele weitere Fragen
und Details, die wir klären müssen.
Ich möchte eine Schlussbemerkung machen, die ich
sehr wichtig finde, weil das Thema in der Diskussion angesprochen wurde. Ich bin dafür, dass wir das Thema
CCS angehen und einen Ordnungsrahmen schaffen. Das
halte ich für richtig. Aber man muss sich dabei auch mit
der Vehemenz befassen, mit der einige Lobbyisten, aber
auch viele Politiker und andere diesen CCS-Gesetzentwurf pushen wollen. Wenn man mit derselben Vehemenz
versucht hätte - damit spreche ich besonders das Wirtschaftsministerium an -, beim Thema Energieeffizienz
weiterzukommen und einen vernünftigen Entwurf eines
Energieeffizienzgesetzes vorzulegen, dann hätten wir
viele Probleme im Energiebereich heute nicht.
({2})
Dieses Engagement würde ich mir gerade auch im
Bereich der Energieeffizienz wünschen. Ich glaube,
dann würden wir einen guten Strauß mit CCS, Energieeffizienz und erneuerbaren Energien binden, eine Kom23914
bination, mit der wir gut leben und energiesicher und
umweltfreundlich in die Zukunft gehen könnten.
Vielen Dank.
({3})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollege
Marie-Luise Dött, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Energiehunger der Welt wächst rasant. Der globale
Trend zur Deckung des wachsenden Bedarfs geht eindeutig hin zur stärkeren Nutzung von Kohle. Die Experten sind sich einig: Die weltweiten Reserven an Steinund Braunkohle reichen noch für einen Zeitraum von
über 1 000 Jahren.
Wir wissen heute schon, dass China, Indien, Russland, aber auch die USA am Energieträger Kohle nicht
nur festhalten werden, sondern die Kohlenutzung weiter
ausbauen wollen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich
die größten Kohleexportnationen zumeist in stabilen
Weltregionen befinden, ganz im Gegensatz zu der Situation bei Öl und Gas.
Nach Schätzung der Internationalen Energieagentur
wird die Kohle daher im Jahr 2030 einen Anteil von
26 Prozent am Weltenergieverbrauch haben. Sie wird somit der global bedeutendste Energieträger bleiben.
Wenn wir Klimaschutz wirklich ernst nehmen, dann
müssen wir uns diesen Tatsachen stellen und dafür sorgen, dass Technologien entwickelt werden, die die klimaverträgliche Nutzung der Kohle ermöglichen.
({0})
CCS-Technologien haben dieses Potenzial. Denn die
Abtrennung und Einlagerung von CO2 kann ein Weg für
eine klimaverträgliche Kohlenutzung sein.
Deutschland liegt im internationalen Wettbewerb bei
den CCS-Technologien hervorragend im Rennen. 2008
wurde in Schwarze Pumpe das weltweit erste Kohlekraftwerk mit CO2-Abscheidung eröffnet. In Ketzin in
Brandenburg befindet sich das erste Projekt in Europa,
in dem CO2 unterirdisch auf dem Festland eingelagert
wurde. Weitere Planungen für CCS in Deutschland betreffen die Standorte Hürth bei Köln, Jänschwalde in
Brandenburg und Wilhelmshaven. Wir sind Technologievorreiter - auch bei CCS -, und das soll so bleiben.
({1})
Dafür brauchen wir allerdings verlässliche politische
Rahmenbedingungen. Diese müssen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen.
Nicht nur global werden wir künftig Kohle als Energieträger brauchen, sondern auch hier in Deutschland.
Die Nutzung der einheimischen Kohle wird auch in Zukunft eine zentrale Säule für einen sicheren, für den Bürger bezahlbaren und umweltverträglichen Energiemix in
unserem Land sein. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird - so wie wir uns das zum Ziel gesetzt haben natürlich fortgesetzt; das steht außer Frage. Es ist aber
falsch, die Augen zu verschließen und nach dem Prinzip
Hoffnung nur auf erneuerbare Energien zu warten. Dazu
ist eine sichere und bezahlbare Energieversorgung für
unser Land und unsere Bürger zu wichtig, nicht zu vergessen: auch für die Industrie.
({2})
Wir müssen uns also darüber im Klaren sein, dass
selbst bei einem Ausbau des Anteils der erneuerbaren
Energien auf 30 bzw. langfristig auf 50 Prozent der verbleibende Energiebedarf auch künftig zu einem erheblichen Teil mit Kohle gedeckt werden wird. Das sollten
Sie, Frau Höhn, zur Kenntnis nehmen. Wir brauchen
100 Prozent Energieversorgung.
({3})
Wer also die Entwicklung von CCS-Technologien blockiert, um wie Sie aus ideologischen Gründen die Kohlenutzung in Deutschland zu verhindern, der blockiert
die Klimapolitik und die wirtschaftliche Entwicklung in
unserem Land gleichermaßen.
({4})
Meine Damen und Herren von den Grünen und den
Linken, auch wenn es Ihnen nicht passt: Vielleicht hören
Sie auf den von Ihnen in Klimafragen oft zitierten Klimaexperten Professor Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung - Minister Gabriel hat vorhin Ottmar Edenhofer zitiert -, der die Bedeutung von
CCS-Technologien wie folgt kurz und knapp beschrieben hat: „Ein ambitionierter internationaler Klimaschutz
ist ohne CCS nicht möglich.“
({5})
Beenden Sie also Ihre Diffamierungskampagne gegen
die Kohlekraftwerke und CCS, und stellen Sie sich den
energie- und klimapolitischen Realitäten und Herausforderungen!
({6})
CCS-Technologien stellen keinen technologischen
Sonderweg Deutschlands beim Klimaschutz dar. Unterstützung für CCS-Technologien kommt auch aus Europa.
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder haben
auf dem Umweltgipfel im Dezember 2008 beschlossen,
die CCS-Speichertechnologie mit Zertifikaten im Gegenwert von 300 Millionen Euro zu fördern. Bis 2015
sollen zwölf Demonstrationsvorhaben für die CO2-Abscheidung und -Speicherung bei der Kohleverstromung
in Deutschland errichtet werden; denn natürlich stehen
wir bei dieser neuen Technologie vor einer ganzen Reihe
von Herausforderungen; das lässt sich nicht wegdiskutieren. Ich möchte hier nur einige Bereiche nennen, die
im Rahmen von Pilotvorhaben untersucht werden müssen.
Werden die mit CCS ausgerüsteten Kraftwerke noch
so effizient sein, dass sie Strom zu vertretbaren Preisen
liefern können? 5 Prozent mehr Effizienz ohne zusätzlichen CO2-Ausstoß sind für mich ein Erfolg. Wenn wir
das schaffen, dann kann ich diese Technologie nur bejahen.
({7})
Welche Art der CO2-Abscheidung kommt zum Zuge?
Kann CO2 dauerhaft sicher gelagert werden? Reichen
die vorhandenen möglichen Lagerstätten in Deutschland
aus? Diese Sachverhalte lassen sich aber nicht durch Laborversuche oder an Bürotischen klären. Wir brauchen
die praktische Erprobung mit Pilot- und Demonstrationsanlagen. Diese kann durch die Unternehmen aber nur
dann erfolgen, wenn wir jetzt den Rechtsrahmen dafür
schaffen. Gelingt uns das nicht, werden wir zukünftig
nur als Zuschauer am internationalen Wettbewerb um
diese wichtige Umwelttechnologie teilnehmen. Unsere
Erfahrung und unser technologisches Know-how werden
dann einmal mehr von anderen genutzt.
Mit dem vom BMU und BMWi gemeinsam vorgelegten Gesetzentwurf wurde eine gute Grundlage für unsere
parlamentarischen Beratungen geschaffen. Unser Ziel ist
es, mit dem Kohlendioxid-Speicherungsgesetz hohe Sicherheits- und Umweltstandards zu verankern und im Interesse der Akzeptanz dieser neuen Technologie ein
größtmögliches Maß an Transparenz zu gewährleisten.
Aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion muss
allerdings diskutiert werden, warum an einigen Stellen
von der Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie abgewichen wurde.
({8})
Es kann nicht sein, dass über unnötige Verschärfungen
europäischer Anforderungen Kosten entstehen, die CCSTechnologien in Deutschland unwirtschaftlich machen
oder die die Verbraucher unnötig belasten, ohne einen
wirklichen Gewinn für den Klimaschutz zu erzielen.
({9})
Abweichungen bei den Haftungsregelungen und der
Deckungsvorsorge oder auch die Behandlung von bereits laufenden Zulassungsverfahren bei Pilotvorhaben
müssen sehr genau auf ihre Wirkung geprüft werden.
Wir brauchen also ein CCS-Gesetz, aber kein CCS-Verhinderungsgesetz;
({10})
denn unsere parlamentarische Entscheidung über die Zukunft von CCS hat Konsequenzen für den nationalen und
globalen Klimaschutz, die Sicherheit unserer Energieversorgung und für die Zukunft vieler Tausender Menschen, die in den Braunkohlerevieren in der Lausitz,
zwischen Köln und Aachen und im Mitteldeutschen Revier arbeiten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12782, 16/9896 und 16/11751 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen, wobei die Federführung jeweils beim Aus-
schuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 e auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritter Bericht zur Umsetzung des BolognaProzesses in Deutschland
- Drucksache 16/12552 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Umsetzung der Bologna-Beschlüsse kritisch
begleiten
- Drucksache 16/11910 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Priska Hinz ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bologna-Reform verbessern - Studienqualität
erhöhen und soziale Dimension stärken
- Drucksache 16/12736 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({5}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Neuregelung des Hochschulzugangs und der
Hochschulabschlüsse als Impuls zur Hoch-
schulöffnung und Qualitätsentwicklung nut-
zen
- Drucksachen 16/2796, 16/12831 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Cornelia Hirsch
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für einen sozialen Europäischen Hochschulraum
- zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Kai Gehring, Priska Hinz ({8}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Den Bologna-Prozess voranbringen - Quali-
tät verbessern, Mobilität erleichtern und so-
ziale Hürden abbauen
- Drucksachen 16/5246, 16/5256, 16/12832 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Cornelia Hirsch
Krista Sager
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Anette Hübinger, CDU/CSU, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, SPD, Uwe Barth, FDP, Cornelia Hirsch, Die
Linke, Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen, und des
Parlamentarischen Staatssekretärs Andreas Storm.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12552, 16/11910 und 16/12736 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 6 d. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Neuregelung des Hochschulzugangs und der Hoch-
schulabschlüsse als Impuls zur Hochschulöffnung und
Qualitätsentwicklung nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt
1) Anlage 17
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12831,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2796
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 e. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für einen sozialen
Europäischen Hochschulraum“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12832, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/5246 abzulehnen. Wer stimmt
für diesen Beschlussvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den restlichen
Stimmen des Hauses angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5256 mit
dem Titel „Den Bologna-Prozess voranbringen - Qualität verbessern, Mobilität erleichtern und soziale Hürden
abbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Linken, der SPD
und der CDU/CSU bei Gegenstimmen des
Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der FDP
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Wolfgang Nešković, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rehabilitierung für die Verfolgung und Unterdrückung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik und Entschädigung der Verurteilten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({10}), Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Rehabilitierung und Entschädigung der
nach 1945 in Deutschland wegen homosexu-
eller Handlungen Verurteilten
- Drucksachen 16/10944, 16/11440, 16/12371 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Jörg van Essen
Wolfgang Nešković
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU, Dr. Carl-Christian Dressel,
SPD, und Jörg van Essen, FDP, haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.1)
Ich gebe jetzt das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll.
({11})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für die Homosexuellen ist das Dritte Reich noch
nicht zu Ende.
Mit diesen Worten rüttelte der Historiker Hans-Joachim
Schoeps 1963 die Öffentlichkeit auf. Es dauerte noch
31 Jahre, bis § 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen
wurde, und erst 37 Jahre nach dieser Äußerung bekannte
sich auch der Bundestag zum Unrecht der Verfolgung
nach 1945. Dieser Konsens der Verurteilung als Unrecht
hat Bestand. Dies bleibt ein wichtiges politisches Bekenntnis und Fundament, zumal in diesem Jahr, in dem
wir den 60. Jahrestag des Grundgesetzes begehen. Aber
wir sollten nun auch den politischen Mut aufbringen, die
notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Dies
heißt: Rehabilitierung der Verfolgten und Verurteilten
und Entschädigung.
({0})
50 000 Verurteilungen nach § 175 zwischen 1945 und
1969 in der Bundesrepublik sprechen eine deutliche Spra-
che. Ich möchte auch die DDR mit ihren etwa 3 000 Ver-
urteilungen nicht verschweigen. Doch anders als die
Bundesrepublik bezeichnete sie den verschärften § 175
als „typisch nationalsozialistisches Unrecht“ und kehrte
damit wenigstens zur Fassung der Weimarer Republik
zurück.
Wir müssen hier endlich verstehen, was die 50er- und
60er-Jahre für Lesben und Schwule bedeuteten. Im
Osten galt Homosexualität als bürgerlich dekadent und
im Westen als schwerer Verstoß gegen christliche Sitt-
lichkeitsvorstellungen. Im Westen gab es einen Verfol-
gungswillen, der in der Geschichte der Bundesrepublik
seinesgleichen sucht. „Es ist die größte Menschenrechts-
verletzung in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland“, so bezeichnete es kürzlich der Historiker
Andreas Pretzel.
Es ist schön, dass nun ein Landesparlament den An-
fang gemacht und sich einstimmig zu diesem Unrecht
bekannt hat und seine Regierung auffordert, tätig zu
werden. Am 11. März dieses Jahres beschloss das Berli-
ner Abgeordnetenhaus auf Initiative der rot-roten Regie-
rungsparteien einstimmig den Antrag „Berlin tritt ein für
Selbstbestimmung und sexuelle Vielfalt“. Der Senat von
Berlin wird darin aufgefordert, die Wiedergutmachung
von gesetzlichem Unrecht, wie Verurteilungen nach
§ 175 Strafgesetzbuch, in beiden deutschen Staaten
durch Rehabilitierung und eine angemessene Entschädi-
gung in geeigneter Weise zu initiieren oder zu unterstüt-
1) Anlage 18
zen. Alle anwesenden Berliner Landtagsfraktionen bekannten sich zur Rehabilitierung und Entschädigung der
verfolgten und verurteilten Homosexuellen.
Lassen Sie uns jetzt auf die Homosexuellen zugehen,
deren Biografien zerstört wurden, die wegen ihrer Liebe
im Gefängnis gesessen haben, und auf die vielen Lesben,
die gezwungen waren, sich zu maskieren. Es wäre ein
würdiges Signal des 16. Deutschen Bundestages an die
vielen Hunderttausend Lesben, Schwulen und Transgender, die in den nächsten Monaten während der Christopher-Street-Demonstrationen die Straßen säumen werden, und es wäre auch international ein wichtiges Signal.
Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag zuzustimmen.
Falls Sie dies nicht tun, bitte ich Sie, wenigstens noch
einmal über das nachzudenken und das aufzunehmen,
was Herr Dressel von der SPD in der ersten Lesung
sagte, nämlich dass die SPD in der Entschädigungsfrage
verhandlungsbereit ist. Mit dieser Aussage wird klar,
dass es in diesem Hause eine politische Mehrheit für
eine Umsetzung geben kann. Lassen Sie uns konsequent
sein und die Rehabilitierung und Entschädigung einleiten.
Ich danke Ihnen.
({1})
Der Kollege Wolfgang Wieland, Bündnis 90/
Die Grünen, hat seine Rede ebenfalls zu Protokoll ge-
geben.2)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache
16/12371. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10944 mit
dem Titel „Rehabilitierung für die Verfolgung und Un-
terdrückung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher
Handlungen in der Bundesrepublik Deutschland und der
Deutschen Demokratischen Republik und Entschädi-
gung der Verurteilten“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD,
CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und einer Enthal-
tung aus der SPD angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11440
mit dem Titel „Rehabilitierung und Entschädigung der
nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Hand-
lungen Verurteilten“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschluss-
empfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit den restlichen
Stimmen des Hauses angenommen.
2) Anlage 18
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarkt- und der Versicherungsaufsicht
- Drucksache 16/12783 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Leo
Dautzenberg und Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU,
Jörg-Otto Spiller, SPD, Frank Schäffler, FDP, Dr. Axel
Troost, Die Linke, Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die
Grünen.
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Oktober des
letzten Jahres haben Bundesregierung und Parlament
entschlossen und richtig gehandelt. Mit dem Bankenrettungsschirm ist es uns gelungen, den deutschen Finanzmarkt zu stabilisieren und den Untergang eines systemisch relevanten Finanzinstituts zu verhindern. Als Teil
des damals beschlossenen Maßnahmenpakets hat die
Bundesregierung angekündigt, Änderungen bei den
Finanzmarktaufsichtsgesetzen vorzunehmen. Mit dem
Gesetz zur Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht, das wir heute in erster Lesung beraten,
versucht die Bundesregierung, diese Ankündigung umzusetzen.
Wenn wir heute über die Fortentwicklung des Bankenaufsichtsrechts sprechen, so muss zunächst festgehalten
werden, dass die Koalition mit dem Aufsichtsstrukturmodernisierungsgesetz aus dem letzten Jahr bereits
richtige Schritte unternommen hat. Die neue Organisationsstruktur der BaFin sowie die neuen Regeln zur Zusammenarbeit zwischen BaFin und Bundesbank sind eine
wichtige Grundlage.
Trotzdem hat die Krise eine Reihe von strukturellen
Schwachstellen bei der Bankenaufsicht aufgezeigt. Das
gilt allerdings nicht allein mit Blick auf die deutsche Bankenaufsicht, sondern vielmehr ganz generell weltweit.
Kein nationales Aufsichtsmodell konnte in der Krise als
internationales Vorbild dienen. Nun gilt es, die vorhandenen Eingriffsinstrumente der Aufsicht zu überprüfen und
Änderungen vorzunehmen, mit denen die Bankenaufsicht
weiter verbessert wird. Im Einzelnen umfasst der Gesetzentwurf der Bundesregierung folgende Maßnahmen.
Erstens. Die BaFin soll zukünftig leichter höhere
Eigenmittel verlangen können, wenn die nachhaltige Angemessenheit der Eigenmittelausstattung eines Instituts
nicht mehr gewährleistet werden kann oder die Risikotragfähigkeit des Instituts nicht mehr gegeben ist.
Zweitens. Die BaFin erhält das Recht, künftig eine höhere Liquiditätsausstattung verlangen zu können, wenn
dies zur Sicherung eines Instituts angemessen ist. Gerade
in der gegenwärtigen Krise hat sich die Liquiditätsausstattung zahlreicher Institute als unzureichend herausgestellt.
Drittens. Ein Gewinnausschüttungsverbot soll in Zukunft bereits angeordnet werden können, wenn eine Unterschreitung aufsichtsrechtlicher Kennziffern droht.
Viertens. Mit einem Zahlungsverbot, beschränkt auf
alle konzerninternen Zahlungen ({0}), kann künftig verhindert werden, dass einem deutschen Tochterinstitut durch die ausländische Muttergesellschaft Liquidität entzogen wird.
Fünftens. Durch verschiedene neue Meldepflichten,
unter anderem die Pflicht zur regelmäßigen Meldung des
Leverage Ratio, sollen mögliche Risikopotenziale einer
Bank in Zukunft besser erkannt werden.
Sechstens. Schließlich soll die BaFin das Recht erhalten, Mitglieder der Kontrollgremien von Banken und Versicherungen abzuberufen, wenn diese fachlich ungeeignet oder unzuverlässig sind. Zudem soll die Zahl der
Mandate für Geschäftsleiter und Mitglieder von Kontrollgremien begrenzt werden, um eine verantwortliche Aufgabenstellung sicherzustellen.
Der bisherige Verlauf der Finanzmarktkrise hat gezeigt, dass die Eingriffsmöglichkeiten der BaFin nicht
ausreichend sind. Aus diesem Grund unterstützt die
Unionsfraktion die Ziele des Gesetzes im Grundsatz. Wir
wollen eine durchschlagskräftige Aufsicht, die vor allem
im Vorfeld einer Krise vorbeugend tätig werden kann.
Deshalb begrüßen wir besonders die Einschränkung des
Ring Fencing sowie die klar geregelten Vorgaben der
BaFin, in die Geschäftsorganisation eines Instituts Einblick zu erhalten.
Andererseits hat meine Fraktion die Befürchtung, dass
einige der vorgeschlagenen Maßnahmen über das Ziel hinausschießen könnten. Insbesondere den Vorgaben für
eine zusätzliche Eigenkapitalunterlegung stehen wir ausgesprochen kritisch gegenüber. Mit den erhöhten Anforderungen an Institute werden zum Teil Maßnahmen vorweggenommen, die derzeit auf Brüsseler Ebene in der
Überarbeitung der Basel-II-Regeln diskutiert werden. Da
die Bankenregulierung in Deutschland im Wesentlichen
durch europäische Vorgaben bestimmt wird, ist ein europäisch abgestimmtes Verfahren aber unbedingt notwendig. Bei nationalen Alleingängen besteht die Gefahr erheblicher Wettbewerbsnachteile für die deutsche Kreditund Versicherungswirtschaft. Gerade in Krisensituationen kann das Festsetzen von Eigenkapitalzuschlägen
dazu führen, dass weniger für zusätzliches Geschäftspotenzial auch in Form von Kreditgewährung zur Verfügung steht. In diesem Fall würde die vorgeschlagene
Maßnahme nur krisenverstärkend wirken.
Fragwürdig sind auch die höheren fachlichen Anforderungen an die Kontrollgremien. Zum einen wird im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht ausreichend zwischen Verwaltungs- und Aufsichtsorganen unterschieden.
Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte jedoch nur der
im KWG gebräuchliche Begriff des Aufsichtsorgans verwendet werden. Zum anderen ist eine effektive Kontrolle
durch die Aufsichtsorgane nicht allein Frage eines bestimmten fachlichen Kenntnisstands ihrer Mitglieder. Besonders Genossenschaftsbanken und Sparkassen sind oft
auf Unternehmer, Handwerker und kommunale Mandatsträger in ihren Verwaltungsräten angewiesen, die durch
ihre individuellen Kenntnisse durchaus eine angemessene
Kontrollfunktion in den Gremien wahrnehmen können.
Nichts könnte dem Finanzplatz Deutschland derzeit
mehr schaden als unangemessene und nicht adäquate
Schnellschüsse. Die CDU/CSU-Fraktion wird im weiteren Gesetzgebungsverfahren kritisch prüfen, ob an einzelnen Stellen des Gesetzentwurfes Änderungen vorzunehmen sind.
Nach dem uns vorliegenden Gesetzentwurf soll die
Banken-, aber auch die Versicherungsaufsicht gestärkt
werden. Ich möchte mich auf den zweiten Teil konzentrieren und kurz zu den Veränderungen bei der Aufsicht von
Versicherungen Stellung nehmen.
Es ist zu begrüßen, die Stabilität des Finanzmarktes
und seiner Teilnehmer zu erhöhen. Es ist allerdings problematisch, Regelungen aus dem Bankenbereich einfach
so auf den Versicherungsbereich zu übertragen. Lassen
Sie mich dazu drei Punkte ansprechen:
Erstens. Mitglieder der Kontrollgremien von Versicherungsgesellschaften haben nun, wie im Bankenbereich,
zur Wahrung ihrer Kontrollfunktion eine bestimmte fachliche Eignung vorzuweisen. Liegt diese Eignung nicht
vor, kann die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Ausübung der Kontrolltätigkeit untersagen.
Diese Regelung ist zwar auf den ersten Blick zu begrüßen,
jedoch bei einer Hinterfragung unrealistisch. Was bedeutet eigentlich diese fachliche Eignung? Welche Qualifikationen sind vorzuweisen? In den Aufsichts- und Verwaltungsräten befinden sich viele Politiker, Gewerkschafter,
Arbeitnehmer und strategische Investoren, die eine Vertretung ihrer Interessen als Eigentümer - oder auch als
deren Vertreter - wahren. Ein wirtschaftliches Verständnis sollte in solch einer Position natürlich vorhanden
sein, aber die Qualifikationsanforderungen, wie sie in der
Begründung des Gesetzentwurfs dargelegt werden, können selbst im Idealfall nicht von allen Mitgliedern erreicht werden. Der besondere Sachverstand kommunal
tätiger Personen wird als ausreichende Qualifikation
überhaupt nicht anerkannt. Das ist meiner Meinung nach
ein großer Fehler. Gerade diese Personen kennen sich
bestens mit wichtigen kommunalen und regionalen Besonderheiten beispielsweise in der Verwaltungspraxis
aus und können dieses Wissen in die Aufsichts- und Kontrollgremien einbringen. Die „Muss“-Anforderungen für
die fachliche Eignung erscheinen mir zu eng und sollten
daher geöffnet werden. Außerdem stellen diese Anforderungen in meinen Augen einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufs- und Eigentumsfreiheit dar.
Zweitens. Zur Funktion des sogenannten Verantwortlichen Aktuars: Der Aktuar hat mit mathematischen oder
statistischen Methoden die Risiken wie Versicherungs-,
Anlage- und Liquiditätsrisiken einzuschätzen und zu bewerten. Er besitzt somit eine zentrale und wichtige Position im Versicherungsunternehmen. Diese Funktion soll
künftig nicht mehr durch einen Geschäftsleiter ausgeübt
werden. Nach dem Prinzip der Funktionstrennung ist bis
auf die Vorstandsebene eine Trennung der Funktion des
Risikomanagements von den Verantwortlichen für die
Kapitalanlage und die Versicherungstechnik vorzunehmen. Wieder erscheint auch dieser Punkt stimmig, jedoch
erneut unrealistisch. Besonders für kleine und mittlere
Versicherungsunternehmen stellt dies eine personelle Herausforderung dar und ist kurzfristig nicht umsetzbar.
Des Weiteren kann ich dieses Prinzip der Funktionstrennung nicht richtig nachvollziehen. Ein Geschäftsleiter
trägt in seinem Unternehmen die Verantwortung für das
Risikomanagement. Doch auch der Verantwortliche Aktuar muss ständig zahlreiche entscheidende Risiken des
Versicherungsunternehmens einschätzen, beispielsweise
zur Berechnung der Überschüsse. Warum kann dann ein
Geschäftsleiter nicht auch die Position des Aktuars ausüben?
Drittens. Ein dritter Punkt sind die strengeren Anforderungen an Versicherungsverbriefungen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ist künftig
vorab über die Risiken der Verbriefung von Versicherungsrisiken, die über Zweckgesellschaften erfolgt, zu
informieren. Die Laufzeit der Papiere, die über diese
Zweckgesellschaften ausgegeben werden, soll denen der
Versicherungsverträge entsprechen. Was bedeutet dies,
welche Art von Versicherungsverträgen ist damit gemeint? Welche Laufzeiten sollen diese Verträge haben?
Die notwendige Verbriefung von Versicherungsrisiken
wird ohne erkennbaren Grund wesentlich aufwendiger
und geht deutlich über ähnlich diskutierte Regelungen im
Bankenbereich hinaus. Die Finanzmarktkrise lieferte jedenfalls keine Argumente für unverhältnismäßig strenge
Vorschriften, die Versicherungsunternehmen erweisen
sich meiner Meinung nach als solide. Auch in diesem
Punkt sollte man also die Realitätsnähe und den Sinn der
neuen Regelungen nicht aus dem Auge verlieren.
Die nächsten Gespräche werden zeigen, wie wir in
Deutschland die Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht noch besser reformieren können.
Wenn es brennt, muss die Feuerwehr schnell zur Stelle
sein und das Feuer gekonnt und rasch löschen. Aber ihre
wichtigste Aufgabe ist nicht das Löschen, sondern der
Brandschutz. Die tüchtigste Feuerwehr ist nicht diejenige, die am meisten Erfahrungen mit Großbränden hat,
sondern die, welche am zuverlässigsten dafür sorgt, dass
Brände sich nicht ausbreiten, am besten gar nicht erst
entstehen können. Oder anders ausgedrückt: Das wichtigste Instrument ist nicht das C-Rohr, sondern sind kluge,
gefährdungsadäquate und praktikable Sicherheitsvorschriften, deren Einhaltung wirksam kontrolliert wird.
Um im Bild zu bleiben: Als es in der noch immer nicht
beendeten weltweiten Bankenkrise lichterloh zu brennen
anfing, haben die Zentralbanken, Aufsichtsbehörden und
Regierungen überall im Großen und Ganzen gute
Zu Protokoll gegebene Reden
Löscharbeit zur Beherrschung der akuten Gefahren geleistet. Aber die - wie sich gezeigt hat - unerlässliche Verbesserung des nachhaltigen Brandschutzes, sprich der
Finanzmarktregeln und der Finanzmarktaufsicht, steht
noch aus.
Umfassend und wirklich befriedigend wird diese Aufgabe nur auf dem Wege einer sehr engen und konstruktiven internationalen Zusammenarbeit gelingen können.
Es ist deshalb ein sehr großer Erfolg, dass Anfang April
die Staats- und Regierungschefs der 20 wirtschaftlich bedeutendsten Länder bei ihrem sogenannten G-20-Gipfel
in London vereinbart haben, die Finanzmarktaufsicht
durch gemeinsames Vorgehen und Intensivierung der Zusammenarbeit international zu stärken. Wie aus der Abschlusserklärung des Treffens hervorgeht, gibt es in den
Kernelementen dieses anspruchsvollen Vorhabens bereits
heute ein erfreulich hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den Beteiligten. Realistischerweise ist gleichwohl
davon auszugehen, dass Verhandlungen über die konkrete
Ausgestaltung der gemeinsamen Regeln und der künftig
deutlich engeren internationalen Zusammenarbeit noch
einige Zeit in Anspruch nehmen werden. Was auf internationaler Ebene geschehen kann und muss, um die Finanzmarktaufsicht zu stärken und offenkundige Mängel zu beseitigen, sollte deshalb nicht auf die lange Bank
geschoben werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf greift also den auf europäischer und G-20-Ebene zu verabredenden Maßnahmen nicht vor. Aber er ist ein wichtiger Schritt, um die Finanzmarktaufsicht auf nationaler Ebene deutlich zu
stärken. Das Artikelgesetz enthält insbesondere Änderungen des Kreditwesengesetzes und des Versicherungsaufsichtsgesetzes, mit denen die Eingriffsmöglichkeiten der
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht - BaFin verbessert werden sollen. Die Finanzmarktkrise hat gezeigt, dass - wie im Gesetzentwurf vorgesehen - eine
Stärkung der präventiven Befugnisse der BaFin und ihrer
Eingriffsrechte in Krisensituationen wichtig ist. Gleichzeitig soll die Informationsbasis der Aufsicht durch zusätzliche Meldepflichten vergrößert werden, damit Risikopotenziale zukünftig besser eingeschätzt werden
können. Die Finanzmarktaufsicht soll die Möglichkeit haben, frühzeitig und schnell schon im Vorfeld von Krisen
handeln zu können. So soll die BaFin künftig unter erleichterten Bedingungen höhere Eigenmittel bei Kreditinstituten oder höhere Liquiditätsausstattung verlangen
können, wenn die nachhaltige Angemessenheit der Eigenmittelausstattung oder der Liquiditätsausstattung eines
Instituts ohne eine solche Maßnahme nicht mehr gewährleistet werden kann. Maßnahmen wie ein Kredit- und Gewinnausschüttungsverbot sollen demnächst schon möglich sein, wenn eine Unterschreitung aufsichtsrechtlicher
Kennziffern droht.
Über manche Einzelheiten wird im Finanzausschuss
gewiss noch eingehend beraten werden, insbesondere im
Anschluss an die vorgesehene Sachverständigenanhörung. Einen Punkt, über den mit Sicherheit diskutiert werden wird, will ich heute schon nennen: die im Entwurf
enthaltenen Formulierungen zu den Qualifikationsanforderungen, denen Mitglieder von Aufsichts- und Verwaltungsräten unterliegen sollen. Auf welche Kenntnisse und
Fähigkeiten sollte es hier ankommen? Meiner Auffassung
nach nicht in erster Linie auf die Vertrautheit mit schwer
verständlichen innovativen Finanzprodukten. Wichtiger
scheint mir ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein
und ausgeprägte Zivilcourage, den zu kontrollierenden
Vorstand zu klaren und nachvollziehbaren Informationen
über die Geschäftsstrategie und die Geschäftsentwicklung zu zwingen. Im Übrigen gibt es für jeden Aufsichtsoder Verwaltungsrat ein fachlich hochqualifiziertes, aber
nicht immer ausreichend zu Rate gezogenes oder sich
nicht immer ausreichend einbringendes Hilfsprogramm:
den Wirtschaftsprüfer. Auch über die wichtige Rolle der
Wirtschaftsprüfer bei der rechtzeitigen Erkennung von
Mängeln in der Risikosteuerung von Banken wird zu reden sein.
Die Finanzkrise ist vor allem auch eine Krise der
staatlichen Aufsicht, das hat auch das hierzu vom Finanzausschuss durchgeführte Fachgespräch mit zahlreichen
Sachverständigen deutlich gemacht. Die Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungen - BaFin - hat in der gegenwärtigen Krise versagt. Die wirklich großen Probleme
wurden nicht von ihr selbst, sondern von Dritten entdeckt.
Die BaFin ist durch das deutsche Kreditwesengesetz
- KWG - mit umfassenden Informationsrechten und Eingriffsbefugnissen ausgestattet. Vertreter der BaFin haben
unter anderem bei den deutschen Landesbanken praktisch alle Entscheidungen in allen wesentlichen Gremien
über Jahre begleitet. Geholfen hat dies nichts.
Deshalb geht der Gesetzentwurf der Bundesregierung,
der der BaFin gerade weitere Kompetenzen und Eingriffsrechte geben soll, in die völlig falsche Richtung.
Beispielsweise soll die BaFin künftig über die fachliche
Eignung der Mitglieder von Kontrollorganen befinden
können. Dies lehnen wir ab. Über die Fähigkeiten der
Mitglieder der Kontrollorgane können am besten die Eigentümer entscheiden, die staatliche Aufsicht sollte sich
dort nicht unnötig einmischen.
Der Gesetzentwurf bezieht auch die Versicherungen
mit ein, ohne klarzumachen, wie dadurch die Finanzmarktstabilität gesteigert wird. Die Finanzmarktkrise ist
keine Krise der Versicherungen, sodass es inakzeptabel
ist, Regelungen für Banken nun undifferenziert auf Versicherungen auszudehnen.
Der vorliegende Gesetzentwurf krankt aber daran,
dass er nur an Symptomen herumdoktert, die Ursachen
der mangelhaften Bankenaufsicht aber nicht beseitigt.
Wir müssen unsere Bankenaufsicht konzentrieren, verstärken und professionalisieren. Wir haben die Zersplitterung der Bankenaufsicht zwischen der BaFin und der
Bundesbank von Anfang an abgelehnt. Wir fordern eine
Konzentration der Aufsicht bei der unabhängigen Bundesbank, denn dies verhindert Reibungsverluste und
strafft die Arbeitsabläufe. Die geldpolitische, volkswirtschaftliche und die aufsichtsrechtliche Expertise sind
dann in einer Institution gebündelt und können effizienter
aufeinander abgestimmt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Gewöhnlich begrüßen wir eine stärkere Finanzmarktaufsicht. Sie ist dringend geboten. Auch mag akzeptabel
sein, dass die Bundesregierung sich auf weniges beschränkt, um einer europäischen Einigung nicht vorzugreifen.
Keinesfalls akzeptabel sind jedoch die Folgen des Gesetzes für Demokratie und Mitbestimmung. Als Linke teilen wir die Kritik, die unterschiedliche Institutionen an
uns herangetragen haben: der Zentrale Kreditausschuss
und Gewerkschaften ebenso wie der Deutsche Städtetag,
der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städte- und
Gemeindebund. Ich fasse die beiden Kernpunkte der Kritik zusammen. Sie sind so gravierend, dass wir das Gesetz
in der vorliegenden Form ablehnen.
Erstens sieht das Gesetz vor, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht - kurz: BaFin - ein direktes
Eingriffsrecht in demokratisch gewählte Gremien zuzugestehen. Die BaFin soll das Recht erhalten, Mitgliedern
von Verwaltungs- und Aufsichtsorganen das Ausüben ihrer Tätigkeit zu untersagen. Dies gilt dann, wenn ein Mitglied nach Ansicht der BaFin nicht zuverlässig ist oder
fachlich ungeeignet erscheint.
Völlig zu Recht verweist der DGB darauf, dass bereits
das heutige Aktienrecht ermöglicht, Gremienmitglieder
auf Antrag des Aufsichtsrates abzuberufen. Auch die
BaFin kann auf diesem Weg die Abberufung von Mitgliedern beantragen. Das ist ein absolut funktionsfähiges und
demokratisches Verfahren. Die BaFin muss es nur nutzen.
Ein direktes Eingriffsrecht der BaFin öffnet hingegen ein
breites Einfallstor für Willkür und Missbrauch. Diese Gefahr besteht umso mehr, weil das Gesetz der BaFin keine
angemessenen Beurteilungsmaßstäbe an die Hand gibt.
Schon aus Gremien der Pensionskassen ist bekannt, dass
die BaFin die Benennung von Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern verhindert hat.
Das zweite Kernproblem ergibt sich aus der eingeschränkten Sicht auf die fachliche Eignung von Mitgliedern in Verwaltungs- und Aufsichtsräten: Denn nicht allein finanztechnisches Fachpersonal gehört in die
Gremien. Ebenso unabdingbar sind Vertreterinnen und
Vertreter der Kommunen. Sie müssen weiterhin ihren
Platz in den Verwaltungsräten der Sparkassen und Kommunalversicherer behalten. Sparkassen und Kommunalversicherer haben einen öffentlichen Auftrag und sind in
der Region verwurzelt. Ich bezweifle zutiefst, dass Sparkassen und Kommunalversicherer von einem reinen
Fachexpertengremium besser kontrolliert werden als von
gewählten Mitgliedern der Stadträte und Kreistage.
Fälle wie die Milliardenverluste bei der Hypo Real Estate und anderen Finanzinstituten belegen: Viel wichtiger
als die Einzelqualifikation der Gremiumsmitglieder ist
das Selbstverständnis der Gremien. Wie ist die Kontrolle
organisiert? Wie ist die Zusammenarbeit mit Wirtschaftsprüferinnen und -prüfern geregelt? Diese und andere
Fragen sind es, die es zu beantworten gilt. Für mich ist
unstrittig, dass Mitglieder von Verwaltungs- und Aufsichtsräten kaufmännisches Verständnis benötigen und
sich regelmäßig weiterbilden müssen. Zugleich sind relevante Angaben den Kontrollgremien verständlich zu
übermitteln. Fest steht: Eingriffe in Demokratie, Mitbestimmung und die Ausklammerung kommunaler Vertreterinnen und Vertreter sind inakzeptabel, unnötig und kontraproduktiv. Ebenso bleibt zu betonen, dass gerade auch
die BaFin selbst dringend mehr und qualifiziertes Personal benötigt.
Eines zeigt der vorliegende Gesetzentwurf bei allem
Veränderungsbedarf bereits jetzt: Finanzmarktregulie-
rung ist immer auch eine nationale Aufgabe. Bundes-
finanzminister Steinbrück hat ja in den vergangenen
Monaten den Eindruck vermittelt, als ob sich die Finanz-
märkte ausschließlich international, mindestens aber
EU-weit, regulieren ließen. Wir Grüne haben das nie ge-
glaubt und begrüßen deswegen die späte Einsicht der
Bundesregierung, auch national etwas zu tun.
Die Länder sperren sich laut Medienberichten gegen
das Gesetz. Ihr Argument: Man wolle den Bemühungen
zu Regulierungen auf EU-Ebene nicht vorgreifen. Das ist
ein wichtiger Punkt. Dennoch ist es richtig, national das
zu tun, was möglich ist. Das schließt weitere Regelungen
EU-weit und international ja nicht aus. In Wahrheit ist es
vielleicht aber so, dass den Ländern nicht so sehr die Re-
gelungskompetenz der EU am Herzen liegt, sondern an-
dere Fragen die Ablehnung motivieren.
Der vorliegende Entwurf verfolgt einen präventiven
Ansatz. Das begrüßen wir. In der Vergangenheit wurde
Finanzmarktpolitik meist unter der Maßgabe betrieben,
dass es besser sei, im Schadensfall die Scherben wegzu-
kehren, als vorsorglich zu handeln. Die Liquiditätsaus-
stattung der Versicherungen und Kreditinstitute ist hier
ein wichtiger Punkt ebenso wie die verstärkte Beachtung
von Risikokonzentrationen innerhalb von Finanzholding-
gruppen und Versicherungsgruppen. Ob hier die richti-
gen Dimensionen gefunden wurden, werden wir in der
Anhörung und den parlamentarischen Beratungen noch
festlegen. Wir Grüne wünschen uns, dass der präventive
Ansatz auch beim Verbraucherschutz ernst genommen
wird. An dieser Stelle hat die Bundesregierung bisher nur
durch Nichtstun geglänzt.
Die Einführung einer Leverage Ratio als Kriterium
zur Risikoeinschätzung ist ein sinnvoller Schritt, auch
wenn die Kennzahl nicht überbewertet werden sollte. Im
Rahmen der parlamentarischen Beratungen sollten wir
überlegen, ob nicht eine feste Größe festgeschrieben wer-
den sollte. Im Gesetzentwurf ist ja nur die Meldung des
Leverage Ratio vorgesehen.
In der Begründung des Gesetzentwurfes wird zu Recht
angemerkt, dass diese Kennzahl die übermäßige Bilanz-
ausweitung der HRE-Tochter Depfa angezeigt hätte. Al-
lerdings stellt sich die Frage, ob die BaFin personell und
organisatorisch in der Lage ist, vornehmlich im Ausland
tätige Tochterunternehmen - wie es die Depfa ist - wir-
kungsvoll zu überwachen.
Die Intention des Gesetzes steht und fällt mit der Kom-
petenz der BaFin. Sie soll über die Qualität der Ge-
schäftsorganisation entscheiden. Danach richten sich die
Anforderungen an das Eigenkapital. Die BaFin darf aber
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht mit neuen Aufgaben überfrachtet werden, ohne dass
sie auch personell in der Lage ist, diese neuen Aufgaben
auch zufriedenstellend auszuführen. Wir alle wissen, dass
das starre Besoldungsschema des öffentlichen Dienstes
es der BaFin sehr schwer macht, gute Leute zu bekommen
bzw. zu halten. Wir sollten also nicht vergessen, der
BaFin auch die Mittel bereitzustellen, bevor wir sie mit
neuen Aufgaben überfrachten.
Das Zahlungsverbot in Krisenfällen zulasten konzern-
interner Gläubiger soll künftig verboten werden können.
Dadurch soll der Abfluss von Finanzmitteln von der deut-
schen Tochter an das ausländische Mutterunternehmen
ausgeschlossen werden. Wie das in einem einheitlichen
europäischen Binnenmarkt, in dem die Unterscheidung
zwischen in- und ausländisch keine Rolle mehr spielt,
funktionieren soll, da sind wir auf eine Erläuterung durch
die Koalition in den Beratungen gespannt.
Eine Frage, die eine große Bedeutung in den Beratun-
gen haben wird, ist die der Qualifikation von Aufsichts-
oder Verwaltungsratsmitgliedern. Richtig ist, dass eine
gute Kontrollarbeit der Aufsichtsgremien eine entschei-
dende Rolle bei der Vermeidung von Insolvenzen spielt.
Wir Grünen haben ein Interesse, die Qualität der Auf-
sichtsgremien zu verbessern. Wie wichtig das ist, konnte
man ja gerade bei der sächsischen Landesbank und bei
der IKB feststellen. Da hätte viel verhindert werden kön-
nen, wenn Verwaltungs- beziehungsweise Aufsichtsrat ih-
ren Aufgaben gerecht geworden wären. Was aber sicher
nicht geht, ist, die Vertreterinnen und Vertreter der Ar-
beitnehmerseite, die Vertreterinnen und Vertreter aus
kommunalen Räten sowie Oberbürgermeister, Landräte
und andere kommunale Amtsträger mit anderen Mitglie-
dern solcher Gremien über einen Kamm zu scheren. Das
Leitbild kann nicht sein, dass überall nur noch langjäh-
rige Vorstände von Privatbanken in den Aufsichtsgremien
des öffentlich-rechtlichen Sektors sitzen. Wichtig wird es
also sein, praktikable Lösungen zu finden, die die Anfor-
derungen einer guten Arbeit der Verwaltungs- und Auf-
sichtsräte einerseits und die verschiedene Herkunft und
damit auch Aufgabe dieser Akteure andererseits berück-
sichtigt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/12783 an die in der Tagesord-
nung ausgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Katrin Göring-Eckardt,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 16/12344 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Katrin Göring-Eckardt,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Herabsetzung des
Wahlalters im Bundeswahlgesetz und im Europawahlgesetz
- Drucksache 16/12345 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Stephan Mayer, CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter, SPD,
Gisela Piltz, FDP, Diana Golze, Die Linke, Kai Gehring,
Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/12344 und 16/12345 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Energiesteuergesetzes
- Drucksache 16/12851 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Norbert
Schindler, CDU/CSU, Reinhard Schultz und Waltraud
Wolff, SPD, Dr. Hermann Otto Solms, FDP, Dr. Kirsten
Tackmann, Die Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die
Grünen.
Wir beraten heute über ein Entlastungsgesetz für die
deutsche Landwirtschaft. Mit dem Entwurf eines Energie-
steueränderungsgesetzes wollen wir einen kleinen Schritt
zur Anpassung der Steuern im Gasöl-, das heißt im
Mineraldieselbereich tun. Wir fassen damit ein Problem
1) Anlage 19
der Wettbewerbsverzerrung im europäischen Markt an,
das dringend sofort beseitigt werden muss!
Zur geschichtlichen Entwicklung der Gasölverbilligung in der deutschen Landwirtschaft: Sie wurde in der
Vergangenheit gewährt, weil die damalige Mineralölsteuer, zum Beispiel für Lkw, für den Straßenbau verwendet wurde, die Landwirte/Bauern jedoch mit ihren Fahrzeugen zu 90 Prozent auf ihren eigenen Flächen
unterwegs sind und somit der Diesel auch nur dort verbraucht wird. Deshalb war und ist die Steuerrückerstattung im Sinne des alten Mineralölsteuergesetzes, des jetzigen Energiesteuergesetzes, nur recht und billig.
Die Rückerstattung von rund 21,5 Cent/Liter bei einer
Energiesteuer von rund 47 Cent/Liter Mineraldiesel ({0}) musste und muss
auch heute von den Landwirten beantragt werden. Mit
dem Antrag wurde und wird dann ein erheblicher Teil der
Steuer rückerstattet. Dies war in der Zeit bis zur rot-grünen Koalition ein gerechtes Verfahren. Leider wurde ab
dem Jahr 2005, aber in der Beschlussfassung bereits Monate davor, hier im Deutschen Bundestag - gegen den
Willen der Union - eine Obergrenze zur Steuerermäßigung eingeführt: Eine Erstattung war nur noch bis zu
10 000 Liter Verbrauch je Kalenderjahr und Betrieb
möglich. Zusätzlich wurde der Selbstbehalt, den es damals schon gab, von 50 Euro auf 350 Euro heraufgesetzt,
mit der Begründung, dies sei ein Anteil an den Verwaltungskosten. Damit werden die Betriebe zusätzlich
drangsaliert!
Wie das in Koalitionskompromissen oft nur möglich
ist, wagt man heute leider nur kleine Schritte zur Verbesserung der Situation. Der eingeschlagene Weg ist zwar
der richtige, aber nur ein Teil des Problems wird gelöst,
indem wir in diesem Gesetz den Bundesländern die Möglichkeit eröffnen, im Rahmen ihrer finanziellen Umschichtungsmöglichkeiten von Förder- oder Haushaltsgeldern eine kleine Abhilfe zu schaffen. Immerhin sind
bundesweit 360 000 Betriebe der Land- und Forstwirtschaft betroffen, die dringend eine Energiesteuervergünstigung benötigen, um in ihrem schwierigen konjunkturellen Umfeld bestehen zu können. Mit dem Gesetzentwurf
wird eine teilweise Lösungsmöglichkeit eröffnet, um Ungerechtigkeiten, die im europäischen Wettbewerb bestehen, auszugleichen. Frankreich, Österreich und viele andere Länder haben so gut wie keine steuerliche Belastung
bei sogenanntem Agrardiesel. Deutschland ist Spitzenreiter bei dieser Besteuerung und dies sehen alle Betriebe zu
Recht als große Ungerechtigkeit und als Verzerrung im
europäischen Wettbewerb an.
Ich persönlich hätte mir gewünscht, wir hätten im Rahmen auch des Konjunkturpaketes II den Mut gehabt, europäische Vergleichswerte bei dieser Besteuerungsart
einzuführen. Leider beraten wir heute nur über den
kleinsten gemeinsamen Nenner, der in der Koalitionsspitze zu erreichen war. Die Koalitionsfraktionen werden
natürlich dem Gesetzentwurf zustimmen, aber ich verhehle nicht meine tiefste Unzufriedenheit über diese
Kleinstlösung eines großen Problems. Wir müssen uns
noch einmal vor Augen führen, dass die steuerliche Belastung für Gasöl, das in landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Fahrzeugen und Arbeitsmaschinen verwendet wird, pro Hektar zwischen 80 und 120 Euro
beträgt. Denn es bleibt bei einem Steuersatz von circa
25,5 Cent/Liter Mineraldiesel, selbst bei Streichung des
Selbstbehaltes! Gerade Großbetriebe oder Gemüsebaubetriebe hätten diese von mir und uns, der Union, gewünschte Steuerminderung genutzt, um die Erstattung als
zusätzliches Kapital wieder voll in den Wirtschaftskreislauf zu investieren. Kurz gesagt, der Ansatz dieses Gesetzes ist richtig, aber nicht genügend!
In einer neuen Regierung muss es Aufgabe sein, unter
Gesichtspunkten des europäischen Wettbewerbs nicht nur
die Mineralölsteuer auf das Niveau anderer europäischer
Länder wie zum Beispiel Frankreich anzugleichen, sondern auch die zusätzliche Belastung aus der Ökosteuer
- ebenfalls von Rot-Grün eingeführt - für die Zukunft zu
berücksichtigen. Das heißt im Klartext: Die Steuer für
Agrardiesel muss weg!
Dieses Gesetz ist, wie schon ausgeführt, nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Ob sich alle Länder
diesem von einem einzigen Bundesland gehegten Wunsch
anschließen werden, erfüllt mich mit großem Zweifel. Es
ist eigentlich hoheitliche Aufgabe des Bundes, Steuern,
die er festsetzt, auch auf Bundesebene gesetzlich zu regeln. Eine Verschiebung hinein in die Länderhaushalte ist
verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Wenn es um Verbrauchsteuern geht, kann es nur eine Zuständigkeit geben, die des Bundes!
So weit mit Verlaub meine sowohl zustimmenden als
auch sehr kritischen Worte namens der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion.
Der vorliegende Gesetzentwurf räumt den Bundesländern das Recht ein, die Land- und Forstwirte vom Selbstbehalt bei der Energiesteuervergütung für Diesel zu entlasten. Dies ist das Ergebnis eines Kompromisses, bei
dem die SPD den Landwirten bereits sehr weit entgegengekommen ist. Der Vorschlag selbst wurde durch den
Bundesrat eingebracht.
Trotz dieses Kompromisses riefen Teile der Union und
selbst der FDP in den vergangenen Tagen nach neuen
Subventionen zulasten des Bundeshaushaltes. Dieser
Forderung tritt die SPD-Bundestagsfraktion entschieden
entgegen. Aus unserer Sicht ist jede steuerliche Förderung des Einsatzes von fossilem Diesel in der Landwirtschaft ökologisch und ökonomisch eine problematische
Subvention. Unsere Strategie lautet „weg vom Öl“. Nur
so können wir längerfristig unsere knappen Ressourcen
schonen und dem Klimawandel entgegenwirken.
Es ist ja durchaus nicht so, als müssten die Landwirte
fossilen Agrardiesel tanken und den Selbstbehalt in Kauf
nehmen. Als wir den Ausstieg aus der steuerlichen Förderung und den Einstieg in die Beimischung von Biokraftstoffen beschlossen, haben wir der Landwirtschaft die
Möglichkeit gelassen, auch weiterhin reine Biokraftstoffe
steuerfrei einzusetzen. Wir bedauern sehr, dass sie bislang nur in geringem Umfang davon Gebrauch macht.
Die Landwirtschaft hätte es hier in der Hand, zum gegenZu Protokoll gegebene Reden
Reinhard Schultz ({0})
seitigen Wohle zusammenzuarbeiten. Der Absatz der
landwirtschaftlichen Ölmühlen könnte gesichert werden,
während die Landwirte von der Steuerbefreiung von Biodiesel und Pflanzenöl profitieren. Stranded Investments
wären so vermeidbar.
Nebenbei bemerkt: Lägen der Union tatsächlich die
Interessen der Landwirtschaft am Herzen, hätte sie sich
dazu durchringen sollen, den Steuersatz Null auf Biokraftstoffe auch für den öffentlichen Nahverkehr zu übernehmen. Dies hätte die Absatzmöglichkeiten landwirtschaftlicher Ölmühlen noch um einiges verbessert.
So bleibt nur das Fazit: Die Forderung der Union,
beim Agrardiesel über den Koalitionskompromiss hinauszugehen, ist ein durchsichtiger Versuch der Anbiederung an die eigene Klientel.
Heute lag in meiner Postmappe ein Schreiben der
Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner. Sie berichtet über
die Umsetzung der letzten Reform der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung und schließt mit dem Satz: „Ich
denke, auch Sie werden bei Ihrer Wahlkreisarbeit bereits
die Erfahrung gemacht haben, dass das LSVMG insgesamt auf eine durchweg positive Resonanz gestoßen ist.“
Ja, das habe ich bemerkt. Wir haben - und die SPD mit
vorneweg - viel Geld in die Hand genommen, um die
Landwirte zu unterstützen.
Die SPD nimmt ihre Verantwortung für die Landwirtschaft ernst. Was wir aber nicht aus den Augen verlieren
dürfen, sind die Rahmenbedingungen. Wir haben uns zum
Beispiel noch unter Rot-Grün eindeutig dafür entschieden, weg von den produktionsbezogenen Prämien hin zu
den Flächenprämien zu gehen. Mittlerweile sagen die
Landwirte, das war richtig. Mittlerweile hat auch die
Kommission diesen Weg als Modell für Europa genommen, gerade weil er derjenige Weg ist, der der zukunftsfähige ist.
Der Bund unterstützt die Landwirtschaft auch darin,
die Energieeffizienz zu steigern. Das halte ich für den
richtigen Weg. Auch wenn der Dieselpreis zurzeit günstig
ist: Energie wird auch in Zukunft ein gewichtiger Kostenfaktor bleiben. Dagegen können wir nicht ansubventionieren. Dem können wir nur damit begegnen, Energie
effizient einzusetzen. Anfang des Jahres hat der Zentralverband des Gartenbaus darauf hingewiesen, dass die
Möglichkeiten zur Energieeffizienz im Gartenbau nicht
ausgereizt sind. Auch in der Landwirtschaft gibt es erhebliche Effizienzpotenziale. Wir unterstützen die Landwirtschaft auch dadurch, dass wir weiterhin keine Steuern auf
in der Landwirtschaft verwendeten Biodiesel verwenden.
Ich halte also auch aus grundsätzlichen Erwägungen
nichts von einer Senkung des Steuersatzes auf den Agrardiesel. Angesichts der Notwendigkeit, den CO2-Ausstoß
zu minimieren, ist eine weitere Subvention von fossilem
Treibstoff nicht zu rechtfertigen. Und - das will ich ganz
deutlich sagen - die Wettbewerbssituation insgesamt
zwingt nicht zur Senkung der Steuersätze. Sie haben ja
recht: Die Belastung auf den Dieselkraftstoff ist im Vergleich in Deutschland hoch. Allein aus dieser Tatsache einen Wettbewerbsnachteil für die deutsche Landwirtschaft
abzuleiten, wird aber der Situation der Landwirtschaft
nicht gerecht. Die Wettbewerbsbedingungen werden von
vielen Faktoren bestimmt. Und etliche dieser Faktoren
sind für die deutsche Landwirtschaft günstig. Leider gibt
es keine Studien, die vergleichbar alle Subventionen und
Hilfen für die Landwirtschaft zusammenfassen und bewerten. Ein Gutachten des Ifo-Instituts vom November
2003 kommt zum Beispiel in der Gesamtbetrachtung der
Steuern auf alle Produktionsmittel zu dem Ergebnis, dass
Deutschland mit den Niederlanden und mit Österreich
gleichauf im Mittelfeld liegt.
Vor kurzem ist ein Vergleich der Produktionskosten in
der Schweineproduktion veröffentlicht worden. In dieser
Untersuchung wird festgestellt, das die „Kosten durch
politische Maßnahmen“ ({0}) bezogen auf die Produktion
von Schweinefleisch in Deutschland deutlich geringer als
in den Niederlanden und auch niedriger als in Dänemark
oder Spanien sind; nur Frankreich und Polen liegen etwas unter dem deutschen Niveau. Die Produzenten in den
Niederlanden und Dänemark sind aber die wichtigsten
Konkurrenten für deutsches Schweinefleisch. Die Autoren der Studie erwarten für die Niederlande eine weitere
Verschlechterung der Position im Wettrennen um die
niedrigsten Kosten, weisen aber darauf hin, dass es andere Vorteile gibt, die dies kompensieren: Wissen, Leistungsfähigkeit, Professionalität.
In diesen Studien wurden sonstige Faktoren, die für die
Wettbewerbssituation von Bedeutung sind - zum Beispiel
die soziale Absicherung oder die Ertragssteuern - nicht
berücksichtigt. Der Vergleich dieser Faktoren ist schwierig, da gerade in der sozialen Absicherung unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Finanzierungen und
unterschiedlichen Leistungen verglichen werden müssen.
Wie soll man denn zum Beispiel bewerten, dass in Österreich die Krankenhäuser von den Kommunen finanziert
werden? Dass es in England ein kostenloses Gesundheitssystem gibt? Klar ist aber, dass der Bund gerade in der
Sozialversicherung die Landwirtschaft kräftig unterstützt.
Mein Kollege Gustav Herzog hat diese Woche nochmals den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages gebeten, Studien zu suchen, die die Frage der
Wettbewerbsfähigkeit auf eine solide Basis stellen. Das
Ergebnis: Es gibt sie nicht! Wenn man also die Wettbewerbssituation vergleichen will, dann kommt man nur mit
einem Blick auf die Marktanteile weiter. Im Situationsbericht 2009 schreibt der Deutsche Bauernverband über die
Marktanteile innerhalb der EU: „Im Zehnjahresvergleich
hat Deutschland seinen Marktanteil bei den meisten Produkten halten oder sogar ausbauen können.“ Zum Außenhandel schreibt der Deutsche Bauernverband für
2007 im Vergleich zu 2006: „Noch kräftiger legten 2007
die Agrarexporte zu. Sie stiegen nach vorläufigen Ergebnissen um gut 13 Prozent auf 46,0 Milliarden Euro“. Angesichts der auch national hohen Unterstützung für die
Landwirtschaft und angesichts dieser Marktentwicklung
kann ich insgesamt also kein Wettbewerbsproblem für die
deutsche Landwirtschaft erkennen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Waltraud Wolff ({1})
Eine Harmonisierung der Energiesteuern in Europa
wäre sinnvoll. Gleichwohl kann es im Interesse des Klimaschutzes nicht darum gehen, die Steuern in Deutschland zu senken. Vielmehr müssten auch die anderen Mitgliedstaaten fossiles Agrardiesel höher besteuern und die
Wettbewerbsfähigkeit erneuerbarer Energien erhöhen.
Dies ist auch der Weg, den die Kommission vorschlagen
wird. Diese EU-weite Harmonisierung ist bisher gescheitert, sie steht aber weiterhin auf der Tagesordnung. Wir
haben zugestimmt - und das setzen wir heute um -, den
Ländern Entlastungsmaßnahmen zu ermöglichen. Hierzu
soll in das Energiesteuergesetz eine Öffnungsklausel aufgenommen werden, wonach die Länder aus Landesmitteln den Selbstbehalt von bis zu 350 Euro vergüten können. Dies tragen wir mit, darüber hinaus sehe ich aber
keinen Bedarf für eine Senkung der Steuersätze.
Mit diesem Gesetzentwurf hat die Große Koalition einmal mehr bewiesen, dass sie kaum noch handlungsfähig
ist. Zur Förderung der land- und forstwirtschaftlichen
Betriebe in diesem schwierigen konjunkturellen Umfeld
wollen Sie den einzelnen Bundesländern das Recht einräumen, die Land- und Forstwirte vom Selbstbehalt bei
der Energiesteuervergütung für Diesel zu entlasten. Das
ist nun wirklich nicht der große Wurf. Das ist ein fauler
Kompromiss, der die Probleme nur verschiebt und neue
schafft.
Die deutschen landwirtschaftlichen Betriebe zahlen
heute die mit Abstand höchsten Agrardieselsteuern in der
Europäischen Union. Daran wird sich durch dieses
Gesetz nichts Wesentliches ändern. Während unsere
Landwirte derzeit durchschnittlich 40 Cent Steuern pro
Liter zahlen müssen, liegt der Steueranteil in Dänemark
bei 3,2 Cent und in Frankreich inzwischen sogar nur bei
0,6 Cent pro Liter. Außerdem zahlen deutsche Bauern
noch die Ökosteuer. Das verteuert den Treibstoff um weitere 200 Millionen Euro pro Jahr. Dieser extreme Steuernachteil der deutschen Landwirte beim Agrardiesel und
bei der Ökosteuer ist schleichendes Gift für die Wettbewerbsfähigkeit der Branche. Und jetzt schaffen Sie durch
diese Regelung noch zusätzliche Wettbewerbsverzerrungen innerhalb Deutschlands.
Ich möchte Ihnen einmal die ursprüngliche Begründung für die Besteuerung von Mineralölen ins Gedächtnis rufen: Mit den Einnahmen aus dieser Steuer sollten
die durch die Benutzung entstehenden Kosten des Straßenbaus und -erhalts abgedeckt werden. Wie wir alle wissen, findet der Ackerbau nach wie vor aber nicht auf der
Straße statt. Da Traktoren die Straßen kaum nutzen, ist es
berechtigt, den Agrardiesel an dieser Stelle weniger hoch
zu besteuern. Es ist jetzt dringend notwendig, die Rahmenbedingungen für die heimische Landwirtschaft insgesamt zu verbessern. Die Landwirte wollen keine runden
Tische mehr, sondern jetzt endlich konkrete Hilfe zur Bewältigung der Krise. Sie müssen endlich alles tun, um
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft zu
sichern und nachhaltig zu stärken.
Deshalb schließen Sie sich endlich den FDP-Forderungen an: Streichen Sie den unsozialen Selbstbehalt in
Höhe von 350 Euro im Energiesteuergesetz. Er belastet
kleine Betriebe überproportional, da für einen Jahresverbrauch von bis rund 1 700 Liter Diesel keine Vergünstigung mehr gewährleistet wird. Die Obergrenze von
10 000 Litern muss weg, da besonders unternehmerische
Betriebe davon stark belastet sind. Die Belastungen der
deutschen Agrarbranche durch die Ökosteuer müssen
deutlich verringert werden. Zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrung ist eine EU-weite Harmonisierung
der Besteuerung von Agrardiesel dringend notwendig.
Das deutsche Steuerrecht bleibt ein aufgeblähtes, chaotisches Spielfeld der jetzigen und aller in Aussicht gestellten Koalitionen. Das gilt auch für die Energiebesteuerung.
Mit dem vorliegenden Antrag soll jetzt an einem der
kleinsten Schräubchen gedreht werden, ohne die Probleme des Gesamtsystems aufzugreifen. Den Ländern soll
die Möglichkeit eingeräumt werden, den sogenannten
Selbstbehalt bei der Rückvergütung der Agrardieselsteuer in Höhe von 350 Euro pro Betrieb und Jahr abzuschaffen. 2005 ist dieser Selbstbehalt erst eingeführt
worden, übrigens zusammen mit einer Kappung der
Agrardieselrückerstattung bei maximal 10 000 Liter eine ungerechtfertigte deutliche Benachteiligung der ostdeutschen Agrarstrukturen. Übrigens haben die ostdeutschen Ministerpräsidenten dem damals zugestimmt.
Jetzt haben wir das Jahr 2009, genauer Wahljahr
2009, und der Selbstbehalt von 350 Euro soll fallen. Die
Länder sollen den Betrieben auf Antrag aus den eigenen
Landeshaushalten diese Summe auszahlen können.
350 Euro pro Betrieb und Jahr sind angesichts der
schwierigen Situation in vielen Agrarbetrieben eher kläglich. Ich verstehe, ehrlich gesagt - auch angesichts des
bürokratischen Aufwandes dieser Auszahlung -, wenn einige Landesagrarminister wie zum Beispiel der aus Brandenburg bereits angekündigt haben, darauf zu verzichten.
Aber der eigentliche Skandal ist der Vorschlag, nur
den Selbstbehalt zurückzunehmen, nicht aber die Kappung der Steuerrückvergütung! Das würde die Ungleichbehandlung der ostdeutschen Agrarbetriebe weiter verschärfen und das ist für uns Linke absolut inakzeptabel.
Es ist auch der schwierigen Situation in den ländlichen
Räumen Ostdeutschlands nicht angemessen. Mühsam haben CDU und CSU der SPD dieses Taschengeld für die
süd- und südwestdeutsche Wählerklientel abgerungen.
Aber es ist ein fauler Kompromiss, wenn nicht auch die
Kappungsgrenze fällt.
Aus Sicht der Linken gibt es viele dringende Gründe
für eine umfassende Reform der Agrarsteuern mit dem
Ziel eines EU-weit harmonisierten, gerechten Systems.
Dennoch erkennen wir an, dass in der aktuellen Situation
vielen Not leidenden Betrieben kurzfristig mit einer umfassenden Rückvergütung der gesamten Agrardieselsteuer Liquidität verschafft werden kann, die dringend
gebraucht wird. Gerade die dramatisch sinkenden Erzeugerpreise rechtfertigen eine solche Soforthilfe. Denn
betrachtet man den Agrardiesel isoliert, sind real existierende Unterschiede zu unseren europäischen Nachbarn
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht zu übersehen. In Frankreich werden so gut wie
keine Steuern auf Agrardiesel gezahlt, während die Betriebe in Deutschland mit 47 Cent pro Liter Diesel rechnen müssen. Dieser Unterschied macht bei Agrargenossenschaften zum Beispiel schnell einen vollwertigen
Arbeitsplatz aus! Der Raiffeisenverband hat es berechnet: Über 55 000 Euro bezahlt eine durchschnittliche
große ostdeutsche Agrargenossenschaft zur Bewirtschaftung von 1 400 Hektar als Dieselsteuer. Angesichts offener innereuropäischer Grenzen brauchen wir allerdings
mittelfristig eine Harmonisierung der Besteuerung sämtlicher Produktionsmittel und nicht nur eine Anpassung
beim Agrardiesel.
Auch aus umweltpolitischen Gründen kann die Agrardieselrückerstattung aus unserer Sicht nur eine kurzfristig angelegte Übergangslösung sein. Langfristig muss die
Biokraftstoffstrategie aus Sicht der Linken korrigiert und
endlich auf den richtigen Weg gebracht werden. Das heißt
zum Beispiel, die Umstellung der Landmaschinenflotte
auf regenerative Kraftstoffe zu fördern. Bisherige Anreize
sind offensichtlich ungeeignet, einen nennenswerten Eigenverbrauch an Biotreibstoffen in der Landwirtschaft zu
erreichen. Hier muss endlich gehandelt werden. Neben
direkten, finanziellen Anreizen brauchen die Betriebe offensichtlich auch technische und wissenschaftliche
Unterstützung. Die Landwirtschaft kann damit einen
deutlich höheren Beitrag zur CO2-Senkung leisten und
gleichzeitig über regional erzeugte und verwendete Biodiesel-, Pflanzenöl- oder Biogas-Kraftstoffe auch Arbeitsplätze schaffen oder erhalten. Das würde mehr zur
Lösung der Probleme beitragen als der hier vorliegende
Vorschlag.
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Die anhaltenden
agrarpolitischen Kapriolen des Landwirtschaftsministeriums und der Union in den vergangenen Monaten haben
uns das mehr als deutlich gemacht. Aber was bleibt CDU
und CSU auch anderes übrig? Schattenkanzler Seehofer
zittert um den Wiedereinzug seiner CSU in das Europaparlament und Kollege Bleser, der uns hier in den vergangenen Jahren mit seinen gebetsmühlenartigen Beschwörungen weismachen wollte, dass die positive Entwicklung
des landwirtschaftlichen Konjunkturbarometers Ergebnis seiner Politik wäre, hat nun nichts mehr in der Hand,
was seinen Verbleib in der Agrarpolitik noch rechtfertigen würde.
Da trifft es sich gut, dass der Deutsche Bauernverband
jede Woche eine neue Sau mit finanziellen Wünschen
durchs Dorf treibt. Aber Politik auf Geldversprechen zu
reduzieren, sei es bei der Milch, sei es bei den Energiekosten, ohne auch nur ein einziges Problem unserer
Bäuerinnen und Bauern bei den Ursachen anzupacken,
ist wohlfeil und passt eher zum Populismus eines
Lafontaine als in die von Ihnen so gerne beschworene
Mitte der Gesellschaft.
Auch die Landwirtschaft wird sich darauf einstellen
müssen, dass Erdöl in den nächsten Jahrzehnten immer
knapper und teurer wird. Will sie die Zukunft meistern,
muss sie energieeffizienter und klimafreundlicher werden. Niedrigere Agrardieselpreise gehen daher energieund klimapolitisch in die völlig falsche Richtung. Wer etwas für die Zukunftsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft tun will, der fördert den Einstieg in energieeffiziente Technologien! Wenn die Landwirte zukünftig mit
sparsamen Traktoren fahren können, dann ist ihnen langfristig wirklich geholfen. Dafür sollte die Bundesregierung gerade in Zeiten der Konjunkturkrise Geld bereitstellen! Doch damit ist es nicht weit her. Staatssekretär
Müller durfte zwar beim II. Klimaforum des Bauernverbandes verkünden, sein Haus wolle eine Verringerung
des Energieeinsatzes in der Landwirtschaft in den kommenden zehn Jahren um 20 Prozent erreichen. In der Praxis setzt man dann aber doch lieber auf eine Stimulation
des Energieverbrauchs. Oder in Zahlen ausgedrückt: Die
Bundesregierung fördert die Entwicklung energieeffizienter Technologie im Agrarbereich mit gerade mal
7 Millionen Euro, gibt aber gleichzeitig für die Abwrackprämie 5 Milliarden Euro aus. So viel zur Wertschätzung
unserer Landwirtschaft seitens der Großen Koalition.
Der Bauernverband ist nicht bereit, die Diskussion um
mehr Energieeffizienz und Klimaschutz in der Landwirtschaft ernsthaft zu führen. Er macht es sich einfach und
fordert mehr Geld. Und die Union hat nichts Besseres zu
tun, als dem Bauernverband - zumindest verbal - artig zu
folgen. Denn schaut man sich die von Ihnen eingebrachten Änderungen im Energiesteuergesetz genauer an, wird
schnell klar, dass sie den Schwarzen Peter - oder sollte
ich besser Horst sagen - nur an die Länder abgeben. Die
wollen den aber bis auf das verängstigte Bayern gar nicht
haben und wehren sich vehement dagegen, nun selber als
unwillige Zahlmeister in den Fokus des Bauernverbandes
zu geraten.
Was Sie hier vorgelegt haben, ist nichts weiter als eine
Lex bajuwarensis, die Sie noch schnell vor der Europawahl durchs Parlament peitschen wollen in der Hoffnung,
dass der liebe Horst dann endlich Ruhe gibt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12851 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den
Zusatzpunkt 3 auf:
11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Dyckmans, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über die Europäische Überwachungsanordnung in Ermittlungsverfahren innerhalb
der Europäischen Union ({0})
- Drucksache 16/12733 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck ({2}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Überwachungsanordnung rechtsstaatlich absichern - Stellungnahme gemäß
Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes
- Drucksache 16/12856 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Siegfried
Kauder, CDU/CSU, Dr. Carl-Christian Dressel, SPD,
Mechthild Dyckmans, FDP, Sevim Dağdelen, Die Linke,
Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
Die Bedenken, die die Fraktion der FDP zum Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über die
Europäische Überwachungsanordnung in Ermittlungsverfahren innerhalb der Europäischen Union in der Sache anmeldet, haben etwas für sich. Soweit Bündnis 90/
Die Grünen darüber hinaus das Bestimmtheitsgebot des
Art. 103 Abs. 3 GG ins Feld führen, wird man darüber in
den Ausschüssen diskutieren müssen.
Allerdings eignet sich gerade die Europäische Überwachungsanordnung eher nicht für eine Kritik an europäischer Nomenklatur zu Deliktsgruppen, wie sie sich in
Ziffer II. 1 des FDP-Antrages an Art. 14 Abs. 1 des Vorschlages festmacht. Zwar weisen die dort aufgeführten
Begriffe Terrorismus, Cyberkriminalität, Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit sowie Sabotage Unschärfen auf,
die aus Sicht der Bundesregierung Anlass geben könnten,
gemäß Art. 14 Abs. 4 des Vorschlages einen Vorbehalt bezüglich der gesamten Deliktsliste, zumindest aber bezüglich einiger Deliktstypen zu erklären. Man wird aber auch
zu Ende denken müssen, was die Anträge der Fraktion
der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen letztendlich bewirken würden. Den Anträgen käme für das
Vorgehen der Bundesregierung bezüglich des Vorschlages der Europäischen Union nämlich erhebliches Gewicht zu. Der Deutsche Bundestag hat zwar nach Art. 23
Abs. 3 GG nur begrenzte Möglichkeiten, auf die Rechtsetzung der Europäischen Union Einfluss zu nehmen. Das
Grundgesetz eröffnet dem Deutschen Bundestag bei europäischen Rechtsetzungsakten nur die Möglichkeit, sich
gegenüber der Bundesregierung zu äußern. Diese hat
eine solche Äußerung - ohne allerdings daran gebunden
zu sein - zu berücksichtigen. Das heißt, dass die Bundesregierung sich mit einer Stellungnahme des Deutschen
Bundestages auseinanderzusetzen hat, also die vorgetragenen Argumente des Deutschen Bundestages zu bewerten hat. Vor dem Hintergrund eines Parlamentvorbehalts
in anderen EU-Staaten hat der Deutsche Bundestag aber
mit der Bundesregierung zu Art. 23 Abs. 2 GG eine Vereinbarung getroffen, die am 28. September 2006 wirksam
wurde. Danach hat die Bundesregierung bei europäischen Rechtsetzungsakten einen Parlamentsvorbehalt zu
erklären, wenn der Deutsche Bundestag dies in einer Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 Satz 1 GG fordert. Dies
stärkt den Einfluss, aber auch die Verantwortung des
Deutschen Bundestages bei europäischen Rechtsetzungsakten.
Würde die Bundesregierung den von der FDP-Bundestagsfraktion und Bündnis 90/Die Grünen geforderten
Parlamentsvorbehalt, wie ihn Art. 12 Abs. 4 des Vorschlags zulässt, erklären, hätte dies fatale Folgen für im
europäischen Ausland in Untersuchungshaft genommene
deutsche Staatsangehörige. Diese wären bei sämtlichen
Delikten der Deliktsliste aus Art. 14 Abs. 1 des Vorschlages von den Rechtswohltaten einer Haftverschonung bei
Festnahme im EU-Ausland ausgeschlossen. Statt bei entsprechenden Überwachungsauflagen in die Heimat zurückreisen zu können, müssten sich deutsche Untersuchungsgefangene mit Haftfortdauer im Ausland abfinden.
Deshalb wird dem Antrag der FDP-Fraktion zumindest in
der vorliegenden Fassung nicht zugestimmt werden können. Eine Beschränkung des Antrages auf Deliktsgruppen, die mit unseren deutschen Strafvorschriften nicht
harmonisieren, wäre sinnvoll.
Soweit der FDP-Antrag unter Ziffer II.2 einen Vorbehalt der Bundesregierung nach Art. 21 Abs. 3 des Vorschlages verfolgt, besteht derzeit kein Handlungsbedarf.
Nach Art. 21 Abs. 3 des Vorschlages könnte Deutschland
erklären, dass bei einem Verstoß gegen eine konkrete
Überwachungsauflage bei außer Vollzug gesetztem Haftbefehl die Eingriffsschwelle des Rahmenbeschlusses zum
Europäischen Haftbefehl keine Anwendung findet. Darüber kann aber noch zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich
auch noch im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens, entschieden werden. Gleiches gilt für den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
Es muss den Ausschussberatungen vorbehalten bleiben, ob und in welcher Weise bei Untersuchungshaft im
Ausland deutschen Untersuchungsgefangenen trotz nationaler Bedenken gegen den EU-Vorstoß die damit verbundenen Rechtsvorteile erhalten werden können.
Hintergrund dieses Tagesordnungspunktes ist die Einigung des Justiz- und Innenministerrates über die Europäische Überwachungsanordnung im Ermittlungsverfahren
innerhalb der EU.
Der vorliegende FDP-Antrag sieht vor, die Bundesregierung dazu aufzufordern, an der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit festzuhalten. Dies wird mit der
Wahrung des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes begründet. Darüber hinaus soll die Erklärung
nach Art. 21 Abs. 3 des Rahmenbeschlussvorschlages über
die EU-Überwachungsanordnung im Ermittlungsverfahren abgegeben werden. Damit soll die Übergabe Beschuldigter vom Erreichen einer im EU-Haftbefehl vorgesehenen „Erheblichkeitsschwelle“ abhängig gemacht
werden. Der Grünen-Antrag zielt in dieselbe Richtung.
Zweifellos werden wir die inhaltlichen Zielsetzungen
der beiden Anträge in den kommenden Beratungen sehr
genau zu prüfen haben. Gestatten Sie mir aber schon jetzt
einige Anmerkungen, erstens zu der Aufforderung an die
Bundesregierung, von der Erklärungsmöglichkeit nach
Art. 14 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses Gebrauch zu machen: Dieser Forderung kann ich mich nicht anschließen.
Ausschlaggebend ist hierfür vor allem der Gedanke der
Fürsorge für möglicherweise betroffene deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Ich schließe mich in diesem Punkt der Argumentation der Bundesregierung an,
die in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDPFraktion vom 18. Dezember 2008 in der Bundestagsdrucksache 16/11456 nachzulesen ist. Dort heißt es:
„({0}) Es besteht keine Veranlassung, dass die Bundesrepublik Deutschland von der Erklärungsmöglichkeit
nach Artikel 12 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses gebrauch macht. Der vorliegende Rahmenbeschluss dient
den Interessen des Beschuldigten. Es wäre daher nicht
zielführend, die Anerkennung der auferlegten Maßnahmen mangels beiderseitiger Strafbarkeit zu verweigern,
mit dem Ergebnis, dass ein möglicherweise betroffener
deutscher Staatsbürger im EU-Ausland in Untersuchungshaft genommen bzw. diese nicht gegen Auflagen
außer Vollzug gesetzt würde. Die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit ist zudem auch nach deutschem Recht
kein allgemein gültiges Prinzip bei der sonstigen Rechtshilfe. ({1})“ Kurz zusammengefasst: Jedes Ausscheren
gäbe den deutschen Staatsangehörigen Steine statt Brot!
Über die Frage, ob Deutschland von der nach Art. 21
Abs. 3 des vorliegenden Rahmenbeschlusses bestehenden
Möglichkeit Gebrauch machen sollte oder nicht, braucht
zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht entschieden zu werden.
Dies liegt darin begründet, dass der Rahmenbeschluss im
Fall dieser Erklärung vorsieht, dass sie bei dessen Umsetzung oder zu einem späteren Zeitpunkt abgegeben werden kann. Es wäre daher doch folgerichtig, über diese
Frage im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zu entscheiden. Zweifellos kann es bei dieser Entscheidung durchaus
sinnvoll sein, zu verhindern, dass EU-Haftbefehle bei
Verstößen gegen Auflagen - deren Überwachung auf der
Grundlage des vorliegenden Rahmenbeschlusses erfolgt ausgestellt werden, wenn die Tat im Austellungsstaat mit
weniger als zwölf Monaten bedroht ist.
Jedoch: Der Sinn des in Art. 21 Abs. 2 des vorliegenden Rahmenbeschlusses vorgesehenen Verzichts auf diese
Eingriffsschwelle liegt doch eben darin begründet, dass
gerade in „Bagatellfällen“ von der Überwachungsanordnung Gebrauch gemacht wird. Und dies aus gutem
Grund. Denn der Hintergrund der Regelung ist schließlich die Befürchtung, die Behörden des ausstellenden
Staates könnten auf die Überwachungsanordnung verzichten und in Bagatellfällen, die die Eingriffsschwelle
des Art. 2 Abs. 1 RB EuHB nicht erreichen, den Beschuldigten in Untersuchungshaft nehmen, um dadurch nicht
Gefahr zu laufen, dass sie die Person nach Ausreise in
den Vollstreckungsstaat und trotz Verstoßes gegen die
Auflagen nicht wieder zurück überstellt bekommen, und
zwar deshalb, weil sie wegen Nicht-Erreichens der Eingriffsschwelle des Art. 2 Abs. 1 RB EuHB keinen EUHaftbefehl ausstellen können.
Wir werden - allein schon aus diesen Gründen - die
beiden eingebrachten Anträge in den weiteren Beratungen sehr genau zu prüfen haben.
Mit unserem heutigen Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, zwei Erklärungen abzugeben, die der Rahmenbeschluss über die Europäische Überwachungsanordnung ermöglicht.
Worum geht es in der Sache? Mit diesem Rahmenbeschluss sollen Regeln festgelegt werden, nach denen ein
Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat als Alternative zur Untersuchungshaft erlassene Entscheidung
über Überwachungsmaßnahmen anerkennt, überwacht
und die betreffende Person bei Verstößen gegen diese
Maßnahmen dem Anordnungsstaat übergibt. Das heißt,
unsere Ermittlungsbehörden sollen zum Beispiel eine
Meldeauflage eines europäischen Mitgliedstaates überwachen, die einen Beschuldigten aus Deutschland betrifft. Und dafür verzichtet dieser Mitgliedstaat darauf,
den Beschuldigten während des Ermittlungsverfahrens in
Untersuchungshaft zu nehmen.
Hintergrund für diesen Rahmenbeschluss ist, dass
nach Ansicht der Europäischen Kommission europäische
Mitgliedstaaten Untersuchungshaft schon dann verhängen, wenn der Beschuldigte seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat. Ob dies tatsächlich so gehandhabt wird und wie oft dies vorkommt - dazu liegen
allerdings keine gesicherten Erkenntnisse vor.
Dennoch kann man zunächst festhalten, dass es grundsätzlich zu begrüßen ist, wenn statt der Untersuchungshaft im fremden Mitgliedstaat eine Überwachungsmaßnahme angeordnet wird, die im Heimatstaat vollzogen
wird. Voraussetzung für diesen Vollzug im Heimatstaat ist
die Anerkennung der Entscheidung des anderen Mitgliedstaates. Für die Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen - auch im Ermittlungsverfahren - gilt zunächst
allgemein der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit.
Was heißt das? Ein Mitgliedstaat soll eine strafrechtliche
Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates nur anerkennen müssen, wenn die abgeurteilte oder wie im vorliegenden Fall die zu ermittelnde Tat auch nach seiner eigenen Rechtsordnung strafbar ist. Das heißt, Deutschland
kann nach diesem Grundsatz die Anerkennung der Entscheidung über die Überwachungsmaßnahme davon
abhängig machen, dass die der Entscheidung zugrunde
liegende Handlung - also die dem Beschuldigten vorgeworfene Tat - auch nach deutschem Strafrecht strafbar ist
({0}).
Dieser Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit wird
jedoch durchbrochen beziehungsweise gilt nicht, sofern
es um eine der in einer Liste von insgesamt 32 Deliktsgruppen aufgeführte Straftat geht. In diesem Fall soll die
Anerkennung ohne eine Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit erfolgen. Hintergrund dieser Regelung, die sich
bereits in anderen Rahmenbeschlüssen befindet, ist wohl
die Vorstellung, dass die in der Liste enthaltenen Delikte
in allen Mitgliedstaaten strafbar sein sollten und sich daher eine Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit erübrigt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auf der Liste stehen aber so unterschiedliche Delikte
wie zum Beispiel vorsätzliche Tötung und Cyberkriminalität. Bei „vorsätzlicher Tötung“ ist uns allen klar, was
damit gemeint ist. Aber „Cyberkriminalität“ bedürfte
dann doch einer genaueren Definition. Hierüber sind wir
uns auch fraktionsübergreifend einig. Zum Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung hat der
Bundestag schon in der letzten Legislaturperiode eine
Präzisierung verlangt, um den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes zu genügen. Auch in der Folgezeit hat der Rechtsausschuss wiederholt die Präzisierung
angemahnt.
Leider sind wir einer solchen Präzisierung bisher keinen Schritt näher gekommen. Und die Liste mit den unbestimmten Deliktsgruppen taucht in jedem neuen Instrument zur strafrechtlichen Zusammenarbeit unverändert
wieder auf. Da aber nicht nur der Deutsche Bundestag,
sondern auch andere Mitgliedstaaten Probleme mit diesen Listendelikten haben, sehen die Rahmenbeschlüsse
inzwischen die Möglichkeit vor, eine Erklärung abzugehen, um - auch bei Einschlägigkeit der Listendelikte - an
der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit festhalten zu
können. Auch Art. 14 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses über
die Europäische Überwachungsanordnung bietet diese
Möglichkeit. Diese Erklärung muss bei Annahme des
Rahmenbeschlusses abgegeben werden.
Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die Abgabe einer solchen Erklärung der Wahrung des Bestimmtheitsgrundsatzes dient. Dennoch wurden bei den Beratungen
im Unterausschuss Europarecht des Rechtsausschusses
Bedenken laut, dass die im Rahmenbeschluss vorgesehenen Maßnahmen ja nur zum Vorteil deutscher Bürgerinnen und Bürger seien. Schließlich gehe es ja darum, Untersuchungshaft in einem anderen Mitgliedstaat zu
vermeiden.
Aber alles, war wir hier im Bundestag beschließen,
sollte doch zum Vorteil unserer Bürger sein. Deswegen
können wir allein mit diesem Argument doch nicht die Außerachtlassung verfassungsrechtlicher Grundsätze - wie
vorliegend des Bestimmtheitsgrundsatzes - begründen.
Schließlich dient auch der Bestimmtheitsgrundsatz den
Interessen des Beschuldigten. Nur seine Einhaltung sichert dem Beschuldigten die Voraussehbarkeit der
Rechtsordnung.
Der Rahmenbeschluss sieht in Art. 15 Gründe vor, bei
deren Vorliegen die Anerkennung der Überwachungsmaßnahme abgelehnt werden kann. Das gilt zum Beispiel
für den Fall, dass die Anerkennung dem Grundsatz „ne
bis in idem“ - also dem Verbot der Doppelbestrafung zuwiderlaufen würde, und für den Fall, dass die Strafverfolgung nach dem Recht des Vollstreckungs-, also des
Heimatstaates bereits verjährt wäre. Auch bei einer Ablehnung der Überwachungsmaßnahme aus diesen Gründen kommt dem Beschuldigten nicht der „Vorteil“ zugute,
statt der Untersuchungshaft im fremden Mitgliedstaat der
Überwachung im Heimatstaat zu unterliegen. Den Grund
für die Ablehnungsmöglichkeit muss man doch wohl darin sehen, dass ein Mitgliedstaat nicht gegen elementare
Grundsätze seiner Rechtsordnung soll verstoßen müssen.
Nichts anderes kann aber im Hinblick auf die Listendelikte gelten, die dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz zuwiderlaufen.
Zum Schluss möchte ich noch darauf verweisen, dass
es sich bei den anzuerkennenden Überwachungsmaßnahmen um einschneidende Grundrechtseingriffe handeln
kann. Die Verpflichtung, einen bestimmten Ort nicht zu
verlassen - noch dazu, wenn sie unbefristet ist -, schränkt
die Freiheit doch erheblich ein; von der Verpflichtung,
sich einer Heilbehandlung oder Entziehungskur zu unterziehen, ganz zu schweigen.
Darüber hinaus soll mit dem Rahmenbeschluss sichergestellt werden, dass der Beschuldigte zur Verhandlung
auch wirklich erscheint. Der Rahmenbeschluss ist ein Instrument der gegenseitigen Rechtshilfe. Ziel ist es, das
Strafverfahren ordnungsgemäß durchführen zu können.
Deswegen ist auch vorgesehen, dass der Beschuldigte
- insbesondere bei Verstößen gegen die ausländische
Entscheidung - an den Ermittlungsstaat ausgeliefert
wird. Das gilt selbst dann, wenn die erwartete Strafe so
niedrig ist, dass kein Europäischer Haftbefehl ausgestellt
werden könnte.
Bei der gegenseitigen Anerkennung von Freiheits- und
Bewährungsstrafen haben wir die Bundesregierung im
Rechtsausschuss gemeinsam aufgefordert, von der auch
in diesen beiden Rahmenbeschlüssen vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, sich die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit auch bei den Listendelikten vorzubehalten und die Vollstreckung der Strafe ablehnen zu
können. Ist es nicht auch in diesen Fällen für den Beschuldigten besser, in Deutschland in Haft zu sitzen als
bei 40 Grad zum Beispiel in Griechenland? Haben wir
mit unserer Aufforderung an die Bundesregierung einen
Fehler gemacht?
Nein, wir haben eine Lösung gefunden, Rechtsstaatlichkeit und Interessen des Verurteilten in Einklang zu
bringen. Wir haben die Tür geöffnet, dass unsere Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall prüfen können, was
den Interessen des Beschuldigten am meisten entgegenkommt. Denn die Ablehnung ist nicht verpflichtend. Sie
steht vielmehr im Ermessen der Behörden. Lassen Sie uns
die Tür zur Einzelfallprüfung auch bei der Überwachungsanordnung öffnen.
Die uns vorliegenden Anträge der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen greifen den Vorschlag des Rahmenbeschlusses des Rates über die Europäische Überwachungsanordnung in Ermittlungsverfahren auf. Ziel soll
es sein, die Bundesregierung über eine Stellungnahme
des Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 GG zu einem Handeln zu bewegen, das von den Ausnahmemöglichkeiten
des Art. 14 Abs. 4 des Regelungsvorschlags Gebrauch
macht.
Zur grundsätzlichen Positionsbestimmung meiner
Fraktion zu dem Vorhaben des Rahmenbeschlusses
möchte ich sagen, dass wir jede Initiative unterstützen,
die dazu beitragen kann, Untersuchungshaft möglichst zu
vermeiden. Denn nach wie vor wird viel zu schnell, zu oft
und für zu lange Untersuchungshaft angeordnet. Die daZu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
rauf gerichtete Intention dieses Rahmenbeschlusses des
Rates über die Europäische Überwachungsanordnung in
Ermittlungsverfahren können wir entsprechend gutheißen. Gutheißen kann die Linke auch die Anträge der beiden anderen Oppositionsfraktionen, allerdings nur, insoweit der Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen
Strafbarkeit unter dem Gesichtspunkt der rechtsstaatlichen Bestimmtheit der Listendelikte problematisiert wird.
Denn welche Strafvorschriften mit welchen je nach Mitgliedstaat unterschiedlichen Tatbestandsvoraussetzungen unter so schwammige Begriffe wie „Terrorismus“,
„Cyberkriminalität“ und „Sabotage“ fallen, ist vollkommen offen.
Die Linke lehnt jedoch einen Verzicht auf die beiderseitige Prüfung der Strafbarkeit aus weiteren grundsätzlichen Erwägungen ab. Eine letztlich unklar bleibende
Aufforderung zur präzisierenden Nachbesserung des Deliktskataloges, wie von der FDP vorgeschlagen, würde
nämlich den rechtsstaatlichen Fundamentalprinzipien
der Gesetzlichkeit und des Vertrauensschutzes nicht genügen. Diese werden aktuell allein durch den Grundsatz
der beiderseitigen Strafbarkeit in verfassungsrechtlich
und speziell grundrechtlich ausreichender Weise gewährleistet. Und sie lassen sich nicht mittels Auflistung mehr
oder weniger unscharfer Begriffe sicherstellen - zumal
dem Rat mit Art. 14 Abs. 2 des Vorschlages noch die Möglichkeit an die Hand gegeben werden soll, die Liste auszuweiten. An dieser Stelle muss das Schlagwort von der
Legitimationskrise fallen. Im grundrechtsintensiven Bereich des Strafrechts und der eingriffsintensiven Strafverfolgung sind keine Zweifel an den Maßnahmen der EU
hinnehmbar. Es sind also noch weitergehende systematische Veränderungen auch hinsichtlich der eigendynamischen Fortentwicklung des Instrumentes an der Vorlage
des Rahmenbeschlusses erforderlich.
Das mit dem Katalog verknüpfte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung führt zumindest dann, wenn die beiderseitige Strafbarkeit nicht feststeht, statt zu mehr Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger der EU zu mehr
Beschränkungen in deren Freiheitssphäre. Für die Linke
müsste eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 GG über
die Implementation der Erheblichkeitsschwelle von mindestens zwölf Monaten im Sinne des Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den europäischen Haftbefehl im
Rahmen des Art. 21 der Vorlage und die unspezifische
Aufforderung zur Umsetzung des verfassungsrechtlichen
Bestimmtheitsgrundsatzes im Rahmen des Art. 14 der
Vorlage, also über den Antrag der FDP hinausgehend,
noch die klare Forderung enthalten, dass die Bundesregierung eine Erklärung abgibt, nicht auf die Prüfung der
beiderseitigen Strafbarkeit hinsichtlich der Deliktsgruppen „Terrorismus“, „Cyberkriminalität“, „Korruption“,
„Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, „Sabotage“,
„Erpressung und Schutzgelderpressung“ sowie „Betrug“ aus verfassungsrechtlichen Gründen zu verzichten.
Zudem muss die Bundesregierung weitere Ausnahmen
vom Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit aus verfassungsrechtlichen Gründen prüfen - wie
auch der Antrag der Grünen formuliert.
Ungeachtet all dessen ist der Rahmenbeschluss aber,
soweit er überhaupt einen Verzicht auf die Prüfung der
beiderseitigen Strafbarkeit vorsieht, generell abzulehnen.
Die Europäische Union will einen Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts schaffen. Die Rechtsetzung
der EU in diesem Bereich zielt darauf ab, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Justizbehörden zu erleichtern. Soweit dies der Sicherheit der Unionsbürger
dient, wird es von uns Grünen ausdrücklich begrüßt,
wenn dabei nicht Grundlagen der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auf der Strecke bleiben.
Der Entwurf für eine Europäische Überwachungsanordnung hat zum Ziel, dass Entscheidungen der Justizbehörden eines Mitgliedstaates in einem anderen Mitgliedstaat der EU anerkannt und vollstreckt werden - und
zwar grundsätzlich ohne dass der zugrunde liegende
Sachverhalt erneut juristisch geprüft wird. Konkret geht
es um Überwachungsanordnungen in Strafverfahren über
die Binnengrenzen der EU hinweg.
Überwachungsanordnungen sind Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass eine Person vor Gericht erscheint
und den jeweiligen Justizbehörden zur Verfügung steht.
Dabei sollen nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung die Anordnungen vollstreckt werden können,
ohne dass die Justizbehörden des Staates, in dem sich der
Betroffene aufhält, nochmals prüfen, ob die Vorwürfe zutreffen und unter Strafe stehen. Es genügt, dass der Sachverhalt von den Justizbehörden des Anordnungsstaates
unter eine der im Entwurf des Rahmenbeschlusses genannten 32 Deliktsgruppen eingeordnet wird. Zu diesen
Deliktsgruppen zählen auch Terrorismus, Cyberkriminalität, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Sabotage, Erpressung und Schutzgelderpressung sowie Betrug. Diese
Tatbestände sind sehr weit und schwammig gefasst; teilweise existieren sie im deutschen Strafrecht gar nicht. Die
Einordnung unter eine der Deliktsgruppen erfolgt mittels
eines Formulars, in dem der Sachverhalt kurz beschrieben und rechtlich gewürdigt wird. Außerdem wird die
betreffende Deliktsgruppe angekreuzt. Es ist also nicht
ausgeschlossen, dass sich eine Person einer Überwachungsmaßnahme beugen muss wegen eines Sachverhaltes, der nach dem Recht seines Heimatstaates nicht strafbar ist. Wir halten dies für rechtsstaatlich bedenklich. Die
Regelungen widersprechen dem Bestimmtheitsgebot der
Verfassung, das für jeden Grundrechtseingriff im Rahmen
eines Strafverfahrens gelten muss.
Aus diesem Grunde haben wir bereits in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam mit unserem damaligen Koalitionspartner SPD im Rahmen der Europäischen
Beweisanordnung darauf gedrängt, dass diese Deliktsgruppen präziser gefasst werden müssen. Auch die damalige Opposition teilte diese Auffassung. Auch wenn in den
Rahmenbeschluss zur Beweisanordnung ein spezifisch
auf die deutschen Bedenken zugeschnittener Vorbehalt
aufgenommen wurde: Die Präzisierung der Deliktsgruppen ist bislang auf europäischer Ebene noch nicht erfolgt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Was sich allerdings geändert hat: Die EU ist größer
geworden. Und es waren gerade einige der zuletzt beigetretenen Mitgliedstaaten, die im Ministerrat verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Verzicht auf die Prüfung
der beiderseitigen Strafbarkeit angemeldet haben. Sie
konnten in dem aktuellen Entwurf des Rahmenbeschlusses eine Regelung erwirken, nach der Mitgliedstaaten,
die verfassungsrechtliche Bedenken hegen, bei Annahme
des Rahmenbeschlusses erklären können, bei einigen
oder allen Deliktsgruppen an der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit festzuhalten.
Genau darauf zielt unser Antrag: Die Bundesregierung soll eine solche Erklärung zumindest für diejenigen
Deliktsgruppen abgeben, für die bereits beim Rahmenbeschluss zur Europäischen Beweisanordnung eine Sonderregelung gefunden wurde. Bei allen anderen Deliktsgruppen sollte sie prüfen, ob die rechtlichen und tatsächlichen
Unterschiede der Rechtsordnungen der verschiedenen
Mitgliedstaaten ebenfalls eine entsprechende Erklärung
notwendig machen. Eine solche Erklärung wird das Gebäude der justiziellen Zusammenarbeit innerhalb der EU
nicht zum Einsturz bringen. Auch wenn es bei einigen
oder mehreren Deliktsgruppen bei einer Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit verbleiben sollte, wird der Rahmenbeschluss, sobald er in allen Mitgliedstaaten in ihr
jeweiliges nationales Recht umgesetzt worden ist, zu erheblichen Verfahrenserleichterungen führen und klare
Rahmenbedingungen für Überwachungsmaßnahmen definieren.
Die SPD argumentiert zu unserer Verwunderung, dass
der Rahmenbeschluss ausschließlich dazu diene, eine
Untersuchungshaft zu vermeiden. Wer in einem anderen
Mitgliedstaat in Untersuchungshaft sitze, dem könne es
nur recht sein, wenn er unter Auflagen in seinen Heimatstaat entlassen werde. Nichts anderes werde mit der
Überwachungsanordnung bezweckt. Diese Argumentation kann nicht überzeugen. Denn der Rahmenbeschluss
setzt an keiner Stelle voraus, dass der Betroffene tatsächlich in Untersuchungshaft sitzt. Er setzt nicht einmal
voraus, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft oder den Erlass eines
Europäischen Haftbefehls vorliegen müssen. Überwachungsanordnungen können auch dann erlassen werden,
wenn der Betroffene nicht dem direkten Zugriff durch den
Anordnungsstaat ausgesetzt ist. Diese Argumentation hat
übrigens auch den Koalitionspartner der SPD nicht überzeugt. Auch wenn wir heute davon vermutlich nichts mehr
hören werden: Wir haben deutliche Signale erhalten, dass
die CDU/CSU bereit gewesen wäre, unseren Antrag mitzutragen. Daher halten wir daran fest: Solange eine Präzisierung der Deliktsgruppen nicht erfolgt ist, muss es bei
dem Vorbehalt der beiderseitigen Strafbarkeit nach nationalem Recht bleiben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12733 und 16/12856 ({0}) an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Barth,
Ulrike Flach, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Solide Grundlage für Hochschulpakt - Beitrag zur systematischen Verbesserung der
Hochschullehre
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Volker Schneider ({2}),
Dr. Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulpakt II für mehr Qualität, soziale
Öffnung und zur Ausfinanzierung des deutschen Hochschulsystems vereinbaren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Krista Sager, Priska Hinz ({3}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Hochschulpakt in gesamtstaatlicher Koope-
ration zu einem wirksamen Pakt für mehr
und bessere Studienplätze entwickeln
- Drucksachen 16/10327, 16/11178, 16/10881,
16/12828 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Cornelia Hirsch
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Priska Hinz ({5}), Krista Sager, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Mehr Qualität für die Hochschulen
- Drucksachen 16/649, 16/12833 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Cornelia Hirsch
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({6})
zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Krista Sager, Priska Hinz ({7}), weiterer Ab23932
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gute Lehre an allen Hochschulen gewährleisten, herausragende Hochschullehre prämieren
- Drucksachen 16/8211, 16/12830 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Cornelia Hirsch
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Monika
Grütters, CDU/CSU, Swen Schulz und Jürgen
Kucharczyk, SPD, Uwe Barth, FDP, Cornelia Hirsch,
Die Linke, Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
Nach den Beschlüssen der Bildungs- und Finanzminister der Länder in den jüngst vergangenen Wochen haben
wir Anlass genug, über die Fortführung so wichtiger strategischer Maßnahmen wie den Hochschulpakt, wie Exzellenzinitiative und Pakt für Forschung und Innovation zu
debattieren - und die entsprechenden, zwar etwas voreiligen Anträge der Oppositionsfraktionen harren ja auch
noch der Beratung im Plenum.
Kurz zur Erinnerung: Vor rund zwei Jahren haben die
Regierungschefs von Bund und Ländern den Hochschulpakt 2020 beschlossen. Der Pakt dient vor allem zwei Zielen: Zum einen soll mit der Einführung der OverheadFinanzierung für DFG-geförderte Projekte die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulforschung gestärkt werden. Zweites Anliegen des Pakts
ist es, einer wachsenden Zahl von Studienberechtigten die
Aufnahme eines Studiums zu ermöglichen. Mit dem Programm für zusätzliche Studienanfänger wollen wir mehr
Studienchancen eröffnen, weil dies die richtige Antwort
auf die wachsende Studienanfängerzahl nach geburtenstarken Jahrgängen und auf einen sich abzeichnenden
Fachkräftemangel ist.
Dass der Pakt erfolgreich ist, beweisen sowohl die
Zahlen des Statistischen Bundesamts als auch eine aktuelle Studie des CHE: Mit 38 254 zusätzlichen Studienanfängern und Studienanfängerinnen wurde das im Hochschulpakt I vorgesehene Soll in den Jahren 2007/08 sogar
noch leicht übererfüllt. Dieser Erfolg geht insbesondere
auf den in den Stadtstaaten und den ostdeutschen Ländern erzielten Zuwachs von etwa 20 700 Studienanfängern und Studienanfängerinnen zurück. Die erste Phase
des Hochschulpakts 2020 zeigt darüber hinaus endlich
auch eine erfreuliche Erhöhung der Studierendenmobilität von den alten in die neuen Bundesländer. Trotz der
besseren Ausstattung und Betreuungsrelationen war die
Mobilität von West nach Ost bislang ja enttäuschend
niedrig. Weiterhin erfreulich ist der schwerpunktmäßige
Kapazitätsaufbau in den MINT-Fächern, denen bei der
Bekämpfung des Fachkräftemangels eine besondere Bedeutung zukommt. Damit zeigt sich, dass auch in einer föderalen Ordnung konzentrierte Anstrengungen von Bund
und Ländern, für die der Hochschulpakt 2020 ja steht, einen entscheidenden Beitrag leisten können, bildungspolitische Ziele zu realisieren.
Gerade mit Blick auf die neuen Länder und die Stadtstaaten wird deutlich, dass die zur Verfügung gestellten
Bundesmittel dazu beitragen konnten, den aus Sicht
einzelner Länder durchaus rationalen Abbau von Kapazitäten zu stoppen zugunsten einer im gesamtgesellschaftlichen Interesse nützlichen Stärkung der Hochschulbildung. Der Wettbewerb um die im Hochschulpakt
vereinbarten Mittel führte in einigen Ländern dazu, dass
sogar mittelfristige Ausbauplanungen aufgesetzt wurden.
Dies ist ein Beleg für die Wirksamkeit „aktivierender
Hochschulfinanzierung“, bei der die Hochschulfinanzierung sich an der Zahl der Studierenden orientiert.
Da ist es nur konsequent, den Hochschulpakt in die
zweite Runde gehen zu lassen: Nach wochenlangen Auseinandersetzungen haben sich Ende April die Wissenschaftsminister von Bund und Ländern auf ein Maßnahmenpaket geeinigt, um die Forschung und Lehre in
Deutschland intensiv zu fördern. Die GWK hat ihren Vorschlag für die Fortschreibung der drei großen Vorhaben
- „Hochschulpakt“, „Exzellenzinitiative“ und „Pakt für
Forschung und Innovation“ - verabschiedet: Alle drei
Vorhaben zusammen umfassen ein Finanzvolumen von
rund 18 Milliarden Euro bis zum Jahr 2019 und können
als gemeinsamer Beitrag von Bund und Ländern erheblich zum Erreichen des auf dem Qualifizierungsgipfel in
Dresden im Oktober 2008 vereinbarten 10-Prozent-Ziels
({0}) beitragen.
Der bis zum Jahr 2020 konzipierte Hochschulpakt soll
nach dem Wunsch der GWK bis zum 31. Dezember 2015
fortgeschrieben werden. Er enthält weiterhin das Programm zur Aufnahme zusätzlicher Studienanfänger und
das Programm zur Finanzierung von Programmpauschalen für von der DFG geförderte Forschungsvorhaben
({1}).
Wesentliche Kernpunkte der zweiten Programmphase
sind: Grundlage für die Fortschreibung sind entsprechend der KMK-Vorausberechnung 2008 die bundesweit
zu erwartenden 275 420 zusätzlichen Studienanfänger
gegenüber dem Jahr 2005, für die der Bund eine Mitfinanzierung übernehmen will.
Pro zusätzlichem Studienanfänger sollen für die zweite
Programmphase 26 000 Euro, verteilt über vier Jahre,
zur Verfügung stehen. Hiervon übernähme der Bund die
hälftige Mitfinanzierung, und die Länder stellen die
Gesamtfinanzierung sicher. Damit sollen pro Studienanfänger 4 000 Euro mehr zur Verfügung stehen als in der
ersten Programmphase des Hochschulpakts - eine konstruktive Reaktion also auf die immer wieder geäußerte
Kritik an der Berechnung der durchschnittlichen Kosten
pro Studienplatz. Mit dieser Erhöhung wird auch ein Beitrag zur Verbesserung der Qualität der Lehre geleistet.
Die besonderen Ausgangslagen der neuen Länder und
der Stadtstaaten sollen bei der Verteilung der Bundesmittel nach wie vor berücksichtigt werden: Trotz gegenläufiMonika Grütters
ger demografischer Entwicklung sollen die im Jahr 2005
vorhandenen Studienanfängerkapazitäten in den neuen
Ländern weitgehend aufrechterhalten bleiben. Dazu soll
der Bund den neuen Ländern eine zusätzliche Sonderfinanzierung in Höhe von rund 180 Millionen Euro gewähren. Auch die alten Flächenländer beteiligen sich
solidarisch an dem Erhalt der in den neuen Ländern vorhandenen Studienkapazitäten: Sie stellen 5 Prozent der
ihnen vom Bund aus dem Hochschulpakt jährlich zufließenden Bundesmittel den neuen Ländern zur Verfügung.
Das ist keine Selbstverständlichkeit und verdient hier eine
ausdrückliche Erwähnung.
Für die Stadtstaaten, die Ausbildungsleistungen auch
für ihr Umland erbringen, werden die Basiszahlen ({2}) des Jahres 2005 gesenkt: für Bremen um 7 Prozent, für Hamburg und Berlin um 5 Prozent.
Alle darüber hinaus gehenden Studienanfängerzahlen
werden mit Mitteln des Hochschulpakts gefördert. Berlin
wird darüber hinaus aufgrund seiner in der Medizinerausbildung vorgehaltenen Studienplätze an der Pauschale für die neuen Länder mit 10 Millionen Euro partizipieren.
Die Länder werden die notwendigen Maßnahmen für
ein qualitativ hochwertiges Studium, für die MINT-Fächer und für die Förderung von Frauen in eigener Verantwortung vornehmen.
Wie bereits der Hochschulpakt I enthält auch die Fortsetzungvereinbarung in einem zweiten Teil Aussagen zur
Finanzierung von Programmpauschalen für DFG-geförderte Forschungsvorhaben: Bund und Länder werden
diese Programmpauschalen in Höhe von 20 Prozent der
Projektkosten in der bisherigen Form bis 2015 fortsetzen.
Hierdurch erhalten die Hochschulen rund 1,6 Milliarden
Euro zusätzlich. Auch in der zweiten Programmphase des
Hochschulpakts übernimmt der Bund die Finanzierung
der Programmpauschalen zu 100 Prozent. Diese Sonderfinanzierung soll nach einer Evaluation Ende des Jahres
2013 mit dem Ziel einer gemeinsamen Finanzierung der
Programmpauschalen durch Bund und Länder überprüft
werden.
Die insgesamt für alle in der GWK beschlossenen Instrumente nötigen 18 Milliarden Euro sind ein gemeinsamer Beitrag von Bund und Ländern zum Erreichen des
auf dem Bildungsgipfel vereinbarten Ziels, bis 2015
10 Prozent des Bruttoinlandproduktes für Bildung und
Forschung aufzuwenden. Die Vorschläge für die Weiterführung der drei Pakte sind am Beginn dieser Woche von
den Finanzministern der Länder verhandelt worden - mit
einem für mich doch erstaunlichen „Ergebnis“: Während
acht Länder darauf verwiesen haben, dass im vergangenen Oktober in Dresden eine Strategiegruppe eingesetzt
wurde, die bis zum Oktober dieses Jahres Vorschläge für
eine bessere Finanzausstattung von Bildung und Forschung machen soll und die folglich auch über die aktuellen Beschlüsse der GWK befinden solle, haben fünf
Landesfinanzminister die GWK-Beschlüsse erst einmal
abgelehnt. Drei weitere haben sich enthalten. Und ich
meine: Enthalten kann man sich bei einer derartigen
Frage eigentlich gar nicht. Eine Nichthaltung kann es zu
derartigen Bildungsfragen nicht geben. Enttäuschend vor
allem ist, dass auch Berlins Finanzvertreter sich enthalten haben soll. Dabei ist es gerade der Stadtstaat Berlin,
der von den Maßnahmen außerordentlich profitiert und
dessen Wissenschaftssenator Zöllner sich nach der GWKSitzung so zuversichtlich zeigte, dass Berlin diesmal seinen Finanzierungsverpflichtungen nachkommen werde.
Da sollte er doch einmal hartnäckig mit dem neuen Finanzsenator sprechen. Denn gerade in der Hauptstadt
sollte es endlich eine Prioritätensetzung zugunsten einer
exzellenten Bildung geben - wenigstens an den Hochschulen ist da noch nicht alles verloren.
Der Bund seinerseits kann die eigenen Finanzzusagen
seriöserweise nur unter den Vorbehalt einer künftigen
Haushaltsaufstellung stellen - denn die Bundestagswahl
macht zurzeit eine Beschlussfassung über derart hohe
Aufwendungen nicht mehr möglich. Aber Bundesbildungsministerin Annette Schavan steht wohl kaum im
Verdacht, hier nicht hartnäckig die Interessen von Bildung und Exzellenz zu vertreten. Sie hat sich eindeutig geäußert, als sie öffentlich klargestellt hat, dass es außer
Zweifel steht, dass die Programme „mit allen notwendigen Mitteln ausgestattet werden müssen. Hierüber darf
keine Verunsicherung bei den betroffenen Studierenden
und Wissenschaftlern entstehen“.
Alle Verantwortlichen sind aufgefordert, die Bedeutung der Pakte für unser Land angemessen zu berücksichtigen und den Weg nun endgültig freizumachen. Auf der
Ministerpräsidentenkonferenz im Juni muss jetzt ein verbindlicher Beschluss gefasst werden. Bund und Länder
müssen Klarheit haben, damit wir die Voraussetzungen
für die Weichenstellung in Richtung Zukunft schaffen können. Wir brauchen die drei Pakte jetzt!
Die Politik für die Wissenschaft, die Hochschulen und
die Studierenden in Deutschland gehört zweifellos zu den
Prunkstücken der Großen Koalition. Natürlich hat die
Opposition immer etwas zu kritisieren, das ist vollkommen in Ordnung. Und es gibt ja durchaus auch Entscheidungen, die wir von der SPD anders getroffen hätten,
wenn wir nicht auf unsere Koalitionspartner Rücksicht
hätten nehmen müssen. Aber wir sagen selbstbewusst:
Diese Koalition hat, angetrieben durch die SPD, viel erreicht, etwa deutliche Verbesserungen beim BAföG, die
Fortsetzung der Exzellenzinitiative und den Pakt für Forschung und Innovation.
Nicht zuletzt der Hochschulpakt gehört in diese Reihe
der starken Maßnahmen. Zunächst möchte ich - gerade
auch angesichts der aktuellen Debatte über eine zweite
Föderalismusreform - festhalten, dass es ohne den beharrlichen Einsatz der SPD die verfassungsrechtliche
Möglichkeit der Kooperation von Bund und Ländern zugunsten der Hochschulen gar nicht gegeben hätte. Kaum
hatten wir das gegen den Widerstand von CDU/CSU und
Bundesländern durchgeboxt, begannen die Gegner der
Kooperation eifrig mit den Verhandlungen. Das Tempo
der Anpassungsfähigkeit war atemraubend, aber erfreulich.
Wir haben in den Beratungen darauf gedrungen, dass
mehr und besser finanzierte Studienplätze geschaffen
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
werden. Da sind bei Weitem nicht alle Wünsche erfüllt
worden. Doch mit dem von den Wissenschaftsministern
vereinbarten Hochschulpakt II kommen wir wirklich einen ordentlichen Schritt weiter. Wir erreichen den Ausbau
von 275 000 zusätzlichen Plätzen für Studienanfänger bis
zum Jahr 2015 und finanzieren sie besser. Das ist schon
ein starkes Wort! Gemeinsam mit den ebenfalls vereinbarten Fortschreibungen der Exzellenzinitiative und des
Paktes für Forschung und Innovation kommen wir bis
zum Jahr 2019 auf zusätzliche Investitionen in Hochschulen und Wissenschaft von etwa 18 Milliarden Euro! Das
heißt: falls der Beschluss der Wissenschaftsminister tatsächlich umgesetzt wird. Leider wird das von den Finanzministern infrage gestellt. Nun gab es öffentliche Äußerungen von Vertretern unseres Koalitionspartners CDU/
CSU. Sie warfen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück
vor, er würde die Beschlüsse der Wissenschaftsminister
blockieren. Er dürfe nicht kneifen und die SPD nicht parteipolitisch taktieren, sie müsse einlenken und bekennen.
Also, ich bin ja ein eher ruhiger Vertreter. Aber da fällt
mir die Ruhe doch mal etwas schwer. Das ist schlichtweg
eine Frechheit! Wenn hier jemand parteipolitisch agiert,
dann ist es an dieser Stelle die CDU/CSU! Denn die
Finanzministerkonferenz der Länder hat mehrheitlich beschlossen, den Vorschlag der Wissenschaftsminister unter
den Haushaltsvorbehalt zu stellen. Für die Wissenschaft
haben fünf Länder gestimmt, nämlich die SPD-geführten
Bremen, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern
und Brandenburg sowie das CDU-geführte SachsenAnhalt mit dem SPD-Finanzminister Bullerjahn. Dagegen eine breite Phalanx von Ländern mit CDU-Ministerpräsidenten. Will hier noch jemand, der im Glashaus
sitzt, mit Steinen werfen?
Das mit dem Glashaus gilt übrigens auch für alle
Oppositionsfraktionen im Bundestag. Hier sind alle mit
im Boot: die FDP etwa mit ihrer Regierungsbeteiligung
an Nordrhein-Westfalen, das sich ebenso gegen die Wissenschaft gestellt hat wie das von Bündnis 90/Die Grünen
mitregierte Hamburg. Selbst die Linke darf ebenso wie
die SPD vor der eigenen Haustür kehren: Das rot-rote
Berlin hat sich kraftvoll enthalten. Wir sollten die Steine
fallen lassen und lieber am gleichen Strang ziehen.
Lassen Sie mich noch kurz auf die Begründung des Beschlusses der Finanzminister eingehen. Sie verweisen
nämlich auf die Strategiegruppe von Bund und Ländern
zur Umsetzung der Beschlüsse des Qualifizierungsgipfels. Die müssten doch zunächst mal einen Umsetzungsplan vorlegen. In der Tat interessiert uns: Was ist mit dieser Gruppe? Hat sie die Arbeit schon aufgenommen? Was
passiert da? Wie gedenken Bund und Länder das anspruchsvolle Ziel, ab dem Jahr 2015 10 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung aufzuwenden, umzusetzen? Liebe Leute in den Regierungen,
legt mal einen Gang zu, sonst ist wirklich außer Spesen
nichts gewesen beim ach so großartigen Bildungsgipfel
der Kanzlerin.
Allerdings ist das Fehlen eines Umsetzungsplanes natürlich keine Begründung für die Blockade zusätzlicher
Investitionen in Wissenschaft und Forschung. Im Gegenteil sind diese Schritte jetzt verbindlich zu gehen, damit
wir vorankommen bei der Erreichung der Ziele!
Darüber hinaus beziehen sich die Finanzminister auf
die Lasten der Konjunkturkrise. Aber wenn es eine Situation gibt, in der in die Zukunft investiert werden muss,
dann ist es doch die heutige! Wie wollen wir denn bitte
schön krisenfester werden, wenn wir nicht die Basis unserer Volkswirtschaft, nämlich die Bildung, Ausbildung
und Wissenschaft der Menschen verbessern?
Außerdem - und das ist wirklich bemerkenswert - führen die Finanzminister die Föderalismusreform II an.
Noch bevor die Schuldenbremse beschlossen ist, wirkt sie
bereits als Bremse für Investitionen in die Zukunft! Eindrucksvoller kann nicht bewiesen werden, dass Kritik an
dem Konzept der Föderalismusreform berechtigt ist. Sie
soll, so die ständige Aussage, durch Reduzierung der
Schuldenaufnahme Spielräume der öffentlichen Hand erweitern, damit auch künftig richtig investiert werden
kann. Ein gutes Ziel, zweifelsohne. Doch wenn die rigide
Schuldenbremse für die Länder im Gegenteil als Allererstes zu Abstrichen eben bei den Investitionen in Bildung,
Wissenschaft und Forschung führt, dann tun wir nichts
für die künftigen Generationen, sondern versündigen uns
an ihnen!
Aber diese Debatte werden wir ja in den kommenden
Wochen noch führen. Für das Erste sollten wir alle gemeinsam an unseren Stellen darauf hinwirken, dass die
Mehrheit der Finanzminister überstimmt wird. Die SPD
im Deutschen Bundestag jedenfalls wird die Finanzierung des Hochschulpaktes, der Exzellenzinitiative und
des Paktes für Forschung und Innovation ohne Abstriche
unterstützen! Jetzt kommt es auf die Bundeskanzlerin und
die Ministerpräsidenten auf ihrer Sitzung am 4. Juni an,
die verlässliche Finanzierung der Wissenschaft, Forschung und Hochschulen sicherzustellen. Lassen Sie uns
in einer ganz großen Koalition aller Parteien in Bund und
Ländern erreichen, dass das klappt!
Elf deutsche Wissenschaftler bekamen kürzlich den
Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis, den höchstdotierten
deutschen Förderpreis für die Besten der Besten, für ihre
herausragende Forschung. Spiegel-Online stellte den
Forschern eine Frage, die auch uns im Deutschen Bundestag heute zusammenbringt, die Frage nämlich: Welche Bedingungen brauchen Wissenschaftler, um Spitzenleistungen zu erbringen?
Die Oppositionsanträge zur Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungspolitik, die wir heute beraten,
enthalten Antworten. Viele der Forderungen werden
durch die Ergebnisse der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz zur Trias aus Hochschulpakt II, Exzellenzinitiative sowie Pakt für Forschung und Innovation überflüssig. Bei der konkreten Umsetzung und vor allem
Finanzierung kommt es in den Zeiten der Krise darauf an,
Prioritäten zu setzen. Die SPD setzt ganz klar den Hochschulpakt II auf die Poleposition. Warum?
Für Spitzenleistungen braucht es zuerst junge Menschen, die überhaupt bereit sind, ein Studium aufzunehmen. Der Staat stellt in der Folge und als Ergebnis der
Hochschulpakte die Bedingungen her, dass jeder, der
ernsthaft studieren möchte, dazu auch die Möglichkeit erZu Protokoll gegebene Reden
hält. Die zusätzlichen 275 400 Studienanfängerplätze in
den Jahren 2011 bis 2015 sind daher außerordentlich zu
begrüßen. Und ich wünsche mir, dass die Vergabe dieser
Plätze weniger als heute mit der sozialen Herkunft der
jungen Menschen zu tun hat. Spitzenleistungen an Universitäten und frühkindliche Bildung gehören untrennbar
zusammen.
Leibniz-Preisträger Arnim Falk, der sich auf dem Gebiet der Wirtschaftsforschung verdient gemacht hat, unterstützt diese Forderung und antwortet auf die eingangs
erwähnte Frage wie folgt. Ich zitiere: „Frühe Erfahrungen formen die Grundlage für die Leistungsfähigkeit im
Erwachsenenalter, kognitiv, sozial und emotional. Frühkindliche Förderung ist deshalb die beste Waffe gegen Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Spaltung.“ Kurzum:
Wer verantwortliche und effiziente Bildungspolitik betreiben möchte, der muss die frühkindliche Bildung massiv
verstärken. Genau das ist Ansatz der SPD-Bundestagsfraktion.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal unser Kinderförderungsgesetz lobend erwähnen. Die insgesamt
12 Milliarden Euro, die der Bund für diese Zukunftsaufgabe zur Verfügung stellt, sind gut investiertes Geld. Das
KiföG ist ein wichtiger Baustein, um die Bildungsbenachteiligung von Kindern zu verringern. Gerade für Kinder
mit Migrationshintergrund und aus benachteiligten Familien ist ein frühes pädagogisches Angebot äußerst
wichtig.
Nachwuchsförderung beginnt im Kindergarten. Die
Initiative „Haus der kleinen Forscher“ begeistert Kinder
für Themen aus Naturwissenschaften und Technik. Frühkindliche Bildung ist nach Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion kostenfrei; Gleiches sollte für ein Erststudium gelten.
Der Girls’ Day bringt Mädchen die sogenannten
MINT-Fächer - Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik - nahe. Frauen in Forschung und
Lehre zu fördern, auch als Beitrag zur Qualitätsentwicklung, das ist unser Ansatz. Auf das Potenzial von Frauen
können wir bei prognostizierten 330 000 fehlenden Akademikerinnen und Akademikern im Jahr 2013 nicht verzichten.
Um die Eingangsfrage noch einmal aufzugreifen: Spitzenleistungen werden möglich, wenn wir uns gerade auch
in Krisenzeiten zu Bildungs- und Forschungsvorhaben
bekennen, die finanziell abgesichert, eine qualitative Weiterentwicklung und vor allem im Sinne der heutigen und
zukünftigen Studierenden sind. Einen Misserfolg können
wir uns nicht leisten, schließlich steht Deutschlands Zukunftsfähigkeit auf dem Spiel.
Die Wissenschaftsminister hatten vor, am 30. März die
Eckpunkte für die überaus bedeutenden Großprojekte
„Hochschulpakt“, „Exzellenzinitiative“ und „Pakt für
Forschung und Innovation“ zu vereinbaren. Doch das
Treffen wurde zum Spielball politischer Eitelkeiten und
den Profilierungsansprüchen einiger weniger Teilnehmer
geopfert. Glücklicherweise besann man sich schließlich
doch und einigte sich, laut Protokoll der Gemeinsamen
Wissenschaftskonferenz GWK, „die noch bestehenden
Dissense politisch zu lösen und den Vereinbarungsentwurf zum Hochschulpakt den Regierungschefs von Bund
und Ländern zum 4. Juni vorzulegen“. Und tatsächlich:
Auf der für den 22. April anberaumten Sondersitzung verständigte man sich darauf, dass der Hochschulpakt für
eine zweite Phase bis zum 31. Dezember 2015 fortgeschrieben werden soll. Laut Pressemitteilung der GWK
könnten auf diese Weise zusätzliche Studienplätze bei
einem Kostensatz von 6 500 Euro und Jahr ermöglicht
werden. Dies wäre dann ein Aufwuchs um 500 Euro im
Semester pro Studienanfänger. Die realen Durchschnittskosten eines Studienplatzes liegen nach Auskunft der
Hochschulrektorenkonferenz zwar bei 7 300 Euro, doch
mit dieser Entwicklung könnte die Deckungslücke ein wenig geschlossen werden. Immerhin wäre damit ein Schritt
in die richtige Richtung getan!
Doch nun melden sich, nicht zuletzt aufgrund der
jüngsten Verschuldungsorgien von Bund und Ländern,
neuerliche Bedenkenträger zu Wort, diesmal nicht aus
dem Hochschulbereich. Es sind die Finanzminister, die
wissen lassen, dass der Hochschulpakt noch lange nicht
in trockenen Tüchern sei. Man habe sich in Mäßigung zu
üben, so die Botschaft. Den Wissenschaftsministern sind
Daumenschrauben verpasst worden - und nun wird langsam Druck aufgebaut. Man kann nur hoffen, dass man
nicht die mühsam erkämpften Errungenschaften wieder
preisgibt.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat schon im Rahmen
der Initiative „Klarheit beim Konjunkturpaket II - Bildungspolitische Handlungsspielräume für Länder und
Kommunen einräumen!“ davor gewarnt, dass mit dem
Konjunkturpaket II Richtungsentscheidungen „durch die
Hintertür“ getroffen werden. Es hat sich erschreckend
schnell bestätigt, dass die Ausgaben, seien sie sinnvoll
oder leider häufig eben kurzsichtig und verfehlt, maßgeblich Einfluss auf laufende und vor allem kommende Bildungsinvestitionen haben. Deswegen war die Verengung
der Investitionen auf den Bereich der energetischen Sanierung aufgrund der Inflexibilität falsch.
Für die FDP steht fest, dass wir in Deutschland qualitativ hochwertige Studienplätze brauchen. Denn nach wie
vor gilt, dass das deutsche Hochschulwesen in seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden
muss. Universitäten und Fachhochschulen sollen wieder
die Spitzenstellung vergangener Zeiten einnehmen. Nur
so kann die soziale, kulturelle, wissenschaftliche und
wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit unserer Gesellschaft dauerhaft gewährleistet werden. Doch ohne die
Umsetzung der dringend notwendigen Reformen sowie
die Bereitstellung der hierfür benötigten Mittel wird eine
substanzielle Verbesserung der Situation im Bereich der
Lehre nicht eintreten.
Neben der Erhöhung der Mittel haben wir Bund und
Länder dazu aufgefordert, ein transparentes und leistungsbezogenes System der Hochschulfinanzierung auf
den Weg zu bringen. Wir wollen keinen neuerlichen bürokratischen Lastenausgleich für und zwischen den
Ländern, wie es der Entwurf des Berliner WissenschaftsZu Protokoll gegebene Reden
senators vorsieht. Denn wir brauchen weniger zentralstaatliche Regelung und Planung. Statt der detailverliebten Sonderfinanzierungs- und Ausnahmetatbestände, wie
sie auch wieder im Rahmen der Vereinbarung zum Hochschulpakt II auftauchen, sollten wir nach dem Motto
„keep it simple“ verfahren. Zu viele Stellschrauben im
System sind eher schädlich als hilfreich - ein Blick in das
deutsche Steuerrecht liefert den Beweis!
Deswegen plädiert die FDP für eine klare Nachfrageorientierung bei der Hochschulfinanzierung. Wir
möchten das Modell „Geld folgt Studierenden“ weiterentwickeln und so den Bildungswettbewerb wirklich entscheidend ankurbeln. Denn im Unterschied zum SPDModell landet das Geld nicht beim Finanzminister, sondern direkt im Haushalt der Hochschule. Die zweite Stufe
des Hochschulpakts hätte einen entscheidenden Schritt
auf diesem Weg darstellen können - doch leider ist dieses
Vorhaben geopfert worden, um überhaupt zu einem Konsens zu gelangen.
Doch nun wird dies alles in den Schatten gerückt. Bundesminister Steinbrück hat kurzfristig Bedenken angemeldet. Er stellt die Sonderprogramme für Forschung
und Hochschulen, also die Exzellenzinitiative, den Pakt
für Innovation und Forschung und eben auch den Hochschulpakt II, zur Disposition. Die Warnung der SPD-Bildungspolitiker, der Hochschulpakt könne in der Schuldenmaschinerie des Konjunkturprogramms zermalmt
werden, könnte sich bewahrheiten. Aber noch nicht einmal die SPD-Fraktion hätte gemutmaßt, dass Peer
Steinbrück als Obermaschinist diesen Kessel auch noch
anheizt! Es ist schon eine Farce, dass die Koalition
- ohne mit der Wimper zu zucken - für die Abwrackprämie Milliarden bereitstellt, Bildung, Wissenschaft und
Forschung aber der Haushaltslage anheimstellt. Ein
Skandal!
Wir haben schon in unserem Antrag zum Hochschulpakt II darauf hingewiesen, dass die überhastet zuwege
gebrachten Konjunkturmaßnahmen der Bundesregierung
die langfristig geplanten, durchdachten und mit Sorgfalt
abgestimmten Förderprogramme gefährden würden. Es
ärgert mich persönlich maßlos, wenn ich sehe, wie diese
hirnrissige Geldverschwendung die Grundlage für einen
so dringend notwendigen Substanzaufbau bei Wissenschaft und Forschung bedroht. Ich habe die Bundesregierung vor zwei Monaten gefragt, ob die für das Konjunkturpaket II ausgegebenen Mittel und die dafür
aufgenommene Neuverschuldung künftige Investitionen
im Bildungssystem erschweren. Darauf antwortet mir das
BMF, dass mit den Mitteln der Investitionsstau in der Bildungsinfrastruktur abgebaut wird und „somit im öffentlichen Gesamthaushalt zukünftige Spielräume für andere
notwendige Bildungsausgaben erschlossen werden“.
Diesen Trick müssen Sie mal einem Häuslebauer erklären. Nicht sparen und vom Ersparten ein Haus bauen.
Nein! Mache heute Schulden und bau davon dein Haus,
und dann hast du in Zukunft das Geld, welches du für ein
Haus gespart hättest, für andere Dinge zur Verfügung.
Dass man Kredite zurückzahlt, und zwar mit Zins und
Zinseszins, das kommt in Ihrer Gedankenwelt offenbar
überhaupt nicht vor. Das sind Taschenspielertricks, damit
können Sie im Zirkus auftreten, verantwortliche und verantwortungsvolle Finanzpolitik für die Zukunft unseres
Landes ist das jedenfalls nicht.
Und nun zeigt sich, dass alle Befürchtungen doch gerechtfertigt waren. Im BMF hat jemand gemerkt, dass
man zumindest Zinsen zahlen muss, und was liegt näher,
als das Geld von dort zu nehmen, wofür die Schulden aufgenommen wurden, aus dem Bildungsetat. Damit stellen
Sie alles infrage, was in den vergangenen dreieinhalb
Jahren hier von diesem Pult aus von Rednern der Großen
Koalition über die Bedeutung der Bildungspolitik gesagt
worden ist.
Ich fordere Sie an dieser Stelle auf: Werden Sie sich bewusst, dass Bildung allgemein und eben auch der Hochschulpakt II für die Zukunft des Wissenschaftsstandorts
enorm wichtig ist. Er ist wegweisend, was die Zusammenarbeit von Bund und Ländern betrifft. Dies sollte nicht
gering geschätzt werden, denn die wesentlichen Entscheidungen der kommenden Jahre werden genau dieser Zusammenarbeit bedürfen. Deswegen dürfen wir den Pakt
nicht aushöhlen oder gar scheitern lassen, sondern müssen alles daransetzen, dass dies zu einem Erfolg wird. Um
Frau Professor Wintermantel von der HRK zu zitieren:
Die Signale müssen auf „Freie Fahrt“ geschaltet werden.
Als der heutige Tagesordnungspunkt aufgesetzt wurde,
konnte noch niemand ahnen, welche Entwicklungen die
Hochschulprogramme des Bundes nehmen würden. Seit
letztem Freitag wissen wir: Auch sie bleiben von der
Krise nicht verschont! Finanzminister Peer Steinbrück
hat sie unter Haushaltsvorbehalt gestellt. Studierende,
Lehrende und Studieninteressierte werden im Regen stehen gelassen.
Diese Entscheidung ist umso trauriger, als selten zuvor
in solch einem krassen Ausmaß deutlich wurde, wie fundamental unterschiedlich Bildung und Banken in diesem
Land behandelt werden und wie wenig die vielen Sonntagsreden über die vermeintliche Priorität der Bildung
wert sind. Wir erinnern uns: Es brauchte nicht einmal
zwei Wochen, um das Bankenrettungspaket in einem Umfang von fast 500 Milliarden Euro durch Bundestag und
Bundesrat zu schleusen; für die Commerzbank stellten
SPD und Union sogar in nur einer einzigen Nacht 18 Milliarden Euro zur Verfügung. Im Vergleich dazu geht es
beim Hochschulpakt wirklich nur um Kleckerbeträge aber angeblich ist hierfür mal wieder kein Geld da. Dass
es auch anders geht und andere Prioritäten gesetzt werden können, zeigen die USA: Hier wird in diesen Zeiten
allein der Forschungsetat um 32 Milliarden Dollar in
diesem Jahr aufgestockt. An Kurzsichtigkeit ist die Bundesregierung also kaum zu überbieten. Es wäre jetzt dringend geboten, mehr Mittel in die Hochschulbildung zu
geben.
Die Entscheidung, ob unter anderem der Hochschulpakt fortgesetzt werden soll, wird erst nach der Bundestagswahl gefällt. Die Große Koalition wird ihr Ziel einer
Studierendenquote von 40 Prozent eines Altersjahrganges auf diese Weise nicht erreichen können. Aber schon
jetzt ist sie Meister im Vertagen von Entscheidungen und
dem Einrichten von Arbeitsgruppen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke hält diese Politik für einen Skandal. Wir
werden es nicht hinnehmen, dass die Zeche für die Krise
über das Kaputtsparen der Bildung finanziert wird. Die
Bundesregierung muss endlich dafür Sorge tragen, dass
diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die das
Geld haben und die Krise verursacht haben. Deshalb fordert die Linke die Einführung einer Vermögen-, einer
Börsenumsatz- und einer Millionärsteuer.
Allein mit der Bereitstellung der versprochenen Mittel
für den Hochschulpakt wäre es allerdings auch nicht getan. Denn der bisherige Pakt war und ist ein Mangelpakt.
Sein größtes Problem sind die unzureichende Ausstattung
und die fehlenden qualitativen Aspekte. An den Hochschulen war in den letzten Semestern schon ohne Wirtschaftskrise eine Studienkrise zu erleben. Überfüllte Hörsäle, endlos lange Einschreibelisten bei Seminaren und
Sprachkursen und eine massive Ausweitung von Auswahlverfahren sorgten für eine deutliche Qualitätsverschlechterung im Studium. Dies alles geschah vor dem
Hintergrund des Bologna-Prozesses. Wenn diese Reform
mit der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge gelingen soll, dann nur, wenn mehr Geld zur Verfügung gestellt wird.
Ein weiteres Problem ist die unsoziale Ausrichtung des
Paktes. So macht er keinerlei Unterscheidung zwischen
Bundesländern, die Gebühren erheben, und solchen, die
ein gebührenfreies Studium sichern. Die Linke hält das
für falsch. Studiengebühren sind unsozial und schrecken
gerade Menschen aus bildungsfernen Haushalten von einem Studium ab. Solange die Bundesregierung sich weigert, die bundesweite Gebührenfreiheit des Studiums
durchzusetzen, müsste sie mindestens die Gebühreneinnahmen der Länder von ihrem jeweiligen Anteil am
Hochschulpakt wieder abziehen. Ansonsten wird der unsoziale Zugang an die Hochschulen zementiert.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Nehmen
Sie Ihre Sonntagsreden zur Priorität der Bildung ernst.
Heben Sie die Haushaltssperre für die Bildungsprogramme wieder auf und schaffen Sie Raum für die Erarbeitung eines qualitativen Hochschulpaktes!
Es ist erst wenige Monate her, da rief Kanzlerin Merkel
mit viel Tamtam die „Bildungsrepublik Deutschland“
aus. Mit dem abrupten Stopp des Hochschulpaktes, des
Pakts für Forschung und Innovation sowie der Exzellenzinitiative kann sie sich dieses Etikett endgültig abschminken. Merkel hat ihre vollmundigen Versprechen für
höhere Bildungsinvestitionen offenkundig gebrochen,
Bildungsministerin Schavan ist mit ihren Plänen krachend gescheitert. Ausgerechnet beim ersten Konjunkturpaket, das ausschließlich Bildung und Wissenschaft - und
damit der Zukunftsfähigkeit unseres Landes - zugute gekommen wäre, haben Bundesfinanzminister Steinbrück
({0}) und die Landesfinanzminister der Union ein Veto
eingelegt und ein Stoppschild gehisst. In Zeiten der Wirtschaftskrise ist das eine geradezu fahrlässige und zukunftsblinde Politik. Wer jetzt die gesamte Wissenschaftspolitik bis nach der Bundestagswahl auf Eis legt, agiert
destruktiv und riskiert, dass Deutschland deutlich geschwächt statt gestärkt aus der Krise hervorgeht. Obwohl
zusätzliche Ausgaben für Bildung und Forschung zur Zukunftssicherung sowie für mehr Gerechtigkeit und bessere Wettbewerbsfähigkeit alternativlos sind, macht
Finanzminister Steinbrück die hehren Ziele von 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung schon heute zur Makulatur. Damit ist Merkels Bildungsgipfel endgültig gescheitert.
Union und SPD sind eine generationenfeindliche
Koalition eingegangen: Zur Rettung der Banken und für
die Abwrackprämie nimmt das Bündnis eine riesige Neuverschuldung und unkalkulierbare Haushaltsrisiken in
Kauf. Gleichzeitig entzieht Steinbrück den nachfolgenden
Generationen die Grundlagen, um die Schulden jemals
wieder abzubauen. Wer heute keine ausreichende Anzahl
an Studienplätzen schafft, produziert den Fachkräfte- und
Akademikermangel von morgen. Die junge Generation
braucht keine irrsinnige Abwrackprämie, sondern Zukunftsperspektiven und einen konzertierten Kraftakt für
unser Bildungs- und Hochschulsystem. Wenn es überhaupt gelingt, den Hochschulpakt II in diesem Jahr „vom
Eis“ zu kriegen, dann gilt: Die Absichtserklärung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz zur Fortsetzung des
Hochschulpakts genügt diesem Anspruch eines Kraftakts
nicht. Mit einem solchen Mangelpakt wird keine Brücke
über die Akademikerlücke errichtet. Die Wissenschaftsministerinnen und -minister von Bund und Ländern haben sich offenbar vorgenommen, die Fehler des ersten
Hochschulpakts fortzuschreiben. Der Pakt bleibt unterfinanziert, weil der Betrag pro zusätzlichen Studienplatz
nur für Billigstudienplätze ohne Qualität reicht. Der
Hochschulpakt für die nächsten zehn Jahre muss aus grüner Sicht erheblich mehr ausfinanzierte Studienplätze
bringen sowie bessere Studien- und Lehrbedingungen für
alle.
Auch muss sich die Ausbildung von Akademikerinnen
und Akademikern für alle Länder lohnen. Heute bezahlen
einige Länder für die Ausbildung, während andere die
Akademikerinnen und Akademiker „absahnen“. Deshalb
braucht es endlich einen fairen Lastenausgleich zwischen
den Bundesländern. Beim Hochschulpakt II ist der Einstieg abermals missglückt, obwohl sich im Bundestag
eine parlamentarische Mehrheit dafür ausspricht. Der
Widerstand der Unionsländer gegen das Prinzip „Geld
folgt Studierenden“ zeigt wieder einmal, dass sie keinerlei gesamtstaatliche Verantwortung empfinden. Der Verweis auf den allgemeinen Länderfinanzausgleich reicht
nicht, da dieser die Studienplatzkosten keineswegs abdeckt. Wenn die Fortsetzung des Hochschulpakts die Kosten auch nur annähernd decken soll, muss Bundesfinanzminister Steinbrück nicht nur seinen Widerstand gegen
die Minierhöhung der Studienplatzpauschalen abblasen,
sondern wesentlich mehr als die bisher angedachten
6 500 Euro pro Jahr für einen Studienplatz zur Verfügung
stellen.
Die Hochschulen brauchen Planungssicherheit und
hochschulpolitische Verlässlichkeit - und zwar sofort.
Mit einem Aufschub der Entscheidung wird sich das Gedrängel vor den Hörsaaltüren verschärfen. Ein entscheidender Schritt zum Ausbau unserer Hochschulen würde
vertan - kein gutes Signal für künftige Studienberechtigte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Angesichts doppelter Abiturjahrgänge, die in diesem
Herbst erstmals ihren Platz an den Hochschulen suchen,
wird sich die fatale Situation für Studieninteressierte weiter zuspitzen. Wenn es überhaupt zu einer verbindlichen
Verabredung zum Hochschulpakt II kommt, dann müssen
Bund und Länder gemeinsam handeln. Wir brauchen gerade in Krisenzeiten einen verlässlichen und bedarfsgerechten Aufbau qualitativ hochwertiger Studienplätze für
alle Studienberechtigten, die in den nächsten Jahren zusätzlich an die Hochschulen kommen. Im Gegenzug für
die Bundesgelder muss seitens der Hochschulen und Bundesländer auch gesichert sein, dass die so finanzierten
Kapazitäten auch ausgeschöpft werden. Es darf nicht länger passieren, dass für jeden zweiten Studiengang örtliche Zulassungsbeschränkungen gelten, gleichzeitig aber
durch das unorganisierte Nachrückverfahren kostbare
Studienplätze unbesetzt bleiben. Die gesamtstaatliche
Verantwortung für die Hochschulzulassung muss vor einzelnen Länder- und Hochschulinteressen gehen. Die Bundesregierung muss darum mit den Ländern umgehend
eine bundeseinheitliche Regelung für Zulassungen und
Abschlüsse aushandeln. Und die Länder sollten für die
verbindliche Teilnahme aller Hochschulen am neuen Zulassungsverfahren sorgen.
Lange genug haben Union und SPD die Zukunftsfähigkeit unseres Landes aufs Spiel gesetzt. Ihre Lippenbekenntnisse, wie wichtig ihnen Bildung und Forschung
seien, haben sich als leere Versprechungen erwiesen.
Leidtragende sind die Studienberechtigten: Ohne baldige
Einigung auf eine Fortsetzung des Hochschulpaktes mit
mehr Mitteln pro Studienplatz stehen die doppelten Abiturjahrgänge bald vor verschlossenen Hochschultüren.
Diese Jahrgänge müssen aber unbedingt zu einem deutlich höheren Anteil studieren als die bisherigen. Wer
heute nicht eine ausreichende Zahl von Studienplätzen
schafft, versündigt sich an den Zukunftschancen der jungen Generation und unterminiert die wirtschaftliche
Wettbewerbsfähigkeit von morgen. Daher erwarten wir
mehr Mut der großen Streit-Koalition und von Merkel und
Schavan Machtworte gegenüber ihren Finanzministern
und Ministerpräsidenten. Die Totalblockade der Wissenschaftspolitik muss umgehend überwunden werden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/12828. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/10327 mit dem Titel „Solide
Grundlage für Hochschulpakt - Beitrag zur systematischen Verbesserung der Hochschullehre“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der FDP mit den restlichen Stimmen des
Hauses angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11178
mit dem Titel „Hochschulpakt II für mehr Qualität, soziale Öffnung und zur Ausfinanzierung des deutschen
Hochschulsystems vereinbaren“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10881 mit
dem Titel „Hochschulpakt in gesamtstaatlicher Kooperation zu einem wirksamen Pakt für mehr und bessere Studienplätze entwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die
Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Mehr Qualität für die Hochschulen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12833, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/649 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den restlichen Stimmen
des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 13 c. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Gute Lehre an allen Hochschulen gewährleisten, herausragende Hochschullehre prämieren“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12830, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/8211 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit
den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Winfried Hermann, Katrin GöringEckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Alle Formen von Diskriminierungen thematisieren - Bürgerrechte von Fußballfans stärken - Für einen friedlichen und integrativen
Fußballsport
- Drucksache 16/12115 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Bernd
Heynemann, CDU/CSU, Martin Gerster, SPD, Detlef
Parr, FDP, Katrin Kunert, Die Linke, Monika Lazar,
Bündnis 90/Die Grünen.
Wir debattieren heute über einen Antrag der Grünen,
der vom Thema doch etwas zusammenmengt, was irreführend ist und teilweise Situationen beschreibt, die sich gut
bewährt haben im Fußball. Der Thematik an sich, alle
Formen von Diskriminierung abzulehnen, stehen wir
auch positiv gegenüber. Bürgerrechte von Fußballfans
stärken, das ist nicht nur ein Thema, sondern bedarf noch
einer konkreten Analyse, und wir sind auch dafür, dass
ein friedlicher und integrativer Fußballsport auf allen
Ebenen des DFB stattfindet. Das Thema und der Inhalt
beziehen sich also nicht nur auf die Ereignisse auf dem
Rasen, sondern auch auf das Verhalten der Zuschauer
bzw. den Umgang der Ordnungskräfte mit dem Zuschauer
und Erscheinungen der Fanszenen.
Es ist richtig, dass sich die Fanszene entwickelt hat,
das stellt unter anderem auch Professor Pilz, ein renommierter Fanforscher der Universität Hannover, fest. Das
heißt, wir unterscheiden zurzeit drei große Fansysteme:
Da ist zum einen der Fußballfan, der ins Stadion geht, der
guten Fußball sehen will, der natürlich seine Mannschaft
anfeuert, der aber auch die gegnerischen Fangruppen
mit Choreografien und Sprechchören ins Visier nimmt.
Die zweite Gruppe sind die Hooligans, die ebenso ihre
Plattform im Fußballstadion und auf den Fußballplätzen
sehen, die aber vorrangig Ausschreitungen zwischen den
Fangruppen und der Polizei und den Ordnungskräften
provozieren wollen und auch das Spiel durch diverse Aktivitäten wie Zünden von bengalischen Feuern, Rauchbomben oder andere provokativen Sachen stören wollen.
Die dritte Gruppe, die sogenannten Ultras, haben sich
zum Ziel gesetzt, im Vorfeld des Stadions, das heißt in der
Stadt und im Stadion schon Hasspunkte, Gewaltpunkte,
Krawallpunkte zu setzen. Und sie haben mit dem Fußball
nichts mehr zu tun, stellen aber eine große Bedrohung
dar, da sie sich beim Anmarsch und beim Rückmarsch der
Fans zum und vom Stadion mit unter diese mischen und
damit Ausschreitungen mit den Ordnungskräften und der
Polizei provozieren. Und das ist auch diese gleitende
Grenze, wo der Übergang vom Nicht-Stadionbereich in
den Stadionbereich durch sie kritisiert wird, dass es da
teilweise Leibesvisitationen gibt, dass es teilweise Detektoren gibt und andere Kontrollmaßnahmen und -mechanismen, die ganz einfach nötig sind, um eine reibungslose
und gewaltfreie Spieldurchführung zu gewährleisten. Wie
wir wissen, gibt es aber vielfältige Möglichkeiten, so jetzt
geschehen in Italien, wo solche Maßnahmen ausgehebelt
werden, indem bereits im Vorfeld schon im Stadion Gegenstände platziert werden oder pyrotechnische Artikel,
die dann im Stadion übernommen werden, um zum Einsatz zu gelangen. Hier muss man aber ganz klar sagen, es
gibt Komplizen innerhalb der Ordnungskräfte, die diese
Hooligans unterstützen, und gerade Italien ist ein sehr
prägnantes negatives Beispiel.
In der Sportzeitschrift „Kicker“ vom 27. April 2009
sagte der ehemalige frühere Startrainer Arrigo Sacchi:
„In den letzten Jahren hat sich die Situation in vielen Bereichen verschlechtert: Presse und Tifosi suchen meist
Polemiken und Konfliktpotenzial, die Gewalt, auch politisch organisiert, zog in die Stadien ein. Viele Leute, denen der Fußball egal war, wollten sich lediglich mit ihm
profilieren.“
Wir wissen, dass natürlich auch die Stadionsituation in
Italien nicht die beste ist, und können mit hervorragenden
Arenen in Deutschland hier nachweisen, dass wir im Vorfeld und auch in der Spieldurchführung gemeinsam mit
dem DFB, mit der DFL, den Fanbeauftragten, mit den
Fangruppen eine gute Arbeit leisten, dass solche Möglichkeiten, wie sie in Italien gegeben sind, hier nicht passieren. Wir hatten das Glück, 2006 mit der Weltmeisterschaft alle Stadien auf einen Top-Zustand zu bringen und
damit auch dafür zu sorgen, dass die Qualität der Stadien
einem Erlebnisbereich gleichzusetzen ist, man kommt
also nicht nur mehr ins Stadion, um Fußball zu sehen,
sondern verbindet das mit Freizeit, mit Erlebnis, mit
Business, Gastronomie, mit Kontakting und natürlich
auch der entsprechenden Fankultur.
Ein weiteres negatives Element, das in den letzten Jahren in Ansätzen zu erkennen war, aber noch nicht offen
ausgebrochen ist, ist der Punkt der Diskriminierung. Hier
geht es nicht nur um ausländische Spieler, sondern auch
um Randgruppen wie Lesben und Schwule. Hierzu muss
ganz klar gesagt werden, es gibt schon Initiativen des
DFB, der DFL, der Fangruppen, diesem Einhalt zu gebieten. Nicht nur was die Fangruppen betrifft, sondern
auch in der Gerichtsbarkeit sind in der letzten Zeit nicht
nur Sportgerichtsurteile gesprochen worden, sondern wir
erinnern uns an den Fall, der vor zwei Wochen entschieden wurde, dass ein ordentliches Gericht einen NPDFunktionär wegen Verunglimpfung des Spielers Owomoyela
zu einer Haftstrafe verurteilt hat. Es gibt also hier schon
Handhabungen gegen solche Äußerungen und Hetze.
Wir dürfen nicht vergessen, dass in der Bundesliga
zurzeit 51 Prozent aller Lizenzspieler Nichtdeutsche sind.
Und das ist auch ein weiterer Ansatzpunkt, eine Initiative,
die ich nicht nur im Auftrage der CDU/CSU im Europarat
bereits vorgetragen, sondern auch der Kanzlerin nahegelegt habe, dieses mit den entsprechenden Verantwortlichen zu bereden, dass die 6-plus-5-Regelung greift.
6 plus 5 heißt, dass in jeder Startformation einer Fußballmannschaft mindestens 6 deutsche Spieler aufgeboten
werden müssen, denn sonst haben wir eine Situation wie
vor Jahren in Cottbus oder jetzt in Hoffenheim, dass nicht
ein deutscher Spieler weder auf dem Platz stand noch auf
der Ersatzbank Platz nehmen konnte. Ich denke, das ist
auch ein wesentlicher Faktor von Integration im Fußballsport, aber auch Motivation für die Jugend, aus der
Breite des Fußballs heraus den Weg in die Spitze zu finden.
Die UEFA hat dazu auf ihrem ordentlichen Kongress
im März dieses Jahres unter anderem die Arbeitsgrundlagen beschlossen. In diesen wird über den Breitenfußfall
und Solidarität gesprochen, über finanzielles Fairplay
und Regularität der Wettbewerbe, über das europäische
Zu Protokoll gegebene Reden
Sportmodell und die Besonderheit des Sports und besonders über den Respekt. Dazu wird gesagt, ich zitiere:
„Respekt ist ein wichtiger Grundsatz im Fußball. Respekt
gegenüber dem Spiel, der Integrität, der Verschiedenartigkeit, der Würde, der Gesundheit der Spieler, den Spielregeln, dem Schiedsrichter, dem Gegner und den Fans.
Unsere Botschaft ist klar. Null Toleranz gegenüber Rassismus, Gewalt und Doping. Fußball eint Völker und
überkommt Unterschiede. Für die UEFA ist nur die Farbe
des Trikots wichtig und so wird es auch immer bleiben.
Rassismus und Diskriminierung werden in keinerlei
Weise toleriert, genauso wenig wie Gewalt auf dem Spielfeld oder in den Zuschauerrängen. Der Fußball muss mit
gutem Beispiel vorangehen.“ Ich glaube, treffender kann
man es nicht formulieren, wie die UEFA, der europäische
Fußballverband, bereits damit seine Landesverbände
ausrichtet und ihnen dabei Unterstützung gibt.
Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie fordern
Bürgerrechte von Fußballfans ein, sie sollen gestärkt
werden, aber wenn ich ins Stadion gehe, bin ich zu Gast
bei einem Verein, bei einer Fußballföderation, bei einem
Verband, und dann muss ich mich auch benehmen und
muss mich bestimmten Regularien unterwerfen. Es ist
keine Diskriminierung der Fans, sondern im Interesse des
Sportes gibt es Kontrollen, muss es Kontrollen geben zur
Sicherheit der Fans, zur Sicherheit der Spieler, zur Sicherheit des Fußballs. Und ich glaube, da kann ich nicht
von Stärkung von Bürgerrechten der Fußballfans reden.
Ich glaube, dass der Sport an erster Stelle steht, hier speziell der Fußballsport, der politische Unterstützung in
Sachen braucht, die er nicht selber regeln kann. Wir können aber alles das, was Sie in Ihrem Antrag beschreiben,
selber mit der Autonomie des Sportes in der Zusammenarbeit mit der Politik und der Administration selbst regulieren.
Natürlich gibt es auch soziale Brennpunkte, die sich
auch im Bereich des Sportes, im Bereich des Fußballs, negativ artikulieren. Wir hören immer wieder, dass es in
Wohngegenden mit großem Migrationhintergrund, wie im
Ruhrgebiet oder in Berlin, häufig auch im Nachwuchsbereich zu schweren Auseinandersetzungen, zu Diskriminierungen, aber auch zu Spielabbrüchen kommt, weil
ganz einfach die Regeln des Respekts, die Regeln des
Fußballs und des normalen Zusammenlebens nicht eingehalten werden. Aber wir können im Bereich des Nachwuchses der A- oder B-Junioren nicht die gleichen Maßstäbe wie bei einem Bundesligaspiel ansetzen. Hier ist die
Gesellschaft gefragt, hier sind die Erzieher, die Trainer,
die Übungsleiter, die Eltern gefragt, Einfluss zu nehmen
auf ein sportliches faires Zusammenwirken. Integration
heißt dann nicht, dass nur ausländische Mannschaften in
einer Liga spielen, sondern dass die Liga gemischt ist und
auch alle Nationalitäten Zugang zu dieser Mannschaft
haben. Und ich denke, gerade hier in Berlin, in diesem
Schmelztiegel der Nationen, gibt es viele positive Beispiele, wie man das bewerkstelligen kann. So war ich im
letzten Jahr Schirmherr der Mini-Europameisterschaft,
das heißt, wir haben mit D-Jugend-Mannschaften das
EM-Turnier nachgespielt. Dass heißt, wir haben versucht, dass die schwedische Mannschaft aus schwedischen Kindern bestand, wir haben das über die Botschaft,
über die Schule gemacht, türkische Mannschaft, italienische Mannschaft, natürlich die Deutschen. Und es war
nicht nur eine Identifikation der Jugendlichen mit ihrer
Nation, sondern es war auch eine sportliche Herausforderung und Integration aller Nationen in einem solchen
Turnier. Diese Turnierform wurde vom Berliner Senat
ausgezeichnet, und ich glaube, das sind Ansätze, das sind
Möglichkeiten, der Diskriminierung entgegenzutreten
und den Fußball als integrativen gesellschaftlichen Faktor zu entwickeln.
Ich glaube, ich habe Ihnen damit aufgezeigt, dass der
Antrag von Ihnen nur mehr Bürokratie, aber keine Hilfe
bringt, weil wir schon auf einem sehr guten Weg sind.
Zunächst möchte ich sagen, dass ich sehr dankbar bin,
dass wir heute den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen
für einen friedlichen und integrativen Fußballsport beraten. Sie betonen in Ihrem Antrag völlig zu Recht das gewaltige sportliche und gesellschaftliche Potenzial, das
dem Fußballsport innewohnt. Im DFB sind 26 000 Vereine mit 6,5 Millionen Mitgliedern organisiert, ein Potenzial, das genutzt werden kann, um Völkerverständigung
und das gesellschaftliche Zusammenwachsen zu fördern,
so wie es die Menschen in Deutschland anlässlich der
Fußballweltmeisterschaft 2006 vorgelebt haben. Der
Fußball besitzt ein Potenzial, das über soziale und kulturelle Grenzen hinweg verbinden kann.
Leider kann dieses Potenzial auch missbraucht werden. So sind es gegenwärtig gerade Anhänger der extremen Rechten, die den Fußball vor den eigenen Karren
spannen wollen, um nationalistisches und menschenfeindliches Gedankengut zu verbreiten. Erinnern wir uns:
Erst Ende des vergangenen Monats wurden NPD-Chef
Udo Voigt und sein Bundessprecher Klaus Beier wegen
Volksverhetzung zu mehrmonatigen Bewährungsstrafen
verurteilt. Sie hatten anlässlich der WM einen Terminplaner veröffentlicht, in dem der damalige Nationalspieler
Patrick Owomoyela rassistisch beleidigt wurde. Gerade
in den neuen Bundesländern versucht die rechtsextreme
Partei durch sogenannte nationale Fußballturniere
Nachwuchs für die Szene zu ködern und sich in Vereinsstrukturen festzusetzen.
Sie stellen in Ihrem Antrag völlig zu Recht fest, dass
rechtsextreme, antisemitische und rassistische Äußerungen auf den Rängen der Bundesligavereine tendenziell
zurückgehen. Wir beobachten aber auch, dass sie sich
zum Teil lediglich ins Vorfeld verlagern oder in die unteren Ligen abwandern, wo der Beobachtungsdruck durch
Polizei und Medien weniger stark ist. Auch und gerade
hier ist es notwendig, die Vereine stark zu machen.
Die Förderung von Fanarbeit ist dabei ein richtiges
und wichtiges Instrument. Deshalb war es der SPD - und
mir ganz persönlich - schon immer ein Anliegen, die
Rechte der Fußballfans zu stärken und die Fanprojekte zu
unterstützen. Seit 2007 stehe ich in Kontakt mit der Koordinierungsstelle Fanprojekte - KOS - in Frankfurt, die
mittlerweile mehr als 40 Initiativen betreut. So kam die
Anhörung im Sportausschuss vom November 2008, bei
der die KOS und DFB-Präsident Theo Zwanziger zur
Zu Protokoll gegebene Reden
Lage der Faninitiativen in Deutschland Stellung nehmen
konnten, nicht zuletzt auf unser Betreiben hin zustande.
Aus den Ergebnissen der Anhörung haben wir bereits die
ersten Konsequenzen gezogen. So wurden auf Initiative
der SPD-Fraktion die Mittel für die Koordinierungsstelle
Fanprojekte im Jahr 2009 von 157 000 Euro auf
187 000 Euro erhöht. Bündnis 90/Die Grünen fordern ja
unter Punkt 7 ihres Antrags die Erhöhung dieser Mittel.
Da kann ich für meine Fraktion nur sagen: Gute Idee,
aber von uns schon erledigt.
Und so verhält es sich mit einigen Punkten in Ihrem
Antrag, sodass wir von der SPD den Antrag insgesamt
ablehnen müssen. Ich möchte Ihnen hierzu einige Stichpunkte nennen: So fordern Sie unter Punkt 1, dass alle
Fußballvereine die Erklärung des DFB und der DFL
„Gegen Diskriminierung im Fußball“ unterzeichnen. Sehen wir genauso, es wäre sehr wünschenswert, wenn sich
wirklich alle Vereine dieser Erklärung anschließen würden. Nur: Dies ist Sache des autonomen Sports. Wir stellen die Autonomie des Sports nicht infrage, so wünschenswert dies im vorliegenden Einzelfall auch sein
mag.
Auch an anderen Punkten dachte ich beim Lesen Ihres
Antrags: gute Idee - aber leider knapp daneben. Ein Beispiel: Sie wollen die Zusammenarbeit zwischen Fanprojekten und der Bundespolizei verbessern. Hört sich sehr
gut an - aber: Meiner Kenntnis nach kommen die Fußballfans mit der Bundespolizei fast ausschließlich in Zügen und an Bahnhöfen in Berührung. Da ist natürlich ein
gutes Miteinander auch wichtig, aber ich glaube, das ist
doch wohl eher ein kleineres Problem in diesem Themenkreis. Viel wichtiger ist doch die Zusammenarbeit mit
den Ländern und deren Polizeien, die ja die Hauptlast
und -verantwortung bei den Spielen tragen. Insofern
auch hier: gute Idee, aber leider wieder knapp vorbei.
Obwohl wir den Antrag wegen einiger Mängel ablehnen werden, so bin ich doch froh, dass wir aufgrund des
Antrags von Bündnis 90/Die Grünen die Situation der
Fußballfans diskutieren können. Denn ich glaube, auch
diese Debatten führen an einigen Stellen zur Einsicht. Wie
oft, Kollege Herrmann, haben wir in Baden-Württemberg
gefordert, dass endlich die Fanprojekte von Karlsruhe
und Mannheim vom Land mitgefördert werden, wie es die
Arbeitsgruppe Nationales Konzept für Sport und Sicherheit - NKSS - schon im Jahr 1992 gefordert hat. An Unterstützungsbedarf für weitere Projekte mangelt es nicht ich denke da ganz besonders an das Beispiel Stuttgart.
Bislang hatte sich Baden-Württemberg bei der vereinbarten Drittelfinanzierung zwischen Verbänden, Kommunen
und Bundesländern vornehm zurückgehalten. Nun berichten mir meine Kolleginnen und Kollegen aus dem
Landtag Baden-Württemberg, dass für das Haushaltsjahr
2009 erstmals Mittel hierfür zur Verfügung gestellt wurden. Ein schöner Erfolg, nach 17 Jahren. Da findet der
Satz von Max Weber wieder Bestätigung: Politik ist das
beharrliche Bohren dicker Bretter. Das Brett fand ich jetzt
zwar nicht so dick, aber dafür mussten wir umso beharrlicher bohren. 2007 konnte ich mich beim Fanprojekt des
Karlsruher Sport-Clubs selbst von der hervorragenden
Qualität der Arbeit überzeugen, die man dort leistet.
Umso mehr freut es mich, dass dieses Engagement endlich auch vonseiten der Landesregierung die verdiente
Unterstützung erfährt.
Aber zurück zu Ihrem Antrag. Lobenswert finde ich
den Ansatz, auch die bislang oft vernachlässigten Formen von Diskriminierung aufzugreifen. Denn auch Sexismus und Homophobie sind Phänomene, die es speziell im
Fußball zu bekämpfen gilt, ob auf dem Platz, auf den Rängen oder außerhalb der Stadien. Sie können sich sicher
sein, dass wir auf diesen Gebieten mit eigenen, schlüssigeren Initiativen aufwarten werden.
Im Interesse des Fußballs werden wir auch weiterhin
eng mit den Fanprojekten, den Verbänden und den Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten und gemeinsam
gegen die geschilderten Tendenzen im Breitensport angehen. Wir sehen uns an der Seite der überwiegenden Mehrzahl der Fußballfans, die friedlich und weltoffen ihre Begeisterung für die „schönste Nebensache der Welt“ leben
und Spiel für Spiel mit ihrer Mannschaft mitfiebern.
An alle Freunde des Fußballs geht mein Wunsch: Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass Extremismus,
Intoleranz und Gewalt in unserem Sport keine Chance
haben. Dabei sind alle gefragt: vom Amateur über den
Bundesligaprofi, vom Stadionsprecher bis zum Zeugwart.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
verspreche Ihnen: Wir bleiben in der Sache am Ball. Ihren Antrag sehen wir aber - trotz guter Ansätze - im politischen Abseits.
Diskriminierung, Gewaltbereitschaft, Intoleranz,
Hass, Rassismus und Extremismus haben im Fußball
nichts verloren - sie müssen aus den Köpfen verschwinden und gesellschaftlich geächtet werden.
Die in der 61. Sitzung des Sportausschusses durchgeführte Anhörung zum Thema Extremismus und Gewalt im
Fußball hat uns gezeigt, dass noch einiges geschehen
muss, um Gewalt und Intoleranz aus den Stadien zu verbannen. Eines ist klar: Rassistische oder intolerante Entwicklungen sind bestimmt nicht ein Spezialproblem des
Fußballs; aber was woanders eher im Verborgenen geschieht: Hier treten diese negativen Tendenzen besonders
in das Licht der Öffentlichkeit. Wir müssen hier aber unterscheiden: zwischen dem Profifußball auf der einen
Seite, der ja sehr stark mit professionellen Sicherheitsmaßnahmen geregelt ist, und der Situation im Amateurund Jugendfußball andererseits. Gerade im Nachwuchsbereich kann der Sport Enormes leisten - er kann die Ideale von Frieden, Toleranz und Verständnis füreinander entscheidend fördern. Er macht die Werte des Teamgeists
und der Multikulturalität erlebbar. Sport kann präventiv
gegen Gewalt wirken - viel mehr, als es Ordnungskräfte
oder gar Gesetze jemals leisten können. Ein gelungenes
Beispiel war die FIFA-Fußballweltmeisterschaft im Jahre
2006. Die Welt war damals wirklich zu Gast bei Freunden. Friedlich feierte man auf den Fanmeilen Siege und
Niederlagen in entspannter Stimmung. Deutschland
konnte sich als tolerantes, weltoffenes Land präsentieren.
Ich hoffe, dass wir in Südafrika im nächsten Jahr Ähnliches erleben werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ein friedlicher und integrativer Sport kann allerdings
nur aus einer Gesellschaft hervorgehen, in der die Begriffe Frieden und Integration eben nicht leere Phrasen,
sondern mit Leben gefüllt sind; einer Gesellschaft, in der
das Fair Play auch im Alltag von jedem Einzelnen gelebt
wird. Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass es hierzu
aller Anstrengungen bedarf und dass wir von diesem gesellschaftlichen Ideal leider noch meilenweit entfernt
sind. Hierfür muss in Vereinen, Schulen und Familien
noch intensiver gearbeitet werden. Dem Nachwuchs müssen so früh wie möglich diese Werte nahegebracht werden. Sportliche und gesellschaftliche Kompetenzen von
Trainern und Jugendbeauftragten sind wichtig - sie gilt
es verstärkt zu fördern. Wenn sie Kindern und Jugendlichen erfolgreich die Werte des Fair Play vermitteln können und sie in der Lage sind, dem Nachwuchs zu vermitteln, dass diese Werte noch vor dem Sieg stehen - dann ist
viel gewonnen. Wir müssen die Aus- und Weiterbildung
der Trainer und Übungsleiter auf diesem Gebiet intensivieren und stärker fördern. In den Vereinen muss die Wertevermittlung noch stärker zu einer Selbstverständlichkeit werden. Das gilt auch für das Verhalten der Mütter
und Väter am Spielfeldrand.
Auch in Schulen muss an diesem Ansatz gearbeitet
werden. Nicht nur Sportlehrer müssen ihrer Vorbildfunktion gewachsen sein und die zu vermittelnden Werte leben. Unsere Kollegen in den Ländern dürfen es nicht versäumen, sich für einen starken Schulsport einzusetzen.
Viele Grundsätze, die hier erfolgreich vermittelt werden,
begleiten die Jugendlichen ein Leben lang. Bewegung,
Spiel und Sport müssen Bausteine einer gewaltpräventiven Jugendkultur sein. Dies bedeutet auch, dass mehr
körper- und bewegungsbezogene Angebote in Schulen
und Vereinen angeboten werden müssen. Daraus ergibt
sich die Forderung, die Verbindung von Schule und Vereinen zu stärken, um Prävention durch Sport bestmöglich
zu fördern.
In Zeiten von Ganztagschulen wird häufig die Rolle
der Familie kleingeredet. Viele von uns wissen jedoch,
wie wichtig für unser Leben die Wertevermittlung durch
die Eltern gewesen ist. Wir dürfen Eltern nicht aus der
Verantwortung entlassen. Für den Nachwuchs bleibt der
Sport das wichtigste Erfahrungsfeld, auf dem sie Erfolg,
Selbstbestätigung, die Erfahrung positiver Gruppenerlebnisse und Anerkennung erfahren. Nur wenn Jugendliche dies positiv erfahren, werden aus ihnen tolerante, offene Erwachsene, die Gewalt verabscheuen.
DFB und DFL investieren viel in die Förderung von
Jugendprojekten und sie leisten ihren Beitrag zur Gewaltprävention im Fußball. Diesen Weg müssen wir weiterhin
unterstützen. Nur durch entschiedene und vielseitige Präventionsarbeit werden wir es schaffen, negative Auswüchse wie Gewaltbereitschaft, Intoleranz, Hass, Rassismus und Extremismus aus dem Sport zu verbannen.
Gesetzliche Maßnahmen können die Probleme leider
nicht erfolgreich beseitigen, sondern nur den Schaden begrenzen. Der Umgang mit der Datei „Gewalttäter Sport“
hat auch die Grenzen des Staates aufgezeigt und den Konflikt hinsichtlich des Datenschutz offengelegt. Hier erwartet die FDP eine lebensnahe Lösung, die den modernen Datenschutzbestimmungen gerecht wird.
Zudem muss es uns allen gelingen, gemeinsam das Zusammenspiel zwischen Prävention, Repression und Integration zu optimieren. DFB und DFL haben auf dem Gebiet der Gewaltprävention schon viel erreicht - es gilt
nun, tragfähige Konzepte weiterzuentwickeln, wie Diskriminierung im Fußball effektiv bekämpft werden kann. Auf
die Erfahrungen der „Koordinationsstelle Fanprojekte“
muss in diesem Zusammenhang zurückgegriffen werden denn eines steht fest: Wir dürfen jeder Form von Diskriminierung, ganz gleich wo, keine Chance geben!
Fußball ist zweifellos eine beliebte und vor allem sehr
emotionale Sportart. Nirgends sonst reagieren Zuschauerinnen und Zuschauer so emotional und heftig wie hier.
Diskriminierende Äußerungen und gewalttätige Auseinandersetzungen sind beim Fußball im Vergleich zu anderen Sportarten am häufigsten anzutreffen und stellen
ein nicht zu unterschätzendes Problem dar.
Deshalb begrüßt Die Linke den Antrag der Grünen
ausdrücklich, sich diesem Thema zu widmen. Die hier
aufgezeigten Möglichkeiten sind aus unserer Sicht durchaus geeignet, Diskriminierungen nicht nur zu thematisieren, sondern ihnen auch zu begegnen. Allerdings, und das
will ich zu Beginn deutlich sagen, wenn von einem gesamtgesellschaftlichen Problem gesprochen wird, reichen die im Antrag aufgeführten Maßnahmen nicht aus.
Gewaltpotenzial ist oft auch eine Reaktion auf gesellschaftliche Bedingungen, aus einer Situation heraus, in
der sich Fans befinden. Wenn Menschen aus sozial
schwierigen Verhältnissen kommen, sie selbst wenig Anerkennung im Leben erfahren, ist der Fußball mit seiner
„Gruppendynamik“ im Fanblock durchaus ein Ventil …
Und Gewalt ist in der Gesellschaft inzwischen fast überall präsent! Ein Ergebnis Ihrer Politik, meine Damen und
Herren der Großen Koalition, einer Politik, die auf Entsolidarisierung und Diskriminierung setzt. Und hier muss
der gesamtgesellschaftliche Ansatz erfolgen.
Unsere Fraktion hat in der Legislatur mehrfach Gespräche mit Fanvertretern geführt. Aus bürgerrechtlicher
Sicht ist vor allem die Gewalttäterdatei Sport zu nennen,
die zu großen Problemen in der Vergangenheit geführt
hat. Hier hat die scheinbar willkürliche Speicherung von
Personen dazu geführt, dass Stadionverbote ausgesprochen wurden, ohne dass die betroffenen Personen konkret
wussten, was ihnen vorgeworfen wurde. Zum Teil reicht
es, in Zügen oder Bussen mit Personen gefahren zu sein,
die dann als Gewalttäter identifiziert wurden. Diese Pauschalierung hat zu viel Frust und Aggressionspotenzial
bei den Fans geführt. Hier müssen Datenschutz und die
Informationspflicht an die Betroffenen gewährleistet werden, der Überwachungswahnsinn Schäubles kann nicht
alle Fans unter Generalverdacht stellen!
Natürlich muss es Präventions- und Sicherheitsmaßnahmen geben, aber die Verhältnismäßigkeit darf dabei
nicht außer Acht gelassen werden. Der Umgang mit den
Fans beim Weg zum Stadion wird oft zu sehr eingeschränkt, Polizeieskorten oder das Einsperren in sepaZu Protokoll gegebene Reden
rate Blocks im Stadion halten wir für problematisch. Der
DFB betreibt deutschlandweit Fanprojekte, die in den
Städten ihre Wirkung zeigen. Und das Engagement von
Theo Zwanziger muss man an dieser Stelle auch würdigen. Aber die Finanzierung dieser Projekte hängt an der
Drittelung. Wir sagen, der Fußballbund hat so viel Geld
und kann seinen Anteil erhöhen. Länder und Kommunen
haben oft klamme öffentliche Haushalte und haben es
schwer, ihren Anteil zu erbringen. Deshalb sollten Bund
und DFB die Finanzierung von Fanprojekten übernehmen! Von Finanzmitteln für Sonderprogramme halte ich
nicht viel, denn eine stabile Finanzierung ist erforderlich.
Abschließend sei mir noch eine Bemerkung erlaubt:
Wenn alle Formen von Diskriminierungen thematisiert
werden sollen, fehlt im Antrag die Diskriminierung von
Menschen mit Behinderungen. Ein Rollstuhlfahrer empfindet es als Diskriminierung, wenn er nicht barrierefrei
ins Stadion kommt! Darüber sollten wir auch reden!
Wenn wir über Fußball reden, dann sprechen wir über
eine der beliebtesten Freizeitaktivitäten hierzulande. Die
Zahlen sprechen für sich: Im Deutschen Fußball-Bund
sind über 6 Millionen Mitglieder in mehr als 25 000 Vereinen organisiert. Allein in der 1. und der 2. Bundesliga
verfolgten 17 Millionen Fans die Spiele der letzten Saison.
Daneben können seit Jahren die negativen Begleiterscheinungen des Fußballs beobachtet werden. Leider
werden immer wieder Spieler und Anhänger oder -innen
Opfer von diskriminierenden Äußerungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Gemeinsam mit den Vereinen, Verbänden und Fans wurden Initiativen gegen diese
gesellschaftlichen Phänomene angeregt, welche die integrative Wirkung des Fußballs wieder stärken sollen. Die
Aufgabenlage ist gesamtgesellschaftlicher Natur. Die
Politik ist aufgerufen, ihren Teil zur Lösung beizutragen.
In den letzten Monaten besuchten wir, die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, zahlreiche Fanprojekte. Unter dem Titel „Rote Karte für Gewalt und Intoleranz im Stadion“ informierten wir uns über die aktuelle
Lage in den jeweiligen Fußballszenen und die Arbeit der
örtlichen Fanprojekte. Die ganze Fülle an Informationen
ist Inhalt des hier behandelten Antrages.
Wissenschaftliche Untersuchungen und die Aussagen
von Multiplikatoren aus der Praxis belegen, dass in den
letzten Jahren diskriminierendes sowie neonazistisches
Verhalten der Fans zumindest in den Profiligen rückläufig ist. Diese Entwicklungen sind erste Anzeichen für den
Erfolg von zahlreichen Antidiskriminierungskampagnen,
wie beispielsweise der Kampagne „Gegen Diskriminierung im Fußball“. Darin erklären sich die teilnehmenden
Vereine und Verbände bereit, aktiv gegen jede Form von
Diskriminierung vorzugehen. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass dazu neben den bekannten Formen wie Rassismus und Antisemitismus beispielsweise auch Sexismus,
Homophobie und Antiziganismus gehören.
So erfreulich die Entwicklungen der Verhaltensweisen
von Fans in den Top-Ligen sind, muss an die unverändert
hohen Quoten von Menschen, bei denen diskriminierende
Einstellungen zum manifesten Bestandteil der eigenen
Identität gehören, erinnert werden. Der Fußball als
Brennglas der Gesellschaft ist davon ebenso betroffen.
Die bereits genannten negativen Verhaltensweisen treten
verstärkt in den unteren Ligen auf. Die antisemitisch motivierten Beleidigungen gegenüber den Spielern des Vereins TuS Makkabi Berlin stimmen nachdenklich. Die
verhältnismäßig geringe Berichterstattung in den Medien
sowie ein eher bescheidenes Interesse der jeweiligen
Fußballverbände an derartigen Vorkommnissen dürfen
über die vermutete Dunkelziffer nicht hinwegtäuschen.
Darüber hinaus sind im Jugend- und Amateurbereich
Neonazis aktiv, die an diese Einstellungsmuster andocken
können. Durch eine Unterwanderung von Vereinen oder
das Gründen eigener Clubs wird der Versuch unternommen, neonazistische Ideologie zu vermitteln.
Weitere Aspekte, die bei unserer Vorortreise immer
wieder erwähnt wurden, waren die Gewalt der Fans und
die Repression gegenüber diesen. Schon in den Anfangszeiten des modernen Fußballs gab es Gewalt. Das liegt
unter anderem an seiner männerdominierten Milieustruktur und an den klaren Feindbildern, die er bietet. Dennoch war lange Zeit ein Rückgang von gewalttätigen
Auseinandersetzungen zwischen den Fangruppen zu verzeichnen. Die Ursachen hierfür lagen in den sozialpädagogischen und ordnungspolitischen Maßnahmen,
die im Nationalen Konzept Sport und Sicherheit - NKSS formuliert wurden. Aber die Gewalt in und um die Stadien
ist weiterhin virulent. In der Szene der aktiven Fußballfans, die derzeit maßgeblich durch die Ultrakultur bestimmt wird, entwickelt sich ein neues Feindbild. Die
Polizei steht im Fokus der Kritik. Der Spieltag für einen
„aktiven“ Fan der oberen Ligen wird begleitet durch eine
massive Präsenz der Polizei, Videoüberwachung in den
Stadien und eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit in
den Städten bei Auswärtsspielen. Ebenso bestätigen Vertreter der Fansozialarbeit die teilweise unverhältnismäßigen und massiven Polizeieinsätze. Maßnahmen der
Ordnungsdienste im Einlassbereich, wo sich Fans mitunter komplett entkleiden müssen, um die Mitnahme von
Pyrotechnik ins Stadion zu unterbinden, ergänzen das Negativbild. Es stellt sich die Frage, ob die bürgerlichen
Grundrechte auch für Fußballfans gelten. Hier bedarf es
eines intensiven Dialoges, damit Freiheitsrechte und Sicherheits- und Verwertungsinteressen in Einklang gebracht werden können.
Für eine nachhaltige Verbesserung der Lage und die
zunehmende Stärkung der Selbstregulationsmechanismen in den Fanszenen erachten wir eine adäquate Finanzierung der Fanprojektarbeit für unerlässlich. Derzeit
werden nur sechs Projekte nach der Vorgaben des NKSS
gefördert - ein absolut unhaltbarer Zustand, zumal über
den Wert dieser sozialpädagogischen Arbeit kein Zweifel
mehr besteht. Hier kann der Bund, wie im Antrag formuliert, durch das Auflegen von Sonderprojekten, die gegen
Diskriminierung und Gewalt gerichtet sind, unterstützend eingreifen.
Die im NKSS formulierten ordnungspolitischen Bestimmungen zielen in erster Linie auf die kaum mehr im
Stadion präsenten Hooligans. Diese Maßnahmen auf die
neue Ultrabewegung anzuwenden, könnte diese Szene zuZu Protokoll gegebene Reden
nehmend radikalisieren. Daher regen wir zum gemeinsamen und institutionalisierten Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen an. Der Aufbau einer Ombudsoder Clearing-Stelle, die unbürokratisch zwischen Fans,
Verbänden, Vereinen, Fanprojekten und Sicherheitsbehörden, beispielsweise bei Stadionverboten, vermitteln
kann, wäre ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung konfliktlösender Verständigung.
Darüber hinaus fordern wir die Einrichtung einer
„Antidiskriminierungsstelle Sport“. Gesellschaftliche
Phänomene wie Diskriminierung und Neonazis müssen
auch weiterhin im Profifußball wie im Jugend- und Amateursport thematisiert werden. Es bedarf der verstärkten
Unterstützung von Faninitiativen, die oftmals die ehrenamtlichen Seismografen in den jeweiligen Fanszenen
darstellen und nicht selten Pioniere in der Antidiskriminierungsarbeit waren und sind. Im Breitensport können
gewaltpräventive und antidiskriminierende Programme,
wie sie bereits in einigen Bundesländern existieren, dafür
Sorge tragen, dass die DFB-Vorgaben gegen Diskriminierung auch bis in die untersten Ligen vermittelt werden.
Das gemeinsame Interesse aller Akteure sollte ein friedliches und tolerantes Stadion sein, gleichsam Freiraum
und Erlebnisbereich für alle Gäste und Aktiven des
Sports.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12115 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 7. Mai 2009,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch unseren
Zuschauern auf der Tribüne einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.