Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/23/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Wie meistens am Donnerstagvormittag, gibt es einige Mitteilungen zu machen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Zunächst gibt es einige Glückwünsche zu übermitteln. Der Kollege Ludwig Stiegler hat am 9. April seinen 65. Geburtstag gefeiert. ({0}) - Ja, aber bedeutende Ereignisse verdienen trotz eines zeitlichen Abstandes eine angemessene Würdigung. Ihre 60. Geburtstage begingen die Kollegin Anke Eymer am 12. April und der Kollege Frank Hofmann am 21. April. Im Namen des ganzen Hauses übermittle ich ihnen alle guten Wünsche für die nächsten Jahre. ({1}) Der Kollege Dr. Rainer Wend hat mit Wirkung zum 1. April auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolgerin begrüße ich herzlich die uns bereits aus früheren Wahlperioden bekannte Kollegin Hildegard Wester. ({2}) Herzlich willkommen und auf gute Zusammenarbeit! Als Nachfolger des ausgeschiedenen Kollegen Dr. Rainer Wend im Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zollfahndungsdienstgesetzes schlägt die SPD-Fraktion den Kollegen Rolf Hempelmann vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist der Kollege Hempelmann gewählt. Die CDU/CSU-Fraktion hat vorgeschlagen, die Kollegin Julia Klöckner als Nachfolgerin des ebenfalls ausgeschiedenen Kollegen Ralf Göbel zum neuen stellvertretenden Mitglied im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ zu wählen. Darf ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Kollegin Klöckner in diese Funktion gewählt. Die Kollegin Karin Binder hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt die Fraktion Die Linke die Kollegin Sabine Zimmermann vor. Gibt es auch dazu Einvernehmen? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Kollegin Sabine Zimmermann zur Schriftführerin gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Konsequenzen aus dem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Berlin-Brandenburg zur militärischen Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide vom 27.03.2009 ({3}) ({4}) ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Chancen für die berufliche Bildung - Drucksache 16/12665 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({6}) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Frank Schäffler, CarlLudwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur der Unternehmensteuerreform - Drucksache 16/12525 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Geschmacksmustergesetzes - Drucksache 16/12586 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Christel Humme, Irmingard Schewe-Gerigk, Elke Ferner und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes - Drucksache 16/12664 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Erhöhung des Schonvermögens im Alter für Bezieher von Arbeitslosengeld II - Drucksache 16/5457 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ermäßigte Mehrwertsteuersätze für Hotellerie und Gastronomie in Deutschland einführen - Drucksache 16/12287 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Evaluierung des Verbraucherinformationsgesetzes muss so schnell wie möglich durchgeführt werden - Drucksache 16/12669 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({11}) Innenausschuss Rechtsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schutz von Arbeitnehmerdaten durch transparente und praxisgerechte Regelungen gesetzlich absichern - Drucksache 16/12670 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Andreas Scheuer, Dirk Fischer ({13}), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mobilität zukunftsfähig machen - Elektromobilität fördern - Drucksache 16/12693 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Nicole Maisch, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Manipulierte Strompreise - Verbraucherinteressen wahren - Drucksache 16/12692 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({16}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Federführung strittig j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vergaberecht konsequent sozial gestalten Gemeinnützige Unternehmen nicht benachteiligen - Drucksache 16/12694 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({17}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({18}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Federführung strittig ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({19}) Präsident Dr. Norbert Lammert a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und kostenrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/11385 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20}) - Drucksache 16/12717 - Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Dr. Carl-Christian Dressel Christoph Strässer Wolfgang Nešković b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im patentanwaltlichen Berufsrecht - Drucksache 16/12061 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21}) - Drucksache 16/12718 - Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Christoph Strässer Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang Nešković c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({22}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Carl-Ludwig Thiele, Rainer Brüderle und weiterer Abgeordneter der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder und weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae, Marieluise Beck ({23}), Volker Beck ({24}) und weiterer Abgeordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - zu dem Antrag der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksachen 16/12480, 16/12130, 16/12690 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Kaster Dr. Dieter Wiefelspütz Volker Schneider ({25}) ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung zum Anbauverbot des gentechnisch veränderten Mais MON 810 ZP 6 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen - Drucksachen 16/11131, 16/11641 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26}) - Drucksache 16/12465 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({27}) Michael Kauch Hans-Josef Fell - Bericht des Haushaltsausschusses ({28}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/12466 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte Andreas Weigel Ulrike Flach Michael Leutert Anna Lührmann ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({29}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Biokraftstoffen zurücknehmen - Nachhaltigkeitskriterien umgehend einführen - Drucksachen 16/5679, 16/12699 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Schindler Dr. Axel Troost ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Hartfrid Wolff ({30}), Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Drucksache 16/12663 23498 Präsident Dr. Norbert Lammert Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({31}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 9 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes - Drucksache 16/7615 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({32}) - Drucksache 16/12714 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Grosse-Brömer Dirk Manzewski Wolfgang Nešković ZP 10 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen ({33}) - Drucksachen 16/10532, 16/10582 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Birgitt Bender, Volker Beck ({34}), Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen ({35}) - Drucksache 16/3233 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({36}) - Drucksache 16/12713 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Carola Reimann ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Elke Hoff, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für einen Abzug der in Deutschland noch verbliebenen US-Nuklearwaffen - Drucksache 16/12667 ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die NPT-Überprüfungskonferenz im Jahre 2010 zum Erfolg führen - Für ein klares Bekenntnis zu dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt - Drucksache 16/12666 ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({37}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konkrete Schritte zur nuklearen Abrüstung jetzt einleiten - Nichtverbreitungsvertrag stärken - Drucksache 16/12685 ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Marieluise Beck ({38}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Initiative für eine atomwaffenfreie Welt unterstützen - Atomwaffen aus Deutschland abziehen - Drucksache 16/12686 ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Barth, Cornelia Pieper, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Klarheit beim Konjunkturpaket II - Bildungspolitische Handlungsspielräume für Länder und Kommunen einräumen - Drucksache 16/12668 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({39}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss ZP 16 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Investitionsund Tilgungsfonds“ - Drucksache 16/12662 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({40}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 17 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anordnung des Zensus 2011 sowie zur Änderung von Statistikgesetzen - Drucksache 16/12219 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({41}) - Drucksache 16/12711 Berichterstattung: Abgeordnete Kristina Köhler ({42}) Gisela Piltz Silke Stokar von Neuforn Präsident Dr. Norbert Lammert - Bericht des Haushaltsausschusses ({43}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/12712 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Luther Bettina Hagedorn Dr. h. c. Jürgen Koppelin Roland Claus Omid Nouripour Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 27 wird abgesetzt. Aufgrund der Auf- und Absetzung von Tagesordnungspunkten gibt es Änderungen in der Reihenfolge. Heute wird der Tagesordnungspunkt 8 nach dem Tagesordnungspunkt 11 aufgerufen, 12 nach 13, 14 nach 17, 16 nach 19, 18 nach 21, 20 nach 23, 22 nach 25, 24 nach 28 sowie 26 nach 29. Mich überrascht, dass niemand mitschreibt. ({44}) - Herr Kollege Westerwelle, das Angebot des Präsidiums, dass das, was man nicht sofort begreift oder mitbekommt, auf gezielte Nachfrage hin erläutert wird, gilt selbstverständlich für Koalition und Opposition in gleicher Weise. ({45}) Morgen wird der Tagesordnungspunkt 32 nach dem Tagesordnungspunkt 34 aufgerufen. Schließlich mache ich auf eine Reihe von nachträglichen Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({46}) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung datenschutzrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/12011 überwiesen: Innenausschuss ({47}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({48}) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 16/12255 überwiesen: Finanzausschuss ({49}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({50}) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/12279 überwiesen: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({51}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Der in der 212. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss ({52}) und dem Sportausschuss ({53}) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Wasserrechts - Drucksache 16/12275 überwiesen: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({54}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Der in der 215. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({55}) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen, Bernd Schmidbauer, Dr. Hans-Peter Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Thomas Oppermann, Joachim Stünker, Fritz Rudolf Körper, Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD Präsident Dr. Norbert Lammert sowie den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes - Drucksache 16/12411 überwiesen: Innenausschuss ({56}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen unbeschadet der sofortigen kompletten Wahrnehmung einverstanden? ({57}) Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen ist es genau zehn Jahre her, seit der Bundestag seine Arbeit in Berlin aufgenommen hat. Ich darf vielleicht daran erinnern, dass es nach der leidenschaftlichen Debatte und der denkbar knappen Entscheidung über den Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin eine erstaunlich schnelle und breite Übereinstimmung gegeben hat, das historische Reichstagsgebäude als Sitz des gesetzgebenden Verfassungsorgans zu nehmen. Heute sind beide Entscheidungen nahezu unumstritten. Nicht alle Erwartungen von damals mögen sich erfüllt haben, aber fast alle damaligen Besorgnisse oder Befürchtungen sind längst ausgeräumt. Berlin, die deutsche Hauptstadt, hat sich als Sitz von Regierung und Parlament ebenso bewährt wie der Reichstag als Parlamentsgebäude. Das ist nicht ganz so selbstverständlich, wie es uns heute erscheint. Deswegen möchte ich all denen danken, die den Umzug vorbereitet und durchgeführt haben, allen, die ihren besonderen Beitrag zum Gelingen geleistet haben. Das gilt für Bonner wie für Berliner, für Parlamentarier wie für Regierungsmitglieder und vor allen Dingen für die vielen, meist unauffälligen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den beteiligten Verwaltungen. ({58}) Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b so- wie Zusatzpunkt 2 auf: 3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2009 - Drucksache 16/12640 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({59}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({60}), Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Recht auf Ausbildung umsetzen - Ausbildungssystem reformieren, überbetriebliche Ausbildungsstätten ausbauen und Übergangsmaßnahmen anrechnen - Drucksache 16/12680 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({61}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Chancen für die berufliche Bildung - Drucksache 16/12665 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({62}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Annette Schavan. ({63})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Jeder Jugendliche braucht ein Angebot zu Ausbildung und Qualifizierung. Das war und ist das Ziel unserer Berufsbildungspolitik in den vergangenen Jahren. Der Berufsbildungsbericht 2009 zeigt ermutigende Fortschritte. Jugendliche in Deutschland haben wieder mehr Chancen als noch vor einigen Jahren. Das will ich anhand der Zahlen in drei Bereichen deutlich machen. Die erste und, wie ich finde, zentrale Zahl ist: Rund 619 000 Jugendliche waren im Jahre 2005 arbeitslos. Im Jahre 2008 waren es rund 340 000. Das sind 340 000 zu viel; aber es gab eine deutliche positive Veränderung in diesen drei Jahren. ({0}) Zweitens. Die Zahl der unvermittelten Bewerberinnen und Bewerber lag 2005 - Stichtag ist immer der 30. September - bei rund 40 000. Zum gleichen Zeitpunkt 2008 waren es rund 14 500. Das ist ein Rückgang um 64,5 Prozent. Drittens. Die Zahl der Ausbildungsverträge stieg von 550 000 im Jahre 2005 auf rund 616 000 im Jahr 2008. Das ist eine Steigerung um 12 Prozent. ({1}) An dem Verhältnis zwischen den Zahlen unvermittelter Bewerber und geschaffener Ausbildungsplätze wird zugleich deutlich, dass wir schon längst die Konsequenzen der demografischen Entwicklung zu tragen haben: Die Zahl der Schulabsolventen geht zurück - im vergangenen Jahr bereits um 33 000 -, und diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Diese Zahlen für den Zeitraum zwischen 2005 und 2008 sind das Ergebnis gemeinsamer Bemühungen im Ausbildungspakt - in der Großen Koalition, vor allem in den Unternehmen in Deutschland, beim Bund und den Ländern. Wir wissen aber, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der enge Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und Ausbildungsmarkt gilt auch jetzt. Die Erfolge bleiben nur dann bestehen, wenn alle am Ball bleiben und jedem klar ist: Ausbildung hat Vorrang. Wer in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht ausbildet, dem fehlen in wirtschaftlich guten Zeiten Fachkräfte. Das muss auch in diesem Jahr die Devise sein. ({2}) Die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage des Bundesinstituts für Berufsbildung, die heute veröffentlicht werden - befragt wurden rund 1 000 Unternehmen -, zeigen für 2009: 22 Prozent der Betriebe wollen ihr Ausbildungsplatzangebot im Vergleich zum letzten Ausbildungsjahr steigern; das ist die gute Nachricht. 32 Prozent der Betriebe geben an, ihr Engagement auf dem Niveau des Vorjahres halten zu wollen; auch das ist nicht schlecht. Aber immerhin 25 Prozent der Betriebe beabsichtigen, weniger Ausbildungsplätze anzubieten. Diese 25 Prozent begründen diesen Schritt, wie wir es aus der Vergangenheit kennen, mit der wirtschaftlich schwierigen Lage. Das gilt vor allen Dingen für Betriebe im Bereich Industrie und Handel und ganz besonders für Branchen, die in hohem Maße export- und konsumabhängig sind. Im Handwerk ist die Situation positiver. Insbesondere an die Adresse dieser 25 Prozent der Betriebe sage ich: Alles, was wir auf den verschiedenen politischen Ebenen jetzt tun, ist darauf ausgerichtet, möglichst bald wieder bessere Wachstumsquoten zu erreichen. Wer sich auf die Zeit nach der Krise vorbereiten und daran mitwirken will, dass - wovon wir alle überzeugt sind - Deutschland nach der Krise stärker ist als vorher, der muss jetzt stark in Ausbildung investieren. ({3}) Es wird in den nächsten Wochen wichtig sein, dass wir alle Instrumente nutzen, um einem Abwärtstrend entgegenzusteuern. Dazu gehören Programme des Bundes wie Jobstarter, das Ausbildungsprogramm Ost, der Ausbildungsbonus und die Qualifizierungsmaßnahmen für jene Jugendliche, die noch nicht die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ausbildung erfüllen. Wichtig sind darüber hinaus auch die zahlreichen Instrumente unserer Qualifizierungsinitiative „Aufstieg durch Bildung“. Dass all diese Maßnahmen helfen, zeigt die Bilanz der letzten drei Jahre. Im schwierigen Jahr 2009 sind sie umso bedeutender. Wir - die Kollegen Scholz, zu Guttenberg und ich werden mit unseren Partnern im Ausbildungspakt im Rahmen einer Sondersitzung im Juni dieses Jahres beraten: Welche Maßnahmen sind zusätzlich zu denen, die wir schon auf den Weg gebracht haben, von Bedeutung? Wo müssen zusätzliche Initiativen ergriffen werden? Was kann zum Beispiel getan werden, um für Unternehmen, die in Schwierigkeiten geraten sind oder die Unterstützung brauchen, um ihre Ausbildungskapazität erhöhen zu können, so etwas wie einen Schutzschirm für Ausbildungsplätze zu spannen? An die Adresse des Deutschen Bundestages und der Ministerien sage ich: Auch wir sollten in dieser sensiblen Situation alles tun, um unsere Ausbildungsquoten zu erhöhen. Die Ausbildungsquote im Bundesbildungsministerium beträgt derzeit knapp 10 Prozent. Ich finde, das ist für alle öffentlichen Behörden eine gute Marke. Wir müssen in einer solchen Situation vorangehen, um deutlich zu machen, dass wir es ernst meinen, wenn wir sagen: Jeder Jugendliche braucht eine Chance. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser besonderes Augenmerk muss den Jugendlichen mit Migrationshintergrund gelten. Wir wissen, dass der Anteil der Jugendlichen, der die Schule ohne Abschluss verlässt, unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund doppelt so hoch ist wie unter Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Wir wissen, dass ihr Anteil an der Berufsausbildung mit 24 Prozent niedrig ist und dass sie damit unterrepräsentiert sind. Deshalb war es gut, dass unter Federführung von Herrn Staatssekretär Storm und Frau Staatsministerin Böhmer Regionalkonferenzen stattgefunden haben mit Unternehmen und Unternehmern, die selbst, wie es immer heißt, einen Migrationshintergrund haben. Wir haben vereinbart, dass im Zeitraum 2005 bis 2010 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden. Auch das ist ein wichtiger Schritt; doch auch da dürfen wir nicht nachlassen. An die Adresse der Länder gerichtet füge ich hinzu: Entscheidend ist - vor jeder Vermittlung derer, die keinen Schulabschluss haben -, dass wir erreichen, dass jeder Jugendliche in Deutschland einen Schulabschluss macht und damit die Voraussetzungen mitbringt, eine Ausbildung erfolgreich durchlaufen zu können. ({5}) Richtig ist auch - ich habe es anfangs erwähnt -: Die Zahl der Schulabsolventen geht zurück. Die demografische Entwicklung hat dazu geführt, dass 2008 zwei Zahlen der Bundesagentur für Arbeit ganz anders als in den Jahren zuvor waren: Auf der einen Seite waren rund 19 000 Ausbildungsplätze unbesetzt, auf der anderen Seite hatten wir 14 479 unvermittelte Bewerber. Das heißt, aus der rechnerischen Lücke, über die wir in der Vergangenheit im Herbst oft gesprochen haben, ist ein sogenannter rechnerischer Überhang geworden. Ich sage aber ausdrücklich: Das ist nicht nur ein Erfolg der Ausbildungsbilanz, sondern das steht im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung, die uns auch in den nächsten Jahren beschäftigen wird. Die Zahlen haben noch einmal gezeigt, wie sehr das Thema Fachkräftemangel mit Berufsbildung und Ausbildungsbilanzen verbunden ist. Besonderes Augenmerk müssen wir auf die 82 000 Jugendlichen richten, die eigentlich eine Ausbildung wünschen, sich aber noch in Berufsvorbereitungsmaßnahmen und Praktika befinden. Dazu haben wir mit den Ländern beim Qualifizierungsgipfel zahlreiche Maßnahmen vereinbart. Es muss klar sein, dass nach Abschluss der Schule die Voraussetzungen für eine Ausbildung gegeben sind. Es dürfen nicht weitere Verzögerungen entstehen. Jugendliche, die so weit sind, müssen mit Vorrang ermutigt werden, indem man ihnen die Chance zu einer qualifizierten Ausbildung gibt. Es ist für sie von zentraler Bedeutung, dass sie im Anschluss an die Schule eine duale Ausbildung aufnehmen können. Schließlich sind da noch die sogenannten Altbewerber. Auch hier sage ich allerdings: Im Zeitraum von 2007 bis 2008 ist auch die Zahl der Altbewerber um fast 65 000 zurückgegangen. Ich nenne diese wenigen Zahlen, weil sie deutlich machen: Das, was an Maßnahmen auf den Weg gebracht worden ist - übrigens mit großem Engagement der Unternehmen und mit einer neuen Konzeption der Berufsvorbereitung: mit mehr Erfahrung in der Praxis, mit mehr individueller Förderung -, wirkt. Wir müssen jetzt dafür Sorge tragen, dass die Erfolge, die in den vergangenen drei Jahren erreicht worden sind und über die der Berufsbildungsbericht 2009 Rechenschaft ablegt, nicht aufs Spiel gesetzt werden. Gerade am Ende dieses Jahres müssen wir sagen können: Dieses Jahr ist genutzt worden, um Jugendliche in Deutschland zu ermutigen und ihnen die Chance zu geben, die sie brauchen und die sie erwarten können, und um damit zugleich das zu tun, was notwendig ist, damit der Fachkräftemangel in Deutschland in den nächsten Jahren nicht zu einer zentralen Wachstumsbremse wird. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Man kann sich, man muss sich und man soll sich über gute Nachrichten freuen. In diesem Sinne ist es ein positives Zeichen, dass mehr offene Ausbildungsplätze als Bewerber zu verzeichnen waren. Die mittelständische Wirtschaft, das Handwerk, der Handel erfüllen ihre Pflicht, und das weit über Soll. Das ist das herausragende Ereignis in wirtschaftlich schweren Zeiten. ({0}) Machen wir uns aber bitte nichts vor, Frau Ministerin: Wenn Sie aufgrund der Tatsache, dass am 30. September des vergangenen Jahres rund 19 500 unbesetzte Ausbildungsplätze circa 14 500 unversorgten Bewerberinnen und Bewerbern gegenüberstanden, am 1. April dieses Jahres in einer Presseerklärung davon sprechen, dass eine Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt geschafft sei, beschreibt das die Realität nun wirklich nicht richtig. Hier erwarte ich von einer Bundesregierung ein solideres Handeln. Es bedarf einer riesigen Kraftanstrengung, damit aus der Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland nicht auch noch eine Ausbildungskrise wird. ({1}) Sie wissen genau, dass Ihr Glück bei der Ausbildungsbilanz die rückgängigen Schülerzahlen sind. Reden wir einmal Tacheles: 5 000 offene Stellen „über den Durst“ ist Ihr Argument. Demgegenüber stehen eine beträchtlich zurückgegangene Zahl von Schulabgängern - dies haben Sie selbst angeführt -, 29 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze, die im Vorjahr zusätzlich geschaffen worden sind, 28 000 Plätze aus den Ländern Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die im Jahr zuvor mit dortigen Ausbildungsbonusregelungen geschaffen worden sind, und unversorgte Altbewerber im Berufsvorbereitungsjahr, von denen 4 000 in ein Praktikum gekommen sind und 16 000 in berufsvorbereitenden Maßnahmen geparkt werden. Mit diesen Zahlen müssen wir uns neben den von Ihnen genannten in der Realität beschäftigen. Deswegen, Frau Ministerin, darf sich die Bundesregierung nicht auf der demografischen Entwicklung ausruhen, auch nicht auf den Kraftanstrengungen des Mittelstandes, nicht auf der Arbeit von aktiven Landesregierungen und erst recht nicht auf statistischen Zahlen, die ausblenden, wie viele junge Menschen heute in der Bundesrepublik Deutschland leider immer noch in irgendwelchen Maßnahmen geparkt werden. ({2}) In wirtschaftlich guten Zeiten hätten wir eine Modernisierung der beruflichen Bildung gut vorbereiten können. Dass wir es nicht getan haben, holt uns nun ein. Spätestens jetzt erwarte ich von der Bundesregierung ein Handlungspaket Ausbildung, mit dem den jungen Menschen in Deutschland eine bildungspolitische und damit für ihr Leben sehr reale Perspektive gegeben wird. Um neue Chancen für eine berufliche Bildung aufzuzeigen, bedarf es eines umfangreichen Handlungspakets aus einem Guss. Ich greife einige Punkte heraus: Wir brauchen unbedingt mehr Flexibilität. Module, wie sie die IHK und der ZDH vorschlagen, sind der richtige Weg. Die Zahl zweijähriger Ausbildungen stagniert und geht sogar zurück. Sie sind aber ein wichtiger Einstieg gerade für junge Menschen, die aufgrund ihrer BilPatrick Meinhardt dungsabschlüsse eine Perspektive in Form eines schnellen Einstiegs in Ausbildung brauchen. Ferner brauchen wir ein besseres überbetriebliches Ausbildungsmanagement. Wir müssen jungen Menschen Chancen eröffnen, die mehr Zeit brauchen; wir müssen ihnen die Zeit geben, ihren Abschluss zu machen. Das ist eine wichtige Herausforderung in einer Krisenzeit. ({3}) Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen auch mehr Leistungsstärke. Gemeinsam mit dem ZDH haben wir als FDP die berechtigte Forderung nach einer Exzellenzinitiative für die Berufsbildung erhoben. Eine Ausbildung in einem Beruf spricht auch leistungsstarke Jugendliche an. Sich für eine Berufsausbildung oder eine Fortbildung zu entscheiden, bedeutet, in einem unternehmerischen Umfeld zu lernen und zu arbeiten, das vielfältige Karrierechancen, Selbstständigkeit und Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Auch diese Botschaft müssen wir immer wieder herausstellen: Eine Exzellenzinitiative „Berufliche Bildung“ würde dazu beitragen, dass die Kultur der Selbstständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland ein stärkeres Fundament bekommt. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade am heutigen Girls’ Day muss man darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass Ausbildungsberatung verbessert wird und Stereotypen aufgebrochen werden. Immer noch bewerben sich 75 Prozent der jungen Frauen auf 25 Ausbildungsberufe, und immer noch bewerben sich junge Männer schwerpunktmäßig im Bereich der Fertigungsberufe. Wir müssen über eine intensive Ausbildungsberatung erreichen, dass solche stereotypen Vorgehensweisen aufgebrochen werden und so für junge Menschen die Perspektive geschaffen wird, in andere Ausbildungsbereiche hineinzugehen. ({5}) Der Erfolg bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels hängt maßgeblich davon ab, ob wir es schaffen, die Ausbildungsreife der Absolventen zu verbessern. Deswegen ist es enorm wichtig, dass hier Transparenz geschaffen wird. Ein angehender Auszubildender muss sich schon in seiner Schullaufbahn umfassend über Anforderungsprofile und Perspektiven informieren. Der Praxisbezug muss verstärkt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass Schulabgänger nicht von einer Berufsvorbereitungsmaßnahme zur nächsten geschickt werden. Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir vom ersten Tag an eine praktische Berufsberatung in den Schulen. Frau Ministerin, Sie haben es angesprochen: Gerade in der Krise muss gewährleistet werden, dass jeder Auszubildende die Sicherheit hat, seine Ausbildung auch dann fortsetzen zu können, wenn der Betrieb, in dem er ausgebildet wird, insolvent wird. Hier haben Sie, Frau Ministerin, und die Bundesregierung die Chance, mit einem guten Konzept der Ausbildungssicherheit eine breite Mehrheit dieses Parlamentes hinter sich zu bringen. Nutzen Sie diese Chance! Die jungen Menschen sollten sehen, dass die Ausbildungspolitik nicht zum Spielball der Politik wird, sondern dass uns der persönliche Weg des einzelnen Auszubildenden über die Fraktionsgrenzen hinweg am Herzen liegt. Hier ist die Chance gegeben, dass wir mit einem gemeinsamen Konzept dieses Deutschen Bundestages einen richtigen Weg gehen. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz. ({0})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren in Deutschland, was Fachkräfte und Qualifikationspotenziale betrifft, viel über die Anforderungen. Eine der Aussagen, die bei dieser Gelegenheit zu Recht immer wieder diskutiert werden, ist, dass wir in Deutschland mehr akademisch Qualifizierte brauchen. Von der OECD und vielen anderen wird gesagt: Etwa ein Drittel aller jungen Leute eines Altersjahrgangs sollte studieren und ein Studium abschließen. Während wir das sagen, übersehen wir aber gerne - deshalb will ich darauf hinweisen -: Mit dieser Aussage ist verbunden, dass auch in Zukunft zwei Drittel aller jungen Leute in diesem Lande ihr ganzes Berufsleben auf der Basis einer klassischen Berufsausbildung, also einer Lehre, verbringen werden. Deshalb ist die Berufsausbildung auch in Zukunft die wichtigste Ausbildung in Deutschland. ({0}) Es ist deshalb wichtig, dass wir alles dafür tun, dass tatsächlich jeder eine Chance auf eine berufliche Qualifizierung bekommt. Das heißt, dass es in diesem Jahr, in dem die wirtschaftliche Lage schwerer und schwerer wird und in dem wir jeden Tag neue Meldungen darüber hören, wie die Wirtschaftsleistung zurückgeht, keine Konsequenzen für die Zahl der Ausbildungsverträge in Deutschland geben darf. ({1}) Die jungen Leute, die jetzt die Schule verlassen, können nichts dafür, dass sich einige anderswo auf der Welt an der Börse verspekuliert und mit Renditeerwartungen, die unrealistisch waren, die ganze Weltwirtschaft in eine Katastrophe geführt haben. Wir müssen dafür sorgen, dass genügend Ausbildungsverträge zur Verfügung stehen. Das heißt, die Zielmarke muss auch für dieses Jahr sein: Wir brauchen wieder über 600 000 Ausbildungsverträge. ({2}) Das geht nur mit gemeinsamer Anstrengung: der Wirtschaft, der Kammern, der Verbände, der Gewerkschaften, der Betriebsräte, der Unternehmensleitungen. Ich höre, dass viele zu dieser Anstrengung bereit sind. Ich unterhalte mich jetzt jeden Tag mit den Verantwortlichen. In den Gesprächen mit den Personalvorständen der DAX-30-Unternehmen haben alle zugesagt, dass sie ihre Ausbildungsleistungen in diesem Jahr nicht reduzieren werden. ({3}) Ich höre das auch aus dem Mittelstand und dem Handwerk. Wichtig ist, dass das am Ende auch stimmt und dass wir diese Zahlen tatsächlich erreichen, damit jeder diese Möglichkeit realisieren kann. ({4}) Meine Damen und Herren, ich glaube, wir müssen, wenn wir über Ausbildung diskutieren, auch darüber diskutieren, was wir für diejenigen tun, die nicht so gut sind. Natürlich haben wir es uns in unserer Sprache angewöhnt, darüber zu reden, dass wir erreichen wollen, dass alle ausbildungsgeeigneten jungen Leute einen Ausbildungsplatz finden. Aber da sind ja auch noch die anderen. Das sind keineswegs hoffnungslose Fälle, wie der Begriff der „Ausbildungsungeeigneten“ manchmal suggeriert. ({5}) Darunter sind ganz viele, bei denen es mit einiger Anstrengung schnell gelingen kann, dass sie eine Berufsausbildung erhalten. Wir haben viele gute Erfahrungen mit den Einstiegsqualifizierungen gemacht, die wir ausbauen und weiter fördern. Wir haben aber auch viele gute Erfahrungen mit ganz unterschiedlichen tariflichen und betrieblichen Modellen gemacht, in denen junge Leute, bei denen es mit der Ausbildung noch nicht gut hingehauen hat und die ein halbes Jahr, ein Dreivierteljahr oder ein Jahr lang ein Praktikum gemacht haben, hinterher erfolgreich die Berufsausbildung bestanden haben, und zwar mit Quoten von 90 bis 100 Prozent. Das zeigt: Niemand darf durch den Rost fallen; niemand darf aufgegeben werden. ({6}) Wir müssen uns natürlich mit den Konsequenzen der Bildungspolitik in Deutschland auseinandersetzen. Dass nach wie vor jedes Jahr 80 000 junge Leute die Schule verlassen, ohne einen Schulabschluss zu haben, das ist nicht naturgegeben, das ist Staatsversagen, und das dürfen wir nicht weiter hinnehmen. ({7}) Der Zusammenhang zwischen beruflicher Qualifikation, Schulbildung und Chancen im Arbeitsleben ist so offensichtlich, dass man gar nicht oft genug darauf hinweisen kann. 500 000 der Arbeitslosen haben keinen Schulabschluss, und fast alle sind Langzeitarbeitslose. Von daher ist es von zentraler Bedeutung, dass wir an dieser Situation etwas ändern. Ich bin froh darüber, dass wir im letzten Jahr beschlossen und in diesem Jahr rechtlich verankert haben, dass jeder dieser 500 000 Arbeitslosen sein Leben lang das Recht hat, den Schulabschluss nachzuholen, um seine Arbeitsmarktchancen zu verbessern. ({8}) Es ist auch richtig, dass wir dafür gesorgt haben, dass diejenigen, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten, bessere Chancen bekommen. Deshalb war es vernünftig, dass wir den Ausbildungsbonus auf den Weg gebracht haben. Über 13 000 junge Leute haben bereits von der Regelung profitiert, dass es gefördert wird, wenn für jemanden, der schon länger als ein Jahr auf einen Ausbildungsplatz wartet, ein neuer Ausbildungsplatz geschaffen wird. 13 000 junge Leute profitieren von einer Regelung, die erst seit Ende August gilt. Das ist ein großer Erfolg, und das ist ein guter Ansatzpunkt für dieses Jahr. ({9}) Wenn wir über Ausbildung reden, dann müssen wir auch darüber reden, dass wir denjenigen, die etwas können, die Talent haben, die Chance eröffnen, dass sie mehr aus dieser Berufsausbildung machen. Von daher ist es eine gute Entscheidung des Bildungsgipfels in Dresden gewesen, dass wir gesagt haben: Überall in Deutschland soll es neue Möglichkeiten des Zugangs zur Universität geben, ohne dass man eine Hochschulreife auf klassische Weise erworben hat. ({10}) Wie notwendig das Handeln in dieser Frage ist, sieht man an den Zahlen. In Deutschland studieren etwa 1,5 Prozent mit etwas anderem als der Hochschulreife. In anderen Ländern um uns herum sind es 10 bis 15 Prozent. Ein großer Teil derjenigen, die eine Berufsausbildung in der Schweiz beendet haben, geht direkt an die Universität. Das brauchen wir in Deutschland auch. Das wird auch den Ingenieurmangel in unserem Lande besser bekämpfen. ({11}) Wir müssen also etwas für diejenigen tun, die eine Berufsausbildung wollen. Ich will ein sehr ehrgeiziges Ziel für Deutschland, für unser Land und für unsere gemeinsamen Anstrengungen formulieren: Eigentlich müssen wir erreichen wollen, dass jeder, der Anfang 20 ist, entweder das Abitur oder einen Berufsschulabschluss hat. Das ist die Zielsetzung, die wir für Deutschland brauchen. Niemand sollte mit weniger als mit einer Berufsausbildung durch das lange Arbeitsleben gehen. ({12}) Das bedeutet auch, dass wir eine Garantie dafür brauchen, dass diejenigen, bei denen dies bis zum Alter von 20 Jahren nicht geklappt hat, notfalls ein staatliches Ausbildungsangebot bekommen, damit sie nicht weiter chancenlos versuchen müssen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Diese Garantie brauchen wir auch, und wir müssen dafür sorgen, dass das funktioniert. ({13}) Ein Angebot, das ich den Unternehmen machen will, soll an dieser Stelle formuliert sein - dazu brauchen wir nicht einmal neue Gesetze; das können wir mit unseren Förderinstrumentarien bereits jetzt verwirklichen -: Wer einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin hat, der oder die vielleicht schon 27 oder 31 Jahre alt ist und keine Ausbildung absolviert hat, jedoch will, dass das noch klappt, soll gefördert werden, weil man diese nicht mehr ganz so jungen Leute nicht auf das erste Lehrjahr mit den entsprechenden Ausbildungsvergütungen verweisen kann. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass es auch für diese Arbeitnehmer, die sich im Betrieb bewährt haben, die Chance gibt, in dem eigenen Unternehmen die Berufsausbildung nachzuholen, und zwar zu vertretbaren wirtschaftlichen Konditionen. ({14}) Wenn wir uns also dafür einsetzen, dass mehr qualifiziert wird, wenn wir dafür Sorge tragen, dass letztendlich jeder eine berufliche Qualifikation hat, dann tun wir auch das Richtige für die Zukunft unseres Landes. Ich werbe dafür, dass wir die Chance erkennen, die wir in Deutschland haben, und dass wir sie nicht an uns vorbeigehen lassen. Es gibt die einmalige Chance - vielleicht 10 bis 20 Jahre lang, das heißt im nächsten und übernächsten Jahrzehnt -, dass wir uns von der Massenarbeitslosigkeit der letzten drei Jahrzehnte verabschieden. Das hat etwas mit der Wirtschaftskraft dieses Landes, aber natürlich auch mit der demografischen Entwicklung zu tun, über die wir in den letzten Jahren immer wieder in der Form diskutiert haben, was es für Probleme macht, vor diesem Hintergrund die Finanzstabilität der Sozialversicherung zu organisieren. Aber auch der umgekehrte Effekt tritt jetzt ein - alle haben darüber gesprochen -, nämlich dass es weniger Arbeitnehmer gibt, die auf dem Arbeitsmarkt nach Arbeitsplätzen suchen. Man merkt es jetzt schon: Es wird sehr schnell dazu kommen, dass nicht jeder Ausbildungsplatz besetzt werden kann. Schon im nächsten Jahrzehnt - es beginnt in Kürze, falls man den einen oder anderen noch darauf hinweisen muss - wird das in diesem Lande so sein. Von daher sollten wir die Chance nutzen. Sie ist aber nur dann nutzbar, wenn wir sicherstellen, dass jeder über eine berufliche Qualifikation verfügt. Denn es gibt zwei Szenarien der künftigen Entwicklung. Ein Szenario ist, dass wir einen Fachkräftemangel haben, dass sich die Unternehmen um jeden Arbeitnehmer, der eine gute Ausbildung hat, balgen und dass es gleichzeitig Millionen Arbeitslose gibt, weil wir nicht ausreichend qualifiziert und ausgebildet haben. Das andere Szenario ist, dass wir jedem eine Ausbildung ermöglicht haben, über genügend Fachkräfte verfügen und deshalb die Arbeitslosigkeit sinkt, wie es in den letzten Jahrzehnten nicht möglich war. Wir dürfen nicht die Gelegenheit versäumen, dass das humane Interesse der Menschen und das wirtschaftliche Interesse der Unternehmen zusammenkommen. Das muss ausgenutzt werden. ({15}) Dass man für Bildung und Qualifizierung etwas tun muss, ist offensichtlich. Das zeigt sich auch im Etat des Bundesministers für Arbeit und Soziales und der BA; denn sie geben viel Geld für Bildung und Qualifizierung aus. ({16}) - Das war nicht die richtige Stelle. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, Sie müssen es allerdings ertragen, dass ein Parlament selbstständig entscheidet, wann es der Regierung zustimmen will und wann nicht. ({0})

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Präsident, auch wenn es Sie überrascht: Über Beifall beschwere ich mich eigentlich nie. ({0}) Trotzdem will ich auf Folgendes hinweisen: Dass wir so viel Geld dafür ausgeben, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass im Bildungssystem dieses Landes etwas im Argen liegt. Insofern sind es zwar stolze Zahlen, die zeigen, was wir unternehmen. Aber sie weisen auch darauf hin, dass man am Anfang mehr tun müsste, damit nicht hinterher so viel Geld ausgegeben werden muss. ({1}) Wir haben im Bereich SGB II und SGB III im letzten Jahr 330 000 junge Leute gefördert und dafür 2,73 Milliarden Euro ausgegeben. Insgesamt geben wir im Bereich SGB II und SGB III 9 Milliarden Euro für Bildung und Qualifizierung aus. Das beweist, dass wir den richtigen Trend unterstützen und etwas für die Qualifikation unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit für die Zukunft unseres Landes tun. Aber es ist auch ein Ansporn, dafür zu sorgen, dass es im Primärsystem der Ausbildung besser läuft. Das dürfen wir in diesem Zusammenhang niemals vergessen. ({2}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam alles dafür tun, dass es gelingt. Auch in diesem Jahr muss jeder junge Mann und jede junge Frau einen Ausbildungsplatz finden. Wir wollen mehr als 600 000 Ausbildungsverträge auch im Jahr 2009. Schönen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Herr Minister, im Appellieren und Halten von Sonntagsreden bekommen Sie von uns ganz gewiss eine Eins. Was aber die konkrete Politik betrifft, ist es eine glatte Sechs. ({0}) Frau Schavan, Sie haben von einem Schutzschirm für die Ausbildung gesprochen. Tatsächlich zeigt das, was Sie konkret anbieten und was Sie hier vorgeschlagen haben, aber, dass Sie tatenlos zusehen, wie die Wirtschaftskrise jetzt auch den ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen voll und ganz auf die Füße fällt. Die Linke sagt: Das darf nicht sein. Wir brauchen in der beruflichen Bildung endlich eine Politik, die Ernst damit macht, dass jeder Jugendliche das Recht auf eine Ausbildung hat. ({1}) Frau Schavan, Sie haben von ermutigenden Fortschritten gesprochen. Wir haben die übliche Behauptung gehört, dass alles in schönster und bester Ordnung sei. Damit lassen sich Jugendliche heutzutage aber nicht mehr abspeisen. Ich beginne mit der ersten Behauptung, der Statistik. Im Berufsbildungsbericht ist nachzulesen, dass es 19 500 offene Stellen gibt und dass fast alle Jugendlichen versorgt sind. Man kann sich für diesen Befund selber auf die Schultern klopfen. Wenn man aber etwas genauer nachliest und sich anschaut, was sich in Ihrer Statistik hinter dem Terminus „versorgte Jugendliche“ verbirgt, dann stellt man fest, dass es sich zu einem ganz großen Prozentsatz um Jugendliche handelt, die in eine Berufsvorbereitungsmaßnahme abgeschoben wurden, eine Einstiegsqualifizierung absolvieren oder angefangen haben, zu jobben, und sich zunächst nicht zurückgemeldet haben. Es kann keine Rede davon sein, dass diese Jugendlichen versorgt sind, wenn sie in Wirklichkeit im Übergangssystem irgendwo in der Statistik verschwunden sind. Um auf die Zahlen zurückzukommen: Wenn man sich anschaut, wie viele Jugendliche einfach „verschwunden“ sind, dann muss man davon ausgehen, dass es sich um mindestens 250 000 Jugendliche handelt. Demgegenüber steht Ihre Behauptung von 19 500 offenen Stellen. Man braucht wirklich kein Mathematikstudium absolviert zu haben, um festzustellen, dass hier ein krasses Missverhältnis besteht und dass nicht jeder Jugendliche eine Chance auf einen Ausbildungsplatz hat. ({2}) Die zweite Behauptung, die immer wieder aufgestellt wird, lautet: Der Ausbildungspakt ist ein Erfolg. Sie selber sagen, der Ausbildungspakt solle dazu dienen, ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot für alle Jugendlichen zur Verfügung zu stellen. Nun haben wir erst gestern gehört, dass im letzten Jahr 2,1 Prozent weniger Ausbildungsverträge geschlossen wurden. Da frage ich mich: Wie passt das zusammen? Der Ausbildungspakt soll ein Erfolg sein? In Wirklichkeit führt er aber dazu, dass mehr Ausbildungsplätze abgebaut als geschaffen werden. Die Linke sagt deshalb: Der Ausbildungspakt ist kein Erfolg, sondern ein grandioser Misserfolg und gehört beendet. ({3}) Das Schlimmste ist: Die Auswirkungen der Krise werden wir erst noch zu spüren bekommen; Sie kennen die Prognosen genauso gut wie ich. Es wird davon ausgegangen, dass das Ausbildungsplatzangebot in diesem Jahr um bis zu 10 Prozent abnehmen wird. Im Berufsbildungsbildungsbericht 2009 der Bundesregierung lässt sich dazu die Bemerkung finden: Da sich die Zahl der Schulabsolventen verringern wird, wird die Situation „für Jugendliche nicht schlechter werden“. Frau Ministerin, Herr Minister, an dieser Stelle möchte ich Sie fragen: Was sagt denn ein Hauptschulabsolvent dazu, der nun schon seit drei Jahren verzweifelt versucht, einen Ausbildungsplatz zu finden, oder eine Absolventin der Realschule, die im letzten Jahr nur eine Einstiegsqualifizierung bekommen hat, dann nicht übernommen wurde und weiterhin ohne einen Ausbildungsplatz dasteht? Zu diesen Jugendlichen sagen Sie nun: Keine Panik! Zumindest wird es nicht schlimmer. - Diese Politik, die angeblich für Jugendliche betrieben wird, ist ein Skandal. So etwas wird die Linke nicht mitmachen. ({4}) Es muss endlich eine verbindliche Vereinbarung geben, das heißt ein Ende des Ausbildungspaktes und die Einführung einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage. ({5}) Die dritte Behauptung, die immer wieder aufgestellt wird, lautet: Ihr Ausbildungsbonus unterstützt benachteiligte Jugendliche. In der Praxis wird dieser Bonus kaum genutzt, und es gibt viele Mitnahmeeffekte. Die Linke sagt: Das ist der falsche Ansatz. Wenn Sie wirklich Förderung betreiben wollten, dann müssten Sie ausbildungsbegleitende Hilfen stärken und ausbauen und als Rechtsanspruch verankern. Dann dürften Sie die Unternehmen für ihre jahrelange Ausbildungsverweigerung nicht noch belohnen. Das ist der falsche Weg. Ausbildung ist keine Wohltätigkeit der Unternehmen, sondern ihre Pflicht. ({6}) Ich fasse zusammen: Sie betreiben Ausbildungspolitik nach Konjunktur und Kassenlage. Das führt gerade in einer Krise zu einer Katastrophe. Die Linke will dagegen das Recht auf Ausbildung für alle Jugendlichen durchsetzen. Wir meinen es mit dem Schutzschirm für Ausbildung ernst. Besten Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Scholz, vonseiten der Grünen waren wir doch etwas erstaunt, dass Sie die Studienanfängerquote in Deutschland jetzt auf 33 Prozent senken wollen. ({0}) Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Bundesregierung Schwierigkeiten mit der Deutung von Zahlen hat. ({1}) Das zeigt sich auch im Umgang mit dem Berufsbildungsbericht. Die Regierung brüstet sich mit einem ausgeglichenen Ausbildungsmarkt; das haben wir heute Morgen auch von Frau Dr. Schavan gehört. Es stimmt: Rechnerisch war der Ausbildungsmarkt im letzten Jahr ausgeglichen. Aber was steckt dahinter? Es fanden nach wie vor 14 000 Jugendliche im Jahr 2008 keinen Ausbildungsplatz, und 82 000 Jugendliche wurden in sogenannten Übergangsmaßnahmen versorgt. ({2}) Das heißt: Fast 100 000 Jugendliche sind im letzten Jahr fehl- und unterversorgt gewesen - und das in einem konjunkturell guten Jahr. Da kann man doch nicht sagen: Eigentlich ist alles wunderbar. Wir brauchen gar nicht so viel zu ändern. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Hinz, lassen Sie Zwischenfragen zu?

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Moment nicht. Wir haben im letzten Jahr 320 000 Altbewerber gehabt. Das sind junge Leute, die ein Jahr oder länger keinen Ausbildungsplatz erhalten haben. Das sind 51,7 Prozent gewesen. Im Jahr 2006 waren es 50,8 Prozent. Wie man da von einer Trendwende sprechen kann, erschließt sich mir nicht. Das müssen Sie schon einmal genauer erklären. Im Gegenteil: Es war ein Trend zum Schlechteren. Hier muss man doch überlegen, wie man das Ganze anders gestalten und das Berufsbildungssystem so umstrukturieren kann, dass wir keine Altbewerberinnen und Altbewerber mehr haben. ({0}) Wir leisten uns ein Übergangssystem, das selbst in wirtschaftlich besseren Zeiten 500 000 Jugendliche umfasst, die mit einer Summe von 3 bis 4 Milliarden Euro in Warteschleifen gehalten werden. Auf diese Summe kann man nicht stolz sein, Herr Scholz, sondern man muss darüber beschämt sein, dass so viel Geld für irgendwelche ineffektiven Maßnahmen verschwendet wird, in denen Jugendliche keine Qualifizierung in Form einer Ausbildung erhalten, die zu einem Abschluss führt. Das zu ändern, wäre wichtig, damit wir gute Fachkräfte bekommen, die auf dem Arbeitsmarkt unterkommen. ({1}) Wie begegnet die Bundesregierung dieser Situation? Mit immer neuen Einzelmaßnahmen. Auch das zeigt der Berufsbildungsbericht. Es gibt unendlich viele Maßnahmen, die zusammengestoppelt und nicht aufeinander bezogen sind. In diesem Berufsbildungsbericht breitet sich ein Flickenteppich aus. Die SPD hat in den letzten Jahren das Ihre dazu beigetragen, diesen Flickenteppich noch zu vergrößern, zum Beispiel mit dem Ausbildungsbonus, der bis 2010 100 000 Plätze schaffen soll. Bis jetzt sind 12 700 Anträge gestellt worden. Das ist nicht gerade der Bringer, würde ich sagen. ({2}) Die Berufsorientierung ist ein neues Programm neben einem alten Programm. Warum läuft das alte weiter? Wenn es schlecht war, dann könnte man es einstampfen. Wenn es gut war, dann hätte man es ausweiten können. Die Berufseinstiegsbegleitung, die die Eingliederung in eine Ausbildung leider nur bis zu einem halben Jahr unterstützen soll - dies gilt aber nur für 1 000 Schulen -, soll im Jahr 2013 wieder enden. Ich frage mich: Haben wir im Jahr 2013 keine Altbewerber, keine Schulabbrecher, keine Abgänger mit einem schlechten Schulabschluss und keine Migranten mehr, die ein Problem mit dem Übergang in die Ausbildung haben? Das wäre schön; aber die Erfahrungen mit unserem Schulsystem und mit der beruflichen Ausbildung deuten auf etwas anderes hin. Auch das Programm „Jobstarter Connect“ ist gut gemeint. Eine Einführung von Ausbildungsbausteinen fordern auch die Grünen. Aber Ihr Modell hat einen Geburtsfehler. Die Ausbildungsbausteine sollen nicht einzeln anerkannt werden. Ihr Programm soll nicht dazu führen, dass die Ausbildungsschritte jeweils anerkannt werden. Das brauchen wir aber. Wir müssen auf eine Modularisierung der Ausbildung und eine strukturelle Reform des Ausbildungssystems zusteuern. ({3}) Priska Hinz ({4}) Diese Maßnahmen sind alle gut gemeint und im Einzelnen mehr oder minder sinnvoll. Das Hauptproblem aber ist, dass die Konjunkturanfälligkeit des Berufsbildungssystems durch diese einzelnen Maßnahmen nicht beseitigt wird. Sie haben es in wirtschaftlich guten Zeiten nicht geschafft, die Zahl der Altbewerber zu senken. Sie haben es nicht geschafft, das Übergangssystem abzubauen. Sie haben es nicht geschafft, das Berufsbildungssystem auf neue Füße zu stellen. Das heißt, das Berufsbildungssystem dokumentiert das Scheitern der Bundesregierung in der Berufsbildungspolitik. ({5}) Wenn das duale System auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten bestehen soll, dann muss man es verändern. Wenn es in wirtschaftlichen Krisenzeiten nicht bestehen kann, dann ist es nichts wert. Die Umfragen des DIHK zeigen, dass es in diesen schwierigen Zeiten wieder weniger Ausbildungsangebote gibt. Deswegen schlagen wir Grünen vor, das Modell „DualPlus“ einzuführen. Das heißt, die berufliche Ausbildung wird nach dem dualen Prinzip, an dem wir festhalten, in Ausbildungsbausteinen absolviert. Damit werden alle Qualifizierungsschritte, auch die der Berufsvorbereitung, anerkannt und führen zu einem Ausbildungsabschluss. Das ist ganz wesentlich. Damit werden Warteschleifen zu Qualifizierungsketten. Die ineffiziente Zeitverschwendung für die Jugendlichen hat so ein Ende. Die Ausbildungsdauer muss zukünftig flexibler gestaltet werden. Leistungsschwächere Jugendliche sollen eine Ausbildung von vier Jahren machen können, und zwar von Anfang an. Leistungsstärkere Jugendliche sollen weitere Module wählen können, die zur Fachhochschulreife führen. Beides soll im BBiG vorgesehen werden. Wir wollen den Ausbau der überbetrieblichen Einrichtungen. Das heißt, alle Betriebe werden in die Berufsausbildung eines Kammerbezirkes einbezogen. Auch die Betriebe, die keine Ausbildungstradition haben und sehr spartenspezifisch arbeiten, können dann eine Ausbildung anbieten. Das heißt, wir erhalten eine größere Zahl von Ausbildungsplätzen. Diese überbetrieblichen Einrichtungen können von Kammern, von Berufsschulen und freien Trägern gestaltet werden. Sie bieten zusätzliche Ausbildungsplätze, und zwar konjunkturunabhängig. Das ist das Wesentliche dieses Modells. ({6}) Wir wollen die Einführung und Förderung von Produktionsklassen oder Produktionsschulen für Schulabbrecher. Die CDU macht genau das gemeinsam mit den Grünen in Hamburg. Die CDU kann also hier zustimmen. Hamburg ist ein gutes Vorbild für die Verzahnung von Berufsschulen mit Stadtteilschulen und für den Ausbau von Produktionsschulen, damit schulmüde junge Leute und solche, die die Schule abgebrochen haben, in eine Berufsausbildung einsteigen und damit den Schulabschluss nachholen können. Das Ganze kann mit den 4 Milliarden Euro aus dem Übergangssystem finanziert werden. Wir Grünen sind der Meinung, dass man nicht nur über einen Rechtsanspruch auf Ausbildung reden, sondern ihn auch faktisch umsetzen soll. Dafür bietet unser Modell die Gelegenheit. Sie haben heute die Chance, dem zuzustimmen, damit wir endlich zu einer Reform des Ausbildungssystems kommen und nicht weiter an dem Flickenteppich, so wie er sich im Berufsbildungsbericht zeigt, herumdoktern. Danke schön. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Stefan Müller ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Botschaft des Berufsbildungsberichtes, den wir heute diskutieren, ist klar: Die Bilanz des Ausbildungsjahres 2008 ist gut. Erstmals seit dem Jahr 2001 haben wir rechnerisch in Deutschland wieder eine höhere Zahl von Ausbildungsplätzen als von Interessenten. Ich finde, das ist erfreulich. Erfreulich ist nicht nur der Umstand, dass viele Schulabgänger einen Ausbildungsplatz gefunden haben, sondern auch die Tatsache, dass es zahlreiche Altbewerber geschafft haben, eine berufliche Ausbildung zu finden. ({0}) Bis 2006 ist die Zahl der jungen Menschen, die sich in Warteschleifen befunden haben, immer weiter gestiegen. Erfreulich ist für mich daher ebenfalls, dass die Zahl derer, die sich in Warteschleifen befinden, 2008 erstmals reduziert werden konnte. Man kann diese Debatte zum Anlass nehmen, seiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass junge Menschen in diesem Land tatsächlich eine Lehrstelle gefunden haben. ({1}) Schließlich ist nichts schlimmer, als dass ein junger Mensch die Schule verlässt und sich unmittelbar nach seiner Schulzeit erfolglos um eine Lehrstelle bemüht und damit das Gefühl bekommt, dass er in dieser Gesellschaft nicht gebraucht wird. Junge Menschen brauchen eine Perspektive. Es ist die vordringlichste Aufgabe der Gesellschaft und auch der Politik, dafür zu sorgen, dass junge Menschen eine solche Perspektive bekommen. Ich stelle fest, dass die Große Koalition in den vergangenen Jahren dementsprechend gehandelt hat. Ein Teil des Erfolges der letzten Jahre - gerade am Ausbildungsstellenmarkt - ist auch ein Erfolg dieser Großen Koalition. ({2}) Der Ausbildungspakt hat zu diesen positiven Entwicklungen ganz wesentlich beigetragen. Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen ist im vergangenen Stefan Müller ({3}) Jahr weiter gestiegen. Zugesagt waren von den Unternehmen 60 000 Ausbildungsstellen. Fast 87 000 sind von der Wirtschaft eingeworben worden. Ich halte das allein schon deswegen für bemerkenswert, weil zumindest im zweiten Halbjahr des Jahres 2008 die Auswirkungen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise sehr wohl spürbar waren. Ich will heute die Gelegenheit nutzen, mich ausdrücklich bei den Unternehmen in Deutschland zu bedanken, vor allem bei den kleinen und mittelständischen Betrieben, die immer noch - Gott sei Dank! Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, die jungen Menschen eine Chance geben. Wir haben wirklich allen Grund, dafür dankzusagen. ({4}) Natürlich gilt es auch, den Blick nach vorne zu richten. Die Lage wird schwieriger; das wird angesichts der Zahlen und Prognosen, die wir jeden Tag zur Kenntnis nehmen müssen, niemand bestreiten wollen. Wir müssen leider davon ausgehen, dass diese Wirtschaftskrise den Arbeitsmarkt und auch den Lehrstellenmarkt erreichen wird. Viele Unternehmen sehen sich heute gezwungen, Kurzarbeit anzumelden. Die Befürchtung ist - wir alle hoffen, dass sie nicht eintritt -, dass bis zum Sommer aus Kurzarbeitern Arbeitslose werden. Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass es Unternehmen gibt, die, wenn sie ihre Mitarbeiter heute nicht beschäftigen können, nicht über den Fachkräftemangel von morgen oder übermorgen nachdenken. Das Bundesinstitut für Berufsbildung prognostiziert uns einen Rückgang von etwa 56 000 Ausbildungsplätzen im Jahr 2009. Diese Prognose wird durch verschiedene Umfragen der Wirtschaft gestützt. Aber man muss schon zur Kenntnis nehmen, dass dem Rückgang der Zahl der Ausbildungsplätze ein Rückgang der Zahl derjenigen gegenübersteht, die überhaupt eine Lehrstelle suchen. Die Bewerbergruppe, die Zahl der jungen Menschen, die die Schule verlassen, wird nämlich allein aufgrund des demografischen Wandels kleiner. Man muss auch berücksichtigen, dass im vergangenen Jahr eine hohe Zahl von Altbewerbern vermittelt werden konnte. Wir haben allen Grund, davon auszugehen, dass in diesem Jahr wie in den Jahren 2007 und 2008 der überwiegende Teil der jungen Menschen, die eine Lehrstelle suchen, ohne staatliche Hilfe einen Ausbildungsplatz finden wird. Insofern besteht hier überhaupt kein Anlass zur Panikmache. Das, was hier teilweise abläuft - auch in dieser Debatte -, halte ich für unverantwortlich, weil es Ängste schürt, anstatt jungen Menschen Mut zu machen. ({5}) Frau Hinz, Sie tun so, als wäre die von Ihnen vorgeschlagene Modularisierung die Lösung aller Probleme. Das geht meines Erachtens am Kern vorbei. ({6}) Durch eine Debatte darüber wird nur der Eindruck erweckt wird, als wäre unser Erfolgsmodell der dualen Berufsausbildung nichts mehr wert. Es ist ein Modell, für das uns andere Länder beneiden und das in anderen Ländern kopiert wird. Ich finde, wir sollten mit Kritik daran sehr zurückhaltend sein. Die duale Berufsausbildung in Deutschland ist ein Erfolgsmodell, und sie wird es auch in Zukunft sein. ({7}) Natürlich brauchen bestimmte Gruppen von jungen Menschen Unterstützung, aber dafür gibt es kein Patentrezept. Es gibt strukturschwache Regionen, in denen selbst durchschnittliche Schulabgänger Hilfe benötigen. Dort können wir durchaus über außerbetriebliche Angebote oder Ausbildungsverbünde eine Lösung herbeiführen. Anderswo gibt es Ausbildungshemmnisse, die in der Person des Bewerbers oder in seinem familiären Umfeld liegen oder die allein darin begründet sind, dass jemand aus einem schwierigen sozialen Umfeld kommt. Migrationshintergrund spielt sehr oft eine große Rolle. Aber gerade dafür gibt es doch individuelle Maßnahmen, mit denen wir dafür sorgen, dass auch diejenigen eine Chance bekommen. Es reicht doch nicht ein Hammer, sondern wir brauchen einen ganzen Werkzeugkasten, um für differenzierte Ausbildungsangebote und passgenaue Unterstützungsangebote zu sorgen. ({8}) Genau deswegen haben wir in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Programmen und Maßnahmen auf den Weg gebracht. ({9}) Einige wurden schon angesprochen: der Ausbildungsbonus, den wir im vergangenen Jahr gemeinsam auf den Weg gebracht haben, das Projekt JOBSTARTER und vieles andere mehr. Ich muss das nicht weiter betonen. Es geht hier um individuelle Lösungen, mit denen Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen geholfen werden kann. Deswegen ist das, was wir an der Stelle gemacht haben, richtig. ({10}) Entscheidend sind aber nicht allein staatliche Unterstützungsmaßnahmen, sondern entscheidend ist auch die Bereitschaft der Unternehmen, auszubilden. Wir erwarten von keinem Unternehmen, dass es aus purer Selbstlosigkeit junge Menschen ausbildet. Darum geht es überhaupt nicht. Dass Unternehmen ausbilden, ist im Interesse der Wirtschaft und im Interesse der Unternehmen, um den Fachkräftebedarf auch in Zukunft zu decken. Bis zum Jahr 2020 wird die Zahl der Schulabgänger um mehr als 20 Prozent, also deutlich sinken. Wer es sich also leisten kann, in diesem Jahr auszubilden, der sollte es auch tun. ({11}) Stefan Müller ({12}) Anders formuliert: Wer heute und morgen nicht ausbildet, braucht sich übermorgen auch nicht über einen Mangel an Fachkräften zu beklagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({13}) Ich fasse zusammen: Die Lage am Ausbildungsstellenmarkt hat sich im vergangenen Jahr verbessert. Wir haben trotz aller Krisenszenarien eine gute Ausgangslage für das Jahr 2009. Wir sind gemeinsam aufgerufen, alles zu tun, damit junge Menschen in diesem Land eine Perspektive und auch eine Chance auf eine Berufsausbildung bekommen. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Uwe Barth, FDPFraktion. ({0})

Uwe Barth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003735, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der bemerkenswerte Satz ist schon öfter zitiert worden: Die Bundesregierung sieht eine Trendwende auf dem Ausbildungsmarkt. - Nun zeigt ein Foto ja immer die Situation in dem Moment, in dem das Foto gemacht wird, und nicht in dem Moment, in dem man es betrachtet. So ähnlich verhält es sich natürlich auch mit Berichten. Sie beschreiben die Situation im Moment der Datenerhebung und eben nicht in dem Moment, in dem der Bericht gelesen wird. Deshalb kann das, was in einem Bericht steht, eben schon ein bisschen Schnee von gestern sein. Das ist gar nicht weiter verwunderlich. Viel verwunderlicher ist es mit Blick auf den Berufsbildungsbericht, dass es selbst in dem Rekordwachstumsjahr 2008 nicht gelungen ist, die Zahl der Ausbildungsverträge auch auf ein Rekordniveau zu heben, sondern dass die Zahl 1,5 Prozent unter dem Niveau des Vorjahres lag. Das liegt vor allem daran, dass es zwar gelungen ist, in den alten Bundesländern die Zahl der Ausbildungsverträge um 0,3 Prozent erhöhen, dass aber zur gleichen Zeit in den neuen Bundesländern die Zahl der Ausbildungsverträge um dramatische 9 Prozent gesunken ist. Da verwundert mich schon sehr, dass bisher nicht ein Redner, insbesondere von der Bundesregierung, an dieser Stelle auf diesen bemerkenswerten dramatischen Rückgang eingegangen ist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, drei Ursachen für den Rückgang will ich kurz benennen: Erstens die demografische Entwicklung. Gerade in den neuen Bundesländern wohnen immer weniger junge Menschen, und es wird deshalb immer schwieriger, die Ausbildungsplätze zu besetzen. Das zeigt, dass es eben nicht nur im universitären Bereich, im Bereich des wissenschaftlichen Nachwuchses, Probleme gibt, sondern dass auch und gerade bei den ganz normalen Ausbildungsberufen der Nachwuchs fehlt. Deshalb ist es aus meiner Sicht dringend erforderlich, dass wir analog zu den Bemühungen um wissenschaftlichen Nachwuchs, analog zu den Bemühungen um die Steigerung der Bekanntheit und der Attraktivität der Studienstandorte in den neuen Ländern eben auch klar machen müssen, dass man in den neuen Ländern eine ganz ausgezeichnete Berufsausbildung bekommen kann und dass man natürlich nach dieser Ausbildung mit einer Existenzgründung oder einer Anstellung im Osten eine Zukunft hat und vielleicht auch ein Zuhause finden kann. ({1}) Es ist doch absurd, dass wir uns abends in Fernsehsendungen anschauen, wie Menschen in die entlegensten Winkel dieser Welt auswandern, dass es aber unmöglich erscheint, seinen Wohnsitz von Gießen nach Gera zu verlegen. Das verstehe ich zumindest nicht. ({2}) Eine zweite wichtige Ursache beschränkt sich nicht auf die neuen Bundesländer. Eine Studie des DIHK zeigt, dass für zwei Drittel der ausbildenden Unternehmen die schulischen Defizite der Auszubildenden ein wesentlich größeres Ausbildungshemmnis darstellen als zum Beispiel die aktuelle wirtschaftliche Situation; nur - in Anführungszeichen - ein Drittel nennt diese Situation als größtes Hemmnis. Deswegen ist es von essenzieller Bedeutung, dass wir mit einem guten Bildungssystem, das im frühkindlichen und vorschulischen Bereich beginnt, jungen Menschen eine Grundlage geben, die sie in die Lage versetzt, eine berufliche Ausbildung erfolgreich zu bewältigen. Die dritte Ursache, das sind Sie von der Großen Koalition, das ist Ihre Politik der letzten Jahre, die dazu geführt hat, dass gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen belastet werden. Das sind nämlich diejenigen, die die Hauptlast der Ausbildung tragen, und nicht, Herr Minister Scholz, die DAX-30-Unternehmen, die Sie hier erwähnt haben. Sie haben nicht einmal das Wort „Mittelstand“ verwendet. ({3}) Die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind bei Ihrer Politik immer die Dummen. Das Ergebnis ist, dass sie selbst in guten Jahren nicht mehr in der Lage sind, die Ausbildungslast zu tragen. ({4}) Ob Unternehmensteuerreform oder Gesundheitsreform, es sind immer die kleinen und mittleren Betriebe, die die Zeche Ihrer Politik bezahlen. Das gilt gerade im Osten, wo Ihre Politik verhindert hat, dass die Betriebe in den guten Jahren die viel zu geringe Eigenkapitalquote - das ist das größte Problem dieser Betriebe - erhöhen konnten, um die Ausbildungslast tragen zu können und in Zeiten der Krise noch etwas zuzusetzen zu haben. Wenn Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Großen Koalition, diese Politik zulasten der kleinen und mittleren Betriebe nicht ändern, dann werden Sie auch in Zukunft ein Problem haben. Die BeUwe Barth triebe werden nicht ausbilden, und dann werden alle Rezepte nichts mehr helfen. Deshalb wollen wir von der FDP auch mit unserem Eintreten für ein einfaches, niedriges und gerechtes Steuersystem Politik zugunsten der kleinen und mittleren Betriebe sowie zugunsten der Arbeits- und Ausbildungsplätze in diesen Unternehmen machen, damit die Menschen auch im Osten unserer Republik eine Zukunft haben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dieter Grasedieck, SPD-Fraktion. ({0})

Dieter Grasedieck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie, Frau Hinz, wollen das Rad in der Berufsbildung neu erfinden, obwohl das Profil dieses Rades eigentlich schon längst abgefahren ist. Das zeigt die historische Bedeutung dieses Modells. Seit 25 Jahren wird die duale Ausbildung zum Beispiel mit der Fachhochschulreife kombiniert. Lernschwächere, leistungsschwächere Jugendliche werden schon seit etlichen Jahren in vielfältiger Weise durch die Bundesregierung gefördert - übrigens auch schon zu Zeiten der rot-grünen Koalition -; das wissen Sie ganz genau. Der Mittelstand, Herr Barth, trägt die Hauptlast der Ausbildung. ({0}) Das Handwerk trägt die Hauptlast der Ausbildung; das war auch im Jahr 2008 so. Jeder Auszubildende, jeder Jugendliche braucht in der Zukunft eine echte Chance. Minister Scholz wies darauf hin, dass niemand durch den Rost fallen darf. Das ist wichtig. Deshalb brauchen wir Ausbildung. Deshalb brauchen wir Hochschulausbildung. Auch die Technologieführerschaft in der Welt muss erhalten bleiben. Gerade in Zeiten der Krise ist es entscheidend, dass wir das weiter ausbauen. Wenn Probleme auftauchen, müssen wir helfen. Konkrete Maßnahmen hat diese Koalition längst ergriffen. Die Erfolge sind im Berufsbildungsbericht aufgeführt. Natürlich zeigt der Bericht auch Herausforderungen und Probleme auf. Wir wollen Hilfen bei der Lösung anbieten - immer mit dem Ziel, einen Beruf zu finden. Der Jugendliche braucht eine berufliche Basis. Für Altbewerber und für benachteiligte Jugendliche zum Beispiel haben wir den Ausbildungsbonus eingeführt. Damit haben fast 13 000 Jugendliche zusätzlich einen Ausbildungsplatz gefunden. ({1}) 6 000 Euro stellen wir pro Ausbildungsplatz zur Verfügung. Ist das nichts, Frau Hinz? Ist es nichts, wenn wir benachteiligte Jugendliche durch betriebliche Einstiegsqualifizierung fördern? 24 000 Jugendliche sind aufgrund dieses Sonderprogramms vermittelt worden - immer mit dem Ziel, einen Beruf zu finden. Schlechte Zeugnisse bedeuten häufig auch schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb haben wir vonseiten der Bundesregierung 200 neue Berater eingesetzt. Das ist auch entscheidend. Ist es nichts, wenn man Hilfen im Übergang zwischen Schule und Beruf bietet und Unterstützung leistet? Das ist wichtig. ({2}) Innerhalb der Wahlkreise können wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch selber aktiv werden. Ich habe zum Beispiel Patensysteme an den verschiedensten Schulen errichtet. In diesem Rahmen arbeiten drei bis fünf Paten wöchentlich an den Schulen und begleiten die Jugendlichen in den Beruf. Sie führen wichtige Beratungen sowohl für leistungsstarke als auch für leistungsschwächere Jugendliche sowie für Jugendliche mit Migrationshintergrund durch. Jugendliche brauchen eine berufliche Basis - aus menschlichen Gründen. Das ist für mich ein entscheidender Grund. ({3}) Der zweite wichtige Grund ist die bereits angesprochene demografische Entwicklung. Heute suchen 640 000 bis 650 000 Jugendliche einen Ausbildungsplatz. Im Jahre 2020 werden es 500 000 sein. Daran erkennt man schon die Dramatik. Die Jüngeren werden weniger und die Älteren mehr. Entsprechend brauchen wir eine langfristige Planung sowohl in den Betrieben als auch im öffentlichen Dienst. An vielen Stellen fehlt es daran, und zwar sowohl in den Betrieben als auch im öffentlichen Dienst. Das ist eine weitere Schwierigkeit. Auf der einen Seite benötigen wir Facharbeiter, auf der anderen Seite aber natürlich auch Akademiker. Deshalb ist es entscheidend, dass wir vonseiten der Bundesregierung Begleitmaßnahmen ergriffen haben. Beispielsweise Ingenieure werden dringend benötigt. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat darauf hingewiesen, dass die Quote der arbeitslosen Ingenieure im Jahre 2004 bei 1,5 Prozent lag und heute nur noch 0,7 Prozent beträgt. In der Krise fällt die Arbeitslosigkeit. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir diese Ingenieure benötigen. Deshalb ist es wichtig, den Übergang zwischen Beruf und Universität zu erleichtern. Genau das will unsere Bundesregierung erreichen. ({4}) Dies kann man nur begrüßen und weiter unterstützen. Dort müssen wir weitermachen. In der Zukunft muss klar sein, dass der Fachwirt, der Meister und der Techniker an Deutschlands Universitäten studieren können. Das muss unser Ziel sein. ({5}) Auch bei der Anerkennung der beruflichen Leistung müssen wir in dieser Art und Weise weitermachen. Die berufliche Leistung muss in der kommenden Zeit an der Universität anerkannt werden. Dies ist zwingend erforderlich; denn die Universitäten im europäischen Ausland haben das längst erkannt. Teilweise wird der Abschluss als Techniker oder als medizinisch-technische Assistentin sogar als Bachelor anerkannt, sodass derjenige bzw. diejenige dort ein weiterführendes Studium aufnehmen kann. Diese Initiativen müssen wir fortsetzen. Zusammenfassend kann man Folgendes feststellen: Unsere Koalition hat eine wirklich erfolgreiche Bildungsarbeit geleistet. Wir müssen damit verstärkt weitermachen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Volker Schneider ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Grasedieck, ich bin Ihnen dankbar, dass wenigstens aus Ihrer Rede deutlich geworden ist, dass berufliche Bildung mehr ist als nur berufliche Erstausbildung und dass gerade heute auch das lebenslange Lernen und die betriebliche Weiterbildung dazugehören. ({0}) Wer sich mit dem vorliegenden Berufsbildungsbericht unter dem Gesichtspunkt der Weiterbildung befasst, kann allerdings nur enttäuscht sein. Gerade einmal fünf Seiten widmet das Bildungsministerium reichlich uninspiriert einer belanglosen Aneinanderreihung der laufenden Projekte. Die substanziellste Information ist der erfreuliche Anstieg der Zahl der Geförderten im Sonderprogramm WeGebAU. Sie ist deshalb erfreulich, weil die wichtigen Zielgruppen der Älteren und Geringqualifizierten in den Unternehmen gefördert werden sollen. ({1}) Zwischenfazit: Die Würdigung der Weiterbildung durch das Bundesbildungsministerium - leider auch durch Ihre Rede, Herr Minister Scholz - steht im krassen Gegensatz zu den fortlaufenden Beteuerungen von der besonderen Bedeutung lebenslangen Lernens. ({2}) Wir als Linke stellen fest: Es reicht nicht, von der Bedeutung lebenslangen Lernens zu reden, sondern wir brauchen eine Politik, die dieser Wertschätzung entspricht. ({3}) Wesentlich länger und inhaltlich gehaltvoller fällt der Datenreport des Bundesinstituts für Berufsbildung, BIBB, aus. Es ist allerdings auffallend, dass sich das Bildungsministerium in keiner Weise auf die Daten des BIBB bezieht. Wieso eigentlich nicht? Dass sich das Bundesinstitut auf unterschiedliche Studien bezieht - das räume ich ein -, macht es einem leider nicht leicht, die vorhandenen Daten zu interpretieren. So schwanken etwa die Angaben zu den weiterbildenden Betrieben zwischen 43, 69 und 84 Prozent. Man muss schon etwas genauer nachlesen, um festzustellen, dass 2007 nicht einmal die Hälfte der Betriebe im engeren Sinne als weiterbildungsaktiv anzusehen war. Ansonsten hätte das Bildungsministerium sehr wohl nachlesen können, dass, gerade was die zentralen Herausforderungen der Weiterbildungspolitik anbelangt, die Daten keinen Fortschritt, sondern leider oft nur das Gegenteil signalisieren. Dazu nur einige unvollständige Hinweise: Die Zahl der Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung ist gestiegen. Aber noch immer liegen die Teilnehmerzahlen aufgrund von Veränderungen in der Förderpolitik weit unter den Zahlen der 90er-Jahre; und das angesichts der drohenden Krise. Die soziale Selektion im Rahmen der Weiterbildung hat nicht abgenommen. Im Gegenteil: Die Weiterbildungsquote von Personen aus einfachen Tätigkeiten ist zurückgegangen, während die der Personen aus qualifizierten Tätigkeiten zugenommen hat. Wir können doch nicht weiter zusehen, wie sich die soziale Schere in diesem Bereich weiter öffnet. ({4}) Im Länderranking ist Deutschland zurückgefallen, weil Slowenien und Tschechien an uns vorbeigezogen sind. Die Besserplatzierung bei den Teilnehmerstunden erklärt sich nicht durch den Fortschritt in Deutschland, sondern durch Rückschritte in Großbritannien und Norwegen. Weniger Unternehmen bieten ihren Beschäftigten betriebliche Weiterbildung an, und weniger Beschäftigte haben an betrieblicher Weiterbildung teilgenommen. Gleichzeitig geben die Unternehmen pro Teilnehmer weniger aus. Insgesamt - ich zitiere aus dem Bericht „deuten diese Ereignisse darauf hin, dass betriebliche Weiterbildung in Deutschland stagniert bzw. rückläufig ist.“ Kurz: Dieser Berufsbildungsbericht ist ein Dokument des Scheiterns Ihrer Weiterbildungspolitik. ({5}) - Das ist aber etwas wenig, lieber Kollege Rossmann. ({6}) Sie liefern weder Antworten, wie der im wirtschaftlichen Interesse liegende Qualifizierungsbedarf angemessen gedeckt werden soll, noch verfügen Sie über irgendein Mittel, um zu verhindern, dass sich soziale Benachteiligung auch in der Weiterbildung fortsetzt. Volker Schneider ({7}) Schaffen Sie endlich einen vernünftigen Rahmen, in dem sich Weiterbildung für Anbieter und Teilnehmer kalkulierbar entwickeln kann. Für die Linke fordere ich zum wiederholten Male die Schaffung eines Erwachsenenbildungsförderungsgesetzes. ({8}) Eine letzte Bemerkung an die marktradikalen Freunde auf der rechten Seite des Parlaments: Ein solches Gesetz braucht nicht jedes kleine Detail zu regeln, aber es schafft notwendige Rahmenbedingungen, die auch der Markt der Weiterbildung zwingend benötigt; denn auch dieser Markt ist in seiner unregulierten Form grandios gescheitert. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Bei allen gesetzlichen Maßnahmen, die denkbar sind, werden wir das, was auch im Berufsbildungsbericht markiert ist, nicht außer Kraft setzen: Der Ausbildungsmarkt folgt dem Arbeitsmarkt. Wenn man zurückblickt, dann stellt man fest: Im Jahre 2005 lag die Zahl der Arbeitslosen bei 5,2 Millionen. Im Dezember letzten Jahres haben wir es durch die Arbeit der Großen Koalition erreicht, dass die Zahl der Arbeitslosen erstmals unter 3 Millionen, genauer: auf 2,98 Millionen Arbeitslose, gesunken ist. Ohne diese drei guten Jahre läge die Zahl der Arbeitslosen heute angesichts der Weltwirtschaftskrise nicht bei 3,6 Millionen, sondern bei 6 Millionen. Deshalb ist es gut, dass die Große Koalition den Arbeitsmarkt in diesen drei Jahren so hervorragend bedient hat und dafür gesorgt hat, dass Beschäftigung wieder möglich geworden ist. ({0}) Ein Unternehmer, der in einer globalwirtschaftlich schwierigen Zeit über seine Belegschaft und seine Personalstruktur nachdenkt - das ist klar -, denkt erst einmal an die befristet Beschäftigten. Im Zusammenhang mit der Sicherung der Arbeitsplätze der Stammbelegschaft stellt er dann die Frage: Kann ich mich noch einmal für drei Jahre Ausbildung an einen jungen Menschen binden? Kann ich das verantworten? Deswegen besteht in der jetzigen Zeit die Gefahr einer Erstarrung des Ausbildungsmarktes. Es ist wichtig, dass wir eines nicht zulassen, nämlich die von Ihnen, Kollegin Hirsch, und Ihrer mehrfach umbenannten SED immer wieder zum Ausdruck gebrachte klammheimliche Freude darüber, dass es den Menschen dreckig geht. ({1}) Sie sind die Manager des Elends. ({2}) Sie leben davon, dass es Probleme gibt. ({3}) Wir hingegen wollen alles dafür tun, dass es den Menschen besser geht als vorher. Das ist eine Botschaft, die ganz entscheidend sein wird. Es gibt eine Interessenidentität zwischen den Menschen und den etablierten Parteien: Wir wollen, dass es den Menschen besser geht, und wir erfreuen uns nicht daran, Kollegin Hirsch, dass es Probleme gibt und es den Menschen schlecht geht. ({4}) Die Staatsradikalen, die vor 20 Jahren gescheitert sind, sind genauso wenig Teil der Lösung wie die Marktradikalen, die in diesen Monaten gescheitert sind. Soziale Marktwirtschaft ist ein dritter Weg, der sich immer von den Extremen auf der einen wie auf der anderen Seite unterschieden hat. ({5}) - Wer schreit, zeigt damit, dass ich recht habe. Er fühlt sich getroffen. Für die Ausbildung ist originär die Wirtschaft zuständig und subsidiär der Staat. ({6}) Deshalb ist das duale System der Königsweg der Ausbildung. Zwei von drei Jugendlichen absolvieren eine duale Ausbildung. Das sind 1,5 Millionen junge Menschen in 500 000 Betrieben. Diese Unternehmen geben jedes Jahr 30 Milliarden Euro für die berufliche Qualifizierung aus. Was wäre, wenn diese 30 Milliarden Euro von der Privatwirtschaft für die Berufsausbildung nicht mehr mobilisiert würden? Handwerk und Mittelstand tragen 85 Prozent der Ausbildungsplätze. Deswegen ist die Förderung von Handwerksbetrieben und des Mittelstandes auch Ausbildungsförderung in unserem Lande. ({7}) Die Finanzkrise zeigt offenkundig, dass es wichtiger und nachhaltiger ist, in Menschen zu investieren als in irgendwelche kurzfristigen Börsenaktivitäten. Die Krise wird Schleifspuren auf dem Ausbildungsmarkt verursachen. In manchen Arbeitsagenturen, auch in NordrheinWestfalen, beträgt der Rückgang der Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze im ersten Quartal etwa 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Deshalb müssen die Instrumente, die wir gemeinsam entwickelt haben, überprüft und als Schutzschirm für die Ausbildung genutzt werden. Ein Beispiel ist die Einstiegsqualifizierung. Mehr als 75 Prozent derjenigen, die dieses halbjährige Praktikum im Rahmen einer solchen EQJ-Maßnahme absolvieren, können weitervermittelt werden. Wir nutzen betriebliche Ausbildungsstrukturen, die integrativ wirken. Auch der Ausbildungsbonus war nie ein Freund der Masse. Auch wenn wir dadurch nicht 100 000 oder 80 000 Jugendlichen, sondern nur 13 000 Jugendlichen helfen, ist das gut. ({8}) Die Befürchtung, die von einigen Kammern und Arbeitsagenturen formuliert wurde, es würde ein massenhafter Missbrauch stattfinden, hat sich nicht bewahrheitet. Es hat sich gezeigt, dass die Kammern, die Arbeitsagenturen und die Unternehmen mit diesem Instrument nach den Kriterien, die wir vorgegeben haben, sehr verantwortungsvoll umgehen. Auch die ausbildungsbegleitenden Hilfen sind ein wichtiges Instrument. Wir müssen überlegen, ob wir sie nicht frühzeitiger einsetzen können. Wir müssen überlegen, ob es sinnvoll ist, sie nicht nur als Interventionsinstrument einzusetzen, wenn es in der Ausbildung kriselt. Vielleicht sollten wir schon zu Beginn der Ausbildung einen Gutschein für Sprachförderung oder andere Fördermaßnahmen ausgeben. Wir müssen das Ganze verbessern und entbürokratisieren. Maßnahmen zur Förderung der frühzeitigen Berufsorientierung sind wichtige Instrumente. Dadurch konnte laut Berufsbildungsbericht die Abbrecherquote von 24,8 Prozent auf 19 Prozent verringert werden. Das sind etwa 40 000 Abbrecher weniger. Das sind 40 000 junge Menschen mehr, die einen Betrieb gefunden haben, in dem sie ihre Ausbildung bis zum Ende fortsetzen können. ({9}) Entscheidend wird sein, dass wir in diesen schwierigen Zeiten - Frau Ministerin Schavan hat es eben formuliert - auch für Auszubildende einen Schutzschirm spannen und dass wir dazu die vorhandenen Instrumente nutzen. Ein solcher Schutzschirm für die Berufsqualifizierung könnte drei Stufen haben. Als erste Stufe könnte es einen Bonus für Ausbildungsbetriebe geben, die offenkundig wirtschaftlich kränkeln und die Ausbildung vielleicht nicht zu Ende führen können. Als zweite Stufe könnte die Kammer beim Ausbildungspakt zusichern, bei Insolvenz eines Ausbildungsbetriebes einen alternativen Ausbildungsbetrieb zu suchen und zu finden. ({10}) Als dritte Stufe - wenn das alles nicht hilft - sollte die Möglichkeit bestehen, dass die Qualifizierung bis zur Kammerprüfung in einer Berufsbildungswerkstatt fortgesetzt werden kann. Das kostet nicht mehr Geld; wir können das mit den nicht abgerufenen Mitteln aus dem Bonusprogramm hervorragend finanzieren. Deshalb glaube ich, dass ein solcher Schutzschirm für Auszubildende nicht nur im Falle der Insolvenz angesichts der jetzigen Schwierigkeiten notwendig ist, sondern wir mit dieser Debatte signalisieren müssen: Wir garantieren politisch subsidiär, dass jede Qualifizierung zu Ende geführt werden kann. Meine lieben Freunde, seien Sie gegen alle Miesmacher dieser Welt und im Sinne des Berufsbildungsberichtes Mitmacher und Mutmacher für eine bessere Ausbildung. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Willi Brase für die SPD-Fraktion. ({0})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute Morgen bei Eintritt in die Tagesordnung unsere beiden Minister Frau Schavan und Herrn Scholz gehört. Ich habe den Eindruck, dass hier zwei Bildungsminister zu diesem wichtigen Thema gesprochen haben. ({0}) Das zeigt, dass das Thema Bildung mittlerweile in der Bundesregierung ressortübergreifend angekommen ist. Ich finde, das ist heute Morgen ein gutes Signal. ({1}) Wir wissen, dass der Bericht gute Zahlen beinhaltet. Aber wir wissen genauso, dass sich in der Realität etwas entwickelt, aufgrund dessen wir mehr Gas geben müssen. Ich bin Uwe Schummer und anderen dankbar, die darauf hingewiesen haben, dass man fragen muss: Wie schaffen wir es, dass auch in diesem Ausbildungsjahr - also bis Ende September bzw. in der Nachvermittlung bis zum 31. Dezember - genügend Ausbildungsplätze angeboten werden? Ich will ausdrücklich die Aussage unseres Ministers Olaf Scholz unterstützen. Wir müssen heute klipp und klar sagen: Wir erwarten von den Unternehmen, dass sie insgesamt mindestens 600 000 Ausbildungsplätze für die jungen Leute in diesem Jahr zur Verfügung stellen. ({2}) Wir sind der Auffassung, dass es gelingen kann. Es gibt immer noch Unternehmen, die ausbildungsfähig sind und nicht ausbilden. Das Bundesinstitut für Berufsbildung legte 2007 eine Erhebung über die Kosten der dualen Ausbildung vor. Sie hatte mehrere Ergebnisse. Ein Ergebnis war, dass die Kosten für Unternehmen geringer geworden sind gegenüber denen, die in der Studie von 2000 genannt wurden. Die Nettokosten betragen durchschnittlich etwas über 3 500, fast 3 600 Euro. Natürlich sind die Kosten in bestimmten Bereichen im industriellen Sektor größer als zum Beispiel im Handwerk, wo eine Hochqualifizierung in Teilbereichen nicht notwendig ist. Das heißt, im Handwerk liegen die Nettokosten oft unter diesem Betrag. Wenn das der Fall ist, ist es mit Blick auf den Ausbildungsbonus eigentlich kein Problem für kleine und mittlere Betriebe, zusätzliche Ausbildungsplätze anzubieten; denn der Ausbildungsbonus beträgt 4 000 bis 6 000 Euro. Wir erwarten, dass die Unternehmen, die bisher nicht ausbilden, endlich dieses Instrument nutzen und eine vernünftige Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze erreicht wird. ({3}) Ein weiterer Bereich, der angesprochen werden muss - ein Kollege hat es eben gesagt -, betrifft die Weiterbildung. Ja, es ist richtig: Das Programm WeGebAU ist schleppend angelaufen. Aber in der Praxis erlebe ich, dass WeGebAU gerade im Zusammenhang mit Kurzarbeit sehr deutlich und sehr viel stärker auch in anderen Bereichen, die nicht alle vorgegebenen Kriterien erfüllen, genutzt wird. Ich glaube, wenn Weiterbildung Sinn macht, dann in Zeiten von Kurzarbeit. Man sollte dieses Instrument zur besseren Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nutzen. ({4}) Deshalb werden wir zukünftig sagen können: Dieses Instrument, WeGebAU, ist ein voller Erfolg. ({5}) Olaf Scholz hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir den jungen Leuten eine Perspektive geben wollen und geben werden. Die SPD will, dass alle Jugendlichen einen Schul- bzw. Bildungsabschluss erhalten. Das Recht auf Nachholen eines Schulabschlusses haben wir bereits auf den Weg gebracht. Außerdem wollen wir eine Berufsausbildungsgarantie für Jugendliche, die älter als 20 Jahre sind. Dieses Thema wird in Zukunft immer bedeutender. Schon heute verzeichnen die zuständigen Stellen - sprich: die Kammern - Ausbildungsverträge von jungen Leuten, die erst mit 23, 24, 25 oder 26 Jahren mit einer Ausbildung angefangen haben. Angesichts der demografischen Entwicklung kann ich nur sagen: Wir sind gehalten, auch älteren jungen Erwachsenen, die keinen Berufsabschluss haben, den Weg zu einem Berufsabschluss zu ebnen. Das ist zwingend notwendig. ({6}) Lassen Sie mich noch etwas zum Übergangssystem sagen. Frau Hinz, eines verstehe ich nicht: Damals unter Rot-Grün haben wir den Versuch unternommen, durch die Schaffung eines neuen Instruments bestehende Instrumente in ihrer Vielfältigkeit zurückzudrängen. Wenn wir es schaffen, die Einstiegsqualifizierung, EQ, aus den Bereichen, in denen damit Missbrauch betrieben wird, wegzudrücken und die Qualifizierungsbausteine, die es dort schon gibt, ein Stück weit zu schärfen, dann kann mithilfe der Einstiegsqualifizierung - ein Jahr in einem Betrieb - den Jugendlichen, die noch nicht stark genug sind, der Weg in eine drei- oder dreieinhalbjährige Ausbildung, nicht unbedingt in eine zweijährige Ausbildung, geebnet werden. ({7}) Ich glaube, diese Entwicklung ist besser. Es wird sich zeigen - der Staatssekretär ist, wie ich sehe, hier -, dass wir dann auch weniger BvB-Maßnahmen nach SGB III brauchen. Daran lässt sich diese Entwicklung nämlich konkret messen, vor allen Dingen in der Praxis. Wir sind dafür, so vorzugehen. Die Berufsorientierung in der Schule muss wesentlich gestärkt werden; das wissen wir. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir mit den Programmen des BMBF schon den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wenn wir diese Maßnahmen ausweiten, werden wir es schaffen, die Berufsorientierung an den Schulen, auch wenn wir hier keine direkte Kompetenz haben, zu verbessern. Das ist deshalb notwendig, weil die Ausbildungswünsche der Jugendlichen und die reale wirtschaftliche Lage bzw. die vorhandenen Arbeitsplätze in manchen Regionen nach wie vor nicht übereinstimmen. Es muss uns in Zukunft gelingen, beides miteinander zu verbinden. Die Jugendlichen müssen wissen, welche Branchen, Industrien und Handwerksbereiche es in ihrer Region gibt, und wir müssen uns bemühen, dieses Angebot mit ihren Ausbildungswünschen zu vereinbaren. Wir wollen die Berufsorientierung an allen Schulen verbessern. ({8}) Ausbildungsbegleitende Hilfen und Berufseinstiegsbegleitung werden, wie ich dem Votum des Hauptausschusses des BIBB und dem Minderheitenvotum der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer entnommen habe, begrüßt. Wir werden sogar aufgefordert, diese Hilfen auszuweiten. Wenn wir diese Instrumente zukünftig noch besser und geschickter anwenden, tun wir für die jungen Leute etwas sehr Gutes. Dann geben wir ihnen auch eine gute Perspektive. ({9}) Zum Schluss. Vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage werden in dieser Debatte auch vonseiten der Gewerkschaften einige berechtigte Forderungen erhoben, die ich ausdrücklich befürworten möchte. Die Gewerkschaften fragen zum Beispiel: Was passiert mit den jungen Leuten, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben? Wenn wir sagen, dass durch das Ausbilden von heute der Fachkräftebedarf von morgen gedeckt wird, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass diejenigen, die ihre Ausbildung in diesem oder im nächsten Jahr abschließen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Die SPD möchte eine Beschäftigungsbrücke bauen. Wir wollen die jungen Leute in den Arbeitsmarkt integrieren und denen, die kurz vor der Verrentung stehen, die Chance geben, im Rahmen einer vernünftigen Altersteilzeitregelung aus dem Arbeitsleben auszuscheiden. Eine solche Beschäftigungsbrücke werden wir in den nächsten Jahren brauchen. Daher werden wir sie auf den Weg bringen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/12640, 16/12680 und 16/12665 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Es sieht so aus. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 500 000 Arbeitsplätze - Existenzsichernd und öffentlich gefördert - Drucksache 16/12682 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE Sicherheit und Zukunft - Initiative für ein so- zial gerechtes Antikrisenprogramm - Drucksachen 16/12292, 16/12485 - Berichterstattung: Abgeordneter Paul Lehrieder c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Werner Dreibus, Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gute Arbeit - Gutes Leben Initiative für eine gerechte Arbeitswelt - Drucksachen 16/6698, 16/12469 Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Pothmer Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 75 Minuten dauern. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Werner Dreibus für die Fraktion Die Linke. ({2})

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 6 Prozent minus drohen der Wirtschaft, Hunderttausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Die Menschen brauchen jetzt Schutz vor den Auswirkungen der Krise. Deshalb fordern wir einen Schutzschirm für Menschen. ({0}) Wir legen Ihnen dazu in drei Anträgen detaillierte konkrete Vorschläge vor. Nach wie vor hilft die Große Koalition vor allem maroden Banken. Auch der Wirtschaftsgipfel vom gestrigen Tag ändert daran leider nichts. Allein einer einzigen Bank, der HRE, schieben Sie mehr Geld zu, als Sie für die Rettung von Arbeitsplätzen auszugeben bereit sind, Ihre Konjunkturprogramme inbegriffen. Sie reden davon, dass die Banken zu bedeutend für die Wirtschaft sind, als dass wir sie pleitegehen lassen können. Das mag so sein. Aber dann müssen Sie, dann müssen wir auch von den Arbeitsplätzen von Millionen Menschen sprechen, die noch bedeutender sind und deren Verlust wir ebenso wenig hinnehmen können. ({1}) Die Menschen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sind systemrelevant. Dazu hört man von Ihnen viel zu wenig. Sie bedienen vor allen Dingen die Interessen derjenigen, die uns die Krise eingebrockt haben. Diejenigen, die unter ihr leiden, speisen Sie mit warmen Worten ab. Beschäftigungsgarantien für die bei Opel Beschäftigten? Fehlanzeige. Hilfen für den Mittelstand, dem die Banken den Kredithahn zudrehen? Fehlanzeige. Investitionen für neue Arbeitsplätze? Fehlanzeige. Beschäftigungsprogramme für Langzeitarbeitslose? Fehlanzeige. Und so weiter. Keinen einzigen Euro wollen Sie ausgeben, um die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I zu verlängern. Nach Ihrem Willen landen die meisten Menschen, die heute arbeitslos werden, spätestens nach einem Jahr bei Hartz IV. Auch den Millionen, die schon heute Hartz IV beziehen, bieten Sie keine Perspektive. Sie sind nicht einmal bereit, das Arbeitslosengeld II zu erhöhen, sodass die Menschen würdevoll davon leben können. ({2}) Ich nenne nur die Zahl: 2,5 Millionen arme Kinder in Deutschlands Haushalten. Das ist und bleibt eine Schande für unser Land. ({3}) Die Koalition redet nur von der Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie ignoriert, dass sich dahinter eine tiefgehende humanitäre Krise verbirgt. Angesichts dessen, wie SPD und Union auf die aktuellen Prognosen reagieren, stelle ich mir ernsthaft die Frage, ob die Koalition noch politisch zurechnungsfähig ist. ({4}) Sie sind bisher für 2009 von einem Minus von 2,25 Prozent ausgegangen und haben als Gegenmaßnahme Konjunkturhilfen in Höhe von 20 Milliarden Euro beschlossen. Jetzt wird von 6 Prozent minus und von bis zu 1 Million mehr Arbeitslosen ausgegangen. Was macht die Kanzlerin? Sie erklärt, die bisherigen Konjunkturprogramme müssten ausreichen. Genauso gut könnte man behaupten, dass ein Damm, der darauf ausgelegt ist, vor einer Flutwelle von 5 Metern Höhe zu schützen, auch vor einer Flutwelle von 15 Metern Höhe schützt. Doch ein Tsunami ist etwas anderes als das jährliche Frühjahrshochwasser. Das alles ist realitätsfern, dreist und unverantwortlich. ({5}) Zu dieser Realitätsferne gehört auch, dass Sie wohlbegründete Warnungen regelmäßig in den Wind schreiben, selbst wenn sie von Ihnen nahestehenden Leuten kommen. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank hat bereits im letzten Herbst einen Rückgang der Wirtschaftsleistung von bis zu 4 Prozent für möglich gehalten. Sie und Ihre verantwortlichen Minister haben das damals im Bundestag als Panikmache abgetan. Jetzt wissen wir: Wir müssen mit einem Rückgang von 6 Prozent rechnen. Ebenfalls im Herbst 2008 hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit davor gewarnt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu kürzen. Ich habe in der damaligen Bundestagsdebatte gesagt: Nur Geisterfahrer oder Zyniker senken in der Krise die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. - „Unsinn“, hieß es damals aus Ihren Reihen, „das Geld reicht allemal, wir haben genug Rücklagen.“ In diesem Herbst wird die Bundesagentur mit leeren Händen dastehen. Die neue Steuerschätzung wird möglicherweise einen Fehlbetrag von 20 Milliarden Euro ausweisen. Bis 2013 werden nach den jetzt vorliegenden Berechnungen in den öffentlichen Kassen krisenbedingt bis zu 200 Milliarden Euro fehlen. Dennoch weigern Sie sich weiterhin beharrlich, die Reichen und Superreichen wenigstens in der Krise stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen: Die Steuern für Spitzenverdiener werden nicht erhöht, große Vermögen werden auch weiterhin nicht besteuert. Wie wollen Sie denn die Kosten der Krise schultern? Wir haben eine schlimme Befürchtung: Sie holen sich das Geld bei den Beschäftigten, bei den Arbeitslosen und bei den Rentnern, ({6}) selbstverständlich erst nach der Bundestagswahl. ({7}) Dann heißt es wieder, alle müssten jetzt den Gürtel enger schnallen. Aber Sie meinen immer nur diejenigen, die sowieso schon nicht viel haben. Das ist Politik gegen die Menschen. ({8}) Da kann die SPD noch so schöne Sachen in ihr Programm schreiben. Mit Ihrem Wunschpartner FDP - das werden wir gleich noch hören -, werden Sie davon nichts umsetzen können, und Sie wissen das. Trotzdem täuschen Sie die Wählerinnen und Wähler. Die nächste Umverteilung von unten nach oben hat Herr Steinbrück mit seinem Weg zu den Bad Banks schon eingeleitet. Der Finanzminister redet von einem „Risiko für Steuerzahler, das bleibt“. Auf gut Deutsch heißt dies: Wenn sich die faulen Wertpapiere auf Dauer als unverkäuflich erweisen, dann zahlen halt die Steuerzahler die Zeche. Den Banken kann man das ja nicht zumuten. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Krisenpolitik zu ändern. Verteilen Sie die Kosten der Krise gerecht! Ein erster Schritt ist eine Millionärsabgabe. ({9}) Eine Abgabe von 5 Prozent auf hohe Vermögen für die Zeit der Krise bringt den öffentlichen Kassen 80 Milliarden Euro jährlich. Zweitens fordern wir Sie auf, mit diesem Geld einen Schutzschirm für Menschen zu spannen: Verlängern Sie jetzt die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I und erhöhen Sie das Arbeitslosengeld II! ({10}) Legen Sie einen Zukunftsfonds auf, der Unternehmen bei der Umstellung der Produktion auf energie- und rohstoffeffiziente Verfahren und Produkte unterstützt und so bestehende Arbeitsplätze sichert und neue Arbeitsplätze schafft! Bauen Sie die sozialen Dienstleistungen in der Kinderbetreuung, der Altenpflege, der Bildung und anderswo aus und schaffen Sie dazu eine Million neuer Arbeitsplätze! Wann, wenn nicht jetzt? ({11}) Richten Sie 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze für diejenigen ein, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben! Details finden Sie in unserem Antrag. Sichern Sie Beschäftigung, indem Sie anstelle von Leiharbeit, befristeten Verträgen und Minijobs gute Arbeit, also das unbefristete und tariflich entlohnte Beschäftigungsverhältnis, fördern! Dies hilft dem Einzelnen, aber auch der Nachfrage und damit tatsächlich der Konjunktur. ({12}) Die Krise hat auch etwas mit der Selbstherrlichkeit von Managern zu tun, die meinten und immer noch meinen, der Börsenkurs sei das Wichtigste. Das Wichtigste im Unternehmen sind und bleiben aber die Menschen, die in den Betrieben arbeiten und die Werte schaffen. Deshalb ist ein wichtiger Teil unseres Antikrisenprogramms der Ausbau, die Stärkung der Mitbestimmung und eine Beteiligung der Beschäftigten an den Unternehmen. ({13}) Nur so werden die Menschen in die Lage versetzt, ihre Interessen am Schutz von Arbeitsplätzen, an Löhnen und guten Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Die Grundlage unseres Sozialstaats bilden die Arbeitslosen-, die Gesundheits- und die Rentenversicherung. Deren Funktionsfähigkeit wurde durch Ihre Kürzungspolitik in den letzten zehn Jahren erheblich belastet und eingeschränkt. ({14}) Die Krise führt jetzt zu weiteren Belastungen. Deshalb - auch dies gehört zu unserem Thema - brauchen wir sofort so etwas wie eine Staatsgarantie für die Sozialkassen. In der Krise und danach müssen Kürzungen bei den Leistungen für Arbeitslose, Kranke und Rentner verbindlich ausgeschlossen werden. ({15}) Auch das ist Teil eines notwendigen Schutzschirms. Retten Sie nicht die Spekulanten, schützen Sie die Menschen! Das ist das Antikrisenprogramm der Linken, und es sollte ein Antikrisenprogramm des Deutschen Bundestages insgesamt werden. Vielen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nachdem der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe einen wesentlichen Teil seiner Bemerkungen den Vertretern eines Teils der Opposition jetzt gerade schon privat erläutert hat, verbleiben ihm 14 Minuten für eine Rede an das gesamte Haus. - Lieber Kollege Brauksiepe, Sie haben das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich untertänigst für die Maßregelung. ({0}) Ich will deutlich sagen: Herr Kollege Dreibus, es tut mir schon ein bisschen leid für Sie, dass Sie das alles heute hier vortragen mussten. Wenn die zweitkleinste Fraktion des Hauses ({1}) hier in der Kernzeit zu so wichtigen Themen Anträge stellt, dann hätte man ja vermuten können, dass jemand aus ihrer vordersten Führungsreihe etwas dazu sagt. Dass diese das nicht tun wollten, liegt aber wahrscheinlich daran, dass die Anträge, die Sie hier heute stellen, wirklich jenseits der Peinlichkeitsgrenze sind. Man muss sich nur einmal die Titel anschauen. Sie schreiben zum Beispiel: „500 000 Arbeitsplätze - Existenzsichernd und öffentlich gefördert“. Das ist wunderbar. Wo haben Sie damit angefangen? Was ist mit dem Arbeitsmarkt hier in Berlin? Was haben Sie davon in Mecklenburg-Vorpommern getan, als Sie dort etwas zu sagen hatten? Wo waren die Resultate dieser Arbeit? Daneben schreiben Sie als Teil eines Titels: „Gute Arbeit - Gutes Leben“. Nicht Sie persönlich, aber die Regierung, die Ihre Partei stellte, hat am 17. Juni 1953 die Arbeitsnorm erhöht. ({2}) 1989 haben Sie sich mit einer Ostrente von 330 Ostmark von der Weltbühne verabschiedet. ({3}) 20 Jahre später meinen Sie, einen Antrag, in dessen Titel „Gute Arbeit - Gutes Leben“ steht, als Beschlussvorlage vorlegen zu können. Wer soll Ihnen das eigentlich glauben? Das können Sie doch wohl selbst nicht ernsthaft glauben. ({4}) Sie tun so, als sei es eine Sache des politischen Willens, zu beschließen, dass alle ein gutes Leben führen wollen. Nein, Herr Kollege, das ist eben der Unterschied. Ihre Auffassung teilen Sie mit manchen Finanzmarktjongleuren, die weltweit agiert haben und auch glaubten, dass das Geld einfach so auf der Straße liegt. Das Geld liegt nicht auf der Straße. Renditen von 25 Prozent kann man nicht dauerhaft ehrlich erwirtschaften. Man kann das Geld auch nicht drucken, in der Hoffnung, dass man etwas dafür kaufen kann. „Gute Arbeit - Gutes Leben“ ist bei uns möglich, aber es muss hart erarbeitet werden und nicht durch Phrasendrescherei, wie Sie das hier tun. Das ist der Unterschied. ({5}) Die Situation, in der wir uns befinden, ist wirtschaftlich schwierig; jeder weiß das. Es wird ein Jahr der schlechten Nachrichten sein. Wir wissen, dass auch heute Prognosen für die Zukunft gestellt werden, die natürlich große Herausforderungen für uns bedeuten. Für uns als CDU/CSU-Fraktion heißt das, gerade in diesen schwierigen Zeiten den Kurs zu halten, den die Regierung unter Angela Merkel in den letzten Jahren mit großem Erfolg eingeschlagen hat. Wir haben eben eine Wirtschaftskrise und keine Systemkrise. Es ist jetzt insbesondere nicht die Zeit, in der gescheiterte Ideologien von anno dazumal wieder aufkommen. Es ist eine Wirtschaftskrise, die wir durch eine gute Politik nach den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft wieder überwinden werden. Das werden Sie in den nächsten Jahren erleben. ({6}) Wenn man sich vor Augen führt, dass wir jetzt seit über einem halben Jahr mit dieser Krise zu tun haben, dann merkt man, dass wir es mit einer Situation auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben, die vergleichsweise robust ist. Es hat sich gelohnt, dass auf dem Arbeitsmarkt Anstrengungen unternommen und wichtige Reformen durchgeführt worden sind. Nach drei Jahren haben wir fast 2 Millionen Arbeitslose weniger. Wir haben über 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen, und wir sind hinsichtlich der Arbeitslosigkeit jetzt noch immer fast auf dem Niveau des Vorjahres. An dieser Stelle will ich auch noch einmal deutlich sagen: Wenn man Millionen zusätzliche Arbeitsplätze schafft, dann sind darunter immer schlechter und besser bezahlte Arbeitsplätze; das ist wohl wahr. Ich will aber auch in diesen Tagen noch einmal sagen: Obwohl es jetzt insgesamt wieder eine schwierigere Lage auf dem Arbeitsmarkt gibt, geht der Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland weiterhin voran. Wir haben heute weniger Langzeitarbeitslose als früher. Was uns von denjenigen unterscheidet, die eine Systemkrise herbeireden wollen, ist folgende Erkenntnis: Wenn jemand beispielsweise nach einer Arbeitslosigkeit von drei Jahren für 9,60 Euro pro Stunde wieder eine Beschäftigung findet, dann ist das nach der amtlichen Statistik ein Niedriglohnjob, weil das weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns ist; denn zum Glück sind die Durchschnittslöhne in diesem Land hoch. Wenn jemand eine große Familie hat, dann muss er vielleicht noch aufstockende Leistungen erhalten. Dass das Wort dafür „Arbeitslosengeld II“ heißt, ist sicherlich keine ruhmreiche Erfindung. ({7}) So mag ein Aufstocker oder ein Niedriglohnbezieher mehr in der Statistik sein, vor allem aber ist das ein Langzeitarbeitsloser weniger. Der Trend der erfolgreichen Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit setzt sich fort. Darum geht es uns im Gegensatz zu Ihnen. ({8}) Auch wenn Sie in der Sache keine Erfolge vorzuweisen haben, haben Sie an der Propagandafront durchaus Erfolge erzielt, das will ich Ihnen zugestehen. Obwohl wir für den Kreis der ehemaligen Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger heute deutlich mehr Geld ausgeben, als das in der Zeit der getrennten Rechtskreise der Fall war, haben Sie es geschafft, den Eindruck zu erwecken, als wäre an dieser Stelle das große Elend ausgebrochen. Ich will im Zusammenhang mit den Leistungen gerade im Hinblick auf die Kinder sagen: Diese Regierung hat dafür gesorgt, dass diejenigen, die am wenigsten haben, eine Leistungsausweitung bekommen. Wir wissen, dass das zur Führung eines menschenwürdigen Lebens notwendig ist. Wir reden in diesen Tagen über vieles - über die Abwrackprämie, über das Kindergeld, über was auch immer -, was eigentlich anrechnungsfrei sein sollte. Die Einführung des Arbeitslosengelds II hat dazu geführt, dass heute die betroffenen Kinder aller Altersstufen deutlich besser dastehen als in der Zeit der getrennten Systeme. Der Abstand zwischen dem, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die die Kinderregelsätze erwirtschaften, als Kindergeld für ihre Kinder bekommen, und dem, was diejenigen, die nicht arbeiten, von dem bekommen, was andere erwirtschaften, ist in allen Gruppen größer geworden. In diesem Jahr wird es das Schulstarterpaket für alle Kinder geben, deren Familie vom Arbeitslosengeld-II-Bezug lebt, ferner sind die Regelsätze angehoben worden. Auch die Renten steigen in diesem Jahr. Diejenigen, die Kindergeld bekommen, erhalten 120 Euro mehr. Diejenigen, die für die 6- bis 13-jährigen Kinder einen erhöhten Regelsatz bekommen, bekommen 340 Euro mehr in diesem Jahr. Wir stehen dazu, weil wir wissen, dass wir diejenigen, die am unteren Rand der Einkommensskala sind, nicht vergessen dürfen. Für uns ist im Gegensatz zu Ihnen aber auch klar: Jeder Euro, den einer bekommt, muss von einem anderen erwirtschaftet werden, und jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden. Das haben Sie über Jahrzehnte vergessen oder bis heute nicht begriffen. Jeder Euro, der einem Hilfebedürftigen gegeben wird, muss von jemandem erwirtschaftet werden, der dafür morgens aufsteht, zur Arbeit geht und somit diesen Sozialstaat finanziert. Das sollten Sie sich merken, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Deshalb verstecken wir uns nicht mit dem, was wir für die bedürftigen Menschen geleistet haben. Mit der gleichen Deutlichkeit sagen wir: Es müssen sich auch diejenigen in der Politik aufgehoben fühlen, die jeden Tag zur Arbeit gehen. Auch diejenigen, die hart arbeiten und sich an die Regeln in diesem Land halten, müssen sich in der Politik wiederfinden. Diese Menschen spielen in Ihren Anträgen niemals eine Rolle, sie stehen aber im Mittelpunkt der Politik, die wir in der Großen Koalition machen und für die wir als CDU/CSU stehen. Genau dafür stehen wir. ({10}) - Ja, eine neue Regierung tut nach einigen Jahren gut. Herr Niebel, damit Sie da erfolgreich mitmachen können, müssen Sie sich ein bisschen anstrengen. Dann müssen Sie auf das zurückkommen, was wir früher einmal gemeinsam gemacht haben. ({11}) Die Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme haben wir nie gemeinsam betrieben. Solange Sie diese fordern, können Sie auch nicht wieder regieren, so einfach ist die Sache. ({12}) Wir werden denjenigen Menschen, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten, nicht mit einer populistischen Reichensteuer und Ähnlichem antworten. Das ist leider auch das Problem unseres Koalitionspartners. Sie als Sozialdemokraten werden einen Wettlauf mit der Linkspartei um Linkspopulismus nie gewinnen. Mit einem Steuerkonzept, durch das Sie der Mittelschicht - den Leistungsträgern in unserem Land - überhaupt nichts zu bieten haben, werden Sie bei den Wählerinnen und Wählern nichts gewinnen. Wir stehen dafür, dass die Leistungsträger, dass die Bezieher der kleinen und mittleren Einkommen in diesem Land entlastet werden, damit sie wissen: Es lohnt sich, zu arbeiten. ({13}) Von ihnen wird Solidarität verlangt, aber sie haben auch etwas von der Leistung, die sie selbst erbringen. Das ist auch ein wichtiger Unterschied. ({14}) Wenn wir die Debatte über Mindestlöhne in diesen Zeiten sehen, dann wird klar, dass wir mit unserer Politik als CDU/CSU genau auf dem richtigen Weg sind. Sie können als Linkspartei mehr Geld für alle versprechen. „Mehr Geld für alle“ - das ist Ihr Programm: ({15}) mehr Geld für diejenigen, die arbeiten, und mehr Geld für die, die nicht arbeiten. Wo es herkommt, bleibt Ihr Geheimnis. Es muss aber erarbeitet werden. Man muss sich wundern, wenn von Sozialdemokraten heute zu hören ist, dass sie sich ärgern, weil die Linkspartei einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro fordert. ({16}) Das hält die SPD für eine Sauerei. Sie fordert nur 7,50 Euro und wird jetzt überboten. So was kommt von so was. Wenn man einmal anfängt zu fordern, der Staat solle die Löhne festsetzen, dann kommt man in einen Überbietungswettbewerb, aus dem man nicht mehr herausfindet. ({17}) Diesen Kampf können Sie nicht gewinnen. Sie hätten besser gar nicht damit angefangen. Wir hätten besser von vornherein gemeinsam auf die Tarifvertragsparteien und die Tarifautonomie gesetzt. Das ist der Weg, den wir eingeschlagen haben. Was die Konjunkturpakete angeht, die wir in der Großen Koalition beschlossen haben, sind wir nach meiner festen Überzeugung auf dem richtigen Weg. Es geht darum, in dieser schwierigen Krise das Signal zu senden, dass es sich lohnt, wenn die Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Betrieben diese schwierige Krise gemeinsam durchstehen, wenn sie beieinanderbleiben, wenn die Arbeitgeber die Beschäftigten weiterqualifizieren, statt sie in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, und wenn Kurzarbeit da, wo sie notwendig ist, auch durchgeführt wird, aber die Menschen nicht auf die Straße gesetzt werden. Das können wir arbeitsmarktpolitisch tun, um die Menschen auch in dieser schwierigen Zeit zu entlasten. Wir setzen darauf, dass Weiterbildung betrieben wird und der vorhandene gesetzliche Rahmen ausgeschöpft wird. Wir haben in den guten Jahren der Regierung Merkel Reserven angehäuft. Das gilt für die Rentenkassen und die Arbeitslosenversicherung. Wir haben auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosenversicherung keine Sparkasse ist. Deswegen nutzen wir jetzt die Reserven, um in dieser schwierigen konjunkturellen Phase gegenzusteuern. Aber auch hier gilt: Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um weitere kostenträchtige Programme draufzusetzen. Wir sollten nicht das, was wir selbst gemacht haben, schlechtreden, sondern es erst einmal wirken lassen. Es ist ein gutes Angebot, um die Menschen in Arbeit und Beschäftigung zu halten. Darum geht es in dieser Zeit. ({18}) Wir setzen auf einen Kurs, der wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet. Was die soziale Gerechtigkeit angeht, müssten Sie noch ein bisschen üben, Herr Kollege Niebel. Wenn Sie aber kräftig üben, dann können wir das gemeinsam hinkriegen. ({19}) Dies ist nicht die Zeit, um die Rezepte von anno Tobak wieder vorzulegen. Es geht vielmehr darum, mit einer Politik der sozialen Marktwirtschaft und der sozialen Gerechtigkeit Kurs zu halten. ({20}) Diese Politik werden wir auch in diesen schwierigen Zeiten weiterverfolgen. Gute Arbeit und gutes Leben müssen erwirtschaftet werden. Sie sind am besten unter den Rahmenbedingungen möglich, für die nicht Sie und alle anderen stehen, sondern die die CDU/CSU bietet. Herzlichen Dank. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dirk Niebel für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man kann und muss den Linken normalerweise einiges vorwerfen, aber einen Vorwurf darf man ihnen heute nicht machen, nämlich dass sie die vorliegenden Anträge allein wegen der bevorstehenden 14 Wahlen eingebracht haben. Diesen Unsinn beantragen die Linken in diesem Hause schon seit mindestens drei Jahren regelmäßig, bloß nicht so komprimiert wie heute. ({0}) Heute beschäftigen wir uns mit Anträgen der Linken, die nicht neu sind, sich aber in der Populismusquote graduell von den bisherigen Anträgen unterscheiden. Allein im Bereich des Arbeitsmarktes wird eine bemerkenswerte Liste von Forderungen erhoben: die Einführung der paritätischen Mitbestimmung in allen Unternehmen ab 500 Beschäftigten, gleichzeitig die Zwangsbeteiligung der Beschäftigten an Unternehmen, ein mit 100 Milliarden Euro ausgestatteter Zukunftsfonds, 1 Million zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse in sozialen Diensten, 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze, die Verlängerung des Arbeitslosengelds I, die Erhöhung des Arbeitslosengelds II, die Einführung des Mindestlohns, die Arbeitszeitverkürzung, die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes, die Ausdehnung der Altersteilzeit und die Millionärsabgabe. Was noch fehlt, ist der von Oskar Lafontaine geforderte Spitzensteuersatz von 80 Prozent. Das, was Sie hier fordern, könnte einen fast vermuten lassen, dass Sie absolut keine Ahnung haben, was vor 20 Jahren in diesem Land mit der Staatswirtschaft passiert ist. Das, was Sie hier fordern, führt mich zu der Schlussfolgerung, dass Sie versuchen, uns glauben zu machen, dass die DDR mit all dem, was dort in wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Hinsicht schiefgegangen ist, eine reine Simulation des Westens gewesen ist. Das ist der Grund, warum Sie und mancher bei der SPD versuchen, dieses elendige Unrechtsregime auf deutschem Boden nachträglich zu legitimieren. ({1}) Sie versuchen, den Menschen klarzumachen, dass alles geht. Ein „Wünsch dir was“-Schlaraffenland! Dabei sind Sie auch noch unsozial. Sie fordern nur einen Mindestlohn in Höhe von 8,71 Euro. ({2}) Das geht gar nicht; denn wenn der Mindestlohn bei 10,50 Euro läge, dann hätte eine fünfköpfige Durchschnittsfamilie in Deutschland 1 829 Euro netto zur Verfügung. Auch ohne eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes II hat die gleiche Familie aber heute schon Transferleistungen in Höhe von 2 017 Euro zur Verfügung. Warum fordern Sie dann nicht so viel Mindestlohn, dass diejenigen, die arbeiten, wenigstens das bekommen, was diejenigen, die nicht arbeiten, schon heute bekommen? Ich finde, das ist in höchstem Maße unsozial. ({3}) Finanzieren sollen das die Reichen. Die Reichen sind nach Ihrem Verständnis die Facharbeiter, die arbeiten gehen und vielleicht mit Überstunden versuchen, sich und ihrer Familie nebenher noch irgendetwas zu ermöglichen. Diese Bundesregierung greift nämlich - wir haben Herrn Brauksiepe gehört, aber inhaltlich nicht wirklich verstanden - der Mitte der Gesellschaft in die Tasche. Diese Bundesregierung und Sie, die Kommunisten auf der linken Seite dieses Hauses, vergessen diejenigen, die den Laden in Deutschland überhaupt am Laufen halten. Fordern Sie doch einmal ein Wachstumsprogramm für Deutschland, ohne einen Steuer-Cent in die Hand zu nehmen! Ein solches Wachstumsprogramm könnten Sie dadurch gestalten, dass Sie Investitionshemmnisse beseitigen und dafür sorgen, dass Privatleute freiwillig Geld für Dinge geben, die uns alle keinen Cent kosten. ({4}) Zwei Beispiele. Diese Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, sie wolle ein bundesweites Flughafenkonzept erstellen. Allein im Bereich des Ausbaus von Flughäfen, und zwar nicht nur der großen, sondern auch der kleinen, gibt es einen Investitionsstau mit einem Volumen von 20 Milliarden Euro, nur weil diese Bundesregierung das nicht umsetzt, was sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, und sich nicht traut, sich zu einigen. Das Gleiche gilt für den konventionellen Kraftwerksbau. Dort gibt es einen Investitionsstau mit einem Volumen von ungefähr 40 Milliarden Euro, nur weil diese Bundesregierung nicht die politische Kraft und nicht den politischen Mut hat, dafür zu sorgen, dass Investitionshemmnisse durch ein einheitliches Energiekonzept - das müsste vereinbart werden abgebaut werden. ({5}) Nehmen Sie als weiteres Beispiel die Infrastrukturmaßnahmen im Gesundheitssystem. Hier könnte enorm viel privates Geld fließen, wenn man nicht mit dem Gesundheitsfonds Kassensozialismus betriebe, der zu dem führt, was Sie, die Linken, auf Umwegen wieder einführen wollen, nämlich die „DDR-isierung“ der Bundesrepublik. ({6}) Eines ist völlig klar: Im Jahre 20 nach dem Mauerfall werden Sie nicht mehr die Chance bekommen, auf Bundesebene politischen Einfluss auszuüben. ({7}) Wenn in über 80 Jahren in mehr als 70 Ländern der Welt das Ergebnis des Feldversuches Sozialismus immer das gleiche war, nämlich der Ruf der Menschen nach Freiheit und der Bankrott des Staates, dann liegt das nicht daran, dass die Idee ein wenig falsch umgesetzt wurde, sondern daran, dass Ihre Ideen falsch sind. Deswegen werden Sie auch in diesem Haus keine Mehrheiten bekommen. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linken haben wieder drei Anträge vorgelegt - hier kann ich dem Kollegen Niebel nur beipflichten -, die letztendlich die Essenz dessen darstellen, was die Linken in den letzten drei Jahren uns immer wieder vorgelegt haben. Es handelt sich um Anträge, die man unter der Überschrift „Für eine gerechtere Arbeitswelt“ zusammenfassen kann. Tatsächlich wird aber nach dem Motto gehandelt: Schreiben wir noch einmal auf, was uns in all den Jahren eingefallen ist. - Dabei lassen sich auch Vorschläge finden, die falsch sind, Vorschläge, die die Tarifautonomie aushebeln, sowie Vorschläge oder Behauptungen, die schlicht Unsinn sind. Ich sage das so deutlich; denn anders kann ich Ihre Vorschläge nicht verstehen. Herr Dreibus, Sie haben gesagt, wir sollten die Menschen vor den Vorschlägen der Bundesregierung schützen. Ich sage Ihnen: Wir müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land vor Ihren Anträgen schützen, weil sie weltfremd sind und die Tarifautonomie im Wesentlichen aushebeln. ({0}) Die Linke stellt in einem ihrer Anträge fest, dass es in den letzten Jahren zu einer gravierenden Erosion bei den normalen Arbeitsverhältnissen gekommen sei und diese durch atypische Beschäftigungsverhältnisse zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ersetzt worden seien. ({1}) - Ja, da haben Sie recht. Dazu komme ich noch. - Sie zieht daraus den Schluss, dass es dadurch zu einer Destabilisierung des Sozialversicherungssystems gekommen sei. 1998, vor ungefähr zehn Jahren, waren die gesamten Sozialversicherungssysteme dicht vor dem Bankrott. Ich sage Ihnen mit aller Deutlichkeit: Erst die rot-grüne Regierung hat durch die Wiederbelebung des Arbeitsmarkts und durch die schnellere Vermittlung von arbeitslosen Menschen auf dem Arbeitsmarkt dafür gesorgt, dass sich auch die Sozialversicherungssysteme stabilisieren konnten. ({2}) Heute redet außer der Linken keiner mehr vom Bankrott des Rentenversicherungssystems, heute sind die Rentner froh, dass ihre Beiträge nicht in Rentenfonds - bei Lehman Brothers oder bei einer anderen Bank -, sondern in einem sicheren System investiert worden sind. Mit fast 28 Millionen Menschen im Herbst 2008 ist der höchste Stand an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht worden. Dies hat sich zurzeit aufgrund der Wirtschaftskrise verkehrt. Ich will Ihnen die Zahlen trotzdem in Erinnerung rufen, weil man sie Ihnen nicht oft genug sagen kann, weil Sie nur schwarzmalen und weil Sie Ihre Politik letztendlich darauf begründen, Menschen in diesem Staat zu verunsichern. Die Zahl der Erwerbstätigen lag im Jahresdurchschnitt 2008 deutlich über 40 Millionen und damit auf dem höchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Es waren in der Mehrzahl nicht atypische Verhältnisse. Auch ich habe die Presse in den letzten Tagen verfolgt, in der zu lesen war, dass der Anteil der atypischen Verhältnisse seit 1997 beträchtlich gestiegen ist, und zwar von 17 auf 25 Prozent. Das ist richtig, und das ist bedauerlich, aber es sind nicht 4,6 Millionen atypische Arbeitsverhältnisse, wie Sie es aufzählen, sondern es waren tatsächlich 3,0 Millionen in 2007 und 3,1 Millionen in 2006. ({3}) - Das sind immer noch 3 Millionen zu viel. Da stimme ich mit Ihnen überein. Aber es sind 1,6 Millionen weniger, als Sie formulieren. - Damit wird deutlich, dass Sie mit getürkten Zahlen argumentieren ({4}) und dass Ihre Politik eine Politik der Verunsicherung, wie ich es gerade schon dargestellt habe, ist. Sie wollen mit dieser Verunsicherung Wählerstimmen gewinnen. Wir werden dafür sorgen, dass die Menschen in diesem Land Ihnen nicht auf den Leim gehen. ({5}) Auch die von Ihnen geforderte Genehmigung von Lohnsenkungen ist für mich nicht nachvollziehbar. Sie hebeln mit solchen Forderungen die Tarifautonomie aus; denn ob es Lohnsenkungen oder Lohnerhöhungen gibt, darüber entscheiden die Tarifvertragsparteien, nur sie. Ich warne davor, dass der Staat in Tarifverhandlungen eingreift. Es kann nicht angehen, dass wir das autonome Recht der Tarifvertragsparteien immer wieder in den Vordergrund stellen und sagen, daran wollten wir nicht rütteln, aber hier wollen Sie - ({6}) - Bei der Zeitarbeit geht es um Mindestlöhne und nicht um die Tarifautonomie im Allgemeinen. ({7}) Die von Ihnen geforderten Verbesserungen im Kündigungsschutz sind für mich als ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden nicht nachvollziehbar. Möglicherweise liegt das daran, dass Sie sich von einigen Gewerkschaftern für die nächste Wahlperiode trennen. Sie hätten auf deren gute Ratschläge und auf deren Information nicht verzichten sollen; denn die Gewerkschafter aus den Betrieben hätten Ihnen erzählen können, dass bei Sozialplänen das Alter und die Betriebszugehörigkeit eine entscheidende Rolle spielen. Die hätten Ihnen erzählen können, dass in vielen Tarifverträgen der Schutz von über 55-Jährigen gewährleistet ist. Da frage ich mich: Was wollen Sie damit erreichen? Sie versuchen, die Menschen zu verunsichern, und das wird in Ihrem Antrag - das habe ich gerade schon gesagt - durch die Verfälschung von Zahlen ganz deutlich. Sie müssen aus unserer Sicht einen anderen Ansatz, einen ganzheitlichen Ansatz suchen. Bedingt durch den demografischen Wandel werden wir in Zukunft die notwendige Wertschöpfung zunehmend mit älteren Beschäftigten erbringen müssen. Ihr Wissen und ihr Können sind unverzichtbar. Dem müssen wir in Zukunft Rechnung tragen. Wir brauchen alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze. Wir wissen, dass lebenslanges Lernen gefordert ist. Auch das ist in der Diskussion zum vorherigen Tagesordnungspunkt schon dargestellt worWolfgang Grotthaus den. Wir sind der Auffassung, dass die Betriebe eine demografiefeste Personalpolitik betreiben müssen, dass die Gesundheitspolitik, insbesondere die Prävention, in den Betrieben verstärkt werden muss und Formen von intelligenter Arbeitsorganisation erforderlich sind. Das alles muss so gestaltet werden, dass Jung und Alt gemeinsam ihre Interessen in diesen Forderungen wiederfinden. Eines will ich hier nicht außen vor lassen: Wir müssen uns in den Betrieben auch um die Frauen kümmern. ({8}) Wir müssen die Gleichberechtigung der Frauen bei der Bezahlung und bei der Besetzung von Funktionen umsetzen, insbesondere in den Aufsichtsräten und den Vorständen. Angesichts der Reaktionen der Kolleginnen kann ich nur sagen: Frau Kollegin Pothmer, ({9}) Ihnen scheint es nicht angenehm zu sein, wenn ein Mann, der Erfahrung im Betrieb gesammelt hat, über dieses Thema spricht. ({10}) Ich habe erlebt, wie Frauen im Betrieb niedergemacht werden, weil sie in dem Alter waren, Kinder zu bekommen, und wie mit gewerkschaftlicher und betriebsrätlicher Unterstützung dafür gesorgt wurde, dass Frauen genauso behandelt werden, wie die Männer behandelt worden sind. ({11}) Lassen Sie uns darüber nicht unterschiedlich diskutieren, sondern lassen Sie uns - Sie als Frauen und wir als Männer - den Schulterschluss finden, um die gemeinsamen Interessen durchzusetzen. ({12}) Fazit dessen, was ich gesagt habe, ist: Nicht die Diskussion - auch Sie haben das gesagt - über die Rente mit 67 ist vorrangig. Vorrangig stellt sich vielmehr die Frage: Wie kann ich eine zusätzliche Humanisierung von Arbeitsplätzen in der Form erreichen, dass die Menschen nach dem Eintritt in die gesetzliche Altersrente ihren Lebensabend gesund verbringen können? Darum geht es, nicht um die Diskussion, ob man ein oder zwei Jahre länger oder kürzer arbeitet. Ein letzter Punkt. Beim Thema Mindestlohn liegen wir auf einer Linie. Ich sage Ihnen: Der Branchenmindestlohn ist ein Einstieg. Wir wollen einen flächendeckenden Mindestlohn. Dies ist mit unserem Koalitionspartner nicht möglich. Ich habe dem Kollegen Brauksiepe mit großem Interesse zugehört. Ich freue mich auf die Wahlkampfauseinandersetzung. ({13}) Wir haben dazu in unserem Wahlprogramm einiges formuliert, Herr Kollege Brauksiepe. ({14}) Das sollten Sie sich schon einmal zu Herzen nehmen, um Argumente zu sammeln. Wir warten gespannt auf Ihr Wahlprogramm, um zu sehen, wie Sie zu denen stehen, die nicht von ihrer Arbeit leben können. Es wird sehr interessant sein, ob Sie weiterhin eine staatliche Unterstützung auf Kosten der Steuerzahler vorschlagen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Grotthaus, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Wir werden auch nicht dem Verlangen der Linken folgen, die mal einen Mindestlohn von 8,44 Euro, mal einen von 8,71 Euro und mal einen von 10 Euro nach dem Motto „Wünsch dir was“ fordern. Wir haben hier unsere klaren Vorstellungen. ({0}) Ich sage Ihnen: So, wie Sie es hier machen, kann man Politik nicht gestalten. Deswegen werden wir Ihre Anträge ablehnen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Institute haben gerade einen Konjunktureinbruch von 6 Prozent und für das kommende Jahr eine Arbeitslosigkeit von bis zu 5 Millionen Menschen prognostiziert. Trotzdem stellt sich der Bundesarbeitsminister noch vor wenigen Monaten hier hin und stellt Vollbeschäftigung in Aussicht und wiederholt das genau an dem Tag, an dem diese Prognosen auf den Tisch gelegt werden. Das hat mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Das ist Wolkenkuckucksheim. ({0}) Ich sage Ihnen: Ein Bundesarbeitsminister, der sich in einer solchen Situation als Traumtänzer herausstellt, ist für unser Land wirklich hochgefährlich. ({1}) Wir sind keine Traumtänzer. Wir sagen ganz klar: Eine Krise in dieser Dimension kann allein mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten nicht ernsthaft abgefedert werden. Da muss tatsächlich ein anderes Rad gedreht werden. Wir brauchen ein ganz groß angelegtes ökologisches und soziales Investitionsprogramm, mit dem neue und zukunftsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden. Alle Institute zeigen uns: Es ist möglich, in den nächsten Jahren 1 Million Arbeitsplätze zu schaffen, wenn wir vernünftig in Bildung und Forschung sowie Ressourceneffizienz investieren, ({2}) wenn wir die erneuerbaren Energien vorantreiben und wenn wir umweltfreundliche Technologien fördern. All das ist möglich. Aber Voraussetzung dafür ist, dass die Weichen richtig gestellt werden, und diese Regierung stellt die Weichen eben nicht richtig. ({3}) Sie tun so - Herr Brauksiepe hat uns das heute hier in aller Breite vorgetragen -, als handelte es sich um eine schlichte konjunkturelle Delle, die man irgendwie untertunneln müsste. Herr Brauksiepe, dementsprechend sehen Ihre Konjunkturprogramme aus. Diese Ansicht ist aber falsch. Wir haben es mit einer strukturellen, mit einer systemischen Krise zu tun. Es geht um etwas sehr Grundlegendes: Es geht um die Frage, wie wir arbeiten und wie wir wirtschaften. Es geht um die Frage, wie wir Ungleichheiten austarieren und wie wir Gerechtigkeiten herstellen. Weniger als 5 Euro die Stunde für 2 Millionen Menschen in diesem Land - verdammt noch mal, was hat das mit Gerechtigkeit, was hat das mit Austarieren zu tun? ({4}) Ihre Konjunkturprogramme - sie umfassen 80 Milliarden Euro! - sind kurzatmig und sind mit keinem ernsthaften Gestaltungsanspruch verbunden. In erster Linie sind sie eines: teuer. Durch sie wird die Neuverschuldung in atemberaubende Höhe getrieben. Die Rechnung zahlen die nachfolgenden Generationen. Nicht umsonst steht im Grundgesetz, dass die Aufnahme von Schulden an die öffentlichen Investitionen gebunden werden muss, mit denen ein Mehrwert für die Zeit geschaffen wird, in der die Schulden abgetragen werden müssen. Können Sie mir einmal erklären, welcher Mehrwert für die nachfolgenden Generationen zum Beispiel durch die Abwrackprämie geschaffen wird? Mit dieser Abwrackprämie lösen Sie nicht ein einziges Problem. Sie verschieben dieses Problem maximal für ein Jahr; aber dann kommt es in einer größeren Dimension wieder auf uns alle zu. ({5}) Es ist doch klar wie Kloßbrühe: ({6}) Die Leute, die sich jetzt ein Auto gekauft haben, werden als Kunden in den Autohäusern bis auf Weiteres ausfallen. Klar ist auch, dass diejenigen, die ihr Erspartes für ein neues Auto ausgeben, keine Waschmaschine, keine Möbel und weniger neue Kleidung kaufen. ({7}) Mit anderen Worten: Mit der Subventionierung der Automobilindustrie bringen Sie andere Branchen in Schwierigkeiten und treiben da die Arbeitslosigkeit in die Höhe. ({8}) Wenn schon Schulden in dieser Dimension gemacht werden, um die Abwärtsspirale zu stoppen - das stellen wir grundsätzlich gar nicht infrage -, dann müssten wir jetzt aus der Not eine Tugend machen und die Weichen für die Zukunft stellen. Kredite zur Erhaltung des Status quo sind wirklich herausgeworfenes Geld. Das ist unverantwortlich mit Blick auf die nachfolgenden Generationen. ({9}) Aus der Not eine Tugend machen müssen wir auch in der Arbeitsmarktpolitik. Wir haben das Konzept des Kurzarbeitergeldes immer unterstützt. Das ist in dieser Situation richtig. Wir werden das auch weiter unterstützen; das sage ich hier ganz klar. Das Kurzarbeitergeld hat aber eine begrenzte Wirkung. Es leistet keinen Beitrag, die strukturellen Defizite, die wir seit Jahren auf dem Arbeitsmarkt haben, zu beheben. Einen solchen Beitrag zu leisten, bedeutet in allererster Linie, Qualifizierungsdefizite zu beheben. Sonst wird der Fachkräftemangel, über den heute Morgen schon so viel geredet worden ist, die Wachstumsbremse bei einer hoffentlich wieder ansteigenden Konjunktur. Das bedeutet vor allem, dass wir allen Jugendlichen eine qualifizierte Ausbildung geben müssen. ({10}) Wir haben immer noch fast 300 000 Altbewerber. Die Industrie- und Handelskammern gehen von einem Rückgang der Anzahl der Ausbildungsplätze in diesem Jahr von bis zu 10 Prozent aus. Diese Zahl ist heute Morgen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Das heißt doch nichts anderes, als dass diese strukturelle Krise wiederum dazu führen wird, dass weniger Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Ich sage hier ganz deutlich: Das duale System ist gut; das duale System leistet eine qualitativ hochwertige Ausbildung. Das Problem ist aber, dass es das nicht für alle tut, und das im Übrigen schon seit Jahren nicht. Unser Ausbildungssystem ist von konjunkturellen Schwankungen abhängig. Es ist aber falsch, eine solche Frage wie die Ausbildung, die wichtig für das Individuum, aber auch wichtig für die gesamte Gesellschaft ist, von strukturellen Schwankungen abhängig zu machen. ({11}) Die Jugendlichen, die in der jetzigen Krise nicht ausgebildet werden, werden wir brauchen, wenn die Krise vorbei ist. Diese Fachkräfte werden wir dann aber nicht haben. Wir wollen erstens dafür sorgen, dass alle Jugendlichen eine Ausbildung bekommen. Deswegen haben wir das Konzept „DualPlus“ entwickelt. Wir wollen das duale System nicht ersetzen, sondern wir wollen das duale System unabhängig von Schwankungen machen. Wir brauchen etwas neben dem dualen System, und deshalb bitte ich Sie, unserem Vorschlag zuzustimmen. Wir brauchen hier wirklich eine ganz grundlegende Änderung. ({12}) Zweitens müssen wir in dieser Situation die Chance ergreifen, die heute Morgen schon beklagte exorbitant niedrige Akademikerquote in Deutschland anzuheben. Es ist doch klar, dass wir allen Abiturienten, die ein Studium beginnen wollen, einen Studienplatz zur Verfügung stellen. Aber wir müssen auch denjenigen, die jetzt in der Krise bereit sind, ihren Arbeitsplatz zeitlich befristet zu verlassen, um ein Studium zu beginnen, die Chance dazu geben, sodass die Betriebe diesen Arbeitsplatz einem Arbeitslosen zur Verfügung stellen können. Das ist doch die Chance, jetzt die Akademikerquote in Deutschland anzuheben. Die Schweden haben das in der Krise mit großem Erfolg getan. Drittens müssen wir die Geringqualifizierten endlich für mehr Weiterbildung gewinnen. Viertens - da haben die Linken nicht ganz unrecht brauchen wir einen sozialen Arbeitsmarkt, der wirklich funktioniert. Ich sage es jetzt noch einmal an die Adresse der Regierungskoalition: Ihre Murksprogramme wie „Kommunal-Kombi“ und „JobPerspektive“ funktionieren einfach nicht. ({13}) - Nein. Sie haben 100 000 pro Programm avisiert. Die Zahlen sind wirklich jämmerlich. ({14}) Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie Ihre Bockbeinigkeit auf, und stimmen Sie unserem Vorschlag zu, mit dem wir 400 000 Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt strukturell benachteiligt sind, eine Perspektive geben könnten. Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes sagen: Wir werden trotz Kurzarbeitergeld auf eine Massenarbeitslosigkeit zusteuern, und auch dafür brauchen wir Konzepte. Wir brauchen ein Angebot für diejenigen, die in die Arbeitslosigkeit kommen werden. Auch dafür haben wir Ihnen ein Modell vorgeschlagen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Pothmer, achten Sie bitte auf die Zeit.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann Ihnen dieses Modell jetzt nicht mehr in Gänze vorstellen. ({0}) - Das ist wirklich traurig. ({1}) Es geht bei unserem Vorschlag um eine Transfergesellschaft einer ganz neuen Qualität. Ich verspreche Ihnen, dass wir dazu noch einmal eine Debatte führen werden. ({2}) Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die Unionsfraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zugegeben, Herr Dreibus: Die Titel Ihrer Anträge, sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei, klingen irgendwie immer gut: „500 000 Arbeitsplätze“, „Initiative für ein sozial gerechtes Antikrisenprogramm“ - zwar nicht mehr ganz frisch, aber immerhin frisch aufgewärmt -, ({0}) „Gute Arbeit - Gutes Leben“. - Kurz: Der Inhalt hält nicht, was die Titel versprechen. Nähmen Sie es in Ihrer Partei mit dem guten Leben ernst, dann würden Sie nicht, wie in Sachsen kürzlich passiert, den Antrag einer Hartz-IV-Empfängerin in den Reihen Ihrer Partei auf kostenfreie Beteiligung an einem Stadtparteitag in Dresden ablehnen. So geht es nicht: Hier Anträge stellen, aber in den eigenen Reihen ganz anders handeln. ({1}) Es nützt nichts, Wasser zu predigen und selber Wein zu trinken bzw. mit den eigenen Mitgliedern anders umzugehen, als Sie es mit der gesamten deutschen Bevölkerung vorhaben. Fangen Sie in Ihrer Partei an! Fangen Sie da an, wo Sie Verantwortung tragen, dann kann man Ihnen vielleicht das eine oder andere in Zukunft glauben. Ich kann gut nachvollziehen, sehr geehrte Kollegen von der Linken, dass Sie vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ein eigenes Antikrisenprogramm vorlegen wollen; Sie versprechen sich davon ein bisschen mehr Aufmerksamkeit. Wie es ausschaut, leuchtet Ihr Rot im Schatten der Krise längst nicht so kräftig, wie Sie sich das zu Beginn der Krise vielleicht vorgestellt haben. ({2}) - Schwarz leuchtet auch nicht so stark, aber man erkennt es zumindest immer und an jeder Stelle. ({3}) Schlagzeilen wie „Linkspartei kann von Krise nicht profitieren“ und „Linke auf dem Tiefststand in der Wählergunst“ - das bezieht sich auf die Forsa-Umfrage vom 1. April - sprechen für sich. Die Leute sind nicht so dumm, Ihnen in diesen Zeiten hinterherzulaufen. Ihre Partei dümpelt bei etwa 10 Prozent, dem tiefsten Stand seit März 2007. ({4}) Ihre beiden Vortänzer Gregor Gysi und Oskar Lafontaine bekommen laut jüngstem ZDF-Politbarometer bei der Wertung deutscher Spitzenpolitiker Kopfnoten im Minusbereich. ({5}) Ihre neuen bzw. aus der Mottenkiste geholten Entwürfe sind reine Mogelpackungen und werden das Blatt auch nicht wenden. Wer hat schon Lust auf Überlebenstraining im sozialistischen Ideenpark und ein sozial ungerechtes Antikrisenprogramm? 75 Prozent der Deutschen finden es laut ZDF-Politbarometer nicht gut, wenn Sie, liebe Kollegen von der Linken, mehr Einfluss auf die Politik im Bund bekommen würden. Das sehe ich - und mit mir die große Mehrheit in diesem Hause - genauso. Wenn wahr wird, was Sie wollen, sind Berufstätige und Arbeitslose von guter Arbeit in einer gerechten Welt so weit entfernt, wie Sie, liebe Kollegen von der Linken, es jetzt schon von der Regierungsfähigkeit sind. Sie zeigen uns mit Ihren Vorlagen, wie man eine Krise verschärft, anstatt sie zu bekämpfen, und zum Beispiel wirkungsvoll verhindert, dass sich ausländische Unternehmen in Deutschland ansiedeln möchten. In Ihrem Antrag „Sicherheit und Zukunft“ geben Sie vor, Belegschaften stärken zu wollen, tatsächlich aber wollen Sie das freie Unternehmertum an die kurze Leine legen. Sie wollen zwingend die Zustimmung des Aufsichtsrats aus Anteilseignern und Beschäftigten zu wesentlichen Entscheidungen der Unternehmensführung wie Unternehmensübernahmen, Aktienkauf oder Schließungen. Bei Staatshilfen wollen Sie den Belegschaften Eigentumsrechte an ihren Unternehmen zugestehen. Genauso ist es bei Ihrem sogenannten Zukunftsfonds. Unternehmen werden erst dann mit Krediten unterstützt, wenn sie Bedingungen zur Beschäftigungssicherung akzeptieren. ({6}) Beteiligungen sollen in Form von Belegschaftsbeteiligungen mit Einfluss auf die Geschäftspolitik erfolgen. Damit wäre es für Unternehmer nur schwer möglich, sich in Krisenzeiten zu behaupten. Die größeren Unternehmen im Inland werden sich unter solchen Bedingungen genau überlegen, ob sie es riskieren sollen, in Krisenzeiten ihre unternehmerische Entscheidungsfreiheit zu verlieren. Sie werden darüber nachdenken, ob es sich überhaupt noch lohnt, bei uns zu investieren, oder ob sie vielleicht doch gleich ins benachbarte Ausland wechseln sollten - ganz zu schweigen vom Engagement ausländischer Investoren bei uns. Das alles erinnert sehr an die Überführung privater Unternehmen in Volkseigentum, wie es in der DDR praktiziert wurde. 20 Jahre nach der Maueröffnung sollten wir derartige Vorstellungen oder Wirtschaftsprinzipien ein Stück weit überwunden haben. ({7}) - Ich gebe Ihnen Zeit, ausreichend zu applaudieren, meine Kolleginnen und Kollegen. ({8}) - Das kommt schon noch von den Kollegen. ({9}) Das Schlimmste ist - Kollege Ernst, gerade Ihnen müsste das wehtun -: Das schwächt die Tarifparteien. In deren Kraft und damit auch in die Kraft der Gewerkschaften scheint die Linkspartei offensichtlich wenig Vertrauen zu haben. Die Tarifautonomie würde auch beschädigt, wenn Sie Ihre Vorstellungen zum staatlich festgesetzten Mindestlohn durchsetzen sollten. ({10}) Überhaupt, der Mindestlohn: Wie oft - einige Vorredner, darunter Kollege Niebel, haben das bereits erwähnt - haben wir hier im Deutschen Bundestag schon darüber debattiert? Dennoch betone ich noch einmal: Eine gesetzliche Lohnuntergrenze in der von Ihnen geforderten Höhe hat das Potenzial, weite Teile unseres Arbeitsmarktes von unten stillzulegen und die Tarifautonomie auszuhebeln. Der Staat kann und darf aber nicht Ersatz für die Tarifvertragsparteien sein. Wohin die Reise geht, wenn die Festsetzung des Mindestlohns in Ihre Hände fallen sollte, kann man an den parlamentarischen Initiativen der Linken gut ablesen. Noch 2006 wollten Sie in Ihrem Antrag „Mindestlohnregelung einführen“ einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Im Antrag „Gute Arbeit - Gutes Leben“ von 2007 waren es dann schon 8,44 Euro. In Ihrem Antikrisenprogramm sprechen Sie, liebe Kollegen von der Linkspartei, von einem Mindestlohn von 8,71 Euro, ({11}) „wie in Frankreich“ - danke, Herr Dreibus; Sie kennen meinen Text -, wo übrigens auch deshalb viele Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor vernichtet wurden. Das ist ein Zickzackkurs, den sogar der Kollege Grotthaus ein Stück weit nicht mitzugehen bereit ist, und das will was heißen. Ihr Antikrisenprogramm ist überhaupt eine teure Angelegenheit. Da sollen ein Zukunftsfonds von 100 Milliarden Euro geschaffen und soziale DienstleisPaul Lehrieder tungen wie Kinderbetreuung und Altenpflege deutlich ausgeweitet werden. Es sollen 1 Million zusätzliche tariflich entlohnte unbefristete Beschäftigungsverhältnisse sowie 500 000 öffentlich geförderte Arbeitsplätze bei einem Bruttogehalt von 1 400 Euro und einer Bestandsgarantie von drei bis fünf Jahren geschaffen werden. ({12}) Außerdem wollen Sie den Bezug von Arbeitslosengeld I verlängern sowie das Arbeitslosengeld II auf 435 Euro und den Kinderregelsatz auf 276 Euro anheben. Womit wollen Sie das bitte schön bezahlen? Mit einer Millionärsabgabe von 5 Prozent auf Vermögen, die 1 Million Euro übersteigen? Damit wären die aufgelisteten Vorhaben nicht einmal annähernd zu finanzieren. Tatsächlich haben sich die Kollegen von der Linken über eine echte Gegenfinanzierung ihrer Vorschläge überhaupt keine Gedanken gemacht und ihre Vorschläge noch nicht einmal ansatzweise durchgerechnet. ({13}) Es ist keine Rede davon, dass gerade jetzt Haushaltsdisziplin notwendig ist. Warum auch! Wir haben es hier mit reinen Schaufensteranträgen zu tun. Wenn Sie nur einen Teil des von Ihnen hier wieder vorgetragenen Staatsradikalismus und dessen verwirklicht hätten, was in den letzten Jahren noch zusätzlich vorgelegt worden ist, dann wäre Deutschland heute längst bankrott. So aber hat die Große Koalition in den letzten Jahren die Weichen so gestellt, dass wir die gegenwärtige Krise einigermaßen gut überwinden können. Natürlich ist nicht alles perfekt oder sofort so angelaufen, wie wir es uns wünschen würden. Die beschlossenen Maßnahmen müssen aber erst einmal Wirkung entfalten, bevor man neue Maßnahmen beschließt. Gute Antikrisenpolitik ist Hilfe zur Selbsthilfe und nur im äußersten Notfall staatliche Intervention. Liebe Kollegen von der Linken, Sie sehen das andersherum. Bei Ihnen richtet der Staat alles. Er nimmt den Reichen und gibt den Armen. Wir leben aber nicht mit Robin Hood im Sherwood Forest, sondern im Deutschland des Jahres 2009. Dort wollen Sie anscheinend aber gar nicht regieren. Ihr Präsidentschaftskandidat Sodann glaubt fest daran, dass das Experiment, das wir mit der DDR erlebt haben, irgendwann noch einmal von vorne losgeht. Man muss sich das einmal vorstellen. Wir haben Ihre Anträge gelesen und sagen Ihnen schon jetzt: Das wird nach hinten losgehen. Ein einziges Experiment war da schon zu viel. Trial-and-Error-Sozialismus kann keine Lösung sein - und wird zum Glück keine Lösung sein. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Heinz-Peter Haustein für die FDP-Fraktion. ({0})

Heinz Peter Haustein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die drei Figuren Urmel aus dem Eis, Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, gehören alle in die Augsburger Puppenkiste. Diese drei Anträge der Linken gehören geschreddert in eine marxistisch-leninistische Mottenkiste. ({0}) Sie nehmen die Finanz- und Wirtschaftskrise zum Anlass, um mit populistischem Gefasel Stimmung zu machen. Ein Satz sei zitiert. Sie schreiben: Die Regierung verschiebt Milliarden Euro an Steuergeldern an marode Banken … Für den großen Teil der Menschen tut sie nichts. Das haut dem Fass den Boden aus. Das Ganze war ein geordnetes parlamentarisches Verfahren. Trotzdem behaupten Sie, hier werde von der Regierung Geld verschoben. Das ist wirklich blanker Populismus, ({1}) was mich wiederum auch nicht wundert; denn im Parteiprogramm der Linken sind nach wie vor wesentliche Elemente des Kommunistischen Manifestes enthalten, das zu Stacheldraht, zur Mauer, zu Unrechtsprozessen und letztendlich zum Staatsbankrott geführt hat, liebe Freunde. So etwas nehmen Sie als Vorbild. ({2}) Sie wissen ganz genau, dass das Bankenrettungspaket notwendig war und nichts mit Arm und Reich zu tun hat. Wir als FDP, als Patrioten für Deutschland haben dem zugestimmt, damit die Spareinlagen sicher sind und sicher bleiben. ({3}) Das Bankenrettungspaket hilft allen, auch Ihnen. Sie erheben im Weiteren die Forderung nach einem Sammelsurium von Maßnahmen, die bereits mehrfach aufgezählt wurden: paritätische Mitbestimmung, Verschärfung des Kündigungsschutzes usw. Das geht für mich in Richtung volkseigener Betriebe. Diese hatten wir schon einmal. 1972 hat die Vorgängerpartei SED in einer Nacht-und-Nebel-Aktion 11 400 Betriebe praktisch entschädigungslos enteignet. Danach ging es mit der Wirtschaft komplett bergab. Aber genau das fordern Sie letztendlich in Ihren Anträgen. ({4}) Das funktioniert nicht. Das weiß man, wenn man diesen Feldversuch erlebt hat. ({5}) Ich möchte einen Satz aus Ihrem Antrag aufgreifen. Sie schreiben: Kleinen und mittelständischen Unternehmen wird jede Unterstützung vorenthalten. Das stimmt nicht ganz, aber teilweise schon; ({6}) denn die Konzerne werden vom Wirtschaftsminister unterstützt, wenn sie Probleme haben, aber beim kleinen Bäckermeister um die Ecke kommt der Gerichtsvollzieher. ({7}) Das, was von dieser Großen Koalition als Krisenmanagement oder Ausrichtung insgesamt geleistet wird, ist nicht in Ordnung. ({8}) Ich gehe auf einige Punkte ein, die wir umsetzen werden, wenn wir in 147 Tagen gewählt und hier regieren werden: Wir brauchen ein einfaches, gerechtes und niedriges Steuersystem mit Steuersätzen von 10, 25 und 35 Prozent, ({9}) mit Freibeträgen, die bei Familien auch für die Kinder gelten, und die Abschaffung der Steuerklasse V zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Des Weiteren brauchen wir eine richtige Unternehmensteuerreform; die Unternehmensteuerreform im vorigen Jahr wurde nur halbherzig durchgeführt. Wir brauchen eine Rücknahme der Zinsschranke. Die Zinsschranke ist Gift in dieser Wirtschaftskrise; sie muss wieder abgeschafft werden. ({10}) Pachten, Zinsen, Leasing- und Lizenzgebühren als Grundlage der Gewerbesteuer heranzuziehen, ist abenteuerlich, falsch und kontraproduktiv. ({11}) Wir dürfen auch nicht die Beschäftigten der Gastronomie und der Hotellerie vergessen, die sich an Feiertagen hinstellen und die Gäste bedienen, die zu Weihnachten Gänsebraten machen und dann noch dafür bestraft werden, indem sie 19 Prozent Mehrwertsteuer abführen müssen. Wir brauchen einen niedrigeren Mehrwertsteuersatz für Gastronomie und Hotellerie. ({12}) Der Widerspruch ist ja haarsträubend: Auf Hundefutter wird 7 Prozent Mehrwertsteuer erhoben, aber in Gaststätten muss 19 Prozent Mehrwertsteuer bezahlt werden. Das kann nicht sein. Gehen Sie diese Problematik an, sonst machen wir es. ({13}) Die Gewerbesteuer muss abgeschafft und durch ein System der Kommunalfinanzierung ersetzt werden, das den Kommunen Sicherheit bringt und sie von Einnahmeschwankungen unabhängig macht. ({14}) Ein weiterer Punkt: Die Tarifautonomie muss geschützt werden. Sie ist ein staatliches Gut. Lohndiktate gehören aufgelöst. Mit Mindestlöhnen erreichen Sie nichts; sie sind verkehrt. ({15}) Wir müssen die Mittelschicht und den Mittelstand stärken; denn sie ziehen den Karren in diesem Land. Dann wird es mit diesem Land auch wieder aufwärts gehen. Wir haben die Chance. Ihre Anträge sind absolut untauglich. In diesem Sinne ein freiheitliches Glückauf aus dem Erzgebirge. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Anette Kramme für die SPD-Fraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dreibus, haben Sie heute Abend schon was vor? ({0}) Das ist kein unmoralisches Angebot, sondern eher ein Vorschlag zur Weiterbildung. Der Ullstein-Verlag bietet heute Abend auf einer Lesung einem Politiker eine Plattform, der Ihre Anträge an visionärer Kraft noch überbietet. Er ist CDU-Abgeordneter im Bundestag und Hoffnungsträger seiner Partei. Sein Name ist Dr. Udo Brömme. Von ihm stammt der wundervolle Slogan, der fast schon eine religiöse Wahrheit beinhaltet: Zukunft ist gut für alle. Falls Sie Dr. Udo Brömme nicht kennen: Vor einigen Jahren, als die Harald-Schmidt-Show noch Deutschlands wichtigste Fernsehsatire war, trieb er dort regelmäßig sein Unwesen und verblüffte im Straßenwahlkampf manch echten CDU-Politiker. ({1}) Er hatte wie Sie viele Ideen. Doch kurz nach der Bundestagswahl verschwand er sang- und klanglos von der Bildfläche, wie …, aber lassen wir das. ({2}) Natürlich fällt es nicht leicht, den Antrag der Linken abzulehnen. ({3}) Mehr Sonnenschein für alle - kann man dagegen sein? Wir Sozialdemokraten sind nicht für schlechte Arbeitsbedingungen. Niemand ist für schlechte Arbeitsbedingungen. Das ist so absurd, dass ich es noch nicht einmal Herrn Kolb zutrauen würde. Auch wir Sozialdemokraten wollen eine Stärkung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, aus der Ansprüche auf Renten, für Phasen der Arbeitslosigkeit usw. erwachsen. Wir haben dafür etwas getan. Allein zwischen 2006 und 2007 sind zusätzlich 550 000 sozialversicherungspflichtige Jobs entstanden. ({4}) Auch wir wollen einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, der Arbeitnehmer vor Ausbeutung schützt und den Staat nicht zwingt, Menschen durch ergänzende Sozialleistungen zu entwürdigen, weil deren Arbeitseinkünfte nicht zum Leben ausreichen. ({5}) Deshalb haben wir während der gesamten Legislaturperiode für diese Thematik gekämpft. Wir haben jetzt ein Arbeitnehmer-Entsendegesetz und ein Mindestarbeitsbedingungsgesetz, das mindestens 1,2 Millionen Menschen zusätzlich schützen wird. Das Schöne ist: Das Gesetz ist heute verkündet worden und tritt morgen in Kraft. ({6}) Auch wir wollen die Arbeitsbedingungen für die Zeitarbeit verbessern. Auch wir vertreten den Grundsatz von Equal Pay. In der Koalition haben wir ausgehandelt, dass eine verbindliche Lohnuntergrenze kommen soll. ({7}) Unser Arbeitsminister hat immerhin sechs Vorschläge unterbreitet. ({8}) Ich finde es sehr schade, dass sich die Union an diesbezügliche Absprachen nicht hält. Ich erinnere mich an manch unschöne Debatte über die Leiharbeit, in der einfach und platt gesagt worden ist, die Tarifbindung in der Leiharbeitsbranche sei doch sehr groß. Dabei wissen wir alle, dass die Arbeitsbedingungen in der Leiharbeitsbranche teilweise katastrophal sind: Es gibt Arbeitnehmer in Forchheim mit einem Stundenlohn von 3 Euro. Haustarifverträge, nach denen um 4,50 Euro pro Stunde gezahlt werden, wurden zwar gekündigt, aber sie wirken nach, weil auf sie Bezug genommen werden darf. Deswegen brauchen wir eine Lohnuntergrenze. Auch wir wollen einen besseren Schutz für Praktikanten. Es kann nicht sein, dass Menschen in sinnlose Warteschleifen geschickt und finanziell ausgebeutet werden. ({9}) Auch wir halten eine Streichung der sachgrundlosen Befristung für sinnvoll. Wir haben das sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben. Auch davon hat die Union leider Abstand genommen. Es ist durchaus überlegenswert, einen befristet Beschäftigten zu übernehmen, sobald eine entsprechende unbefristete Stelle vorhanden ist. Wir haben Regelungen, die etwas Ähnliches schaffen - allerdings etwas weniger -, in das Betriebsverfassungsgesetz aufgenommen. Einige Punkte der Anträge der Linken sind schön. Sie denken ähnlich wie wir. In diesen Anträgen ist aber auch jede Menge Phrasendrescherei und Talkshowsozialismus enthalten. Das Ganze hat nicht einmal die notwendige Qualität, um in die gute Sagen- und Märchenwelt, die es in Deutschland gibt, aufgenommen zu werden. Selbst dafür ist das Ganze zu platt, zu dumm und an manchen Stellen zu dreist gemacht. ({10}) Ich will ein einziges Beispiel nennen. ({11}) Ist es wirklich sinnvoll, jegliche betriebsbedingte Kündigung auch in Kleinbetrieben auszuschließen? Das würde bedeuten, dass sich ein Betrieb dieser Arbeitnehmer erst im Falle einer Betriebsschließung entledigen kann. Ich sage: Das ist Unsinn. Arbeitnehmerschutz ist gut und wichtig. Arbeitsplätze zu haben, ist aber auch essenziell. ({12}) Dieser Tage verstehe ich vor allen Dingen eines nicht: Sie setzen sich stark mit Arbeitsbedingungen auseinander - das ist wichtig; das sehen wir nicht anders -, aber einen entscheidenden Punkt berücksichtigen Sie überhaupt nicht. Wir müssen in dieser Phase um jeden einzelnen Arbeitsplatz in Deutschland kämpfen. ({13}) Dabei geht es um ergänzende Maßnahmen. Wir wissen aus den Erfahrungen, die wir in den fünf neuen Bundesländern gesammelt haben, dass wahrscheinlich jeder industrielle Arbeitsplatz, der in Deutschland einmal abge23530 baut worden ist, nicht wieder entstehen wird. Deshalb finde ich das, was unser Arbeitsminister gemacht hat, mutig, weil es sehr viel Geld kosten wird, aber auch vom Ansatz her klug: die Ausdehnung des Bezugs von Kurzarbeitergeld. Kurzarbeit war immer ein sehr teures Instrumentarium. Wir haben die Kurzarbeit für Arbeitgeber viel billiger gemacht. Aber es ist nicht nur ein Instrumentarium, das es Arbeitgebern ermöglicht, diese Krise zu überbrücken. Es ist vor allen Dingen ein Instrumentarium für Arbeitnehmer im Sinne momentaner Sicherheit, aber auch im Sinne des dauerhaften Erhalts von Arbeitsplätzen in der Industrie. ({14}) Ich will auch etwas zur Abwrackprämie sagen. Ich komme aus einer Region, die von der Automobilindustrie geprägt ist. Allein in der Region Hof - das hat mir der Landrat gesagt - gibt es 200 Betriebe der Automobilindustrie. Im Gebiet Kronach und Coburg befinden sich große Automobilzulieferer, allein drei Betriebe von Valeo und ein riesiger Betrieb von Brose. Die Industrie in Bamberg besteht fast nur aus Automobilzulieferung: Brose, Michelin, Bosch, Schaeffler und FTE. Wie gesagt: Die Abwrackprämie hat eine Menge Entlastung in meiner Region geschaffen. ({15}) Deshalb, denke ich, haben wir hier mehr als sinnvoll agiert. Dass ein gewisses Kaufvolumen abgeschöpft ist, ist klar. ({16}) Aber dieses Kaufvolumen der Zukunft vorzuziehen, hat seine Gründe. Wenn die Krise vorbei ist, gibt es auch für andere Marktpotenziale wieder Chancen. Deshalb ist dies jetzt die einzige Chance für den Bereich der Automobilzulieferer. ({17}) „Arbeit ist schwer, ist oft genug ein freudloses und mühseliges Stochern, aber Nichtarbeiten ist die Hölle.“ Was Thomas Mann vor 100 Jahren sagte, gilt noch heute. Arbeit ist die Grundlage unseres Wohlstandes. So steht es im SPD-Regierungsprogramm, das wir letzten Samstag in Berlin vorgestellt haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Kramme, achten Sie bitte auf die Zeit!

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin innerhalb einer Minute fertig. - Zu einem menschenwürdigen Leben gehört gute Arbeit. Daran glauben wir. Dafür werden wir uns einsetzen, und zwar zusammen mit den Gewerkschaften, den Betriebsräten, den Menschen vor Ort ({0}) und vor allen Dingen mit pragmatischer Politik, die Menschen tatsächlich hilft. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel für die SPDFraktion. ({0})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der Debatte lautet: Sicherung von Arbeitsplätzen. Ich finde, dass das gerade in diesen Wochen und Monaten ein ernstes Thema ist. Herr Niebel, Sie hätten angesichts der Krise ruhig ein bisschen mehr Demut zeigen können, zumal Marktradikale im Wesentlichen das Zustandekommen der Krise befördert haben. ({0}) Ich habe von Ihnen hier zwar eine antikommunistische Rede gehört, aber kein Wort dazu - auch Sie wollen Banken retten und den Mittelstand stärken -, wie Sie Ihre Konzepte und Programme, die vor allen Dingen Staatsverarmung zur Folge hätten, finanzieren wollen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stöckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gehe jetzt auf die Vorredner ein, weil es sonst langweilig wäre. Dadurch habe ich schon wenig Zeit, meine Argumente vorzutragen. ({0}) Ich komme auch noch auf die anderen Redner zu sprechen. Sie alle könnten dann Zwischenfragen stellen; das geht nicht. Herr Brauksiepe, Ihre Rede war im Wesentlichen eine Begründung unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik. Aber zu den Passagen, in denen Sie uns angegriffen haben, muss ich sagen: Da fehlt Ihnen ein Konzept. Ich hoffe, dass sich CDU und CSU auf ein Wahlprogramm und auch auf ein Programm zur Bewältigung der Krise einigen können. Vom Fehlen eines Konzeptes können Sie mit solchen Reden nicht ablenken. Frau Pothmer, an dem, was Sie zur Abwrackprämie bzw. Umweltprämie gesagt haben, mag im Rahmen längerfristiger Überlegungen etwas dran sein, aber ich bitte Sie, diese Rede auch bei Opel in Bochum und in Rüsselsheim oder bei VW zu halten, ({1}) in den Geschäften und in den Werkstätten, wo im Moment Arbeitsplätze - darum geht es heute - gesichert werden, und zwar durch ein Konzept, das wir Sozialdemokraten vorgelegt haben. ({2}) Herr Haustein, eines muss ich - auch wenn es Sie wundern wird - zur Ehrenrettung des Kommunistischen Manifestes sagen. Darin beschreibt Marx die Globalisierung und die Gestaltung der Globalisierung aus seiner Sicht. Wenn die Linkspartei die Globalisierung akzeptieren und Vorschläge zur Gestaltung der Globalisierung machen würde, wären wir in dieser Debatte schon wesentlich weiter. ({3}) Das Schlimme ist, dass hier der Schein erweckt wird, die Linke würde im Sinne von Marx argumentieren. In Wirklichkeit ist es so, dass Karl Marx in Highgate in London in seinem Grab rotiert angesichts dieser kleinkarierten, national ausgerichteten Wirtschafts- und Sozialpolitik der Linken. ({4}) Es ist bereits zu Recht festgestellt worden, dass die Anträge, über die wir heute diskutieren, nach demselben Strickmuster formuliert sind wie eigentlich alle Anträge der Linken: „Die Lage ist katastrophal; die Regierung tut nichts.“ Alle alten und neuen Anträge, die auf Gewerkschaftskongressen und von Verbänden jemals beschlossen worden sind, werden einfach untereinandergeschrieben. Nachhaltige Wirkungen auf die soziale und ökonomische Entwicklung und auf die öffentlichen Haushalte oder Finanzierungsvorschläge - Fehlanzeige! Das ist doch nicht das Problem der Linken. - Diese Form von populistischer Parteitaktik nenne ich verantwortungslos und zynisch gegenüber den Millionen Menschen, die heute aus nachvollziehbaren Gründen Ängste um ihre Zukunft und ihre Arbeitsplätze sowie um die Zukunft ihrer Familien haben. ({5}) Sie verbreiten den Irrglauben, die Regierung schenke den Banken und Großkonzernen in der Krise mir nichts, dir nichts Hunderte von Milliarden Euro, da könne man doch gleich überall voll hinlangen. Die Details und die Realisierbarkeit interessieren Sie dabei nicht. Obwohl sich unsere Wirtschaft in der bisher schwersten weltweiten Krise seit 80 Jahren befindet, malen Sie die Situation noch schwärzer und behaupten, der Staat könne mal eben - sozusagen von heute auf morgen - 1,5 Millionen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst bzw. im Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung schaffen. Nein, meine Damen und Herren, mit einer seriösen Analyse der Krise und mit seriöser antizyklischer Politik hat das nichts zu tun. Ich finde, Frank-Walter Steinmeier hatte recht, als er am Wochenende begründet hat, warum die SPD nicht mit den Linken zusammenarbeiten kann. ({6}) Er sagte: Unser Land braucht in der schwierigen Zeit, die vor uns liegt, Verantwortung, Stabilität und Erfahrung. Das alles lassen Sie vermissen. ({7}) Ich sage Ihnen: Diejenigen, die von manch unangenehmer Botschaft und Reform unter sozialdemokratischer Regierungsmitverantwortung enttäuscht waren, auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, haben Sie und Ihr demagogisches Spiel zunehmend durchschaut. Das Tohuwabohu bei Ihnen ist auch der Hauptgrund dafür, dass sich Ihr Landesverband in NRW gerade wieder in die alten Splittergruppen, aus denen er entstanden ist, zerlegt ({8}) und warum Ihr Wahlkampfmanager das Handtuch geworfen hat. Meine Damen und Herren, zwischen Ihrem Täuschen und dem Ausbeuten der Krise und der Ängste der Menschen und unserem Ernstnehmen von Ängsten und dem Annehmen der Herausforderungen liegen Welten. All das bringt uns im Gegensatz zu allen anderslautenden Behauptungen nicht etwa näher zusammen, sondern immer weiter auseinander. Ich sage Ihnen auch, warum. So schön die Anträge, die Sie uns kurz vor dem 1. Mai dieses Jahres vorlegen, auch klingen ({9}) und so richtig wir manche Zielsetzung, die darin zu lesen ist, finden - allerdings nicht die von Ihnen vorgeschlagenen Instrumente; diese halten wir für weltfremd -, so können sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie überhaupt kein zusammenhängendes und zumindest in Ihrer eigenen Partei mehrheitsfähiges Programm zustande bringen. ({10}) Das hat auch einen Grund. Dann könnte die interessierte Öffentlichkeit Ihre Politikalternative und Ihre Regierungsfähigkeit nämlich kritisch überprüfen. ({11}) Das erfordert mehr als eine Sonthofen-Strategie und Fundamentalopposition. Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, die Krise und ihre möglichen Auswirkungen auf die Beschäftigung und die sozialen Lebenslagen schönzureden. Es ist aber kontraproduktiv - das ist mein Kommentar zu den aktuellen Meldungen des heutigen Tages -, wenn von verschiedenen Seiten, auch aus verhandlungstaktischen Gründen, soziale Ängste geschürt werden, indem apokalyptische Abgründe und das Entstehen sozialer Unruhen an die Wand gemalt werden oder gar damit gedroht wird. ({12}) Das ist der Situation und den Potenzialen unseres Landes nicht angemessen. Das werden alle demokratischen Kräfte, Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam zu verhindern wissen. Wir Sozialdemokraten haben die Prioritäten in unserer Politik seit 1998 richtig gesetzt. Dies hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr merklich gesunken ist. Im Gegensatz zu dem, was Sie behaupten, haben wir die staatlichen Ebenen und die sozialen Systeme handlungsfähiger gemacht und die Wachstumskräfte vor allen Dingen im Bereich der Zukunftstechnologien gestärkt. Wir haben darüber hinaus dafür gesorgt, dass Mitbestimmung und Tarifautonomie gesichert und weiterentwickelt werden. Darauf können sich die Gewerkschaften auch in Zukunft verlassen. Hätten wir das nicht getan, wäre es heute viel schwieriger, mit der Krise umzugehen und Arbeitsplätze zu sichern. ({13}) Wir Sozialdemokraten haben ein Programm vorgelegt. Darüber wird jetzt öffentlich debattiert. Jetzt müssen Sie alle nachlegen. Ich sage Ihnen: Gute Arbeit gibt es nicht ohne Mindestlöhne, ohne Regulierung der Zeitarbeit und ohne dass wir dafür sorgen, dass Frauen und Männer für gleiche Arbeit gleiche Löhne bekommen. ({14}) Zu diesem Zweck haben wir verschiedene Instrumente vorgeschlagen, die vor allen Dingen für unsere Kinder und Jugendlichen die Zukunft des Landes garantieren sollen. Wir wollen durch ordentliche Qualifizierung dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft im weltweiten Wettbewerb bestehen. Nur so können wir Arbeitsplätze sichern und die Wachstumsstärke Deutschlands erhalten. Ich sage noch einmal: Wir sind auf dem richtigen Weg. Hier wird Populismus betrieben. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die kritischen und mündigen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes wissen genau, wen sie wählen müssen, wenn sie in diesem Hause in der nächsten Wahlperiode eine sozial, ökologisch und ökonomisch fortschrittliche Regierung vorfinden wollen. Herzlichen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dirk Niebel hat das Wort zu einer Kurzintervention. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir wollen die Leidensfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie schon ein wenig austesten, liebe Frau Pothmer. Frau Präsidentin! Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil Kollege Stöckel mit Blick auf die FDP behauptet hat, die Marktradikalen - damit meint er offenkundig uns - seien schuld an der Krise. Der guten Ordnung halber ist es hilfreich, daran zu erinnern, dass der Finanzmarkt der am meisten regulierte Bereich des deutschen Wirtschaftssystems überhaupt ist. Es gibt sogar eine Staatsaufsicht. Übrigens war es Bundeskanzler Gerhard Schröders rot-grüne Bundesregierung, die diese Aufsicht, wie es heute der Fall ist, zweigeteilt hat. Da ist zum einen die BaFin mit ungefähr 6 000 Mitarbeitern und zum anderen die Deutsche Bundesbank. Diese Einrichtungen paralysieren einander. ({0}) Sie waren mit Ihren Prüfgruppen nicht in der Lage, Milliardenlöcher zu finden, die private Bankprüfgruppen innerhalb weniger Tage gefunden haben. Ich möchte auch daran erinnern, dass in Zeiten der schwarz-gelben Bundesregierung Hedgefonds in Deutschland verboten waren. Ich anerkenne: Wahrscheinlich hätten auch wir die Hedgefonds zugelassen - weil sich die Finanzmärkte weltweit verändert haben -, aber nicht, wie unter Gerhard Schröder geschehen, ohne jedwede Transparenzrichtlinie. ({1}) Ich erlaube mir zu guter Letzt, darauf hinzuweisen, dass die Freien Demokraten in diesem Haus die einzige Oppositionspartei sind, die den Finanzmarktrettungsschirm mitgetragen hat - auch wenn wir im Detail einiges anders gemacht hätten -, weil wir die Notwendigkeit dessen für die Sparerinnen und Sparer und für das Wirtschaftssystem insgesamt erkannt haben. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stöckel.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werter Kollege Niebel, ich kenne die Grenzen unserer Politik, ich kenne auch die Grenzen dessen, was von unseren Vorschlägen, Regeln für die Finanzmärkte einzuführen, national, europäisch und erst recht international durchsetzbar ist. Ich habe vorhin nicht behauptet, dass Sie die Ursache der Finanzkrise seien. Ich habe gesagt, dass marktradiRolf Stöckel kale Ideologie und Marktradikale die Ursachen dieser Krise wesentlich befördert haben. Das ist ein kleiner sachlicher, aber sehr treffender Unterschied. ({0}) Sie können mit Ihrer Kurzintervention nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie in der Öffentlichkeit bisher weder zu den Ursachen dieser Krise etwas gesagt haben noch sich in Selbstkritik dieser Ihrer markradikalen Ideologie geübt haben. Andere haben das auch noch nicht getan; selbst die Verantwortlichen haben es bisher nicht getan. Wir hätten von Ihnen gerne etwas zu einem Konzept gegen diese Krise gehört. Damit meine ich mehr als Ihren Vorschlag, die Steuern zu senken. So wären die Konjunkturprogramme, die Rettung der Banken und die Unterstützung und Förderung des Mittelstandes nicht finanzierbar. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12682 an den in der Tagesordnung auf- geführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sicherheit und Zu- kunft - Initiative für ein sozial gerechtes Antikrisenpro- gramm“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/12485, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12292 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 4 c: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Gute Arbeit - Gutes Leben, Initiative für eine gerechte Arbeitswelt“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12469, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6698 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD- Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 l sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 j auf: 38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. November 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des grenzüberschreitenden Missbrauchs bei Leistungen und Beiträgen zur sozialen Sicherheit durch Erwerbstätigkeit und von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit sowie bei illegaler grenzüberschreitender Leiharbeit - Drucksache 16/12588 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 9. Juli 2008 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/12589 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. September 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Vermarkung und Instandhaltung der gemeinsamen Grenze auf den Festlandabschnitten sowie den Grenzgewässern und die Einsetzung einer Ständigen Deutsch-Polnischen Grenzkommission - Drucksache 16/12590 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Genfer Fassung vom 2. Juli 1999 ({2}) des Haager Abkommens vom 6. November 1925 über die internationale Eintragung gewerbli- cher Muster und Modelle - Drucksache 16/12591 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen - Drucksache 16/12592 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsidentin Petra Pau f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes - Drucksache 16/12593 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Rechtsausschuss g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ({5}) - Drucksache 16/12594 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({6}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Absicherung von Zivilpersonal in internationalen Einsätzen zur zivilen Krisenprävention - Drucksache 16/12595 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({7}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Sprengstoffgesetzes - Drucksache 16/12597 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Undine Kurth ({9}), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die gewerbliche Haltung von Mast- und Zuchtkaninchen in Deutschland und der Europäischen Union deutlich verbessern - Drucksache 16/12307 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({10}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Seib, Stefan Müller ({11}), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nanotechnologie - gezielte Forschungsförderung für zukunftsträchtige Innovationen und Wachstumsfelder - Drucksache 16/12695 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({12}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Verbraucherinformationsgesetz novellieren - Drucksache 16/12691 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({13}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 3 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Frank Schäffler, CarlLudwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur der Unternehmensteuerreform - Drucksache 16/12525 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({14}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Geschmacksmustergesetzes - Drucksache 16/12586 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Christel Humme, Irmingard Schewe-Gerigk, Elke Ferner und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes - Drucksache 16/12664 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15}) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Vizepräsidentin Petra Pau d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Erhöhung des Schonvermögens im Alter für Bezieher von Arbeitslosengeld II - Drucksache 16/5457 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ermäßigte Mehrwertsteuersätze für Hotellerie und Gastronomie in Deutschland einführen - Drucksache 16/12287 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({17}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Evaluierung des Verbraucherinformationsgesetzes muss so schnell wie möglich durchgeführt werden - Drucksache 16/12669 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({18}) Innenausschuss Rechtsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schutz von Arbeitnehmerdaten durch transparente und praxisgerechte Regelungen gesetzlich absichern - Drucksache 16/12670 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({19}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Andreas Scheuer, Dirk Fischer ({20}), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rita SchwarzelührSutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mobilität zukunftsfähig machen - Elektromobilität fördern - Drucksache 16/12693 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Nicole Maisch, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Manipulierte Strompreise - Verbraucherinteressen wahren - Drucksache 16/12692 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({22}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({23}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Federführung strittig j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vergaberecht konsequent sozial gestalten Gemeinnützige Unternehmen nicht benachteiligen - Drucksache 16/12694 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({24}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({25}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Federführung strittig Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen. Dies betrifft die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 l sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 h. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu zwei Überweisungen, bei denen die Federführung strittig ist. Zusatzpunkt 3 i: Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen betreffend Strompreise auf Drucksache 16/12692 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD-Fraktion wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer Vizepräsidentin Petra Pau enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Zusatzpunkt 3 j - das ist die zweite strittige Federführung -: Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen betreffend das Vergaberecht auf Drucksache 16/12694 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD-Fraktion wünschen hier Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Wir kommen zu den Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 39 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des DirektzahlungenVerpflichtungengesetzes - Drucksache 16/12117 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({26}) - Drucksache 16/12696 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Gustav Herzog Dr. Kirsten Tackmann Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12696, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12117 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 39 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen - Drucksache 16/12231 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({27}) - Drucksache 16/12517 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Kirsten Tackmann Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12517, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12231 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 39 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({28}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ({29}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verlängerung der Hauptuntersuchungsintervalle für Oldtimer mit H-Kennzeichen - Drucksachen 16/9480, 16/11082 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Andreas Scheuer Vizepräsidentin Petra Pau Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11082, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9480 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 39 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({30}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ({31}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Sperrung der Inntal-Autobahn für Lkw-Transitverkehre - Drucksachen 16/9095, 16/11083 Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm Josef Sebastian Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11083, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9095 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 39 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({32}) zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({33}), Joachim Günther ({34}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Technische Kriterien für Winterreifenkennzeichnung M+S festlegen - Drucksachen 16/11213, 16/12348 Berichterstattung: Abgeordnete Heidi Wright Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12348, den Antrag der FDP auf Drucksache 16/11213 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 39 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({35}) zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({36}), Joachim Günther ({37}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bußgeldkatalog bei Umweltzonen ändern Zurück zur Verhältnismäßigkeit - Drucksachen 16/10313, 16/12349 Berichterstattung: Abgeordneter Gero Storjohann Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12349, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/10313 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDPFraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 39 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({38}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Vereinfachung des Deponierechts - Drucksachen 16/12223, 16/12357 Nr. 2.3, 16/12722 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Horst Meierhofer Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12722, der Verordnung auf Drucksache 16/12223 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion sowie der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und kostenrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/11385 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({39}) - Drucksache 16/12717 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Dr. Carl-Christian Dressel Christoph Strässer Vizepräsidentin Petra Pau Wolfgang Nešković Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12717, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/11385 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im patentanwaltlichen Berufsrecht - Drucksache 16/12061 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({40}) - Drucksache 16/12718 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Christoph Strässer Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang Nešković Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12718, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12061 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({41}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Carl-Ludwig Thiele, Rainer Brüderle und weiterer Abgeordneter der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder und weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae, Marieluise Beck ({42}), Volker Beck ({43}) und weiterer Abgeordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - zu dem Antrag der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksachen 16/12480, 16/12130, 16/12690 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Kaster Dr. Dieter Wiefelspütz Volker Schneider ({44}) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Antrag von Abgeordneten der Fraktionen der FDP, die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12480 mit dem Titel „Einsetzung eines Untersuchungsausschusses“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Nach Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes ist der Deutsche Bundestag verpflichtet, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, wenn die Einsetzung von einem Viertel seiner Mitglieder verlangt wird. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Unionsfraktion und der SPDFraktion angenommen. Damit ist der 2. Untersuchungsausschuss der 16. Wahlperiode eingesetzt. ({45}) Wir sind noch immer beim Zusatzpunkt 4 c. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12130 mit dem Titel „Einsetzung eines Untersuchungsausschusses“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung zum Anbauverbot des gentechnisch veränderten Mais MON 810 Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines muss man feststellen: Das Verbot der Maissorte MON 810 ist der Sieg der Anti-Gentechnik-Bewegung in Deutschland. ({0}) Es ist der Sieg engagierter Bürgerinnen und Bürger, Landwirte und Imker, von Umweltverbänden, Verbraucherverbänden und grüner Politik. Ich will Frau Aigner nicht kritisieren, wenn ich feststelle, dass sie das Verbot nur verkündet hat. Immerhin hat sie im Gegensatz zu ihrem Vorgänger, der MON 810 als Saatgut in Deutschland erst zugelassen hat, das Verbot beschlossen und verkündet. Durchgesetzt haben es aber faktisch die Verbraucherinnen und Verbraucher, die nämlich keinen Genmais auf dem Teller oder auf dem Acker haben wollten. ({1}) Die CSU insgesamt muss endlich erkennen, dass das Hin und Her der letzten Jahre ein Ende haben muss. Man kann nicht erst für die Gentechnik möglichst überall eintreten, weil das als Fortschritt gilt, dann dazu übergehen, die Gentechnik überall, aber bitte nicht in Bayern - in Berlin vielleicht - zulassen zu wollen und letztlich in Brüssel dafür zu stimmen. ({2}) - Herr Ramsauer hat dazwischengerufen, ich sei ein Bauernschreck. ({3}) - Das haben Sie damals gut stilisiert. In Wahrheit war ich ein Schreck für Sie, Herr Ramsauer. Sie müssen heute das tun, was ich damals schon gesagt habe. ({4}) - Das stimmt: Darüber hat er auch noch graue Haare gekriegt. Jetzt gibt es in Bayern Veranstaltungen mit 3 000 Verbraucherinnen und Verbrauchern und Bäuerinnen und Bauern. Siehe da: Es sind keine Veranstaltungen der CSU, sondern sie werden von Bauern in Bayern organisiert, weil sie keine Gentechnik wollen: weder in Bayern noch in Deutschland oder in Europa. Damit haben sie recht, und Sie werden auch noch dahinkommen. ({5}) Ich bin davon überzeugt, dass jetzt für Herrn Seehofer der richtige Zeitpunkt wäre, sich dafür zu entschuldigen, dass er uns das Problem mit der Zulassung von MON 810 im Jahr 2005 überhaupt erst aufgedrückt hat. ({6}) Er müsste sich auch für das Jahr 2007 entschuldigen, als er in Brüssel für die Zulassung der Genkartoffel Amflora stimmte. Gott sei Dank gab es Minister aus anderen Mitgliedstaaten, die das verhindert haben. Auch wenn Herr Seehofer jetzt wie Jung Siegfried daherreitet, wenn es um die Amflora geht, muss er sich entschuldigen. Er hat in Deutschland einen faktischen Vermehrungsanbau der gentechnisch veränderten Kartoffel Amflora für die Industrie zugelassen. Jetzt fordert er unter dem Deckmäntelchen eines Forschungsbegriffes das Verbot: erst rein in die Kartoffeln, dann raus aus den Kartoffeln. Das Ergebnis bestätige ich, wir hätten es aber uns allen und den Bauern ersparen können. ({7}) Wir sagen klar: Wir lehnen die Genkartoffel Amflora ab. Sie enthält ein Gen, das gegen Antibiotika resistent ist. Antibiotika werden zum Beispiel für die Tuberkulosebekämpfung gebraucht. Auch die Weltgesundheitsorganisation weist darauf hin, dass Antibiotika nicht diffundierend in der Umwelt, sondern nur zur akuten Behandlung eingesetzt werden sollen. Deshalb sagen wir Nein zu Amflora. ({8}) Wir haben vor wenigen Wochen einen denkwürdigen und beachtenswerten Auftritt von Herrn Bleser mit doppelten Toeloops und Rittbergern erlebt. Ich möchte an dieser Stelle eines sagen: Was wir endlich wissen wollen, ist, welches eigentlich die Auffassung der Bundesregierung ist. Ich finde es sehr schön, dass Frau Aigner, die gleich sprechen wird, noch zwei Staatssekretäre mitgebracht hat. Aber Frau Schavan, die sich vor Tagen großspurig geäußert hat, sie wolle deren Entscheidung nicht würdigen, hat sich nicht einmal dazu herabgelassen, zu erscheinen. Ich hoffe, das heißt, sie hat aufgegeben. ({9}) Welches ist eigentlich die Auffassung der Koalition? Gilt die Auffassung von Frau Aigner zum Genmais und hoffentlich auch zu Amflora - hier wird sie Herrn Seehofer vielleicht auch korrigieren -, die Koalitionsvereinbarung, die eine Förderung der Gentechnik vorsieht, oder das Gesetz, in dem davon gar keine Rede ist? Wir wollen klar wissen, welche Auffassung gilt. Wir lassen uns auch nicht durch den sogenannten runden Tisch irreführen. Runde Tische hat es schon gegeben, schon vor Jahren auch einen runden Tisch zum Thema Gentechnik. Sie können aber gerne noch einmal alle einladen und das Ganze auf Kosten des Steuerzahlers wieder inszenieren. Aber das nutzt gar nichts; denn Frau Schavan ist für die Anbauentscheidung sowieso nicht zuständig. Ich will wissen: Stellen Sie hier nur einige in der Saatgutindustrie ruhig, oder wollen Sie tatsächlich eine andere Position einnehmen? Wir wollen nicht nur wissen, was die CSU meint, wie die weiteren Schritte aussehen sollen, sondern auch, welche Auffassung die Bundesregierung vertritt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Künast, achten Sie bitte auf die Zeit.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz klar: Wenn es die CSU ernst meint, müssen weitere Schritte folgen. Dann muss es Unterstützung für gentechnikfreie Regionen und Futtermittel geben. Dann darf es keine neuen Zulassungen gentechnisch veränderter Pflanzen geben. Wir wollen jetzt endlich einen klaren Satz von dieser Bundesregierung hören. Wir wollen in der Landwirtschaft und bei Lebensmitteln nicht unter dem Kuratel einiger weniger Konzerne stehen, die gentechnisch verändertes Saatgut nach Wildwestmanier verbreiten wollen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Bauern wollen keine Gentechnik, weder im Futtertrog noch auf dem Acker und auch nicht auf dem Teller. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner. ({0})

Ilse Aigner (Minister:in)

Politiker ID: 11003028

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen grundsätzlich in der Verantwortung für das Gemeinwohl unseres Landes. Deswegen kommen wir in der Politik nicht umhin, manchmal auch schwierige Entscheidungen zu treffen. Das ist unsere und insbesondere meine Aufgabe. Ich habe mir die Entscheidung für das Verbot von MON 810 nicht leicht gemacht. Es ist eine klare Einzelfallentscheidung, die ich nach Abwägung aller mir vorliegenden, unterschiedlichen Forschungsergebnisse fachlich getroffen habe. Genauso wie unsere Nachbarländer - fünf an der Zahl habe ich die Schutzklausel gezogen in dem Bestreben, möglichen Schaden abzuwenden und Widersprüchliches zu klären. Wo immer wissenschaftliche Anhaltspunkte gegeben sind, die den Schluss nahelegen, dass von gentechnisch veränderten Organismen Gefahren für die Umwelt ausgehen, müssen wir und muss insbesondere ich reagieren. Das war hier der Fall. Mit meiner Entscheidung ist kein Verdikt gegen neue, moderne Technologien ausgesprochen, nicht gegen die Lebenswissenschaften im Allgemeinen und auch nicht gegen die Grüne Gentechnik im Speziellen. Hier genauso wie bei allen anderen jungen Technologien muss man besonders auf Chancen und Risiken achten und diese gegeneinander abwägen. Wir brauchen gesichertes Wissen. Dafür brauchen wir Zeit. Ganz aktuell steht die Entscheidung über die Freisetzung der Stärkekartoffel Amflora an. Hierzu werde ich in den nächsten Tagen Gespräche führen, um dann eine Entscheidung zu treffen. Gerade dann, wenn Erkenntnisse noch nicht ausgereift sind und Anwendungen noch gezielter Erfahrungen bedürfen, gilt bei der Zulassung in besonderem Maße das Vorsorgeprinzip. Das bedeutet: Der Schutz von Mensch und Umwelt muss an vorderster Stelle stehen. Zudem wissen wir heute nicht, was wir morgen wissen. Deswegen müssen wir derzeitige Warnhinweise mit der gebotenen Sensibilität behandeln. ({0}) Ich bekenne mich klar zum Wissenschaftsstandort Deutschland. Mehr denn je wird unser künftiger Wohlstand von Wissenschaft, Forschung und technologischer Entwicklung abhängen. Es macht Sinn, Forschung, die weltweit betrieben wird, auch mitzugestalten. ({1}) Das gilt auch für die Grüne Gentechnik. Grundlagen-, Anwendungs- und Sicherheitsforschung müssen mit der gebotenen Sicherheit Hand in Hand gehen. Wir dürfen uns aber nicht künstlich dumm halten. Wir müssen - das ist ebenfalls ein Gebot der Wissenschaft - eventuelle Alternativen prüfen und beispielsweise in der Züchtungsforschung alle verfügbaren Verfahren der Biotechnologie auf ihre Anwendbarkeit untersuchen und bei Eignung nutzen. Grüne Gentechnik ist, wie wir alle wissen, ein Thema, das äußerst kontrovers und auch äußerst emotional diskutiert wird. Deswegen brauchen wir fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse, wir brauchen Orientierungswissen, und wir brauchen die Klärung von ethischen Positionen. Wir müssen die Ängste und Befürchtungen von Menschen aufnehmen. Es gilt, Brücken mit dem Ziel einer öffentlichen, transparenten und sachlichen Diskussion zu schlagen. Nicht nur darin bin ich mit meiner Kollegin Annette Schavan einig. ({2}) Gemeinsam werden wir uns mit Wissenschaftlern, Verbänden, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen und Kirchen an einen Tisch setzen, um Pro und Kontra, Chancen und Risiken der Grünen Gentechnik auszuloten. ({3}) Einen Termin haben wir schon gefunden. Für mich ist dieser Termin ein wichtiger Baustein im Prozess des Dialogs, den ich jetzt führen werde. ({4}) Wir können nicht alles tun, aber wir müssen tun, was wir können. Dieser Satz ist und bleibt richtig. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, meine persönliche Sympathie haben Sie, aber in der Sache liegen Sie falsch. ({0}) Sie haben einen Bescheid vorgelegt, der eine politische Entscheidung darstellt, aber der fachlich nicht begründet ist. ({1}) Ich bitte Sie ganz herzlich, einmal nachzulesen, was die ZKBS, Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit, schon vor zwei Jahren zu dem entsprechenden Erlass Ihres Kollegen Seehofer gesagt hat. Sie hat ganz eindeutig gesagt, dass das schlicht falsch ist. Ich bitte Sie auch, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in Deutschland eine Forschung zur biologischen Sicherheit haben, die Ergebnisse gebracht hat. Deswegen sind wir in Deutschland auf der ganz sicheren Seite, wenn wir uns dafür einsetzen, dass auch in Deutschland biotechnologische Züchtung erfolgt, dass die Pflanzen hier genutzt werden und dass die Forschung weitergetrieben wird. ({2}) Frau Künast, auch wenn wir mit Ihnen einer Meinung sind, dass es Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung gibt - das ist überhaupt keine Frage -, so sind wir doch der Meinung, dass das Thema sehr viel mehr als die Meinungsverschiedenheiten in dieser Bundesregierung umfasst. Wir sind in einer Wirtschaftskrise. Wir haben einen Abschwung in Höhe von 5 bis 7 Prozent. Es geht darum, Arbeitsplätze zu erhalten, es geht darum, neue Arbeitsplätze zu schaffen. ({3}) In dieser Situation exekutiert die Bundesregierung eine Verbotspolitik, die dazu führt, dass Arbeitsplätze ins Ausland abwandern. Das ist meines Erachtens das absolut falsche Zeichen in dieser Situation. ({4}) Zu Recht hat Friedrich Merz gesagt, eine positive Entscheidung der Bundesregierung zur Nutzung der Gentechnik wäre eine Entscheidung, die Deutschland zehn Mal mehr hilft als jedes weitere Konjunkturprogramm. Der Mann hat recht. ({5}) Es ist eine Entscheidung gegen Arbeitsplätze. Ich will noch eines ganz deutlich sagen: Es geht hier auch um diejenigen Menschen, die nicht auf den Acker gehen, die nicht demonstrieren, sondern die in aller Verantwortung für ihre Familien, für sich selbst und für unser Land zur Arbeit gehen und dafür sorgen, dass wirtschaftlicher Wohlstand in diesem Land geschaffen wird. ({6}) Es geht auch um junge Menschen. Ich will einmal an Folgendes erinnern: Es gibt mehr junge Menschen, die sich im Rahmen ihrer Ausbildung bei Pflanzenzüchtungsunternehmen, bei Chemieunternehmen, in der Landwirtschaft oder im Rahmen ihres Studiums im engeren oder weiteren Sinne mit der biologischen Züchtung beschäftigen, als junge Menschen, die auf Äckern demonstrieren. ({7}) Für die jungen Menschen, die sich in diesem Bereich ausbilden lassen, kämpfen wir als FDP-Bundestagsfraktion. ({8}) Wir wissen, dass die landwirtschaftliche Produktion zur Sicherstellung der Welternährung mit der Bevölkerungsentwicklung nicht mehr Schritt halten kann. Wir wissen, dass die Zahl der hungernden Menschen steigt. Etwa 1 Milliarde Menschen hungern. Im vergangenen Jahr hat es deswegen einen Gipfel der FAO in Rom gegeben. Wir haben im Agrarausschuss den zuständigen Kommissar gegen Wüstenbildung eingeladen. ({9}) - Frau Künast, Ihre Zwischenrufe taugen wirklich nicht viel. - Er hat in diesem Ausschuss ganz deutlich gesagt: Die Dritte Welt setzt auf eine zweite grüne Revolution. ({10}) Die Dritte Welt weiß, dass die erste grüne Revolution sehr viel für die Ernährung der Menschen weltweit getan hat. Deswegen setzt die Dritte Welt auf eine zweite grüne Revolution. Diese brauchen wir. ({11}) - Bitte hören Sie doch zu, wenn jemand hier seine Meinung äußert. Ich will noch eines hinzufügen: Es sind durch die Verteufelung der biotechnologischen Züchtung weltweit Zigtausende von Menschen gestorben ({12}) - ich möchte an Simbabwe und auch an den Goldenen Reis erinnern -, aber kein einziger Mensch ist durch ihre Anwendung gestorben. Vor diesem Hintergrund ist es zynisch, hier in Deutschland gegen eine biotechnologische Züchtung zu wettern, im Parlament zu randalieren und damit das Schicksal von Menschen mit Füßen zu treten. ({13}) Volksnahe Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, heißt etwas ganz anderes. Ich will ganz ehrlich sagen: Als Achtundsechzigerin fällt es mir schwer, ({14}) Franz Josef Strauß zu zitieren. Das gebe ich zu. Aber wenn er recht hat, hat er recht: Dem Menschen aufs Maul schauen, aber ihm nicht nach dem Munde reden. Das ist die richtige Politik für dieses Land: ihm nicht nach dem Munde reden. ({15}) Alle zukunftsweisenden Entscheidungen in Deutschland sind gegen Widerstände durchgekämpft worden. Deswegen fordern wir die Bundeskanzlerin auf, gegen alle Widerstände eine positive Haltung der Bundesrepublik Deutschland zur biotechnologischen Züchtung in ihrem Kabinett durchzusetzen. Sie muss von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPDFraktion. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Happach-Kasan, ich finde es perfide, den Hunger von Menschen zu instrumentalisieren. Ihre Worte stehen im Gegensatz zur Realität. ({0}) Fahren Sie einmal in die Länder, in denen die Menschen wirklich gegen den Hunger kämpfen. ({1}) Die Mehrzahl dieser Länder hat ein Einfuhr- und Anwendungsverbot für genetisch veränderte Pflanzen verhängt, weil sie ihre heimischen Pflanzensorten und den heimischen Lebensmittelanbau schützen wollen. ({2}) Sie zitieren immer gerne aus der Süddeutschen Zeitung. Hätten Sie diese Zeitung vorgestern und gestern gelesen, dann hätten Sie erfahren, dass bei Reis niemand auf die Entwicklung gentechnisch veränderter Sorten wartet, sondern dass auf herkömmliche Art und Weise die trockenresistenten, die hochwasserresistenten und auch die salzresistenten Reisarten - von diesen traditionellen Reissorten gibt es Tausende - gezüchtet worden sind, die jetzt einfach übernommen werden können, weil es darauf keinen Patentschutz gibt. Das ist die Chance, den Hunger zu bekämpfen, und nicht durch die Patentierung von Lebensmitteln durch Monopolisten. ({3}) Normalerweise ist der Antrag für eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung …“ eines der primitivsten Mittel einer Opposition. Aber in diesem Falle stimmt es. Ich will eine kurze Analyse der Positionen in dieser Regierung vornehmen. Man muss immer wieder erwähnen, dass es eine Dreiparteienkoalition ist. ({4}) Manchmal sieht es so aus, als seien es zwei. Aber es sind drei. Wir haben die SPD mit einer klaren Linie. ({5}) Wir haben in der gemeinsamen Regierungszeit mit den Grünen ein Gentechnikgesetz entwickelt. Die Große Koalition hat es geschafft, alle Punkte dieses Gentechnikgesetzes zu erhalten, ({6}) auch wenn die Verhandlungen darüber 18 Monate gedauert haben. Wir haben sogar zwei Punkte ergänzt, nämlich Sicherheitsabstand und die Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“. Wir haben außerdem mehrfach Initiativen ergriffen, um auf europäischer Ebene klarzustellen, dass Nationalstaaten und Regionen über die Anwendung entscheiden, um das Saatgut zu schützen und das Zulassungsverfahren auf europäischer Ebene endlich zu demokratisieren. Es gibt einen zweiten Koalitionspartner mit einer klaren Linie: Das ist die CDU. Diese Linie ist zwar das genaue Gegenteil von dem, was ich gerade für die SPD genannt habe, aber es ist eine klare Linie. Es gibt noch einen dritten Koalitionspartner, dessen Linie ich am Morgen eines Tages oft nicht kenne. Am Anfang der Verhandlungen mit der CSU gab es dort die entschiedensten Gentechnikbefürworter. ({7}) Heute lese ich in der Zeitung, dass dort die entschiedensten Gentechnikgegner sind. ({8}) Bis zu der Entscheidung der Ministerin - diese Entscheidung begrüße ich sehr - hat es allerdings keine einzige Tat dieses Koalitionspartners gegeben. Frau MinisUlrich Kelber terin, ich weiß nicht, ob es Sie erreicht hat: Als Ihr treuester Unterstützer habe ich am Dienstag dem Koalitionspartner vorgeschlagen, dass wir im Deutschen Bundestag beschließen: Der Deutsche Bundestag unterstützt die Entscheidung von Frau Bundesministerin Ilse Aigner, den Anbau von MON 810 zu untersagen. - Wir dürfen nach dem Willen der Fraktion der CDU/CSU diesen Beschluss im Deutschen Bundestag nicht fassen. Das tut mir sehr leid. ({9}) Wie bei unserem ersten Vorstoß hat es keine Unterstützung der CDU-Abgeordneten gegeben - Frau Klöckner und Herr Bleser waren im Raum -; es hat aber auch keine Unterstützung der CSU-Abgeordneten gegeben. Ich finde es bemerkenswert, dass in der heutigen Debatte außer der Ministerin - ich finde gut, dass sie persönlich zu dieser Debatte erschienen ist - kein CSUAbgeordneter redet. So war es auch in der letzten Gentechnikdebatte. ({10}) - Lesen Sie es nach! Da Sie nicht zugehört haben, wiederhole ich: außer der Ministerin kein Redner aus den Reihen der CSU-Abgeordneten im Deutschen Bundestag, der die CSU-Linie vertritt. Bei der letzten Debatte hat man nur den Kollegen Bleser reden lassen, und seiner feurigen Pro-Gentechnik-Rede, lieber Peter, haben auch alle CSU-Abgeordneten begeistert Beifall gespendet. ({11}) Die Regierung braucht eine klare Linie. Es kann nicht jedes Mal so sein wie bei einer Abstimmung auf europäischer Ebene, an deren Ende Bundesumweltminister Sigmar Gabriel gesagt hat: Niemand hat mich formal aufgefordert, mich zu enthalten; also habe ich dagegengestimmt, als die EU-Kommission unseren Nachbarn Österreich und das mit uns befreundete Land Ungarn zwingen wollte, Gentechnik einzusetzen. Was tun wir, wenn die Kommission vorschlägt - die Ministerin muss dann entscheiden -, unser Nachbarland Frankreich zu zwingen, Gentechnik einzusetzen? Enthält sich die Bundesregierung, und sagt sie: „Das ist uns egal, was unserem Nachbarland passiert“? Oder haben wir eine klare Haltung? Wir glauben, dass der Deutsche Bundestag nicht nur die Entscheidung der Ministerin begrüßen sollte, sondern endlich auch Deutschlands Haltung festlegen sollte. Diese Haltung sollte sein: Nationalstaaten und Regionen entscheiden anhand ihrer spezifischen Situation darüber, ob sie Grüne Gentechnik auf ihren Äckern einsetzen wollen oder ob sie es nicht tun wollen. Dieser Vorschlag steht im Regierungsprogramm der SPD. Wir werden ihn in einer nächsten Koalition erneut vorbringen. Wenn wir wenigstens 15 bis 20 der CSU-Abgeordneten gewinnen könnten, dann hätten sicherlich auch die Fraktionsspitzen nichts gegen einen Gruppenantrag. Es müsste sich allerdings einmal ein einziger CSU-Abgeordneter trauen, das zu vertreten, was aus München in den Zeitungen vorgegeben wird. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Donnerstagabend der letzten Sitzungswoche diskutierten wir über das Verbot des Anbaus von MON 810. Viele von Ihnen können sich an diese heiße Debatte erinnern, in der uns, den Gegnerinnen und Gegnern der Gentechnik, alle möglichen unschönen Dinge vorgeworfen wurden: Uns wurde unterstellt, Panikmache zu betreiben und Argumente nur einseitig zu sehen. Das war eine sehr unschöne Debatte. Leider hat sich kein CSU-Abgeordneter daran beteiligt; darauf wurde hier schon hingewiesen. Umso erfreuter bin ich darüber, dass Frau Aigner das Anbauverbot ausgesprochen hat. Sicher ist es kein Geheimnis - zumindest wird in Bayern sehr viel darüber gesprochen -, dass ein Herr aus Ingolstadt daran großen Anteil hatte. Vielleicht ist er es leid: Er hat ja den Spitznamen „Genhofer“ und möchte jetzt vielleicht einen anderen Spitznamen. Wir finden es gut, dass dieses Verbot jetzt ausgesprochen wurde. Horst Seehofer hat die Zeichen der Zeit verstanden und kennt die Stimmung in der Bevölkerung in Bayern. ({0}) - Natürlich muss die CSU um ihre Europamandate schon ein bisschen fürchten. Bei 42 Prozent wird es knapp. Ich sage Ihnen auch - aber das wollen Sie ja nicht akzeptieren -: 78 Prozent der Bevölkerung sind gegen den Anbau von Genmais, und darum halte ich dieses Verbot schon lange für überfällig. ({1}) Ich fordere an dieser Stelle Zugabe: Nun brauchen wir auch ein Verbot der Maissorten Bt 11 von Syngenta und 1507 von Pioneer, und natürlich unterstützt die Linke auch ein Anbauverbot der Genkartoffel Amflora. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, letzten Mittwoch demonstrierten Biobauern, Bauernverband, Milchbauern und Umweltverbände in München gegen eine Patentierung von Lebewesen unter dem Motto „Es geht um die arme Sau“. Neu war, dass sich der bayerische Umweltminister Söder auf der Kundgebung geäußert und das Genmaisverbot begründet hat. Das sind wir in Bayern nicht gewohnt; daher war es schon sehr interessant. Er hat gesagt, er kümmere sich auch um die arme Sau. Das finde ich sehr löblich. Fakt ist: In Bayern wurde verstanden, dass die Freisetzung von Genpflanzen Risiken mit sich bringt, die eben nicht überschaubar sind. Einmal freigesetzt, sind sie nicht mehr einzufangen, und die Risiken sind, wie gesagt, unüberschaubar. Das wird nicht nur in unserem Land so gesehen, sondern das Anbauverbot ist in einigen anderen europäischen Ländern - ich zähle sie noch einmal auf: Frankreich, Griechenland, Österreich und Ungarn - schon lange ausgesprochen. Deshalb war auch bei uns das Anbauverbot längst überfällig. Wenn Sachsens Landwirtschaftsminister den Gentechnikgegnerinnen und -gegnern das Schüren von Hysterie vorwirft, dann hat er eben die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Damit unterstützt er die Forschungsministerin Frau Schavan, die sofort mit der Standortkeule kommt und den Forschungsstandort Deutschland schon am Boden sieht. So haben sich ja auch andere jetzt wieder geäußert. Dazu kann ich nur sagen: Ihre Reaktion ist vollkommen unangemessen. Nicht das Genmaisverbot gefährdet den Standort, sondern eine Orientierung auf eine globalisierte und energieintensive Landwirtschaft. Wir brauchen eben keine Laborpflanzen, die weltweit angebaut werden können, sondern wir benötigen regional angepasste Sorten, um die Land- und Forstwirtschaft für die Zukunft fit zu machen. ({3}) Dazu brauchen wir beispielsweise eine intensive Forschung im Bereich des Ökolandbaus und der Agroforstsysteme. Das ist notwendig, und die Mehrheit der Menschen, auch in Bayern, wünscht sich das. ({4}) Der jetzt von Frau Schavan geplante runde Tisch aus Wissenschaft und Industrie soll die Entscheidung wieder zurückholen. Unterstützt wird sie sogar von der Bundeskanzlerin. Hier wird klar, wie hoch diese Entscheidung aufgehängt ist. Ich frage Sie: Warum akzeptieren Sie nicht den Willen der Mehrheit der Bevölkerung? Warum sollen Menschen in Zukunft Lebensmittel essen, die sie nicht wollen? Sind Ihnen die Profite der Großkonzerne wichtiger als Ihre Wählerinnen und Wähler? Diese Fragen müssen Sie im Wahlkampf beantworten. ({5}) Dann kommt noch das Argument Welthunger; wir haben es auch heute gehört. ({6}) Es ist einfach falsch. Gerade „Misereor“, „Brot für die Welt“ und die Welternährungsorganisation ({7}) lehnen die Gentechnik als Mittel zur Linderung des Welthungers ab. Ich halte das für sehr wichtig. Daran können Sie einfach nicht vorbeigehen. Der Welthunger muss durch eine Umverteilung in der Welt, durch eine gerechte Weltwirtschaftsordnung unter Verhinderung von Kriegen beendet werden ({8}) und nicht durch patentierte Genpflanzen, die sich am anderen Ende des Kontinents niemand leisten kann und die Menschen millionenfach in Schulden stürzen. Schauen Sie sich an, wie viele Bauern sich in Indien deswegen umgebracht haben! ({9}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie schimpfen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Bulling-Schröter, achten Sie bitte auf die Zeit. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. - Ich verstehe, dass ein Gerichtsverfahren mit einem Konzern wie Monsanto als Gegner nicht sehr schön ist. Aber lassen Sie sich bitte nicht ins Bockshorn jagen. ({0}) Es ist sicher nicht sehr angenehm, wenn der deutsche Botschafter in den USA vom US-Handelsbeauftragten vorgeladen wird, um sich dort eine Kritik am Anbauverbot einzuhandeln. Trotzdem: Das Anbauverbot ist richtig und wichtig.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Und Ihre Redezeit ist abgelaufen. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Bundestag gäbe es eine Mehrheit für Ihren Antrag, Herr Kelber. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Axel Fischer für die Unionsfraktion. ({0})

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Jahrhunderten ist die Menschheit in der Lage, immer bessere Pferde zu züchten. Obwohl dies so ist, hat sich im Bereich der Mobilität das Automobil durchgesetzt. ({0}) Heute spielen deutsche Unternehmen auf dem Markt der Mobilität im Bereich des Automobils noch eine führende Rolle, ({1}) und das ist auch gut so. Wir debattieren heute aber nicht über das Thema Mobilität, sondern über das Thema Ernährung. Wir alle kennen die Debatten; sie wurden hier des Öfteren geführt. Es gibt auf der einen Seite herkömmliches Saatgut, wie man es meist nennt, das Bauern verwenden. Es wird versucht, einen Gegensatz aufzubauen, indem man sagt: die schlimme Grüne Gentechnik. Ich sehe diesen Gegensatz nicht so stark, wie er in dieser Debatte teilweise dargestellt wird. Eine Tatsache können wir nicht vom Tisch wischen. Es ist in der Tat so, dass durch gentechnisch veränderte Pflanzen Produktivitätssteigerungen von um die 30 Prozent möglich sind. Angesichts einer steigenden Weltbevölkerung - es werden bald 9 Milliarden Menschen sein ist dies auf jeden Fall eine Tatsache, die man nicht so einfach vom Tisch wischen kann. ({2}) Ein weiteres Argument, das man nicht einfach beiseite schieben kann, ist, dass bei gentechnisch veränderten Pflanzen der Pflanzenschutz im Saatgut angelegt wird. Wir sparen also eine Menge Pflanzenschutzmittel, die sonst auf die Felder ausgebracht werden müssten; auch das ist ein Vorteil. ({3}) Wir können die Gentechnik natürlich pauschal verteufeln - das hat die Bundesregierung übrigens nicht getan; das muss man einmal deutlich sagen -, aber eigentlich müssen wir sehen, wie die Entwicklung in der Welt weitergeht. Wenn wir uns die bevölkerungsreichsten Länder wie China oder Indien anschauen, stellen wir fest, dass dort massiv auf Gentechnik gesetzt wird. Damit ist völlig klar: Wenn wir in hundert Jahren im Bereich der Welternährung beim Saatgut eine Rolle spielen wollen, dürfen wir die Forschung in diesem Bereich in Europa und in Deutschland nicht ausblenden. ({4}) Die Folge wäre, dass junge Forscher massenweise aus Deutschland in andere Länder abwandern und dort forschen würden. Das kann nicht Sinn unserer Politik sein. Übrigens: Niemand wird irgendjemanden zwingen, gentechnisch verändertes Saatgut auszusäen. ({5}) Das ist eine freiwillige Entscheidung der Landwirte. ({6}) Gerade vor diesem Hintergrund ist die Diskussion „Gentechnisch verändertes gegen herkömmliches Saatgut“ völlig fehl am Platze. Wir haben eine Verantwortung - auch eine weltweite Verantwortung - gegenüber den Menschen. ({7}) Aus ihr können wir uns nicht davonstehlen. Tatsache ist, dass jedes Jahr Hunderttausende von Kindern in Südostasien aufgrund Vitamin-A-Mangels ums Leben kommen oder Behinderungen davontragen. ({8}) Wir hätten die Möglichkeit, durch den Einsatz einer gentechnisch veränderten Reissorte - ich meine den vitaminreichen sogenannten Golden Rice - zu helfen. Da frage ich: Wer von Ihnen will die Verantwortung übernehmen, zu sagen: „Wir wollen das nicht; die toten und behinderten Kinder sind uns egal“? Ich jedenfalls möchte das nicht. ({9}) Eines ist klar: Wir müssen global denken und lokal handeln. Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland auch weiterhin auf die Gentechnik setzt, zumindest in der Forschung. Wir müssen natürlich aufpassen, dass keine Missverständnisse entstehen und dass uns aufgrund verschiedener Entscheidungen nicht der Vorwurf des Protektionismus gemacht werden kann. ({10}) Gerade in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage können und sollten wir uns einen Handelskrieg, der allen Beteiligten nur Nachteile bringt, nicht leisten. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Ulrike Höfken das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Aigner! Herr Kollege Fischer, bei der Mobilität nehmen Sie schon Rückgriff auf das 19. Jahrhundert. Ihr Wissen tut das leider auch. Bei diesem Stand sollten Sie nicht stehen bleiben. ({0}) Ihnen von der SPD können wir übrigens helfen. Sie brauchen nur Ihre Positionen in der Abstimmung über unseren Antrag zum Ausdruck zu bringen. Endlich ist der Wahnsinn des Genmais-Anbaus in Deutschland gestoppt. Dieses Produkt bringt nur großen Konzernen Gewinn und hängt allen anderen Gefahren und Kosten an den Hals. Frau Happach-Kasan, stellt man den maximal 500 Beschäftigten in der Agrogenbranche - dies ergab eine Untersuchung der Universität Oldenburg - die 150 000 Arbeitsplätze in der Biobranche gegenüber, sieht man, wo der Jobmotor brummt. Daher wäre es in der Krise das Allervernünftigste, hier den Schlüssel umzudrehen und diese technologische Missgeburt Agrogentechnik zu beenden. ({1}) Es werden aber 165 Millionen Euro Steuergelder jährlich in die Biotechnologieforschung gepumpt, davon erhebliche Teile in die Agrogentechnik, während nur rund 7 Millionen Euro für das Bundesprogramm Ökologischer Landbau zur Verfügung stehen. Frau Schavan hat auch kein Unrechtsbewusstsein. Vielmehr betreibt man zusätzlich noch Gehirnwäsche in der Bildung und öffnet Monsanto, BASF und Bayer als Ersatzlehrern die Schultore für ihre Biotech-Mobile. Nachtigall, ick hör dir trapsen! Ich war gestern in Mecklenburg-Vorpommern. Dort kann man sehen - genauso wie in Sachsen-Anhalt, wo der ehemalige Ministerpräsident Kronzeuge dafür ist -, welche Mittel in diesem Zusammenhang verschwendet werden. Gerade die neuen Bundesländer leiden hier unter erheblichen Ausgaben. Zu dieser immensen Verschwendung von Steuermitteln für eine völlig überholte Technologie werden Verbrauchern, Landwirten und Verarbeitern mit der Koexistenzlüge noch unglaubliche Kosten und eine immense Bürokratie aufgebürdet. Man braucht sich nur einmal den Schadensbericht Gentechnik des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft anzuschauen, aus dem hervorgeht, dass allein pro Molkerei jährlich 20 000 Euro plus 200 000 Euro Investitionskosten anfallen, um zu erkennen, welcher Irrsinn das ist. Ministerin Aigner hat die Forderungen, die die Mehrheit der Menschen in Deutschland mit starkem Nachdruck gestellt haben, jetzt erfüllt. Das ist ein großer Erfolg der Demokratie. ({2}) Wir wissen, dass es kaum die eigene Überzeugung war, sondern die Angst vor einer Abstrafung bei den bevorstehenden Wahlen wie Europawahl und Bundestagswahl. Zu kritisieren ist nicht das Verbot des Anbaus von Genmais, sondern die Unglaubwürdigkeit der CDU/ CSU. ({3}) Im Deutschen Bundestag können wir täglich die Doppelzüngigkeit der Union erleben: bei den Reden - besser gesagt: bei den Nicht-Reden; gibt es hier eigentlich irgendein Mittel gegen Arbeitsverweigerung? - und bei ihrem Abstimmungsverhalten. Auch im Landwirtschaftsausschuss wird das deutlich. Dort erheben die Abgeordneten der CDU/CSU einerseits die Wissenschaft zum Dogma. ({4}) Andererseits werden renommierteste Wissenschaftlerinnen wie Professor Dr. Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz, oder Frau Dr. Tappeser, die gerade als eine von drei europäischen Expertinnen in ein hochrangiges Expertengremium vom Sekretariat der CBD berufen wurde, heruntergemacht wie Schulmädchen. Wenn die Aussagen dieser Expertinnen nicht ideologiekonform im Sinne der Agrogengläubigen der CDU/CSU sind, wird ihnen explizit die wissenschaftliche Reputation abgesprochen. Landes- und Bundesminister der Union werden als Wahltaktiker bezeichnet, wenn sie solchen Haltungen folgen. So erklärte Peter Bleser im Deutschlandfunk, mit dem, was Frau Aigner jetzt praktiziere, werde eine Zukunftstechnologie in Deutschland verhindert. ({5}) Man muss auch einmal Folgendes deutlich machen: Sie von der CDU wollen den Menschen verkaufen, dass es der Gesundheit förderlich ist, einen gifthaltigen Mais zu essen. ({6}) Gegen eine solche Meinung hilft schlichtweg gesunder Menschenverstand - und vielleicht auch das richtige Kreuz bei den Wahlen. ({7}) Sollte die CDU/CSU es wagen, nach den Wahltagen im Juni und im September wieder zum Kniefall vor den Agrokonzernen wie BASF und Monsanto zurückzukehren und weiter Millionen- und Milliardensummen in diese Technologie zu investieren, dann wird es, gerade nach dem, was abgelaufen ist, einen Aufstand geben. ({8}) Es wird eine ganz andere Form der Bauernbefreiung geben, nämlich die Befreiung von Genheuschrecken und ihren parlamentarischen Helfern. ({9}) Es müssen Taten folgen. Deutschland muss eine gentechnikfreie Zone werden. Es darf nicht wie bei der Echternacher Springprozession verfahren werden: zwei Schritte vor und einer zurück. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD hat das MON-810-Verbot öffentlich begrüßt; denn wir hatten bereits mehrfach auf ein Verbot gedrungen und damit auch die Einhaltung des Koalitionsvertrags eingefordert. Dort heißt es - ich zitiere -: Der Schutz von Mensch und Umwelt bleibt, entsprechend dem Vorsorgegrundsatz, oberstes Ziel des deutschen Gentechnikrechts. Auch Frau Aigner hat zuvor darauf hingewiesen. Bereits in seiner Verfügung vom 27. April 2007 sah das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit BVL - Zitat - „berechtigten Grund zu der Annahme, dass der Anbau von MON 810 eine Gefahr für die Umwelt darstellt“. ({0}) Es ordnete zwar das Ruhen der Inverkehrbringensgenehmigung an. Aber im Dezember 2007 wurde MON 810 wieder zugelassen. Wir, die SPD, haben diese Entscheidung kritisiert; denn die Zweifel an der Unbedenklichkeit für Umwelt und Gesundheit sind bis heute nicht ausgeräumt. Das nun von Ministerin Aigner ausgesprochene Verbot ist die längst überfällige Konsequenz daraus. Ich danke Frau Aigner für diese Entscheidung. Auch im Namen der SPD-Fraktion - Herr Kelber hat es ebenfalls angesprochen - sichere ich Ihnen unsere Unterstützung zu; denn der Vorsorgegrundsatz muss für uns alle Priorität haben. ({1}) Dafür müssen wir einstehen, auch dann, wenn es Gegenwind gibt. Wo bleibt die Unterstützung der CDU/CSUFraktion? Beim Koalitionspartner herrscht Durcheinander, nicht nur beim Thema MON 810, sondern auch beim Thema Amflora-Kartoffel. Wir halten einen Stopp des Versuchsanbaus für geboten, da das Austragsrisiko offensichtlich nicht so gering ist, wie es häufig dargestellt wird. Nicht Pollenflug und Vermehrung sind hier das Problem, sondern der Durchwuchs. Zwischen 10 000 und 30 000 Kartoffelknollen - falls Sie das noch nicht wussten - können auf dem Acker verbleiben, weil sie von der Erntemaschine nicht erfasst werden. Davon kann ein Teil den Winter überstehen, im nächsten Jahr keimen und unkontrolliert durchwachsen. Das ließ sich 2008 im Süden von Mecklenburg beobachten. Dort kam es zu einem Amflora-Durchwuchs auf einem ehemaligen Versuchsfeld in der Nähe von Zepkow, obwohl der Versuch 2007 beendet worden war. Solange die unkontrollierte Verbreitung nicht ausgeschlossen werden kann, befürworten wir ein Verbot des Versuchsanbaus. Minister Gabriel hat bereits öffentlich seine Unterstützung zugesagt. Wo aber steht die CDU/CSU-Fraktion? Es ist nicht einfach, mit so einem Durcheinander beim Koalitionspartner politisch etwas auf den Weg zu bringen. Die CSU positioniert sich in Bayern anders als in Berlin: Während in München das Verbot der Grünen Gentechnik plötzlich ein Gebot der Ethik ist, ({2}) wird der Einsatz in Berlin unterstützt. Während die CSU in München Verbindlichkeit für gentechnikfreie Regionen fordert, verweigert sie in Berlin unseren Anträgen zur Umsetzung dieser Forderungen die Zustimmung. So kann man nicht arbeiten. So kann man nicht mit Bürgerinnen und Bürgern umgehen. ({3}) Wir brauchen einen klaren Kurs in Sachen Gentechnik. Das Thema ist den Menschen viel zu wichtig, als dass sich Deutschland bei jeder Entscheidung auf EUEbene enthalten kann, weil sich die CDU/CSU-geführten Ministerien auf keine Linie einigen können. Das ist heute schon mehrfach angesprochen worden. Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen die Grüne Gentechnik ab. Das hat erneut eine von Emnid durchgeführte Umfrage in Bayern gezeigt. Danach fordern 72 Prozent der bayerischen Bevölkerung - ich betone: der bayerischen Bevölkerung - und sogar 76 Prozent der CSU-Wähler ein MON-810-Verbot. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sogar 59 Prozent der FDPWähler in Bayern schließen sich dieser Forderung an. ({4}) Das sollte Ihnen eigentlich zu denken geben und endlich den Weg für einen klaren Kurs in Sachen Grüne Gentechnik freimachen. Ich nenne noch einmal einige wichtige Punkte: Verbraucherinnen und Verbrauchern dürfen keine gentechnisch veränderten Produkte aufgezwungen werden. Wir brauchen deshalb auf EU-Ebene die Schließung der Kennzeichnungslücke bei tierischen Produkten. Auf nationaler Ebene müssen wir endlich die bereits vereinbarte Informationskampagne zur Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ starten, zum Beispiel mit einem einheitli23548 chen Logo. Gentechnikfreie Regionen brauchen Rechtssicherheit und Verbindlichkeit; denn nach derzeitigem Recht können sie durch die Entscheidung einzelner Grundstücksbesitzer gefährdet werden, indem einzelne Parzellen mit gentechnisch veränderten Pflanzen bestellt werden. Ich könnte diese Liste fortführen, aber meine Redezeit geht zu Ende. Mit dem MON-810-Verbot ist der Anfang gemacht. Wir begrüßen das sehr. Ich fordere unseren Koalitionspartner auf, die Ministerin auf diesem Weg und diesen Weg überhaupt zu unterstützen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Kollege Johannes Röring für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man sich inhaltlich mit dem Thema der heutigen Aktuellen Stunde beschäftigt, kommt man schnell zu dem Schluss - das haben die Redner Künast, Höfken und andere eindeutig bestätigt -, dass es gar nicht um das Thema MON 810 geht, sondern zum wiederholten Male um das Grundsatzthema Gentechnik. ({0}) Frau Kollegin Drobinski-Weiß, Sicherheit für Mensch und Umwelt ist ein Aspekt bei der Zulassung jeglicher gentechnisch veränderten Sorten. ({1}) Bei der jetzigen Debatte geht es um eventuell neue Erkenntnisse. Insofern diskutieren wir seitens der Union über dieses Thema. Diese Thematik war für die Grünen seit ihrer Gründung ein rotes Tuch. Es geht um ein Zukunftsfeld, um eine Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, die den Menschen schon heute in vielen Lebensbereichen hilft und Probleme löst. ({2}) Die Thematik wird von einer Partei, die sich auf ihre Fahne geschrieben hat, Verantwortung für die Generationen zu übernehmen, seit Jahren bekämpft. Es wird ideologisch, reißerisch und populistisch argumentiert, anstatt wissenschaftlich an die Sache heranzugehen. ({3}) Ich bin schon der Meinung, dass die Bevölkerung aufgeklärt und informiert werden muss und nicht getäuscht und verängstigt werden darf. ({4}) Aus diesem Grunde hat sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim Gentechnikrecht stets dafür eingesetzt, dass bei der Kennzeichnung von Lebensmitteln Wahrheit und Klarheit herrschen. Eine Kennzeichnung ist Grundlage für Transparenz und Voraussetzung für die volle Wahlfreiheit. Herr Kelber, mit der aktuellen Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“ ist es meines Erachtens nicht möglich, das Ziel einer umfassenden, vollständigen Kennzeichnung zu gewährleisten. ({5}) Die volle Wahlfreiheit der Verbraucher wird dadurch nicht gewährleistet. Ich plädiere weiterhin dafür, dass wir eine volle und ehrliche Kennzeichnung vornehmen, indem wir eine Prozesskennzeichnung vornehmen. Alles, was im Prozess mit Gentechnik zu tun hat, sollten wir kennzeichnen. ({6}) Auch beim Biokäse ist Gentechnik im Spiel, Frau Künast. Wir sollten das kennzeichnen. ({7}) Es geht an dieser Stelle nicht darum, dass man sich mit dem Thema Gentechnik unkritisch auseinandersetzt. Natürlich muss man sich stets mit den Risiken dieser Zukunftstechnologie auseinandersetzen. ({8}) Deshalb müssen wir die Forschung unterstützen. ({9}) Ich bin froh, dass das BMELV und das Forschungsministerium in den nächsten fünf Jahren Projekte der Bioenergie-, Agrar- und Ernährungsforschung an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen unterstützen und hierfür 200 Millionen Euro ausgeben. Der Grünen Gentechnik wird in diesem Rahmen viel Platz eingeräumt. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend diese Debatte mit der über den Bildungsbericht der Bundesregierung, über den wir heute Morgen gesprochen haben, verknüpfen. Wir haben heute Morgen gehört, dass Bildung und Ausbildung für die zukünftige Entwicklung des Einzelnen, aber auch der Gesellschaft entscheidend sind. Deshalb bereitet es mir Sorgen, dass durch die Art und Weise dieser Debatte - Herr Kelber, Frau Künast, Sie haben ein Beispiel dafür gegeben - falsche Signale an junge Menschen gesendet werden, die zur Folge haben, dass sie sich nicht mit diesen Zukunftsthemen befassen, ({10}) sondern sich davon abwenden. Wir müssen bei jungen Menschen in der Schule, in der Ausbildung die Neugier für das weltweite Zukunftsthema Biotechnologie wecken, damit sie erkennen, dass dies ein wichtiges Feld ist. Wir müssen junge Menschen für die Zukunftsthemen begeistern; ({11}) denn nur dadurch können wir besonders bei uns in Deutschland Lösungen für die Herausforderungen von morgen finden. Dafür steht die Union. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege René Röspel für die SPDFraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich wollte ich nichts zu dem Thema sagen, weil ich glaube, dass wir uns in den letzten Jahren genug dazu ausgetauscht haben. Trotzdem muss ich es sagen: Ich finde es unerträglich, wie einige von Ihnen hier die Not anderer Menschen und den Welthunger zu ihren Zwecken instrumentalisieren. ({0}) Nehmen Sie es zur Kenntnis! Der ursprünglich in Indien angebaute braune geschälte Reis stellte genügend Vitamine zur Verfügung. Er ist vom westlichen geschälten vitaminarmen weißen Reis verdrängt worden. Jetzt mit westlicher Technologie zu kommen und zu sagen, dass man den Menschen auch noch den gentechnisch veränderten weißen Reis geben möchte, um damit deren Probleme zu lösen, ist der völlig falsche Ansatz und dient der Sache insgesamt nicht. ({1}) Ich möchte wieder zum Thema kommen. Frau Ministerin Aigner hat am 14. April dieses Jahres den Genmais MON 810 - man könnte ihn auch Seehofer 1 nennen verboten. Am 17. April hat das zuständige Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit den Bescheid an Monsanto herausgegeben, in dem die Begründung für dieses Verfahren nachzuvollziehen ist. Sie erlauben mir, dass ich einige der Begründungen nenne - sie sind übrigens jeweils wissenschaftlich belegt, und entsprechende Literaturquellen sind angegeben -: Die verfügbaren Daten zeigen eine Langzeitbelastung durch das Toxin auf Nichtzielorganismen, also Nichtschädlinge. Der Polleneintrag sei wesentlich höher als angenommen. Das Bt-Protein im Pollen werde durch UVStrahlung nicht angegriffen. Dies wird in einer Arbeit von 2007 ausgeführt. In schon länger bekannten Arbeiten von 1998 und 2001 ist von der Verfügbarkeit dieses Proteins über 200 Tage im Boden die Rede. Beträchtliche Mengen des Toxins, des Giftes aus dem Genmais, werden im Wasser und Sediment mitgeführt. Dies steht in Arbeiten von 2007. In weiteren Arbeiten von 2007 steht, dass nicht nur der Maiszünsler, der Schädling, sondern weitere Schmetterlingsarten betroffen sind. Das BtProtein werde durch Pollen mehr als 2 Kilometer in die Umgebung hineingetragen. Ältere Arbeiten von 1999 zeigen, dass Nichtzielorganismen weiterhin geschädigt werden. So viel zur wissenschaftlichen Begleitung des Ganzen. Die neueste Arbeit zeigt, dass auch Maikäfer eine signifikant erhöhte Sterblichkeit aufweisen. Diese Arbeiten haben zu dem Schluss geführt - so steht es in dem Bescheid -, dass aufgrund der neuen und zusätzlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse berechtigter Grund zu der Annahme besteht, dass der Anbau von MON 810 eine Gefahr für die Umwelt darstellt. Frau Ministerin, ich glaube, Sie haben Ihre Schlussfolgerung, dass der Genmais verboten werden muss, auf begründeter Basis gezogen. ({2}) Einige der Arbeiten kenne ich seit längerer Zeit. Andere habe ich in der Kürze der Zeit nicht lesen können. Man kann sie kritisch betrachten; das ist richtig. Ich erwarte von kritischer Forschung und wissenschaftlicher Arbeit, dass man Publikationen kritisch betrachtet. Ich habe vor einigen Jahren einmal die Situation der zwei Stapel beschrieben: Auf der einen Seite wächst die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten, in denen die Grüne Gentechnik sehr kritisch beurteilt wird. Auf der anderen Seite wächst der Stapel der Arbeiten, in denen es heißt: Die Grüne Gentechnik ist unbedenklich, und es gibt keine Hinweise auf das Gegenteil. Die Frage ist, wie man sich in einer solchen Situation, in der es ein Fragezeichen gibt, entscheidet. Ich glaube, man muss tatsächlich beide Stapel betrachten. Am 16. April dieses Jahres ist eine gemeinsame Erklärung der Wissenschaftsorganisationen zur Grünen Gentechnik veröffentlicht worden. Darin wird von Frau Aigner eine vorurteilsfreie Untersuchung von Sicherheitsfragen und möglichen Risiken gefordert. Das kann ich ausdrücklich unterstreichen. Das bedeutet aber, dass man sich tatsächlich mit beiden Stapeln befassen muss. Wenn man diese Forderung erhebt und dabei mit dem Finger auf andere zeigt, dann weisen nach Gustav Heinemann immer drei Finger auf einen selbst zurück. Ich kann nicht verstehen, dass es in dieser gemeinsamen Erklärung der Wissenschaftsorganisationen, die übrigens auch vom Deutschen Akademischen Austauschdienst und von der Hochschulrektorenkonferenz als Experten für Grüne Gentechnologie unterzeichnet ist, heißt - Zitat -: Nie haben entsprechende Untersuchungen fundierte Ergebnisse erbracht, die eine Abkehr von dieser Technologie auch nur entfernt nahe legen könnten. ({3}) Das haben die Wissenschaftsorganisationen am 16. April dieses Jahres geschrieben, zwei Tage nachdem Frau Aigner das Genmaisverbot ausgesprochen hat und einen Tag bevor in dem Bescheid die Begründung geliefert wurde. Ich muss schon sagen: Wer vorurteilsfreie Untersuchungen verlangt, der muss sie auch selbst an den Tag legen. ({4}) Die Wissenschaftsgemeinschaft hat sich damit keinen Gefallen getan. Ich sehe dieses Vorgehen auch in anderer Hinsicht mit Sorge: Was mögen all diejenigen Forscher und Wissenschaftler empfinden, die nicht unterstützt von der entsprechenden Industrie Forschungen betreiben, wenn ihre eigenen Wissenschaftsorganisationen mit einer solchen Erklärung gegen ihre Arbeit vorgehen? ({5}) Ich glaube, dass die Entscheidung richtig ist. Was mich allerdings wundert, ist die Uneinigkeit innerhalb der Bundesregierung. Der Vorschlag von Frau Ministerin Schavan - sie ist jetzt leider nicht hier -, einen runden Tisch einzurichten, ist gut; ein runder Tisch ist immer gut. Aber dieser Vorschlag kommt ein bisschen spät. Ich hätte erwartet, dass sich die beiden aus einer Fraktion stammenden Ministerinnen, die für Verbraucherschutz und für Forschung zuständig sind, abstimmen und austauschen. Wenn das BMBF diese Entscheidung jetzt kritisiert, hat es auch die Verpflichtung, die wissenschaftlichen Belege nachzureichen. Ich denke, es gibt einen politischen Grund, warum so verfahren worden ist: den Zeitpunkt. Der Zeitpunkt ist in der Tat zu bemängeln. Ich glaube, in Bayern brennt die Bude. Der CSU schwimmen die Felle davon. ({6}) Jetzt wird mit großem Populismus versucht, darauf zu reagieren. Ich habe eine ähnliche Situation in NordrheinWestfalen erlebt. Wir Sozialdemokraten haben immer geglaubt, wir würden in Nordrhein-Westfalen ewig regieren. ({7}) Das, was Sie tun, sind die ersten Anzeichen. Das darf sich nicht auf die Bundesregierung auswirken. Ich fordere die Kanzlerin ausdrücklich auf, den Konflikt zwischen BMBF und BMELV endlich zu lösen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Kretschmer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pflanzenbiotechnologie und mit ihr die Grüne Gentechnik wurden von allen Bundesregierungen von Anfang an gefördert. Das klare Bekenntnis hierzu war stets unabhängig davon, von welcher Partei das Bundesforschungsministerium geleitet wurde. Heute ist die Grüne Gentechnik Teil der Hightech-Strategie, die innerhalb der Bundesregierung mit allen Ressorts abgestimmt ist. Das Büro für Technikfolgenabschätzung hat im Auftrag des Parlaments mehrfach ihre Zukunftschancen untersucht. Über die große Bedeutung der Forschung und die Erhaltung von Zukunftsoptionen in diesem Bereich besteht ganz klar Einigkeit. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung investiert im Zeitraum 2006 bis 2011 rund 100 Millionen Euro in die Pflanzengenomforschung. Die Grüne Gentechnik hat eine enorme Bedeutung für Gesundheit, Ernährung und Schädlingsbekämpfung. Wissenschaftler forschen zum Beispiel an Pflanzen, die pharmazeutische Wirkstoffe herstellen. Man hofft, auch die tödliche Cholera - jedes Jahr sterben 3 Millionen Kinder an dieser Krankheit - mithilfe eines essbaren Impfstoffes in den Entwicklungsländern auszurotten. ({0}) Die hierzu durchgeführten Tierversuche sind sehr erfolgreich. ({1}) Meine Damen und Herren, die Entscheidung, ob die Menschheit die Grüne Biotechnologie braucht, steht den im Wohlstand lebenden Europäern und damit auch den Deutschen nicht zu. Die Weltbevölkerung wird in den kommenden Jahren von 6,8 Milliarden auf 9 Milliarden Menschen anwachsen. Im Hinblick auf die Sorgen und Nöte, die große Teile der Weltbevölkerung umtreiben, wäre es unverantwortlich, Möglichkeiten zur Lösung der Probleme auszuschlagen. ({2}) Es wäre zutiefst unmoralisch, dies zu tun. ({3}) So ist es notwendig, Kulturpflanzen weiter an den Klimawandel anzupassen. Experten rechnen mit Wetterextremen, mit Fluten, mit Hitze und mit Dürren. Erst im März warnte die UNESCO vor akuter Wasserknappheit. Bereits heute werden 70 Prozent des Süßwasserverbrauchs in der Landwirtschaft eingesetzt. Gleichzeitig prognostiziert die Welternährungsorganisation, dass die Erträge von Weizen, Mais, Kartoffeln und Reis, also der Grundnahrungsmittel, bis zum Jahr 2050 verdoppelt werden müssen, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Dabei wissen wir schon heute, dass sich Städte auf Kosten verfügbarer Ackerflächen ausdehnen werden. Das heißt, wir müssen in Zukunft auf weniger Land die Erträge verdoppeln und dabei gleichzeitig Wasser sparen. ({4}) Das wird ohne die Anwendung der Grünen Gentechnik nicht funktionieren. ({5}) Gleichzeitig müssen wir den Umweltschutz im Auge behalten. In China konnte, indem man Gentechnik verwendet hat, der Einsatz von Pestiziden um 80 Prozent reduziert werden. Das ist ein Signal, dass es in die richtige Richtung geht. ({6}) Meine Damen und Herren, die Potenziale der Grünen Gentechnologie sind enorm. Sie werden uns bei der Lösung der Zukunftsprobleme helfen. Aus diesem Grund bekennt sich die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ganz klar zur Forschung auf diesem Feld in Deutschland ({7}) und auch zur Anwendung dieser Technologie in Deutschland. ({8}) Wir wollen dem, dass ständig ein Dämon an die Wand gemalt und das Klima in diesem Land auch in diesem Bereich verdorben wird, ein Ende machen. Was ist das für eine Stimmung, in der zwischen unkritischen Heilsversprechen und absoluten Verbotsforderungen, wie wir sie heute gehört haben, kein Platz ist? Wie soll diese Gesellschaft, die, um ihren Wohlstand zu erhalten, auf Innovationen angewiesen ist, existieren, wenn mit Innovationen so umgegangen wird? Meine Damen und Herren, wir müssen nicht unkritischer, sondern wir müssen unideologischer werden, gerade auf diesem Feld. ({9}) Wir tun eine ganze Menge: Von 2006 bis 2011 geben wir 40 Millionen Euro für die Sicherheitsforschung aus. Es ist richtig und wichtig, dass in diesem Bereich mit Augenmaß vorgegangen wird. Wir sagen den Bauern und unseren Wissenschaftlern aber ganz klar: Wir wollen diese Technologie, und wir wollen sie vorantreiben. Diejenigen, die damit arbeiten, sollen ein gutes Gefühl dabei haben. Das sage ich denen, die in Golm, in Gatersleben oder in Weihenstephan arbeiten und für uns diese Technologie vorangebracht haben, mit Ergebnissen, mit denen wir uns auch im weltweiten Vergleich sehen lassen können. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Wolfgang Wodarg für die SPDFraktion.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die politischen Argumente ausgetauscht. Ich bedanke mich, dass die Kollegen aus meiner Fraktion so systematisch und verantwortungsbewusst mit dieser Thematik umgehen. Ich möchte etwas ergänzen, eine Beobachtung, die mir bei dieser Diskussion ganz deutlich geworden ist. Wenn wir über Gentechnik reden, setzen wir uns mit der molekularen Sicht der Welt auseinander. Die Gentechniker schauen sich die Moleküle an, versuchen, im Detail zu studieren, wie die Dinge funktionieren, und hier etwas zu verändern. Es gibt aber noch eine andere Sicht, nämlich die auf ganze Ökosysteme. Wenn man diese beiden Sichten nicht nebeneinanderhält, wenn man die ökosystemale Sicht, die natürlich viel aussagekräftiger, viel wichtiger ist, nicht berücksichtigt, dann handelt man falsch. ({0}) - Doch. Wir leiden derzeit unter dem Primat der Kurzsichtigkeit in der Agrowissenschaft. Dort herrschen die Molekularwissenschaftler. Fachidioten bestimmen, was gemacht werden soll, weil sie sich davon neue Märkte versprechen. Es ist natürlich viel komplizierter, zu berücksichtigen, dass Pflanzen, Tiere und Menschen auf diesem Globus produktiv miteinander auskommen müssen. Hier muss man zunächst einmal beobachten, wie sich diese Pflanzen auf die Tiere auswirken, die dort leben, wo man neue Pflanzen anbaut. Da ist es schon schlimm genug, dass wir überhaupt Agroindustrien zulassen, die riesige Flächen mit ein und derselben Pflanze bebauen. Dies führt nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Menschen - zum Beispiel jene, die auf dieser Fläche vorher ihre Existenz gehabt haben - zu gewaltigen Veränderungen. Ich bin Entwicklungspolitiker und sehe, was in den Ländern der Dritten Welt, den ärmeren Ländern passiert, in denen gerade diese Konzerne die Politiker bestochen haben ({1}) das ist ja von einem Gericht bestätigt worden; Monsanto ist für ein solches Verhalten bestraft worden -, damit dort flächendeckend gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden konnten. Dort gehen Arbeitsplätze und die Existenzgrundlagen armer Menschen verloren, was dazu führt, dass die Menschen verhungern. Diese Menschen, die dort von Aktiengesellschaften verdrängt worden sind, wollen Sie wieder ernähren. Das hört sich wie eine mildtätige Gabe an. Diese Menschen haben aber ein Recht, ihr Land zu nutzen, und sie haben ein Recht auf Techniken, die sie handeln können. Wenn wir etwas gegen den Hunger in der Welt tun wollen, dann müssen wir Kleinbauerninitiativen fördern und dafür sorgen, dass die Menschen ihre Nahrungsmittel selbst herstellen können. ({2}) Wir müssen ihnen Genossenschaftsformen ermöglichen, in deren Rahmen sie gemeinsam das tun können, was in ihrer Region möglich ist. Daher dürfen wir ihnen diese Technik nicht überstülpen. ({3}) Genau das passiert dort aber. Wenn ich dann höre, was Frau Happach-Kasan heute hier gesagt hat - ich nenne sie die Botschafterin der Genheuschrecken -, dann kann ich das nur als fürchterlich bezeichnen. Sie hat versucht, bei uns ein schlechtes Gewissen zu erzeugen, indem sie wie die Marketingstrategen von Monsanto geredet hat. Was Sie hier geredet haben, Frau Happach-Kasan, ist unerträglich. ({4}) Sie sagen nicht nur die Unwahrheit, sondern Sie bemühen sich auch nicht um die Details. Was Sie gesagt haben, war kaum auszuhalten. Da Sie auch von Sicherheit gesprochen haben, erinnere ich daran, dass Sie der Fraktion angehören, die im Zusammenhang mit der Deregulierung des Finanzmarktes immer von Sicherheit geredet hat. ({5}) Jetzt sagen Sie auch über diesen Bereich, in dem eine vergleichbare Unverantwortlichkeit herrscht und die Welt durch einige ins Elend getrieben wird, die mithilfe ihrer Patente ihre Monopole verteidigen, die Sicherheit sei doch gegeben. ({6}) Sie wissen genau, dass diese Firmen Wissenschaftler kaufen und dass wissenschaftliche Befunde ausgesucht und uns präsentiert werden, bei denen viel Lug und Trug im Spiele ist. Dies ist mit ethischen Prinzipien weder der Wirtschaft noch der Forschung noch der Politik zu vertreten. Von daher haben wir Grund, uns bei Frau Aigner zu bedanken, dass sie ihre Entscheidung noch rechtzeitig getroffen hat. Aus vollem Herzen sage ich herzlichen Dank, dass Sie es gemacht haben. ({7}) Ich hoffe, dass uns dies Zeit verschafft, um auch in der gesamten CDU/CSU-Fraktion einen Nachdenkprozess voranzubringen. Allerdings habe ich wenig Hoffnung, wenn ich die hier vertretenen Kollegen sehe. ({8}) Aber es gibt ja noch andere, die den Kleinbauern und den Verbrauchern näher sind, welche in ihrer überwiegenden Mehrzahl diese Technologie ablehnen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2008 ({0}) - Drucksache 16/12200 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, das Wort. Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Soldaten auf der Zuschauertribüne! 2009 ist ein Jubiläumsjahr, wie wir alle wissen. In wenigen Wochen feiern wir das 60-jährige Bestehen unserer Republik. Der Jahresbericht 2008, der heute zum ersten Mal - dankenswerterweise schon heute - im Plenum beraten wird, ist mein vierter Tätigkeitsbericht. Er ist zugleich der 50. Jahresbericht eines WehrbeauftragWehrbeauftragter Reinhold Robbe ten. Das ist, wie ich meine, Grund genug, nicht nur das letzte Jahr zu betrachten, sondern auch die Frage aufzuwerfen: Wie ist es im Jubiläumsjahr unserer Republik um die Parlamentsarmee Bundeswehr bestellt? Oder anders gefragt: Ist die Bundeswehr heute, im Jahre 2009, eine moderne Armee? Ist sie so aufgestellt, dass sie die Erwartungen gerade jener jungen Menschen erfüllt, die heute überlegen, den Soldatenberuf zu wählen? Wird sie den hohen Ansprüchen der Inneren Führung gerecht, und kann sie die Anforderungen an eine moderne Armee im Einsatz wirklich erfüllen? Mit dem vorgelegten Bericht versuchte ich, aufzuzeigen, welche Antworten die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr darauf geben und wie diese Antworten aus meiner Sicht zu bewerten sind. Auftrag und Struktur der Bundeswehr haben nach dem Ende des Kalten Krieges einen einzigartigen Wandel erfahren. Die Beteiligung an internationalen Einsätzen zur Krisenbewältigung und Konfliktprävention hat den ursprünglichen Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung ein wenig in den Hintergrund treten lassen. Landes- und Bündnisverteidigung sind aber nach wie vor das entscheidende Argument zur Begründung unserer Wehrpflicht. Dabei geht es nicht nur um die Verteidigung des Rechts und der Freiheit des deutschen Volkes. Nach Art. 5 des Nordatlantikvertrages sind, wie wir alle wissen, alle Bündnispartner im Falle eines Angriffs zum gegenseitigen Beistand verpflichtet. Diese gegenseitige Beistandspflicht ist aus meiner Sicht weiterhin die zentrale politische Ratio des Bündnisses. Sie bleibt die Grundlage für Sicherheit und für Stabilität in den NATO-Mitgliedstaaten. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir über den Auftrag und die Struktur der Streitkräfte diskutieren. Seit Mitte der 90er-Jahre ist die Bundeswehr kontinuierlich und konsequent auf die Beteiligung an internationalen Einsätzen ausgerichtet worden. Durch die Halbierung ihres Umfangs, ihre Umstrukturierung, die Schaffung zweier neuer, selbstständiger Organisationsbereiche und die Übertragung der Verantwortung für die Einsätze auf den Generalinspekteur wird dieser Weg gekennzeichnet. Meine Damen und Herren, darüber hinaus spiegeln Beschaffungsvorhaben wie das Satellitenaufklärungssystem SAR-Lupe, der Truppentransporter A400M und die neue Fahrzeuggeneration des Heeres - ich nenne die Stichworte Dingo, Boxer und Puma - die Neuausrichtung auf die Einsätze wider. Für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz zählen demgegenüber häufig aber auch ganz andere, handfeste Dinge: das richtige Schuhwerk, klimagerechte Bekleidung, brauchbare Pistolenholster, Splitterschutzbrillen, Spezialhelme für Patrouillenfahrten und vieles andere mehr. Auch wenn durch die von mir hier festgestellten Mängel die Einsatzbereitschaft und Einsatzfähigkeit der Streitkräfte nicht infrage gestellt werden, müssen sie auf jeden Fall sehr ernst genommen werden. Für den Schutz und die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten sind sie von entscheidender Bedeutung. Bei der Bundeswehr geht es aber nicht nur um die Einsätze. Die Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten leistet ihren Dienst im Inland. Es sind vor allem die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit, die Anlass zu ernster Sorge geben. ({2}) Auf den beklagenswerten baulichen Zustand zahlreicher Kasernen, insbesondere in den alten Bundesländern, habe ich bereits vor zwei Jahren hingewiesen. Das daraufhin aufgelegte Sanierungsprogramm ist ein deutlicher Hinweis und ein deutlicher Schritt in die richtige Richtung. Gelöst wird das Problem dadurch indes noch nicht. Die bereitgestellten Haushaltsmittel dienen der Sanierung von Gebäuden. Sie decken nicht den zusätzlichen Flächenbedarf, der sich im Bereich der Unterbringung abzeichnet. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur das Stichwort Pendlerwohnungen. Das Bundesministerium der Verteidigung hat dazu erklärt, dass nicht kasernenpflichtige Soldaten keinen Anspruch auf Unterbringung in der Kaserne haben. Aus diesem Grund könnten auch keine Haushaltsmittel zur Schaffung entsprechender Unterkünfte aufgewendet werden. Das alles mag zwar rechtlich zutreffend sein, löst aber das Problem nicht. Die Bundeswehr ist heute eine Pendlerarmee. Diejenigen, die zwischen Wohn- und Dienstort pendeln, brauchen am Dienstort eine Unterkunft. Insbesondere für Mannschaften und Unteroffiziere stellt die Finanzierung einer solchen ein ernsthaftes Problem dar. Ich füge aber hinzu: Unlösbar ist dieses Problem nicht. Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Immer mehr Soldatinnen und Soldaten fällt es schwer, die Betreuung ihrer Kinder mit dem Dienst in Einklang zu bringen. Der Bedarf an Betreuung steigt, ohne dass er durch ein entsprechendes Angebot an Betreuungsplätzen aufgefangen werden könnte. Auch das Angebot an Teilzeit- und Telearbeit bleibt bislang aus verschiedenen Gründen deutlich hinter der Nachfrage zurück. All das sind Rahmenbedingungen, die den Dienst in der Bundeswehr, wie ich finde, nicht unbedingt attraktiver machen. Im letzten Jahr haben - Sie kennen die Zahlen - fast 100 Sanitätsoffiziere - die meisten davon Fachärzte den Dienst in der Bundeswehr vorzeitig quittiert. Für sie war der Arbeitsplatz Bundeswehr offenbar nicht mehr attraktiv genug. Die Gründe haben mit den besonderen Belastungen des Sanitätsdienstes zu tun: hohe Einsatzbelastung, Personalmangel im Inland und dadurch bedingte Überlastung im Schicht- und Notdienst, fehlende Fortund Weiterbildungsmöglichkeiten und nicht zuletzt wesentlich höhere Vergütungen im zivilen Bereich. All diese Gesichtspunkte betreffen nicht nur den Sanitätsdienst. Sie sind in der einen oder anderen Form auch auf andere Bereiche der Bundeswehr übertragbar. Es sind die sogenannten weichen Faktoren, die die Attrakti23554 Wehrbeauftragter Reinhold Robbe vität der Bundeswehr belasten. Dieser Situation muss schnell und nachhaltig entgegengetreten werden, wenn die Bundeswehr im Kampf um die besten Köpfe unseres Landes im Rennen bleiben will. Schon in meinen vorangegangenen Berichten habe ich auf die Frustration vieler junger Soldatinnen und Soldaten hingewiesen. Sie beklagen immer wieder, dass die meisten Probleme seit Jahr und Tag bekannt und vielfach gemeldet worden seien, ohne dass sich etwas geändert habe. Solche Kritik ärgert mich schlichtweg; denn sie zielt auf einen Kernbereich der Inneren Führung: auf die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Meine Damen und Herren, ein Prozess wie die Transformation der Streitkräfte verläuft, wie wir alle wissen, nicht ohne Reibungsverluste. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der politisch unstreitigen Unterfinanzierung der Streitkräfte. Die Verwaltung des Mangels gehört in vielen Bereichen der Truppe allerdings zum Alltag. Das soll und darf aber niemanden davon abhalten, erkannte Mängel und Defizite auch wirklich offen anzusprechen. Innere Führung setzt auf dieses Gespräch. Vorgesetzte müssen nicht nur Kritik üben, sie müssen auch Kritik aushalten können. Einige tun sich - um es deutlich zu sagen - schwer damit. Immer häufiger bitten mich Soldatinnen und Soldaten darum, ihre Namen im Rahmen einer Überprüfung nicht zu nennen, weil sie Angst vor Benachteiligung durch ihre Vorgesetzten haben, obwohl - dies möchte ich hinzufügen - im Gesetz über den Wehrbeauftragten festgelegt ist, dass es ein absolutes Benachteiligungsverbot gibt. Niemand darf wegen einer Eingabe oder einer Kritik in irgendeiner Form benachteiligt werden. Wenn dies geschieht, muss mit den Mitteln des Disziplinar- und Strafrechts dagegen vorgegangen werden. Seien Sie sicher, dass ich mich in solchen Fällen nachhaltig für die Betroffenen einsetzen werde. ({3}) Darüber hinaus geht es mir aber auch darum, deutlich zu machen, dass militärische Führung, die allein auf das Prinzip „Befehl und Gehorsam“ setzt, ihrem Auftrag nicht gerecht wird. Erfolgreiche Führung ist zuallererst eine Frage des Vertrauens. Wer als Vorgesetzter nicht zuhören und seine Befehle nicht überzeugend begründen kann, wird das Vertrauen seiner Untergebenen nicht gewinnen. Das gilt auch und gerade im Einsatz. Die offene und ehrliche Diskussion über Probleme und Mängel der Transformation ist die Voraussetzung ihres Erfolges. Das gilt für alle Führungsebenen. Lassen Sie mich abschließend ein Wort des Dankes sagen. Danken will ich allen über 7 000 Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Augenblick überall auf der Welt und zum Teil unter schwierigsten Bedingungen im Einsatz sind und einen, wie ich finde, ausgezeichneten Job machen. ({4}) Vergessen dürfen wir aber auch nicht die Soldatinnen und Soldaten in den Heimatstandorten, die dafür sorgen, dass die zahlreichen Einsätze stattfinden können. Alle Soldatinnen und Soldaten haben unsere uneingeschränkte Solidarität verdient. Wenn ich „unsere“ sage, dann meine ich nicht nur das Parlament, sondern alle Mitbürgerinnen und Mitbürger unseres Landes. ({5}) Danken will ich dem Deutschen Bundestag für die ausgezeichnete Unterstützung meiner Arbeit, namentlich dem Präsidenten Professor Dr. Lammert, aber auch dem gesamten Präsidium und ganz besonders dem Verteidigungsausschuss. Das Zusammenwirken zum Wohle der Menschen in der Bundeswehr ist aus meiner Sicht wirklich ausgezeichnet. Mein besonderer Dank gilt auch Verteidigungsminister Dr. Jung sowie dem gesamten Ministerium und allen Verantwortungsträgern in unseren Streitkräften für das insgesamt gute Zusammenwirken. Schließlich sage ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Amt des Wehrbeauftragten meinen herzlichen Dank. Sie unterstützen mich ganz wesentlich bei meinen vielfältigen Aufgaben. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich nun meinerseits im Namen des Bundestages dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 2008 herzlich danken. ({0}) Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst an die Worte des Wehrbeauftragten anknüpfen, der unterstrichen hat, dass wir heute einen Jubiläumsbericht, wenn ich das so ausdrücken darf, zu diskutieren haben, nämlich den 50. Bericht des Wehrbeauftragten. Ich möchte mich bei ihm und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Zusammenarbeit bedanken, aber auch bei allen Wehrbeauftragten in dieser Zeit, die sich mit ihrem Engagement im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten eingesetzt und durch ihre konkreten Vorschläge zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr beigetragen haben. Der Wehrbeauftragte hat die grundsätzliche Entwicklung über die Jahre hinweg angesprochen. Ich glaube, es wird heute oft unterschätzt, was die Umstrukturierung für die Bundeswehr unmittelbar bedeutet: Sie wurde von einer reinen Verteidigungsarmee über die Armee der Einheit, als zwei Armeen, die unterschiedlich ausgebildet und gegeneinander aufgestellt waren, in eine einheitliche Bundeswehr integriert wurden, zur heutigen Armee im Einsatz für den Frieden. Ich finde, dass die Art und Weise, wie unsere Soldatinnen und Soldaten - einige sind anwesend und verfolgen diese Debatte - ihren BeiBundesminister Dr. Franz Josef Jung trag für unsere Sicherheit sowie für Frieden und Freiheit in unserem Land leisten, unsere ganze Unterstützung und Dankbarkeit verdient haben. ({0}) Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht angesprochen, dass die Unterstützung der gesellschaftlichen Gruppen beispielsweise für die Soldaten im Auslandseinsatz intensiver sein könnte. Das kann ich nur unterstreichen. Die Bundeswehr hat ein hohes Ansehen im Inland. 89 Prozent der Menschen vertrauen der Bundeswehr. Aber sie könnte eine breitere Unterstützung im Auslandseinsatz haben. Bisher waren rund 260 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr an Auslandseinsätzen beteiligt. Aktuell sind über 7 200 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan, auf dem Balkan, vor der Küste des Libanon, am Horn von Afrika, zur Pirateriebekämpfung vor der Küste Somalias sowie in den Missionen in Darfur im Sudan und in Georgien im Einsatz. Ich finde, die Art und Weise, wie sich unsere Soldatinnen und Soldaten dort engagieren und die Gefahren dort bekämpfen und beseitigen, wo sie entstehen, hat eine breite Unterstützung unserer Gesellschaft verdient. Es ist notwendig, dass wir in dieser Debatte eine breitere Unterstützung für unsere Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz anmahnen; denn sie riskieren Leib und Leben im Interesse der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. ({1}) Es ist wichtig, dass wir die Bundeswehr unter dem Aspekt „modern und leistungsstark“ weiterentwickeln und auf die besondere Einsatzsituation Wert legen. Im Klartext heißt das, dass wir beispielsweise technische Möglichkeiten nutzen, um die Schutzfaktoren zu verstärken. Vom Grundsatz her sollen nur noch geschützte Fahrzeuge in Afghanistan fahren. Dort gibt es rund 700 solcher Fahrzeuge, darunter rund 200 Dingos der Kategorie 2. Wir bekommen nun den Eagle, der eine weitere Verbesserung der Schutzkomponente darstellt. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass die Transportpanzer Fuchs verbessert werden. Das alles sind Punkte, die belegen, dass wir technische Weiterentwicklungen nutzen, um den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten zu verstärken. Ich kann nur unterstreichen: Dafür brauchen wir die notwendigen finanziellen Grundlagen. Ich bin dankbar, dass wir in dieser Legislaturperiode rund 4 Milliarden Euro mehr bekommen haben. Diese Mittel brauchen wir, um den Auftrag zu erfüllen und den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten in gefährlichen Auslandseinsätzen zu verbessern. ({2}) Der Wehrbeauftragte hat auch die sozialen Rahmenbedingungen angesprochen. Ich glaube, wir setzen richtige Akzente, indem wir das Kasernensanierungsprogramm West aufgelegt haben, um die Situation zu verbessern, und indem wir nun den Tarifvertrag und die Angleichung der Besoldung im Osten an die im Westen umgesetzt haben. Ich will noch einen anderen Punkt aufgreifen. Wir gehen das Problem der Pendlerwohnungen mit konkreten Modellprojekten an. Noch vor meiner Zeit wurde entschieden, dass diejenigen, die über 25 sind, keine entsprechende Unterkunftsmöglichkeit mehr in den Kasernen haben. Wir müssen daher über das Trennungsgeld die Anmietung von Wohnungen ermöglichen, damit kein negativer sozialer Aspekt für unsere Soldaten entsteht. Im Klartext: Wenn wir eine leistungsstarke, moderne und einsatzfähige Armee wollen, müssen wir sie erstens adäquat unterbringen und zweitens so ausstatten, dass sie ihren Auftrag ordnungsgemäß und gut erfüllen kann. ({3}) Ein weiterer Punkt, den ich aufgreifen will, ist der Sanitätsdienst. Ich bin dem Deutschen Bundestag dankbar, dass er auf meinen Vorschlag das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz beschlossen hat. Ich habe im vorigen Monat die Möglichkeit gehabt, einen Soldaten, der im Jahre 2007 in Kunduz schwer verwundet wurde, als Berufssoldaten in die Bundeswehr zu übernehmen. Dieser Fall zeigt, auf welch hervorragende Art und Weise unsere medizinische Rettungskette und die Versorgung unserer Soldatinnen und Soldaten funktionieren. Was unsere Ärzte hier geleistet haben, war exzellent. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Aber wir sind gefordert, Abwerbungsversuche zu stoppen. Ärzte haben die Bundeswehr bereits verlassen. Wir müssen die Attraktivität der Bundeswehr in diesem Bereich steigern. Deshalb habe ich eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um Vorschläge zu unterbreiten und gerade in diesem wichtigen Bereich die Voraussetzungen zu schaffen, dass wir auch in Zukunft eine optimale medizinische Versorgung für unsere Soldatinnen und Soldaten - sei es im Auslandseinsatz, sei es im Inland - gewährleisten können. Mein letzter Punkt - auch der Wehrbeauftragte hat diesen Punkt angesprochen - ist das Thema „Familie und Dienst“. Heute ist Girls’ Day. Ich habe heute dazu schon einige Gespräche geführt. Es gibt mittlerweile 16 000 Frauen in der Bundeswehr. Aber nicht nur deshalb müssen wir uns dem Thema „Familie und Dienst“ intensiver zuwenden. Wir haben es zwar in die Vorschriften zur Inneren Führung aufgenommen. Aber wir müssen es auch konkret mit Leben erfüllen, sei es im Bereich der Betreuung, sei es bei der Schaffung von ElternKind-Zimmern oder sei es bei der Ermöglichung von Teilzeitarbeit. Auch diese Dinge treiben wir voran; denn wir müssen die Voraussetzungen schaffen, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Zusammengefasst: Die Institution des Wehrbeauftragten wurde - wir haben demnächst eine Konferenz dazu von Ländern - nicht nur von Argentinien, sondern auch von Bosnien-Herzegowina - übernommen, von denen man sich das vor Jahren überhaupt nicht vorstellen konnte. Sie ist eine gute Einrichtung. Der 50. Bericht zeigt, dass wir gemeinsam unseren Beitrag leisten, unsere Armee zu einer modernen und leistungsstarken Armee zu entwickeln. Deshalb nochmals Dank für die Zusammenarbeit. Meine weitere Bitte ist, dieses Enga23556 gement im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten fortzuführen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Auch ich darf mich im Namen der FDP-Fraktion für Ihren Jubiläumsjahresbericht, Herr Wehrbeauftragter, bedanken. Es wäre schön gewesen, wenn einige der Mängel, die wir in den letzten Jahren immer wieder vorgetragen und die wir hier im Hause sehr intensiv diskutiert haben, nicht mehr aufgetaucht wären, wenn der Jahresbericht etwas kürzer und inhaltlich etwas positiver geworden wäre. Aber dem ist leider nicht so. Die Themen werden uns in Zukunft weiter beschäftigen. Ich darf an dieser Stelle Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich dafür danken, dass sie dieses wichtige Informationswerk immer wieder zusammenstellen, uns zur Verfügung stellen und uns damit einen Kompass in die Hand geben, der uns anzeigt, was in der Truppe tatsächlich geschieht. Ganz herzlichen Dank dafür! ({0}) Herr Minister, Sie haben eben mit Recht angesprochen, dass es ein wichtiges Thema ist, in der Öffentlichkeit um Unterstützung für die Auslandseinsätze der Bundeswehr zu werben. Nur, die Frage an dieser Stelle ist: Wer ist denn dafür zuständig, der Öffentlichkeit zu erklären und zu erläutern, mit welchem politischen Auftrag die Bundeswehr im Ausland unterwegs ist? Das ist Aufgabe der Bundesregierung. ({1}) Dies kann nicht die Aufgabe der Soldatinnen und Soldaten sein, sondern es ist unsere gemeinsame politische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass den Bürgerinnen und Bürgern deutlich gemacht wird, dass die Soldatinnen und Soldaten im Ausland ihren Dienst für unseren Frieden und unsere Freiheit verrichten. ({2}) Wie vom Wehrbeauftragten bereits dargelegt, führt das mangelnde Führungsverhalten der militärischen und politischen Führung der Bundeswehr zunehmend dazu, dass sich die Soldatinnen und Soldaten alleingelassen fühlen. Der aufgezeigte Trend, dass sich gerade die engagiertesten Soldatinnen und Soldaten resigniert zurückziehen, sollte uns in der Tat alarmieren. Der verbreitete Eindruck, dass Engagement und Mut in der Bundeswehr nicht karrierefördernd seien, darf sich unter keinen Umständen verfestigen. ({3}) Die Bundeswehr braucht heute mehr denn je aus Einsicht und Überzeugung handelnde Soldatinnen und Soldaten, die zur Sprache bringen, was besser werden muss und was besser werden kann; denn Verbesserungsbedarf besteht zweifellos in vielen Bereichen. ({4}) Ich bin daher sehr froh, dass der Deutsche Bundestag gemeinsam mit dem Wehrbeauftragten aufgrund der mangelhaften medizinischen Betreuung von Soldatinnen und Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen, der Probleme im Sanitätsdienst sowie der Ausbildungsund Ausrüstungsdefizite die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert hat. ({5}) Parlament und Wehrbeauftragter müssen weiterhin gemeinsam den Druck aufrechterhalten, da allein das Bewusstsein um die Probleme natürlich noch keine Verbesserung mit sich bringt. Daher ist es auch nicht akzeptabel, dass eine für die Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen für die Situation im Sanitätsdienst eingesetzte Arbeitsgruppe ihre Arbeitsergebnisse erst am 30. September vorlegen soll. Herr Minister, das Problem ist zu akut, als dass Sie es in dieser Legislaturperiode aussitzen könnten; ({6}) denn die Abstimmung mit den Füßen im Sanitätsdienst hält unvermindert an. Der Sanitätsdienst hat allein im letzten Jahr 85 Sanitätsoffiziere verloren, die ihre Ausbildungskosten von beinahe 100 000 Euro zurückerstattet haben. Im Jahr 2007 waren es gerade einmal 8. Diese Dynamik muss noch vor der Sommerpause in dieser Legislaturperiode gestoppt werden. ({7}) Am Ball bleiben muss das Parlament gegenüber der Bundesregierung auch beim Thema „posttraumatische Belastungsstörungen“. Ich bin auf die Umsetzungspläne der Bundesregierung im Hinblick auf die Errichtung eines Kompetenzzentrums sehr gespannt. Dabei darf es sich nicht um ein reines Forschungszentrum handeln; denn das wurde im Deutschen Bundestag so nicht beschlossen. Dringender Handlungsbedarf besteht auch bei der besseren Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Bisher ist die Bundeswehr über einzelne Modellprojekte - so lobenswert dies auch sein mag - noch nicht hinausgekommen. Leider gehen diese Modellprojekte an der einen oder anderen Stelle am tatsächlichen Bedarf vorbei. Es fehlt immer noch am nötigen Bewusstsein auch innerhalb der Bundeswehr selbst, dass dies ihre ureigene AufElke Hoff gabe als Arbeitgeber ist, wenn sie zukunftsfähig bleiben möchte. Daher müssen die für eine adäquate Kinderbetreuung nötigen Haushaltsmittel auch rechtzeitig eingeplant werden. Ich glaube, dass dem die Mitglieder des Deutschen Bundestages, wenn dies in einem vernünftigen Rahmen geschieht, Folge leisten werden. ({8}) Ich denke nicht, dass sich irgendjemand in diesem Hause dagegen sperren wird, dass hiermit für unsere Bundeswehr eine attraktive Zukunftsperspektive eröffnet wird. Verbesserte Arbeitsbedingungen, wie menschenwürdige Unterkünfte, Kinderbetreuungsmöglichkeiten, moderne Ausrüstung, eine qualitativ hochwertige Ausbildung und ein nachvollziehbarer politischer Auftrag, sind hierfür Grundvoraussetzungen. Mehr Mut und Kreativität in der militärischen und politischen Führung der Bundeswehr sind gefragt. Ich bin froh, dass Sie, sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, in diesem Jahr in Ihrem Bericht erneut und deutlicher als bisher den Verlust an Vertrauen in die höhere militärische und politische Führung zum Thema gemacht haben. Diese Tendenz können viele meiner Kolleginnen und Kollegen und ich bei unseren Truppenbesuchen feststellen. Sie beklagen gegenüber der Presse die zunehmende Jasagermentalität bei höheren Offizieren. Diese nehme laut einem von Ihnen zitierten Piloten zu, je höher der Dienstgrad sei. Ich teile Ihre Auffassung: Dies sollte ein ständiger Schwerpunkt im Bericht des Wehrbeauftragten sein. ({9}) Einzelne Passagen des Berichts des Wehrbeauftragten geben detaillierte Sachverhaltsdarstellungen wieder, die teilweise wirklich erschreckend und abstoßend sind. Allerdings sollten wir angesichts ihrer breiten Wiedergabe im Bericht daran denken, dass diese Einzelbeispiele - so schlimm sie sind und so sehr sie auch eine unverzügliche Reaktion erfordern - in den meisten Bereichen Gott sei Dank nicht dem Alltag der Bundeswehr entsprechen. ({10}) Wir brauchen gut ausgerüstete Soldatinnen und Soldaten mit einem klaren politischen Auftrag. Dafür müssen wir politisch geradestehen. Wir brauchen für die innere Disziplin und Motivation der Truppe die Verantwortung der militärischen Führung. Dies muss Hand in Hand gehen, damit die beschriebenen Einzelfälle nicht zur Regel werden. Ich hoffe sehr, dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit in Zukunft weitergehen wird. Ich darf mich noch einmal bei Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und Ihren Mitarbeitern sehr herzlich bedanken. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hedi Wegener für die SPD-Fraktion. ({0})

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Lieber Herr Wehrbeauftragter! Meine Herren und Damen! Wir diskutieren den 50. Bericht des Wehrbeauftragten. Vor 50 Jahren, am 3. April 1959, wurde der erste Wehrbeauftragte, Helmuth von Grolman, in sein Amt eingeführt. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich das so vorstellen: In eurer Stadt würde vom ganzen Rat ein Betreuungslehrer gewählt werden. Zu dem könntet ihr - völlig anonym - hingehen und euch beschweren, beklagen oder Vorschläge einbringen. Dieser müsste dann einmal im Jahr einen Bericht vorlegen, und euer Rektor oder eure Lehrer müssten dazu Stellung nehmen. Anschließend würde dieser Bericht öffentlich diskutiert. So ungefähr ist das jetzt mit dem Wehrbeauftragten. Er ist von uns gewählt worden und legt dem Deutschen Bundestag einmal im Jahr einen Bericht vor. Das Verteidigungsministerium muss dazu Stellung nehmen. Dann wird wieder diskutiert. - Da wäre bei euch sicherlich ganz schön was los. So war es zu Anfang in der Bundesrepublik auch. Das Amt des Wehrbeauftragten wurde eingerichtet, weil das Grundverständnis des Soldaten als Staatsbürger in Uniform definiert und durch das Prinzip der Inneren Führung umgesetzt wurde. Die Bundeswehr unterliegt eben der strikten demokratischen Kontrolle. Um die demokratischen Kontrollinstrumente des Parlamentes zu stärken, wurde ihm im Grundgesetz als Hilfsorgan der Wehrbeauftragte zugeschrieben. Eine Armee wäre in Deutschland ohne den Wehrbeauftragten überhaupt nicht mehr denkbar, erst recht nicht eine Bundeswehr, die in Auslandseinsätze geht. Die Berichte des Wehrbeauftragten geben uns Abgeordneten jedes Jahr einen unabhängigen Eindruck vom Zustand der Bundeswehr, vor allem davon, wie und in welchem Maße sich veränderte gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen auf die Bundeswehr auswirken, wie sie umgesetzt und wie sie verarbeitet werden. Bereits der erste Bericht des Wehrbeauftragten sorgte für Aufsehen und beim zuständigen Minister Strauß für großes Missfallen, prangerte doch Herr Grolmann ein zu schnelles Wachstum der Bundeswehr an; es überfordere die Soldaten einfach. Für die unabhängige Darstellung der Probleme der Bundeswehr, die die Berichte des Wehrbeauftragten auszeichnen, danke ich jetzt auch dem zehnten Wehrbeauftragten, Herrn Reinhold Robbe, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Vielen Dank! ({0}) - Genau. Das war doch ein Klatschen wert. Dass wir in der Bundesrepublik mit dieser Institution den richtigen Weg eingeschlagen haben, zeigt im Übri23558 gen das stetige Interesse anderer Nationen am Wehrbeauftragten und an der demokratischen Kontrolle der Bundeswehr. Früher fanden das einige Nationen schon ein bisschen komisch, sozusagen basisdemokratisch. Das hat sich inzwischen geändert. Herr Minister Jung hat schon darauf hingewiesen - auch der Wehrbeauftragte schreibt darüber in seinem Bericht -: Mit vielen Ländern bestehen inzwischen Kontakte; es gibt eine intensive Zusammenarbeit. Herr Robbe, es ist großartig, dass im Mai dieses Jahres eine von Ihnen initiierte und ausgerichtete Konferenz hier in Berlin stattfindet. Meine Hochachtung! Ich selber führe jährlich als Vorsitzende der Deutsch-Zentralasiatischen Parlamentariergruppe mit dem George-C.-Marshall-Center und dem BMVg eine Konferenz mit Parlamentariern der GUS durch. Aus meiner Sicht ist das Gespräch mit dem Wehrbeauftragten für die Teilnehmer dieser Konferenz im Hinblick auf eine stabile und demokratische Entwicklung in ihren Ländern von zentraler Bedeutung. Herr Robbe, es war Ihnen immer möglich, zu diesem Thema zu sprechen. Auch dafür herzlichen Dank! Das ist für diese Nationen ganz besonders wichtig. Der vorliegende Bericht zeigt, wie viele Baustellen es bei der Bundeswehr gibt. Er zeigt aber auch, dass wir zu Recht stolz sein können. Eine der grundlegenden gesellschaftlichen Änderungen, die die Bundeswehr zu verarbeiten hat, ist, dass Frauen in allen Verwendungen zugelassen sind. Im Hinblick auf das Amt des Wehrbeauftragten wurde dies - Gesetz von 1990 - schon zehn Jahre vor dem entsprechenden Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofes möglich. 1995 wurde Claire Marienfeld die erste Wehrbeauftragte in Deutschland. Die Zahl der Frauen in der Bundeswehr zu steigern, ist nicht nur Ausdruck unseres politischen Willens; diese Steigerung wird in Zukunft vielmehr nötig sein, damit die Bundeswehr ihre Aufgaben erfüllen kann. Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt den richtigen Weg dazu auf. Er macht uns darauf aufmerksam, welche Auswirkungen der demografische Wandel auch auf die Bundeswehr haben wird. Wir wollen und wir müssen die Attraktivität des Dienstes steigern - für Männer und für Frauen gleichermaßen. Von den 175 000 Soldatinnen und Soldaten haben 60 000 ein oder mehr Kinder. Man muss nicht lange überlegen, um darauf zu kommen, dass ein Schwerpunkt unserer Arbeit die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Dienst sein muss. Wir erwarten von unseren Soldatinnen und Soldaten, mit bester Ausbildung und höchster Motivation in den Einsatz zu gehen. Um diese Motivation zu stärken, brauchen sie auch unsere Unterstützung. Diese Unterstützung geben wir ihnen gerne. Herr Wehrbeauftragter, wir danken Ihnen noch einmal. Ich meine im Übrigen, dass viele stolz sind, als Arbeitgeber die Bundeswehr und damit ein Institut wie das des Wehrbeauftragten zu haben. Es gibt Arbeitgeber, die noch nicht einmal einen Betriebsrat zulassen, geschweige denn irgendwelche Vertrauensleute. Mein Fazit lautet also: Wir hören nicht nur Kritik, weil die Bundeswehr transparent ist, weil es einen Wehrbeauftragten gibt. Es gibt ein Parlament, das die Regierung kontrolliert, und eine Führungsebene, die sich immer und immer wieder den Fragen stellen muss, die nicht nur Auskunft, sondern auch Rechenschaft geben muss. Ganz, ganz herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hakki Keskin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Robbe! Jahr für Jahr müssen Sie feststellen, sehr geehrter Herr Robbe, dass sich an den grundsätzlichen Defiziten bei der Bundeswehr nicht sehr viel geändert hat. Im zurückliegenden Berichtsjahr sind aber zumindest bei der Sanierung von Bundeswehrkasernen in der Tat Fortschritte erzielt worden. Fest steht: Der Wehrbeauftragte setzt sich unermüdlich für die Rechte der Soldatinnen und Soldaten und für die Beseitigung von Missständen ein. Die Linke nimmt dies zum Anlass, dem Wehrbeauftragten für seine bisher geleistete Arbeit zu danken und ihn zu ermutigen, seine kritische Kontrollfunktion weiterhin voll wahrzunehmen. ({0}) Der Wehrbeauftragte weist im Bericht darauf hin, dass sich manche Soldatinnen und Soldaten aus Angst vor Benachteiligungen nicht trauen würden, ihn bei Problemen zu kontaktieren. Sehr geehrter Herr Robbe, Sie haben das auch hier gerade zum Ausdruck gebracht. Ich denke, dies sollte nicht ohne Konsequenzen bleiben. Hier müssen notfalls Disziplinarvorschriften für Vorgesetzte verschärft werden, um das Beschwerderecht der Soldaten vor direkten oder indirekten Einschränkungen zu schützen. Darüber hinaus bleibt auch in zahlreichen anderen Bereichen noch viel zu tun, wie wir hier gehört haben. Deutliche Verschlechterungen sind laut Bericht beispielsweise beim Sanitätsdienst festzustellen. Die Abwanderungsquote von Sanitätsoffizieren hat sich binnen eines Jahres nahezu verzehnfacht. In den bundeswehreigenen Krankenhäusern und bei der truppenärztlichen Versorgung kann die medizinische Grundversorgung oft nur noch durch die Mitnutzung ziviler Kapazitäten gesichert werden. Dies hängt ganz offensichtlich mit der höheren Attraktivität des zivilen Gesundheitssystems zusammen. Sehr geehrte Damen und Herren, diese Probleme und viele andere, von denen wir soeben hier auch vom WehrDr. Hakki Keskin beauftragten gehört haben, resultieren vor allem aus finanziellen Engpässen, die über mehrere Jahre entstanden sind. Ein Grund liegt darin, dass die Bundesregierung den Schwerpunkt auf die Auslandseinsätze gelegt hat. Diese Gelder fehlen somit für wichtige Vorhaben im Inland. Der Gesamtetat der Bundeswehr ist im Vergleich zum Vorjahr um rund 1,7 Milliarden Euro gewachsen. Trotzdem sind Sonderprogramme für dringende Kasernensanierungen erforderlich geworden, um den Investitionsrückstand abzubauen. Ich bin dem Wehrbeauftragten außerordentlich dankbar, dass er dem Problem der Auslandseinsätze in seinem Bericht breite Aufmerksamkeit schenkt. Der Bericht charakterisiert die Bundeswehr zutreffend als Armee im Einsatz. Dies ist genau das Problem, meine Damen und Herren. Insbesondere der AfghanistanEinsatz wird dabei von vielen Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten zunehmend kritisch betrachtet. Dies betrifft in erster Linie nicht etwa organisatorische Schwierigkeiten oder Ausstattungsmängel, sondern den Sinn des Einsatzes. Neben den zahlreichen Opfern unter der afghanischen Zivilbevölkerung sind Tötungen und Verletzungen von Bundeswehrangehörigen beileibe keine Einzelfälle mehr. Es ist an der Zeit, gerade an dieser Stelle eines deutlich auszusprechen: Ja, in Afghanistan sterben leider auch deutsche Soldaten. Laut einer aktuellen Umfrage der Magazine Spiegel und Focus lehnt in Deutschland eine klare Bevölkerungsmehrheit von 61 Prozent diese Auslandseinsätze ab. Zunehmend mehr Menschen sind davon überzeugt, dass es in Afghanistan keinen Frieden ohne eine militärische Lösung geben wird. ({1}) - Entschuldigung: durch eine militärische Lösung. - Die Linke fordert deshalb den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Wir sollten uns viel intensiver um die inländischen Aufgaben kümmern. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße auf der Tribüne den neuen Vorsitzenden des Deutschen BundeswehrVerbands, Herrn Oberstleutnant Ulrich Kirsch. Herr Kirsch, glückliche Hand für Ihre sehr verantwortungsvolle Arbeit! ({0}) Das Berichtsjahr 2008 war das Jahr, in dem die Bundeswehr in Auslandseinsätzen - sprich: in Afghanistan so viele Opfer, nämlich Tote, körperlich und seelisch Verwundete, zu beklagen hatte wie nie zuvor, ein Jahr, in dem deutsche ISAF-Soldaten zunehmend mit einem Klein- und Terrorkrieg konfrontiert waren, wogegen sie sich zur Wehr setzten, aber nicht mit Krieg antworteten. Vor diesem Hintergrund fragen Soldatinnen und Soldaten verstärkt nach dem Sinn des Einsatzes und seinen Aussichten, nach den materiellen Voraussetzungen des Einsatzes und ihrer Arbeit sowie nach der Anerkennung dafür. In fünf Minuten kann ich dazu nur Stichpunkte nennen. Beispiel Infrastruktur. Dabei geht es um die Arbeitsund Lebensbedingungen in den Kasernen hierzulande. Viel zu oft sind in den Kasernen - gerade in Westdeutschland - Unterkunft, Belegung und sanitäre Einrichtungen so, wie man das hierzulande nicht mehr für möglich gehalten hätte. Weiterhin viel zu langsam laufen die überfälligen Sanierungs- und Baumaßnahmen. Diese, wie ich meine, organisierte Langsamkeit spricht jeder Bemühung um Attraktivitätssteigerung Hohn. ({1}) Beispiel Führung. Im Einsatzgebiet erfahren die Soldatinnen und Soldaten viel zu wenig über die Lage und Entwicklung im Einsatzgebiet. In Afghanistan sollen sie den Aufbau absichern, aber erfahren kaum etwas über die Realität dieser Bemühungen. Es wäre eine Überforderung, wenn dem Zugführer oder Kompanieführer aufgegeben würde: Das müsst ihr auch noch im Rahmen der politischen Bildung machen. - Dafür sollte man sich neue Modelle des zivil-militärischen Erfahrungsaustausches überlegen. ({2}) Ein weiterer Aspekt zur Führung. Kompaniechefs, Disziplinarvorgesetzte sind in der Regel nur verhältnismäßig kurz in ihrer Position. Dies verhindert Kontinuität und behindert den Aufbau von Vertrauen und Zusammenhalt. Der Wehrbeauftragte berichtet zum wiederholten Male von sinkendem Vertrauen unter Soldatinnen und Soldaten in die höhere politische und militärische Führung. Das ist beunruhigend und auch eine Herausforderung für uns als Parlamentarier gegenüber den Streitkräften. Hierzu müssen wir uns einige Fragen stellen. Hinsichtlich des Führungsverhaltens möchte ich nach den kritischen Punkten auch ein positives Beispiel ansprechen, nämlich das Verhalten des hohen deutschen NATO-Generals Egon Ramms, der vor einigen Wochen zusammen mit dem ISAF-Kommandeur in Kabul eine Weisung des NATO-Oberbefehlshabers nicht ausgeführt hat, wonach Drogenhändler und Drogenproduzenten pauschal als militärische Ziele definiert werden sollten. Respekt vor einer solchen Haltung! Das ist ein Staatsbürger in Generalsuniform. ({3}) Beispiel gesellschaftliche Anerkennung. Herr Minister, sie kann nicht durch Appelle und kaum durch Symbole erreicht werden. Am ehesten erreicht man sie durch offenen - auch kontroversen - Dialog zwischen Politik, Soldaten und Zivilbevölkerung. Außerdem kann sie durch Inseln bürgerschaftlicher Zusammenarbeit erreicht werden. Beispielhaft nenne ich die Initiative „Lachen helfen“ von Soldaten und Polizisten, die das lobenswerte Ziel verfolgt, Kinder in Krisen- und Kriegsgebieten zu unterstützen, sowie die Oberst-Schöttler-Versehrten-Stiftung, die Soldaten wie Zivilisten helfen will, die im Auslandseinsatz zu Schaden gekommen sind. Das sind vorbildhafte Anstrengungen. ({4}) Umgekehrt ist es für das Ringen um gesellschaftliche Anerkennung von Soldaten absolut schädlich, wenn der Wehrbeauftragte bedauerlicherweise immer wieder von rechtsextremen Vorfällen unter Soldaten berichten muss. Uns liegt hier der 50. Bericht des Wehrbeauftragten vor. Unter der Leitung von Reinhold Robbe ist das Amt im besten Sinne jung geblieben. ({5}) Auch wenn unter den hier anwesenden zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Amtes viele Ältere sind und ich ebenfalls älter bin, können wir sagen, dass wir zusammen in unserem Output recht jung geblieben sind. ({6}) Ein positives Beispiel ist vorhin schon von Frau Kollegin Wegener angesprochen worden, nämlich die erstmalige internationale Konferenz von für Streitkräfte zuständigen Ombudspersonen in verschiedensten Ländern, die auf Einladung des Wehrbeauftragten im Mai dieses Jahres in Berlin stattfinden wird. Unser aller Dank geht an den Wehrbeauftragten und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es wiederholt sich immer wieder, ist aber wirklich ehrlich gemeint. ({7}) Diesem Dank sollten wir allerdings auch Taten folgen lassen. 50 Jahre nach Entstehung des Amtes des Wehrbeauftragten sollten wir uns in nächster Zeit angesichts der enormen Veränderungen bei der Bundeswehr überlegen, welche anderen Möglichkeiten der Wehrbeauftragte heutzutage braucht, um sein Amt zeitgemäß ausüben zu können. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, seit 50 Jahren haben Sie und Ihre Vorgänger dem Bundestag regelmäßig den Jahresbericht des Wehrbeauftragten vorgelegt, wie es das Parlament Ihnen im Gesetz über den Wehrbeauftragten von 1957 aufgetragen hat. Dieses Amt hat die Bundeswehr also fast von ihrer Entstehung an begleitet, und zwar, wie es in Art. 45 b des Grundgesetzes heißt: Zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle … Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, mit der dem Amtsinhaber angemessenen Zurückhaltung haben Sie sich in Ihrem Bericht einer Bewertung dieses Jubiläums enthalten. Über die Bedeutung der Institution des Wehrbeauftragten kann es aber keinen Zweifel geben. Sie wurde geboren aus Gedanken, die uns heute selbstverständlich erscheinen: erstens, dass die Streitkräfte der Kontrolle des Parlaments unterliegen, und zweitens, dass ihre Soldaten Staatsbürger in Uniform mit den dazugehörigen Rechten sind, darunter auch dem Recht, sich mit Sorgen und Problemen direkt an eine unabhängige Instanz zu wenden. Damals war das aber gar nicht so selbstverständlich, und zwar nicht nur in Deutschland, wo man nach den Erfahrungen mit Krieg und Diktatur bewusst neue Konzepte aufbaute. 50 Jahre später ist die Institution des Wehrbeauftragten Vorbild für andere Nationen geworden. Das veranschaulicht die Bedeutung vielleicht besser als alles andere. In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben die Berichte des Wehrbeauftragten eine Vielzahl von Themen behandelt. Einige finden Sie über die Jahre hinweg immer wieder, etwa den Umgang von Vorgesetzten mit Untergebenen. Das ist bei einer Armee in einer Demokratie unausweichlich; denn militärische Hierarchie steht im Spannungsverhältnis mit der Selbstbestimmung des Einzelnen. Für die Bundeswehr ist das Konzept der Inneren Führung die Antwort auf dieses Spannungsverhältnis. Heutzutage ist auch das eine Selbstverständlichkeit. Eine Armee besteht aus Menschen. Der Umgang untereinander wird immer vom Faktor Mensch mitbestimmt. So findet sich das Thema Führung und Ausbildung auch im aktuellen Bericht wieder. Das erinnert daran, dass auch Selbstverständlichkeiten immer wieder gelebt werden müssen, um bewahrt zu werden. Andere Themen haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen: die Vereinbarkeit von Familie und Dienst, die Situation bei der Unterbringung von Pendlern und der Zustand von Kasernen. Es gibt auch einige Bereiche, die früher keine Rolle spielten. An erster Stelle ist all das zu nennen, was mit der Wandlung der BundesAnita Schäfer ({0}) wehr zu einer Armee im Einsatz zusammenhängt, etwa die Ausstattung im Einsatz, insbesondere mit geschützten Fahrzeugen. Die letzten Jahresberichte zeigen erfreulicherweise, dass wir in vielen Bereichen erfolgreich Maßnahmen ergriffen haben, um Mängel abzustellen; wenn sie dies auch immer in Form einer Mahnung tun, noch die letzten Lücken zu schließen. Wir sind entschlossen, dies zu tun. Das gilt auch für andere aktuelle Problembereiche, wie die Situation im Sanitätsdienst. Wir werden zu Beginn der neuen Legislaturperiode ausführlich über die Maßnahmen sprechen, mit denen das Verteidigungsministerium auf diesen Bericht reagiert. Lassen Sie mich genauer auf ein Problem eingehen, das nicht einfach mit einer Entscheidung der Regierung zu beheben ist und bei dem es nicht mit mehr Ausrüstung, mehr Geld oder einer Änderung der Vorschriften getan ist. Es geht um den Wunsch der Soldatinnen und Soldaten nach mehr gesellschaftlicher Akzeptanz und Unterstützung. Herr Wehrbeauftragter, Sie haben diesen Punkt im Vorwort Ihres Berichtes angesprochen. Sie haben geschrieben, wie sehr das fehlende Interesse der Bevölkerung viele Soldaten belastet. Das deckt sich mit dem Eindruck, den ich selber in zahlreichen Gesprächen gewonnen habe. Ich versuche ständig - wie viele Kollegen auch -, ein Bild jener täglichen Herausforderungen zu übermitteln, denen unsere Soldaten gegenüberstehen. Wer dies tut, weiß, wie schwierig es ist, in der Bevölkerung dafür Interesse zu wecken. Leider scheint dieses Interesse immer nur dann kurz aufzuflammen, wenn es zu schweren Anschlägen auf die Bundeswehr gekommen ist. Ein stabiles Maß an Unterstützung und Anerkennung für das, was unsere Soldaten leisten, ist das noch nicht, jedenfalls nicht in der Stärke, wie es in vielen anderen Nationen der Fall ist. Herr Robbe, Sie haben auf den Rückhalt hingewiesen, den beispielsweise die amerikanischen Streitkräfte in der Bevölkerung erfahren. Ich finde es interessant, welchen Schluss Sie daraus ziehen, nämlich dass sich die kulturellen Eliten in unserem Land mehr mit den Aufgaben und dem Berufsprofil der Bundeswehr befassen sollten. Darüber mache ich mir schon seit einiger Zeit Gedanken. In den deutschen Unterhaltungsmedien kommt die Bundeswehr selten vor und wenn, dann wird sie meist nicht besonders realistisch dargestellt. Da geht es weniger um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den schwierigen Aufgaben der Streitkräfte, sondern eher darum, Klischeebilder von Soldaten „in Action“ zu nutzen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Allerdings gibt es auch Ausnahmen. Kürzlich hat der Fernsehfilm Willkommen zu Hause durchaus realitätsnah auf die Probleme von Soldaten aufmerksam gemacht, die im Einsatz traumatisiert worden sind. Im Verteidigungsausschuss hatten wir uns schon vorher längere Zeit mit dem Thema der posttraumatischen Belastungsstörung befasst. Aber erst durch den Film drang das Thema schlagartig in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Das zeigt, welche Rolle die Unterhaltungsmedien bei der Vermittlung eines besseren Verständnisses für die Leistungen unserer Soldaten spielen können. Dabei darf man natürlich nicht, wie dieser Film, bei einem kleinen Ausschnitt stehen bleiben. Dieser Film zeigt zum Glück nicht den Regelfall, sondern eine Extremsituation. Herr Minister Jung, ich fände es gut, wenn die Bundeswehr von sich aus weitere Schritte in diese Richtung machen und in angemessenem Umfang Unterstützung für Produktionen leisten würde, die ein realistisches Bild zeichnen. Natürlich dürfen dafür nicht die Mittel verwendet werden, die unseren Soldaten direkt zugutekommen sollen. Selbstverständlich soll uns all das nicht von der Pflicht entbinden, uns weiterhin mit allen Kräften darum zu bemühen, dass die Soldaten mehr Interesse und Akzeptanz erfahren. Zum Schluss möchte ich - auch im Namen der Unionsfraktion - dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich für ihre Arbeit danken. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Petra Heß für die SPDFraktion. ({0})

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dem vorliegenden 50. Bericht liegen neben den Auswertungen zahlreicher Truppen- und Standortbesuche mehr als 5 000 Eingaben zugrunde. Das heißt: Unsere Soldaten und Soldatinnen wenden sich sehr selbstbewusst und mit großer Selbstverständlichkeit mit ihren Anliegen an den Wehrbeauftragten, und das ist gut. Herr Wehrbeauftragter, ich danke Ihnen, dass Sie sich in so großem Maße offen und ansprechbar gezeigt haben, sodass im Laufe der Zeit ein echtes, gegenseitiges Vertrauensverhältnis wachsen konnte. Der jetzige Bericht gibt einen authentischen Einblick in das Innenleben der Streitkräfte und hält nicht nur der militärischen Führung, sondern auch der Politik den Spiegel vor. Die Schwerpunkte des diesjährigen Berichts sind: Bundeswehr im Einsatz, angespannte Lage im Sanitätsdienst - das gilt teilweise auch für die Luftwaffe - und ihre Auswirkungen sowie die Attraktivität des Soldatenberufs - einige Stichworte hierzu: Vereinbarkeit von Familie und Dienst, Auslandseinsätze und das Problem der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz. Ich möchte in meinem Beitrag den Fokus auf den Bereich des Sanitätsdienstes richten. Wie schon in den vergangenen Jahren ist die Lage des Sanitätsdienstes der Bundeswehr weiterhin schwierig. Besonders der Spagat zwischen dem Primärauftrag der Einsatzversorgung einerseits und der truppenärztlichen Grundversorgung andererseits bereitet dem Sanitätsdienst der Bundeswehr zunehmend Probleme. Der Sanitätsdienst wird in seiner gegenwärtigen Struktur den veränderten Herausforderungen und dem neuen Aufgabenprofil der Einsatzarmee nicht gerecht. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die personelle Ausstattung. Die Bewerberzahl der Sanitätsoffiziersanwärter ist erneut um 22 Prozent zurückgegangen. Im Berichtsjahr konnten auch erheblich weniger Quereinsteiger gewonnen werden, weil die Attraktivität des Sanitätsdienstes der Bundeswehr im Vergleich mit Stellen im zivilen Bereich weiter abgenommen hat. Mindestens ebenso problematisch wie die reinen Zahlen, die im Bericht nachzulesen sind, ist die schwindende Motivation unter den Sanitätsoffizieren. Viele gaben im Berichtsjahr an - das ist besonders bedauerlich -, innerlich bereits gekündigt zu haben. Die Belastung durch Auslandseinsätze, extensive Arbeitszeiten ohne angemessene finanzielle Vergütung und überbordende Bürokratie spielen in diesem Zusammenhang die Hauptrolle. Die seitens des Verteidigungsministeriums ergriffenen Sofortmaßnahmen, zum Beispiel die Stellenzulage für Fachärzte und Rettungssanitäter, wirken im Angesicht der Lage hilflos und dürften kaum ausreichen, um eine Trendwende zu erreichen. Die Ergebnisse der eigens dafür eingesetzten Arbeitsgruppe müssen sobald wie möglich ausgelotet - also nicht erst am 30. September; vorher muss ein Zwischenbericht vorgelegt werden und noch vor der Bundestagswahl geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Stillstand aus wahlkampftaktischen Gründen können wir uns nicht leisten. ({0}) Bei zukünftigen Anpassungen der Personalstruktur muss unbedingt berücksichtigt werden, dass der größere Teil der Sanitätsoffiziere und -offiziersanwärter weiblich ist und auch Männer - was positiv ist - zunehmend Betreuungsurlaub in Anspruch nehmen. Auf diesem Gebiet ist bisher zu wenig geschehen. Das Ministerium muss endlich die Zeichen der Zeit erkennen und eine entsprechende Anpassung der Personalstruktur durchsetzen. ({1}) Auch die Ausrichtung der Bundeswehrkrankenhäuser auf den Einsatz, das heißt auf die notwendige Aufnahme ziviler Patienten und die damit einhergehende Verwaltungsreform, haben den Betrieb in den Krankenhäusern noch nicht überall verbessert. Besonders problematisch sind weiterhin die Personalengpässe in den Bundeswehrkrankenhäusern, vor allem in den einsatzrelevanten Bereichen, zum Beispiel der Intensivmedizin, der Anästhesie und der Rettungsmedizin. Genau diese Personalengpässe haben weitreichende Folgen für den Krankenhausbetrieb. Mittelfristig droht uns hier ein Expertise- und Imageverlust. Deshalb wiederhole ich ganz eindringlich: Hier können Verbesserungen nur über eine vernünftige Anpassung der Personalstruktur erreicht werden. Trotzdem bleibt festzustellen, dass unser Sanitätsdienst im Einsatz hervorragende Arbeit leistet und wir uns hinter unseren Sanitätsdienst stellen können. Wir brauchen uns da vor anderen Nationen nicht zu verstecken. An dieser Stelle möchte ich mich mit einem herzlichen Dankeschön ausdrücklich an die Soldaten wenden, die Einsatz im Ausland leisten, aber auch an die Soldaten, die den Einsatz im Inland zu schultern haben; denn deren Leistung wird meist vergessen. ({2}) Gestatten Sie mir noch einige Sätze zur Behandlung von Soldatinnen und Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Ihre Zahl ist im Berichtszeitraum signifikant gestiegen, und die zunehmende Zahl stark belastender Auslandseinsätze lässt zukünftig einen weiteren Anstieg erwarten. Ich gebe zu, das hat auch damit zu tun, dass dieses ehemals heikle Thema in der Truppe inzwischen offen angesprochen wird und entstigmatisiert wurde. Die Zahl der Fälle ist drastisch gestiegen. Allein im Jahr 2008 gab es 226 Fälle, die auf den ISAF-Einsatz zurückzuführen sind. Die Errichtung eines Zentrums für die Erforschung und Behandlung solcher komplexen Erkrankungen ist daher ausdrücklich zu begrüßen. Alle Fraktionen hier im Parlament haben an einem Strang gezogen und darauf reagiert; das war gut und richtig. Trotzdem erscheint die Umsetzung angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Lage erneut zu zögerlich. Das Zentrum muss jetzt geschaffen werden. Es muss mit zusätzlichen Mitteln und zusätzlichem Personal ausgestattet werden, damit es den Namen Traumazentrum verdient. Es soll ein Zentrum sein, in dem alle Betroffenen, aktive Soldaten, Reservisten und auch Angehörige, ihren Ansprechpartner finden. ({3}) Wir dürfen nicht vergessen: Eine moderne Armee braucht physisch und psychisch gesunde Soldatinnen und Soldaten, besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl der Auslandseinsätze. Lernsysteme zum Umgang mit und zur Bewältigung von Stress im Einsatz gibt es schon. Sie werden zurzeit bei Kampfmittelbeseitigern als Pilotprojekt eingesetzt. Das müssen wir auf das gesamte Verwendungsspektrum ausdehnen, vor allem auf die, die in den Einsatz gehen. Wir müssen mit solchen neuen Projekten und Modellen arbeiten. Also Herr Minister: Jetzt handeln! Ein letzter Satz: Ich danke Ihnen, Herr Robbe, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Halten Sie an dieser Umtriebigkeit, die Sie an den Tag legen, fest. Denn diese Umtriebigkeit ist gut. Sie ist gut für die Truppe, gut für die militärische Führung und gut für uns Politiker. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12200 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes - Drucksache 16/12273 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({0}), Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Opferentschädigung bei Gewalttaten - Drucksache 16/1067 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - Drucksache 16/12697 - Berichterstattung: Abgeordneter Gregor Amann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Opferentschädigung bei Terrorakten im Ausland sicherstellen - Drucksachen 16/585, 16/12697 Berichterstattung: Abgeordneter Gregor Amann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes das Wort.

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor gut einem Monat hat hier die erste Lesung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes stattgefunden. Ich glaube, dass alle, die daran beteiligt waren, wenn sie zurückblicken, sagen: Wir haben sehr lange darüber beraten und uns angestrengt, so wie wir das auch schon bei den entsprechenden Anträgen getan haben, über die wir vor weit mehr als einem Jahr hier im Hause beraten haben. Wir wollten versuchen, möglichst einen Konsens zu finden und ein gutes parlamentarisches Beratungsverfahren durchzuführen. Die Debatten, die zu diesem Thema geführt worden sind, waren immer von dem Gedanken geprägt, am Ende eine möglichst große Zustimmung zu erreichen. Wenn uns das heute gelingt, dann ist das auch ein gutes Beispiel für parlamentarische Arbeit auf einem sehr schwierigen Themenfeld. Sicherlich hat es an der einen oder anderen Stelle unterschiedliche Auffassungen gegeben; vielleicht gibt es sie auch heute noch. Aber ich glaube, dass das, was jetzt vorliegt, zustimmungsfähig ist. Man kann deutlich sagen - ich hoffe, Regierungs- und Oppositionsfraktionen sind sich darin einig -: Wenn es uns gelingt, diesen Gesetzentwurf heute zu verabschieden, dann wird dies eine spürbare Verbesserung der Leistungen, die diejenigen erhalten werden, die Opfer von Gewalttaten geworden sind, zur Folge haben, und das ist gut so. ({0}) Mit dieser Novelle bekräftigen wir: Wer Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat geworden ist, der erfährt in Deutschland materielle Unterstützung durch die Gesellschaft. Auch wenn Sie die einzelnen Punkte, die verbessert werden, aus den bisherigen Debatten bereits kennen, will ich sie noch einmal nennen: Bei den Inlandstaten erweitern wir den Kreis der Anspruchsberechtigten auf ausländische Verwandte dritten Grades. Dies gilt dann, wenn eine Person ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die sich aber rechtmäßig und nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhält, in Deutschland besucht wird. Über diese Neuregelung wird schon seit sehr langer Zeit diskutiert, eigentlich schon seit 1993. Schändliche Anlässe waren damals der Grund dafür, nämlich ausländerfeindliche Übergriffe auf Menschen, die in Deutschland lebten oder Verwandte in Deutschland besuchten. Solche Übergriffe dürfen wir niemals akzeptieren. Diejenigen, die zu uns gekommen sind, müssen allerdings wissen: Wenn solche Übergriffe geschehen, dann haben sie ein Recht auf Entschädigung, und dann versuchen wir, im Nachhinein so gut wie möglich zu helfen. Die Einbeziehung ausländischer Verwandter dritten Grades wird vom Arbeits- und Sozialministerium ausdrücklich begrüßt, nicht zuletzt deshalb, weil so auch weiterhin eine rechtliche Abgrenzung zu ausländischen Touristen und Geschäftsreisenden möglich ist. Diese Gruppe wird auch in Zukunft weiterhin von der Härtefallregelung erfasst. Über die Einbeziehung geschädigter ausländischer Lebenspartner, die im Gesetzentwurf ebenfalls vorgesehen ist, ist im Plenum, im Ausschuss und bei den Beratungen, die vorher auf interfraktioneller Ebene stattgefunden haben, bereits sehr intensiv diskutiert worden. Ich mache überhaupt keinen Hehl daraus - ich glaube, es ist bekannt, wie unsere und meine Position in dieser Frage war -, dass wir uns für eine etwas eindeutigere Nennung der Lebenspartnerschaften im Gesetzestext eingesetzt haben. ({1}) Ich weiß: Manche Dinge im Leben sind machbar, manche nicht. Das, was uns alle geprägt hat, nämlich der Versuch, einen Konsens zu finden, hat dazu geführt, dass wir mit der vorliegenden Lösung, der mittelbaren Verweisung auf das Bundesversorgungsgesetz, leben können und die Menschen, die wir einbeziehen wollten, auch einbezogen wissen. Der zweite Schwerpunkt des vorliegenden Entwurfs des Änderungsgesetzes ist die Ausdehnung des Geltungsbereiches des Opferentschädigungsgesetzes auf Gewalttaten im Ausland. Rein rechtssystematisch betrachtet wird es auch in Zukunft ein Unterschied sein, ob jemand in Berlin oder Lissabon, in Bonn oder Kairo Opfer einer Gewalttat wird. Das Opferentschädigungsgesetz wird seinen Schutz künftig auch für diejenigen entfalten, die im Ausland durch einen tätlichen Angriff gesundheitlichen Schaden erleiden müssen. Da der deutsche Staat wirksamen Opferschutz auch weiterhin nur für sein Hoheitsgebiet garantieren kann - die Juristen sprechen hier vom Aufopferungstatbestand -, sind die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelleistungen bei Auslandstaten geringer als bei Inlandstaten. Klar ist aber: Die staatliche Fürsorge für Opfer von Gewalttaten, die in Deutschland ihren festen Wohnsitz haben, macht zukünftig nicht mehr an der Staatsgrenze Halt. Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, der, wie ich finde, wichtig ist: Im Rahmen der Ausschussberatungen wurde am Entwurf des Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes eine Ergänzung vorgenommen, die die Einführung einer Pauschalabrechnung von Leistungen nach dem OEG und dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz vorsieht. Damit reagieren wir auf Probleme, die es bei der Aufteilung der Leistungsausgaben zwischen Bund und Ländern in der Vergangenheit gegeben hat. So sind Ausgaben für Sachleistungen aus dem Bundeshaushalt abgerufen worden, obwohl die Länder diese hätten tragen müssen. Hintergrund ist die Bestimmung, nach der sich der Bund an Geldleistungen nach dem OEG und dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz lediglich mit einem Anteil von 40 Prozent beteiligen darf. Eine Neuregelung, die zu mehr Rechtsklarheit und Transparenz führt, ist dringend erforderlich und wird auch vom Bundesrechnungshof vehement gefordert. Die geplante Pauschalabrechnung wird von einer großen Mehrheit der Länder begrüßt. Ich sage Dank an die Koalitionsfraktionen, dass sie im Rahmen dieser Novellierung des OEG einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht haben. Nur auf diesem Weg kann das neue Abrechnungsverfahren noch in dieser Legislaturperiode mit einer neuen Rechtsgrundlage versehen werden. Das OEG lebt davon, dass es zu jeder Zeit auf die Bedürfnisse von Gewaltopfern zugeschnitten ist. Die Einstandspflicht des Staates für unschuldige Opfer vorsätzlicher Gewalttaten muss sich an den jeweiligen gesellschaftlichen Realitäten und Veränderungen messen lassen. Ich denke, der Entwurf des Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes trägt diesem Umstand in besonderem Maße Rechnung. Auch in Zukunft wird es unser aller Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass sich das Opferentschädigungsrecht dadurch auszeichnet, dass Betroffenen zügig und unbürokratisch Hilfe und Unterstützung zukommt, dass möglichst unmittelbar nach der Gewalttat damit begonnen wird, körperliche, aber auch seelische Schäden medizinisch zu behandeln. Natürlich muss das Leistungssystem darüber hinaus transparent sein. Wir werden uns bemühen, dieser Aufgabe auch in Zukunft gerecht zu werden. Ich möchte alle Fraktionen im Hause bitten, diesem guten parlamentarischen Ergebnis heute die Zustimmung zu geben. Es kann ein gutes parlamentarisches Beispiel sein, und es hilft den Menschen, die betroffen sind. Natürlich hoffen wir immer, dass keiner betroffen ist; denn die erste Aufgabe besteht darin, Gewalttaten zu vermeiden bzw. zu verhindern, damit keiner zu Schaden kommt. Aber wenn etwas passiert, dann soll auf diesem Weg geholfen werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Jörg van Essen für die FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben gesehen, dass ich gerade geklatscht habe. Auch aus Sicht meiner Fraktion ist all das, was der Staatssekretär gerade vorgetragen hat, zu unterstreichen. Was hier heute verabschiedet werden soll, ist richtig und unterstützenswert. In dem einen oder anderen Punkt kann man immer Kritik anbringen. Ich habe das in der ersten Lesung auch getan, und zwar was die Lebenspartnerschaften anbelangt. Herr Staatssekretär, Sie haben diesen Punkt auch noch einmal angesprochen. Auch Lebenspartnerschaften sind geschützt; das ist die wichtigste Botschaft. Man erleichtert es den Opfern, wenn sie nachlesen können, welche Ansprüche sie haben. Ich komme, wie Sie alle wissen, selbst aus der Justiz. So weiß ich, wie schwierig es ist, Anspruchsberechtigten die Ansprüche, die sie nach dem Opferentschädigungsgesetz haben, klarzumachen. ({0}) Gerade deshalb kommt es darauf an, dass wir klare Texte haben, aus denen die Ansprüche hervorgehen. Aber wie dem auch sei: Das, was insgesamt geschieht, ist aus meiner Sicht außerordentlich erfreulich. Wir haben als FDP-Bundestagsfraktion schon im Jahre 2002 den ersten Antrag für einen besseren Schutz der Deutschen, die im Ausland Opfer werden - insbesondere Opfer von Terroranschlägen - eingebracht. Das ist jetzt sieben Jahre her. Es hat lange gedauert; aber wir haben jetzt eine vernünftige Lösung gefunden. Da und dort sind Kompromisse geschlossen worden - das ist selbstverständlich, einen habe ich gerade angesprochen aber insgesamt ist die Botschaft sehr erfreulich. Herr Staatssekretär, auch da stimme ich Ihnen zu: Dieses Gesetzgebungsverfahren ist ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, dass Regierungskoalition und Opposition im Deutschen Bundestag gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung kommen. Deshalb will ich deutlich sagen: Der Antrag, den wir eingebracht haben, ist gegenstandslos geworden, weil wir dem Gesetzentwurf so, wie er heute verabschiedet wird, zustimmen. Zwei Dinge möchte ich noch ansprechen. Erstens. Ich habe schon von denjenigen gesprochen, die im Ausland Opfer werden. Ich glaube, dass gerade das Attentat in Bombay vor wenigen Monaten deutlich gemacht hat, wie dringlich es ist, dass wir diese Novellierung schnell verabschieden. Ich habe im März die Hoffnung geäußert, dass dies nicht zu lange dauert. Ich sehe deshalb mit großer Sorge, dass im Hinblick auf das zweite Gesetz zur Novellierung des Opferrechts eine Anhörung durchgeführt wird, sodass es fragwürdig wird, ob wir, was dieses Gesetz angeht, noch zu einer Entscheidung kommen. Ich hoffe, dass es gelingt. Ich weiß, dass viele daran interessiert sind, und deshalb sollten wir uns darum auch bemühen. Ich bin sehr dankbar, Herr Kauder, dass Sie den Versuch unternommen haben, auf die Anhörung zu verzichten, um Zeit zu gewinnen. Ich bin wie Sie der Auffassung, dass wir uns sehr gut auf ein erweitertes Berichterstattergespräch hätten beschränken können, und bedaure sehr, dass Ihrem sehr guten Vorstoß nicht gefolgt worden ist. Trotzdem sollten wir alles unternehmen, dass wir hier zu einem guten Ergebnis kommen. Wir werden dem Antrag der Grünen nicht zustimmen, auch wenn er in vielen Punkten mit der Vorlage der Regierungskoalition übereinstimmt. In einem Punkt folgen wir Ihnen nicht: Wir haben immer großen Wert darauf gelegt, dass man einen Anspruch hat. Bei Ihnen ist es anders ausgestaltet; Sie heben stärker auf die Härtefallregelung ab. Dies ist für uns nicht zustimmungsfähig. Hier ist der von der Regierungskoalition vorgeschlagene Weg der richtige; denn wir müssen beim Opferschutz immer wieder daran denken, dass diejenigen, die Opfer einer schweren Straftat geworden sind, nicht aufgrund des Verfahrens und vieler anderer Dinge das Gefühl haben, erneut ein Opfer zu werden. Deshalb unterstreiche ich das, was Sie gesagt haben, Herr Staatssekretär: Wichtig ist, dass das Ganze unbürokratisch und schnell zu Entscheidungen führt. Wir werden aufpassen müssen, wie die Praxis hinterher sein wird. Ich werde mich jedenfalls entsprechend engagieren. Von daher lautet mein Fazit für die FDP-Bundestagsfraktion: Es ist heute ein guter Tag für den Opferschutz. Ich teile aber auch eine Einschätzung von Ihnen, Herr Staatssekretär: Unsere wichtigste und vordringliche Aufgabe ist es, dass niemand zum Opfer wird. ({1}) - Richtig, da widerspreche ich Ihnen nicht. Es ist unsere wichtigste Aufgabe, zu verhindern, dass jemand zu einem Opfer wird. Aber wenn es dann doch passiert ist - wir alle wissen, dass es immer wieder passiert, weil man nicht alles im Griff hat -, dann ist es wichtig, dass die Menschen zu Recht das Gefühl haben, dass wir sie nicht allein lassen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Siegfried Kauder für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Der 15. März 1976 war ein guter Tag für die Opfer von Gewalttaten. An diesem Tag wurde im Deutschen Bundestag das Opferentschädigungsgesetz verabschiedet. Seither haben Opfer von Gewalttaten einen Anspruch gegen den Staat auf eine Opferrente oder eine Unterstützung. Aber dieses Gesetz wies von Anfang an eine Unwucht auf: Wieso bekommt eine deutsche Frau, die in Spanien von einem Italiener vergewaltigt wird, keine Opferentschädigung? Sie bekommt sie deshalb nicht, weil im Opferentschädigungsrecht das Territorialitätsprinzip gilt. Irgendwo mag dies im Ansatz richtig sein; denn nur auf deutschem Hoheitsgebiet kann der deutsche Staat für innere Sicherheit sorgen. Aber eine spanische Frau, die in Deutschland von einem Italiener vergewaltigt wird, bekommt wegen des in Europa geltenden Diskriminierungsverbots eine Opferrente. Das spanische Opfer steht in Deutschland besser da als das deutsche Opfer in Spanien. Diese Unwucht habe ich am 10. Oktober 1999 bei einer Veranstaltung des Weißen Ringes angesprochen, weil es nicht in meinen Kopf hineinwollte, dass diese deutsche Frau schlechter dasteht. Von einem Ministerialbeamten wurde mir entgegengehalten, das Territorialitätsprinzip sei in der Opferentschädigung ein unumstößliches Dogma. Angesichts dessen musste man einen langen Atem haben. Das Projekt, das Opferentschädigungsgesetz auf Opfer im Ausland auszuweiten, verfolge ich seit September 2002. Ich dachte mir, es könne kein Kunststück sein, einem Paragrafen einen Satz hinzuzufügen, der heißen muss: Dieses Gesetz ist auch anwendbar, wenn eine Deutsche oder ein Deutscher im Ausland Opfer einer Gewalttat wird. Ich sah mich getäuscht. Im Jahre 2002 Siegfried Kauder ({0}) habe ich begonnen, dieses Projekt zu begleiten; jetzt haben wir 2009. Wieso dauerte das alles so lange? Meine Damen und Herren, Demokratie ist ein schwieriges und manchmal schwerfälliges Instrument. Entscheidend ist, dass man dranbleibt und dass das Ergebnis stimmt. ({1}) Es traten immer mehr Fragen auf, die ich am Anfang so nicht bedacht hatte. Eine Frage, die sich gestellt hat, lautete: Wer zahlt die Mehrkosten? Nach dem Opferentschädigungsgesetz werden die Kosten zwischen dem Bund und den Ländern verteilt. 40 Prozent zahlt der Bund, 60 Prozent zahlen die Länder. Ich kam dann auf eine pfiffige Idee, nämlich die, dass der Bund für die Fälle zuständig ist, in denen eine Straftat auf einem deutschen Schiff begangen wird. Dafür ist ja kein Land zuständig; das kann man keinem Land zuordnen. So sagte ich: Wenn dieser Deutsche das Schiff verlässt und auf ausländischem Boden steht, dann gilt das Gleiche wie auf dem Schiff. Also muss der Bund das bezahlen. Das hat die Länder gefreut, und ich bin dankbar, dass das in den Fraktionen genauso gesehen wurde. Ein Problem war beseitigt. Es gab aber noch immer die Frage, welche Mehrkosten auftauchen. Das sollte der Bund natürlich schon wissen. Mir kam dabei eine Konstellation zugute, die ich von Anfang an im Auge hatte: Das Territorialitätsprinzip ist kein unumstößliches Dogma; denn im Jahre 1972 haben die Österreicher es mit dem Verbrechensopfergesetz schon ganz anders gehandhabt. ({2}) Sie sagten nämlich, dass es nicht darauf ankommt, auf welchem Territorium die Straftat begangen wurde, sondern darauf, ob das Opfer Österreicher ist oder nicht. Die Staatszugehörigkeit ist also das Entscheidende. Deswegen konnte ich mich nach Österreich wenden und dort nachfragen, welche Kosten auftauchen, wenn ein Österreicher im Ausland Opfer wird. Das wussten sie nicht, weil sie keine Statistik darüber geführt haben. ({3}) Also gab es wieder ein Problem, das nicht bewältigt werden konnte. So gab es immer wieder Steine auf dem Weg, auf dem wir heute das Ziel erreichen wollen. Das alles dauerte seine Zeit, nämlich über sechs Jahre. Ich freue mich aber, dass wir am Ende dieser intensiven und langen Diskussion, die noch andere Begleiterscheinungen mit sich gebracht hat, zu einem sinnvollen und guten Ergebnis für die Opfer von Straftaten gekommen sind. Es ist richtig, dass die erste Aufgabe des Staates darin besteht, Straftaten zu vermeiden. Wir erleben aber immer wieder, dass das nicht gelingt und im Ausland auch nicht gelingen kann. Wir dürfen dabei nicht nur an die Opfer terroristischer Straftaten denken, wir müssen auch an den Einzelfall eines Opfers denken, das von dieser Straftat psychisch schwer gekennzeichnet ist. Was sind schon sechs Jahre bei einem Gesetzgebungsverfahren? Im Jahre 1997 nahm ein Familienvater zwei Kleinkinder mit nach Mallorca. Weil er nicht wollte, dass die Kinder zur Mutter zurückkehren, hat er sie dort umgebracht. Die Mutter erlitt einen sogenannten Schockschaden, der nach dem Opferentschädigungsgesetz zu einer Opferrente führt. Das Versorgungsamt hat den Antrag dieser Mutter konsequent abgelehnt; denn der Primärschaden - die Tötung der Kinder - war im Ausland entstanden. Dass der Schockschaden im Inland stattfand, war nach der damaligen Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht entscheidend. Die Mutter hat vor dem Sozialgericht verloren. Vor dem Landesozialgericht hat sie gewonnen. Im Jahre 2002 hat das Bundessozialgericht erkannt, dass die Entscheidung des Landesozialgerichts aufzuheben ist. Diese Mutter bekam keine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz. Was mich an diesem Fall so erschüttert hat: Die Tat war im Jahre 1996, und die Entscheidung des Bundessozialgerichts stammt aus dem Jahr 2002. Über sechs Jahre musste eine von einer Straftat schwer traumatisierte Mutter um ihr Recht kämpfen, und sie hat am Ende verloren, weil wir eine Gesetzeslage hatten, die wir heute hoffentlich mit einer breiten Zustimmung in diesem Parlament ändern wollen. Würde dieser Fall morgen geschehen, müsste diese Mutter nicht sechs Jahre umsonst kämpfen. Sie würde ihre Entschädigung bekommen. Ich bin der Meinung, dass dies ein gutes Signal ist. Das Opferentschädigungsgesetz muss geändert werden, und das Territorialitätsprinzip muss in diesem Bereich aufgegeben werden. Es kommt darauf an, dass wir Opfern helfen, und nicht darauf, dass wir Dogmen unumstößlich aufrechterhalten. Ich danke den vielen, die mitgeholfen haben, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen: Ich danke den Beamten des Ministeriums, die uns sehr tatkräftig unterstützt haben. Ich danke aber auch für die Kooperationsbereitschaft vieler, die daran mitgearbeitet haben. Dieses Gesetz hat in der Tat viele Väter und Mütter, und ich freue mich, dass wir den Opfern damit helfen können. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das geltende Opferentschädigungsgesetz ist sowohl hinsichtlich des Kreises der anspruchsberechtigten Personen als auch hinsichtlich der Entschädigungshöhe von sachlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen geprägt. Der Kollege Kauder hat Beispiele genannt, die in der VerJörn Wunderlich gangenheit Anlass zum Nachdenken gegeben haben. Daher war eine Reform, die schon in der letzten Legislaturperiode geplant war, dann aber aufgrund der vorgezogenen Wahl letztlich gescheitert ist, längst überfällig; ich denke, wir alle hier im Hohen Hause sind darin d’accord. Grundsätzlich wird auch von meiner Fraktion der Ausweitung des Opferschutzes zugestimmt. Dies gilt insbesondere für die Ausweitung auf im Ausland erlittene Taten. Schade ist, dass die Lebenspartner vom Gesetzestext nicht erfasst werden. Herr Thönnes hat dies schon gesagt, und auch in den Berichterstattergesprächen ist dies angesprochen worden. Manches geht, manches geht nicht, schade ist es allemal. Ich muss an dieser Stelle aber auch sagen, dass es nach wie vor Kritikpunkte gibt, die trotz des nunmehr fast zweieinhalb Jahre laufenden Gesetzgebungsverfahrens nicht behoben werden konnten oder vielleicht auch nicht behoben werden wollten. Das Recht der Entschädigung folgt aus dem staatlichen Gewaltmonopol. Der Staat soll Menschen vor Straftaten schützen. Anknüpfungspunkt dafür ist das Staatsterritorium und nicht der aufenthaltsrechtliche Status eines Menschen, sodass es dem Staat obliegt, jeden Menschen, der sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, vor Straftaten zu schützen. Dementsprechend verbieten sich auch Differenzierungen zwischen den Opfern von Straftaten, sofern sich die Straftaten auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland ereignen. Hier wird immer noch die Unterscheidung gemacht, die unter anderem an den aufenthaltsrechtlichen Status anknüpft. Das sollte entfallen. So hat es der Deutsche Anwaltverein auch in der Anhörung dargelegt. Nach wie vor schließt dieses Gesetz Menschen, die sich nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten, genauso aus wie diejenigen, die sich nur vorübergehend hier befinden und nicht mit einer deutschen oder einer dauerhaft hier lebenden Person verheiratet oder - das ist immerhin eine Verbesserung - bis zum dritten Grade verwandt sind. Eine solche Aufhebung der Unterscheidungen würde auch die vom Rat am 29. April 2004 verabschiedete Richtlinie zur Entschädigung der Opfer von Straftaten bestmöglich umsetzen. Das ist die Richtlinie 2004/80/EG. Ein weiterer nicht behobener Kritikpunkt: Mehr als 18 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten werden Opfer von Straftaten in Ost und West immer noch in unterschiedlicher Höhe entschädigt. Nach wie vor ist es so, dass Opfer von Gewaltverbrechen, deren Wohnsitz in Ostdeutschland liegt, nur eine Grundrente in Höhe von 87 Prozent der Grundrente eines Westdeutschen erhalten. So kann es zum Beispiel innerhalb der Stadt Berlin eine Frage von nur wenigen Metern sein, ob das Opfer in den Genuss der höheren Westentschädigung kommt, oder ob es sich mit der niedrigeren Ostentschädigung begnügen muss. Das muss man sich einmal bildlich vorstellen: Zwei befreundete Familien machen einen Sommerausflug in den Tiergarten, und es passiert ein Attentat. Ich hoffe, dass so etwas nie passiert, aber wir sollten uns das einmal vorstellen. Die eine Familie wohnt in der Fuldastraße in Berlin-Neukölln, im Westteil, die andere Familie wohnt in der Harzer Straße in Berlin-Treptow, im Ostteil. Die gleichaltrigen Kinder, die zusammen spielen und möglicherweise in den gleichen Kindergarten gehen, werden gleich schwer verletzt. Das eine Kind bekommt weniger Rente als das andere. Wie wollen Sie das den Eltern und den Kindern erklären? Wie wollen Sie erklären, dass das eine Kind - so wird es von den Opfern zum Teil empfunden - weniger wert ist als das andere? Mit seinem Urteil vom 14. März 2000, abgedruckt in der Neuen Juristischen Wochenschrift, hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Beschädigtengrundrente bezogen auf die Kriegsopfer in West und Ost gleich sein muss. Es ist mit dem Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren, dass hier Unterschiede gemacht werden. Das war 1998 und sollte über den 31. Dezember 1998 hinaus nicht mehr gelten. Wir haben jetzt das Jahr 2009. Ich denke, nach über zehn Jahren ist es Zeit, den Gleichheitsgrundsatz auch auf die Opfer von Straftaten zu übertragen. Dabei kann man auch nicht auf das wirtschaftliche Gleichgewicht, die Leistungsfähigkeit und die geringeren Löhne im Osten verweisen. Dann müsste man auch im Westen Unterschiede machen und zum Beispiel einem Opfer, das aus München kommt, eine höhere Entschädigung gewähren als einem Opfer aus dem Bayerischen Wald. Ich kann mir vorstellen, welcher Aufschrei dann durch die Republik gehen würde. Schade ist - das habe ich schon bei der ersten Beratung im November 2006 festgestellt, als ich meine Kritikpunkte vorgebracht habe -, dass sich die Hoffnung, dass sich durch die Berichterstattergespräche oder durch die Ausschussberatungen etwas bessern könnte, nicht im gewünschten Maße erfüllt hat. Die Linke fordert gleiche Entschädigungsleistungen für alle Menschen, die auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland Opfer von Gewalttaten werden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, ihrem Aufenthaltsstatus, ihrem Wohnort oder ihrem familienrechtlichen Status. Von daher werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf trotz der darin enthaltenen Verbesserungen - das muss man zugeben - enthalten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Thönnes, bei grundsätzlicher Zustimmung zu dem Gesetzentwurf - die Grünen werden ihm auch zustimmen - muss ich, was Ihre Rede angeht, einiges Wasser in den Wein gießen. Denn Sie haben mit Ihrer Eingangsbemerkung, vor einem Monat habe die erste Beratung stattgefunden und heute schon werde die zweite und dritte Beratung durchgeführt, den Eindruck erweckt, als sei ein Problem aufgetaucht und schnell erkannt worden; die Bundesregierung hätte gearbeitet und bereits nach einem Monat hätten wir ein gutes Ergebnis erzielt. So ist es nicht. Herr Kollege Kauder hat die unendliche Geschichte dieses Gesetzentwurfs zur Reform des Opferentschädigungsgesetzes dargestellt. Sie ist auch noch nicht zu Ende. Ich erinnere an Ihre erste Rede vor einem Monat, in der Sie einiges dazu gesagt haben, Herr Kollege Kauder. Die unendliche Geschichte weist darauf hin, dass wir es mit einem etwas längeren Vorlauf als einem Monat zu tun haben. Ich bin seit 2002 Mitglied dieses Hohen Hauses, und seitdem bin ich beteiligt an der Diskussion über die Reform des Opferentschädigungsrechtes. Ich bin im Übrigen durch die gleichen Beispiele aufgewühlt, die der Kollege Kauder genannt hat. Aber wir haben es jahrelang nicht zu einem Gesetzentwurf gebracht. Das war uns Grünen einfach zu lange. Deswegen haben wir nach jahrelangem Diskurs am 28. März 2006 - das war vor über drei Jahren - einen Gesetzentwurf zur Reform des Opferentschädigungsgesetzes in den Bundestag eingebracht. Dieser Gesetzentwurf ist dann jahrelang im Bermudadreieck der Großen Koalition und auch des Ministeriums verschwunden. Es war nicht möglich, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, obwohl es eigentlich in den Diskursen, die wir geführt haben, keine Differenzen gab. Man muss an dieser Stelle benennen, worin der Hemmschuh bestand. Er lag weder bei der Regelung des Auslandsfalles, den Sie, Herr Kollege Kauder, genannt haben, noch bei der Regelung der Ausweitung des Schutzes für Ausländerinnen und Ausländer, die sich in Deutschland befinden. Er ergab sich vielmehr aus folgender Konstellation: Wenn in Deutschland jemand Opfer einer Gewalttat wird und getötet wird, der verheiratet ist, dann haben der Witwer oder die Witwe einen Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz. Wenn der getötete Mensch aber in einer eingetragenen Partnerschaft lebte, dann hat der eingetragene Lebenspartner einen solchen Anspruch nicht. Das ist genauso wenig zu verstehen wie die von Ihnen angesprochene Fallgestaltung mit der deutschen oder der spanischen Frau. ({0}) Es war drei Jahre nicht möglich - ich meine nicht Sie persönlich, Herr Kollege Kauder; ich nehme Sie ausdrücklich aus -, die Kolleginnen und Kollegen der Union davon zu überzeugen, dass dieser Fall gleich zu behandeln ist. Wir haben im Endeffekt festzustellen, dass die Koalition den Gesetzentwurf der Grünen inhaltlich von A bis Z übernommen und abgeschrieben hat. Das ist nicht schlimm. Ein Copyright machen wir nicht geltend. Wir können auch mit dem Gesetzentwurf leben, den die Koalition eingebracht hat.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollege Kauder?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gerne.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, können wir uns vielleicht darauf einigen, dass keiner vom anderen abgeschrieben hat und dass keiner für sich in Anspruch nehmen darf, er sei der einzige Urheber dieses Gesetzes? Der Entwurf der CDU/CSU datiert aus dem Jahr 2002. Sie haben begonnen, die Probleme seit dem Jahr 2006 zu schildern. Von 2002 bis 2006 gab es andere Probleme, die ich bereits erwähnt habe: Wer zahlt die Kosten? Pauschalen oder Härteausgleich? Das waren die Eingangsthemen. Dann kam das Problem, das Sie erwähnt haben, hinzu. Sagen Sie also nicht, dass wir abgeschrieben hätten. Das stimmt so nicht. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Kauder, ich war gerade so konziliant, zu sagen: Es macht ja nichts. Wir können auch mit dem Gesetzentwurf leben, den Sie vorgelegt haben. Aber zwischen 2002 und 2006 gab es eine Bundestagswahl. Die Vorschläge, die in der letzten Legislaturperiode gemacht worden sind, haben das unrühmliche Schicksal erleiden müssen, das alle solche Vorlagen erleiden, die nicht zu Ende gebracht werden können. ({0}) - Nur davon habe ich gesprochen. - Tatsache ist: In dieser Legislaturperiode gab es drei Jahre nur unseren Gesetzentwurf. - Was nun kommt, muss mir nicht mehr als Beantwortung Ihrer Frage angerechnet werden. Danke schön, Herr Kollege Kauder. Ich komme nun zum nächsten Punkt, den Sie angesprochen haben, Herr Staatssekretär. Sie haben gesagt, es habe eine wunderbare Form der Zusammenarbeit gegeben. Ich muss sagen: Wir wären gerne - genauso wie die FDP -, nachdem wir eine Vorlage eingebracht hatten, an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt worden. Aber nein, die Koalition hat erklärt, eine gemeinsame Vorgehensweise des Parlaments komme für sie bei dieser Problematik nicht infrage. Sie wollten nur einen Gesetzentwurf der Koalition. Wir, die Oppositionsfraktionen, hätten uns gerne beteiligt und werden diesem Entwurf auch zustimmen. Aber tun Sie bitte schön nicht so, als ob es eine wundervolle Form der Zusammenarbeit bis zum Schluss gegeben hätte. ({1}) Diese hat es leider nicht gegeben. Lieber Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, Sie hätten gerne die eingetragenen Lebenspartnerschaften „etwas eindeutiger erwähnt gesehen“. Tatsächlich sind diese Lebenspartnerschaften überhaupt nicht erwähnt, weder im Gesetz noch in der Gesetzesbegründung, was für den Juristen, Herr van Essen, sicherlich eine Hilfe gewesen wäre. Sie haben das Kunststück zustande gebracht, eine kaskadenhafte Verweisungskette zu benennen, bei der man mit der Lupe danach suchen muss, ob eine Lösung des von mir angesprochenen Problems tatsächlich erfolgt ist. Das bleibt kleinlich und schäbig. Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu; denn wir teilen den Inhalt dessen, was Sie vorgeschlagen haben. Danke. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Anton Schaaf. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde mich an dem Streit bzw. der Diskussion darüber, wer die Urheberschaft für diesen Gesetzentwurf hat, nicht beteiligen. Vielleicht darf ich Folgendes feststellen: Seitdem ein Nichtjurist dieses Thema ein Stück weit mit begleiten durfte - ich meine damit mich; ich habe nämlich vor etwas über einem Jahr die Berichterstattung übernommen -, haben wir nicht mehr ganz so lange gebraucht, um diesen Gesetzentwurf hier in zweiter und dritter Lesung zu behandeln. Das stelle ich hiermit fest. ({0}) Sie, Herr Montag, haben völlig recht, wenn Sie sagen, es gebe jetzt eine Verweiskette, in der die eingetragenen Lebenspartner als Anspruchsberechtigte dargestellt würden. Ich finde - deswegen kann ich aus Überzeugung heute hier zustimmen -, dass wir eingetragene Lebenspartner abgesichert haben und diese als Opfer entschädigt werden können. Das war das Ansinnen der SPDBundestagsfraktion, und das ist erreicht worden. Die Tatsache, dass es in Bezug auf den Verweis hin und wieder einmal holpriger wird, hindert uns nicht daran, Richtiges zu tun. Das haben wir mit dem Koalitionspartner CDU/CSU, vor allem durch den Einsatz von Siegfried Kauder, hinbekommen. Das will ich hier ausdrücklich erwähnt haben. ({1}) Der Ursprung der Debatte liegt nicht in der Einbringung eines Gesetzentwurfs, sondern er liegt in schändlichen Taten, die stattgefunden haben. Die Diskussion über die Ausweitung des Opferentschädigungsgesetzes hat mit den schändlichen Taten in Solingen, Mölln und auf Djerba begonnen. Damals haben wir festgestellt, dass es Regelungslücken gibt, die der Nachbesserung bedürfen. Wir können uns die Situation noch einmal vor Augen führen: Auf Djerba sind Deutsche Opfer eines Terroranschlags geworden. Sie fielen nicht unter die Regelung des Opferentschädigungsgesetzes, weil diese Tat im Ausland stattgefunden hat. Das war der Ursprung. Wir haben diese Menschen übrigens nicht im Stich gelassen, sondern wir haben die Härtefallregelung angewendet. Sie hatten aber keinen rechtlichen Schutz. Es gab auch schändliche Diskussionen im Zusammenhang mit diesem Gesetz. Mich haben diese Diskussionen sehr betroffen gemacht. Auch von Teilen dieses Hauses wurde gesagt, dass es dann, wenn es keine Kriegsbeteiligung Deutschlands im Ausland gäbe, auch keine Terroranschläge und somit auch keine Opfer gäbe und wir dann auch kein Opferentschädigungsgesetz brauchten. ({2}) Solche unglaublichen Ableitungen mussten wir damals zur Kenntnis nehmen. Ich weise mit Abscheu zurück, was damals formuliert worden ist. ({3}) Es gab auch die schändlichen Taten in Solingen, wo Menschen, die hier dauerhaft lebten, Opfer von rechtsradikalen Straftätern geworden sind. Ein Onkel, der zu Besuch war und anschauen musste, wie seine Familie getötet worden ist, fiel nicht unter die Regelungen des Opferentschädigungsgesetzes. Es geht schlichtweg um Menschen. Es geht nicht um irgendwelche abstrusen Ableitungen, die mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr und eventuellen Terroranschlägen zusammenhängen. Es geht hier darum, Menschen besserzustellen. ({4}) Deswegen bedaure ich sehr, dass die Linke sich dann, wenn wir Menschen konkret besserstellen - auch wenn es ihr nicht ausreicht; das mag durchaus sein -, ausdrücklich der Debatte enthält. Ich finde das sehr bedauerlich. ({5}) Wir haben es nicht geschafft, einen interfraktionellen Gesetzentwurf vorzulegen. Jetzt ist das ein Gesetzentwurf der Koalition. Auch ich bedaure das, Herr Kollege Montag. Das sage ich sehr deutlich; denn das Ansinnen wird von breiten Kreisen getragen und ist von vielen in den letzten Jahren forciert worden. Es wäre durchaus angebracht gewesen, einen interfraktionellen Gesetzentwurf einzubringen. Die Diskussionen, die wir gemeinsam geführt haben, waren von dem Bemühen geprägt - davon zeugte die gesamte Atmosphäre -, das Beste herauszuholen. Die Formulierungshilfen des Ministeriums für Arbeit und Soziales im Januar letzten Jahres bildeten eine Brücke und waren ein großer Schritt, um das Opferentschädigungsgesetz zu verbessern. Ich bin dem Haus, dem Parlamentarischen Staatssekretär und auch dem Minister ausdrücklich dankbar dafür, dass sie uns so konstruktiv begleitet und die Angelegenheit oftmals forciert haben. ({6}) Ich will mich bei den Berichterstatterinnen und Berichterstattern der vier Fraktionen, die heute dem Gesetzentwurf zustimmen, ausdrücklich bedanken. Auch das, was Sie, Herr Montag, uns zu bedenken gegeben haben, nämlich zu schauen, ob die Verweiskette ausreicht und ob gesichert ist, dass damit eingetragene Lebenspartner tatsächlich abgesichert sind, war außerordentlich hilfreich, weil wir noch einmal unsere und auch die Formulierungen des Ministeriums überprüft haben. Mein besonderer Dank gilt gerade beim Thema eingetragene Lebenspartnerschaften und dem Umgang damit dem Kollegen Siegfried Kauder, der in seiner Fraktion für dieses herausragend gute Gesetz für eine breite Zustimmung gesorgt und sichergestellt hat, dass wir es jetzt überhaupt durchs Parlament bringen können. Viel zu lange hat man sich an einem einzigen Begriff festgehalten und aufgehalten. Ich finde, das war dem Schicksal der Menschen, die wir mit diesem Gesetz besserstellen wollen, nicht angemessen. Ich bin froh, dass diese Schwierigkeiten beseitigt sind. Ich danke allen Beteiligten noch einmal und bitte Sie um breite Zustimmung. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Wer Opfer einer Straftat geworden ist, hat Anspruch darauf, dass ihm geholfen wird, und zwar möglichst schnell und unbürokratisch. Leider mussten in den vergangenen Jahren viele Deutsche, die im Ausland zu Schaden kamen, aber auch Ausländer, die bei uns zu Opfern wurden, die Erfahrung machen, dass ihnen das Opferentschädigungsgesetz nur unzureichend helfen konnte, da es dem sogenannten Territorialitätsprinzip folgt. Fraktionsübergreifend haben wir uns in der Vergangenheit bemüht, tragfähige Lösungen zu finden, um diesem Mangel abzuhelfen. Herr Kollege Siegfried Kauder hat über die lange Vita dieses Gesetzgebungsverfahrens bereits ausführlich berichtet. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner bringen wir nun ein Gesetz auf den Weg, das die bisherige Lücke im Opferentschädigungsgesetz schließen wird. Wir werden den Opfern tätlicher Gewalt einen möglichst umfassenden Schutz in Form staatlicher Entschädigung gewähren. Fälle wie die der deutschen Opfer beim Bombenanschlag im tunesischen Djerba oder die der türkischen Opfer beim Brandanschlag in Solingen wären nun vom Gesetz umfasst. Ich freue mich sehr, dass auch die Fraktionen der Grünen und der FDP im Großen und Ganzen unseren Gesetzentwurf mittragen und wir als Parlamentarier in dieser Sache an einem Strang ziehen; das ist nicht immer so. Über das Wie haben wir lange diskutiert, aber nie über das Ob. Es geht darum, Menschen zu helfen und nicht ein zweites Mal Menschen zu Opfern werden zu lassen, und zwar diesmal zu Opfern einer Gesetzeslücke. Ihr Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, geht in dieselbe Richtung wie der Entwurf der Koalition, aber er geht uns bei Auslandstaten nicht weit genug; darauf wurde bereits hingewiesen. Ihr Entwurf sieht bei Straftaten, die im Ausland gegen Deutsche und ihnen gleichgestellte Personen begangen werden, lediglich einen Härteausgleich vor. Der Koalitionsentwurf dagegen enthält im einzufügenden § 3 a des Opferentschädigungsgesetzes einen Rechtsanspruch auf Leistungen. Das dem Opferentschädigungsgesetz zugrunde liegende Territorialitätsprinzip wird damit durchbrochen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wollen wir schon wieder ein Privatissimum machen, Herr Kollege? Bitte.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. - Herr Kollege Lehrieder, nachdem diese Sache nun schon zum zweiten Mal vorgetragen wurde - auch der Kollege van Essen hat das ausgeführt -, möchte ich Sie herzlich bitten, zur Kenntnis zu nehmen und in Ihrer Antwort auf meine Frage zu bestätigen, dass es einen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen vom 28. März 2006 mit der Drucksachennummer 16/1067 gibt und dass es dazu allerdings einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt. Dort haben wir von dem ursprünglichen Härtefonds, auf den wir uns interfraktionell geeinigt hatten, weil das Ministerium signalisierte, dass es einen Anspruch nicht mittragen will, Abstand genommen und haben auch einen Anspruch in unseren Gesetzentwurf aufgenommen, nachdem das Ministerium erklärt hat, dass es einen solchen Anspruch finanziell mittragen würde.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut, Herr Kollege Montag, ich freue mich immer über einen Erkenntnisgewinn bei den Grünen, keine Frage. ({0}) Aufgrund des langen Gesetzgebungsverfahrens kenne ich nicht die Historie sämtlicher Gesetzentwürfe. Lieber Kollege Montag, ich nehme das zur Kenntnis. ({1}) - Bitte. - Die FDP schließlich verlangt lediglich eine Besserstellung von Personen, die im Ausland bei einem Terrorakt verletzt werden oder sonstwie Opfer von Straftaten geworden sind. Herr Kollege van Essen, Sie haben bereits ausgeführt, dass Sie Ihren eigenen Antrag für gegenstandslos erachten und für unseren Entwurf stimmen werden. Dafür bedanke ich mich. Die Richtung stimmt. Der Antrag von den Liberalen bleibt - das habe ich ausgeführt - knapp hinter unserem Entwurf zurück. Die BePaul Lehrieder lange der Ausländer, die in Deutschland verletzt werden, bzw. die der Deutschen, die im Ausland verletzt werden, sind nach unserem Dafürhalten noch nicht ausreichend berücksichtigt. Unser Entwurf dagegen wird beiden Gruppen gerecht. Darüber hinaus haben wir die Kostenaufteilung zwischen Bund und Ländern nach dem Opferentschädigungsgesetz geregelt. Wir sind darin übereingekommen, die Kosten pauschaliert abrechnen zu lassen. Herr Staatssekretär Thönnes hat auf die Problematik in seinem Eingangsstatement bereits hingewiesen. Der Bund erstattet den Ländern demnach pauschal 22 Prozent der Gesamtkosten nach dem Opferentschädigungsgesetz. Das entspricht einer Bundesbeteiligung von 40 Prozent an den Geldleistungen. Strittig zwischen Bund und Ländern war zuvor die Beteiligung an den Kosten für stationäre Heimpflege, die im Bereich des Opferentschädigungsgesetzes vollständig von den Ländern zu tragen sind, sowie die sachgerechte Trennung zwischen Geldund Sachleistungen im Einzelfall. Problematisch war in der Planung bisher, dass das verfassungsrechtliche Gebot des Art. 104 a Grundgesetz, wonach sich der Bund nicht an Sachleistungen beteiligen darf, de facto nicht erfüllt wurde. Gleichzeitig war ungewiss, ob der Bund seinen Anspruch auf eine korrekte Abrechnung der Geldleistungen gegenüber den Ländern erfolgreich würde durchsetzen können. Für die Zukunft können Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über die rechtliche Qualifizierung von Leistungsausgaben vermieden werden. Die pauschalierte Abrechnungsweise wird jeweils nach einem Zeitraum von fünf Jahren überprüft. So kann vermieden werden, dass sich die Kostenaufteilung in der Zukunft zuungunsten des Bundes oder der Länder verschiebt. Ich denke, es ist allen klar geworden, dass das Opferentschädigungsgesetz dringend reformiert werden muss. Ich bin mir sicher, dass auch die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen das so sehen. Deshalb bitte ich um breite Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf. Noch ein Wort zu den Vorrednern. Sie haben darauf hingewiesen, dass der Schutz vor Gewalttaten natürlich auch in Zukunft Priorität haben muss und auch haben wird. Wenn man bedenkt, dass gerade gestern der Prozess gegen die Mitglieder der sogenannten Sauerland-Gruppe eröffnet wurde, dann wird einem vor Augen geführt, dass die Gefährdung auch in Deutschland durchaus real ist. Wir werden weder unseren Bürgern noch den sich bei uns rechtmäßig aufhaltenden Ausländern eine Vollkaskoabsicherung gewähren können. Deshalb ist die Fortentwicklung dieses Gesetz vonnöten. Ich bedanke mich ebenfalls bei allen, die an diesem Gesetzgebungswerk konstruktiv mitgearbeitet haben. Danke schön. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben ihre jeweiligen Gesetzentwürfe für erledigt erklärt. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Damit kommen wir zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12697, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12273 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz - Drucksache 16/474 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Hans-Christian Ströbele, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 16/680 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Petra Pau, Dr. Gregor Gysi, Dr. Lothar Bisky, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz - Drucksache 16/1411 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt - Drucksache 16/12019 Berichterstattung: Abgeordnete Ingo Wellenreuther Michael Hartmann ({2}) Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Ingo Wellenreuther für die CDU/CSU-Fraktion.

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im kommenden Monat feiern wir den 60. Jahrestag unseres Grundgesetzes. Es hat unserem Land 60 Jahre lang Stabilität, Frieden und Freiheit gegeben. Dieser Umstand sollte eigentlich Anlass für uns alle sein, ein Loblied auf die parlamentarische Demokratie zu singen, anstatt heute eine verfassungsrechtliche und politische Grundsatzdebatte darüber zu führen, ob unsere repräsentative Demokratie überholt ist. ({0}) - Herr Wieland, ich komme nachher noch zu Ihnen. Die Befürworter von Plebisziten tun gerade so, als sei unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie eine minderwertige Form der Demokratie, ({1}) ein geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert werden muss. ({2}) Herr Wieland, das ist eine Geisteshaltung, die ich nicht teilen kann. Es wird suggeriert, die Einführung von Volksentscheiden sei ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit. Es wird behauptet, nur durch die direkte Demokratie könne das bürgerschaftliche Engagement gestärkt werden und könnten die Wähler wieder an die Wahlurnen zurückgeholt werden. ({3}) Dieser Auffassung ist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich nicht. ({4}) Deshalb halte ich, meine sehr geehrten Damen und Herren, keinen Zeitpunkt für geeigneter, die Anträge der Opposition abzulehnen, als diesen, kurz vor dem 60. Jahrestag des Grundgesetzes. Es sprechen nämlich weiterhin gewichtige Gründe klar gegen Plebiszite auf Bundesebene und für eine Beibehaltung unserer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Erstens. Auch wenn Herr Kollege Wieland eine andere Einschätzung der Geschichte hat: Volksabstimmungen bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung. ({5}) - Herr Wieland, der Tag des Bieres rechtfertigt nicht jeden dumpfen Zwischenruf. ({6}) Schon in der Weimarer Zeit haben sie das Volk aufgewühlt und gespalten und das Vertrauen ins Parlament zusätzlich erschüttert. Im Nazireich wurden Volksabstimmungen missbraucht, um diktatorische Entscheidungen im Nachhinein zu legitimieren. ({7}) Zweitens können Volksabstimmungen den immer schwierigeren und komplexeren Fragestellungen unserer pluralistischen Welt nicht gerecht werden. Ein Volksentscheid ist ein primitives Verfahren, bei dem eine Frage mit Ja oder mit Nein zu beantworten ist. Im Gegensatz dazu ist unser bestehendes Gesetzgebungsverfahren ein lernendes Verfahren. ({8}) - Wir sind hier in Berlin und nicht in Bayern, Herr Montag. ({9}) Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineingekommen ist. Nach der ersten Lesung schließt sich eine intensive Behandlung in Ausschüssen an. Sachverständigenanhörungen und Expertengespräche sowie Berichterstattergespräche werden durchgeführt. ({10}) Zudem wird eine Folgenabschätzung vorgenommen. Teilweise bewertet sogar ein extra eingerichtetes Gremium, der Normenkontrollrat nämlich, den entstehenden Zuwachs an Bürokratie. Das ist ein gründliches Verfahren, bei dem Kompromisse ausgehandelt werden zum Wohle der Allgemeinheit, aber auch zum Wohle von Minderheiten. Bei Volksentscheiden ist ein solch ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basierendes Entscheidungsverfahren nicht möglich. Drittens. Für besonders groß halte ich die Gefahr, dass wichtige Sachfragen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden werden, sondern danach, welche Interessengruppe die bessere Lobbyarbeit macht, wie schlagwortartig Parolen unters Volk gejubelt werden oder wer welche Prominenten mit entsprechender Werbewirkung für seine Sache gewinnen kann. Die Folge wäre ein unsachlicher Abstimmungskampf, der auch noch die Gefahr der Manipulation in sich birgt. Viertens ist meines Erachtens nicht einzusehen, warum sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und unpopuläre oder schwierige Entscheidungen dem Volk überlassen sollen. In jeder Legislaturperiode gibt es richtungsweisende Entscheidungen, für die man Politiker bzw. Parteien alle vier Jahre politisch zur Verantwortung ziehen kann.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieland?

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, Herr Wieland.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Wellenreuther, wenn es bei Volksbegehren darum geht, wie Sie sagten, in primitiver Weise schlagwortartig Positionen zur Abstimmung zu stellen, können Sie mir erklären, warum im Hinblick auf einen in Berlin am Sonntag stattfindenden Volksentscheid Ihr Fraktionsvorsitzender Volker Kauder heute in der Zeitung Der Tagesspiegel über fünf Zeilen hinweg offenbar schlagwortartig primitiv versucht, die Menschen an die Wahlurne zu treiben? ({0})

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Wieland, zu Berlin komme ich nachher noch. Verfahren, die in Gang sind und betrieben werden, muss man so betreiben, dass man sie gewinnt. ({0}) - Lassen Sie mich bitte ausreden, Herr Wieland. Die Frage war beendet. - Das heißt aber nicht, dass man deswegen das Verfahren als gut empfinden muss. ({1}) Diese Möglichkeit, alle vier Jahre die Politiker und die Parteien zur Verantwortung zu ziehen, wäre bei der Gesetzgebung durch Volksentscheide eingeschränkt. Damit würde insgesamt eine Abwertung des Parlaments einhergehen, und es würde zu einem weiteren Bedeutungsverlust beitragen, der bereits durch die Normenflut der europäischen Institutionen und die unsägliche Neigung, politisch brisante Debatten mehr in Talkshows als im Parlament auszutragen, eingetreten ist. Fünftens. Letztlich wäre die föderale Grundstruktur unseres Staates tangiert, weil die in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes garantierte grundsätzliche Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung nicht mehr gewährleistet wäre. Eine Konkurrenzvorlage durch den Bundesrat sehen die Gesetzentwürfe nämlich nicht vor. Für unsere Fraktion sind damit die Gründe für eine Ablehnung im Wesentlichen die gleichen, die ich Ihnen anlässlich der ersten Lesung der vorliegenden Gesetzentwürfe bereits genannt habe. Schauen wir uns aber noch einmal die Hauptargumente der Entwurfsverfasser an! Die Entwurfsverfasser behaupten immer wieder, durch die Möglichkeit von Plebisziten auf Bundesebene könne man der Politikverdrossenheit und dem Verlust des Vertrauens in die Politiker entgegenwirken. Den Gegnern von Plebisziten wird vorgeworfen, sie würden das Wahlvolk für dumm halten und kein Vertrauen in dessen Entscheidungskompetenz haben. Beides, Herr Wieland, ist nachweislich falsch und nichts anderes als plumpe Stimmungsmache und purer Populismus. ({2}) Ich habe im Übrigen noch nie verstanden - vielleicht hören Sie zu; dann verstehen Sie es -, warum der Vorschlag, dem Parlament in wichtigen Fragen die gesetzgeberische Entscheidungskompetenz zu entziehen und dem Volk zu übertragen, ausgerechnet zu einem höheren Vertrauen in die Parlamentarier führen soll. Was die behauptete höhere Wahlbeteiligung anbelangt - jetzt komme ich zu Berlin -, beweisen nicht nur die in Berlin durchgeführten bzw. bevorstehenden Volksentscheide das Gegenteil. 36 Prozent Wahlbeteiligung bei der Frage „Tempelhof“ und eine in gleicher Höhe erwartete Wahlbeteiligung bei der Frage „Pro Reli“ sprechen eine deutliche Sprache, nämlich: Direkte Demokratie führt eben nicht zu einer höheren Wahlbeteiligung. ({3}) Was das Thema Politikverdrossenheit anbelangt, hat in diesem Zusammenhang der Regierende Bürgermeister von Berlin seinen eigenen Beitrag geleistet, indem er im letzten Jahr vor der Abstimmung verkündete, dass der Berliner Senat unabhängig von der Entscheidung des Volkes über Tempelhof den City-Airport schließen werde. Neue Argumente sind nicht ersichtlich, auch nicht durch Herrn Wieland. Deshalb hat sich an meinem Fazit von vor drei Jahren nichts geändert. Ich fasse zusammen: Schon die Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente auf Bundesebene würde die Wesenszüge unserer Demokratie verändern. Ich kann deshalb nur raten: Erstens. Unterschätzen wir nicht die Gefahr des Populismus, die in Plebisziten steckt! Zweitens. Geringschätzen wir nicht unsere geschichtlichen Erfahrungen damit! Drittens. Überschätzen wir nicht deren Bedeutung im Kampf gegen Politikverdrossenheit! Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes parlamentarisches Verfahren und unseren starken Föderalismus wertzuschätzen. Unsere Bundestagsfraktion lehnt daher alle vorliegenden Gesetzentwürfe ab. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen: Sehr geehrte Wahlberechtigte hier und wo auch immer Sie uns zuschauen! Bei der Beratung heute geht es nämlich um Ihre Interessen. In den Verfassungen aller 16 Bundesländer finden sich Elemente direkter Demokratie, und das ist aus unserer Sicht auch gut so. ({0}) Nach unserer Auffassung ist es gerade nicht gut, dass davon im Grundgesetz nichts zu finden ist. Herr Kollege Wellenreuther, man kann zu allem verschiedene Ansichten haben, aber das als primitives Verfahren zu bezeichnen, ({1}) finde ich sehr mutig. Bei Ihnen in Baden-Württemberg, glaube ich, gibt es etwas Analoges, nämlich Kumulieren und Panaschieren. Das wäre dann ein weitaus primitiveres Verfahren. ({2}) Mal ganz ehrlich: Ob man bei einer Sachfrage mit Ja oder Nein entscheidet oder alle vier Jahre bei der Bundestagswahl ein Kreuz bei einer Partei macht - beides ist ähnlich einfach, um bei Ihrer Wortwahl zu bleiben. Von daher finde ich: Wie Sie sich hier dazu geäußert haben, ist dem Thema nicht angemessen. ({3}) Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion müssen und sollen grundlegende richtungsweisende Entscheidungen eines Staates vom Bürger mitgetragen und im Zweifel auch beeinflusst werden können, und zwar darüber hinaus, dass er alle vier Jahre ein Kreuz machen kann. Derartige Mitbestimmungsrechte würden nach unserer Überzeugung zu einer spürbaren Verbesserung ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung und auch zu einer Verbesserung der Demokratie führen. Demokratie wurde schon in der Antike als Gleichheit der Freien verstanden. Vor diesem Hintergrund ist aus unserer Sicht klar, dass man ohne freie Bürger keine Demokratie mehr braucht. Diesen Spruch könnten Sie sich vielleicht einmal merken. ({4}) Es war die FDP-Bundestagsfraktion, die zu Beginn dieser Legislaturperiode erneut einen Gesetzentwurf vorgelegt hat mit dem Ziel, plebiszitäre Elemente in das Grundgesetz einzuführen. Es ist richtig, dass sich auch andere Fraktionen mit diesem Thema beschäftigt haben, und dafür sind wir dankbar. Wir haben bis zum Schluss gehofft, dass der Bundestag vielleicht doch dazu kommt, in dieser Legislaturperiode endlich wenigstens irgendetwas einzuführen. ({5}) Dazu wird es vermutlich nicht kommen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grosse-Brömer?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, wenn er Spaß daran hat.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Piltz, ich habe natürlich gehofft, dass meine Zwischenfrage auch Ihnen Spaß macht; sonst hätte ich mich gar nicht gemeldet. Weil Sie fordern, zu ganz wichtigen Themen auch das Volk zu befragen, möchte ich Sie fragen: Geben Sie mir in der Retrospektive recht, dass, wenn man damals die Bevölkerung gefragt hätte, überaus wichtige Entscheidungen - ich nenne beispielhaft die Wiederbewaffnung der Bundeswehr oder den NATO-Doppelbeschluss -, die sich im Nachhinein geschichtlich als besonders bedeutsam erwiesen haben und gravierend positive Auswirkungen für unser Land hatten, von einer Mehrheit von bis zu 70 oder 80 Prozent abgelehnt worden wären, was letztendlich katastrophale Auswirkungen auf die deutsche Geschichte gehabt hätte?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Grosse-Brömer, ich habe so etwas geahnt; deswegen macht mir Ihre Frage keinen Spaß. Erstens unterstellen Sie, dass das Volk dümmer ist als wir. ({0}) Zweitens gehen Sie davon aus, dass wichtige Entscheidungen nur vom Parlament getroffen werden können. Drittens behaupten Sie, dass Sie genau wissen, welche Entscheidungen man dem Volk überlassen kann und welche nicht. Das alles halte ich für falsch. ({1}) Hinterher ist man immer klüger; das ist sicherlich so. Demokratie ist nicht einfach. Wer Angst davor hat, dem Volk etwas zu erklären, und sich vor einer Entscheidung fürchtet, der muss sich gut überlegen, ob er hier richtig ist. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der Kollege möchte noch einmal nachfragen.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Antwort war eigentlich so deutlich, dass er jetzt keinen Spaß mehr haben kann. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir machen alles davon abhängig, ob man Spaß hat. Herr Kollege, die Kollegin möchte mit ihrer Rede fortfahren. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unser Entwurf - das ist auch ein Teil der Antwort auf Ihre Frage - ist im Übrigen der einzige, in dem die Vorlage von vier Finanzierungsmodellen für finanzwirksame Initiativen gefordert wird. Daneben hatten wir Quoren vorgeschlagen, die aus unserer Sicht nachvollziehbar, zielführend und in der Praxis durchaus umsetzbar gewesen wären; denn gerade die Bestimmung der Quoren ist eine der Kernfragen bei der Diskussion um die Einführung von Elementen direkter Demokratie. Diese Quoren müssen hoch genug sein, um auszuschließen, dass Minderheiten bestimmen, was wir hier tun. Sie dürfen aber nicht so hoch sein, dass nicht die Chance besteht, etwas zu entscheiden. Ich halte es für unsere Aufgabe, hier einen Ausgleich zu finden, da ansonsten das Ziel, dass Politik auf eine breitere Akzeptanz stößt und bürgerschaftliches Engagement gefördert wird, ins Gegenteil verkehrt würde. Diese Gefahr sehen wir insbesondere bei dem Entwurf der Linken. Für die Volksinitiative sind nach Ihrem Entwurf bereits 100 000 Stimmen ausreichend. Diese Zahl ist aus unserer Sicht viel zu gering. Da mit dem Instrument der Volksinitiative unmittelbar auf unsere Entscheidung Einfluss genommen werden kann, ist es notwendig, eine solche Entscheidung auf eine breite Basis zu stellen. ({0}) Die in unserem Entwurf vorgesehenen 400 000 Stimmen werden einer solchen Anforderung sicherlich besser gerecht. Dasselbe gilt für das Quorum bei Volksbegehren. Natürlich klingt die Zahl von 1 Million Stimmberechtigten beim ersten Hinhören sehr hoch. Allerdings halte ich es für klüger, das Quorum für ein Volksbegehren an die Zahl der Wahlberechtigten zu koppeln; sonst müssten diese Quoren entsprechend der demografischen Entwicklung immer wieder geändert werden. Wir haben das in unserem Antrag vorgeschlagen. Nach unserer Einschätzung birgt Ihr Gesetzentwurf die Gefahr in sich, Referenden herbeizuführen, die von der Masse der Bevölkerung nicht gestützt werden. Eine solche Lobbydemokratie, die wir dann hätten, wollen wir nicht. Deshalb werden wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({1}) Letztlich ist auch die fehlende Beschränkung der Möglichkeit für Volksinitiativen vor den Wahlen ein Grund dafür, warum wir den Vorschlag der Linken für nicht zustimmungsfähig halten. Plebiszitäre Elemente sind das Instrument, um einzelne Sachfragen vom Volk mitbestimmen zu lassen. Keinesfalls können wir uns damit aus der Verantwortung stehlen. Wir sind das Parlament und müssen auch entscheiden. Sachfragen zu jedem Wahltermin zur Abstimmung stellen zu dürfen, an deren Ausgang der Bundestag dann auch noch förmlich gebunden wäre, drängt nach unserer Ansicht einzig Populisten ins Rampenlicht. ({2}) - Ein bisschen denken müssen Sie schon, bevor Sie hier solche Zwischenrufe machen. ({3}) Deshalb können wir Ihnen nicht folgen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Großen Koalition, ich kenne Ihre Voten aus den Ausschüssen. Wir haben in Berichterstattergesprächen versucht, noch etwas zu bewegen. Das hat leider nicht geklappt. Ich kann nur noch einmal an Sie appellieren, darüber nachzudenken, ob Sie die aus meiner Sicht historische Chance, die sich zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes eröffnet, den Bürgerinnen und Bürgern Politik näherzubringen - darum geht es doch -, erneut verstreichen lassen wollen. Elemente direkter Demokratie bilden hierbei einen Ansatz von vielen. Das Grundgesetz lässt es jedenfalls zu, weiterführende direkte Beteiligungsrechte für die Bürgerinnen und Bürger zu verankern. Dafür brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit in diesem Haus. Wir schaffen in dieser Legislaturperiode wie auch schon früher eine Art Minderheitenschutz für die CDU/CSU, die mit ihrer Haltung zu diesem Thema alleine dasteht. Für uns ist es aber ein wichtiges Thema. Ich hoffe, dass es in der nächsten Legislaturperiode eine breitere Basis dafür gibt, das ganze Haus. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Michael Hartmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Piltz, vielleicht werde ich wenig Spaß, Lust und Freude verbreiten. ({0}) Ich denke, es ist unsere Aufgabe, von den alten Denkweisen Abstand zu nehmen: Auf der einen Seite wird behauptet, die repräsentative Demokratie in purer Form bringe das Heil; auf der anderen Seite glaubt man, nur die Ergänzung der Verfassung um sogenannte plebiszitäre Elemente bringe das Heil. Beides ist genauso richtig wie falsch. Herr Kollege Wellenreuther, Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt, dass wir in diesem Jahr den 60. Jahrestag des Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland begehen werden. Ich bin wie Sie der Auffassung, dass wir allen Grund haben, klarzumachen, dass dieses Land alles in allem deshalb so gut funktioniert und deshalb weltpolitisch und innenpolitisch so viel Positives entscheiden konnte, weil wir die repräsentative Demokratie nach Weimar erstmals ernst genommen haben. Das ist wahr und richtig; es verlangt, dass wir Parlamentarier es nicht zulassen, dass dieses Parlament, parlamentarische Prozesse und Entscheidungen diffamiert werden. Sehr geehrte Frau Piltz, genauso wahr ist: Wer will, dass Demokratie - wie dieses immer noch sehr moderne Grundgesetz - lebt und lebendig bleibt, der muss wie eh und je bereit sein, Entwicklungen und Veränderungen zuzulassen. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Dieses Grundgesetz lässt es nicht nur zu, sondern hat es verdient, dass wir die parlamentarische Demokratie weiterentwickeln, im Vertrauen auf die Entwicklungen der letzten 60 Jahre. Das heißt, wir Sozialdemokraten sind für Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide. Seien Sie sicher: Die Welt würde nicht untergehen, wenn wir die Einführung solcher Elemente heute beschlössen. ({1}) Wir wissen aber, dass sie kein Allheilmittel sind. Sehr geehrter Herr Wieland, gerade Ihre Fraktion, die jetzt, post festum, immer wieder beklagt, unter welch schrecklichen Koalitionszwängen man war, ist nun auch nicht gerade glücklich, auf der Oppositionsbank zu sitzen. Ich gebe gerne zu, dass wir heute deshalb mit unserem Koalitionspartner stimmen werden, weil wir die Prüfung, die nach der Koalitionsvereinbarung vorgesehen war, nicht in der Weise, Intensität und Gründlichkeit und nicht mit der nötigen Verhandlungsbereitschaft aufseiten der Union durchführen konnten, wie wir es uns gewünscht hätten. Das ist nun einmal so in Koalitionen. Vielleicht erinnern Sie sich dunkel daran, Herr Ströbele allemal. ({2}) Das heißt aber nicht, dass man das Ziel aufgibt und daran verzweifelt, wenn andere im Moment vielleicht noch nicht so einsichtig sind, wie wir es uns wünschen. Eines sage ich nach ernster Abwägung sehr deutlich in Richtung der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU: Ich bin davon überzeugt, dass dieses Thema, wenn wir uns heute dagegen entscheiden, damit noch lange nicht von der Tagesordnung ist. Ich bin davon überzeugt, dass auch Sie eines Tages erkennen werden: Es ist gut, auf diesen Zug aufzuspringen - Herr Beckstein, der Bundespräsident und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts halten plebiszitäre Elemente schon jetzt für etwas durchaus Gutes und Sinnvolles, dafür muss man kein Systemgegner sein -; aber in der Lokomotive werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, leider nicht sitzen. Ich greife den Gedanken noch einmal auf: Wir wissen natürlich, dass die Einführung von Volksbegehren, Volksinitiativen und Volksentscheiden kein Allheilmittel ist. Wer wäre so vermessen, dies zu behaupten? Wir wissen auch, dass es Risiken, Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und Gefährdungen gibt. Lassen Sie uns aber doch darüber diskutieren, wie wir ein Element, das sich in 16 Bundesländern und allen Kommunen bewährt hat und nicht zum Untergang des Abendlandes geführt hat, auch auf Bundesebene einführen können. ({3}) Wir haben dieses Instrument in allen Ländern. Der Föderalismus ist deswegen nicht untergegangen, geschätzter Herr Wellenreuther. Wir haben es in allen Kommunen. Die kommunale Selbstverwaltung und die Entscheidung durch die Räte bestehen trotzdem fort. Dieses Instrument wird - jetzt wird es paradox - mit Ihrer Zustimmung auch in Europa eingeführt. Nur auf der nationalen Ebene haben wir es nicht. Wie bekommen Sie das logisch zusammen? Warum debattieren wir nicht wenigstens über die Volksinitiative? Da ich ein intensives Kopfschütteln wahrnehme, will ich an dieser Stelle Herrn Beckstein zitieren, der unverdächtig ist, weil er kein Sozialdemokrat ist. ({4}) Er hat im Zusammenhang mit plebiszitären Elementen ausgeführt - vielleicht ist er deswegen nicht mehr Ministerpräsident -: Michael Hartmann ({5}) Sie hat sich als sinnvolle Ergänzung der repräsentativen Demokratie bewährt. ({6}) Sie ist außerordentlich wichtig, weil sich die Mitwirkung der Bürger nicht darauf beschränkt, alle vier oder fünf Jahre zur Wahl zu gehen. Die Bürger können punktuell Änderungen politischer Entscheidungen durchsetzen. … Die Volksgesetzgebung belebt die politische Debatte und bringt eine Stabilisierung der politischen Mehrheit. Das rufe ich Ihnen am Tag des Bieres zu. ({7}) Wenn es darum geht, die Stärkung plebiszitärer Elemente abzulehnen, werden alle apokalyptischen Reiter in die Schlacht geführt: die Manipulationsfähigkeit des Volkes, die Komplexität der Themen, das Ausgeliefertsein gegenüber Populisten. Mit dieser Argumentation können Sie Demokratie generell infrage stellen. Ich frage leise und selbstkritisch, an unsere eigene Adresse gerichtet: Durchschauen wir immer alles, worüber wir zu entscheiden haben, bis ins Detail? Ich will das Wort Finanzmarktkrise nur in einer Fußnote vermerken. Sind nicht auch wir Manipulationsversuchen ausgesetzt? Entscheiden wir nach politisch aufgeladenen Diskussionen wirklich immer nur nach sachlichen Kriterien? Spielen nicht viele andere Erwägungen dabei auch eine Rolle? Wer dieses Argument ins Feld führt und mit dem Finger auf andere zeigt, der muss daran denken, dass drei Finger auf ihn selbst zeigen. Gerade weil unsere Welt so kompliziert geworden ist - was zweifelsohne der Fall ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union -, halte ich diese Elemente für sinnvoll. Wir wären dadurch in Prozessen, in denen solche Entscheidungen anstünden, wenn sie in der Verfassung verankert wären und mit einem hohen Quorum Realität würden, liebe Frau Piltz, in stärkerem Maße gezwungen, zu erklären, warum wir was wie wollen: einen NATO-Doppelbeschluss, Steuererhöhungen, Steuersenkungen und vieles andere mehr. ({8}) Es bleibt dabei - das ist bei Sozialdemokraten nun einmal so -: Wir werden weiterhin beharrlich an diesem Thema arbeiten. Es wird weder bei uns noch bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, von der Tagesordnung zu nehmen sein. Wir halten es da ja mit zwei Kanzlern. ({9}) Der eine Kanzler hat gesagt: Mehr Demokratie wagen. Er hatte recht; das war Willy Brandt. Die Kanzlerin hat gesagt: Mehr Freiheit wagen. - Wir wollen mehr Freiheit für jene, von denen alle Staatsgewalt ausgeht: für das Volk. Vielen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich sehr gewundert, als der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering kürzlich eine gesamtdeutsche Verfassung anstelle des Grundgesetzes gefordert hat. ({0}) Seine Begründung war - so wurde er zitiert -, der Osten leide darunter, dass 1989/90 keine wirkliche Vereinigung organisiert wurde. Über die historische Alternative - Vereinigung oder Beitritt - will ich jetzt gar nicht reden. Komisch finde ich allerdings, dass der Kollege Müntefering so plötzlich, fast 20 Jahre später, von einem Osterleuchten ereilt wurde, ({1}) und das ausgerechnet in Wahlkampfzeiten. Zur Verfassungsfrage. Vielfach vergessen und gern verschwiegen wird, dass damals der viel gelobte runde Tisch in der DDR einen Entwurf für eine neue Verfassung der DDR vorgelegt hatte, quasi als Mitgift für eine Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik. ({2}) In diesem Entwurf standen ganz sonderbare Dinge. Beispiel eins: Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung … dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben werden. Ich finde, das ist hochaktuell. ({3}) - Sie haben recht damit, dass es nach 1989 hochaktuell war. Das war eine Lehre aus dem Scheitern der DDR. Es wäre durchaus ein gemeinsamer Aufbruch beim Thema Datenschutz gewesen. Beispiel zwei: Die Staatsflagge der … Republik trägt die Farben schwarz-rot-gold. Das Wappen des Staates ist die Darstellung des Mottos „Schwerter zu Pflugscharen“. Auch das wäre einer aktuellen Debatte würdig. ({4}) Der Entwurf wurde allerdings in der Volkskammer der DDR nicht einmal mehr behandelt. Die Ost-CDU wollte es nicht, weil die West-CDU es nicht wollte. Weil auch die West-SPD es nicht wollte, wollte die Ost-SPD ebenso wenig darüber reden. Auch das gehört zum Rückblick. Übrigens gab es nach der Vereinigung ein Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder. Wieder ging es um eine moderne Verfassung, die das neue Deutschland zusammenführen sollte. Wieder sollte dies durch Volksabstimmungen geschehen. Die Mehrheit im Kuratorium waren übrigens Juristen sowie Völker- und Bürgerrechtler aus den alten Bundesländern. Auch diese Initiative scheiterte. Nun können Sie raten, an wem. - Richtig: erneut an der CDU/CSU und an der SPD. Auch das sollte ein SPD-Vorsitzender eigentlich wissen. Aber auch Detailverbesserungen am Grundgesetz waren mit der SPD bisher nicht möglich. Über eine mögliche EU-Verfassung wurde 2004 rund um uns herum vom Volke abgestimmt. In Deutschland durfte man das nicht. Nur in einem kleinen gallischen Dorf in der Eifel fand eine Abstimmung statt. Übrigens hat die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dort der EU-Verfassung zugestimmt. Auf Bundesebene indes führte kein Weg zu mehr Demokratie. Damals regierten die SPD und die Grünen. Ich weiß noch genau, wie Joseph Fischer hier stand und sagte, dass er sich sein EU-Werk doch nicht vom Volk zerreden lasse. Ich weiß auch, dass der damalige Kanzler, Gerhard Schröder, log, als er hier an diesem Pult sagte, Volksabstimmungen seien per Grundgesetz verboten. Beides war absurd. ({5}) Der Kollege Müntefering war seinerzeit übrigens Fraktionsvorsitzender der SPD. Ich kann mich an keine Widerworte von ihm erinnern. Dabei steht im Grundgesetz in Art. 20: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt. Genau darum geht es heute. Es liegen drei Anträge vor: von der FDP, von der Fraktion Die Linke und von der Fraktion Bündnis 90/Grünen. Alle drei begehren grundsätzlich, dass Volksabstimmungen auf Bundesebene endlich zugelassen werden. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Modalitäten und der Quoren; Kollegin Piltz hat es schon dargestellt. Eines steht jedoch fest: Ich denke, wir hätten uns - bei entsprechendem politischen Willen - auf den Einstieg in direkte Demokratie einigen können. Letztendlich wird die heutige Abstimmung zum Test für die SPD. Sie werden gleich Zeugnis ablegen, wie Sie es mit der Forderung Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ halten und wie glaubwürdig Ihr Parteivorsitzender Müntefering mit seinen aktuellen Forderungen ist. ({6}) Stimmen Sie heute mit Nein, dann lassen Sie bitte auch die Ulkdebatten über eine neue gesamtdeutsche Verfassung. Sollten Sie mit Ja stimmen, dann emanzipieren Sie sich von der Unionsblockade. Sprengen Sie also Ihre Fesseln! Eines möchte ich uns noch ernsthaft zu bedenken geben: Wir haben es im Lande mit Parteienverdruss, aber auch - das ist noch viel schlimmer - mit Demokratieverdruss zu tun. Demokratieverdruss ist ein Einfallstor für rechtsextreme Kameraden. ({7}) Ich denke, sich selbst mehr einzumischen, ist zwar kein Allheilmittel gegen Demokratieverdruss, aber ein Einstieg in mehr direkte Demokratie. Danke. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wolfgang Wieland das Wort.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Sie alle verbringen, ob gerne oder weniger gerne, einen Großteil Ihrer besten Jahre in der wunderschönen Stadt Berlin. Deswegen wird den meisten von Ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass die öffentliche Debatte, die Gespräche der Menschen und das, was in den Medien steht, nicht, wie sonst üblich, von vermüllten Parks und Hundekot, ja noch nicht einmal von der Weltwirtschaftskrise beherrscht wird, sondern von einem Thema, das viele Jahrzehnte völlig randständig war: vom Religionsunterricht. In einer Stadt, von der Ihr Säulenheiliger Konrad Adenauer einst sagte, hier komme er sich immer vor wie in einer heidnischen Stadt, ({0}) wird auf einmal die Sache mit Gott debattiert. Dies geschieht zum Teil allerdings in etwas skurriler Weise. So fragt die Zeit von heute: „Ist Gott ein Wessi?“, um dann einen langen Artikel über diese Frage zu verfassen. Sicherlich wird das morgen von Bild und B.Z. noch getoppt, vielleicht mit der Frage: „Bezieht Gott jetzt auch Hartz IV?“ oder in ähnlicher Weise. Das Entscheidende ist aber - das sollten Sie, Herr Wellenreuther, einmal zur Kenntnis nehmen -: Ohne direkte Demokratie auf Landesebene gäbe es diese notwendige und richWolfgang Wieland tige Auseinandersetzung um essenzielle ethische Fragen, die im Übrigen von einem aktiven CDU-Mitglied initiiert wurde, gar nicht. ({1}) Obwohl Sie selbst diese Auseinandersetzung erst möglich gemacht haben, stellen Sie sich hier hin und verwenden in diesem Zusammenhang Begriffe wie „primitiv“, „Demagogie“ und „populismusanfällig“. Das, was die Union hier abliefert, ist eine unglaubliche Heuchelei. ({2}) Wir mussten Sie unentwegt treiben, als es darum ging, die direkte Demokratie einzuführen, zunächst auf bezirklicher bzw. kommunaler Ebene und dann auf Landesebene. Immer war folgende Beobachtung zu machen: Sobald die direkte Demokratie eingeführt war, war die CDU die erste politische Kraft, die sie eingesetzt hat. ({3}) Beispielsweise haben Sie ein Bürgerbegehren gegen die Rudi-Dutschke-Straße initiiert. Noch am Abend des Volksentscheids zum Weiterbetrieb des Flughafens Tempelhof ließen Sie Ihren damaligen Chef Friedbert Pflüger sagen: Wir haben zwar nicht die Mehrheit erzielt, aber bei dieser Volksabstimmung dennoch gewonnen. ({4}) Keine Partei hat diese Abstimmungen so funktionalisiert wie die Union. Aber gerade Sie beschwören hier den Geist von Weimar. Sie argumentieren nach dem Motto: Für direkte Demokratie auf Bundesebene ist die Bevölkerung zu blöd. - Das darf doch nicht wahr sein. ({5}) - Doch. Das hat auch die Kollegin Piltz gesagt; das war ihre Aussage. - Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: Ein Demokrat, der das Demos, das Volk, nicht für fähig hält, seine Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, verrät die Idee der Demokratie. Darüber sollten Sie einmal nachdenken, Herr Kollege Wellenreuther. ({6}) Wie die Kollegin Piltz schon angedeutet hat, haben wir, die Opposition, sehr viel Geduld gehabt. Wir, zunächst der Kollege Burgbacher, später ich, haben Ihnen immer wieder angeboten, informelle Runden durchzuführen und dort über alles zu reden. Außerdem haben wir Ihnen verschiedene Kompensationsangebote gemacht, zum Beispiel die Legislaturperiode zu verlängern. Zu einer ernsthaften Verhandlung ist es aber nie gekommen, weil Sie nicht wollten, ohne Argumente. Als der Kollege Hartmann das gerade schilderte, blickte er mitleidheischend zu uns und sagte: Ihr wisst ja, wie es ist, in einer Koalition geknebelt zu werden. Das wissen wir in der Tat sehr genau, Herr Kollege Hartmann. Aber ich sage Ihnen: Diese Koalition ist inzwischen dermaßen zerrüttet, dass das für Sie eigentlich kein Grund sein dürfte, heute unserem Gesetzentwurf, der mit dem seinerzeit unter Rot-Grün erarbeiteten Gesetzentwurf im Übrigen wortgleich ist, nicht zuzustimmen. ({7}) Geben Sie sich also einen Ruck. Die Kollegin Pau hat recht: Stimmen Sie heute einmal mit Ja! ({8}) Ich komme zum Schluss. Auch zu Zeiten der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise malen wir keine Horrorszenarien an die Wand, und zwar deshalb nicht, weil wir davon überzeugt sind, dass wir keine Weimarer Verhältnisse haben und sie auch nicht bekommen werden. Es gibt aber Alarmsignale: So lag die Wahlbeteiligung bei der Bürgermeisterwahl in Düsseldorf, bei der nur zwei Personen gegeneinander antraten und somit eine einfache Entscheidung zu treffen war, bei nur 38 Prozent. ({9}) Wahlbeteiligungen bei Landtagswahlen von unter 50 Prozent sind Menetekel. Wenn dann jemand wie der Spiegel-Journalist Gabor Steingart hingeht und unverantwortlich predigt, man solle gar nicht mehr wählen - und damit sein Buch verkauft -, kann das im Umkehrschluss nicht heißen, dass wir aufhören, nachzudenken, ({10}) sondern es muss heißen, dass wir uns bemühen, die Demokratie aktiver, vitaler zu machen. Dazu gehört, Instrumente, die sich auf kommunaler und auf Landesebene inzwischen hundertfach bewährt haben, auch auf Bundesebene einzuführen. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege!

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Frau Präsidentin: Das ist mein letzter Satz.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Einen Moment! Ich wollte Sie fragen, ob Sie, wohlwissend, dass Sie ganz knapp vor dem Ende Ihrer Redezeit stehen, noch eine Zwischenfrage zulassen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, selbstverständlich. Die Zwischenfrage lasse ich noch zu, und dann komme ich zum Ende.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Mücke, bitte sehr.

Jan Mücke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003813, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie haben gerade eindrucksvoll darüber gesprochen, wie wichtig Elemente der direkten Demokratie sind. Wie steht es, was die Akzeptanz von Bürgerentscheiden angeht, mit der Haltung Ihrer eigenen Partei? Sie haben gesagt, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger dafür entscheiden, nicht zur Wahl zu gehen. Glauben Sie nicht auch - wie ich -, dass sich der eine oder andere davon abgeschreckt fühlen könnte, dass sein Votum bei einem Bürgerentscheid, beispielsweise zum Bau der Waldschlößchenbrücke in Dresden, nicht ernst genommen wird, beispielsweise von Ihrer Partei?

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, bei der direkten Demokratie gilt generell: Wenn ich sie nur so lange will, wie ich glaube, dass sie meinen Zielen dient, wenn ich sie wie beispielsweise Parteivorsitzender Seehofer - der Vorsitzende der Partei der Präsidentin - auf Bundesebene befürworte, allerdings nur in europapolitischen Fragen, wenn ich das Ganze also instrumentalisiere, aber nicht bereit bin, auch Ergebnisse, die mir nicht gefallen, zu akzeptieren, dann habe ich ein falsches Verhältnis zur direkten Demokratie. Das ist keine opportunistische, das ist eine prinzipielle Frage. Wenn ich direkte Demokratie will, dann muss ich die Ergebnisse akzeptieren. ({0}) - Vielen Dank. - Wir werden dahin kommen. In der nächsten Legislaturperiode liegt das hier wieder auf dem Tisch. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist über drei Jahre her, dass die Oppositionsfraktionen Gesetzentwürfe zu einer Volksgesetzgebung auf den Tisch gelegt haben. Es ist schade, dass die Diskussion darüber nicht zeitnäher verlaufen konnte; das hätte die Möglichkeit eröffnet, modifizierte Anträge zu diesem Thema noch in dieser Legislaturperiode zu stellen. Es gibt in diesem Hause eine breite parlamentarische Mehrheit für die Einführung einer Volksgesetzgebung. Die CDU/CSU verweigert sich allerdings, weil sie der Bevölkerung letztlich nicht traut und ihr auch nichts zutraut. Damit diese Partei nicht weiter blockieren kann, darf sie künftig kein Drittel der Wählerstimmen mehr erhalten; denn bei Betonköpfen auf einen Sinneswandel zu hoffen, scheint vergeblich. Dass diese Partei in der Sache total unglaubwürdig ist, sieht man beispielsweise an der schwächelnden Berliner CDU, die sich ausgerechnet über Volksentscheide als außerparlamentarische Opposition neu zu erfinden versucht. Auch die Haltung der SPD ist unakzeptabel. In der Begründung der Ablehnung der drei vorliegenden Gesetzentwürfe sagen Sie zwar, dass Sie grundsätzlich für die Einführung von mehr direkter Demokratie sind. Sie kuschen aber vor Ihrem Koalitionspartner und stimmen aus Machterhaltungsinteressen gegen Ihre eigene Überzeugung. Rot-Grün hat ja, wie wir gehört haben, einen Gesetzentwurf eingebracht, der mit dem Gesetzentwurf, den die Grünen heute einbringen, identisch ist. Weil Ihnen zur Rechtfertigung Ihres Umfallens nichts Besseres einfällt, warnen Sie vor Populismus und Demagogie. Das ist einfach nur irreführend. Es gibt Gründe dafür, dass das repräsentativ-demokratische System in einer ernsthaften Legitimationskrise steckt. Ausdruck dafür ist die immer weiter sinkende Wahlbeteiligung. Einer der Gründe ist, dass sich die Menschen in die politischen Entscheidungsprozesse nicht einbezogen fühlen. Sie sagen: Die da oben in Berlin machen sowieso, was sie wollen. Es muss also darum gehen, den Bürgerinnen und Bürgern größere Verantwortung zu übertragen. Elemente der direkten Demokratie im Grundgesetz können ein erster Schritt zum Herauskommen aus der Zuschauerdemokratie sein. Sie wären ein Angebot an die Menschen, sich einzumischen. Einmischen können sie sich heute bereits in allen 16 Bundesländern. Dies wird bei ganz konkreten Projekten bereits gemacht. Warum sollen die Menschen bei Volksabstimmungen auf Bundesebene dümmer als auf Landesebene sein? Diese Logik der CDU/CSU erschließt sich mir nicht. ({0}) - Das haben Sie gesagt. ({1}) Von den drei Oppositionsparteien hätte ich mir eine gemeinsame Initiative für mehr direkte Demokratie gewünscht, wie es sich die Berichterstatter der FDP und der Linken im Innenausschuss auch gewünscht haben. Ein parteiübergreifender Gesetzentwurf zu diesem Thema wäre für die nächste Legislaturperiode ein qualitativer Sprung; dann könnte über die Öffentlichkeit mehr Druck auf die CDU/CSU ausgeübt werden. Ich selbst hoffe, dass die Berlinerinnen und Berliner am kommenden Sonntag mit einem klaren und deutlichen Nein zeigen, dass Volksentscheide gegenüber Populismus und Demagogie durchaus immun machen können. Danke schön. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir Deutschen feiern in diesem Jahr 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 60 Jahre Grundgesetz und damit auch 60 Jahre freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die Verfassungsväter und die Verfassungsmütter - zu ihnen gehörte federführend der große SPD-Mann Carlo Schmid, lieber Herr Kollege Hartmann - haben sich meines Erachtens ganz bewusst und mit sehr guten Gründen für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie als unsere Staatsform entschieden. Es geht nicht darum, ob direkte Demokratie besser oder schlechter als die parlamentarischrepräsentative Demokratie ist. Mein Hauptvorwurf gegen die drei Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen ist, dass allen drei Entwürfen die Behauptung inhärent ist, dass die Gesetzgebung, die auf direkter Demokratie basiert, besser oder wahrer sei als die Gesetzgebung, die auf der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie beruht. ({0}) Dies ist nun einmal eindeutig falsch. ({1}) Das Leitwort des früheren Kanzlers Willy Brandt ist genannt worden: „mehr Demokratie wagen“. ({2}) Dieses Zitat war so überflüssig wie vielleicht der Kanzler selbst auch, ({3}) weil wir seit 60 Jahren mit unserer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie sehr gut gefahren sind. Gerade anlässlich dieses Jahres können wir auf 60 Jahre parlamentarisch-repräsentative Demokratie stolz sein. Es ist ein Trugschluss, anzunehmen, dass direkte Demokratie dazu führe, dass die Bevölkerung größeren Anteil an politischen Vorgängen nimmt und größeres Interesse an politischen Vorgängen zeigt. An dieser Stelle ist zu fragen, weshalb die Wahlbeteiligung in allen 16 Bundesländern unabhängig davon sinkt, welche Regierungskonstellation gerade am Ruder ist, obwohl mittlerweile, wie schon erwähnt wurde, in die Verfassungen aller 16 Länder plebiszitäre Elemente eingefügt wurden. Das Gegenteil ist also der Fall: Das Interesse, die Anteilnahme der Bevölkerung nimmt nicht zu; sie nimmt meines Erachtens eher ab, wenn man an sie in großem Maße Verantwortung delegiert, die an sich uns gewählten Volksvertretern zusteht. Ich verwahre mich sehr deutlich gegen den Vorwurf, dass das Volk dümmer sei als die Politiker. Das ist eine infame Unterstellung. Aber man muss nun einmal zur Kenntnis nehmen, dass es die Aufgabe von gewählten Volksvertretern ist - sie verfügen auch über das entsprechende Handwerkszeug -, sich teilweise Tag und Nacht mit den Materien zu beschäftigen, über die wir hier zu entscheiden haben. Dann müssen wir auch Manns genug sein, diese Entscheidungen zu treffen und Lösungen für die Herausforderungen zu finden, die sich Deutschland stellen. Meines Erachtens wäre es feige und verantwortungslos, wenn wir hingingen und diese Verantwortung delegierten und an die Bevölkerung zurückgäben. Sehr verehrter Herr Kollege Hartmann, Sie haben ein flammendes Plädoyer für eine verstärkte Einführung von Volksgesetzgebung in das Grundgesetz gehalten. ({4}) Mich wundert es nur, warum Sie in sieben Jahren rotgrüner Regierungskonstellation diesen Wunsch nicht umgesetzt haben. ({5}) Die Grünen sind ja offenbar dafür, wobei sie bei manchen Materien eine Ausnahme wollen. ({6}) - Richtig, Herr Kollege. Genau bei diesem Punkt bin ich auch dagegen. Es wäre fatal, wenn wir die Wiedereinführung der Todesstrafe zum Gegenstand eines Volksentscheids machen würden. ({7}) Die Tatsache, dass Sie diesen Umstand in Ihrem Gesetzentwurf explizit ausgenommen haben, zeigt aber doch schon eindeutig, worin genau das Gefahrenpotenzial von Volksgesetzgebung und direkter Demokratie liegt: ({8}) Bei solchen Themenstellungen, die sich mit Sicherheit auch noch in anderer Form ergeben könnten, bestünde genau die Gefahr, dass sachfremde Erwägungen vorangestellt und vielleicht auch aufgrund von aktuellen Ereignissen Emotionen geschürt und letztendlich Entscheidungen gefällt werden, die alles andere als sachgerecht und zielführend sind. Stephan Mayer ({9}) ({10}) Diese große Gefahr besteht, und Sie haben sie selbst gesehen. Deswegen haben Sie sie in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen. ({11}) Weil hin und wieder die CSU genannt wurde - ich freue mich ja über diese populäre Nennung -: Ich ziehe eine ganz klare Trennlinie zwischen der Einführung von plebiszitären Elementen auf der kommunalen bzw. auf der Landesebene und deren Einführung auf der Bundesebene. ({12}) Um dies klarzumachen, damit das nicht unterstellt wird: Ich bin nicht der Meinung, dass die kommunale Ebene unwichtiger ist als die Bundesebene. Ganz im Gegenteil: Viele Entscheidungen und Vorgänge auf kommunaler Ebene sind für die Menschen wesentlich erfahrbarer und unmittelbarer als manches, was wir hier auf Bundesebene entscheiden. Ich möchte nur zu bedenken geben, dass es sogar ein sprichwörtliches Gesetz gibt, das nach dem Vorsitzenden einer Bundestagsfraktion benannt wurde, wonach kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es in den Bundestag hineingekommen ist. ({13}) Dieses Gesetz galt auch schon vor dem genannten SPDFraktionsvorsitzenden. ({14}) Durch dieses Gesetz wird ganz eindeutig gezeigt, dass die Materien auf Bundesebene, ob wir wollen oder nicht, teilweise unheimlich komplex sind und dass es aus unterschiedlichen Gründen durchaus auch während eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens Notwendigkeiten gibt, Änderungsanträge zu stellen und Änderungen an Gesetzentwürfen vorzunehmen. Diese Möglichkeit haben Sie nicht, wenn Sie diesen Gesetzentwurf der Bevölkerung zur Entscheidung vorlegen und sie nur eine Entscheidung zwischen Ja und Nein treffen kann. Viele Fragestellungen auf der kommunalen Ebene sind nicht unwichtiger als auf der Bundesebene, hinsichtlich der Entscheidungsfindung und der Meinungsbildung in vielerlei Hinsicht aber doch einfacher als viele Vorgänge, über die wir hier auf Bundesebene zu entscheiden haben. ({15}) Weil auch die Positionierung der CSU zu Volksabstimmungen auf Europaebene genannt wurde, möchte ich auch ein ganz klares Wort dazu sprechen: Auch hier kann ich eine sehr stringente Trennlinie zwischen meiner ablehnenden Haltung bezüglich plebiszitärer Elemente auf Bundesebene und dem berechtigten Ansinnen, verstärkt plebiszitäre Elemente auf europäischer Ebene einzuführen, ziehen. ({16}) Wenn es darum geht, unwiderruflich und irreversibel Gesetzgebungskompetenzen, die in den Händen der Nationalstaaten liegen, also nationale Hoheitsrechte, an eine supranationale Ebene abzugeben, zum Beispiel an die Ebene der Europäischen Union, dann ist es meines Erachtens durchaus opportun und sogar zwingend notwendig, ({17}) dass neben den vorhandenen Gesetzgebungsorganen, neben dem Bundestag und dem Bundesrat, auch die Bevölkerung hinzugezogen wird. ({18}) Ich kann ein Erbschaftsteuergesetz und jedes andere Bundesgesetz sofort wieder ändern, wenn ich eine Mehrheit dafür habe. Wenn aber einmal Kompetenzen von der Ebene der Nationalstaaten an die Ebene der Europäischen Union abgegeben wurden, dann ist dies unwiderruflich und nicht rückholbar. ({19}) Ich finde, hier sollte es guter Brauch sein, dass man die Bevölkerung entsprechend konsultiert. ({20}) Ich spüre keinen großen Druck aus der Bevölkerung hinsichtlich einer verstärkten Einführung einer Volksgesetzgebung. ({21}) Die Bürgerinnen und Bürger wollen vielmehr, dass wir ihre Sorgen und Anliegen ernst nehmen. Dafür sind wir gewählt und müssen wir unseren Kopf hinhalten - auch mit der Gefahr, nicht mehr wiedergewählt zu werden, wenn die Entscheidungen nicht nachvollzogen werden. Ich glaube aber, wir sollten uns hier nicht klammheimlich aus der Verantwortung stehlen. Deswegen sind die drei Gesetzentwürfe der Oppositionsfraktionen meines Erachtens aus guten Gründen abzulehnen. Herzlichen Dank. ({22})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Maik Reichel für die SPD-Fraktion. ({0})

Maik Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes an dieser Stelle und zu diesem Thema eine ganz andere Debatte gewünscht. Das haben wir heute schon mehrfach besprochen. Ich gehöre diesem Hause seit 2005 an. Ich habe nicht persönlich miterleben können, in welcher Konstellation wer wann etwas abgelehnt oder nicht abgelehnt hat. Ich kann diese Diskussion aber verstehen. Ich denke, dass wir an verschiedenen Stellen die Möglichkeit haben, darüber zu reden, warum meine Fraktion auch hier mit einem Bedauern ablehnen wird. Es gibt eine Koalition, und es gibt eine Koalitionsvereinbarung. Ich muss auf die rechte Seite schauen. Jeder, der in diesem Hause sitzt, weiß, in welcher Konstellation er schon einmal etwas gesagt hat und es dann wenig später ablehnen musste. ({0}) - Bei Ihnen wird das vielleicht auch einmal der Fall sein, wenn Sie in eine Koalition müssen und wenn Sie das umsetzen müssen, von dem Sie vieles sagen. Ich hoffe, dass Sie dann auch einige Dinge bedauern werden, die Sie heute gesagt haben, weil es anders hätte gesagt werden können. Liebe Kollegin Pau, Sie haben vorhin Art. 20 des Grundgesetzes angesprochen, der es uns ermöglicht, neben den Wahlen auch die Volksabstimmung einzubeziehen. Ich denke, wir sollten uns diese Möglichkeit nicht nehmen lassen. Ich greife noch einige Themen auf, über die wir gesprochen haben. Die Politikverdrossenheit wird hier genannt. Ich gebe zu, dass plebiszitäre Elemente und die direkte Demokratie nicht das Allheilmittel sind, um die Politikverdrossenheit oder gar eine schlechte Wahlbeteiligung zu beheben. Ich muss aber auch sagen: Eine gänzliche Verteufelung unseres parlamentarischen repräsentativen Systems ist es auch nicht. Es hat sich bewährt. Wenn wir in die Länder schauen, in denen es solche Elemente gibt und wo sie manchmal mehr, manchmal weniger oder auch gar nicht genutzt werden, dann sehen wir, dass die Landtage auch nicht außer Kraft gesetzt wurden. Ich glaube, diese Befürchtung werden wir nicht unbedingt erfüllen, wenn wir mehr darüber sprechen. Das ermöglicht uns aber vielleicht, in offenere und breitere Debatten über bestimmte große Themen einzutreten. Das ermöglicht uns, nicht nur hier im Raum zu sprechen, sondern mit den Bürgerinnen und Bürgern wesentlich offener zu sprechen. Wir müssen uns bemühen, offener zu diskutieren und besser zu erklären, warum wir das eine tun und das andere lassen. Das ist hier im Raum manchmal etwas einfacher. Wenn man im Zusammenhang mit Bundestagsreden in den Computer das Wort „Populismus“ eingeben würde, fände sich dieses Wort sicher gerade in den Zwischenrufen häufig wieder. Ich glaube, wir müssen sehr vorsichtig sein. Das, was draußen gilt, gilt auch hier im Raum und umgekehrt. Ich denke, das gibt uns eine Chance, offener mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Einer der schlimmsten Sätze, den wir alle hören und der für mich immer sehr erschreckend ist, und zwar egal, um welche Wahl es geht, ist: Es ändert sich ja doch nichts. Das ist ein Problem. Dem kann man sicherlich nicht unbedingt nur mit Volksentscheiden, Volksinitiativen und Volksbegehren begegnen, aber es ist ein Schritt in diese Richtung, den Menschen, die sonst alle vier oder fünf Jahre ihr Kreuzchen machen, die Möglichkeit zu geben, einmal ein bisschen aufzuschreien und zu sagen: Leute, wir sehen das anders, wir wollen das anders. In diesen Zwiespalt müssen wir eintreten und diskutieren. Ich glaube, wir sind hier nicht allzu weit auseinander. Kollege Wieland, Sie haben es aufgegriffen: Wenn man die drei Anträge und das, was sowohl meine Fraktion als auch die CDU/CSU schon vor Jahren aufgegriffen hat, sieht, dann wird deutlich, dass es Möglichkeiten gibt, darüber zu sprechen. In diesem Zusammenhang fällt mir ein Satz von Georg Christoph Lichtenberg ein, der sagte: Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll. Wir haben die Chance, darüber, wie es geht, zu sprechen. Auch vor drei Jahren ist in den Reden viel Kontra gegeben worden. Ich habe damals meine erste Rede an diesem Pult halten dürfen. ({1}) Damals war ich etwas aufgeregter als heute, damals hatte ich wesentlich mehr Papier hier vorn, aber ich habe mir angeschaut, was die Punkte sind, die dagegensprechen. Heute ist schon von Missbrauch gesprochen worden. Die Erfahrungen in den Ländern und Kommunen zeigen, dass damit nicht unbedingt großer Missbrauch betrieben wurde. Als Historiker will ich auch nicht so sehr in die NS-Zeit und in die Weimarer Zeit zurückgehen, weil es hier noch einige andere Punkte gibt, über die wir reden könnten. Ich denke, dass unsere Gesellschaft heute wesentlich besser und weiterentwickelt ist. Sie ist vor allem wesentlich demokratischer geworden, und zwar auch im Umgang mit solchem Missbrauch. Neben allem anderen ist hier auch Manipulation genannt worden. Ich denke, wir alle sind aufgerufen, dies auch bei möglichen Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden zu tun. Ich glaube, jeder, der in Berlin aktiv ist - ich fahre meist nur an den Wesselmännern vorbei und schaue mir die Plakate an -, kann bestätigen, dass es dort ein Für und Wider gibt. Das wurde auch heute schon festgestellt. Ein weiteres Thema, das hier immer wieder angesprochen wird, sind die komplexeren Fragestellungen. Bundespolitische Themen sind schwerlich mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Ich glaube, darum geht es auch nicht. Man sollte den Inhalt des entsprechenden Volksbegehrens, der -initiative oder des Volksentscheides abwarten, um darüber zu sprechen. Häufig ist davon die Rede, dass wir irgendwelche Regelungen außer Kraft setzen, die die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung nach Art. 79 des Grundgesetzes betreffen. Auch das ist nicht möglich. Es lässt sich alles regeln. Man kann in das Gesetz hineinschreiben, worüber nicht abgestimmt werden darf, zum Beispiel über Finanzbeziehungen - so wird bei Länderentscheiden auch verfahren -, die Todesstrafe oder andere Themen, die Kollege Mayer angesprochen hat. Man kann in das Gesetz hineinschreiben, was nicht in einen Volksentscheid münden darf. Das alles haben wir leider nicht diskutiert. Ich wäre froh, wenn es uns gelungen wäre, uns zusammenzusetzen und zu sagen, was unsere äußersten und innersten Grenzen sind. Das haben wir leider nicht geschafft. Man kann auch über solche Detailfragen reden. Dazu sind wir nicht gekommen. Ich glaube aber, dass wir damit ein Stück weitergekommen wären. Eine Abwertung des Parlaments durch die direkte Demokratie kann ich persönlich nicht erkennen. Direkte Demokratie soll und wird den Deutschen Bundestag, ein europäisches Parlament oder ein Landesparlament nicht ersetzen. Man sieht das auch in den Bundesländern, und es ist auch an der Anzahl der Volksentscheide erkennbar. Was in den Ländern richtig und gut ist, muss auf Bundesebene nicht schlecht und falsch sein. Denn es sind dieselben Bürgerinnen und Bürger, die abstimmen, ob bei Entscheiden auf Bundesebene oder in den Ländern. Unterschiede ergeben sich nur aus administrativen Grenzen. Ich bin auch dankbar, lieber Stephan Mayer, was den Unterschied zu Abstimmungen in Europa angeht, die nicht reversibel sind. Man muss aufpassen, dass man nicht einfach nur dann, wenn einem ein Instrument lieb ist, sagt, dass man es braucht. ({2}) Diese Differenzierung müssen wir klarmachen. Sie ist vielleicht nicht richtig deutlich geworden. Mit diesen Schlagworten müssen wir uns noch einmal befassen. In den 70er-Jahren gab es eine Enquete-Kommission für mehr Bürgerbeteiligung, die leider nicht in weitere Volksentscheide gemündet ist. Ich könnte mir vorstellen, dass wir das in der nächsten Legislaturperiode hinbekommen, dass sich alle hier vertretenen Fraktionen darüber verständigen, ob in einer Enquete-Kommission oder wie auch immer. Ich glaube, wir sind auf einem guten gemeinsamen Weg. Zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes sollten wir diesem ein besonderes Geschenk machen, nämlich die Einführung von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz. Ich bedanke mich. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen damit zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der FDP zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12019, den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/474 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung dieses Gesetzentwurfs. Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes ({0}). Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12019, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/680 abzulehnen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP-Fraktion und bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Fraktion Die Linke und dem Abgeordneten Winkelmeier. Auch hier entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Schließlich kommen wir zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12019, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1411 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke und des Herrn Abgeordneten Winkelmeier abgelehnt. Auch hier entfällt die weitere Beratung. Damit kommen wir zu den Zusatzpunkten 6 und 7: ZP 6 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen - Drucksachen 16/11131, 16/11641 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) - Drucksache 16/12465 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({2}) Michael Kauch Hans-Josef Fell - Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/12466 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte Andreas Weigel Ulrike Flach Michael Leutert Anna Lührmann ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Biokraftstoffen zurücknehmen - Nachhaltigkeitskriterien umgehend einführen - Drucksachen 16/5679, 16/12699 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Schindler Dr. Axel Troost Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen, und wir können so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Marko Mühlstein für die SPD-Fraktion.

Marko Mühlstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003814, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Verabschiedung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen stehen wir am Ende eines langen Diskussionsprozesses, eines Diskussionsprozesses, der nicht nur in den Fraktionen und zwischen den Fraktionen des Parlaments stattgefunden hat, sondern der auch in der Öffentlichkeit wahrnehmbar war. Medien haben sich mit dem Thema Biokraftstoffe befasst, genauso wie Sachverständigenräte. Unser Ziel nach diesem Diskussionsprozess war, im Biokraftstoffgesetz Palm- und Sojaöl auszuschließen. Wie Sie wissen, ist uns das durch die Vorgabe der Europäischen Union nicht mehr möglich. Umso wichtiger ist es, am heutigen Tag die Ermächtigung für die Bundesregierung zu einer wirksamen Nachhaltigkeitsverordnung auf den Weg zu bringen, einer Nachhaltigkeitsverordnung, die bei Anbau und Verarbeitung der Rohstoffe für Biokraftstoffe regelt, dass sowohl ökologische als auch soziale Kriterien eingehalten werden. Durch das engagierte Auftreten der Bundesregierung ist es möglich gewesen, diese Nachhaltigkeitskriterien auf europäischer Ebene zu regeln. Bei der nachhaltigen Biomasseproduktion ist Deutschland - das kann man mit Stolz sagen - Vorreiter. In diesem Zusammenhang möchte ich alle Beteiligten auffordern, an der zügigen und wirkungsvollen Umsetzung der Nachhaltigkeitsverordnung mitzuarbeiten und mitzuwirken; denn bei der nachhaltigen Bioenergieproduktion leisten wir echte Pionierarbeit. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Ich möchte nicht verschweigen, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion, aber auch anderer Fraktionen darum bemüht haben, an einigen Stellen dieses Gesetzes andere Lösungen herbeizuführen. In diesem Zusammenhang möchte ich ganz besonders dem Kollegen Jung und Frau Dr. Flachsbarth ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danken. Ich denke, dass wir weiterarbeiten müssen. Viele in meiner Fraktion haben für eine Entlastung der reinen Biokraftstoffe gekämpft. Wir haben vorgeschlagen, im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs und des Schienenpersonennahverkehrs den Biodiesel gänzlich von der Biokraftstoffsteuer zu befreien, wie das bereits heute in der Landwirtschaft gängige Praxis ist. Von dieser Maßnahme hätten nicht nur die Verkehrsbetriebe der Kommunen, die Landwirte und die Biodieselproduzenten profitiert. Vielmehr wäre das auch ein sinnvoller Beitrag für den Aufbau regionaler und nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe gewesen. ({0}) Doch während die Union in ihren Presseerklärungen vom 21. März 2007, 16. Januar 2008 und 2. April 2008 Steuerfreiheit für alle reinen Biokraftstoffe gefordert hatte, war die Union nicht bereit, dieses Teilsegment umzusetzen und damit die deutsche Biokraftstoffbranche zu entlasten. Wie das zusammenpasst, haben wohl nur die Verantwortlichen in der Union selbst verstanden. Es ist aus meiner Sicht schwer vermittelbar, dass wir keine Einigung bei der Einführung des Kraftstoffes E 10 als zusätzliches Angebot erzielen konnten. Insbesondere ist es mir schleierhaft, warum der ADAC in den vergangenen Monaten mit populistischen Aussagen eine Art E-10-Panik unter den Autofahrern erzeugte. Schließlich war es nicht unser Ziel, Superbenzin durch E 10 zu ersetzen; vielmehr ging es darum, dem Verbraucher einen zusätzlichen Kraftstoff anzubieten, der dieselbe Qualität hat wie die Premiummarken der großen Mineralölkonzerne, dabei aber deutlich billiger angeboten werden könnte. Ich persönlich gehe einmal nicht davon aus, dass sich die Kooperation des Automobilklubs mit einem Mineralölkonzern auf die politische Arbeit dieses Automobilklubs auswirkt. Mit dem Gesetzentwurf werden wir heute einen Entschließungsantrag beschließen. In diesem Entschließungsantrag werden zwei Dinge deutlich: Erstens. Wir wollen die schnellstmögliche Einführung der Nachhaltigkeitszertifizierung für Biokraftstoffe. Zweitens. Das Ziel der Regierungsfraktionen ist es, die Einführung hydrierter Kraftstoffe unter Parlamentsvorbehalt zu stellen. Schließlich kann es aus meiner Sicht nicht unser Ziel sein, mit dem sogenannten Co-Hydrotreating möglicher23586 weise unbegrenzte Wettbewerbsverzerrungen zulasten des Mittelstandes zuzulassen. Ich hatte vorhin gesagt: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Wenn wir in diesem Hohen Hause über den aktiven Klimaschutz diskutieren, dann reden wir natürlich auch - ich glaube, da sind wir uns alle einig - über effiziente und verbrauchsarme Fahrzeuge, und dann reden wir über alternative Antriebe wie Hybrid- oder Elektromotoren. Doch auf dem Weg weg vom Öl - auch darüber sind wir uns einig - sind Biokraftstoffe unersetzbar. Wir werden auch in den nächsten Jahren noch auf Biokraftstoffe angewiesen sein, gerade im Bereich des Schwerlastverkehrs. Deswegen möchte ich ganz deutlich sagen, dass ich es zutiefst bedauere, dass sich die Koalition nicht auf die vorgeschlagenen, von mir eben dargestellten und viel diskutierten Maßnahmen einigen konnte. ({1}) Ich persönlich werde mich auch weiterhin für eine Zukunft biogener Kraftstoffe einsetzen und werde in diesem Zusammenhang auch immer die Pioniere der Biokraftstoffindustrie und des Biokraftstoffmarktes, nämlich die kleinen und mittelständischen Produzenten und Händler, im Auge haben. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Biokraftstoffe sind weder Himmel noch Hölle. Das ist so die Bandbreite, in der sich die Diskussion in den letzten zwei Jahren bewegt hat. Es kommt wesentlich darauf an, aus welchen Quellen die Rohstoffe für diese Biokraftstoffe stammen, und es kommt darauf an, wie effizient die eingesetzte Biomasse genutzt wird. Beides liegt im Argen. Die Nachhaltigkeitskriterien für Biomasse stehen zwar jetzt auf dem Papier, nämlich in der EU-Richtlinie, aber noch kann sie kein einziges Unternehmen nachweisen; denn die entsprechende Verordnung über diesen Nachweis von Nachhaltigkeit hat die EU immer noch nicht auf die Reihe bekommen. EU bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur Kommission, sondern auch Ministerrat, in dem die Bundesregierung vertreten ist. Auch die Effizienz der Verwendung eingesetzter Biomasse ist fraglich. Völlig willkürlich werden Förderinstrumente eingesetzt: Beimischungsquote bei den Biokraftstoffen, Preisgarantien bei der Verstromung und Anlagensubventionen für Anlagen erneuerbarer Wärme. Kein Instrument ist auf das andere abgestimmt. Das Zusammenwirken ist zufällig und nicht daran ausgerichtet, mit den eingesetzten Mitteln so viel CO2 wie möglich einzusparen. ({0}) Die FDP bleibt bei der Haltung, dass dieser Gesetzentwurf das Scheitern dieser Politik dokumentiert. Gabriel und die Autos - das ist eine lange Geschichte. Ich sage nur: Partikelfilterskandal, verkorkste Grenzwertdiskussion und nicht zuletzt, was den Bereich der Biokraftstoffe angeht, erst das Scheitern von E 10, dann wieder die Befürwortung von E 10 nach dem Motto: rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Eine klare Linie der Bundesregierung und dieses Umweltministers mit Blick auf umweltfreundliche Mobilität kann ich leider nicht erkennen. ({1}) Es freut mich jedoch, dass die Bundesregierung die von der FDP-Bundestagsfraktion von Anfang an geäußerte Kritik aufgreift, dass die Quotenerhöhung angesichts fehlender Nachhaltigkeitszertifizierung in der Praxis falsch ist. Diese Quotenerhöhung, wie sie ursprünglich vorgesehen war, würde nur zu einem weiteren Zugriff auf die globalen Ressourcen führen, der ohne funktionierende Zertifizierung nachhaltigen Anbaus eine Gefahr für die Regenwälder und damit für den globalen Klimaschutz darstellt. Aber auch der Weg der Verlangsamung des Quotenanstiegs, wie er jetzt vorgesehen ist, kann das Problem einer fehlenden Nachhaltigkeitsverordnung lediglich abmildern, aber nicht beseitigen. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert deshalb die Bundesregierung nachdrücklich auf, von einer Quotenerhöhung ganz abzusehen, solange die Nachhaltigkeitssysteme nicht in der Praxis international funktionieren. Selbst eine Nachhaltigkeitsverordnung ist noch nicht ausreichend, um Nachhaltigkeit tatsächlich zu sichern. Sie muss auch in der Praxis, und zwar international, funktionieren. ({2}) Nur auf einem effizienten Weg wird die Abhängigkeit vom Import fossiler Energieträger gemindert. Vor diesem Hintergrund müssen die bestehenden Beimischungsquoten auf dem heutigen Stand eingefroren werden. Es stellt sich die Frage: Was ist die richtige Alternative? Die Regierung hat im Bereich der reinen Biokraftstoffe so einiges verzapft, weil sich der Bundesfinanzminister die Kassen füllen wollte und die Steuerbefreiung für die Kraftstoffe vor der Frist aufgehoben hat. Man kann klar konstatieren: Diese Bundesregierung trägt die Verantwortung dafür, dass ein Teil der heimischen Biokraftstoffproduzenten in die Pleite getrieben wurde und der andere Teil kurz davorsteht. Das ist Ihre Verantwortung aufgrund Ihrer Steuerpolitik im Bereich der Biokraftstoffe. ({3}) Es ist putzig, dass die SPD behauptet, die CDU/CSU wäre schuld gewesen, dass die Steuerbefreiung für den öffentlichen Nahverkehr nicht wiederhergestellt werden konnte. Ich frage mich: Wenn Sie der Auffassung sind, dass die Steuereinführung durch Herrn Steinbrück falsch war, warum wollten Sie von der SPD sie dann nur für eiMichael Kauch nen bestimmten Teil, nämlich für die kommunalen Unternehmen, aufheben? ({4}) Es ist ökologisch falsch und es ist Klientelpolitik, was Sie mit diesem Vorschlag betreiben. ({5}) Deshalb ist es gut, dass man dem Klientelismus nicht den Weg bereitet hat. ({6}) Aber auch die Fachpolitiker der Union behaupten gerne, dass man etwas tun müsse, weil die Biokraftstoffhersteller pleitegehen. Die Quote führe dazu, dass nur noch große Händler als Zulieferer der Mineralölindustrie berücksichtigt werden und die großen Händler die Importbiomasse nehmen. Das Ganze ende dann mit der Zerstörung der Regenwälder. Ihre Analyse ist zwar richtig, aber was ist denn die Folgerung? Tatsache ist, dass Sie in der Koalition nichts, aber auch gar nichts durchgesetzt haben, um den Markt für reinen Biokraftstoff wieder zum Laufen zu bringen. ({7}) Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise erfordert eine ausgewogene und nachhaltige Klimapolitik, dass wir unsere heimische Produktion, auch die für Biokraftstoffe, stärken. Es ist bemerkenswert, dass CDU/CSU und SPD nicht einmal die Forderung des Bundesrates aufgegriffen haben, wenigstens für das Jahr 2009 auf die Steuererhöhung zu verzichten. Es wurde nicht einmal gefordert, die Steuer zurückzunehmen. Es wurde lediglich gefordert, die Erhöhung nicht durchzusetzen. Selbst das haben die Bundestagsfraktionen von Union und SPD abgelehnt. Wir als Liberale werden nach der Bundestagswahl diese gescheiterte Politik ändern. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Andreas Jung das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kauch, ich bin der Meinung, gerade angesichts einer solch komplexen Materie sollten wir uns nicht gegenseitig vorwerfen, etwas zu „verzapfen“; vielmehr sollten wir in einer sachlichen Diskussion überlegen, wie viele Biokraftstoffe „gezapft“ werden sollen und woher diese Biokraftstoffe kommen sollen. ({0}) Da die Thematik komplex ist und da sich durchaus kritische Fragen stellen, möchte ich zunächst feststellen, dass eines richtig bleibt: Biokraftstoffe können einen wichtigen Beitrag leisten: zu mehr Klimaschutz - durch eine Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen im Bereich des Verkehrs, Stichwort „Kraftstoffe“ -, zu mehr Unabhängigkeit von Erdölexporten und damit zur Energiesicherheit sowie zur Wertschöpfung im ländlichen Raum, soweit die Biokraftstoffe hier in Deutschland, also national, erzeugt werden. So richtig es ist, dass die Biokraftstoffe einen wichtigen Beitrag leisten können, so wahr ist eben auch, dass sie dies nicht zwingend tun. Das ist dann der Fall, wenn Biokraftstoffe nicht nachhaltiger Produktion entstammen. Leider gibt es aus etlichen Ländern Nachrichten, dass Biokraftstoffe aus nicht nachhaltiger Produktion stammen und nach Deutschland exportiert werden. ({1}) Solche Berichte gibt es aus Südamerika und aus Asien. Eine Delegation des Deutschen Bundestages hat sich im Rahmen der Teilnahme an der Klimakonferenz auf Bali vor Ort eine Plantage angesehen, auf der Regenwald gerodet und stattdessen eine Bioplantage errichtet wurde. Bei allen unterschiedlichen Positionen in einzelnen Fragen eint uns die Auffassung, dass das nicht sein darf. Es darf nicht sein, dass für die Natur wichtige Flächen, also Flächen mit einem hohen Kohlenstoffgehalt - etwa Regenwälder oder Moore -, geopfert werden, um Biopflanzen anzubauen, diese dann unter grünem Label nach Deutschland zu importieren und hier als „ökologisch wertvoll“ zu verkaufen. Ich wiederhole: Das darf nicht sein. ({2}) Es ist richtig und es ist wichtig, dass wir überlegen, wie wir dafür sorgen können, dass solche nicht nachhaltigen Produkte nicht in deutschen Tanks landen. ({3}) Im letzten Jahr wollten wir eine Nachhaltigkeitsverordnung auf den Weg bringen, die genau das vorgesehen hat. Wir wollten folgende nationale Regelung: Nach Deutschland dürfen nur nachhaltige Produkte eingeführt werden. Die Europäische Union hat das gestoppt. Sie war der Auffassung, dass ein Nationalstaat das nicht darf und dass Europa für die Regelung zuständig ist. Es mag etwas dafürsprechen, dass eine einheitliche europäische und damit stärkere Regelung besser ist als unterschiedliche nationale Regelungen. Aber Europa hat eben noch nicht gehandelt. Deshalb war im Entwurf des Gesetzes, das uns heute zur Beratung vorliegt, ebenfalls eine Regelung vorgesehen, die besagt hat: Der Import von Palmöl und Sojaöl darf nicht auf die deutsche Quote angerechnet werden, solange bestimmte Nachhaltigkeitskriterien nicht in Kraft gesetzt sind. Auch da hat Europa interveniert. Es hat die Einführung dieser Nachhaltigkeitskriterien mit denselben Andreas Jung ({4}) Argumenten und dem Hinweis auf GATT-Regelungen verhindert und hat wiederum gesagt: Wir werden es selber regeln. Das Problem ist: Europa wollte im ersten Quartal dieses Jahres die eigenen Nachhaltigkeitskriterien verabschieden; aber man hat es noch nicht getan. Wie Kollege Mühlstein zuvor gesagt hat, schaffen wir mit diesem Gesetz - mit der Ermächtigung zur Umsetzung der irgendwann auf europäischer Ebene verabschiedeten Nachhaltigkeitskriterien - die Voraussetzungen dafür, dass wir diese Kriterien so schnell wie möglich in deutsches Recht umsetzen können. Ich betone: Wir können das erst, wenn Europa - endlich - gehandelt hat. Deshalb sollten wir gemeinsam den eindringlichen Appell an alle in der EU Verantwortlichen senden: Wir brauchen jetzt europäische Nachhaltigkeitskriterien. Wir fordern auch die Bundesregierung auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit diese Kriterien dort so schnell wie möglich verabschiedet werden. ({5}) Der Beifall aus, glaube ich, allen Fraktionen zeigt, ({6}) dass es ein gemeinsames Anliegen ist. Trotzdem sind wir heute in einer schwierigen Situation: Wir müssen über die Höhe der deutschen Quote entscheiden, ohne Gewissheit über die europäischen Nachhaltigkeitskriterien zu haben. Das ist für sich genommen schon schwierig. Ein weiteres Problem kommt hinzu. Wir haben Unklarheit über eine weitere Entscheidungsgrundlage, nämlich über die Frage, ob eine höhere Quote, die der Bundestag eigentlich vorgesehen hatte, durch eine nachhaltige deutsche Produktion erfüllt werden könnte. Es gibt Stimmen, die sagen: Ja, das ist möglich; es ist auch kurzfristig, schon in diesem Jahr, möglich. Es gibt aber ebenso gewichtige Stimmen, die sagen: Nein, aus Gründen der Kapazität und der Preise ist es nicht möglich, und eine Erhöhung der Quote würde zu mehr Biokraftstoffen aus nicht nachhaltiger Produktion führen. - Wir haben also eine Rechnung mit mehreren Unbekannten, und wie oft bei Rechnungen mit mehreren Unbekannten kann man deshalb mit guten Argumenten auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die Koalition hat sich in dieser Gemengelage dafür entschieden, die Erhöhung für dieses Jahr um 1 Prozentpunkt zurückzunehmen und die Quote auf 5,25 Prozent festzulegen. Das wurde und das wird sicherlich auch nachher noch kritisiert. Aber wir müssen auch die Gegenfrage stellen: Was würde denn passieren, wenn wir sagen würden, wir haben zwar noch keine Gewissheit, noch keine Klarheit, noch keine Rechtssicherheit, was Nachhaltigkeitskriterien angeht, erhöhen aber trotzdem die Quote und nehmen die damit einhergehenden Risiken in Kauf? Auch das wäre sicherlich eine schwierige Diskussion. Ich glaube, wir können heute eines mit Gewissheit sagen: Die Diskussion um die Biokraftstoffstrategie der Bundesregierung wird und muss sicherlich auf Wiedervorlage gelegt werden, nämlich dann, wenn wir Gewissheit über die Nachhaltigkeitskriterien der EU haben, hoffentlich zu einem baldigen Zeitpunkt. Dann wird sicherlich nicht nur die Frage der Quote, sondern auch die Frage der steuerlichen Behandlung der Biokraftstoffe wieder auf den Prüfstand kommen. Heute gehen wir einen Schritt, indem wir die Steuererhöhung um 3 Cent pro Liter zurücknehmen. ({7}) Wir werden genau diese Frage, die Sie gerade ansprechen, mit Beiträgen aus allen Fraktionen weiter diskutieren. Ich rate uns, dass wir diese Diskussion sachlich und ohne Schwarz-Weiß-Malerei führen. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Kurt Hill für die Fraktion Die Linke. ({0})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf zunächst eine Besuchergruppe aus NordrheinWestfalen begrüßen. ({0}) Die Biospritstrategie der Regierung ist gescheitert. Das ist eben deutlich gesagt worden, und da stimme ich Ihnen natürlich zu, Herr Kauch. Sie wollten mit der Beimischung von Biosprit in Höhe von bis zu 10 Prozent den Energiebauern in Deutschland unter die Arme greifen, Herr Jung. Erreicht haben Sie das Gegenteil. Die Mineralölmultis kaufen auf dem internationalen Markt, was billig zu haben ist. Ich sage Ihnen: Das schadet der Umwelt. Das führt zu Raubbau und zur Vertreibung von Menschen in den Herkunftsländern. ({1}) Wie wollen Sie kontrollieren, dass dabei keine Tropenwälder zerstört werden? Sie kriegen ja noch nicht einmal die Preistreiberei der Spritkonzerne an den Tankstellen in den Griff. Die Ölmühlen zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern, in Rheinland-Pfalz, im Saarland oder an anderer Stelle müssen Konkurs anmelden. Die Branche liegt am Boden, und daran wird auch die Änderung am Gesetz nichts ändern. Ihre Biokraftstoffstrategie ist wirklich gescheitert, meine Damen und Herren. ({2}) Die Zwangsquote ist ein Irrweg zulasten des Naturhaushaltes und des Klimaschutzes. Ziehen Sie das Gesetz samt Änderungsvorlage zurück! Fördern Sie die heimische Biomasseerzeugung und -nutzung! Das ist nachhaltig und kontrollierbar. Damit wird der Naturhaushalt nicht überfordert, und damit wird für zukunftssichere Beschäftigung und Wertschöpfung gesorgt. Das Ziel muss es sein, eine Wende in der Verkehrspolitik zu organisieren. Herr Mühlstein ist darauf eingegangen. Geben Sie ein deutliches Signal an die Kraftfahrzeughersteller, dass die Zukunft nicht in großen Geländewagen liegt! Ein gutes Beispiel in der Verkehrspolitik ist die Ostdeutsche Eisenbahn in Berlin-Brandenburg, die ihre Loks und Busse mit reinem Biokraftstoff betreibt. Helfen Sie den Bundesländern, einen nutzerfreundlichen öffentlichen Nahverkehr zu erhalten und auch auszubauen! ({3}) Machen Sie endlich beim Tempolimit auf den Autobahnen mit! Damit erreichen Sie für den Klimaschutz mehr als mit dieser Beimischungsquote. ({4}) Hören Sie auf Ihre eigenen Fachleute, Herr Schmitt, den Wissenschaftlichen Beirat „Globale Umweltveränderungen“! Ihre eigenen Berater sagen in Sachen Klimaschutz als Schlussfolgerung zum Biokraftstoffquotengesetz - ich zitiere -: Durch die Quotenvorgaben für Biokraftstoffe werden zum Teil sogar Bioenergiepfade gefördert, die zur Verschärfung des Klimawandels beitragen. Weiter sagen sie: Bioenergie darf nicht zu einer Gefährdung der Ernährungssicherheit führen oder die Zerstörung von Regenwäldern oder anderen naturnahen Ökosystemen auslösen. Nochmals weiter: Der Anbau einjähriger Energiepflanzen zur Produktion von Flüssigkraftstoffen für den Verkehr ist zu wenig an den Zielen des Klimaschutzes ausgerichtet. Schlussendlich plädieren sie daher für einen raschen Ausstieg aus der Förderung von Biokraftstoffen im Verkehrsbereich. Die Linke hat sich als einzige Fraktion im Deutschen Bundestag von Anfang an gegen die Zwangsquote und für die gezielte, aber begrenzte Förderung von reinen Biokraftstoffen in dezentralen Strukturen ausgesprochen; denn nur regionale, in sich geschlossene Kreisläufe zur Herstellung und Verwendung von Biosprit sind nachhaltig. Grundsätzlich ist auch ein Umschwenken in der Bioenergieförderung erforderlich. Die Linke setzt sich deshalb für eine Stärkung der umweltverträglichen Biogasproduktion ein. Hierbei sind je Hektar für die Biomasse genutzter Fläche der Energieertrag und somit auch der Klimaschutzbeitrag dreimal höher als bei Agrosprit. Biogas kann für die gekoppelte Erzeugung von Strom und Wärme genutzt, in Fahrzeugen eingesetzt und ins Erdgasnetz eingespeist werden. Fazit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Biokraftstoffquotengesetz und die hier vorliegende Änderung der Quotenregelung müssen als untauglich und klimaschädlich abgelehnt werden. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Gesetz, das die Große Koalition heute verabschieden lässt, ist schlicht und ergreifend ein schlechtes Gesetz, ({0}) und zwar schlecht für die Umwelt, schlecht für die Arbeitsplätze und schlecht für die Entwicklung unserer ländlichen Regionen. Besonders schlimm finde ich, dass Sie sehenden Auges eine ganze Branche ruinieren. Wir hatten in der rotgrünen Regierungszeit die Entscheidung getroffen, die reinen Pflanzenöle steuerfrei zu stellen, weil wir unsere Regionen, unsere bäuerliche Landwirtschaft weiterentwickeln wollten, weil wir sie unabhängiger vom Öl machen wollten, weil wir auch strukturell im ökologischen Sinne weiterkommen wollten. Sie haben die Steuerbefreiung, die bis 2009 gegeben war, nicht durchgehalten. Das Vertrauen derjenigen, die sich darauf verlassen haben, wurde gebrochen. Das hat die Große Koalition zu verantworten. ({1}) Weder im Wahlprogramm der SPD noch im Wahlprogramm der Union tauchte das auf. Wenn man weiß, dass im Bereich der Ölmühlen Investitionen von mehr als 6 Millionen Euro getätigt worden sind, dass dort 50 000 Arbeitsplätze entstanden sind, dass die technologische Entwicklung in diesem Bereich sowie bei den Umrüstbetrieben rasant war und man in diesen neuen Märkten an Rentabilität gewonnen hat, dann ist es fatal, der Branche dies wieder zu nehmen. Es ist unverantwortlich angesichts der Rahmenbedingungen, die die Politik unter ökologischen Gesichtspunkten auf dem gesamten Kraftstoffmarkt und bei den regenerativen Energien schaffen muss. Das ist unser Job. Wir haben diesen Job ernst genommen, um etwas Positives zu tun. Die Große Koalition macht dies wieder zunichte. ({2}) Ich halte es auch für problematisch, dass Herr Mühlstein und die anderen Kollegen der SPD dann erklären, die Verantwortung trage die Union, weil sie sich nicht bewegt habe, und umgekehrt vonseiten der Union geäußert wird, die Sozialdemokraten hätten sich nicht bewegt. ({3}) Meine Damen und Herren, man kann doch wohl erwarten, dass die Große Koalition sich zu einem positiven Ergebnis durchringt, die Verantwortung nicht hin und her geschoben wird und Sie alle am Ende nicht die Hand für ein schlechtes Gesetz heben. Das muss man deutlich sagen. ({4}) Von knapp 1 900 Tankstellen für Biodiesel sind heute nur noch 150 übrig geblieben. Auch daran erkennt man die Entwicklung. Bei den Steuererhöhungen für Biodiesel haben wir ebenfalls eine völlig falsche Entwicklung. Der Kollege von der CDU/CSU hat hier erklärt: Statt die Steuer von 15 Cent auf 21 Cent zu erhöhen, wie wir ursprünglich vorhatten, nehmen wir künftig nur 18 Cent. - Das ist immer noch eine 20-prozentige Steigerung der Steuerlast. Sie tun ja so, als hätten Sie die Steuerlast gesenkt. Sie haben sie aber noch einmal um 20 Prozent erhöht. Da liegt das Problem. Das sollten Sie der Bevölkerung auch klipp und klar sagen. ({5}) Die Bundesregierung hat in ihrem Zwischenbericht im November 2008 zugegeben, dass der Biodiesel um 10 Cent pro Liter unterkompensiert, das heißt zu hoch besteuert wird. Ihre eigene Bundesregierung hat also darauf hingewiesen, dass es so nicht gehen kann. Herr Kollege Kauch von der FDP hat bereits daran erinnert, dass der Bundesrat eine Stellungnahme mit der Aufforderung eingebracht hat, auf diese Erhöhung zu verzichten - übrigens nicht nur für 2009, sondern auch für 2010. Auch dem sind Sie nicht nachgekommen. Alle Agrarminister von Bund und Ländern haben gewarnt und deutlich gemacht, dass man diese Steuererhöhung aussetzen muss. Auch auf diese Kollegen und Kolleginnen aus Ihren eigenen Reihen hören Sie nicht. Es ist schon ein Stück weit unfassbar, dass die Regierungskoalition sich gegen berechtigte Kritik aus den eigenen Reihen taub stellt. Selbst die berechtigte Kritik aus den eigenen Reihen wird nicht gehört. Ich sehe heute einige Kollegen nicht, die in den Fachausschüssen - auch im Finanzausschuss - vor diesem Vorgehen gewarnt haben. Wahrscheinlich wollen sie sich nicht gerne an dieser Abstimmung beteiligen. Das ist selbstverständlich ihr Recht; es spricht aber doch Bände. Viele Betriebe sind in einer prekären wirtschaftlichen Lage. Das wissen Sie auch. Es werden immer wieder schöne Reden über Klimaschutzziele gehalten. Jetzt haben Sie von Entschließungsanträgen gesprochen. Entschließungsanträge sind aber keine Gesetze. Es geht darum, hier im Zusammenhang mit der Quotenregelung und mit der Besteuerung ein Gesetz zu verabschieden. Ich kann nur an Sie appellieren: Geben Sie Ihrem Herzen und Ihrem Verstand einen Ruck! Stimmen Sie diesem Gesetz nicht zu, sondern lehnen Sie es ab! Jetzt haben Sie noch die Chance dazu. Danke schön. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Michael Müller das Wort.

Michael Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001561

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man diese Diskussion seit geraumer Zeit verfolgt, fällt einem schon auf, dass es am Anfang eine unglaubliche Euphorie und danach einen unglaublichen Pessimismus gab. Jetzt zerfällt das Ganze in Einzelpositionen. Herr Hill, lassen Sie mich anhand eines Beispiels Ihre Widersprüchlichkeit aufgreifen. Was Ihre Meinung zu den reinen Kraftstoffen angeht, bin ich durchaus bei Ihnen. Es ist dann aber schwierig, die wissenschaftlichen Institute dafür in Anspruch zu nehmen. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“ - WBGU - vertritt beispielsweise die Position, dass Biomasse im Verkehr überhaupt nicht verwendet werden sollte. Es ist also schon sehr viel komplizierter. Ich finde es deshalb wichtig - das will ich gleich sagen -, diese Diskussion nicht fälschlicherweise zu verengen und nicht beispielsweise mit der Frage „Tank oder Teller?“ zu polarisieren, weil uns das überhaupt nicht weiterhilft. Wir haben zwei zentrale Probleme. Bei beiden großen Menschheitsherausforderungen - Energieversorgung und Ernährungssicherheit - müssen wir versuchen, Kriterien zu finden - das ist der richtige Weg -, wie wir zu einer sinnvollen, tragfähigen und dauerhaften Entwicklung kommen können. Alles andere würde sozusagen in einem Glaubenskrieg enden. Wir brauchen klare Kriterien, die - ich weiß, dass dies das größte Problem ist verbindlich werden müssen. Wenn man weiß, dass die Biomasse zum großen Teil in Entwicklungsländern genutzt wird, dann erkennt man schnell, dass unsere Einflussmöglichkeiten in vielen Bereichen relativ gering sind. Umso wichtiger ist, dass das, was wir machen, ökologisch sauber und damit sozusagen nicht angreifbar ist. Gleichzeitig müssen wir eine Entwicklung fördern, die einen Missbrauch im internationalen Bereich ausschließt. Ich finde es unehrlich, wenn man die Frage der Ernährungssicherheit in der Diskussion auf den Aspekt der Biokraftstoffe reduziert. Ich will überhaupt nicht verhehlen, dass es überaus problematische Entwicklungen gegeben hat. Eines der übelsten Beispiele dafür habe ich in einer Anlegerzeitung entdeckt, in der es dezidiert hieß: Das ist die Knappheit der Zukunft, hier kann man die höchsten Spekulationsgewinne erzielen. - Das hat es geParl. Staatssekretär Michael Müller geben. Es gab auch spekulative Einflüsse auf die Preisentwicklung in diesem Sektor. Umgekehrt finde ich es völlig falsch, wenn man die Ernährungsproblematik auf die Frage der Nutzung von Biokraftstoffen reduziert; ({0}) das ist nicht korrekt. Wer die Diskussion so führt, der muss beispielsweise auch ehrlich über die europäische Agrarpolitik, über die gesamte Subventionspolitik und die Zerstörung bestimmter Märkte diskutieren, die zweifellos einen ungleich höheren Einfluss auf die Preisbildung und damit auf die Ernährungssicherheit haben als die Nutzung der Biokraftstoffe. Wir sollten allerdings auch nicht so tun, als sei das kein Problem. ({1}) Insofern sollten wir eine etwas klarere Debatte führen, und zwar vor dem Hintergrund vier großer Herausforderungen: Erstens. Im letzten Jahr haben wir wieder erlebt, dass die CO2-Emissionen deutlich stärker gestiegen sind, als in allen Prognosen vorausgesagt wurde. Es gab einen Zuwachs um 3,8 Prozent; das ist oberhalb jeder Prognose des Weltklimarats. Das zeigt, wie problematisch die Entwicklung ist. Wir müssen zu anderen Formen der Energieversorgung kommen. Hierbei hat die Bioenergie zweifellos einen wichtigen Stellenwert. Umgekehrt müssen wir auch alles tun, um den Naturschutz zu gewährleisten. Im Bereich Klimaschutz stehen wir also vor zwei großen Aufgaben. ({2}) Zweitens. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur wird die Energienachfrage bis 2030 um 50 bis 60 Prozent steigen. Man sieht, dass angesichts knapper Ressourcen ein hoher Druck entstehen wird. Auch hier können wir keine einfachen Antworten finden. Wir werden Bioenergie nutzen, aber auch die Energieeffizienz steigern. Ich warne hier davor, das eine gegen das andere auszuspielen. Drittens. Dieselbe Zuspitzung ergibt sich im Bereich Ernährung. Nach Berichten der FAO müssen wir davon ausgehen, dass wir die Ernährungsproduktion bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent steigern müssen. Auch hier wird ein unglaublich hoher Druck herrschen, den wir nur senken können, wenn wir klare Kriterien haben. Viertens. Es kommt zu einem unglaublichen Zuwachs der Weltbevölkerung und zu einer weiteren Industrialisierung, und das vor dem Hintergrund, dass 2,5 Milliarden Menschen bisher keinen Zugang zu einer sicheren Energieversorgung haben. Angesichts dieser großen Herausforderungen warne ich in dieser Debatte vor Schwarz-Weiß-Malerei; denn sie hilft uns überhaupt nicht weiter, sondern führt zu einer falschen Polarisierung. Ich finde es richtig, jetzt Kriterien zu entwickeln. Die Europäische Union nimmt hierbei eine zentrale Rolle in der Weltgemeinschaft ein. Bei der Entwicklung der Kriterien stehen drei Fragen im Vordergrund: Erstens: Wie sichern wir die Ernährung? Zweitens: Wie sichern wir den Naturschutz? Drittens: Wie schützen wir das Klima? Die Nachhaltigkeitskriterien müssen vor diesem Hintergrund weiterentwickelt werden. Es ist völlig richtig - Herr Kauch hat es schon gesagt -: Eine entsprechende Verordnung muss sowohl die Nutzung als auch die Effizienz regeln. ({3}) Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, eine Verordnung zu verabschieden, die mit Blick auf CO2-Emissionen negativ ist; sie muss eindeutig positiv sein. Eine solche Verordnung müsste als Teil unserer Energieaußenpolitik verstanden werden. Ich warne davor, in diesem Bereich keine ehrgeizigen Ziele zu haben. Wenn die EU dort wackelige Kriterien festgeschrieben hätte, hätte sich daraus auf dem Weltmarkt eine höchstproblematische Entwicklung ergeben können. Die Untersuchungen haben ergeben - das ist die Ausgangssituation -, dass etwa 10 Prozent des Weltenergiebedarfs mit Bioenergie gedeckt werden können. Die entscheidende Aufgabe ist, in der Europäischen Union Kriterien zu entwickeln und durchzusetzen, die weltweit vorbildhaft sind. Meine Forderung ist schlicht und einfach: Führen wir die Debatte in der nächsten Zeit so, dass wir unter ökologischen Gesichtspunkten eine Ernährungs- und Energiepolitik vorantreiben, die nach allen Seiten den Kriterien gerecht wird. ({4}) Lassen Sie uns versuchen, in vielen Bereichen Entwicklungsfortschritte zu machen. Dazu gehört für mich auch, dass wir noch einmal versuchen, die Steuerfreiheit für Reinkraftstoffe im Bereich begrenzter Märkte einzuführen. Das halte ich nach wie vor für richtig. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marie-Luise Dött für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2007 erschien ein Spiegel Special zum Thema neue Energien. Auf dem optimistischen Titelblatt war in einem Getreidefeld eine grüne Zapfsäule zu sehen. Deren Aufschrift lautete: AGRAL. Die Biokraftstoffhersteller haben in den letzten Jahren Höhen und Tiefen durchschritten. Zu Beginn hieß es: „Hosianna!“ und danach: „Kreuzigt ihn!“ Aus „Freedom Fuel“ wurde Teufelszeug, das auf Kosten der Regenwälder angebaut wird und die Anbaufläche für Lebensmittel verringert. Der Euphorie der Anfangsjahre - ich glaube, die Bemerkung, die Landwirte seien die Ölscheichs der Zukunft, stammt von Frau Künast - folgten Ablehnung und Desillusionierung. Die Wahrheit liegt aber wie immer in der Mitte. Ja, es ist richtig: Biomasse wird in manchen Schwellenländern unter zum Teil haarsträubenden Bedingungen erzeugt. Das betrifft auch die Arbeitsbedingungen auf den Feldern und Plantagen. Misereor hat uns das drastisch dargestellt. Biokraftstoffe haben aber, wenn sie richtig erzeugt und angewandt werden, ein enormes Potenzial, über das auch wir in Deutschland in nicht unbedeutendem Umfang verfügen. Langsam versiegen die westlichen Ölreserven, und wir werden immer abhängiger von weniger stabilen Regionen in der Welt, in denen es auch längerfristig noch Erdöl geben wird. Unsere heimischen Biokraftstoffe machen uns zwar nicht zu Ölscheichs, aber doch deutlich unabhängiger von diesen Regionen. Biokraftstoffe ermöglichen Diversifizierung bei den Versorgungsregionen und den Energieträgern. Sie tragen daher in besonderem Maße zur Versorgungs- und Energiesicherheit Deutschlands und Europas bei. Auch ermöglichen sie es, dass wirtschaftliche Wertschöpfung, die bisher im Ausland stattfand, zumindest teilweise nach Deutschland verlagert wird. Damit wird der ländliche Raum gestärkt und gestützt. Beziehen wir die Biomasse für die Biokraftstoffe dagegen aus Schwellen- und Entwicklungsländern, dann stellt sich sofort die Frage der Nachhaltigkeit. Deshalb ist die Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs auch von so großer Dringlichkeit. Das Biokraftstoffquotengesetz wird die notwendige Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der dringend benötigten Nachhaltigkeitsverordnung beinhalten, die in der zweiten Jahreshälfte in Kraft treten könnte. Dass Biomasse nur dann zur Herstellung von Kraftstoffen Verwendung findet, wenn die Nachhaltigkeit ihrer Erzeugung und Verarbeitung gesichert ist, ist aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion unerlässlich. Deshalb haben wir im Gespräch mit Herrn Bundesminister Gabriel, aber auch in den Gesprächen mit den Staatssekretären deutlich Wert darauf gelegt und den von Ihnen vorgelegten Fahrplan für eine Nachhaltigkeitsverordnung zur Grundbedingung für unsere Zustimmung zum Gesetz gemacht. Unsere nationale Diskussion über das Thema Nachhaltigkeit hat übrigens auch bei den vielgescholtenen Palmölproduzenten, zum Beispiel in Malaysia, Eindruck hinterlassen. Ich hoffe, dass es dort und natürlich auch weltweit gelingt, in Zukunft nachhaltig zu produzieren sowie die hierfür notwendigen Zertifizierungssysteme so aufzubauen, dass ein objektiver Nachweis erbracht werden kann. Das Konzept hierzu, welches die malaysische Regierung vor wenigen Wochen in Berlin präsentierte, scheint mir ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. All denjenigen, die Biokraftstoffe in die Ecke stellen, muss gesagt werden, dass Biokraftstoffe eine preisstabilisierende Wirkung haben können. Im letzten Jahr, am 3. Juli 2008, erreichte der Ölpreis sein bisheriges Allzeithoch mit 145,29 US-Dollar. Laut Presseveröffentlichungen hätte der Preis um bis zu 15 Prozent höher, bei 167 US-Dollar, liegen können, wenn uns nicht die Biokraftstoffe als preisdämpfender Faktor zur Verfügung gestanden hätten. Berücksichtigt man zusätzlich die Tatsachen, dass mehr als 50 Prozent aller Privathaushalte in Deutschland mit Erdgas heizen und dass der Erdgaspreis - wenn auch zeitlich verzögert - an den Ölpreis gekoppelt ist, dann steht fest: Der kalte Winter 2008/2009 wäre für die Mehrzahl der deutschen Haushalte ohne Biokraftstoffe noch teurer geworden, als er ohnehin schon war. Die Konkurrenz mit dem immer unberechenbareren Ölpreis ist zugleich ein Fluch für die Hersteller von Biokraftstoffen. Fällt der Preis für Öl oder steigt der Preis für Getreide, Raps oder andere Grundstoffe, dann sind Biokraftstoffe, wenn sie nicht beigemischt werden müssen, nicht mehr wettbewerbsfähig. Dies kann je nach Marktlage dazu führen, dass es sich von Woche zu Woche ändert. Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ermöglicht das, was in der verbleibenden Zeit dieser Legislaturperiode noch erreichbar ist. Bei aller berechtigten Kritik an den schwerwiegenden handwerklichen Fehlern, die im ersten Anlauf im letzten Jahr im BMU gemacht wurden, scheint der zweite Anlauf trägfähig zu sein, ({0}) insbesondere deshalb, weil die Quote, die im Entwurf des BMU ursprünglich auf 4,8 Prozent abgesenkt war, durch den Koalitionsausschuss auf Initiative der Union auf 5,25 Prozent angehoben wurde. Ebenfalls auf unsere Initiative wurde ein Anstieg der Besteuerung für 2009 von 6 auf 3 Cent pro Liter begrenzt. Schließlich werden wir in den kommenden Wochen das sogenannte Hydrotreating, insbesondere von Palmund Sojaprodukten, unter Parlamentsvorbehalt stellen. Dies schützt den Mittelstand vor Wettbewerbsnachteilen, da dieser das Hydrotreating nicht einsetzen kann. Zudem wird beim Hydrotreating erheblich mehr Energie verbraucht als bei der Herstellung des fossilen Diesels. Mehr können wir in der verbleibenden Zeit dieser Legislaturperiode bei gleichzeitig notwendiger Notifizierung in Brüssel nicht erreichen. Der vorliegende Gesetzentwurf legt die Grundlage für nachhaltige Erzeugung, insbesondere dafür, dass keine Biomasse mehr nach Deutschland gelangt, für deren Herstellung Wälder gerodet wurden. Ebenso schafft er bei der Quote endlich wieder Klarheit für die verunsicherten Branchen. Weiterhin wird die mittelständische Mineralölwirtschaft durch den Parlamentsvorbehalt für Hydrotreating geschützt werden. Lassen Sie uns deshalb jetzt diesen wichtigen Schritt gemeinsam gehen, und stimmen Sie bitte dem vorliegenden Gesetzentwurf zu! In der kommenden Wahlperiode werden wir das Thema erneut behandeln; denn in Einzelfragen besteht noch großer Diskussionsbedarf. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen. Zu diesem Gesetzentwurf liegen uns etliche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1) Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12465, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11131 und 16/11641 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit der Mehrheit der Stimmen der SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. ({0}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({1}) Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit der Mehrheit der Stimmen der SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Opposition und etlichen Enthaltun- gen aus den Reihen der Fraktion der SPD angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12465 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grü- nen und bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und der FDP angenommen. Zusatzpunkt 7. Beschlussempfehlung des Finanzaus- schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Stufenbesteuerung und Quotenpflicht bei Bio- kraftstoffen zurücknehmen - Nachhaltigkeitskriterien um- gehend einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12699, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5679 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktionen des Bündnis- 1) Anlagen 2 bis 4 ses 90/Die Grünen und der FDP und bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link ({3}), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage durch Europaparlamentarier entscheiden lassen - zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments gänzlich in Brüssel und Tagungen des Europäischen Rates in Straßburg abhalten - Drucksachen 16/9427, 16/8051, 16/9697 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Dörflinger Michael Roth ({4}) Dr. Diether Dehm Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion. ({5})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Telefonieren in Europa wird günstiger. Die Handytarife sinken deutlich ab Juli dieses Jahres. Offen gestanden würde ich über dieses erfreuliche Thema, das unmittelbar mit dem konkreten Handeln der Europäischen Union verknüpft ist, lieber reden. Da der Bericht über die Ergebnisse der Ausschussberatungen allerdings jetzt vorgelegt wurde, möchte ich mich stellvertretend für meine Fraktion einer Frage widmen, mit der wir uns und mit der sich Europäerinnen und Europäer schon seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten auseinandersetzen: der Frage des Sitzes des Europäischen Parlamentes. Sie alle wissen: Es gibt Themen, die sich reinen Kostenargumenten, reinen Finanzargumenten oder einer rein ökonomischen Sichtweise entziehen. Wer wüsste das besser als wir? Erinnern wir uns an das Jahr 1991, als der Deutsche Bundestag in Bonn heftig und intensiv über den Sitz von Bundestag und Bundesregierung beraten und dann eine knappe Entscheidung getroffen hat. Damals wurde ein Kompromiss gefunden, der heute nicht wenigen, zu denen auch ich mich zähle, nicht unbedingt Michael Roth ({0}) schmeckt. Denn ein Teil der Bundesregierung mit vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern befindet sich immer noch in Bonn und nicht am Sitz des Deutschen Bundestages. Ich beschreibe das deshalb in dieser Ausführlichkeit, weil wir alle uns in dieser Frage - ganz gleich, wie wir uns persönlich positionieren - eine gewisse Zurückhaltung auferlegen sollten; ({1}) denn bei diesem Thema geht es auch um Emotionen und um nationale und europäische Symbole. Wer will den Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich verdenken, dass sie sich selbstverständlich mit sehr viel Herzblut und aus tiefster Überzeugung für die europäische Stadt Straßburg als Sitz des Europäischen Parlamentes einsetzen? ({2}) Wer will ihnen das verübeln? Dennoch sage ich ganz persönlich - darüber haben wir auch im Ausschuss diskutiert, und dem stimmen sicherlich viele Kolleginnen und Kollegen, die regelmäßig in Straßburg oder Brüssel weilen, zu -, dass viele gute Gründe für einen Sitz des Europäischen Parlamentes sprechen, und zwar in Brüssel. In Brüssel sitzen die Europäische Kommission und der Ministerrat, und dort arbeiten und wirken viele andere Akteure, die mit der Europapolitik verbunden sind. Aber so einfach ist es nicht, vor allem deshalb, weil es hier nicht um das Interesse eines Mitgliedstaates allein geht. Im Vertrag von Maastricht ist ausdrücklich geregelt, dass der Rat über die Frage des Sitzes des Europäischen Parlaments einstimmig zu befinden hat. Das haben wir zu respektieren. Deswegen sind nationale Alleingänge in dem Sinne, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, in Brüssel, im Europäischen Rat oder im Ministerrat, einmal richtig auf den Putz zu hauen, nur begrenzt erfolgversprechend. Das wissen auch alle. Das hat auch schon der eine oder andere Kollege im Europaausschuss gesagt. Die Debatte kommt, selbst wenn sie aus vielerlei Gründen durchaus nachvollziehbar sein mag, zur Unzeit. Wir alle wissen, dass wir momentan ein großes Projekt zu stemmen haben, mit dem sich viele von uns seit Jahren beschäftigen. Es geht um die Frage: Wie geht es in der Europäischen Union institutionell und programmatisch weiter? Der Vertrag von Lissabon ist immer noch nicht von allen ratifiziert. Es gibt, wie wir wissen, immer noch große Probleme in Tschechien, und in Irland steht uns ein zweites Referendum bevor. In Deutschland steht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch aus. Ob es hilfreich ist, gerade in dieser schwierigen Phase europäischen Handelns die Frage des Sitzes des Europäischen Parlaments aufzubringen und damit das Tableau endgültig zu überfrachten, daran haben ich und viele Kolleginnen und Kollegen nicht nur meiner Fraktion erhebliche Zweifel. ({3}) Das muss bei allem Respekt gegenüber den Kolleginnen und Kollegen von FDP und Grünen, die diese Anträge erarbeitet haben, deutlich gesagt werden. Lassen Sie mich ein Letztes hinzufügen, das deutlich macht, wie weit Anspruch und Wirklichkeit manchmal auseinanderliegen. Erinnern Sie sich noch an unseren Antrag zu dem sogenannten Agentur-Unwesen in der Europäischen Union ({4}) und daran, dass auch in Deutschland gleich die Finger hochgingen, als eine neue Agentur - wie beispielsweise das Europäische Technologieinstitut -, eine neue EU-Institution aus der Taufe gehoben wurde? Sind wir heute nicht alle stolz darauf, dass Frankfurt am Main Sitz der Europäischen Zentralbank, einer ganz bedeutenden europäischen Institution, ist? Ist es nicht selbstverständlich, dass zu einem föderalen Aufbau der Europäischen Union gehört, dass Institutionen, Organisationen, Behörden nicht in einer einzigen Stadt gebündelt sind? Im Übrigen ist das auch in Deutschland nicht so. Es macht doch gerade die Vielfalt und die Stärke Europas aus, wenn sich alle Bürgerinnen und Bürger dem vereinigten Europa durch die Ansiedlung einer Institution oder eines Organs verbunden fühlen können. Deshalb bitte ich in der sich anschließenden Debatte um ein gewisses Maß an Zurückhaltung und an Toleranz denjenigen gegenüber, die Gründe dafür finden, warum Straßburg als Sitz des Europäischen Parlaments durchaus eine Daseinsberechtigung hat. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Daniel Volk, FDP-Fraktion.

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Michael Roth hat in seiner Rede eine Parallele zum Umzug des Deutschen Bundestages von Bonn nach Berlin gezogen. ({0}) Diese Parallele ist falsch. ({1}) Denn im Gegensatz zum Europäischen Parlament durfte der Bundestag selbst entscheiden. Wir als FDP wollen, dass auch das Europäische Parlament selbst entscheiden darf, wo es seinen Sitz haben will. ({2}) Gerade einmal zwölfmal im Jahr tagt das Plenum des Europäischen Parlaments für jeweils vier Tage an seinem offiziellen Sitz in Straßburg. Brüssel, wo nicht nur Ausschüsse, Fraktionen und andere parlamentarische Gremien tagen, sondern auch die Kommission und der Rat ihren Sitz haben, ist jedoch der wichtigste Arbeitsort. Deshalb tritt das Parlament regelmäßig in Brüssel zusammen. Zu guter Letzt befindet sich fernab von der eigentlichen parlamentarischen Arbeit in Luxemburg das Generalsekretariat des Europäischen Parlaments. Damit ist das Europäische Parlament weltweit das einzige Parlament, das nicht nur einen, sondern gleich drei offizielle Standorte in drei verschiedenen Ländern hat. Was hat das zur Konsequenz? Zurzeit werden in drei Städten insgesamt 22 Gebäude unterhalten, darunter zwei voll ausgestattete Plenargebäude. Hinzu kommen für jeden der 785 Abgeordneten und deren Mitarbeiter je ein Büro in Brüssel und in Straßburg. Auch das Parlamentssekretariat muss in beiden Städten zusätzliche Gebäude unterhalten. Dies macht unter dem Strich mehr als 4 800 Büros in Brüssel, 2 650 Büros in Straßburg und 2 000 Büros in Luxemburg. Außerdem sind 785 Abgeordnete und mehr als 3 000 Mitarbeiter zwölfmal im Jahr Teil eines riesigen Wanderzirkus, ({3}) bei dem nicht nur sie zwischen Brüssel und Straßburg pendeln, sondern auch das jeweils benötigte Aktenmaterial mit Lastwagen von einem Standort zum anderen transportiert wird. ({4}) Das ist nicht nur ein unglaublicher Verlust an Arbeitszeit. Hier werden auch Unmengen an Kapazitäten und damit Steuergelder verschwendet; ({5}) denn die Straßburger Gebäude werden nur an insgesamt knapp 50 Tagen im Jahr genutzt und stehen im Übrigen leer, übrigens bei vollen Unterhaltungskosten. Die angesprochenen Gesamtkosten belaufen sich an den drei verschiedenen Standorten auf rund 250 Millionen Euro im Jahr. Nun wurden wir in den letzten Monaten wegen der Finanzkrise mit schwindelerregend hohen Zahlen konfrontiert, gegen die 250 Millionen Euro möglicherweise lächerlich wirken. Aber ich setze es Ihnen einmal in Relation: 250 Millionen Euro sind mehr als 15 Prozent des Gesamtbudgets des Europäischen Parlaments. Mit 250 Millionen Euro könnten Sie weitere 100 000 Autokäufer mit Ihrer famosen Abwrackprämie beglücken. Oder tun Sie doch einmal etwas für die Zukunft: Sie könnten jedem Neugeborenen zum Start ins Leben 370 Euro schenken. Sie könnten das Geld aber auch einfach - das mag für Sie, liebe Kollegen von den Steuererhöhungsparteien, jetzt wie ein Fremdwort klingen - nur sparen und damit Steuern senken. ({6}) Der eigentliche Skandal ist allerdings, dass das Europäische Parlament, Vertreter des Souveräns, nämlich der europäischen Bürger - in jeder Demokratie das höchste Organ -, als einziges Parlament in Europa nicht selbst über seinen Sitz bestimmen darf, sondern ein fremdbestimmter Wanderzirkus ist. ({7}) Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir Liberale daher dem Europäischen Parlament nicht vorschreiben, wo es seinen ausschließlichen Sitz zu beziehen hat. Wir wollen dem Europäischen Parlament endlich das ureigene Recht geben, darüber selbst zu entscheiden. ({8}) Sachlich ist diese Aufspaltung des parlamentarischen Betriebs auf drei Standorte und die damit verbundene offensichtliche Verschwendung öffentlicher Mittel nicht mehr zu rechtfertigen. Den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land ist dieses Verhalten schon lange nicht mehr zu vermitteln. Deshalb ist diese Frage bei allen Argumenten, die heute hier im Raum stehen, eine schwere Hypothek für das Ansehen der Europäischen Union und ihrer Institutionen. Sie sollten das öffentliche Interesse an dieser Frage nicht unterschätzen. Nicht umsonst hat die von der liberalen Europaabgeordneten und heutigen schwedischen Europaministerin Cecilia Malmström ins Leben gerufene One-Seat-Initiative in weniger als sechs Monaten weit mehr als 1 Million Unterstützer gefunden. Als Fazit bleibt festzuhalten: eine massive Verschwendung von Steuergeldern, ein immenser bürokratischer Aufwand und der Wunsch der Europaabgeordneten, nur noch an einem Ort zu tagen. ({9}) Geben wir den Abgeordneten doch endlich die Freiheit, diesen Irrsinn beenden zu können, und suchen wir nicht immer weiter nach Ausreden, warum das gerade nicht gehe! Die berechtigte Kritik an der unhaltbaren Aufspaltung sollte endlich ernst genommen werden, und es sollte die Voraussetzung für eine sinnvolle Regelung geschaffen werden. Dies wird aber nur gelingen, wenn das Recht, über die Sitzfrage zu entscheiden, auf eine breite parlamentarische Grundlage gestellt wird. ({10}) Dies ist keine Angelegenheit von Regierungen, die mit einem Veto nationale Sonderinteressen durchsetzen können, sondern eine Frage der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union als Ganzes. Außerdem geht es um die Frage, ob wir dem Europäischen Parlament endlich die Hochachtung einräumen, die wir auch jedem anderen Parlament geben. Das Europäische Parlament soll, wie jedes andere Parlament auch, nur noch an einem Ort tagen, und es sollte diesen Sitz nicht vorgeschrieben bekommen, sondern alleine darüber entscheiden dürfen. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir einen neutralen, klugen Kopf mit der Analyse von Arbeitsbedingungen verschiedener Parlamente innerhalb der Europäischen Union beauftragen würden, dann käme er vermutlich zu auch für uns überraschenden Erkenntnissen. Ich meine das insbesondere hinsichtlich der infrastrukturellen Voraussetzungen, unter denen diese Parlamente arbeiten. Insofern steht sowohl in dem Antrag der FDP als auch in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen durchaus etwas Sinnvolles. ({0}) Unter den vielen Parlamenten hat das Europäische Parlament aufgrund seiner drei Sitzungsorte - sagen wir es vorsichtig - erschwerte Arbeitsbedingungen gegenüber vergleichbaren nationalen Parlamenten. Ich nehme mir die Ratschläge unseres Koalitionspartners ja nicht immer zu Herzen, aber den Ratschlag, eine zurückhaltende Debatte zu führen, Herr Kollege Roth, will ich einmal ausdrücklich aufgreifen. Wir sind zwar zweifelsohne die Vertreterinnen und Vertreter des höchsten deutschen Parlaments, aber mit meinem Urteil darüber, Herr Kollege Dr. Volk, ob uns damit auch das Recht zuwächst, quasi im Stile eines Zensors über die Bedingungen von Kolleginnen und Kollegen zu richten, die in anderen Parlamenten arbeiten, wäre ich zurückhaltend. ({1}) Weil wir eine Debatte im Grundsatz führen, will ich auch noch einmal einen Blick zurück in die Vergangenheit werfen, damit klar wird, aus welchem Grund wir und die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament heute mit diesen drei Sitzungsorten arbeiten müssen bzw. dürfen. Das geht zurück auf die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1952, bei der Straßburg als Tagungsort festgelegt wurde. Später, im Fusionsvertrag der Gemeinschaft von 1965, wurde Straßburg als Parlamentssitz bestätigt. Brüssel wurde als Standort von Rat und Kommission und Luxemburg als Standort des Europäischen Gerichtshofs und der Parlamentsverwaltung benannt. Das fiel also nicht vom Himmel. Wir sollten auch nicht den Eindruck erwecken, als würden wir daran über eine einfache parlamentarische Initiative, auf die sich dann eine breite Mehrheit in diesem Hause stützen könnte, und durch die Aufforderung der Bundesregierung kurzfristig etwas ändern können; denn neben der Historie ist in diesem Falle auch ein Blick auf die Rechtslage hilfreich. In diesem Fall geht es um Art. 289 EG-Vertrag. Dort sind diese drei Standorte unmittelbar festgelegt, ob uns das gefällt oder nicht. Ich persönlich kann durchaus mit Kritik an dem Status quo leben, da ich ihn wirklich nicht für optimal halte. Wir müssen aber zunächst einmal mit der Rechtslage leben, und dazu gehört - darauf hat der Kollege Roth schon hingewiesen -, dass die Entscheidung unter das europäische Primärrecht fällt und dass insofern Einstimmigkeit unter den 27 Mitgliedstaaten im Rat erforderlich ist. Angesichts der Tatsache, dass diese Einstimmigkeit benötigt wird, glaube ich nicht, dass es der Gesamtbeantwortung dieser Frage dienlich ist, wenn ein einzelnes nationales Parlament - auch dann nicht, wenn es das deutsche ist, und zwar aufgrund des besonders guten Verhältnisses zu Frankreich - einen nationalen Vorstoß unternimmt. ({2}) Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir uns in diesem Hohen Hause vermutlich weitgehend oder vielleicht sogar vollständig darüber einig sind, dass das Europäische Parlament in Zukunft auf jeden Fall nur einen Parlamentsstandort und nicht mehrere haben sollte. Wir mögen uns darüber unterhalten, welcher der bisher drei Standorte es in der Zukunft sein sollte; dann sind wir mit der Einigkeit wahrscheinlich schon wieder am Ende. Damit sind wir im Deutschen Bundestag nicht alleine; auch bei den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments gibt es in dieser Frage ein breites Meinungsspektrum, um das einmal vorsichtig zu formulieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es mir nachsehen, dass ich als Südbadener mit besonderer geografischer und auch emotionaler Nähe zu Frankreich und aufgrund der Tatsache, dass wir unseren direkt gewählten europäischen Abgeordneten 1979 ins benachbarte Straßburg entsenden konnten, eine besondere Sympathie für Straßburg habe, und zwar auch deshalb, weil Straßburg zur Genese des Europäischen Parlaments gehört und ein Stück weit für eine gute Parlamentsgeschichte auf der europäischen Ebene steht. Die Position der französischen Regierung und bestimmt auch der Kolleginnen und Kollegen aus der Assemblée nationale hierzu kann ich durchaus nachvollziehen. ({3}) Ich gebe zu, man kann aus Gründen der Synergie und der Effizienz durchaus auch zugunsten von Brüssel argumentieren. Ich sage aber noch einmal: Da wir im Rat Einstimmigkeit brauchen und wenn es unser gemeinsamer Wille ist, dass wir schlussendlich zu einer Lösung kommen, die tatsächlich nur einen Standort präferiert, sollten wir unser Augenmerk darauf richten, dass wir auch mit den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments - vorzugsweise jeder mit seiner Fraktion - intensive Gespräche darüber führen, wie die Situation in Zukunft aussehen soll. Wir führen diese Gespräche nicht auf dem politischen Marktplatz, sondern vorzugsweise hinter verschlossenen Türen und weitgehend intern, weil dies - ich habe darauf hingewieThomas Dörflinger sen - insbesondere aus Sicht der französischen Regierung ein hochsensibles Thema ist, und zwar nicht nur für die Kolleginnen und Kollegen aus dem Elsass, sondern für Gesamtfrankreich. Wenn die Bundeskanzlerin tatsächlich in einiger Zeit mit dem französischen Staatspräsidenten ein Gespräch unter vier Augen darüber führen sollte, was man zukünftig an den Parlamentsstandorten auf europäischer Ebene zu ändern gedenke, und sich der Deutsche Bundestag am Schluss der heutigen Debatte darauf einlassen würde, eine Entschließung zu verabschieden, die die Entscheidung der französischen Regierung sozusagen vorwegnimmt, dann sind diese Gespräche zwischen Nicolas Sarkozy und Angela Merkel zumindest in diesem Punkt bestimmt nicht sonderlich erfolgversprechend. ({4}) Ich möchte einen Punkt hinzufügen - denn ich sagte vorhin, wir seien nicht die Zensoren für andere europäische Parlamente; lassen Sie mich dies in der notwendigen Deutlichkeit auch vor dem Hintergrund der einen oder anderen Äußerung aus dem Europäischen Parlament in den letzten Tagen sagen -: Ich erwarte, dass die Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments in ihren Reihen eine engagierte Debatte erstens darüber führen, wie die Struktur der Parlamentsstandorte künftig aussehen soll, und zweitens darüber, wo es zukünftig rein geografisch langgehen soll. ({5}) Dies wäre dann die Grundlage für zukünftige Verhandlungen; denn wir brauchen an dieser Stelle einen Beschluss des Europäischen Rates. Ich will auf Michael Roth zurückkommen, der im Zusammenhang mit der Forderung, Straßburg zur Disposition zu stellen, auf den Standort der Europäischen Zentralbank hingewiesen hat. Ich erinnere mich deswegen sehr gut an die damalige Debatte, weil ein Argument der Bundesrepublik Deutschland insbesondere war, dass mit dem Standort Frankfurt, wo die Deutsche Bundesbank bis zu diesem Zeitpunkt für die Stabilität der D-Mark eingetreten ist, sozusagen eine Analogie dafür hergestellt werden könnte, dass sich die Europäische Zentralbank anschließend in gleicher Weise für die Stabilität des Euro einsetzt, und zwar auch emotional und atmosphärisch. ({6}) Insofern habe ich für all diejenigen großes Verständnis, die sagen, Straßburg stehe für einen guten Teil der Geschichte des Europäischen Parlaments und dürfe nicht einfach mir nichts, dir nichts zur Disposition gestellt werden. Ich wurde eben im Kollegenkreis darauf hingewiesen - auch mir ist dies aufgefallen -, dass über die Frage des Sitzes des Europäischen Parlaments eine Debatte im Parlament immer dann geführt wird, wenn die Europawahl unmittelbar bevorsteht. ({7}) Ich unterstelle niemandem irgendetwas. Aber angesichts dessen, dass wir am 23. April diese Debatte führen und die Wahlen zum Europäischen Parlament am 7. Juni des gleichen Jahres stattfinden, liegt der Verdacht nahe, dass das eine mit dem anderen in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen könnte; ich formuliere hier bewusst sehr vorsichtig. ({8}) Ich wünschte mir, dass wir angesichts der Tatsache, dass wir als Deutscher Bundestag an dem von uns für die Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments als unbefriedigend angesehenen Zustand nichts ändern können, zumindest im Benehmen mit ihnen daran arbeiten, im Rahmen dessen, was uns möglich ist, für Verbesserungen zu sorgen. In der jüngsten Vergangenheit gab es durchaus Initiativen, die wir hätten nutzen können. Ich erinnere beispielsweise an eine Initiative aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament - sie ist gerade ein paar Tage alt -, in der vorgeschlagen wird, die sogenannten Minisitzungen in Brüssel auf ein Mindestmaß zu beschränken und so den Aufwand für Logistik und Transport - ich meine, den Personal- und Gepäcktransport von A nach B - nach Möglichkeit einzuschränken und am Standort Straßburg zu konzentrieren. Dann könnten wir

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Dörflinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Alexander Ulrich?

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- lassen Sie mich diesen Satz noch zu Ende bringen, Frau Präsidentin; dann gerne - den Vorschlag der EVP zum Gegenstand einer Debatte machen, um im Rahmen dessen, was möglich ist, in Straßburg, Brüssel und Luxemburg für Verbesserungen zu sorgen. Jetzt gerne, Herr Kollege Ulrich.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Kollege Dörflinger, es ist sehr lobenswert, dass Sie sich Gedanken machen, ob gewisse Anträge und Formulierungen dem Europawahlkampf geschuldet sind. Sie wissen aber so gut wie ich, dass gerade die CSU immer Volksentscheide abgelehnt hat.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe keinen neuen. Günther Oettinger ist noch im Amt.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- der neue Ministerpräsident der CSU - mittlerweile sagt, man solle auch bei wichtigen europapolitischen Entscheidungen Volksentscheide durchführen? ({0}) Glauben Sie nicht auch, dass Ihr Partner in der CDU/ CSU-Fraktion den Europawahltermin zu sehr im Blick hat?

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, was Ihre Frage mit dem Inhalt der Debatte zu tun hat, die wir gerade führen. Der Vorschlag von Horst Seehofer, über den man unterschiedlicher Auffassung sein kann - das will ich durchaus zugeben -, ({0}) bezog sich darauf, dass wir beispielsweise den Reformvertrag von Lissabon auch in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines Plebiszits bestätigen bzw. ratifizieren. Diese Auffassung teile ich persönlich nicht. ({1}) Ich halte das Ratifizierungsverfahren des Deutschen Bundestags für zielführend. Gegenstand der Debatte, die wir heute führen, ist die Frage des Sitzes des Europäischen Parlaments. Wir sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg weitgehend einig, dass dies eine Entscheidung ist, die das Europäische Parlament selbst fällen sollte. Da aber die Rechtslage nach Art. 289 des EG-Vertrages dem gegenwärtig entgegensteht, tragen Anträge wie die vorliegenden relativ wenig - außer zu einer zugegebenermaßen spannenden Debatte - zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament bei. Dazu hat leider auch Ihre Zwischenfrage keinen wesentlichen, erhellenden Beitrag geleistet, Kollege Ulrich. Ich komme zum Schluss. Lassen Sie uns keine Schaufensteranträge einbringen. Lassen Sie uns im Benehmen mit den Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments darüber nachdenken, was uns im Rahmen dessen, was uns vorgegeben ist - wir können die Rechtslage auch durch noch so gute Anträge unabhängig davon, wann der Vertrag von Lissabon in der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wird, nicht innerhalb der nächsten 14 Tage oder drei Wochen ändern -, möglich ist. Lassen Sie uns im Benehmen mit den Kolleginnen und Kollegen in Straßburg, Brüssel und Luxemburg darüber nachdenken, welche Verbesserungen wir unter den gegebenen Umständen erreichen können. Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, als wenn wir mit Schaufensterdebatten und Schaufensteranträgen im Deutschen Bundestag irgendetwas an dieser Situation ändern könnten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die Linke gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Diether Dehm. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir teilen die Meinung, dass das Europäische Parlament nicht mehr drei offizielle Standorte haben soll. Die Reduktion auf einen einzigen Standort würde sicherlich Synergieeffekte und andere Vorteile mit sich bringen. Der Inhalt ginge also in Ordnung. Dennoch bleibt das, was FDP und Grüne vorgelegt haben, ein Schaufensterantrag, solange Sie mit der CDU/ CSU und der SPD immer noch verzweifelt für den gescheiterten Lissabon-Vertrag kämpfen, der Ihrem Antrag nämlich eklatant widerspricht. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Im Protokoll Nr. 6 zu den europäischen Verträgen wurde ausdrücklich geregelt, dass die Tagungsorte Straßburg und Brüssel bestehen bleiben. Nahezu unverändert wurde das in den Vertrag von Lissabon übernommen. Es bleiben also beide Arbeitssitze des Europäischen Parlaments bestehen. Grüne und FDP haben dem noch vor wenigen Wochen zugestimmt. Ihre vorliegenden Anträge, in denen Sie so tun, als wollten Sie einen Ort einsparen, sind wohl eher in Verbindung mit dem Europawahltermin zu sehen - hier kann ich dem Vorredner nur zustimmen - und sind deswegen nichts anderes als pure Augenwischerei. Einem solchen Populismus kann eine seriöse Kraft wie die Linke selbstverständlich nicht zustimmen. ({0}) Deswegen sagen wir Nein zu beiden Anträgen. ({1}) - Michael Roth ist übrigens genauso eine seriöse Kraft wie die Linke, die sich immer gegen Populismus wehrt. Jetzt, in einer solchen Krise, deren Ausmaß Sie vor der Wahl herunterspielen, aber deren Dimension alle bisherigen Vorstellungen übertreffen dürfte, kommen Sie mit einem solchen - verzeihen Sie - Pipifaxantrag. Reden wir also nicht über Schaufenster, sondern über das Ladeninnere der EU. Eine Krisenlösung in der EU hat nichts von solchen populistischen Anträgen nach dem Motto „Politik und besonders Demokratie könnten zu viel Geld kosten“. Nötig ist jetzt ein Konjunkturprogramm, das seinen Namen verdient, wie es Nobelpreisträger Paul Krugman von der EU gefordert hat. Die Linke will eine europäische Wirtschaftsregierung, damit die Superreichen und Finanzjongleure endlich besteuert werden. ({2}) Statt der kaufkraftfeindlichen EU-Aufwärtsspirale der Mehrwertsteuer bei Konsum und Realwirtschaft brauchen wir eine europaweite Mehrwertsteuer auf Börsenumsätze; das ist gefordert. ({3}) Was wir brauchen, ist eine Europäische Zentralbank, die die Geldpolitik in den Dienst von Löhnen, Arbeitsplätzen und Wachstum stellt, statt einseitig auf Geldstabilität fixiert zu sein. ({4}) Wenn Herr Steinbrück zum jetzigen Zeitpunkt eine Inflationsdebatte lostritt ({5}) - ich schaue sehr genau auf das Datum, Herr Eisel - und sich wegen der Inflationsgefahr den Anstrengungen Barack Obamas und denen wichtiger EU-Staaten verweigert, dann ist das so, als ob er die Wasserspritze beim Löschen eines brennenden Hauses drosseln möchte und vor der Gefahr einer Überschwemmung warnte. Sie sprechen nicht über die wirklichen Rechte des EU-Parlaments in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen - diese Rechte werden auch im Lissabon-Vertrag nicht angemessen gestärkt -, sondern Sie legen hier zwei Schaufensteranträge vor, um den Wählerinnen und Wählern etwas Distanz und Korrektur an der jetzigen EU vorzugaukeln. Die Bundesregierung muss ihre europafeindliche Bremserfunktion bei der Krisenbewältigung aufgeben, wofür Paul Krugman Frau Merkel „Miss Nein“ nennt und Herrn Steinbrück Holzköpfigkeit vorwirft. ({6}) Solange diese EU die Superreichen, das große Finanzkapital und seine Grundfreiheiten über die Mitbestimmungsrechte bei VW, die Tariflohnbindung im Baugewerbe, die von den Gewerkschaften erkämpften Sozialstandards und die Kleinunternehmen, die jetzt in ein grausames Insolvenzdomino geraten, setzt, werden Sie mit solchen Placeboanträgen nichts bewirken. Solange Sie am gescheiterten Lissabon-Vertrag festhalten und die beiden teuren Standorte Straßburg und Brüssel festschreiben, bleibt auch das Finanzkasino in Europa geöffnet und bleiben die Herzen und Köpfe der Menschen gegenüber der EU verschlossen. Wir wollen ein soziales und friedliches Europa, das die Menschen in einer Volksabstimmung einmal wissend bejahen werden. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Alexander, habt ihr intern solche Probleme, dass ich das machen muss? ({0}) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Klarstellung - auch für die Besucherinnen und Besucher dieses Hauses -: Unser Antrag, über den wir heute abschließend debattieren, ist am 13. Februar letzten Jahres eingebracht worden und hat nun wahrlich nichts mit dem Termin der Europawahl zu tun. Das gilt auch für den Antrag der FDP-Fraktion vom 4. Juni letzten Jahres. In diesen Anträgen wird ein ganz konkretes Problem der europäischen Politik zum Anlass genommen, um zu einer Lösung zu kommen. Ich gebe Ihnen recht, Diether Dehm: Dieses Problem ist gegen die EU populistisch benutzbar. Die Linke hat hier den populistischen Sermon abgelassen, den sie unsinnigerweise immer zum Lissabon-Vertrag vorträgt. Uns ging es aber um den Wanderzirkus, den das Europäische Parlament veranstaltet. Dieser ist, populistisch gesehen, extrem benutzbar; denn es geht um Geld, um die Umwelt und darum, dass Ressourcen vergeudet werden, was Sie nachrechnen können. All dies geschieht aus keinem nachvollziehbaren Grund. Es wird ohne Ende Manpower vergeudet. Ich bitte einmal alle Kolleginnen und Kollegen, sich vorzustellen, dieser Deutsche Bundestag würde jede zweite Sitzungswoche in Bonn abhalten. Stellen Sie sich vor, wir würden diesen Wanderzirkus nachmachen. Das würde enorme Personalressourcen erfordern. In Deutschland würde eine heftige Debatte ausgelöst, wenn der Bundestag mit seinen Tausenden von Mitarbeitern hinund herziehen würde und Wagenkolonnen mit Akten auf deutschen Straßen unterwegs wären. Es gäbe auch historische Gründe dafür, dass der Bundestag zum Beispiel in Berlin, in Weimar, in Bonn, in Frankfurt - wo auch immer - Dependancen hätte. ({1}) Es gibt ebenso viele gute Gründe, warum das Europäische Parlament in Straßburg tagt. Es gäbe für mich auch gute Gründe dafür, dass das Europäische Parlament nach der Wiedervereinigung Europas von nun an in Prag tagt. Es gibt viele Städte, die eine europäische Geschichte haben und die sich deshalb als Standorte für das Europäische Parlament qualifizieren. Darum geht es in dieser Debatte aber nicht. Es geht darum, dass die Art und Weise, wie wir die europäische Politik organisiert haben, extrem bürgerfeindlich und parlamentsfeindlich ist. ({2}) Sie macht dieses Parlament sehr angreifbar; denn Sie können keinem Menschen hier auf der Tribüne erklären, warum die Abgeordneten des Europäischen Parlaments ständig hin- und herfahren. Dieses Hin und Her verursacht Kosten, nimmt Arbeitszeit in Anspruch, ist der Grund für einen jährlichen CO2-Ausstoß von 20 000 Tonnen, erzielt aber überhaupt keinen Effekt. Das macht die Europäische Union sehr angreifbar. Dies sollten wir verhindern. Es gibt keinen Grund, das so zu machen. Von mir aus können wir die Initiative aus Straßburg - „One City“ heißt sie jetzt - unterstützen, in der gefordert wird, dass das Parlament ab sofort in Straßburg tagt. Aus Schweden kommt eine Initiative, in der man sich dafür einsetzt, dass alles von nun an in Brüssel stattfindet. Beide Initiativen haben ihre Berechtigung. Es müssen aber Konsequenzen gezogen werden. Die Bürgerinnen und Bürger haben es satt, dass dies nicht geschieht. Zu sagen, dass, wenn man sich nicht einigt, alle Geld bekommen und alle Standorte erhalten bleiben, ist der falsche Ansatz. Wir müssen uns entscheiden. Wir als Deutscher Bundestag müssen uns klar und eindeutig dazu äußern. Ich finde es völlig richtig, dass die FDP sagt: Auch das Europäische Parlament muss dazu eine Position finden und darüber abstimmen. - Wir wissen aber ganz genau, dass die Abstimmungen im Europäischen Parlament den derzeit gültigen Vertrag letztendlich nicht ändern. Die Position der nationalen Parlamente ist daher wichtig. Wir führen zwar viele Debatten über Subsidiarität, also darüber, wer wofür zuständig ist. An dieser Stelle müssen aber auch die nationalen Parlamente und ihre Regierungen, die darüber entscheiden, welche Position sie einnehmen, Stellung beziehen. Auch wir als nationales Parlament müssen entscheiden, welchen Auftrag wir unserer Regierung in diesen Verhandlungen geben. Deshalb ist beides notwendig. ({3}) Diese Debatte ideologisch zu führen, in den Ruf von Populismus zu stellen und sie dazu zu nutzen, alles, was man einmal zum Thema Europa sagen wollte, loszuwerden, halte ich für falsch. Wir müssen uns angewöhnen, die Probleme europäischer Politik Punkt für Punkt und sachgerecht zu diskutieren. Wir müssen also auch in diesem Punkt entscheiden. Dafür sprechen wir uns in unserem Antrag aus. Demokratie kostet Geld. Aber Demokratie ist auch dafür verantwortlich, dass mit Steuergeldern verantwortlich umgegangen wird und dass Steuergelder nicht verschleudert werden. An dieser Stelle aber werden Steuergelder durch wahnsinnig hohe Kosten verschwendet. Das ist mit grüner Politik nicht vereinbar. Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt, und ich hoffe, dass in 20 Jahren rückblickend gesagt wird: Die Grünen haben mit ihrem Antrag wieder einmal recht gehabt. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Axel Schäfer, SPDFraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag hat mit vielen guten Dingen das Europäische Parlament und die europäische Einigung geprägt. Seit 1952 gab es zum Beispiel die Forderung, dass dieses Parlament direkt gewählt wird; dafür haben unsere Vorgängerinnen und Vorgänger 25 Jahre gekämpft. Es gibt leider auch deutsche Dummheiten, und eine dieser Dummheiten haben wir bedauerlicherweise von überzeugten Europäern wie dem Kollegen Volk von der FDP und dem Kollegen Steenblock von den Grünen gehört. In Bezug auf das Europäische Parlament das Wort „Wanderzirkus“ zu wählen, ist die Art von Populismus, der Wasser auf die Mühlen all derjenigen gießt, die Vorbehalte gegenüber der europäischen Politik haben, und der im Vorfeld der Europawahl antieuropäisch wirkt. Das ist die Wirkung des Wortes „Wanderzirkus“. ({0}) Die gleiche deutsche Dummheit ist es, dass seit Jahrzehnten behauptet wird, wir seien der Zahlmeister in Europa. Viele Menschen in Deutschland glauben zwar, das zu wissen; aber letztlich haben sie keine Ahnung von der realen Situation. Wir führen heute keine Debatte darüber, dass das Europäische Parlament, das zwölfmal im Jahr in Straßburg tagt und ansonsten in Brüssel arbeitet, enorm viel, was Verbraucherschutz, Umweltschutz, Arbeitnehmerrechte usw. anbelangt, auf den Weg gebracht hat; viele Menschen und leider auch viele Bundestagsabgeordnete wissen nichts davon. Diese Debatte führen wir mit Blick auf den 7. Juni, damit die Wichtigkeit eines starken Parlaments deutlich wird und viele Bürgerinnen und Bürger wählen gehen. Das sollte heute das Thema sein und nicht das, das zufällig am 23. April ansteht. ({1}) Dies ärgert mich, und ich sage auch noch, warum. Lassen Sie uns über Respekt sprechen. Seit 30 Jahren haben wir ein direkt gewähltes Europäisches Parlament. In den letzten 30 Jahren wurde bei keiner einzigen Vertragsänderung darauf hingewiesen, dass es zur Stärkung der Demokratie und zur Schaffung von mehr Bürgernähe in Europa notwendig ist, dass das Europäische Parlament nur einen Sitz hat. Einen solchen Beschluss gibt es nicht. Warum gibt es ihn nicht? Weil es eine große Meinungsvielfalt usw. gibt. Wir als nationales Parlament maßen uns jetzt an, bestimmte Dinge vorzugeben, die zeigen, wie wir es gerne hätten. Wir unterstützen nicht bestimmte Forderungen des EP nach mehr Rechten oder nach mehr Bürgerbeteiligung; vielmehr wollen wir dem Europäischen Parlament etwas vorschreiben. In einer europäischen Demokratie, so wie wir sie verstehen, ist das respektlos. Diese Respektlosigkeit, die ihren Ausdruck Axel Schäfer ({2}) in dem Wort „Wanderzirkus“ findet, machen meine Fraktion und ich nicht mit. ({3}) Reden wir über Legitimität. Es gibt einige Abgeordnete in diesem Hause - Heidi Wieczorek-Zeul, Claudia Roth, Friedrich Merz, Gerd Müller und auch ich -, die früher Mitglied des Europäischen Parlaments waren. Wir reden ab und zu darüber, wie die Arbeitsweise verbessert werden könnte. Das halte ich für legitim. Ich finde es aber nicht gut, dass so etwas coram publico gemacht wird, weil das besserwisserisch klingt, im Sinne von: Wir sagen euch, wie es zu machen ist. Wenn niemand auf der Tribüne säße und wir in einer internen Ausschusssitzung wären, würde ich mich dafür aussprechen, dass im Europäischen Parlament darüber diskutiert wird, ob es statt 42 Sitzungswochen mit zwei, drei oder vier Arbeitstagen - egal wo - nur 24 oder 22 Sitzungswochen - so wie bei uns oder in anderen Parlamenten; man könnte darüber intern mit den Kollegen diskutieren - geben sollte, weil dies zahlreiche Arbeitstage und 30 000 Reisen im Jahr einsparen würde. Das würde zu weit mehr Einsparungen führen als das, was Sie bezüglich des Standorts Straßburg genannt haben. ({4}) - Ich mache das nicht, weil hier nicht der richtige Ort ist. ({5}) Wenn das Europäische Parlament zu der Entscheidung kommt, es sei notwendig, eine Vertragsänderung herbeizuführen, und wir dann über die Position des Europäischen Parlaments im Deutschen Bundestag diskutieren, dann hielte ich persönlich das für richtig. Ich halte es aber für völlig falsch, dem Europäischen Parlament den besten Weg für seine Arbeit vorzuschlagen. Damit würde man den Bürgerinnen und Bürgern vorgaukeln, Bürgernähe bestünde darin, dass man zwölfmal im Jahr anstatt nach Straßburg nach Brüssel fährt. Das ist der Unterschied. Viele Fakten, die Sie aufgezählt haben, stimmen nicht. Man müsste vieles überprüfen. Die Mitarbeiter des Europäischen Parlamentes haben beispielsweise kein separates Büro in Straßburg und Ähnliches mehr. Die Diskussion ist ein Stück weit aufgeblasen. Eine solche Diskussion direkt vor der Europawahl ist kontraproduktiv. Wir wollen vor der Europawahl aber produktiv und konstruktiv in allen unseren europäischen Fraktionen wirken. Wir wollen nicht Wasser auf die Mühlen derjenigen gießen, die das Europäische Parlament in der Öffentlichkeit beschämen und nicht darüber reden, in welchem Maße bereits Demokratie auf der europäischen Ebene erreicht worden ist. Darüber müssen wir reden. Das ist die Aufgabe des Deutschen Bundestages. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gestatte es.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Schäfer, ich habe jetzt gehört, welche Debatten Sie führen und was Sie alles sagen würden, wenn die Öffentlichkeit nicht zugegen wäre, wenn wir unter uns, also in einer geschlossenen Ausschusssitzung, tagen würden. ({0}) Auch ich war ein bisschen irritiert durch das Wort „Wanderzirkus“, weil ich ein frei gewähltes Parlament nie in die Nähe eines Zirkus oder einer Manege rücken würde. Ich kann einen Teil, aber wirklich nur einen Teil Ihrer Erregung verstehen. Könnte es sein, dass diese Erregung wesentlich geringer wäre, wenn kein Publikum anwesend wäre?

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Dehm, wir gehören lange genug demselben Ausschuss an. Sie wissen, dass ich mich auch im Ausschuss über manche Sachen aufrege und dass ich mich besonders bei Dingen engagiere, die mir sehr nahe gehen. Wer selbst einmal Mitglied des Europäischen Parlaments gewesen ist, den nehmen manche Debatten im nationalen Parlament ein bisschen mehr mit als denjenigen, der Straßburg und Brüssel nicht aus der Innensicht kennt. Da bitte ich um Verständnis. ({0}) - Das mit den verschlossenen Türen, lieber Rainder Steenblock, war natürlich nur in Anführungszeichen gemeint. Ich wollte damit deutlich machen, dass ich diese Forderung nicht öffentlich erheben würde, sondern im Dialog mit unseren Kolleginnen und Kollegen, weil ich sie als frei gewählte Abgeordnete mit einem unabhängigen Mandat genauso respektiere, wie ich jeden anderen in diesem Haus respektiere, dem ich auch keine Vorschriften mache, was die Arbeitsorganisation anbelangt. Darum geht es: um Respekt. Wir bekommen die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zum Europäischen Parlament nur dann, wenn wir deutlich machen, was dort erreicht worden ist und was wir gemeinsam erreichen und verbessern wollen. Zustimmung bekommen wir nicht durch Worte wie „Wanderzirkus“, die für Europa kontraproduktiv sind. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten können Axel Schäfer ({1}) deshalb - gerade nach dieser Diskussion - die Anträge mit gutem Gewissen zurückweisen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 16/9697. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9427 mit dem Titel „Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage durch Europaparlamentarier entscheiden lassen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8051 mit dem Titel „Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments gänzlich in Brüssel und Tagungen des Europäischen Rates in Straßburg abhalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Vereinbarte Debatte Jährliche Strategieplanung der EU-Kommission für 2010 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Gloser. ({0})

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte befasst sich mit der jährlichen Strategieplanung der EU-Kommission, mit der für das Jahr 2010. Die Kommission hat sicherlich vor keiner leichten Aufgabe gestanden: Auf der einen Seite muss sie die Regel einhalten, eine Planung vorzulegen; auf der anderen Seite weiß sie, dass sie im nächsten Jahr nicht mitbestimmen wird, weil nach den Wahlen zum Europäischen Parlament eine neue Europäische Kommission benannt wird. Die Europäische Kommission, die jetzt im Amt ist, wollte der neuen Kommission natürlich nicht vorgreifen. Hinzu kommt, dass die Unsicherheiten über das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon die Aufgabe nicht erleichtert haben. Die Bundesregierung und die seriösen Fraktionen in diesem Haus - ich greife einen Begriff des Kollegen Dr. Dehm auf - gehen davon aus, dass der Lissabon-Vertrag zum Ende dieses Jahres in Kraft gesetzt wird. ({0}) Wenn man sich die Strategieplanung anschaut, erkennt man, dass sie Kontinuität aufweist, was notwendig ist angesichts der vielen Probleme, die wir in der Vergangenheit angesprochen haben und für die wir eine Lösung finden müssen. Der erste Schwerpunkt ist die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise, die im Zentrum dieser Strategieplanung steht. Die Europäische Union hat auf dem G-20-Gipfel eindrucksvoll gezeigt, dass sie ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden kann. Nicht zuletzt auf europäischen Druck werden jetzt auch die internationalen Finanzmärkte stärker reguliert werden. Wir erinnern uns: Während der deutschen EU-Präsidentschaft wollten viele noch nichts davon wissen. Nachdem die Krise eingetreten ist, ist die Erkenntnis gewachsen. Eine der wichtigsten Aufgaben ist es jetzt, die EU-interne Finanzmarktaufsicht weiterzuentwikkeln. Dazu wird die Kommission in Kürze, gestützt auf die Ideen der Expertengruppe unter Leitung von Herrn de Larosière, Vorschläge vorlegen. Der Europäische Rat will im Juni bereits erste Beschlüsse fassen. Die Bundesregierung wird im Vorfeld ihre Vorstellungen zu den geplanten Maßnahmen abstimmen und auf der Brüsseler Ebene einbringen. Dabei müssen wir deren Auswirkungen auf die Architektur der Finanzmarktaufsicht im Auge behalten und sicherstellen, dass die Europäische Union in Zukunft auch in dieser Frage eine Vorreiterrolle spielt. Die von der Kommission vorgeschlagenen EU-finanzierten Konjunkturmaßnahmen vor allem im Energiebereich haben uns zunächst nicht überzeugt - das wissen Sie -, vor allem, weil sie nur kurz- und mittelfristig in den Jahren 2009 und 2010 einen konjunkturbelebenden Impuls gesetzt hätten. Wir haben beim Frühjahrsrat aber einen vernünftigen Kompromiss gefunden, dass nur die Projekte mit Gemeinschaftsmitteln gefördert werden, die in den Jahren 2009 und 2010 tatsächlich begonnen und umgesetzt werden können. Die dramatischen Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf den Arbeitsmarkt machen sich, wie wir alle auch aus heutigen Nachrichten wissen, immer stärker bemerkbar. Es ist richtig, dass sich die Europäische Kommission auch dieses Themas annehmen, sich also der Frage der sozialen Abfederung widmen wird und nicht nur Banken, Wirtschaft und Autoindustrie im Fokus hat. Deshalb ist wichtig, dass am 7. Mai ein Beschäftigungsgipfel auf europäischer Ebene stattfindet. Es ist gut, dass die Tarifpartner in diesen Prozess mit einbezogen werden, weil in erster Linie sie Lösungen - möglichst in Form kluger, intelligenter Modelle - für die Unternehmen und Betriebe finden müssen. Angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft kann unser deutsches Model gut bestehen. „Kurzarbeit statt entlassen“ und „Qualifizieren statt entlassen“ sind Prinzipien, die sich in der Krise tagtäglich bewähren. Die Bundesregierung begrüßt natürlich auch, dass die Kommission im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie - so hoffe ich zumindest - noch weitere Strukturreformen anstoßen wird. ({1}) Wir sehen allerdings ein Defizit, das an keiner Stelle erwähnt wird. Sosehr es notwendig ist, auf europäischer Ebene und auf nationaler Ebene jetzt Mittel in die Hand zu nehmen, um bestimmte Probleme zu lösen, so sehr fehlt uns doch ein Bekenntnis, dass nach der Krise wieder ein konsequenter Kurs der Haushaltskonsolidierung eingeschlagen wird. Der zweite Schwerpunkt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist der Klimawandel. Auch hier hat die Europäische Union in den letzten Monaten vieles zustande gebracht. Ich glaube, das noch einmal unterstreichen zu müssen, weil gelegentlich gefragt wird: Brauchen wir gerade in dieser wirtschaftlichen Krise eine ökologische Umgestaltung? Es ist wichtig, und es ist auch eine Chance, gerade in dieser Zeit die ökologische Umgestaltung unserer Industriegesellschaft vorzunehmen. In diesem Bereich und auch im Bereich der Forschung bieten sich Chancen in Bezug auf den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen. ({2}) Wir werden allerdings auch darauf achten müssen, dass wir im Vorfeld der Kopenhagener Klimakonferenz, der Nachfolgekonferenz zu Kioto, entsprechende ausgewogene Positionen innerhalb der Europäischen Union finden. Wir wissen alle, wie schwer es unter französischer Präsidentschaft war, eine einheitliche Position zu diesem Thema zu erarbeiten. Die Bereiche Innen und Justiz kann ich nur streifen. Die Europäische Kommission hat diese Bereiche zu Recht als weitere Schwerpunkte genannt. Das Stockholmer Programm wird sicherlich eine wichtige Rolle spielen, auch im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik. Allerdings müssen wir auch eine Balance finden zwischen Sicherheit und Terrorismusbekämpfung. Zum Schluss, Frau Präsidentin, lassen Sie mich kurz noch Folgendes sagen: Wieder einmal nicht enthalten ist eine Aussage zur Sprachenpolitik. Wir haben gemeinsam immer wieder versucht, in Brüssel deutlich zu machen, dass dies überfällig ist. ({3}) Ich hoffe, dass wir gemeinsam in Brüssel endlich eine Änderung herbeiführen können. Jedenfalls kann die neue Kommission, so sie im Amt ist, davon ausgehen, dass wir sie, wenn gute Vorschläge kommen, bei der Umsetzung unterstützen werden. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion. ({0})

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Staatsminister hat es schon gesagt: Die Strategieplanung für 2010 war für die Kommission sicherlich nicht so einfach. Die Umsetzung wird natürlich davon abhängen, ob sie schon auf der Basis des Lissabon-Vertrages agieren kann, wie der Übergang zur neuen Kommission gestaltet wird und wie diese überhaupt aussieht. ({0}) Aber über diese wichtigen Fragen dürfen wir nicht die fachpolitischen Themen vergessen, die in der Strategieplanung angesprochen werden. Die FDP-Fraktion will deshalb diese Debatte dazu nutzen, deutlich zu machen, dass auch wir Fachpolitiker uns in die europäische Debatte einschalten müssen und einschalten wollen. Als Rechtspolitikerin möchte ich justizpolitische Themen und das Stockholmer Programm, das auch der Herr Staatsminister schon kurz erwähnt hat, ansprechen. Dieses Programm wird die europäische Innen- und Rechtspolitik für die Jahre 2010 bis 2014 ganz entscheidend prägen. Das Jahr 2010, auf das sich die Strategieplanung bezieht, ist das erste Jahr der Durchführung dieses Programms. Um den Stellenwert der Fünfjahresprogramme richtig einzuschätzen, erinnere ich nur an das Programm von Tampere aus dem Jahr 1999, mit dem der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen vorgegeben wurde. Erst im Vertrag von Lissabon wird dieser Grundsatz ausdrücklich ins Recht überführt. Wir können die Bedeutung der Fünfjahresprogramme gar nicht hoch genug einschätzen. Ich halte es deshalb für unverzichtbar, dass wir Abgeordnete uns auch während der Sommerpause, selbst wenn wir alle dann wahrscheinlich im Wahlkampf sind, mit den Entwürfen dieses Programms befassen und uns in die europäische Diskussion einschalten. Wir dürfen damit nicht warten, bis der Europäische Rat das Programm während der schwedischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte endgültig beschlossen haben wird. Dann ist es nämlich zu spät. ({1}) Aus der Strategieplanung 2010 lässt sich schon ersehen, dass es inhaltlich weiter um die gegenseitige Anerkennung insbesondere gerichtlicher Entscheidungen sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen gehen wird. Selbstverständlich gehört es zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, dass wir gerichtliche Entscheidungen der Mitgliedstaaten anerkennen. Aber es gibt hier auch Grenzen zu beachten. Ich halte es zum Beispiel nach wie vor für unbedingt erforderlich, dass wir als Deutsche die Anerkennung und damit die Vollstreckung eines Urteils ablehnen können, wenn etwa dem Beklagten kein rechtliches Gehör gewährt wurde. Dazu, es zu gewähren, haben sich zwar alle 27 EU-Mitgliedstaaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet. Aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der die Einhaltung dieser Verpflichtung überwachen soll, ist leider nicht arbeitslos. Unter den fünf der 47 Konventionsstaaten, die am häufigsten wegen Verstößen gegen die Menschenrechtskonvention verurteilt wurden, waren sowohl 2007 als auch 2008 zwei Mitgliedstaaten der EU. Wenn wir uns in einer solchen Situation einfach auf das gegenseitige Vertrauen, also auf das Vertrauen in die Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedstaates berufen, dann treten die Rechte der einzelnen Bürger in den Hintergrund. So, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, können wir kein Europa der Bürger aufbauen. Die Grundrechte haben gerade die Funktion, für jeden Einzelnen sicherzustellen, dass auch bei Anerkennung ausländischer Entscheidungen sein Recht im Einzelfall gesichert bleibt. Deswegen ist es einerseits unsere Aufgabe, die europäische Rechtsetzung dahin gehend zu beeinflussen, dass keine Widersprüche zu den Regelungen unserer Verfassung auftreten können. Andererseits brauchen wir bei der Anerkennung ausländischer zivilgerichtlicher Entscheidungen den Ordre-public-Vorbehalt, um im Einzelfall notfalls eine Ausnahme von der gegenseitigen Anerkennung zu machen, wenn sonst die Grundrechte verletzt werden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union, der wir als Bundestag von Anfang an mit großer Mehrheit zugestimmt haben, achtet die nationale Identität der Mitgliedstaaten. Die europäische Einigung, hinter der wir alle stehen, beruht auf den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität. Danach regeln wir auf europäischer Ebene, was grenzüberschreitend geregelt werden muss. Wir nationalen Parlamentarier bestimmen hingegen in nationaler Vielfalt über Fragen wie zum Beispiel die strafrechtliche Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs oder der Sterbehilfe. Diese nationale Vielfalt muss auch bei der gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen gewahrt bleiben. Dazu brauchen wir den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit. Wenn ein bestimmtes Verhalten bei uns nicht strafbar ist, können wir nicht eine ausländische Strafe wegen genau dieses Verhaltens vollstrecken. Ich kann mir zwar vorstellen, dass wir zu einer Liste von Delikten gelangen, die in allen EU-Mitgliedstaaten strafbar sind, sodass wir insoweit auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit verzichten könnten. Die jetzt vorliegende Liste der 32 Delikte leidet aber unter einem ganz entscheidenden Mangel: Sie genügt nicht dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot. Kommt es nicht zu einer Präzisierung dieser Delikte, muss sich Deutschland die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit auch in Zukunft vorbehalten. Ein anderes für die europäische Rechtspolitik unverzichtbares Vorhaben ist die Einigung über Mindestrechte der Beschuldigten. Wenn wir die Bürger überzeugen wollen, dass die Europäische Union eine Union der Bürger und für die Bürger ist, können wir nicht weiter Rechtsinstrumente zur Zusammenarbeit der Justizbehörden verabschieden, ohne parallel ein Rechtsinstrument zu beschließen, das den von dieser Zusammenarbeit betroffenen Bürgerinnen und Bürgern, den Beschuldigten, ihre elementaren Rechte sichert. ({3}) Wir haben als nationale Parlamentarier wiederholt Mitwirkungsrechte bei der europäischen Gesetzgebung eingefordert. Lassen Sie uns diese Rechte, die durch den Lissabonner Vertrag sogar noch erweitert werden, in Zukunft bitte noch engagierter auch tatsächlich wahrnehmen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Helmut Lamp, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Helmut Lamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001275, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute beraten wir die von der EU-Kommission vorgelegte Strategieplanung für 2010. Der Staatsminister hat die fünf Punkte bereits in etwa umrissen. Wir werten das Dokument grundsätzlich positiv. Besonders begrüßen wir ganz ausdrücklich, dass dieses Dokument zügig, frühzeitig und in deutscher Sprache vorgelegen hat. Leider ist dies nicht die übliche Praxis. Damit komme ich zu einem Kritikpunkt, den der Staatsminister auch schon genannt hat. Immer und immer wieder fordern wir im Ausschuss ein, dass uns die Parlamentsvorlagen aus Brüssel in deutscher Sprache und in den anderen nationalen Sprachen vorgelegt werden. Es fehlt eine Übersetzungsstrategie. Für das Funktionieren der Europäischen Union ist es aber unverzichtbar, dass den Vertretern des Volkes die zu beratenden EU-Dokumente vollständig, fristgerecht und in ihrer Muttersprache zur Verfügung gestellt werden. ({0}) Lassen Sie mich einen weiteren für mich wichtigen Kritikpunkt aufführen. Der Staatsminister hat deutlich gemacht, dass man sich der Überwindung der derzeitigen Finanzkrise widmet. Das ist okay. Es fehlen aber Wegweisungen zur Haushaltskonsolidierung nach der Krise. Wie wir alle wissen, wird sie Probleme hinterlassen, die dann zu bewältigen sind. Hier hat uns die Kommission im Moment alleingelassen. Des Weiteren vermisse ich in der Strategieplanung den Schwerpunkt - besonders weil ich aus SchleswigHolstein komme -, die grenzüberschreitende Kooperation im Ostseeraum zu forcieren. Das einzige Binnenmeer der EU wird sicher eines der zentralen Themen der kommenden schwedischen EU-Ratspräsidentschaft werden. Die Kommission hätte gut daran getan, auch hier vorab wegweisende Zeichen zu setzen. Wir haben aber nicht nur Schatten, sondern auch Licht. Ich begrüße ausdrücklich die Position der Kommission zur Klima- und Energiepolitik. In der Amtszeit dieser Kommission wurden im Klimaschutz Meilensteine gesetzt, deren Bedeutung für den weltweiten Klimaschutz man erst mit gewissem zeitlichen Abstand in vollem Umfang erkennen wird. Die Europäische Union ist mit ihren Zielsetzungen, bis 2020 die Energieeffizienz um 20 Prozent zu steigern, den Anteil der regenerativen Energien an der Energieversorgung auf 20 Prozent ansteigen zu lassen und den CO2-Ausstoß um 20 Prozent zu mindern, Vorreiter auf internationaler Ebene; das muss sie auch in Zukunft bleiben. Ich hoffe auf eine Fortsetzung dieser Politik im Rahmen der Klimaschutzkonferenz Ende des Jahres in Kopenhagen. Ich hoffe auf ein internationales Klimaschutzabkommen, das diesen Namen wirklich verdient. Auch wenn der Punkt nebensächlich erscheinen mag, begrüße ich es sehr, dass die Kommission beabsichtigt, bis 2013 keine zusätzlichen Stellen zu schaffen und ihren Personalbedarf mit den derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln zu bestreiten. Die EU setzt noch immer mehr als die Hälfte ihres Personals für die Verwaltung ihrer eigenen Verwaltung ein. Den Personalstand bis 2013 nicht ausweiten zu wollen, ist eine klare Aussage. Ansonsten sind die Planungsvorgaben häufig relativ offen gehalten, und zwar aus verständlichen Gründen. Beide Vorredner haben es schon angemerkt: Eine neue Kommission wird in dem einen oder anderen Punkt neue Akzente setzen. Möglicherweise wird eine Nachjustierung der hier vorliegenden EU-Strategieplanung wegen des Verlaufs der internationalen Finanzkrise und der Verabschiedung oder - so hoffe ich - Nichtverabschiedung des Vertrages von Lissabon ohnehin notwendig sein. Ich werde nicht mehr für den Bundestag kandidieren. Vermutlich habe ich hier die letzte Gelegenheit, einige grundsätzliche europapolitische Zielvorstellungen zu beleuchten und über das europapolitisch spannende Jahr 2010 hinauszublicken. Dabei möchte ich mich auf drei für mich wesentliche Punkte beschränken: Erstens. Die Europäische Union wird sich in absehbarer Zeit auf eine wirklich Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einigen müssen; ansonsten wird sie sich mit einer Zuschauerrolle am Rande der Weltpolitik begnügen müssen. Auf der UN-Konferenz zum Thema Rassismus in dieser Woche gab es leider wieder keine einheitliche europäische Haltung. Dieses Beispiel für die Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten wurde weltweit sehr aufmerksam registriert. Zweitens. Die EU sollte neben der gewachsenen Zusammenarbeit mit dem Partner USA auch eine Zusammenarbeit mit Russland und China anstreben. Natürlich ist der Weg zu einer vertrauensvollen Partnerschaft möglicherweise lang und mühsam, da noch etliche aktuelle Probleme zu überwinden sind. Eine wirklich partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union, den USA, Russland und China wäre in Hinblick auf die internationalen Friedensbemühungen ein gewaltiger Fortschritt. Über die Friedensbemühungen hinaus gibt es für die EU weitere sehr wichtige, nachvollziehbare Gründe dafür, die Zusammenarbeit mit Russland und China zu optimieren. Nur unter Einbeziehung der Energiepotenziale Russlands ist die Wirtschaft der EU zukunftsfähig. Um das notwendige Vertrauen aufzubauen, ist Russland immer einzubeziehen, wenn seine vitalen Interessen berührt werden, sei es beim Ausbau von Verteidigungssystemen oder bei Fragen der EU-Osterweiterung. Im vergangenen Jahrzehnt wurden die Empfindlichkeiten Russlands meiner Meinung nach im Westen nicht immer angemessen berücksichtigt. Nun zu China: Etwa 330 Millionen EU-Bürger zahlen heute mit dem Euro. Viermal so viele Chinesen, 1,3 Milliarden, zahlen mit dem Yuan, dessen Kaufkraft explosionsartig steigt. 350 000 Dollarmillionäre gibt es in China bereits heute. In jedem Jahr kommen 50 000 weitere hinzu. Die Europäische Union wird schon in absehbarer Zukunft einem schnell wachsenden Wirtschaftskoloss China gegenüberstehen. Die sich abzeichnende Entwicklung ist bei allen Zukunftsplanungen zu berücksichtigen. Meine ersten zwei Wünsche bezogen sich auf die Ausweitung der außenpolitischen Kompetenzen der Europäischen Union. Meine dritte Empfehlung läuft auf eine Kompetenzeingrenzung hinaus, und zwar im Bereich der Regionalpolitik. Nicht selten wurde in Brüssel überzogen geregelt, was vor Ort realitätsnäher und sachgerechter hätte gelöst werden können. Die Brüsseler Regelungssucht, die bis zu Etiketten auf Marmeladengläsern reicht, die aus bäuerlicher Produktion stammen, glättet die liebenswerte, in Jahrhunderten gewachsene Vielfalt unseres Europas und gefährdet die breite Zustimmung zu Europa. Ich bin seit 40 Jahren selbstständiger Landwirt. Ich musste relativ früh den Hof meiner Eltern übernehmen. In diesen 40 Jahren habe ich relativ häufig, insbesondere in den ersten Jahrzehnten, mit Berufskollegen gegen die EU protestiert, und zwar aus nachvollziehbaren Gründen. Die meisten meiner Berufskollegen haben in diesen Jahrzehnten ihre Existenzgrundlagen verloren. Doch zu keinem Zeitpunkt habe ich die EU in ihrer Funktion und ihrem Wirken grundsätzlich infrage gestellt, nicht nur, weil wir eine starke europäische Staatengemeinschaft brauchen, um die wirtschaftlichen Zukunftschancen ausschöpfen und Krisen gemeinschaftlich besser überwinden zu können, sondern vor allem, weil die Europäische Union die erfolgreichste Friedensinitiative aller Zeiten ist. ({1}) Meine lieben Freunde, deshalb erwarte ich von allen verantwortungsbewussten und zukunftsorientierten Mitbürgern, dass sie sich am 7. Juni zur Europäischen Union bekennen und von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Prioritäten der Europäischen Kommission für 2010 sind: wirtschaftlicher Aufschwung, nachhaltige Entwicklung, bürgernahe Politik und Europa als Partner in der Welt. So schön die Überschriften klingen - wenn man sich intensiver mit dem Papier beschäftigt und die Stellungnahme der Bundesregierung hinzuzieht, muss man doch feststellen, dass eine gescheiterte Politik, die uns in die größte Wirtschafts- und Finanzkrise seit Ende des Zweiten Weltkrieges geführt hat, durch diese Strategieplanung gerechtfertigt, legitimiert werden soll. Es ist dramatisch, dass ich hier, obwohl viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Angst um ihren Arbeitsplatz haben und nicht wissen, ob sie mit Kurzarbeitergeld über die Runden kommen, sagen muss: Herr Staatsminister Gloser, Europa und Deutschland sind nicht Opfer der Wirtschaftskrise; sie sind Mitverursacher der Wirtschaftskrise. ({0}) Wer das nicht einsieht, wird die Krise nicht bekämpfen können. Es reicht nicht aus, über den großen Teich auf Amerika zu zeigen. Europa und Deutschland haben die Massenarbeitslosigkeit und die soziale Verelendung, die wir derzeit in Europa und Deutschland vorfinden, mitverursacht. Paul Krugman, der Nobelpreisträger, ist schon oft zitiert worden. Er hat Finanzminister Steinbrück holzköpfig genannt. Ich möchte Jean-Paul Fitoussi, Mitglied der Stiglitz-Kommission der UN, zitieren, der über die Regulierung der Finanzmärkte sagte: Und dieses Problem ist dadurch entstanden, dass es über zweieinhalb Jahrzehnte eine Umverteilung der Einkommen von unten nach oben gab. Damit haben jene plötzlich viel mehr Geld gehabt, die … ohnehin nur einen relativ kleinen Teil ihres Geldes ausgeben und einen hohen Teil sparen. Mit diesen Ersparnissen haben sie Vermögenswerte gekauft. Diese Umverteilung nach oben war ein weltweit sehr tiefgreifendes Phänomen. Hier liegt die Wurzel der heutigen Krise, nicht in der Finanzwelt. Mit anderen Worten - das hat die Bundesregierung durch Sie heute noch einmal bekräftigt -: Die Fortsetzung der Lissabon-Strategie verschärft die Wirtschaftskrise, weil sie die Lohnentwicklung und damit Wachstum bremst. Die Superreichen werden ihr Geld weiterhin ins Kasino tragen. ({1}) Die Kommission und die Bundesregierung empfehlen die Fortsetzung dieser gescheiterten Strategie. Sie sollten den Menschen deutlich sagen, was das bedeutet. Die Fortsetzung dieser Strategie bedeutet: Lohndumping, Steuersenkungen für Reiche, Agenda 2010 und Hartz IV. Das war die nationale Umsetzung der Lissabon-Strategie in Deutschland. ({2}) Sie wollen diese Strategie fortsetzen und dem Rest Europas Lohndumping und Sozialabbau empfehlen. Das ist die Botschaft der CDU/CSU, der SPD und der Bundesregierung. Sie sollten den EU-Bürgern aber auch sagen, dass Deutschland im letzten Jahr Schlusslicht beim Wachstum war. ({3}) Sie sollten sagen, dass Länder mit einer niedrigeren Schuldenquote, zum Beispiel Spanien, aufgrund von Deutschlands Lohndumping vor dem Staatsbankrott stehen. Die Rechnung werden auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zahlen. Daher brauchen wir Euroanleihen, um die Zinskosten für unsere europäischen Nachbarn zu senken und teure Staatsbankrotte abzuwenden. Das europäische Konjunkturprogramm und die nationalen Maßnahmen bleiben gemessen an der Wirtschaftsleistung des Bruttoinlandsprodukts mit circa 0,9 Prozent weit hinter den Maßnahmen vergleichbarer Regionen wie den USA, Japan oder China zurück. Das ist zu wenig. Es werden auch falsche Schwerpunkte gesetzt. Steuergeschenke für Besserverdienende haben keine wirtschaftlichen Effekte. Öffentliche Investitionen sind der bessere Weg. Leider waren die Staats- und Regierungschefs der EU, insbesondere auch Bundeskanzlerin Merkel, in dieser Hinsicht ein Bremsklotz auf dem G-20-Gipfel. Die Ankündigung der Kommission, alle Finanzprodukte der Aufsicht zu unterwerfen, ist vollkommen unglaubwürdig. Sie haben auf dem G-20-Gipfel verabredet, Hedgefonds erst ab gewissen Schwellenwerten der Aufsicht zu unterwerfen; Hedgefonds gehören aber verboten. Ohne Sanktionen gegen Steueroasen ist die Aufsicht völlig unwirksam. ({4}) Meine Fraktion unterstützt daher die Proteste der europäischen Gewerkschaften vom 14. bis 16. Mai in Brüssel, Berlin, Prag und Madrid. Die Verursacher der Krise müssen zahlen. Anders ausgedrückt: Die Menschen müssen endlich wieder von der EU-Kommission und den Regierungen in den Mittelpunkt gestellt werden. Das, was gestern hinsichtlich der Einrichtung von Bad Banks in Deutschland verabredet worden ist, zeigt, dass der Bundesregierung die Ackermänner in diesem Land wichtiger sind als die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die sozial Benachteiligten. ({5}) Nehmen Sie das ernst, was zurzeit in Frankreich passiert und wovor DGB-Chef Sommer gewarnt hat. Diese Politik - Sie wollen sie ja fortsetzen - wird dazu führen, dass es auch in Deutschland soziale Unruhen geben wird. ({6}) Die Verantwortung haben nicht die Finanzmärkte, sondern diese Bundesregierung und die Koalition, die sie trägt. ({7}) Die Strategieplanung der Kommission und die Stellungnahmen der Bundesregierung offenbaren: Die EU und die Bundesrepublik Deutschland werden noch immer von den Finanzmärkten regiert. Die Verkäuferin, die aufgrund des Vorwurfs, sie habe 1,30 Euro veruntreut, entlassen worden ist, wird nicht zur Kanzlerin eingeladen, aber Herr Ackermann wurde gestern eingeladen. Er weiß, dass diese Bundesregierung ihm weiterhin helfen wird. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst eine Bemerkung zum Verfahren und zu dieser Debatte. Ich gehöre mit anderen Obleuten zu denen, die sich dafür eingesetzt haben, dass wir diese Strategiedebatte über die Planung der Europäischen Union jährlich durchführen. Ich finde das richtig. Es zeigt, dass europäische Themen im Deutschen Bundestag eine große Relevanz haben. Diese Debatte zeigt auch - das hat im Grunde der Beitrag von Frau Dyckmans deutlich gemacht -, dass wir eigentlich hier keine Generaldebatte führen müssen. Vielmehr wäre es besser, wir würden diese Debatte - ähnlich wie eine Haushaltsdebatte - anhand der Politikfelder der Strategieplanung splitten und einzeln darüber debattieren. Das würde das von den Europapolitikern häufig beklagte Problem, dass die Fachpolitiker zu wenig in die europäische Politik integriert sind, lösen. Solche Strategiedebatten würden es erfordern, dass wir uns ein bisschen mehr Zeit nehmen, um die Themen ausführlich zu behandeln; Frau Dyckmans hat dies heute am Beispiel der Justizpolitik so gemacht. Mit den anderen Politikfeldern, zum Beispiel der Umweltpolitik, der Außenpolitik und der Wirtschaftspolitik, müsste man das auch so machen. Wenn wir als Deutscher Bundestag auf die Strategieplanung der EU-Kommission und darauf, wie die Bundesregierung dazu Stellung nimmt, tatsächlich Einfluss nehmen wollen, dann sollten wir diese Debatten so führen, dass wir am Ende als Deutscher Bundestag zu den einzelnen Kapiteln eine Stellungnahme abgeben und die Bundesregierung verpflichten, die Strategieplanung einschließlich des Kommentars des Bundestages und nicht nur ihre eigene Position zu vertreten. ({0}) Ich stimme dem Kollegen Lamp zu, dass diese Debatte eine Konsequenz haben muss: Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger aufrufen, zur Europawahl zu gehen. Diese Wahl ist von zentraler Bedeutung. Die Europäische Union ist alternativlos, und wir müssen sie stärken. Wir Grüne haben uns immer dafür ausgesprochen. Der Lissabon-Vertrag ist ein Instrument, um die Europäische Union zu stärken. Aber die Europäische Union mit ihrem Parlament und ihrem Rat ist natürlich eine politische Veranstaltung. Uns geht es darum, ihre Politik so zu ändern, dass die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger eine größere Rolle spielen. Das, was Kollege Ulrich dazu sagte, kann ich in Teilen unterstützen, allerdings nicht in allen Teilen. Wir brauchen eine Europäische Union, die die Sozialpolitik nicht nur als Stichwort behandelt, sondern sich dafür einsetzt, europaweite Mindeststandards zu definieren. Wir brauchen auch auf europäischer Ebene eine Einigung über die Einführung von Mindestlöhnen. Auch uns in Deutschland hat dieses Thema in den letzten Wochen sehr beschäftigt. Wir wollen die Forderung „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ auf europäischer Ebene nicht nur institutionalisieren, sondern auch durchsetzen. In den einzelnen Nationalstaaten werden diese Themen durchaus behandelt. Daraus müssen allerdings europäische Standards werden. Im anstehenden Wahlkampf ist es wichtig, dass wir für die Rechte der Menschen in sozialen Fragen kämpfen und deutlich machen, wer die Bremser sind. Die Diskussion über Europa ist eine politische Debatte. Dabei geht es allerdings auch um die Umweltpolitik auf europäischer Ebene. Wenn man sich die Strategieplanung für Umwelt- und Klimaschutz, also für eines der größten Probleme sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch global, ansieht - ich will jetzt nicht über all das sprechen, was in den letzten Jahren geschehen ist und worüber wir sicherlich sehr unterschiedliche Auffassungen haben -, stellt man fest: Im Grunde gibt es für diesen Politikbereich nur noch zwei kleine Ansätze. Zum einen geht es darum, den Aktionsplan Energieeffizienz durchzusetzen - das ist zwar richtig; es handelt sich dabei aber nur um einen sehr geringen Teil -, zum anderen geht es darum, noch einmal neu zu überlegen, ob die transeuropäischen Energienetze vernünftig organisiert sind, und diese eventuell zu reformieren. Diese beiden Ansätze sind zu wenig, um der Bedeutung der Umwelt- und Klimapolitik in der Europäischen Union und auf globaler Ebene gerecht zu werden. Wir brauchen in Europa ehrgeizigere Ziele, die wir in den Planungen durchsetzen müssen. Hierbei erwarte ich von der Bundesregierung Unterstützung. ({1}) In ihrer Stellungnahme zur Strategieplanung hat die Bundesregierung sogar diese winzigen Ansätze noch unter einen Finanzierungsvorbehalt gestellt. Herr Gloser, Sie möchte ich dafür nicht verantwortlich machen. Unter der Ägide von Frau Merkel hat die Bundesregierung im letzten Jahr allerdings sehr häufig als Bremserin fungiert, gerade im Bereich der Klimapolitik und im Hinblick auf die Autoindustrie. Sie haben im Jahre 2008 eine Klimapolitik betrieben, durch die die großen CO2-Schleudern geschont wurden. Sie haben sich dagegen gewehrt, diese Politik zu ändern. Im Rahmen der Finanzkrise haben Sie nun feststellen müssen, welche Folgen diese Politik hat. Ich erwarte, dass Sie daraus Konsequenzen ziehen und auf europäischer Ebene eine ehrgeizigere Umwelt- und Klimapolitik formulieren, nicht im Sinne der großen Automultis, sondern im Interesse der Menschen, die unter dieser Krise, die auch eine Umweltkrise ist, zu leiden haben. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt, den ich zum Schluss ansprechen möchte - Kollege Lamp und andere haben darauf bereits hingewiesen -: Wir brauchen eine stärkere gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union. Was die Zusammenarbeit mit unseren östlichen Partnern betrifft, gibt es sehr viele Probleme, die zu Recht angegangen werden. Unsere Beziehungen zu unseren südlichen Partnern im Mittelmeerraum befinden sich in einer Blockade. Diese Probleme müssen überwunden werden. Herr Staatsminister Gloser, die Bundesregierung ist aufgefordert, in ihrer Planung darauf hinzuwirken, dass die EU in Zukunft im Hinblick auf ihre Beziehungen zu den östlichen Partnerländern und zu den Partnern im Mittelmeerraum sowie bezüglich der Nahostkrise eine größere Rolle spielt. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich auch in ihrer Stellungnahme zur Strategieplanung zu diesem Themen äußert. Ein allerletztes Wort.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Herr Kollege.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist wirklich ein letztes Wort, Frau Präsidentin. Bürgernahe Politik in Europa heißt auch, dass die Rechte des Einzelnen gegenüber staatlichen Strukturen gestärkt werden müssen. Was ist im Bereich Telefonüberwachung überlegt worden! Wie sind da Rechte des Einzelnen staatlichen Informationsstrukturen geopfert worden! So etwas werden wir nicht mitmachen. Hier sind die Rechte des Einzelnen, die Freiheitsrechte und die Informationsgrundrechte der Menschen, zu schützen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu ihrer ersten Rede im Hohen Hause gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Eva Högl, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass uns die Strategieplanung hier in jedem Jahr beschäftigt und dass wir ausführlich über sie diskutieren. In diesem Jahr haben wir - das ist schon angesprochen worden - eine besondere Situation: Wir alle wissen nicht, wie es weitergeht, vor welche Herausforderungen uns die Wirtschafts- und Finanzkrise noch stellen wird. Wir wissen auch nicht, ob es gelingt - wir hoffen es natürlich -, dass der Vertrag von Lissabon in allen Mitgliedstaaten ratifiziert wird. 2010 wird eine neue Europäische Kommission im Amt sein. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine große Chance für uns hier im Bundestag. Wir haben damit die Möglichkeit, der neuen Kommission unsere Forderungen und Vorschläge mit auf den Weg zu geben. Die Kommission setzt die Priorität zu Recht auf den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. Aber wie in den vergangenen Jahren und somit unabhängig von der Krise - das darf ich ausdrücklich kritisieren - legt die Kommission den Schwerpunkt wieder hauptsächlich auf wirtschaftspolitische Themen und blendet den sozialen Fortschritt und sozialen Zusammenhalt weitgehend aus. ({0}) Doch gerade in der Wirtschaftskrise muss es darum gehen, auch auf der europäischen Ebene die drängenden Fragen von Beschäftigung und sozialem Schutz zu beantworten. Lassen Sie uns deshalb die Kommission auffordern, bei all ihren Vorschlägen die soziale Dimension zu berücksichtigen! ({1}) Europa muss gerade in den Bereichen Beschäftigung und Soziales handlungsfähig sein und deutlich machen, dass es dafür sorgt, dass Beschäftigung geschaffen und soziale Sicherheit gewährleistet wird. Wir alle sind gerade unterwegs und werben dafür, zur Europawahl zu gehen. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger von Europa begeistern. Dies wird uns aber nicht gelingen, wenn sich Europa nicht um soziale Themen kümmert; denn diese stehen für die Bürgerinnen und Bürger ganz oben auf der Agenda. Deshalb ist die Strategieplanung der Kommission in diesem Punkt unzureichend. Da helfen keine Kommunikationsstrategie und kein Bekenntnis zum bürgernahen Europa, da hilft nur gute Politik. ({2}) Mit Blick auf 2010 darf es meiner Meinung nach kein „Weiter so!“ geben. Wir müssen unsere Themen - soziaDr. Eva Högl le Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit - mit Leben erfüllen und zum Maßstab unseres Handelns machen, und zwar auch auf der europäischen Ebene. Sozialpolitik ist nicht nur dazu da, wirtschaftliche Fehlentwicklungen zu korrigieren oder im Notfall einzuspringen. Wir brauchen ein Zusammenwirken der Bereiche Wirtschafts-, Finanz-, Beschäftigungs-, Sozial- und Umweltpolitik. ({3}) Diese Bereiche sind untrennbar miteinander verbunden. Wir brauchen daher einen integrierten Ansatz. Genau das war der Ansatz der Lissabon-Strategie vom Jahr 2000. Diesen Ansatz, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir wiederbeleben. Ich möchte es nicht bei allgemeinen Bekenntnissen belassen, sondern vier Punkte nennen, die, wie ich denke, konkrete Bestandteile der Strategie für 2010 sein sollten: Wir brauchen eine Initiative im Bereich des Arbeitsrechts. Europa muss sich darum kümmern, dass der Arbeitnehmerdatenschutz und die Mitbestimmung gesichert werden. Wir müssen das Prinzip „Gute Arbeit“ nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der europäischen Ebene zum Leitmotiv machen. Im Sinne des Flexicurity-Ansatzes, über den wir schon viel diskutiert haben, müssen wir einen Ausgleich zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen finden. ({4}) Wir brauchen eine europäische Initiative gegen Lohndumping. Arbeit muss fair entlohnt werden, und zwar in ganz Europa, und sie muss es ermöglichen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. An dieser Stelle darf ich sagen: Da kann Deutschland von Europa lernen. Wir sollten, wie es uns unsere Nachbarstaaten vormachen, endlich den Schritt wagen, ein Bekenntnis zu gerechten Löhnen abzulegen und einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. ({5}) Ich weise darauf hin - heute ist der Girls’ Day; Kollege Steenblock hat es schon gesagt -, dass es unerträglich ist, dass es trotz des Bekenntnisses zu gleichem Lohn für gleichwertige Arbeit, das seit 1958 in den Europäischen Verträgen steht, im europäischen Durchschnitt immer noch Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen von 17 Prozent gibt. In Deutschland sind es sogar 22 Prozent. Darum müssen wir uns kümmern. ({6}) 2010 wird auch das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sein. Dies ist ein ernstes Thema, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu dem ich mir deutlichere Aussagen der Kommission in ihrer Strategieplanung gewünscht hätte; denn es ist bisher leider nicht gelungen, die Armut in Europa signifikant zu reduzieren. Auch weiterhin leben in Europa noch viel zu viele Menschen in Armut oder sind von Armut bedroht; nach aktuellen Untersuchungen sind es 16 Prozent. Deshalb brauchen wir eine Strategie zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, insbesondere von Kinderarmut. Wir brauchen in Deutschland wie in Europa nicht nur allgemeine Bekenntnisse, sondern klare Vorgaben mit klaren Zielen und konkrete Maßnahmen, und wir dürfen uns nicht dahinter zurückziehen, dass diese Themen keine Aufgabe der europäischen Ebene seien, sondern müssen anerkennen, dass die Mitgliedstaaten gefordert sind. Hier erwarten die Bürgerinnen und Bürgern etwas von uns, und hier muss Europa seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. ({7}) Lassen Sie mich noch einen Punkt anschließen: Das Thema Soziales ist auch im Hinblick auf die externe Dimension, die die Kommission in ihrer Strategieplanung anspricht, von Bedeutung. Es ist wichtig, wie Europa sich beim Thema Soziales und Beschäftigung in der Welt aufstellt. Hier geht es weniger um Wettbewerb und Konkurrenz als vielmehr um Partnerschaft und Kooperation. Nach meiner Auffassung muss Europa dafür Sorge tragen, dass Prinzipien wie fairer Welthandel und die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards auch im Rest der Welt zum Maßstab werden. Hier muss Europa Vorbild sein. Ich komme zu folgendem Ergebnis - gestatten Sie mir, dass ich so kritisch bin -: Bezogen auf Beschäftigung sowie auf soziale Sicherheit und sozialen Fortschritt gibt die Kommission in ihrer Strategieplanung nur unzureichende Antworten auf die drängenden Fragen, die uns gerade in der Wirtschaftskrise sehr bewegen. Deshalb sollten wir im Bundestag die Gelegenheit wahrnehmen und uns intensiv mit dem Arbeitsprogramm der Kommission, das noch folgen wird, auseinandersetzen. Den Vorschlag des Kollegen Steenblock finde ich sehr gut, einmal zu überlegen, ob wir dabei nicht der Gliederung folgen, um uns substanziell mit den einzelnen Themen befassen zu können. Ich persönlich halte dies für sehr lohnenswert. Wenn wir diese Debatte engagiert führen und der Kommission etwas mit auf den Weg geben, dann haben wir uns damit zugleich für die kommende Debatte über die Lissabon-Strategie gerüstet, die 2010 auslaufen wird. Wir müssen uns überlegen, welche Strategie wir für die nächsten zehn Jahre für Europa entwickeln. Ich erhoffe mir, dass wir darüber in ausreichendem Maße diskutieren. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede in unserem Parlament und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute. Ich hoffe, dass Sie hier noch viele Reden werden halten können. ({0}) Ich gebe dem Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. ({1})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Kommission benennt in ihrer Strategieplanung für 2010 durchaus die richtigen Schwerpunkte und Maßnahmen, die angegangen werden können, um die Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen. Mindestens genauso interessant ist aber auch, was nicht in dieser Strategieplanung steht. Es ist schon angesprochen worden, dass sich dort zur Haushaltskonsolidierung kein Wort findet. Weil es stattdessen neue Ausgabenvorschläge für den Globalisierungsfonds und den Sozialfonds gibt, muss hier ganz deutlich gesagt werden: Die Zeit ist vorbei, in der wir über neue Konjunkturprogramme reden konnten. Wir müssen jetzt darangehen, die öffentlichen Haushalte zu sanieren und zur Konsolidierung zurückzukehren. ({0}) Zum Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung gehört auch, dass die Bürger wissen, dass wir mit den öffentlichen Finanzen vernünftig umgehen. ({1}) Deshalb muss im Rahmen dieser Strategieplanung ein ganz klares Signal zur Haushaltskonsolidierung, zu einer soliden Finanzpolitik und zu einer stabilen Geldpolitik gesetzt werden. Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten sollte die Kommission baldmöglichst die Signale setzen, damit wir nach der akuten Phase der Krise dazu kommen werden, dass die Maastricht-Kriterien wieder eingehalten werden und die Verschuldung der nationalen Haushalte begrenzt wird. ({2}) Ich wiederhole mich, wenn ich hier sage, dass auch durch den Bürokratieabbau ein substanzieller Beitrag dafür geleistet werden kann, wieder mehr Wachstum zu generieren. Die Vorschläge der Hochrangigen Gruppe unter Leitung von Edmund Stoiber müssen jetzt von der Kommission umgesetzt werden. Ich rate, dass auch die neue Kommission von uns in die Verpflichtung genommen wird, sich um die Umsetzung dieser Vorschläge zu kümmern und sich verbindliche Ziele beim Bürokratieabbau zu setzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommission widmet dem Thema bürgernahe Politik in der Strategieplanung ein eigenes Kapitel, sie schlägt in der Asylpolitik aber gleichzeitig Maßnahmen vor, die nach meiner tiefen Überzeugung von einem Großteil unserer Bürgerinnen und Bürger nicht mitgetragen werden. ({3}) Die Kommission hat die Stirn, uns vorzuschlagen, die Sozialleistungen für Asylbewerber an das nationale Niveau der Sozialhilfe anzugleichen, und schlägt gleichzeitig vor, die Wartezeit der Asylbewerber für den Zugang zum Arbeitsmarkt von einem Jahr auf sechs Monate zu verkürzen. ({4}) Damit schafft sie in einer Situation, in der absehbar ist, dass die Arbeitslosigkeit in ganz Europa steigen wird, zusätzliche Anreize zur Migration. Dadurch erreicht sie auch keine Lastenverteilung in Europa, weil völlig klar ist, dass die Asylbewerber dann dorthin gehen werden, wo die höchsten Sozialleistungen geboten werden, was insbesondere bei uns der Fall ist. Schließlich kündigt man den nationalen Konsens in der Asylpolitik auf, den wir 1993 in Deutschland gefunden haben. ({5}) Mit dem Asylkompromiss von 1993 haben wir, ohne dass es eine Große Koalition gegeben hat, einen gemeinsamen Weg zwischen der Union und der SPD gefunden, um die Anzahl der meist unberechtigten Asylbewerber - es waren über 400 000 - zu senken. Wir haben das geschafft, ohne dass einem wirklich politisch Verfolgten Asyl verweigert worden ist. ({6}) Damit haben wir überhaupt erst den Spielraum dafür geschaffen, denjenigen, die wirklich verfolgt werden, tatsächlich helfen zu können. Deswegen tun wir bis heute mehr, als wir tun müssen, beispielsweise dadurch, dass wir erst vor kurzem Flüchtlinge aus dem Irak in Deutschland aufgenommen haben. Wer das alles infrage stellen will, der wird zu den Diskussionen zurückkommen, die wir in den 90er-Jahren geführt haben und durch den Asylkompromiss gottlob beilegen konnten, nämlich zu den Diskussionen darüber, ob man sich das Individualgrundrecht auf Asyl, das eine deutsche Besonderheit ist und meiner Meinung nach aufrechterhalten werden muss, noch weiter leisten kann, und auch zu den Diskussionen darüber, in welchem Umfang wir Flüchtlinge über unsere Verpflichtungen hinaus aufnehmen können, wie wir das tun. Die Kommission sichert nun fadenscheinig mündlich zu, dass wir in Deutschland das Asylbewerberleistungsgesetz nicht ändern müssen. Das ist ein Stück Verdummung, der man scharf entgegentreten muss. Lieber Herr Gloser, ich erwarte auch von Ihnen, dass die Bundesregierung gegen diese Vorschläge der Kommission entschiedenen Widerstand leistet und verhindert, dass sie in der vorliegenden Form in Kraft treten können. ({7}) - Da ich hier Widerstand aus der SPD-Fraktion höre, sage ich ganz klar, dass die Wählerinnen und Wähler auch wissen müssen: Wer am 7. Juni 2009 zur Europawahl geht, der muss wissen, dass wir uns über die Richtung der europäischen Politik in der Sache auch streiten müssen. ({8}) Wer nicht will, dass der Asylkompromiss, der von uns unter schwierigen Voraussetzungen gefunden worden ist und mit dem wir seit 16 Jahren gut leben, durch die Hintertür und die Europäische Kommission ausgehebelt wird, der muss am 7. Juni 2009 bei der Europawahl CDU bzw. CSU wählen, weil wir das mit unseren Abgeordneten im Europäischen Parlament verhindern werden. ({9}) - Beruhigen Sie sich. Sie können Zwischenfragen stellen, ({10}) wenn Sie mir widersprechen wollen. Herr Kollege Steenblock, Sie haben vorhin etwas beiläufig gesagt, diese Bundesregierung sei in der Umweltpolitik ein Bremser in Europa. ({11}) Ich glaube, auch der Letzte in Deutschland hat gemerkt, dass es diese Bundesregierung gewesen ist, die schon im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 dafür gesorgt hat, dass wir in der Umweltpolitik und im Klimaschutz in der gesamten Europäischen Union und weltweit ein neues Kapitel aufgeschlagen haben. ({12}) Es ist auch die persönliche Autorität der Bundeskanzlerin gewesen, die dazu geführt hat, dass wir im Klimaschutz weltweit eine Vorreiterrolle eingenommen haben. Ich glaube, dass wir dies mit offensiver Kraft gut vertreten können. Wir alle haben daran mitgewirkt. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir diese Rolle, die wir europaweit und weltweit in der Umweltpolitik einnehmen, weiter gut ausfüllen. Frau Präsidentin, wenn es gestattet ist, lassen Sie mich noch einen Punkt zur Sprache sagen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie haben bereits überzogen.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es gestattet ist, Frau Präsidentin?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zwei Sätze.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich freue mich, dass wir uns fraktionsübergreifend darin einig sind, dass wir die deutsche Sprache in der Europäischen Union fördern müssen und dass die Bundesregierung dies ausdrücklich in ihre Kommentierung zur Strategieplanung der Kommission aufgenommen hat. Wenn irgendwelche abseitigen Vorschläge lauten, wir sollten in Europa nur noch Englisch reden, dann freue ich mich, dass wir uns in diesem Hause in allen Fraktionen darin einig sind, dass die Vertretung deutscher Interessen in der Europäischen Union anders ausschaut. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Volkswirtschaftliche Kosten der Agro-Gentechnik ermitteln und offenlegen - Drucksachen 16/7903, 16/10578 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Max Lehmer Dr. Christel Happach-Kasan Ulrike Höfken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege Johannes Röring, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die volkswirtschaftlichen Kosten der Grünen Gentechnik waren bereits Thema der Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke vom 8. November 2007. Ich denke, die Fragen wurden durch die Bundesregierung bereits hinreichend beantwortet. Dennoch hat die Linke es für notwendig erachtet, hierzu noch einmal einen Antrag zu formulieren, den wir im Mai letzten Jahres bereits debattiert haben und heute erneut debattieren werden, nachdem wir dieses Thema heute Morgen schon einmal auf der Tagesordnung hatten. Meine Damen und Herren, die Biotechnologie hält wahrscheinlich mehr Antworten auf die dringenden Fragen der Menschheit, nämlich auf Fragen der Gesundheit, der Energie und der Nahrung, bereit als jede andere Spitzentechnologie. Die Wertschöpfung verschiebt sich derzeit in vielen Ländern hin zu forschungsintensiven Industrien und zu wissenschaftlichen Dienstleistungen. Diese Bereiche tragen erheblich mehr zu Wachstum und Produktion sowie zu Außenhandel und Beschäftigung bei als andere Bereiche der Wirtschaft. Gerade in der heutigen Zeit können wir es uns nicht erlauben, Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen zu verhindern. Die Gegner der Grünen Gentechnologie führen stets an, diese Technologie sei zu wenig erforscht. Sie sprechen sogar von einer Risikotechnologie. Nun wollen die Kollegen von der Fraktion Die Linke mit ihrem Antrag aber offensichtlich die Kosten der Erforschung, zum Beispiel der Sicherheitsforschung, anprangern. Irgendwie passt das nicht zusammen. Aus meiner Sicht sollten Sie positiv zur Kenntnis nehmen, dass in Forschung und Analyse investiert wird. An dieser Stelle wiederhole ich mein Lob von heute Morgen, dass ich mich sehr darüber freue, dass das Bundeslandwirtschaftsministerium und das Bundesforschungsministerium in den nächsten fünf Jahren Projekte in der Bioenergie-, der Agrar- und der Ernährungsforschung an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Zusammenarbeit mit Partnern aus der Wirtschaft mit bis zu 200 Millionen Euro fördern werden. ({0}) Dabei wird die Grüne Gentechnik eine wichtige Rolle spielen, denn das in Forschung und Lehre investierte Geld wird aus volkswirtschaftlicher Sicht einen Nutzen bringen und kein negativer Kostenfaktor sein. Dass die Linke von solchen wichtigen volkswirtschaftlichen Zusammenhängen für die zukünftige Entwicklung des Standortes Deutschland keine Ahnung hat, dokumentiert sie im Plenum regelmäßig, sodass mich dieser Antrag nicht verwundert. ({1}) Im Übrigen, Frau Tackmann, haben Ihre politischen Vorbilder mit solchen Überzeugungen ganze Volkswirtschaften ruiniert. ({2}) Sollen die volkswirtschaftlichen Kosten einer Technologie ermittelt werden, ohne sich mit den Chancen und dem Nutzen zu beschäftigen, hat dies keinen Sinn. Die Entscheidung für die Grüne Gentechnik ist doch längst gefallen. Sie wurde auch deshalb positiv getroffen, da diese Technologie nach breiter wissenschaftlicher Einschätzung enorme Potenziale besitzt und damit ein großer volkswirtschaftlicher Nutzen von ihr zu erwarten ist. Auch liegt es in der Natur der Sache, dass forschende Institutionen - ob staatlich oder privat - Innovationen immer nur mit entsprechenden Vorleistungen auf den Weg bringen können. Wir stehen weltweit vor großen Herausforderungen. Bedingt durch die wachsende Weltbevölkerung steigt der Bedarf an Lebensmitteln, Rohstoffen und Energie in den nächsten Jahrzehnten stark an; ja, er wird sich sogar verdoppeln. Ich kann nur immer wieder betonen - auch wenn das einige von Ihnen nicht wahrhaben wollen -, dass die verfügbare Anbaufläche für landwirtschaftliche Produkte weltweit pro Erdenbewohner drastisch abnehmen wird. Sie wird sich laut wissenschaftlichen Prognosen bis zum Jahr 2050 auf dann 2 000 Quadratmeter pro Erdenbewohner halbieren. Ich glaube, diese Dramatik ist vielen von Ihnen nicht bekannt. Ich fasse es noch einmal zusammen. ({3}) - Die doppelte Menge auf halber Fläche heißt für mich Faktor 4, Frau Tackmann. Ich weiß nicht, wie Sie das sonst schaffen wollen. ({4}) Gleichzeitig müssen wir den großen ökologischen Herausforderungen wie der CO2-Minderung oder dem Ersatz fossiler Brennstoffe gerecht werden. Hierbei steht die Pflanze als zentraler Organismus im Mittelpunkt. Damit ist es unabdingbar, die Leistungsfähigkeit unserer Kulturpflanzen und damit die Effizienz der Landwirtschaft entscheidend zu steigern, zum Beispiel für Pflanzen mit verbessertem Nährstoffgehalt, höherer Energiedichte, größerer Widerstandsfähigkeit gegen klimatischen Stress - zum Beispiel die Eignung für wasserarme Standorte - oder Widerstandsfähigkeit gegen Schädlinge und Krankheiten und damit der Möglichkeit zur Vermeidung von Ertrags- und Qualitätsverlusten. Hierbei wird - das betone ich - die konventionelle Züchtung sehr stark gefordert sein und die Hauptarbeit übernehmen müssen. Aber zur Erreichung der oben genannten Ziele kann die Grüne Gentechnik einen großen Beitrag leisten. Wir sollten uns daher diese Option nicht nehmen lassen. ({5}) Breite Wissenschaftskreise in Deutschland und Europa sprechen aus diesem Grund von der Biotechnologie als einer der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts. Die Kosten von innovativen Technologien können zu einem frühen Zeitpunkt keinesfalls für eine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse herangezogen werden. Vielmehr gilt es, durch intensive begleitende Forschung die Nutzungsmöglichkeiten umfassend auszuloten. Es ist selbstverständlich, dass auch die sicherheitsrelevanten Fragen mit gleicher Intensität untersucht werden müssen. Der gesamte volkswirtschaftliche Nutzen hängt letztlich von einer durchgehenden, verantwortungsvollen Nutzen-Risiko-Abwägung ab. Dennoch müssen wir auch die Frage beantworten, wie hoch die Kosten sein können, die durch die Verhinderung einer solchen Technologie entstehen. Auch diese Frage muss gestellt werden. Wir haben schließlich in Deutschland bereits negative Erfahrungen gemacht. Ich denke zum Beispiel an die Rote Biotechnologie. Hier wurden in den 70er- und 80er-Jahren fatale Fehlentscheidungen getroffen. Deutschland war einst die Apotheke der Welt. Aber wir haben auch hier längst den Anschluss verloren. Eine Studie der EU-Kommission kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2005 lediglich sechs von 140 neu zugelassenen Medikamenten in deutschen Firmen entwickelt wurden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Analyse im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung. 1986 stoppte der damalige hessische Umweltminister Joschka Fischer den Bau von zwei bereits genehmigten Anlagen für die Produktion von nebenwirkungsarmem, biotechnologisch erzeugtem Humaninsulin. ({6}) 1998, 14 Jahre nach der ursprünglichen Genehmigung und zahlreichen Prozessen vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof, konnte das Unternehmen schließlich die Produktion aufnehmen. Der Schaden lag im dreistelligen Millionenbereich. Was noch schlimmer ist: Heute muss der Staat den auf dem Gebiet der Roten Biotechnologie tätigen Unternehmen mit Milliardenbeträgen Unterstützung gewähren, damit diese den Anschluss nicht für immer verlieren. Der volkswirtschaftliche Schaden an dieser Stelle ist unermesslich. ({7}) Dies darf uns - davon bin ich überzeugt - bei der Grünen Gentechnik nicht passieren. Deshalb setzt sich die Union nachdrücklich für die Intensivierung der Forschung zur Steigerung der Leistungsfähigkeit und der Standortanpassung von Pflanzen ein. Dies gilt sowohl für die herkömmlichen Züchtungsverfahren als auch für die moderne, zukunftsorientierte Pflanzenbiotechnologie. Deswegen lehnen wir den Antrag der Linken ab. Ich bedanke mich für das Zuhören. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Röring, ich befürchte, dass der volkswirtschaftliche Schaden, den das Wirken der vorangegangenen rot-grünen Regierung sowie der jetzigen schwarz-roten Regierung Deutschland an dieser Stelle zugefügt hat, schon jetzt sehr hoch ist und dass er, so wie sich die CSU aufgestellt hat, noch höher werden wird. ({0}) Ich fordere die CDU auf, an ihrem Kurs festzuhalten und deutlich zu machen, dass wir diese Züchtungsmethode weltweit und auch in Deutschland brauchen. ({1}) Es ist völlig legitim, nach den Kosten einer Züchtungsmethode zu fragen. Ich finde das in Ordnung. Aber, Frau Kollegin Tackmann, üblicherweise stellt man den Kosten den Nutzen entgegen. ({2}) - Sie könnten vielleicht bei Ihren Zurufen ab und zu ein bisschen disziplinierter sein. Aber das ist wohl nicht Ihre Sache. Man sollte einen Blick über Deutschlands Grenzen hinaus werfen und über den Tellerrand schauen. Wir müssen feststellen, dass diese Züchtungsmethode auf kontinuierlich zunehmenden Flächen angewandt wird, inzwischen auf über 125 Millionen Hektar. Das ist dreimal so viel wie die Fläche der Bundesrepublik Deutschland. Das ist für zwölf Jahre ein ganz bedeutender Erfolg. Seit 1996 ist auch die Zahl der Länder, in denen gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden, kontinuierlich auf über 20 gestiegen. Weltweit ist die Zahl der Kulturpflanzen, die mit gentechnischen Methoden bearbeitet werden, auf über zehn gestiegen. Genauso ist die Zahl der Ziele gestiegen, die mit dieser Züchtungsmethode verfolgt werden. War es ehemals die Herbizidtoleranz, ist es heute die Schädlingsresistenz. Insbesondere die Bt-Sorten stehen im Vordergrund. ({3}) Mit der Amflora haben wir ein verbessertes Produkt für die industrielle Verwertung. Ich glaube, dass die Erfolgsbilanz dieser Züchtungsmethode sehr eindeutig ist. Sie löst nicht alle Probleme - das ist mir bewusst, Herr Kelber -, wohl aber sehr viele. Angesichts der Perspektive, dass wir demnächst 9 Milliarden Menschen auf der Erde zu ernähren haben, ist es ein Erfolg, wenn wir eine Züchtungsmethode haben, die die Probleme der Menschen auf dieser Erde teilweise lösen kann. ({4}) Es ist ziemlich durchsichtig, wenn die Grünen, die SPD, die Linke ({5}) und - Frau Kollegin Höfken, Sie haben völlig recht - leider auch die CSU ({6}) - das stimmt doch überhaupt nicht - immer höhere bürokratische Hürden für diese erfolgreiche Züchtungsmethode aufbauen, die dem Potenzial möglicher Schäden in keiner Weise gerecht werden. Ich finde, wir sollten in diesem Haus endlich den Bericht des International Food Policy Research Institute zur Kenntnis nehmen, der aufzeigt, dass mit dem Anbau von Bt-Baumwolle in Indien die Zahl der Selbstmorde indischer Bauern deutlich gesunken ist. Ich finde es sehr zynisch, solche Erfolge kleinzureden, anstatt zu sagen: Eventuell müssen wir unsere Position überdenken. - Wir sollten einmal sehen, wie viele Flächen zusätzlich insbesondere mit Bt-Baumwolle bestellt werden, da sich diese Methode bewährt hat. Zu Recht weist der Kollege Röring darauf hin, wie wir die Biotechnologie aus Deutschland vertrieben ha23614 ben, insbesondere dadurch, dass biotechnologische Insulinerzeugung verhindert wurde. Dadurch sind Milliardenschäden entstanden. Wer sich heutzutage darüber beklagt, dass mehr Menschen arbeitslos sind, der muss auch daran denken, dass er damals eine Technologie aus Deutschland vertrieben hat, die inzwischen anerkannt ist und sich bereits hundertfach bewährt hat. Wenn ich mir heutige Pressemeldungen ansehe, finde ich es schon bemerkenswert, dass Bundeskanzlerin Merkel eine Wissenschaftsausstellung eröffnet und dazu sagt, dass die Grüne Biotechnologie und die neu industriell erzeugten Lebensmittel Auswege versprechen. Sie macht zwar deutlich, dass wir die Welternährung mit dieser Technologie verbessern können, ergreift aber gleichzeitig nicht das Wort, wenn ihre Landwirtschaftsministerin ein absolut unsägliches Verbot des Anbaus von MON 810 ausspricht. Das ist meines Erachtens unterirdisch. Wir als FDP-Bundestagsfraktion fordern die Kanzlerin auf, endlich Flagge zu zeigen. ({7}) Ich freue mich sehr, dass der bayerische Wissenschaftsminister seine Stimme erhoben und ganz deutlich gesagt hat: Ein verantwortungsbewusster Umgang mit der Grünen Gentechnik setzt weitere intensive Forschung voraus. - Sehr wohl, Herr Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch, Sie haben in diesem Bereich absolut recht! Ich freue mich auch, dass es in der SPD noch vernünftige Stimmen gibt. Die rheinland-pfälzische Umweltministerin Margit Conrad von der SPD hat sich immerhin für den Versuchsanbau der Amflora eingesetzt. Ich finde, dass es richtig ist, dies zu tun. ({8}) Denn wir wissen, welche Erfolge wir mit dem Anbau dieser Kartoffel erzielen können. Sie zu ächten, wie es von einigen gewollt wird, ist absolut falsch. ({9}) Ich freue mich, dass mein Kollege Dieter Kleinmann aus Baden-Württemberg Folgendes deutlich gemacht hat: Wir sind ein Land, in dem inzwischen über 2 Millionen Hektar Mais stehen. Die Bekämpfung von Schädlingen beim Mais mit Bt-Pflanzen ist eine sehr sinnvolle, eine sehr umweltschonende und eine naturverträgliche Methode. Ich wünsche mir, dass diese vermehrt angebaut werden. Zum Schluss möchte ich

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ganz zum Schluss, Frau Happach-Kasan.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- Franz Josef Strauß zitieren, an dem Sie sich so erfreuen: Dem Menschen aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden. Das ist das Gebot der Stunde. Ich fordere Sie auf, danach zu handeln. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Drobinski-Weiß hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Auf ein Neues: Über den vorliegenden Antrag der Linken zu den volkswirtschaftlichen Kosten der Grünen Gentechnik haben wir bereits debattiert, und wir, die SPD-Fraktion, haben auch unsere Gründe dargelegt, warum wir ihn ablehnen. Zwar halten wir es auch für richtig und wichtig, dass nach über 20 Jahren Debatte über das Für und Wider der Grünen Gentechnik endlich systematisch Daten gesammelt werden, die eine sozioökonomische Analyse ermöglichen. Unserer Meinung nach muss aber auf EUEbene angesetzt werden. Auch das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag hat im Rahmen der Untersuchung des Projekts „Auswirkungen des Einsatzes transgenen Saatguts auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Strukturen in Entwicklungsländern“ zum wiederholten Male festgestellt, dass eine sozioökonomische Bewertung der Grünen Gentechnik bisher fehlt und dringend nottut. Dabei wurde aber auch sehr deutlich gemacht, wie schwer es ist, die für eine Gegenüberstellung des gesellschaftlichen Nutzens und der Kosten nötigen Daten zu ermitteln. Nach unserer Auffassung muss dies auf EU-Ebene angegangen werden. Das EU-Zulassungsverfahren für GVO-Pflanzen muss um sozioökonomische Aspekte erweitert werden. ({0}) Es reicht nicht aus, die wissenschaftliche Kompetenz der zuständigen Behörden zu stärken und die Transparenz zu erhöhen. Vielmehr müssen die wirtschaftlichen und die sozialen Auswirkungen der Einführung eines neuen GVOs, die ökologischen Effekte des GVO-Anbaus im Gesamtsystem und die Akzeptanz sowie die Kontrollmöglichkeiten in die Entscheidung mit einbezogen werden. ({1}) Vor einer Zulassung sollten Aspekte wie die mögliche Gefährdung traditioneller Anbauformen, die Auswirkung auf Naturschutzgebiete und Kulturlandschaften sowie die Folgen für einzelne Landwirte, den Wettbewerb und ganze Regionen geprüft und in einer Folgenabschätzung bewertet werden. ({2}) Eine Bewertung auch unter Einbeziehung der gesellschaftlichen Kosten könnte dafür sorgen, dass die Mittel angesichts knapper Kassen effektiv eingesetzt werden. Nach der derzeitigen EU-Zulassungsregelung muss der Verdacht auf mögliche Umwelt- oder Gesundheitsrisiken durch naturwissenschaftliche Studien untermauert werden, damit sie in die Bewertung einfließen können. Aber für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen eines GVO-Konstruktes muss es keinerlei Nachweis bzw. keine Untersuchung geben. Das müssen wir ändern, wenn wir die Diskussion auf eine sachliche Basis stellen wollen, und das wollen wir. Die CSU in Bayern hat nun ganz plötzlich ihre ethischen Bedenken gegen den Einsatz der Grünen Gentechnik entdeckt, allerdings nur in Bayern. Während dort sogar von einem Eingriff der Unternehmen in die Schöpfung die Rede ist, sieht die CSU in Berlin die Grüne Gentechnik als große Chance, die vorangebracht werden muss. Wie wir gerade gehört haben, trifft das nicht nur für die CSU zu. Jegliche Kritik wird als Bedrohung für den Wirtschaftsstandort Deutschland abgeschmettert. Wir wollen einen klaren Kurs in der Gentechnik. Wir wollen im Rahmen des EU-Zulassungsverfahrens eine Bewertung des Nutzens und der Risiken von GVO auf breiter Basis, auf einer Basis, die auch ökologische, soziale und wirtschaftliche Auswirkungen stärker berücksichtigt. Das ist derzeit nicht der Fall. Deshalb muss die Bundesregierung sich dafür starkmachen, dass nach dem MON-810Verbot auch die Zulassung der GVO-Maissorten Bt 11 und 1507 verhindert wird. Die Entscheidung hierüber steht in Kürze an. Wir sagen Ministerin Aigner unsere Unterstützung zu. Die Grüne Gentechnik darf den Bürgerinnen und Bürgern nicht aufgezwungen werden. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen wir den Grundsatzstreit über die Agro-Gentechnik beiseite. Der Antrag der Linken verlangt doch eigentlich etwas Selbstverständliches: die Ermittlung und Offenlegung der volkswirtschaftlichen Kosten der Agro-Gentechnik. Ich verstehe nicht, dass man dem nicht zustimmen kann. Selbst diejenigen, die davon ausgehen, dass der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen keine Mehrkosten für die Volkswirtschaft verursacht, müssten doch eigentlich zustimmen, damit ihre Auffassung bestätigt wird. Das Gleiche gilt für die Gegenseite, die gegebenenfalls auch bestätigt werden würde. ({0}) Die Relevanz dieses Themas ist eindeutig. Das zeigt der vom Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft vorgelegte Schadensbericht Gentechnik. Zusätzliche Kosten entstünden zum Beispiel bei der Trennung von Ernte-, Transport- und Verarbeitungstechnik, die ohne AgroGentechnik gar nicht nötig wäre. Die Produktionskosten steigen zum Beispiel durch Entnahme und Analyse von Proben zur Sicherstellung der Rückverfolgbarkeit und der Kennzeichnung. Es gibt einen interessanten Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von gentechnisch unverändertem Saatgut und dem Preisniveau. Die Beispiele Soja und Mais machen das deutlich: In einigen großen Anbauländern ist fast kaum noch gentechnisch unverändertes Saatgut verfügbar. Die Erträge stiegen dort in den vergangenen 30 Jahren um den Faktor 1,7. Die Saatgutpreise stiegen dagegen um stattliche 500 Prozent. Im Gegensatz dazu stellt sich die Lage bei Reis oder Weizen dar, für die es derzeit keine gentechnisch veränderten Sorten auf dem Markt gibt: Die Saatgutpreise und die Ertragssteigerungen halten sich auf dem gleichen Niveau. Noch eine eindrucksvolle Zahl aus dem Bericht: Auf bis zu 1,285 Milliarden US-Dollar wird der Schaden geschätzt, der im Jahr 2006 durch die illegale Verbreitung der gentechnisch veränderten Reissorte LL 601 über die ganze Welt entstanden ist. Das war ein Super-GAU. Nun misstrauen manche einem solchen Bericht allein schon deswegen, weil er von einem Ökoverband stammt. Nur: Diejenigen müssten doch erst recht unserem Antrag zustimmen, damit das behördlich festgestellt wird. ({1}) Aus Sicht der Linken ist es durchaus plausibel, dass Agro-Gentechnik die gentechnikfreie Landwirtschaft und Imkerei verteuert. Das ist auch völlig unnötig; denn sie wird nicht gebraucht und von kaum jemandem gewollt - außer von ein paar Agrar- und Saatgutkonzernen, die sich mit dem Patentrecht die Kassen etwas schneller füllen. Es lässt sich doch nicht ernsthaft bestreiten, dass mit der AgroGentechnik einige wenige sehr viel Geld auf Kosten sehr vieler verdienen. Mit unserem Antrag fordern wir einfach Klarheit, auch für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Das ist doch die ureigene Aufgabe des Parlaments. Es ist doch wichtig, zum Beispiel zu hinterfragen: Wie viele Proben müssen Imkerinnen und Imker untersuchen lassen, um sicher zu sein, dass ihr Honig frei von Genpollen ist? Wie lange dauert die Reinigung von Erntemaschinen, um zu sichern, dass dort kein Genmais mehr enthalten ist? Welche logistischen Schwierigkeiten entstehen bei der Lebensmittelproduktion, wenn transgenes von konventionellem Soja getrennt werden muss? Solche Fragen sind absolut legitim und gehören zu einer Diskussion über diese Risikotechnologie. Die Ermittlung der zusätzlichen Kosten ist außerdem die Voraussetzung dafür, dass die Verursacher sie auch tragen. Damit meine ich vor allen Dingen die Saatgut23616 konzerne; denn vor allem sie profitieren vom Anbau und sollten für die volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten aufkommen. ({2}) In zweiter Linie meine ich allerdings auch die Landwirtschaftsbetriebe, die genetisch veränderte Pflanzen anbauen. Da unser Antrag die Kosten für die gesamte Volkswirtschaft erst einmal nur ermitteln und offenlegen will, kann man ihm eigentlich nur zustimmen, es sei denn, man will diese Wahrheit einfach nicht wissen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Ulrike Höfken das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann nur sagen: In der CDU/CSU herrscht fortgeschrittener Spaltungsirrsinn; anders kann man das nicht bezeichnen. ({0}) Wer hat eigentlich heute Morgen geredet? Stichwort Humaninsulin - gebetsmühlenartig wird davon gesprochen -: Die entsprechenden Gesetze sind in Hessen, und zwar zu Recht, gestoppt worden; denn man braucht zunächst Regeln für die Produktion von Gentechnik in geschlossenen Systemen. ({1}) Sie haben diese Gesetze auch in Ihrer Regierungszeit unterstützt. Ich möchte einmal sehen, wie die Bundesländer, in denen Sie regieren, auf die Barrikaden gehen, wenn Sie gegen gesetzliche Regelungen eintreten. So ein Schwachsinn! ({2}) Es ist nun einmal so, dass wir nicht deswegen Milliardenschäden haben, weil wir Gesetze verabschiedet haben, sondern weil es durch die Agro-Gentechnik zu Kontaminationen, zu Verunreinigungen, die Frau Tackmann erwähnt hat, gekommen ist: bei Reis, bei Zucchini, bei Honig. Ich verweise auf die Kontrollen, auf die Untersuchungen, auf die Bürokratie und die Milliardensubventionen. Zur Hightech-Strategie von Ministerin Schavan - darüber habe ich schon heute Morgen gelästert; ich kann es mir nicht verkneifen - gehört auch die Entwicklung von Weihnachtssternen, und zwar unter dem Etikett „Sicherheitsforschung“. Gefördert wird das Unternehmen Klemm + Sohn mit 270 000 Euro. Das gehört wahrscheinlich nur deswegen zu Deutschlands Hightech-Strategie, weil ein Mitglied dieser Firma im Vorstand des Verbandes der Pflanzenzüchter sitzt. Wir fordern dazu auf - darin unterstützen wir die Linke -, diese Kosten offenzulegen. Wir wollen allerdings - das unterscheidet uns von der Linken - nicht auf die Bewertungen durch die Bundesregierung selbst vertrauen; denn wir sind einigermaßen misstrauisch, wenn Behördenvertreter gemeinsam mit Mitarbeitern der Gentechnikindustrie wissenschaftliche Artikel veröffentlichen, in denen sie ankündigen, die Risikoprüfung - entgegen den geltenden Gesetzen - „schnell und kostengünstig“ zu vereinfachen. Es sind zumindest einige Fragezeichen erlaubt, ob eine Bewertung vonseiten dieser Behörden selbst richtig wäre. ({3}) - Ich schließe mich der in dem Bericht zur Technikfolgenabschätzung gestellten Forderung an: Wir wollen eine unabhängige Evaluation. Wir warten darauf, dass sich die Bundesregierung dieser Forderung endlich anschließt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin Höfken, Ihre Kollegin Cornelia Behm möchte eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen? ({0})

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte. - Ich bin gespannt. Sie nicht?

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin jetzt über eine Aussage gestolpert, Frau Höfken. Sie haben die Behördenvertreter erwähnt, die mit der Industrie zusammen agieren. Das irritiert mich. Vielleicht können Sie Ihre Aussage noch etwas stärker untersetzen. Ich habe auch einmal in einer Behörde gearbeitet. Auch Frau Aigner verlässt sich bei ihren Entscheidungen auf Behörden. Da muss doch Transparenz sein. So etwas kann doch nicht passieren. Können Sie das vielleicht klarstellen?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist natürlich von Wichtigkeit, inwieweit die Bewertungen, die jetzt zu den Entscheidungen geführt haben, tragfähig sind, und natürlich ist auch wichtig, inwieweit die Bundesregierung zu ihrer Haltung steht. Ich habe heute Morgen angesprochen, dass ich gestern in Mecklenburg-Vorpommern war. ({0}) Man muss sich einmal genau vor Augen führen, was dort passiert. Dort gibt es zwei Personen, nämlich Kerstin Schmidt und die Professorin Inge Broer, die - da werden die Verflechtungen eben deutlich - in einer Vielzahl von sich ergänzenden Funktionen auftreten. Einerseits tritt Frau Professor Broer, Professorin an einer Universität, als Anmelderin von gentechnischen Freisetzungen auf. Gleichzeitig gehört sie dem Gentechnikgremium des Bundesinstituts für Risikobewertung an, das an der Genehmigung solcher Versuche beteiligt ist. Zugleich ist Frau Professor Broer finanziell beteiligt an Firmen wie Biovativ, ebenso aber auch an zahlreichen Patentanmeldungen, wiederum in Verbindung mit der Bayer AG oder auch der Hoechst AG. ({1}) Man sieht dann eben auch die engen Verbindungen zu dem AgroBioTechnikum in Groß Lüsewitz, das wiederum finanziert wird - da sind wir genau wieder bei dem Punkt der Subventionen; hier geht es nur um die verhältnismäßig kleine Summe von 9 Millionen Euro durch EU, Bund und eben auch das Land MecklenburgVorpommern. Es gibt weitere Verbindungen zu einer Vielzahl von Forschungs- und Förderungsaktivitäten, zum Beispiel zu einem Schüler-Gentechniklabor, das von dem Verein FINAB initiiert wurde. Solche Verflechtungen haben wir aber nicht allein an diesem Standort. Wir haben ja noch andere, zum Beispiel Gatersleben. ({2}) Interessant wäre, den Ministerpräsidenten von SachsenAnhalt, Herrn Böhmer, einmal einzuladen, der gesagt hat, mit den 65 Millionen, die vom Land Sachsen-Anhalt in die Agro-Gentechnik geflossen sind, seien verdammt wenig Arbeitsplätze entstanden. ({3}) Selbst Herr Böhmer, der Ministerpräsident, sagt, er möchte nicht in der Zeitung lesen, welche Gelder die leitenden Angestellten dieses Bereiches bekommen haben. So viel zur Beantwortung der Frage. Ich glaube, das ist ein Bereich, der noch intensiv vertieft werden kann. ({4}) Zu der Diskussion von heute Morgen, die Sicherstellung der Welternährung erfordere eine Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft, möchte ich noch erwähnen: Die heute Morgen beschriebenen Chancen sind Märchen, die schon 2004 von der FAO, aber jetzt auch noch einmal in einer aktuellen Studie widerlegt worden sind. Die Studie aus den USA - 20-jährige Forschung, Auswertung eines 13-jährigen kommerziellen Anbaus in den USA - kommt zu dem Ergebnis, dass in den USA angebauter Genmais und gentechnisch veränderte Sojasorten keinesfalls höhere Erträge liefern als konventionelle Sorten. Man könnte - dazu reicht meine Redezeit nicht - noch eine Vielzahl solcher Märchen ansprechen. Letztendlich kommen wir immer zum gleichen Schluss. Es ist wichtig, die durch die Agro-Gentechnik verursachten Kosten auch denen anzulasten, die diese anwenden wollen - das ist verursachergerecht -, und nicht dem Ökolandbau, der mit seinen 150 000 Arbeitsplätzen viel mehr Arbeitsplätze als die Agro-Gentechnik mit ihren 500 bietet, der durch die Agro-Gentechnik aber in Gefahr gerät. Wir brauchen also eine Veränderung bei der Kostenbelastung durch die Agro-Gentechnik. Ich warte auf eine vernünftige Evaluation dieses Bereiches, damit wir dann vielleicht endlich einmal gemeinsam zu anderen Bewertungen kommen. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Ulrich Kelber das Wort für die SPD-Fraktion.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Höfken, bei aller inhaltlichen Gemeinsamkeit beim Thema Gentechnik: Sich eine „spontane“ Frage stellen zu lassen und dann die Antwort vom Zettel abzulesen, das ist aus meiner Sicht ein Missbrauch des Parlaments. Das tut man nicht. Das schadet auch dem gemeinsamen Anliegen. ({0}) Heute Mittag gab es die Aktuelle Stunde. Es ist gut, dass wir über dieses Thema sprechen. Stichwort jetzt: volkswirtschaftliche Kosten. Wenn man diese betrachtet, darf man nicht nur über die eigene Volkswirtschaft sprechen. Ich tue das deswegen gern, weil ich vor der Osterpause die Chance hatte, einige Tage in Sambia bei einer Kleinbauernfamilie zu leben und zu arbeiten und danach zu einer Konferenz über agrarische Entwicklung, Welthandel und Gentechnik zu fahren. Da hat man was erlebt. Als die Bundesrepublik Deutschland die Entscheidung getroffen hat, den Mais MON 810 nicht anbauen zu lassen, haben wir erlebt, dass deswegen der deutsche Botschafter einbestellt wurde. Können Sie sich das auch bei einer anderen Entscheidung von ähnlicher monetärer Größenordnung vorstellen? Sicherlich nicht. Das hat mit dem Ziel zu tun: der Monopolisierung von Lebensmitteln, der Monopolisierung von Saatgut, der Monopolisierung von Landwirtschaft. Etwas Ähnliches ist in Sambia passiert. Dort hat die katholische Kirche so lange Druck auf die Regierung ausgeübt, bis diese ein Einfuhr- und Anbauverbot für gentechnisch veränderte Organismen ausgesprochen hat. Daraufhin hat der damalige Außenminister der Vereinigten Staaten von Amerika persönlich im Vatikan angerufen und gebeten, die katholischen Priester in Sambia zu stoppen. Das zeigt die strategische Bedeutung, die diesem Thema beigemessen wird. Es geht darum, einen ganzen Bereich für ein Land, für eine bestimmte Firma zu monopolisieren. Das wird volkswirtschaftliche Kosten ungeahnter Größenordnung für den wichtigsten Bereich, nämlich die Ernährung von Menschen, nach sich ziehen; das ist nicht zu akzeptieren. ({1}) Ich habe nun eine Bitte an das Landwirtschaftsministerium, die Ministerin oder an die Staatssekretäre. Ich habe hier leider nur eine kleine eigene Auswahl von Schreiben. Die Kenntnisnahme biete ich Ihnen, Frau Happach-Kasan, aber auch den Kollegen der CDU und der CSU an. Herr Seehofer kann sie Ihnen ebenfalls zur Verfügung stellen. Als wir das Gentechnikgesetz novelliert haben, ist öffentlich nur von Herrn Hipp gesprochen worden, der nämlich gesagt hat: Wenn der Anbau von solchen Pflanzen in diesem Land zunimmt, muss ich dieses Land verlassen, um meinen Kunden ein bestimmtes Produkt anbieten zu können. - Wer ein bisschen eingeweiht ist, weiß - Peter Bleser, du kannst das bestätigen, denke ich, weil du an Sitzungen teilgenommen hast, in denen das erwähnt wurde -, dass dies nicht die einzige Firma war, die sich bei uns gemeldet hat. Auch viele andere namhafte Lebensmittelproduzenten in Deutschland, große Firmen, haben sich gemeldet. ({2}) Sie haben allerdings gesagt: Wir gehen nicht wie Herr Hipp in die Öffentlichkeit, weil wir den Namen unserer Firma nicht in einem Atemzug mit der Grünen Gentechnik genannt haben wollen, weil sich die Menschen nachher vielleicht falsch erinnern. - Es war das Who’s who der deutschen Lebensmittelwirtschaft. Sie haben gesagt: Uns geht es um die Rohstoffversorgung für unsere Lebensmittel. Wir sind bereit, dieses Land zu verlassen, wenn wir hier nicht in der Lage sind, gentechnikfreie Rohstoffe zu beziehen. Ich glaube, dass Sie sich unter Zusage der Einhaltung der Vertraulichkeit diese Schreiben im Ministerium ansehen können. Sie werden erstaunt sein, zu erfahren, was das für die Volkswirtschaft hier bedeutet. Noch einmal zur Hightech-Strategie und zur Menge des Geldes, das in den nächsten Jahren in den Lebensmittelbereich, in die Agrarforschung investiert wird. Ich bin der Meinung, dass wir als Bundesrepublik Deutschland deutlich zu wenig Geld in die Agrarforschung investieren. ({3}) Wenn investiert wird, sollte das in einer Technologieoffenheit geschehen. Es geht nicht an, dass wir dann festlegen: 95 Prozent des Geldes gehen in die Lösung des Problems durch Grüne Gentechnik und eben nicht in integrierten Anbau, nicht in Smart Breeding und nicht in konventionelle Züchtung. Das hat einen einfachen Grund. Es gibt typische Kulturpflanzen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland von den Alpen bis zum Meer anpflanzen. Wir pflanzen aber nicht eine Sorte an. In den Mittelgebirgen BadenWürttembergs, liebe Elvira Drobinski-Weiß, werden andere Sorten angebaut als in der Jülicher Börde, meiner Heimat, im Rheinland, mit den wesentlich besseren Böden. Wenn es aber zu gentechnisch veränderten patentierten Pflanzen kommt, wird in der Regel nur eine Sorte angeboten, die über viele Jahre nicht mehr verändert werden kann, die zum Teil schon uralt ist, wenn sie auf den Markt kommt. Demgegenüber können konventionell gezüchtete Pflanzensorten, in die ebenfalls Trockenresistenz, Salzresistenz oder Hochwasserresistenz hineingezüchtet werden können, sofort an die verschiedenen Nischen und die unterschiedlichen Kulturräume unserer Heimat angepasst werden. Das ist der Unterschied. Noch einmal zum aktuellen Verbot der Maissorte der Firma Monsanto. Der Landwirt, der diese Maissorte kennt, wundert sich nicht darüber, dass sie auf den Äckern geringere Erträge liefert als moderner konventionell gezüchteter Mais. ({4}) Dafür gibt es nämlich einen einfachen Grund. Die Maissorte ist eigentlich 15 Jahre alt; damals hat ihr die Firma Monsanto eine Eigenschaft, nämlich die Produktion eines Pestizids, aufgestülpt. In den letzten 15 Jahren hat sich aber der Ertrag der Maissorten um etwa 2 bis 3 Prozent pro Jahr erhöht. Deswegen haben die konventionellen, der Gemeinschaft gehörenden Maissorten, die heute auf dem Markt angebaut werden, ein höheres Ertragspotenzial als alle Maissorten, die aus den Gentechniklaboren stammen. Es geht darum, eine Dinosauriertechnologie, die die Monopolisierung unserer Lebensgrundlagen zum Ziel hat, nicht zum Zug kommen zu lassen. Das sollte weiterhin Politik in Deutschland sein. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Volkswirtschaftliche Kosten der Agro-Gentechnik ermitteln und offenlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10578, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7903 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Kinderschutzes ({0}) - Drucksache 16/12429 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Nach einer interfraktionellen Verabredung ist eine dreiviertelstündige Debatte vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich unserer Kollegin Maria Böhmer herzlich zum Geburtstag gratulieren. Ich finde es sehr erfreulich, dass sie ihn heute Abend hier mit uns verbringt. Das muss ausdrücklich gewürdigt werden. ({2}) Als Erster in dieser Debatte hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hermann Kues für die Bundesregierung das Wort.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Kinderschutzgesetz setzen wir Maßstäbe für den Kinderschutz in Deutschland. Wir sind alle stets aufs Neue von Fällen extremer Kindeswohlgefährdung erschüttert, die uns immer wieder in dramatischer Weise vor Augen geführt haben, dass wir unsere Anstrengungen für Kinder in Not weiter verstärken müssen. Die Analyse solcher Fälle zeigt uns Schutzlücken auf, die es zu vermeiden gilt; denn diese Lücken haben Kindern das Leben gekostet. Gefährdete Kinder drohen vor allem dann durchs Netz zu fallen, wenn verschiedene Systeme oder Organisationen zusammenarbeiten und ihren Schutz sicherstellen müssen. Das nehmen wir auch auf Ebene der politisch Verantwortlichen sehr ernst. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist eine Aufgabe, die Bund und Länder in gemeinsamer Verantwortung wahrnehmen. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder haben deshalb auf ihrer Konferenz am 12. Juni 2008 gemeinsam ein Programm zur Verbesserung des Kinderschutzes in Deutschland erarbeitet. Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Kinderschutzes liefern wir einen zentralen Baustein, um die Beschlüsse der Kanzlerin und der Länderchefs in die Praxis zu überführen. Das Kinderschutzgesetz soll als Bundesrecht die gemeinsamen Beschlüsse umsetzen, wonach erstens gesetzliche Regelungen dafür Sorge tragen müssen, dass der Datenschutz den Kinderschutz nicht behindert, ({0}) und zweitens jedes gefährdete Kind persönlich durch eine Fachkraft in Augenschein genommen werden muss. ({1}) Einen zentralen Schwerpunkt des Gesetzentwurfes bildet deshalb die ausdrückliche Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger zur Weitergabe von Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung. Insbesondere für Ärzte und Beratungsfachkräfte entsteht dadurch Sicherheit, wie sie damit umgehen, wenn sie bei einem Kind Hinweise auf Misshandlung oder Vernachlässigung feststellen. Sicherheit im Umgang mit relevanten Wahrnehmungen ist für einen relevanten Kinderschutz unerlässlich. ({2}) Im Gesetzentwurf ist daher vorgesehen, Gefährdungshinweise für eine Beratung der Eltern zu nutzen und ihnen Unterstützung anzubieten. Ärzte wie auch andere Berufsgeheimnisträger können dabei externe Fachberatung in Anspruch nehmen. Erst wenn solche Bemühungen bei den Eltern erfolglos bleiben, ohne dass die Befürchtung einer Gefährdung ausgeräumt ist, dürfen die erforderlichen Daten an das Jugendamt weitergegeben werden. Gleiches gilt im Übrigen, wenn die Einbeziehung der Eltern dem Schutz des Kindes widerspricht. Werden Informationen auf dieser Grundlage weitergegeben, müssen Berufsgeheimnisträger künftig nicht mehr befürchten, wegen Bruchs der Schweigepflicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. ({3}) Insofern sorgt dieses Gesetz für Klarheit. Wir weisen damit den Weg, wie Kinderschutz gelingen kann, ohne die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patienten zu zerstören. Stattdessen nutzen wir diese Vertrauensbeziehung für den gezielten Schutz von Kindern. ({4}) Der Gesetzentwurf regelt auch die Weitergabe von Gefährdungshinweisen durch Angehörige solcher Berufsgruppen, die Kinder und Jugendliche ausbilden, erziehen und betreuen. Kinder und Jugendliche sind nämlich darauf angewiesen, dass die Personen Verantwortung übernehmen, die sie jeden Tag sehen und erleben, die Veränderungen im Verhalten wahrnehmen und ihre Entwicklung aufmerksam verfolgen. Diese Personen haben als Erste und manchmal als Einzige außerhalb der Familie die Möglichkeit, gewichtige Anhaltspunkte für Gefährdungen von Kindern wahrzunehmen. Für sie besteht bislang große Unsicherheit, wie sie mit solchen Hinweisen umgehen sollen und dürfen. Deswegen geben wir mit diesem Gesetzentwurf Antworten. Auch diese Personen werden dazu aufgerufen, mit den Eltern eines gefährdeten Kindes in Kontakt zu treten. Zur Klärung der Kindeswohlgefährdung können sie externe Fachberatung in Anspruch nehmen. Wird über diese Zugänge der Schutz eines Kindes nicht sichergestellt, so dürfen die erforderlichen Hinweise dem Jugendamt übermittelt werden. Mit diesen gesetzlichen Regelungen zur Zusammenarbeit im Kinderschutz werden wir künftig die Sensibilität der betroffenen Berufsgruppen für Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung schärfen und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt stärken. ({5}) Auch das führt zu Rechtssicherheit. Die notwendige Rechtssicherheit kann nur über eine bundeseinheitliche Rechtslage geschaffen werden. Ob und wie ein Kind am besten geschützt wird, kann und darf nicht davon abhängen, ob es an der Nordsee oder in den Alpen aufwächst. Das muss in Deutschland einheitlich geregelt werden. Einigkeit zwischen Bund und Ländern besteht auch über die Notwendigkeit, die Pflichten des Jugendamtes bei der Wahrnehmung des Schutzauftrages konkreter zu fassen. Wir setzen das um, was zwischen Bundeskanzlerin und Länderchefs politisch abgesprochen wurde. Tragische Fälle offenbaren immer wieder Lücken und Defizite bei der Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohles. Dies gilt insbesondere für kleine Kinder, bei denen eine Gefährdung in kürzester Zeit zu einer Frage von Leben und Tod werden kann. Nehmen die Fachkräfte des Jugendamts das Kind nicht selbst in Augenschein, lassen sie sich vertrösten und vertrauen den unzuverlässigen Eindrücken Dritter, kann es ganz schnell zur Katastrophe kommen. Das ist leider keine Theorie, sondern eine schreckliche Erfahrung, etwas, was wir immer wieder erleben. Deswegen muss der Hausbesuch als Regelfall gesetzlich festgeschrieben werden. Das Schutzbedürfnis gerade der Kleinsten gebietet es in den allermeisten Fällen, dass Fachkräfte das gefährdete Kind und dessen persönliches Umfeld in Augenschein nehmen. Der Gesetzentwurf berücksichtigt selbstverständlich auch die Ausnahmefälle, in denen ein Hausbesuch den wirksamen Schutz des Kindes infrage stellen würde. Insofern laufen die kritischen Kommentare ins Leere. Ein Hausbesuch muss nicht unter allen Umständen durchgeführt werden; gerade wenn die Gefahr besteht, dass dadurch die Dinge eskalieren - das kann zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch der Fall sein -, kann auf den Hausbesuch verzichtet werden. ({6}) Es wird jedoch festgelegt, dass sich die Fachkräfte in der Regel einen unmittelbaren Eindruck von Kind und Eltern verschaffen müssen. Wir müssen hier Mut zu einem aktiven und offensiven Kinderschutz haben. Hierfür ist auch der persönliche Kontakt mit betroffenen Familien notwendig. Das Gleiche gilt im Prinzip für das Phänomen des Jugendamt-Hoppings durch Umzüge. Ziehen Eltern um, dürfen Informationen über die Gefährdung ihres Kindes nicht auf der Strecke bleiben. Das gilt unabhängig davon, ob der Verlust der Informationen von den Eltern beabsichtigt wird oder nur unerwünschte Folge eines Umzugs ist. Deshalb regeln wir verbindlich, dass beim Wohnortwechsel einer Familie die erforderlichen Daten dem neuen Jugendamt übermittelt werden müssen. Dies wird künftig in einem gemeinsamen Gespräch der Fachkräfte unter Beteiligung der Eltern und ihres Kindes erfolgen. Häufig stellt sich erst im Gespräch heraus, welche Schwierigkeiten in einem Fall vorhanden sind und welche Konsequenzen gezogen werden müssen. Solche Informationen entziehen sich oft einer schriftlichen Dokumentation. Wenn diese Informationen verloren gehen, beeinträchtigt das den Kinderschutz. Mit der ausdrücklichen Regelung zur Fallübergabe werden wir unser gemeinsames Anliegen einer nachhaltigen Qualifizierung der Fallübergabe in Kinderschutzfällen erreichen. Als verbesserungswürdig sehen wir schließlich auch den präventiven Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe an. Auch in solchen Institutionen kommt es vor, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrem unmittelbaren Kontakt zu Kindern und Jugendlichen fehlverhalten. Häufig wird aufgrund falsch verstandener Kollegialität von kritischen Fragen und offener Diskussion abgesehen. Wird dieses Thema jedoch tabuisiert, sind betroffene Kinder und Jugendliche zusätzlich gefährdet. Um diesen präventiven Schutz zu stärken, wird mit der Änderung des Bundeszentralregistergesetzes ein mit Blick auf den Kinder- und Jugendschutz erweitertes Führungszeugnis für kinder- und jugendnah Beschäftigte eingeführt. Künftig kann auch von strafrechtlichen Verurteilungen mit besonderem Bezug zur Gefährdung junger Menschen Kenntnis genommen werden, die bislang nicht in Führungszeugnissen enthalten waren. Das Kinder- und Jugendhilferecht verweist auf die Möglichkeiten des Bundeszentralregisters, dass das erweiterte Führungszeugnis vorgelegt werden muss, wenn es um eine Beschäftigung im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe geht. Ich finde, auch das gehört zur Prävention. ({7}) Bund und Länder sind sich einig: Wir wollen neue Maßstäbe für einen wirksamen Kinderschutz in Deutschland setzen. Mit dem Kinderschutzgesetz haben wir uns auf den Weg gemacht. Das Kinderschutzgesetz stellt einen wichtigen Schritt zur Verbesserung des Kinderschutzes dar. Wir fordern Verantwortlichkeit nicht nur ein, sondern wir geben auch Wege vor, wie diese Verantwortung wahrgenommen werden kann. Wir präzisieren Vorschriften und den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag. Ich möchte Sie deshalb ganz herzlich bitten, diese Fortschritte zu unterstützen und aktiv für das Gesetz einzutreten. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Miriam Gruß ist die nächste Rednerin für die FDPFraktion.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist wichtig und richtig, dass wir uns heute mit diesem Thema befassen. Gleich einmal ein Lob vorweg - so viel dazu, dass die Opposition konstruktiv ist -: Die Idee, dieses Gesetz Kinderschutzgesetz zu nennen, finde ich sehr gut. In unserem politischen Alltag erleben wir allzu oft, dass Gesetze auf den Markt kommen, deren Titel kein Mensch versteht, bei denen niemand weiß, was eigentlich dahintersteckt. Es ist gut und richtig, dass bei diesem wichtigen Thema, das alle Bevölkerungsschichten angeht - alle Kinder und Jugendlichen ebenso wie alle Erwachsenen in diesem Land -, ein solcher Titel gewählt wurde. Nichtsdestotrotz habe ich in Ihrer Rede, Herr Kues, das Herzblut vermisst. Ich glaube, dass wir bei diesem Thema noch tiefgründiger sein müssen. Wir müssen zum Ausdruck bringen, dass es uns an die Nieren geht, wenn wir von diesen Fällen hören oder darüber lesen. ({0}) Es ist ein sehr ernstes Thema, mit dem wir uns intensiv befassen müssen. Aus diesem Grund hat sich die Opposition mit dem vorliegenden Entwurf eingehend befasst. Wir haben ebenso wie andere Fraktionen in der Ausschusssitzung angeregt, dass wir uns mit diesem Thema noch intensiver beschäftigen und eine Expertenanhörung durchführen. Ich glaube, das ist nötig, weil noch viele Fragen offen sind. Ich möchte einige Punkte ansprechen, die aus unserer Sicht zu hinterfragen sind: Ich beginne mit der Prävention. Uns gehen die Vorschläge zur Prävention noch nicht weit genug. Es ist wichtig, dass das Gesetz nicht erst wirkt, wenn es schon lichterloh brennt, wenn es quasi schon zu spät ist; die derzeitigen Vorschläge scheinen aber darauf hinauszulaufen. Wir sind der Meinung, dass die Prävention die Maxime allen Handelns sein muss. Familienhebammen beispielsweise dürfen nicht nur punktuell eingesetzt werden, sondern müssen die Chance bekommen, flächendeckend zu arbeiten. Betreuung vor der Geburt ist extrem wichtig, um früh vertrauensvolle Beziehungen zwischen Mutter, Vater, Familie und den entsprechenden Stellen aufzubauen. ({1}) Zweitens. Mit dem Gesetz sollen - Sie haben darauf hingewiesen - Meldesysteme etabliert werden, sei es durch die Jugendämter oder die Ärzte. Wir sind der Meinung, dass die Weitergabe von Informationen an das Jugendamt nicht das Ende sein darf, sondern der Beginn des Prozesses sein muss. Die weitere Zusammenarbeit der Ebenen wird in diesem Gesetzentwurf aber nicht thematisiert. Drittens. Viele Kernbereiche des Entwurfs des Kinderschutzgesetzes betreffen die Jugendämter. Sie wissen, Herr Kues: Die finanzielle und personelle Ausstattung der Jugendämter obliegt den Ländern. Auch da haben wir noch ein Defizit; ich werde später ausführlich darauf eingehen. Ich will Ihnen Beispiele nennen: Vor Kevins Tod wurde ein Drittel des Personalbestandes in der Abteilung „Junge Menschen und Familie“ gekürzt. In Schwerin, wo die fünfjährige Lea-Sophie qualvoll verhungerte, hatte man innerhalb von zehn Jahren ein Viertel der Sozialarbeiter abgeschafft. In Berlin hat sich seit Anfang der 90er-Jahre die Zahl der Familien, die vom Jugendamt betreut werden, versechsfacht. Die Folge: Zum Beispiel im Berliner Bezirk Wedding betreut jeder Mitarbeiter des Jugendamtes rund 80 Fälle. ({2}) Damit bleiben für jeden Klienten genau 24 Minuten in der Woche, abzüglich der Aktenbearbeitung zwölf Minuten. ({3}) Gleiches gilt für den neu geregelten Informationsaustausch beim Zuständigkeitswechsel von Jugendämtern; auch das haben Sie angesprochen, Herr Kues. Allein die Informationen auszutauschen, wird keinem Kind helfen. Entscheidend ist auch hier, dass die Betreuung weiter gewährleistet wird. Dreh- und Angelpunkt ist die bessere personelle und finanzielle Ausstattung der Jugendämter. Sie obliegt den Ländern, aber wir können den Ländern doch nicht etwas übertragen, ohne zu sagen, wie es finanziert und ausgestattet werden soll. ({4}) Gleichzeitig wäre es wünschenswert, im Rahmen der Jugendministerkonferenz - auch das ist Ländersache einheitliche Qualitätsstandards für die Kinder- und Jugendhilfe festzulegen. Sie haben davon gesprochen, dass es keinen Unterschied machen darf, ob ein Kind - ich kann mich nicht mehr genau an Ihre Beispiele erinnern an der Ostsee oder in Bayern aufwächst. Das ist so, aber um das zu erreichen, muss man Standards einführen und muss die Qualität in regelmäßigen Abständen evaluiert werden. Mithilfe von Fehlermanagement sollte man herausfinden, welche Prozesse nicht optimal ablaufen, strukturelle Mängel identifizieren und Optimierungsmöglichkeiten finden. Außerdem wäre es wichtig - das ist ein mittelfristiger Aspekt -, die Forschung zu den Indikatoren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Kindeswohlgefährdung verweisen, zu intensivieren. Mein vierter und letzter Punkt: Das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Ärzten ist meines Erachtens elementar wichtig. Es sollte vermieden werden, dass Betroffene aufgrund der fehlenden ärztlichen Schweigepflicht gar keine Hilfe suchen. ({5}) Diese Punkte zeigen, dass wir noch sehr viel Arbeit vor uns haben. Deswegen freue ich mich über die geplante Expertenanhörung am 25. Mai dieses Jahres. Nur so können wir einzelne Fragen sachlich erörtern, wie zum Beispiel - das ist mein letztes Beispiel - die Hausbesuche, über die kontrovers diskutiert wird. Die einen sagen, dass deren verstärkter Einsatz ein richtiger Schritt ist. Die anderen befürchten, dass das Jugendamt dadurch zur Kontrollinstanz degradiert wird. Ich bin auf das Ergebnis der Anhörung gespannt. Auch wenn wir unterschiedlichen Parteien angehören, auch wenn unterschiedliche Ansichten geäußert werden, ist es wichtig, dass von hier das Signal ausgeht, uns auf das folgende Ziel zu verständigen: Wir wollen die Kinder in Deutschland besser als bisher vor Missbrauch und Verwahrlosung schützen. Lassen Sie uns deshalb das Kinderschutzgesetz nach der Expertenanhörung gemeinsam zu einem guten Gesetz werden lassen, nicht nur zu einem, das nicht mehr hinterlässt als ein gutes Gefühl. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist Caren Marks für die SPDFraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer Eltern und Kindern einen Zugang zur Hilfe schaffen will, muss sich ihnen zuwenden und sie einbeziehen. Wir versuchen, das Verhalten der Familie nicht von den Verhältnissen, unter denen sie lebt, abzuspalten, sondern die Familie mit ihren spezifischen Bedürfnissen wahrzunehmen und gemeinsam Lösungswege zu erarbeiten. Das ist auf der Internetseite der Kinderschutz-Zentren zu lesen. Gemeinsame Lösungswege zu erarbeiten, ist beim Kinderschutz ganz besonders wichtig. Wir wollen, dass die Hilfen auch tatsächlich bei den Eltern und ihren Kindern ankommen. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz bietet ein ganzes Bündel an solchen Lösungswegen. Es reicht von frühen präventiven Hilfen über ambulante Beratung und Therapie bis hin zu langfristigen Maßnahmen. Vorrangiges Ziel ist und bleibt die Prävention. Eltern sollen besser befähigt werden, ihren Kindern gute Eltern zu sein. Kinder und Jugendliche müssen - hier sind wir uns alle einig - vor Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung geschützt werden, und zwar effektiv und umfassend. ({0}) Das sind hohe Maßstäbe. Nun, Herr Staatssekretär, müssen wir uns fragen, ob der vorliegende Gesetzentwurf diese Maßstäbe wirklich erfüllt. ({1}) Die Mehrzahl der Kinderschutzexpertinnen und -experten kritisiert diesen Gesetzentwurf. In Anbetracht dessen dürfen wir nicht abtauchen und weghören. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe sagt: Die vorgeschlagenen Neuregelungen bleiben in ihren Formulierungen jedoch vielfach unpräzise und werden den fachlichen Herausforderungen im Kinderschutz nicht gerecht. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge sagt: Der vorliegende Gesetzentwurf geht an den tatsächlichen Erfordernissen eines effektiven Kinderschutzes vorbei. Auch das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht sowie der Deutsche Kinderschutzbund warnen vor problematischen Folgen. Diese geballte Kritik der Fachleute nimmt die SPD-Fraktion sehr ernst. Deshalb werden wir diesen Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren auf Herz und Nieren prüfen. Kinderschutzexpertinnen und -experten sind sich einig: Eine Gefährdung des Kindeswohls kann nur im Rahmen komplexer fachlicher und rechtlicher Beobachtungs- und Bewertungsprozesse festgestellt werden. Hausbesuche sind dabei in vielen Fällen durchaus sinnvoll und notwendig. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ermöglicht Hausbesuche da, wo sie Sinn machen, aber schon heute. ({2}) Ob Hausbesuche sinnvoll oder schädlich sind, ist eine von vielen Fragen, die verantwortliche Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in jedem Einzelfall sorgfältig prüfen und klären müssen. Die nun vorgesehene Regelung zu verpflichtenden Hausbesuchen ist zu starr und wird dem Einzelfall deswegen gerade nicht gerecht. Gut gemeint ist leider nicht immer gut gemacht. So warnt der Deutsche Kinderschutzbund zu Recht: Solche einzelnen Maßnahmen „im Detail vorschreiben zu wollen, kann eher weniger als mehr Kinderschutz bedeuten“. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in der Kinder- und Jugendhilfe brauchen wir eine Balance zwischen Hilfe und Kontrolle. Wichtig sind dabei die frühen Hilfen. Dazu gehören vielfältige Angebote, angefangen bei Angeboten an Schwangere und an junge Eltern wie Willkommensbesuche und Elternberatung. Wichtig sind auch gute Netzwerke vor Ort. Frühe Hilfen müssen im Gemeinwesen verankert sein. Ärzte, Hebammen, Kindergärten, Schulen, Jugendämter und Gesundheitsämter müssen eng zusammenarbeiten. Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes sagt zu Recht: Jede frühe Hilfe ist wirksamer und kostengünstiger als jede späte Hilfe. Ich frage mich, warum solche präventiven Ansätze im vorliegenden Gesetzentwurf fehlen. ({3}) Wir müssen die Bereitschaft der Familien fördern, Hilfen anzunehmen. Das ist das Fundament eines effektiven Kinderschutzes. Das Kinder- und Jugendhilferecht gibt den Jugendämtern differenzierte Instrumente zur Unterstützung von Familien an die Hand. Klar ist: Wenn Hilfeangebote nicht ausreichen, um gravierende Schäden von einem Kind bzw. Jugendlichen abzuwenden, muss in das Elternrecht eingegriffen werden. Jugendämter müssen dabei sorgfältig zwischen Kindeswohl und Elternrecht abwägen. Darin liegt eine sehr große Verantwortung. Tausende von Jugendamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern leisten täglich Enormes; das möchte ich an dieser Stelle betonen. ({4}) Trotzdem hat es in der Vergangenheit - das wissen wir alle - dramatische Fälle von Kindeswohlgefährdung geCaren Marks geben. Hier sage ich ganz deutlich: Vor Ort muss ausreichendes und gut geschultes Personal zur Verfügung stehen. Auch müssen Verfahrensabläufe in den Behörden klar geregelt sein - das wurde schon gesagt -, und fachliche Standards müssen eingehalten werden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen, dass jedes einzelne Kind einen guten Start ins Leben bekommt und gesund aufwächst. Dazu gehört zweifelsohne ein funktionierender Kinderschutz. Was brauchen wir zusätzlich? Wir brauchen gute und ausreichende Bildungs- und Betreuungsangebote, eine gut ausgestattete Kinder- und Jugendhilfe und ein gutes Beratungs- und Hilfenetzwerk vor Ort, und wir brauchen Kinderrechte im Grundgesetz. ({5}) Es wäre konsequent, endlich Kinderrechte in der Verfassung zu verankern. ({6}) Damit würden wir die Bedingungen, unter denen unsere Kinder aufwachsen, weiter verbessern. Ich wünsche mir, dass wir alle in diesem Hause uns darin einig sind. Bund, Länder und Kommunen haben den Kinderschutz in den letzten Jahren deutlich verbessert. Ich nenne die Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 2005, die zahlreichen Kinderschutzgesetze in den Ländern und die guten Netzwerke vor Ort. Nun liegt erneut ein Gesetzentwurf vor. Verbessern wir den Kinderschutz damit wirklich? Die Fachwelt sagt: Nein. Lassen Sie uns deshalb den Entwurf im Interesse unserer Kinder zu einem Gesetz machen, das den Namen Bundeskinderschutzgesetz wirklich verdient! Ich wünsche mir gute parlamentarische Beratungen und bedanke mich ganz herzlich. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Diana Golze hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu Recht ist dem Thema Kinderschutz in den letzten Jahren ein höherer Stellenwert zugekommen. Niemand kann und darf sich der Verantwortung der Gesellschaft für den Schutz des Wohles unserer Kinder entziehen. Der Kinderschutz muss Vorrang haben. Das ist natürlich auch Anliegen und Ziel der Linken. Wir haben dies mit verschiedenen Initiativen deutlich gemacht. Ich nenne zum Beispiel unsere vorbehaltlose Unterstützung des Aktionsbündnisses für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. ({0}) Kinderrechte - Frau Marks hat das angesprochen - sind die Grundlage für eine Stärkung des Kindeswohls. Ich sage gerne und - vor allem an die Adresse der Unionsfraktion gerichtet - immer wieder: Wer den Kinderschutz ernst nimmt, muss die Kinderrechte ernst nehmen. Deshalb müssen sie ins Grundgesetz. ({1}) - Ach, Herr Singhammer, Sie verstehen es einfach nicht. Das Ministerium hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem, wie es der Bundesverband für Erziehungshilfe treffend benennt, Selbstverständlichkeiten formuliert sind. In diesem Gesetzentwurf sind aber auch Regelungen vorgesehen, die an der Realität vorbeigehen; ich komme darauf noch zu sprechen. In den Stellungnahmen finde ich - von der Stellungnahme der Diakonie über die des Deutschen Kinderschutzbundes und die der AWO bis hin zur Stellungnahme der Kinderschutz-Zentren - zum Teil vernichtende Absagen an dieses Vorhaben. Dies beginnt bereits bei der Vorfeldarbeit. Ich kann mich gut an die großtönenden Worte erinnern, mit denen die Bundesfamilienministerin hier die Ergebnisse des sogenannten Kindergipfels gefeiert hat. Die Diakonie zeigt in ihrer Stellungnahme auf, wie wichtig der Ministerin die Suche nach effektiven Wegen zum Kinderschutz wirklich ist: Die berufene Expertengruppe hat ihre Arbeit bereits nach einer Sitzung wieder eingestellt. Wie können sachlich fundierte und ausdiskutierte Vorlagen zustande kommen, wenn man so an die Sache herangeht? ({2}) Die Kinderschutz-Zentren haben - ich zitiere - die geplanten Veränderungen in § 8 a des SGB VIII mit Sorge zur Kenntnis genommen. Der Deutsche Verein warnt vor weiteren gesetzlichen Verfahrensvorgaben. Die Diakonie sagt Ihnen, dass Sie Ihr selbstgestecktes Ziel nicht erreichen. Die AWO tut Selbiges. Nach Kinderzuschlag und Kinderförderungsgesetz ist dies ein weiterer Gesetzentwurf, der von der Fachwelt in hohem Maße kritisiert wird. Bei einer Schülerin würde diese Beurteilung wahrscheinlich zu einem Elternbesuch führen, weil die Versetzung gefährdet wäre. ({3}) Die Fachverbände versuchen mit ihren Stellungnahmen, uns dabei zu helfen, einen besseren Gesetzentwurf daraus zu machen. Ich hoffe auf die Anhörung und darauf, dass Sie die Kritik und die Vorschläge annehmen. Genügend Gesprächs- und Klärungsbedarf gibt es auch von unserer Seite, zum Beispiel bei der Rolle der Jugendämter. Wer die Situation in den Kommunen nur ein bisschen kennt, weiß, dass sie schon jetzt am äußersten Level ihrer Möglichkeiten arbeiten. Sie unterlagen personell und finanziell einem Kürzungsdruck in Größenordnungen, sodass sie die Einsparungen kaum noch überbrücken können. Das Ergebnis ist traurig: Den Anlaufstellen fehlen die Mittel und das Personal, um qualifizierte Angebote machen zu können. Wenn Sie ein System aufbauen wollen, das einen effektiven Schutz von Kindern gewährleistet, dann müssen Sie da anfangen, wo Sie in den letzten Jahren den Rotstift angesetzt haben. Doch statt endlich diese Richtung der Politik zu korrigieren, brummen Sie den Jugendämtern nun neue Aufgaben auf, ohne zu sagen, wie sie es bewerkstelligen sollen. In diesem Zusammenhang nenne ich nur den ganz aktuellen Fall von Lara aus Hamburg. Die Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes schreiben in einem offenen Brief: Wir haben die Nase voll davon, als Sündenböcke für eine Politik herzuhalten, die es jahrelang versäumt hat, den ASD qualitativ und quantitativ ausreichend auszustatten. Sie arbeiten mit 90 Fällen pro Mitarbeiter in der Verwaltung. Dies kann und darf so nicht weitergehen. ({4}) Doch neben der Frage, wie die in dem Gesetzentwurf enthaltenen verpflichtenden Hausbesuche personell gestemmt werden sollen, bleibt unsere Skepsis, ob diese Hausbesuche überhaupt dazu führen, den Kinderschutz zu erhöhen. Aus meiner Sicht wird damit vielmehr Vertrauen zerstört, und es birgt die Gefahr, dass Hilfeprozesse abgebrochen werden, sodass es kontraproduktiv im Hinblick auf die Kinder wirkt, die wir eigentlich unterstützen wollen. Wir dürfen die sozialstaatlich ausgerichtete Jugendhilfe nicht durch ein kontrollierendes System ersetzen. Genau dies sieht aber dieser Gesetzentwurf vor. ({5}) Damit wird das Sozialgesetzbuch VIII untergraben, das eigentlich einen vorsorgenden, unterstützenden und helfenden Charakter hat. Es soll durch Kontrolle und Vertrauensbrüche ersetzt werden, und die Jugendhilfe wird durch weitere Aufgaben auch noch überfordert und weiterhin kaputt gemacht. Damit muss endlich Schluss sein. Dazu braucht es auch ein Verständnis dafür, dass ein besserer Kinderschutz zum Nulltarif nicht zu haben ist. Hier setzt einen das Vorblatt des Gesetzes schon sehr in Erstaunen; denn dort steht, das Gesetz werde keine Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte haben. ({6}) - Dazu ist sicherlich kein weiterer Kommentar notwendig. Ich freue mich auf die bevorstehenden Diskussionen und hoffe, dass wir aus dem Entwurf noch ein Kinderschutzgesetz machen können. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt ist Ekin Deligöz für Bündnis 90/Die Grünen an der Reihe.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Das Ministerium hat sich bemüht; das kann ich ihm attestieren. Das Wort „Kind“ kommt in dem Gesetzentwurf fast 40-mal vor. Es werden auch die richtigen Fragen gestellt: Wie kommen wir zu einer Politik des Hinschauens und Helfens? Wie binden wir alle ein, damit wir Kindern helfen können? Das sind wichtige Fragen; aber Antworten auf diese Fragen, Herr Staatssekretär, geben Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht. ({0}) Ich habe darüber hinaus sogar das Gefühl, dass Sie in Zugzwang sind, etwas liefern zu müssen, weil Sie nicht zuletzt auf einem großen Gipfel vieles versprochen haben, aber nicht richtig wissen, wie Sie agieren sollen. Dieser Gesetzentwurf zeigt, dass Sie aus dem Blick verloren haben, worum es geht. Es geht nicht darum, mehr Presse zu bekommen, sondern darum, Kinder zu schützen, also den Kinderschutz voranzubringen. Das tun Sie mit diesem Gesetz nicht. ({1}) Was brauchen Kinder? Kinder brauchen einen Kinderschutz, der im Notfall klar, zielgenau und schnell reagiert, aber vor allem - das ist das Entscheidende - präventiv breit angelegt ist, damit es erst gar nicht zu solchen Notfällen kommt, damit wir Kinder schützen können und nicht nur reagieren müssen. Damit uns dies gelingt, brauchen wir präventive, frühe Hilfen. Als Beispiel nenne ich die Familienhebammen. Wir brauchen flächendeckende Angebote überall in Deutschland. Wir müssen aber auch die Ausstattung der Jugendhilfe verbessern. Schließlich brauchen wir Vertrauen der Mütter und der Jugendlichen, die sich ebenfalls an das Jugendamt wenden, in niedrigschwellige Angebote und auch in das Jugendamt selbst. Was machen Sie mit diesem Gesetzentwurf? - Sie kreieren ein Schema F, egal, was bereits in der Familie passiert ist und ob er sinnvoll ist oder nicht: Ein Hausbesuch wird vorgeschrieben. ({2}) Der Kinderschutzbund hat viele Beispiele dafür genannt, dass das eben nicht immer das Beste ist. Sie wecken Misstrauen bei den Hilfesuchenden. Sie sagen, dass Sie die Schweigepflicht lockern, und hinterfragen nicht, was damit noch alles passieren kann, sodass sich manche Menschen erst nicht mehr hilfesuEkin Deligöz chend an die Ärzte wenden. Sie verdreifachen die Arbeit der Jugendämter. Ja, das könnte man rechtfertigen, wenn die Kinder unter dem Strich tatsächlich geschützt werden würden. Was passiert denn nach dem ersten Hausbesuch? Wer ist dann da, um das nach der ersten Inaugenscheinnahme fortzusetzen? Wer wird sich dann um diese Familie kümmern? Welche Antworten geben wir nach dem ersten Besuch? Darauf geben Sie keine einzige Antwort. ({3}) Das Schlimmste ist, dass Sie nicht einmal bereit sind, einen Cent dafür auszugeben. Sie sagen, das würde nichts kosten. Doch, natürlich wird das etwas kosten: Gutes, qualifiziertes Personal kostet Geld. Eine wirklich konstruktive Antwort wäre gewesen, wenn Sie beim Gipfel einen runden Tisch gestaltet hätten, um zu prüfen, wie wir die vorhandenen Ressourcen effektiv und besser einsetzen können und wie wir durch die Zusammenarbeit in Netzwerken Strukturen für den Kinderschutz in Deutschland schaffen können, wo sich die Kommunen, Träger, Bund und Länder zusammensetzen, um dort, wo es Schwächen gibt, nach einem Ausweg zu suchen, zum Beispiel wenn es darum geht, mehr Personal zu finanzieren, wenn es um eine bessere Qualifizierung, Supervision oder um Kooperationen geht, ({4}) wenn es um Prävention geht und wenn es um die Menschen geht, die den Kinderschutz tatsächlich voranbringen. Genau das tun Sie aber nicht. Sie schaffen keine neuen Unterstützungsangebote, sondern Sie schaffen neue Zugangshürden. Sie müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass Ihnen 21 von 26 Verbänden attestiert haben, dass Ihr Gesetzentwurf nichts bringen bzw. nutzen wird und dass dadurch kein Kind geschützt wird. Das ist die Kurzfassung der 21 Stellungnahmen, die uns bereits vorliegen. Das wird von Tag zu Tag mehr. Die Fälle Kevin und Lea-Sophie sind schlimm. Das gilt auch für den aktuellen Fall, mit dem wir es heute zu tun haben, bei dem die Eltern ein zehn Monate altes, ein vierjähriges und ein sechsjähriges Kind einfach so in einer Pizzeria haben stehen lassen. Das ist grausam und schlimm. ({5}) Man will das nicht mehr hören. Wir müssen reagieren und agieren. Wir müssen helfen und unterstützende Strukturen anpassen. Sie bevormunden, kontrollieren und haken ab. Abhaken können wir genau dieses Thema nicht. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Michaela Noll für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein paar Worte an unsere Kollegin Marks: Ich erinnere daran, dass es die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs ist. Eine Anhörung liegt vor uns, und Sie können sicher sein, dass die Union nur etwas auf den Weg schickt, was Hand und Fuß hat. Das sehe ich genauso wie Kollegin Gruß. Auch wenn es Stellungnahmen und ein paar kritische Stimmen gibt: Es gibt auch andere Stimmen, die viele Punkte begrüßen. Lassen Sie uns also bitte offen in die Anhörung gehen. Ich glaube, es ist im Interesse aller Kollegen hier, für den Kinderschutz etwas Sinnvolles zu tun und Kinder zu schützen; denn das ist unsere Aufgabe. ({0}) Es wurde eben von der Kollegin Gruß gesagt, dass ein wenig Herzblut fehlt. ({1}) Überlassen Sie das mit dem Herzblut mir. Ich habe mir heute im Vorfeld zu dieser Debatte noch einmal die Fälle angeschaut. Wenn ich über Jessica und Lea-Sophie spreche - ich habe die Akten darüber gelesen und in den Zeitungen die Bilder gesehen -, dann muss ich sagen: Es ist unvorstellbar, was die Eltern mit diesen Kindern bis zu ihrem Tod angerichtet haben. ({2}) Das sind leider keine Einzelfälle. Der Kinderschutzbund schätzt, dass in Deutschland jährlich 100 000 Kinder vernachlässigt werden. Deshalb sage ich: Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Ob es die abgemagerte, entkräftete siebenjährige Jessica war, ob es die Leiche des zweijährigen Kevin im Kühlschrank des Vaters war, ob es Lea-Sophie war, die verhungert und verdurstet ist, oder ob es jetzt die kleine, acht Monate alte Siri ist: Für alle kam die Hilfe zu spät. Durch eine Betroffenheitsbekundung alleine wird den Kindern nicht geholfen. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt etwas auf den Weg gebracht haben, mit dem den Kindern tatsächlich geholfen wird. ({3}) Wir haben bereits 2007 einen Antrag formuliert: „Gesundes Aufwachsen ermöglichen - Kinder besser schützen - Risikofamilien helfen“. Die Ministerin hat sich für die frühen Hilfen eingesetzt. Es ist nicht so, dass nichts geschehen wäre. Trotzdem haben wir auf dem Kindergipfel gesagt: Im Kinderschutz sind Lücken da, die müssen wir identifizieren. Wir brauchen Maßnahmen zur Stärkung des Kinderschutzes. Das ist veranlasst worden. Keiner von uns stellt sich hier hin und prangert an, dass die oder die die Schuldigen sind. Uns geht es darum, Fehler anzusprechen, sie offenzulegen und zu versuchen, sie auszuschließen; denn das ist wirklicher Kinderschutz. ({4}) Professor Fegert vom Universitätsklinikum Ulm hat dargelegt, wo das Problem liegt. Er sagte, manche Jugendämter verlassen sich allein auf die Akten. Ich glaube, es ist etwas anderes, wenn Sie einen persönlichen Eindruck von den Kindern haben und wenn Sie die Vorgeschichte der Eltern kennen. Wir Fachpolitiker wissen: Wenn Erwachsene in ihrer Kindheit Gewalt erfahren haben, dann ist das Risiko relativ hoch, dass sie die Gewalt, die sie erfahren haben, an die Kinder weitergeben. Wir wissen genauso, dass diese Risikofamilien tendenziell relativ häufig ihren Wohnort wechseln. Deshalb ist es wichtig, dass das Jugendamt, das diese Familien bisher betreut hat, seine Informationen an das nächste Jugendamt weitergibt. Eben wurde etwas kritisch gesagt, Hausbesuche wären Pflicht. Nein, sie sollen zur Regel werden. Ich glaube, Schreibtischdiagnosen helfen den Kindern tatsächlich nicht. Kinder müssen sichtbar werden. ({5}) Das gilt vor allem für Säuglinge. Schauen Sie sich doch die Statistik an. Ein Drittel der Kinder ist jünger als ein Jahr. Wenn ich dann sehe, dass die häufigste Todesursache ein Schütteltrauma ist und dass 17 Prozent der betroffenen Kinder schon nach der Geburt getötet werden, ({6}) dann kann es nicht sein, dass man dann, wenn das Jugendamt kommt, sagt, die Kleine schläft oder ist gerade bei der Oma untergebracht. Wir müssen darauf bestehen, dass das Jugendamt wirklich sieht, in welchem Zustand das Kind ist und in welchem Umfeld es lebt, um auch einen Eindruck davon zu erhalten, wie die Interaktion zwischen Eltern und Kindern stattfindet. ({7}) Dass ich damit nicht allein stehe, bestätigt das Kriminologische Institut in Niedersachsen, das festgestellt hat, dass bei 200 Kindstötungen eindeutige Hinweise darauf vorhanden sind, dass das Jugendamt die Kinder nicht angeschaut hat. Das gilt auch für Lea-Sophie, die eben schon thematisiert worden ist. Die Eltern sind zwar zu dem Termin im Jugendamt hingegangen, aber nicht mit Lea-Sophie, sondern mit dem neugeborenen Bruder. Das Jugendamt hat Lea-Sophie nie gesehen. Ich glaube: Wenn es einen Hausbesuch gegeben hätte, wenn LeaSophie sichtbar geworden wäre, dann hätte man das Kind vielleicht retten können; ({8}) denn ein fünfjähriges Kind verhungert nicht in 24 Stunden. Das ist ein langsamer Prozess. Deswegen glaube ich, dass der Ansatz sein muss, dass wir uns die Kinder in der Regel anschauen. Es gibt Ausnahmesituationen, die ebenfalls geregelt sind. Wenn zum Beispiel eine Gefährdung durch sexuelle Gewalt im Haushalt stattfindet, dann muss es andere Lösungen geben. Die Regel muss aber sein, dass wir uns die Kinder anschauen. ({9}) Ich hatte eben das „Jugendamt-Hopping“ angesprochen. Das heißt, Risikofamilien neigen dazu, unterzutauchen und den Wohnort zu wechseln. Deswegen halte ich es für wichtig, dass derjenige, der diese Familie betreut hat, das persönliche Gespräch mit dem zuständigen Jugendamt sucht; denn nicht alles, was Sie im persönlichen Gespräch austauschen könnten, landet in den Akten. Ich möchte einfach, dass die Kinder mehr Gesicht bekommen, als es nach Aktenlage möglich ist. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir das entsprechend auf den Weg bringen. Liebe Kollegen, nicht nur den gefährdeten Kindern läuft die Zeit davon. Wir alle wissen, die Legislaturperiode nähert sich dem Ende. Ich bitte deswegen noch einmal alle inständig: Nutzen wir die Anhörung, um ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen. Helfen Sie alle mit, denn ich finde, jedes Kind in Deutschland verdient es, geliebt, geschützt, beschützt und unterstützt zu werden. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf, dessen Inhalt wie kaum ein anderes Thema in der Öffentlichkeit Furore macht. Es geht um den Schutz unserer Kinder. In den Medien werden fast täglich gravierende Fälle von Kindesmisshandlung, Kindesvernachlässigung oder gar von Kindstötung gezeigt. Diese Nachrichten - Sie wissen selber, wie es Ihnen dabei geht - machen uns unheimlich betroffen, ja manchmal wütend über unsere Ohnmacht, dass wir nicht helfen konnten oder nicht geholfen haben. Wir haben den starken Wunsch, ja sogar den Druck, etwas zu verändern und zu handeln. Leider finden sich bei diesen schrecklichen Nachrichten über Kinder stets selbsternannte Fachleute, die genau wissen, wer Schuld daran hat. Ich will nur zwei Beispiele von heute und gestern nennen. Heute war in der Presse von einem Verbandsvertreter zu lesen, der ohne Marlene Rupprecht ({0}) Kenntnis der Hintergründe sofort die Schuldigen identifizieren kann, und zwar in seinem Fall fast immer die Mitarbeiter des Jugendamtes. Gestern wurde im Hamburger Abendblatt und anderen Zeitungen über die mögliche Beteiligung des Allgemeinen Sozialen Dienstes am Tod des Kindes Lara berichtet. Auch diese Meldung macht deutlich, wie schwierig es für die Mitarbeiter der zuständigen Behörde ist, sich angesichts schlechter beruflicher Bedingungen und einer völlig unzureichenden Personalausstattung immer am Kindeswohl zu orientieren. Für die finanzielle Ausstattung der Jugendämter sind aber nicht die Mitarbeiter zuständig und verantwortlich, sondern die, die politisch entscheiden. ({1}) Ich bin seit 1996 im Bundestag und mache vor Ort Jugendhilfe und habe mit Kindern gearbeitet. Was die letzte Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes betrifft, kam ich mir in den letzten zehn Jahren vor wie ein Berserker, der sich vor das Kinder- und Jugendhilfegesetz stellt, um die Zerstörer dieses Gesetzes abzuwehren. ({2}) Die letzten Initiativen kamen aus den Bundesländern. Eine davon hieß KEG: Kommunalentlastungsgesetz. Inhalt dieses Gesetzes war, Leistungen der Jugendhilfe nur noch nach Kassenlage zu gewähren. ({3}) Das ist Fakt. Unter diesen Bedingungen arbeiten die Mitarbeiter in den Jugendämtern. Man outsourct und holt Honorarkräfte. Die Menschen, die dort arbeiten, sind ständig in Grenzsituationen. Sie müssen nach fachlichen Standards entscheiden. Dazu gehört nicht nur der Hausbesuch. Zu den fachlichen Standards gehört mindestens das Vieraugenprinzip. Im Gesetz sind übrigens auch Hilfeplanverfahren und Hilfeplankonferenzen vorgesehen. Es ist fachlicher Standard, Absprachen zu treffen. Auch die Dokumentation und die Überprüfung der Absprachen ist fachlicher Standard. Wann soll das jemand machen, wenn er fast 100 Fälle zu betreuen hat? Über dieses Problem müssen wir reden. Ich denke, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten oft oberhalb der Belastungsgrenze und der eine oder andere ist ausgebrannt. Er kann nicht mehr. Meiner Ansicht nach brauchen sie keine skandalisierenden Äußerungen in den Medien und auch keinen Aktionismus. Wer auf Bundesebene, in den Ländern oder in den Kommunen politisch entscheidet, muss sich fragen - an dieser Stelle muss man das Ganze vom Bauch in den Kopf verlagern -: Wie sehen unsere gesetzlichen Grundlagen aus, und was ist für einen wirksamen Kinderschutz notwendig? Diese Fragen sind zu beantworten. Herr Singhammer, Sie haben vorhin gefragt, wo die Familie bleibt, als wir die Forderung nach Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz beklatscht haben. Der Schutz der Familie ist in Art. 6 des Grundgesetzes garantiert. Darin ist auch das Wächteramt des Staates geregelt. Kinder gelten aber darin als Objekte der elterlichen Erziehung; sie sind nicht dezidiert als Subjekte erkennbar. Wir möchten, dass als Appell an die Gesellschaft und an die Entscheidungsträger gesetzlich festgeschrieben wird, Kinder nicht als Objekte anzusehen. Das halte ich für richtig. ({4}) Das Grundgesetz ist unsere erste rechtliche Grundlage. Die zweite Grundlage ist das BGB. Dort haben wir verankert: Kinder sind gewaltfrei zu erziehen. Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Sie sind Subjekte. Das wurde das erste Mal so niedergeschrieben. Die dritte Grundlage ist das Kinder- und Jugendhilfegesetz. 2005 haben wir durch das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz, das KICK, in Art. 1 den § 8 a, den Kinderschutzparagrafen, in das SGB VIII eingeführt. Wir haben zudem § 42, die Inobhutnahme, neu geregelt und in § 72 a die persönliche Eignung eingeführt. Wir wussten um den Präzisierungsbedarf. Genau den haben wir erfüllt. ({5}) Wir haben im letzten Jahr die familiengerichtlichen Maßnahmen so geregelt, dass die Gerichte, bevor ein Kind aus seiner Familie herausgenommen wird - das stellt einen enormen Eingriff in das Leben eines Kindes dar; wir wissen aber auch, dass manche Eltern nicht mitarbeiten wollen -, angerufen werden können. Ein Richter kann Eltern verordnen, Hilfe und Beratung anzunehmen. Dies hat er auch zu kontrollieren. Das sehen die familiengerichtlichen Maßnahmen vor. Es gibt des Weiteren - das ist internationales Recht, das wir ratifiziert, gezeichnet und anerkannt haben - Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention, in dem steht, dass alles vom Kindeswohl dominiert wird. Art. 19 sieht den Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung vor. Wie sieht also ein wirksamer Kinderschutz aus? Da ich aus Bayern komme - man muss auch sagen, wenn etwas klappt -, möchte ich auf die Publikation Kinderschutz braucht starke Netze hinweisen; das kann man im Internet nachlesen. Es gibt ähnliche Beispiele aus Rheinland-Pfalz, Thüringen und Schleswig-Holstein. Auch dort hat man sich auf den Weg gemacht. Das heißt, die Bundesländer beginnen, das, was wir 2005 auf den Weg gebracht haben, umzusetzen. Deutlich wird hier der familienbezogene Ansatz. Auf jeder Seite der Internetpräsentation kommt positiv besetzter Kinderschutz zum Ausdruck. Es gibt Hilfe, aber natürlich auch Kontrolle. Kein Mensch kann das ohne Kontrolle schaffen. - Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Schluss. Wer soll im Kindernetz mitarbeiten? Auch das ist klar geregelt. Das Jugendamt ist die entscheidende Behörde. Ich bin froh, dass es endlich von einer Eingreifbehörde mit polizeirechtlicher Gewalt zu einer beratenden Institution wurde. Alles andere - auch die Zusammenarbeit ist in § 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes geregelt, das seit 18 Jahren in Westdeutschland und seit 19 Jahren in Ostdeutschland in Kraft ist. Ich finde es schön, dass wir endlich alles umsetzen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wünsche mir, dass die Ergebnisse der Auswertungen der Fachhochschule Coburg und des bayerischen Landgerichtstages betreffend die Wirkungen und die Mängel im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes auf bayerischer Ebene berücksichtigt werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben festgestellt, dass die Mängel nicht im Gesetz, sondern im Vollzug bestehen. Ich wünsche mir, dass wir dies bei den Beratungen und der Anhörung berücksichtigen. Ich hoffe, dass wir alle in diesem Sinne zusammenarbeiten werden. ({0}) Entschuldigung, das kommt, wenn man als Letzte redet, Frau Präsidentin. - Ich hoffe, dass wir dies schaffen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, wollen Sie noch die Dinge mitnehmen, die Sie auf dem Pult haben liegen lassen?

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Für jeden Interessierten ist das eine empfehlenswerte Lektüre: das Grundgesetz und die UN-Kinderrrechtskonvention. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell ist Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/12429 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es offenbar keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b sowie Zusatzpunkt 8 auf: 13 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck ({0}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abrüstung in Privatwohnungen - Maßnahmen gegen Waffenmissbrauch - Drucksache 16/12477 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer, Bodo Ramelow und der Fraktion DIE LINKE Keine Schusswaffen in Privathaushalten - Änderung des Waffenrechts - Drucksache 16/12395 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Hartfrid Wolff ({3}), Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Waffengesetzes - Drucksache 16/12663 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Silke Stokar von Neuforn für Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat sich entschieden, einen inhaltlich umfassenden Antrag zur Verschärfung des Waffenrechts in den Bundestag einzubringen. Ich weiß sehr wohl, dass wir auch aufgrund der Beratungen der AG der Innenministerkonferenz wenig Chancen haben, dass der Bundestag in dieser Legislaturperiode tatsächlich noch handeln wird. Ich möchte aber deutlich machen, dass wir uns mit ein paar Placebos - Amnestie für illegale Waffen oder irgendwelchen biometrischen Schlössern - nicht zufriedengeben werden. Ich habe den Eindruck, dass die Botschaft aus der Zivilgesellschaft nach dem schrecklichen Amoklauf von Winnenden bei Ihnen überhaupt nicht angekommen ist. Wir befinden uns heute in einer anderen Situation. Es sind nicht mehr die Waffenlobbyisten, die diese Debatte beherrschen, sondern es sind die Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer vor Ort - nicht nur in Baden-Württemberg, sondern überall -, die sich melden und deutlich sagen: Wir sind nicht mehr bereit, mit dem Risiko von großkalibrigen Waffen zu leben, die einige Menschen noch immer als Sportwaffen bezeichnen und in ihren Privatwohnungen aufbewahren. Das ist der Kern der Debatte. Die Mehrheit der Gesellschaft will nicht mehr, dass jeder Mensch durch die Mitgliedschaft in einem oder mehreren Sportschützenvereinen die Möglichkeit hat, sich zu Hause ein Waffenarsenal mit unbeschränkter tödlicher Munition anzulegen. Meine Damen und Herren, dies ist nicht kontrollierbar. Sie werden nicht in der Lage sein, 1,6 Millionen private Waffenbesitzer zu Hause zu kontrollieren. ({0}) Unsere Antwort auf diese Situation ist: Wir brauchen ein radikales Umdenken beim Thema Waffengesetz. Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der der Grundsatz gilt: keine Waffen im öffentlichen Raum, keine Waffen in privaten Wohnungen. ({1}) Wir haben heute Girls’ Day. Das Problem der Bewaffnung der Bevölkerung mit gefährlichen Schusswaffen ist ein Männerproblem in unserer Gesellschaft. ({2}) Ich habe in den letzten Tagen und Wochen Gespräche mit einigen Sportschützinnen geführt. Ich fand diese Gespräche sehr interessant; denn auch ich bin der Auffassung, dass Schießsportvereine weiterhin eine Existenzberechtigung in unserer Gesellschaft haben. Ich habe bei diesen Gesprächen vor Ort nicht mit den Funktionären der Schießsportverbände gesprochen; denn mit denen kann man in dieser Frage nicht reden. Wenn man vor Ort ist, stellt sich die Situation anders dar. Eine Sportschützin hat zu mir gesagt: Überhaupt kein Problem, ich brauche keine scharfe Waffe. Für mich ist Sportschießen Präzisionssport. Für mich heißt das: Konzentration und Präzision. Das geht auch mit einer Laserwaffe. - Das ist kein Unsinn. ({3}) In der olympischen Disziplin des Fünfkampfs hat man aus Sicherheitsgründen längst die Entscheidung getroffen, die scharfen Waffen nicht mehr als Sportwaffen zuzulassen. Wir brauchen an dieser Stelle eine völlig andere Diskussion. Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. In meiner Fraktion bin ich auch für den Datenschutz zuständig. Ich habe überhaupt kein Verständnis für die buchstäbliche Hemmung der Innenminister, die doch sonst scharf darauf sind, jeden Bürger und jede Bürgerin in Hunderten von Dateien zu erfassen. Es gibt nicht ein einziges vernünftiges Argument dafür, warum es in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in Europa nach wie vor nicht möglich ist, dass Waffenbesitzer erfasst werden, dass wir erfassen, welche Waffen in privaten Wohnungen legal vorhanden sind und dass wir die Berechtigung des Waffenbesitzes überprüfen. Das sind Kontrolldefizite in unserer Gesellschaft, die nicht länger hinzunehmen sind. ({4}) Abschließend stelle ich fest: Mir reicht die Handlungsunfähigkeit der Innenpolitiker. Wir werden alle Initiativen, die sich derzeit bilden, ob das Onlinepetitionen, Unterschriftensammlungen oder sogar die Vorbereitung von Volksentscheiden sind, fördern und unterstützen, weil das Ziel eine Entwaffnung in der Bevölkerung sein muss. Wir wollen, dass das Gewaltmonopol des Staates wieder zum Tragen kommt. Wir wollen eine öffentliche Sicherheit, die dadurch gewährleistet wird, dass wir die Überbewaffnung in Privatwohnungen abbauen. Über nichts anderes werden wir mit Ihnen diskutieren. Wir werden uns nicht länger auf diese Scheindebatten einlassen. Wenn das Parlament nicht in der Lage ist, zu handeln, dann werden wir diese Frage durch öffentliche Unterschriftensammlung klären. Danke schön. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für CDU/CSUFraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unmittelbar nach dem unfassbaren Amoklauf von Winnenden haben wir im Deutschen Bundestag im Rahmen einer Aktuellen Stunde eine, wie ich finde, sehr gute Debatte geführt, die von Nachdenklichkeit und nicht von reflexartigen Scheinlösungen geprägt war. Wir waren uns alle einig, dass es bei der Reaktion auf diesen Amoklauf um eine neue Kultur des Hinsehens, des Kümmerns und der Zuwendung, des Bemerkens von Hass und Verzweiflung gehen muss und nicht nur um eine Verschärfung des Waffenrechts. ({0}) An diesem Befund hat sich bis zum heutigen Tage nichts geändert. ({1}) Natürlich hat die fahrlässige Aufbewahrung einer Waffe den Amoklauf in Winnenden begünstigt. Aber die eigentliche Frage bleibt doch: Was macht in unserer Gesellschaft aus relativ unauffälligen 16-jährigen Jugendlichen Amokläufer, die sich mit unglaublicher Kaltblütigkeit Mitschüler vorknöpfen und erschießen? ({2}) Was ist da passiert, wenn in Eislingen ein Jugendlicher, den alle als unauffällig schildern und der einen guten Eindruck gemacht hat, zunächst mit einer unglaublichen Grausamkeit seine beiden Schwestern und Stunden später seine Eltern erschießt? Sachverständige sagen uns in diesen Tagen, dass solche Taten in aller Regel in einer Vorbereitungszeit von drei bis sechs Monaten reifen und dass der Täter dann aber auch entschlossen ist, zu handeln. Sinnvolle Verbesserungen des Waffenrechts können solche Taten vielleicht erschweren, aber wer, Frau Kollegin Stokar, will ernsthaft behaupten, dass wir sie durch gesetzgeberische Maßnahmen allein verhindern könnten. ({3}) Insofern ist das, was Sie heute gesagt haben, dem Problem, um das es hier geht, unangemessen. Sie haben die Tiefe des Problems überhaupt nicht erfasst. ({4}) Ich will gar nicht auf die Flut illegaler Waffen verweisen, die ohnehin dazu führt, dass es hundertprozentig wirksame Lösungen gar nicht geben kann. Ich will aber darauf verweisen, dass bei der grausamen Tat in Eislingen die Waffen aus dem Stahlschrank des örtlichen Schützenvereins entwendet wurden. So weit zu denjenigen, die sich für eine zentrale Lagerung von Waffen eingesetzt haben. Die Tat wurde mit Kleinkaliberwaffen verübt. Es ist also nur eine scheinbare Sicherheit, wenn man Großkaliberschießen generell verbieten würde. ({5}) Trotzdem ist es richtig, eine substanzielle Verbesserung des Waffenrechts zu untersuchen, wie das jetzt in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe geschieht, die nach meinem Kenntnisstand auch noch keine Ergebnisse vorgelegt hat, weshalb mir manche Pressemeldung heute übereilt erscheint. ({6}) Nicht zuletzt sind wir den Angehörigen der Opfer von Winnenden eine Überprüfung des Waffenrechts schuldig, ({7}) die sich in zwei bemerkenswerten Briefen an uns gewandt haben. Sie haben einen Anspruch darauf, dass die Politik alles in ihrer Kraft Stehende für eine wirkliche Verbesserung des Waffenrechts tut und ihnen eine angemessene Antwort gibt. ({8}) Unsere Überlegungen, die wir dabei anstellen, müssen allerdings tatangemessen sein. Ich unterstütze die vom baden-württembergischen Innenminister Heribert Rech und anderen vorgeschlagene Amnestie für illegale Waffenbesitzer. Dabei ist der Einwand, eine vergleichbare Aktion nach dem Amoklauf von Erfurt habe keinen großen Erfolg gehabt, für mich nicht überzeugend. Jede einzelne illegale Waffe, die aus dem Verkehr gezogen wird, bedeutet ein kleines Stückchen mehr Sicherheit, und dagegen kann niemand ernsthaft etwas einwenden. ({9}) Ich würde es unterstützen, wenn sich die zuständigen Ordnungsbehörden etwa bei älteren Menschen bereit erklärten, die entsprechenden Waffen abzuholen. Ich halte aber eine Abwrackprämie für illegale Waffen, wie Sie, Frau Kollegin Stokar, sie gefordert haben, nun wirklich nicht für die richtige Maßnahme. Wir dürfen rechtswidriges Verhalten zum einen nicht auch noch prämieren, und zum anderen finde ich die Wortwahl völlig indiskutabel. Angesichts der Tragödien von Winnenden und Eislingen brauchen wir den Umständen der Tat angemessene Antworten. Die Schaffung einer solchen Abwrackprämie ist schon von der Wortwahl her eine völlig unangemessene Reaktion auf das eigentliche Problem, mit dem wir es zu tun haben. ({10}) Die Koalition wird im Lichte der Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, verehrte Frau Kollegin Stokar, schon in der nächsten Sitzungswoche darüber beraten, in welchen Bereichen es gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt und ob dieser noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden kann. Dabei sind die Vorschläge, die die Angehörigen der Opfer von Winnenden gemacht haben, in alle Überlegungen einzubeziehen. Die Angehörigen haben die Frage der Altersbegrenzung beim großkalibrigen Schießen problematisiert. Ich will offen bekennen: Die Schützenvereine in meinem Wahlkreis machen eine sehr verantwortungsvolle Nachwuchsarbeit wie viele andere Schützenvereine in ganz Deutschland. Da darf niemand unter Generalverdacht gestellt werden. Ich finde es im Übrigen auch besser, wenn Jugendliche mit Laser- oder Luftdruckwaffen im Schützenverein schießen, als wenn sie mit Softair- oder Paintball-Waffen in den Wald ziehen und dort ohne jede Hemmung und vor allen Dingen ohne jede fachliche Aufsicht schießen. Ich will aber auch betonen: Ich kann nicht erkennen, dass für diese wichtige Nachwuchsarbeit in den Schützenvereinen das Schießen mit Großkaliber zwingend erforderlich ist. Deshalb bin ich dafür, dass wir die Altersgrenze auf 18 Jahre heraufsetzen. Ich bin sehr dankbar, dass der Deutsche Schützenbund diese Überlegungen mitträgt. Es ist nicht so, dass die Verantwortlichen an der Spitze des Deutschen Schützenbundes und auch des Deutschen Jagdschutz-Verbandes für diese Gespräche nicht offen wären und uns in unserem Bemühen, sinnvolle Verbesserungen des Waffenrechts durchzusetzen, nicht unterstützen würden. Sie tun es sehr wohl, und Sie haben das, was hier vonseiten der Verbände Positives geleistet wird, nicht richtig gewürdigt. ({11}) Ich finde ebenso richtig, dass wir alle neuen technischen Möglichkeiten im Bereich der Biometrie nutzen, um Waffen und Waffenschränke gegen den Zugriff Unbefugter besser zu sichern. Bei einem Gespräch mit den Verbänden der Schützen und Jäger, das wir von der CDU/CSU in dieser Woche geführt haben, wurde eben auch berichtet, dass diejenigen Firmen, die Waffenschränke bauen und vertreiben, mit der Auftragsbearbeitung nach Winnenden kaum noch nachkommen und teilweise Lieferzeiten von einem halben Jahr haben. Diese Waffenschränke sind aber seit 2003 verbindlich zur Aufbewahrung vorgeschrieben. Insofern müssen wir uns der Frage der besseren Kontrolle der bereits bestehenden Aufbewahrungsvorschriften zuwenden. ({12}) Wir sollten auch die Mitwirkungspflichten der Waffenbesitzer ausweiten, etwa wenn es um den präzisen Nachweis der sicheren Aufbewahrung geht. Da kann das Übersenden der Rechnung für einen Waffenschrank sicherlich nicht ausreichen. Ich will noch einmal betonen: Ich bin sehr dankbar, dass sowohl der Deutsche Jagdschutz-Verband als auch der Deutsche Schützenbund den Ansatz unterstützen, dass wir hier bei der Überwachung der Mitwirkungspflichten im Rahmen des nach Art. 13 Grundgesetz Möglichen auch zu verdachtsunabhängigen Kontrollen kommen. Ich halte das für eine ganz wesentliche Verbesserung des Gesetzesvollzugs. Ich bin dankbar dafür, dass uns die Verbände unterstützen. Das wird uns auch vor Ort, also bei den Jägerschaften und den Schützenvereinen, helfen. Wir können dann sagen: Wir haben von euren Repräsentanten auf Bundesebene, die unsere Ansprechpartner in dieser Frage sind, Unterstützung. Das begrüße ich ausdrücklich. Das hilft uns. Ebenso müssen wir über eine effektivere Prüfung des waffenrechtlichen Bedürfnisses nachdenken, damit wirklich nur der Waffen hat, der tatsächlich aktiv im Schützenverein in der jeweiligen Disziplin schießt. Frau Kollegin Stokar, Sie wissen ganz genau, dass die Frage des zentralen Waffenregisters in einer entsprechenden EU-Richtlinie behandelt wird. Diese Richtlinie hätten wir bis 2014 umzusetzen. Das wird man jetzt natürlich zeitlich beschleunigen. Es ist zweifellos ein Sicherheitsgewinn, wenn insbesondere unsere Sicherheitskräfte wissen, dass sie in einen Haushalt kommen, in dem Waffen vorhanden sind. Frau Kollegin Stokar, ich will angesichts dessen, was Sie hier gesagt haben, und vor allen Dingen angesichts der Art und Weise, wie Sie es gesagt haben, Ihnen mit auf den Weg geben: Das Thema Waffenrecht eignet sich in diesen Wochen und Monaten gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse überhaupt nicht für kleinliche Geländegewinne im politischen Wettbewerb. ({13}) Die Anträge von Linkspartei und Grünen haben sich schon durch die Tatumstände im Mordfall von Eislingen als unzureichend erwiesen. Hessens Innenminister Volker Bouffier hat heute zu Recht vor Aktionismus gewarnt. Wir brauchen wirksame Verbesserungen des Waffenrechts, die wir gemeinsam mit den Ländern und den Verbänden von Schützen und Jägern erarbeiten wollen. Darauf können sich die Angehörigen der Opfer, darauf können sich alle Bürger dieses Landes verlassen. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hartfrid Wolff hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das schockierende Verbrechen von Winnenden und Wendlingen hat uns alle betroffen gemacht. Wir fragen uns, wie wir uns in Zukunft vor ähnlichen Untaten schützen können. Inzwischen ist es zu weiteren Straftaten mit Waffen in Landshut und Eislingen gekommen. Diese Fälle werfen ein bezeichnendes Licht auf die nach Winnenden reflexartig erhobenen politischen Forderungen. Einige hiervon haben die Linken und die Grünen vorgelegt. Zunächst einmal ist jedoch festzuhalten: Ein Generalverdacht gegen alle Sportschützen, Waffensammler, Jäger oder Berufswaffenträger ist nicht gerechtfertigt ({0}) und kann eine Diskussion um die wirklichen Ursachen kriminellen oder gewaltsamen Handelns nicht ersetzen. ({1}) Nicht zuerst die Waffe ist das Problem, sondern der Mensch, der sie einsetzt. ({2}) Insofern muss die gesellschaftspolitische Frage der Gewalt- und Kriminalprävention vor der Frage der waffenrechtlichen Verschärfung gestellt werden. ({3}) Wir haben auf Bundesebene mit dem Deutschen Forum für Kriminalprävention eine wichtige Einrichtung, die es zu stärken gilt. Gleichwohl hält die FDP stringente Regeln im deutschen Waffenrecht für wichtig. Derzeit erschweren Bürokratie und die Kompliziertheit des Waffenrechts den gesetzlichen Vollzug. Einfache, wirkungsvolle und anwendbare Gesetze nützen der Sicherheit mehr als immer neue Vorgaben. ({4}) Nach Auskunft der Bundesregierung stammen lediglich 2 bis 3 Prozent aller bei Schusswaffenkriminalität Hartfrid Wolff ({5}) eingesetzten Waffen aus legalem Besitz. Da sieht man die Grenzen eines Waffenrechts. Ziel der FDP ist es deshalb, den illegalen Waffenbesitz einzuschränken. Deshalb fordert die FDP heute mit dem von ihr vorgelegten Gesetzentwurf, den illegalen Schusswaffenbesitz einzudämmen, indem eine Abgabe illegaler Waffen bis zum Stichtag straffrei gestellt werden soll. ({6}) - Das allein reicht selbstverständlich nicht. Schauen Sie sich den Gesetzentwurf an, Frau Kollegin. Die Forderung nach einem zentralen Waffenregister ist Rechtslage der EU. Ob ein Vorziehen vor den Termin zur Umsetzung der EU-Regelung praktikabel ist, wird sicherlich zu prüfen sein. Allerdings sollten wir ehrlich zugeben: Das Waffenregister hätte keine der erschreckenden Straftaten in den vergangenen Wochen verhindert. ({7}) Allein die Registrierung wirkt nicht wirklich präventiv. Von verschiedener Seite wurde ein Totalverbot privater Schusswaffen gefordert. Das Beispiel aus Großbritannien, wo 1997 nach dem Amoklauf eines 43-Jährigen in Dunblane alle Handfeuerwaffen in Privatbesitz verboten wurden, zeigt, dass damit die Schusswaffenkriminalität nicht nachhaltig eingedämmt werden konnte. Wer ein generelles Verbot von Waffen in Privatbesitz fordert, sollte klar sagen: Dann kann es keinen Schützenverein, keine Sammler historischer Waffen und keine Jäger mehr geben. ({8}) Ob diese Zerstörung des Vereinslebens einen Sicherheitsgewinn bedeutet, darf wohl bezweifelt werden. Jäger und Schützen zu kriminalisieren, Frau Kollegin, hält die FDP vor diesem Hintergrund nicht für sinnvoll. ({9}) Grüne und Linke fordern, die Schusswaffenverwahrung in Privathaushalten zu unterbinden. Das ist eine Wiedergängerdebatte, die wir schon aus den letzten Jahren kennen. ({10}) Selbst mit vielleicht verfügbarer besserer Sicherheitstechnik wären solche zentralen Waffendepots in Randlagen ein verlockendes Ziel für Kriminelle. Das zeigt gerade die Tat von Eislingen, wo vor der Tat in ein solches Schützenheim eingebrochen wurde. Der entscheidende waffenrechtliche Ansatz zur Erhöhung der öffentlichen Sicherheit ist aus Sicht der FDP vor allem die Beseitigung der Vollzugsdefizite. Wir brauchen regelmäßige Kontrollen der Aufbewahrung von Waffen. So wie zum Beispiel der Privathaushalt durch Schornsteinfeger oder wie Gewerberäume durch den Wirtschaftskontrolldienst überprüft werden, sollte die sichere Aufbewahrung der Waffen durch die Ordnungsbehörden überprüft werden. Dazu bedarf es einer personell und materiell besseren Ausstattung dieser Behörden. Regelmäßige Kontrollen auf breiter Basis, die bei Verstößen den konsequenten Entzug der Waffenbesitzkarte zur Folge haben, dürften sich wegen der Abschreckung recht rasch als wirksames Instrument gegen den fahrlässigen Umgang mit den Aufbewahrungsvorschriften herausstellen. ({11}) Ich sage aber auch: Das Sanktionssystem muss gegebenenfalls angepasst werden. Meine Damen und Herren, als Abgeordneter aus dem Wahlkreis von Winnenden hat es mich besonders betroffen gemacht, dass Kolleginnen und Kollegen schon wenige Stunden nach der Tat mit politischen Rezepten bei der Hand waren; einige haben das schon angesprochen. Ich meine, es wäre richtiger gewesen, wenn wir, die hauptamtlichen Politiker dieser Republik, einmal innegehalten hätten. Wir sind nicht allmächtig. Wir können keine absolute Sicherheit garantieren. Wir sollten auch nicht den Eindruck erwecken, wir könnten es. Das gilt umso mehr, als bis heute nicht einmal die Waffenrechtsänderungen nach der Bluttat von Erfurt evaluiert sind, geschweige denn die vom vorigen Jahr. Wir können nur Gesetze machen. Aber kein Gesetz kann schützen, wenn es nicht beachtet und vollzogen wird. Der Respekt vor den Opfern sollte es eigentlich verbieten, die immer wieder gleichen vermeintlichen Heilsrezepte aufzuwärmen, erst recht unmittelbar nach einer solch schrecklichen Bluttat. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gabriele Fograscher ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen, dass sich etwas ändert in dieser Gesellschaft, und wir wollen mithelfen, damit es kein zweites Winnenden mehr geben kann. Dieses Zitat aus dem offenen Brief der Eltern der Opfer des Amoklaufs von Winnenden an die Politik nehGabriele Fograscher men wir ernst. Amokläufe in Zukunft zu verhindern, können wir nicht versprechen, aber wir müssen alles dafür tun, sie zu erschweren. Die Ursachen, die einen jungen Mann dazu bringen, eine solch sinnlose Tat zu begehen, werden nie wirklich aufgeklärt werden können. Persönlichkeitsstörungen, Frustrationen, Männlichkeitswahn, Aggression, Hass, Probleme im sozialen Umfeld, das Herabsetzen der Hemmschwelle für Gewalt durch sogenannte Killerspiele - dies alles können Ursachen sein, aber möglich wurde die grausame Tat durch das grob fahrlässige Herumliegenlassen einer Schusswaffe und der dazugehörigen Munition. Wir müssen uns der Frage stellen: Wie wachsen junge Männer in unserem Land auf? Warum spielen sie Killerspiele? Warum schauen sie Gewaltvideos? Was muss als Auslöser dazukommen, damit aus der virtuellen Gewalt grausame Realität wird? Verantwortung der Medien bei der Berichterstattung über Amokläufe, aber auch Eindämmung von Gewalt im Fernsehen und auf Internetplattformen einzufordern, ist schwieriger, als die Forderung nach gesetzlichen Regelungen im Waffenrecht zu erheben; umso mehr gilt das für die Erfüllung solcher Forderungen. Deshalb kann die derzeitige Diskussion über Änderungen im Waffenrecht nur ein Baustein sein, wenn es darum geht, solche Taten in Zukunft zu erschweren. Die Änderungen liegen in der Zuständigkeit des Bundes, des Bundestages; der Vollzug des Waffenrechts und die Kontrolle der gesetzlichen Vorschriften aber obliegen den Ländern. Deshalb ist es zu begrüßen, dass sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gebildet hat, die sich mit den vielfältigen Vorschlägen zur Änderung des Waffenrechts befasst. Ich will Ihnen die Überlegungen der SPD-Bundestagsfraktion zu möglichen Änderungen darstellen. Ich betone, dass wir keine Placebos oder Scheinlösungen anbieten wollen. Wir sollten die augenblickliche Sensibilität der Bevölkerung nutzen, um möglichst viele illegale Waffen aus dem Verkehr zu ziehen. Deshalb wollen wir eine befristete Amnestieregelung und unterstützen entsprechende Initiativen. ({0}) Eine weitere Maßnahme, die wir noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen könnten, ist die Schaffung eines zentralen Waffenregisters. In diesem Zusammenhang sollten wir überlegen, wie es bei Vorhandensein solcher Waffenregister gelingen könnte, Warnzeichen, Signale oder auffälliges Verhalten, zum Beispiel geäußerte Gewaltfantasien, und die Information, dass sich im Umfeld der Person Waffen befinden, zu nutzen, um schon vor einer Tat einschreiten zu können. Ein Gesetz braucht Kontrolle. Das heißt, dass die ordnungsgemäße Aufbewahrung der Waffen und der ordnungsgemäße Transport stärker kontrolliert werden müssen. Zum einen könnte es Informationen und Kontrollen durch die Schützenvereine selbst geben. Zum anderen könnte man die Zuverlässigkeitsprüfung zum Waffenerwerb mit einer Einwilligung zu Kontrollen verbinden. Damit wäre den zuständigen Behörden die Möglichkeit gegeben, stichprobenartig die gesetzeskonforme Aufbewahrung der Waffen zu überprüfen. Diesem Vorschlag würde auch der Deutsche Schützenbund zustimmen. Im derzeit geltenden Waffengesetz wird der Nachweis des Bedürfnisses für den Waffenerwerb nach drei Jahren neu geprüft. Danach ist keine weitere Prüfung des Bedürfnisses vorgesehen. Wir können uns vorstellen, in regelmäßigen Zeitabständen eine erneute Prüfung vorzunehmen. Den Vorschlag der zentralen Lagerung von Waffen und Munition oder beidem im Schützenhaus halte ich derzeit für nicht praktikabel. Die Verfügbarkeit in Privathaushalten wäre dann zwar nicht mehr gegeben. Es würden aber neue Sicherheitsprobleme für solche zentralen Waffen- oder Munitionsdepots auftreten. In diesen Depots würden jeweils mehrere Hundert Waffen und mehrere Zehntausend Schuss Munition lagern. Erst kürzlich - es ist schon angesprochen worden - wurden aus einem Schützenhaus Waffen entwendet. Dadurch wurden Familientragödien mit mehreren Toten ausgelöst. Das Verbot von großkalibrigen Waffen, vor allem Kurzwaffen, im Schießsport halten wir für eine Maßnahme zur Eindämmung der Anzahl besonders gefährlicher Waffen. Es ist kein Zufall, dass die olympischen Disziplinen bis auf die Flinte zum Skeet- oder TrapSchießen ausschließlich aus sportlichem Schießen mit Druckluft- und Kleinkaliberwaffen gebildet werden. Es gibt auch kein gesellschaftlich anerkanntes Bedürfnis, mit großkalibrigen Waffen, wie sie etwa von Polizeibehörden oder Streitkräften genutzt werden, Sport zu betreiben. Die Entwicklung technischer Sicherungssysteme für Waffen hat in den letzten Jahren Fortschritte gemacht. Waffen können sowohl im Lauf als auch im Abzug und auch im Patronenlager elektronisch, mechanisch und biometrisch gegen unbefugten Zugriff gesichert werden. Die Kosten hierfür halten sich inzwischen in einem überschaubaren Rahmen. Eine so erreichte Schussunfähigkeit der Waffe bietet das größte Maß an Sicherheit vor unberechtigtem Zugriff. Wir fordern auch ein Verbot von gefechtsähnlichen Schießsportübungen. ({1}) Bereits nach geltendem Recht ist kampfmäßiges Schießen im Sport verboten. Es haben sich aber einzelne Schießsportdisziplinen entwickelt, die zwar nicht unmittelbar als kampfmäßiges Schießen eingestuft werden können, die aber dessen Charakter sehr nahe kommen. Bei diesem IPSC- oder Western-Schießen wird auf bewegliche Ziele, die Menschen darstellen oder symbolisieren, geschossen. Es ist nicht ersichtlich, wie das Schießen aus der Bewegung, ein Stellungswechsel unter Ausnutzung von Deckungsmöglichkeiten sowie die Einbeziehung von Schieß- und Nicht-Schießelementen in die Übung als sportliches Schießen angesehen werden können. Dabei handelt es sich um die Nachahmung dienstlichen Schießens von militärischen und polizeilichen Spezialeinheiten. Außerhalb des Waffenrechts stehend, aber mit der Thematik verwandt ist das sogenannte Paintball- oder Gotcha-Schießen. Hierbei wird mit Farbkugeln auf andere Menschen geschossen. Dieses „Spiel“ verletzt in meinen Augen die Menschenwürde. ({2}) Deshalb wird in der schon erwähnten Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit Recht über Möglichkeiten für ein Verbot nachgedacht. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einmal betonen, dass vor den Amokläufen in Emsdetten, Erfurt und Winnenden grob fahrlässig gegen geltendes Waffenrecht verstoßen wurde. Alle gesetzlichen Regelungen können nur dann wirksam sein, wenn sie eingehalten und kontrolliert werden. Neben den von mir genannten Überlegungen zu Änderungen im Waffenrecht brauchen wir eine breit angelegte und intensive Diskussion über gesellschaftliche Ursachen und Fehlentwicklungen. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Ulla Jelpke das Wort. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Amoklauf von Winnenden hat deutlich gemacht, dass es dringenden politischen Handlungsbedarf gibt. Die Fraktion Die Linke will erreichen, dass Schusswaffen aus Privathaushalten entfernt werden. Herr Grindel, niemand behauptet hier - auch wir nicht -, dass man durch Gesetzesänderungen oder -verschärfungen solche tragischen Ereignisse in Zukunft verhindern könnte; aber wir können auch nicht den Mord an 15 Menschen durch einen Amokläufer einfach hinnehmen, ohne uns über Konsequenzen Gedanken zu machen. ({0}) - Das habe ich Ihnen auch nicht vorgeworfen. Bleiben Sie einmal sachlich! Wir haben in den letzten Wochen zahlreiche Briefe zum Beispiel von Schützen, Jägern und Waffensammlern erhalten. Sie alle enthielten die Befürchtung, dass jetzt vor allem die Schützen pauschal bestraft und vorverurteilt werden sollen. Ich möchte hier für die Linke klar sagen, dass es uns nicht darum geht, ein generelles Misstrauen gegenüber Sportschützen, Waffensammlern und Jägern zu schüren. Wir wollen schlicht und einfach Folgendes erreichen: Der spontane Zugriff auf Schusswaffen soll erschwert werden. Wir schlagen vor, Schusswaffen grundsätzlich nur noch in Schützenvereinen oder an anderen geeigneten Stellen aufzubewahren, wo sie selbstverständlich bewacht werden müssen. ({1}) Für all jene, die ihre Waffen legal nutzen, beispielsweise für Sportschützen, stellt das wirklich nur eine kleine Hürde dar. Wozu sollten sie denn ihre Waffen unbedingt zu Hause lagern? Im Garten dürfen sie sowieso nicht schießen. Für all jene aber, die spontan und widerrechtlich zu Waffen greifen wollen, um damit Verbrechen zu begehen, würde unser Vorschlag eine große Hürde darstellen. Auch die Gefahr, dass Einbrecher in den Besitz von Schusswaffen kommen - das ist hier schon erwähnt worden -, würde unseres Erachtens deutlich verringert. Natürlich kann man es nicht gänzlich verhindern, dass am Aufbewahrungsort eingebrochen wird; aber es ist, wie gesagt, wichtig, eine Hürde aufzubauen. Wie Sie wissen, hat der Amokläufer von Winnenden wie andere vor ihm davon profitieren können, dass sein Vater eine Schusswaffe ungesichert zu Hause aufbewahrte, zusammen mit der Munition. Es ist schon gesagt worden: Das hätte nicht sein dürfen; die Gesetze sind nicht eingehalten worden. Die Linke sagt hier ganz klar: Der Gesetzgeber muss dafür Sorge tragen, dass so etwas nicht mehr sein darf. Unser Antrag greift weit weniger in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger ein, als es viele andere Vorschläge tun. Wir wollen Waffenbesitzern nicht zumuten, dass alle paar Tage eine unangekündigte Inspektion stattfindet. Herr Wolff, ein Schornsteinfeger kommt angemeldet, oftmals nur einmal im Jahr. Wenn man eine Inspektion ankündigen würde - das wissen auch Sie -, dann wäre der Waffenschrank natürlich abgeschlossen. ({2}) Inspektionen wären keine Lösung; sie würden eine Misstrauenserklärung gegenüber all denen darstellen, die verantwortungsvoll mit ihren Waffen umgehen. Wir wollen, dass die Waffen aus den Wohnungen verschwinden und in einbruchssicheren, bewachten Safes gelagert werden. Uns ist völlig klar, dass unser Antrag dem Missbrauch illegaler Waffen, von denen hier heute schon die Rede war - schätzungsweise sind etwa 20 Millionen solcher Waffen im Umlauf -, nicht beikommen kann. Ich möchte am Ende meiner Rede darauf verweisen, dass die Angehörigen der Opfer von Winnenden einen sehr wichtigen offenen Brief an die Politikerinnen und Politiker, an die Gesellschaft verfasst haben, in dem es um sehr viel mehr als nur um das Waffenrecht geht. Ich meine, die eigentliche Debatte muss sich mit den Ursachen und mit der Frage beschäftigen: Wie können wir es zukünftig verhindern, dass Amokläufe wie die von Erfurt und Winnenden anderswo stattfinden? Ich danke Ihnen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/12477, 16/12395 und 16/12663 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann wird die Überweisung so beschlossen. Jetzt komme ich zu einer längeren Vorlesung mit Ihrer Beteiligung, weil die übrigen Reden zu Protokoll gegeben werden. ({0}) - Nicht wissenschaftlich, aber doch spannend. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Antje Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht ({2}), Renate Gradistanac, Angelika Graf ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Frauen und Mädchen mit Behinderungen wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsangebote verbessern - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Lage der Frauen mit Behinderungen in der Europäischen Union Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. April 2007 zur Lage der Frauen mit Behinderungen in der Europäischen Union ({4}) ({5}) - Drucksachen 16/11775, 16/6041 Nr. 1.7, 16/12545 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Blumenthal Marlene Rupprecht ({6}) Ina Lenke Irmingard Schewe-Gerigk Es ist vorgeschlagen worden, die Reden zu Protokoll zu geben. - Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Antje Blumenthal, Marlene Rupprecht, Ina Lenke, Dr. Ilja Seifert und Irmingard Schewe-Gerigk.1) 1) Anlage 5 Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/12545. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/11775 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und Die Linke ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 15: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Potenziale der Tourismusbranche in der Ent- wicklungszusammenarbeit durch Aufgaben- bündelung im Bundesministerium für Wirt- schaft und Technologie ausschöpfen - Drucksachen 16/8176, 16/12185 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Dr. Reinhold Hemker Ernst Burgbacher Dr. Ilja Seifert Bettina Herlitzius Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol- len zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Jürgen Klimke, Dr. Reinhold Hemker, Ernst Burgbacher, Dr. Ilja Seifert und Bettina Herlitzius.2) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Potenziale der Tourismusbranche in der Entwicklungszusammenarbeit durch Aufgabenbün- delung im Bundesministerium für Wirtschaft und Tech- nologie ausschöpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12185, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8176 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange- nommen. Es gibt keine Enthaltungen. Zusatzpunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes 2) Anlage 6 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt - Drucksache 16/7615 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8}) - Drucksache 16/12714 - Berichterstattung: Abgeordnete Michael Grosse-Brömer Dirk Manzewski Wolfgang Nešković Zu Protokoll gegeben wurden die Reden von Michael Grosse-Brömer, Dirk Manzewski, Mechthild Dyckmans, Dr. Barbara Höll, Jerzy Montag sowie dem Parlamenta- rischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12714, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7615 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Ergebnis wie vorher angenommen. Tagesordnungspunkt 17: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Alexander Ulrich, Monika Knoche, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Unterstützung von Militäreinsätzen aus dem Europäischen Entwicklungsfonds - Drucksachen 16/4490, 16/5984 - Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Andreas Weigel Heike Hänsel Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Anette Hübinger, Bärbel Kofler, Hellmut Königshaus, Heike Hänsel und Thilo Hoppe. 1) Anlage 7

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke bezieht sich auf den Beschluss des AKP-EG-Ministerrats aus 2004, mit dem die Einrichtung der Afrikanischen Friedensfazilität ermöglicht wurde, die den Aufbau einer afrikanischen Eingreiftruppe und die Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen der Afrikanischen Union unterstützt. Aufgrund dessen wurde für die Laufzeit von 2004 bis 2007 die Afrikanische Friedensfazilität mit 250 Millionen Euro ausgestattet. Diese Mittel sind im Rahmen des Cotonou-Abkommens im 9. Europäischen Entwicklungsfonds bereitgestellt worden. Auch im 10. EEF ist diese Fazilität enthalten und wurde um 50 Millionen Euro aufgestockt. Die Fraktion Die Linke nimmt diese Beschlusslage zum Anlass, die Finanzierung der Afrikanischen Friedensfazilität aus EEF-Mitteln als Zweckentfremdung von Mitteln zu bezeichnen und zudem deren Auftrag als Militäreinsatz zu bezeichnen. Eine Finanzierung dieser wichtigen Friedensmaßnahme, die Grundlage für eine weitere Entwicklung ist, soll nach dem Willen der Linken nicht aus Mitteln des Europäischen Entwicklungsfonds finanziert werden. Die Linke verschweigt aber, woher die Mittel kommen sollen. Das ist leider bei ihnen nichts Neues. Alle erdenklichen Versprechen, aber kein Wort dazu, woher das Geld kommen soll. Das ist in meinen Augen Augenwischerei. Wie auch die Ausschussberatung klar aufzeigte, verkennt die Fraktion Die Linke zudem den hohen Stellenwert, den die Afrikanische Friedensfazilität ganz im Sinne unserer Entwicklungspolitik zu leisten imstande ist, gerade auch bei der Bewältigung von Konflikten, nämlich als ein flankierendes Instrument zu notwendigen - und ich betone: zu notwendigen! - militärischen Einsätzen. Ihre Behauptung, die Mittel seien für Militäreinsätze verwendet worden, ist völlig haltlos. Im Rechtsakt zur Einrichtung der Afrikanischen Friedensfazilität ist eindeutig geregelt, wofür diese Mittel verwendet werden dürfen. Ich zitiere: „Der Betrag kann mobilisiert werden, um die Kosten zu decken, die den afrikanischen Ländern aus dem Einsatz ihrer Friedenstruppen in einem oder mehreren afrikanischen Ländern entstehen: Kosten für die Beförderung der Truppen, Aufenthaltskosten für die Soldaten, Kapazitätsausbau.“ Und es ist explizit erwähnt, dass diese Mittel - ich zitiere - „in keinem Fall für Militärund Rüstungsausgaben verwendet werden können“. Die Unterstützung der Afrikanischen Union durch Mittel der Afrikanischen Friedensfazilität war gerade zu der damaligen Zeit in der Region Darfur im Sudan aufgrund der bis dato größten humanitären Katastrophe von größter Wichtigkeit. Die benötigten Mittel stiegen sogar weit über die veranschlagten Mittel hinaus. Die Bundesregierung hatte daraufhin im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft 2007 sich für eine zusätzliche Unterstützung der AU-Mission durch bilaterale Beiträge der einzelnen Mitgliedstaaten über den EEF hinaus eingesetzt. Der Antrag der Fraktion Die Linke als selbsternannte „Friedenspartei“ verkennt, dass in Krisen- und Konfliktregionen Afrikas Friedensmissionen der Afrikanischen Union entscheidend zur Verkürzung von militärischen Einsätzen beitragen, und das aufgrund ihres friedenssichernden und stabilisierenden Charakters. Eine weitere Forderung des Antrages nach dem Aufbau eines europäischen zivilen Friedensdienstes ist leider auch sehr realitätsfern. Denn nicht alle zivilen Friedensdienste in Europa haben dieses gemeinsame Ziel. Sie befürchten eine zu starke Vereinnahmung durch die Politik und so den Verlust ihrer Unparteilichkeit. Sie streben im Gegensatz zu ihnen einen losen Netzwerkverbund an. An dieser Stelle möchte ich auch darauf hinweisen, dass ich den Zivilen Friedensdienst durchaus unterstütze, weil deren Mitarbeiter in vielen Teilen der Welt unschätzbare Arbeit leisten, oft auch in nicht ungefährlichen Situationen für ihr eigenes Leben. Seit der Einrichtung des Zivilen Friedensdienstes vor zehn Jahren wurde dieser mit Haushaltsmitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Höhe von 130 Millionen Euro unterstützt ({0}), wodurch wir den Einsatz von 387 Friedensfachkräften in 43 Ländern finanzieren konnten. Zivile Friedenskräfte leisten in Krisen- und Konfliktsituationen einen unschätzbaren Beitrag für einen gewaltfreien Umgang mit Konflikten. Ich muss hier aber auch entschieden dem Eindruck, den Sie, sehr verehrte Damen und Herren von den Linken immer wieder verbreiten, entgegentreten, nämlich der Annahme, dass in Konflikt- und Krisensituationen ausschließlich auf zivile Friedensdienste gesetzt werden sollte und könnte. Das ist schlicht und einfach falsch und verkennt völlig die oft lebensbedrohlichen Situationen, denen die Menschen in Konfliktsituationen ausgesetzt sind. Der Zivile Friedensdienst ist ein wichtiges Instrument, aber eben nur eines unter anderen bei der Bewältigung von Krisensituationen. Und das sollten auch Sie zur Kenntnis nehmen. Meine Kollegen von der Fraktion Die Linke, in Ihrem Antrag zeigen Sie einmal mehr, dass Sie eine fehlgeleitete Politik verfolgen, die den Menschen viele Versprechungen macht, die aber von der Realität weit entfernt ist. Die Fraktion der CDU/CSU lehnt diesen Antrag ab.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Anlass zur heutigen Debatte gibt ein Antrag der Linken, der in seinen Forderungen weder politisch richtig noch aktuell ist. „Keine Unterstützung von Militäreinsätzen aus dem Europäischen Entwicklungsfonds“ lautet die Überschrift des Antrags vom März 2007. Ein unnötiger Appell, schon damals, da aus dem Europäischen Entwicklungsfonds ({0}) niemals Militäreinsätze finanziert wurden. Worum es eigentlich geht, ist die Unterstützung einer Friedensmission der Afrikanischen Union ({1}), die im Jahr 2004 zur Überwachung des Waffenstillstandsabkommens in Sudan/Darfur entsandt wurde. Es handelte sich dabei um die AU-Mission AMIS. Und bei dieser Friedensmission ohne robustes Mandat handelte es sich eben nicht um einen Militäreinsatz. Äpfel sind Äpfel, und Birnen sind Birnen, das müsste auch die Linke wissen. Im Antragstext selbst wird dann auch nicht von Militäreinsätzen gesprochen, da ist von einer Mission der Afrikanischen Union die Rede und der Durchführung friedenserhaltender Maßnahmen. Aber auch Friedensmissionen wurden und werden nicht aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit finanziert. Dies war auch bei der Friedensmission im Sudan nicht der Fall! Ziel der Mission war es, durch eine erhöhte Präsenz von Beobachtern die Einhaltung eines Waffenstillstands zwischen den Konfliktparteien zu überwachen, damit zur Stabilisierung der Lage beizutragen und humanitäre Hilfeleistungen zu ermöglichen. Die Mittel, die damals aus dem EEF über die Afrikanische Friedensfazilität für diese Mission bereitgestellt wurden, finanzierten keine militärischen Maßnahmen. Der Beitrag aus dem EEF finanzierte dabei ausdrücklich nur nichtmilitärische Begleitkosten des Friedenseinsatzes der Afrikanischen Union. Das sind beispielsweise Transport und Logistik sowie medizinische Versorgung der Einsatzkräfte. Zudem war ein erheblicher Finanzierungsanteil für den Kapazitätenaufbau auf afrikanischer Seite eingeschlossen. Lassen Sie mich kurz auf die Arbeit der AU und auf die eigens eingerichtete Afrikanische Friedensfazilität eingehen. Die Afrikanische Friedensfazilität ist vom Rat der Europäischen Union auf ausdrücklichen Wunsch der Afrikaner im Rahmen des EEF eingerichtet worden. Der Rat hat dies in dem Verständnis getan, dass es sich um eine vorübergehende Lösung handelt, bis in der EU alternative Finanzierungsmechanismen etabliert werden können. Dies ist mittlerweile erreicht worden. Noch unter dem 9. EEF hat der Rat, nicht zuletzt auf Betreiben der deutschen Entwicklungsministerin, die Möglichkeit geschaffen, dass die Mitgliedstaaten auch bilaterale Beiträge zur Afrikanischen Friedensfazilität leisten können, die dann von der Europäischen Kommission verwaltet werden. Durch eine vorübergehende Finanzierung der Afrikanischen Friedensfazilität aus dem EEF reagierte die EU damals entschlossen und rasch auf den Antrag der AU. Vor dem Hintergrund der humanitären Katastrophe in Darfur und dem geringen Respekt, den die sudanesische Regierung der internationalen Gemeinschaft entgegenbrachte, hatte die AU eine führende Rolle bei der Bewältigung des Darfur-Konflikts übernommen. Es galt, die Erfolge des Waffenstillstands umgehend und ohne Zögern zu sichern sowie die AU als maßgebliche Organisation für die Beilegung von Konflikten auf dem Afrikanischen Kontinent zu stärken. Ziel war es, die Friedensfazilität als ein Instrument auszugestalten, das die EU in die Lage versetzt, Lösungen einer afrikanischen Institution wie der AU für die Probleme und Krisen des afrikanischen Kontinents zu unterstützen. Hier geht es auch um die Förderung und Anerkennung einer Eigeninitiative der afrikanischen Länder, sich der Lösung ihrer innerstaatlichen und regionalen Konflikte selber anzunehmen. Es besteht aber längst eine Finanzierungsoption für die Afrikanische Friedensfazilität außerhalb des EEF, nämlich durch die bereits erwähnten bilateralen Beiträge der Mitgliedstaaten. Noch im Jahr 2007 leistete die Bundesregierung daher aus dem Etat des Auswärtigen Amtes 28 Millionen Euro für die AU-Mission im Sudan. Zudem besteht auf europäischer Ebene das gemeinsame Verständnis, dass bis 2010 die zugesagte Finanzierung der Friedensfazilität aus dem EEF ausläuft und dies ein letztmaliger Finanzierungsbeitrag aus dem EEF sein wird. Man sollte auch nicht den Blick dafür verlieren, wozu der EEF eigentlich Beiträge leistet. Das Volumen des derzeitigen 10. EEF liegt für den Zeitraum von 2008 bis 2013 bei insgesamt 23 Milliarden Euro. Davon werden für die Zu Protokoll gegebene Reden Jahre 2008 bis 2010 insgesamt 300 Millionen Euro für die Afrikanische Friedensfazilität beansprucht. Dass dieser Anteil nicht auf die ODA-Quote anrechenbar ist, versteht sich. Eine Änderung der OECD-Richtlinien, um Friedenseinsätze als Entwicklungsgelder anrechenbar zu machen, ist mit der SPD nicht denkbar und war zu keiner Zeit gewollt. Im Wesentlichen ist der EEF ein Finanzierungstopf der EU-Kommission, der langfristige Entwicklungszusammenarbeit mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifikraums ({2}) unterstützt und eine Reihe von umfangreichen Programmen, zum Beispiel im Infrastrukturbereich, insbesondere in der Region Subsahara-Afrika finanziert. Die EU ist einer der wichtigsten Geber für den afrikanischen Kontinent. An dieser Stelle möchte ich noch auf eine weitere Forderung des Antrags eingehen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, eine Initiative zur Einrichtung eines afrikanischen oder europäischen Friedensdienstes zu ergreifen. Ich darf Sie daran erinnern, dass auf Betreiben der SPD 1999 der Zivile Friedensdienst, kurz ZFD, gegründet wurde. Mit diesem sehr erfolgreichen deutschen Modell eines Friedensdienstes dienen wir auch im europäischen Raum für andere EU-Mitgliedsländer bereits als Anregung. Ein Erfolgsrezept des ZFD ist dabei, dass er aus der Mitte der Gesellschaft kommt und von sowohl zivilgesellschaftlichen, kirchlichen wie auch staatlichen Entwicklungsorganisationen getragen wird. Und dies in dezentraler Weise! Diese Struktur sollte auch für einen europäischen Friedensdienst gelten. Es wäre falsch, eine zentralistische Institution in Brüssel zu etablieren. Auch der Aufwuchs des Titels „Ziviler Friedensdienst“ im diesjährigen Haushalt war und ist mir besonders wichtig. Für dieses Jahr sind dem ZFD weitere 11 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden, und der Titel ist somit auf 30 Millionen Euro aufgewachsen. Friedensarbeit aus dem Entwicklungshaushalt zu fördern, war schon immer ein Anliegen der Sozialdemokratie; denn Friedensarbeit ist ein Wegbereiter für alle weitere Entwicklung. Wie wichtig die Arbeit des ZFD ist, konnte ich auf meiner Reise in den Osten der Demokratischen Republik Kongo im vergangenen Jahr selber sehen. Um Entwicklung im Kongo möglich zu machen, müssen die Muster der dort vorherrschenden Gewaltökonomien durchbrochen werden. Gerade in einer solchen Situation, in der ständig Feindbilder aufgebaut werden - eine Ethnie gegen die andere, Einheimische gegen Flüchtlinge, Nord gegen Süd -, bedarf es einer Friedensförderung und Konfliktbearbeitung. Die Friedensfachkräfte des ZFD vor Ort gehen auf diese Aufgabe zu. Mithilfe unterschiedlicher Lösungsansätze wird es Menschen wieder ermöglicht, aufeinanderzuzugehen. Auch mit spielerischen Methoden oder unkonventionellen Mitteln wird ein friedliches Miteinander angeregt und gewaltfreie Konfliktbewältigung gefördert. Um den verloren gegangen Dialog zwischen verschiedenen Ethnien wieder aufzubauen, können beispielsweise Theatergruppen genauso hilfreich sein wie Fußballturniere zwischen zerstrittenen Dorfgemeinschaften. Ebenso leisten die Fachkräfte gute Arbeit im Bereich psychosoziale Betreuung und Traumaarbeit bei Kriegs- und Gewaltopfern. Allerdings müssen wir uns auch der Grenzen eines Friedensdienstes bewusst sein. Seine Aufgabe liegt in der Prävention von Gewaltausbrüchen oder in der Arbeit in Postkonfliktsituationen. Im unmittelbaren Moment der bewaffneten Auseinandersetzung sind Friedensfachkräfte nicht in der Lage, die Bevölkerung zu schützen. In Situationen von offener bewaffneter Gewalt, von staatlich geduldeter oder verschuldeter Willkür privater Gewaltakteure gegen die Bevölkerung und bei Völkermord sind die Fachkräfte eines Friedensdienstes am Ende ihrer Möglichkeiten. Solchen Gewalteskalationen allein mit Entwicklungszusammenarbeit begegnen zu wollen, geht an den Realitäten vorbei und schafft keine Lösung für das menschliche Leid vor Ort. Einem Grundsatz bleibt die SPD dabei aber immer verpflichtet: Die Finanzierung von militärischen Maßnahmen, auch im Rahmen einer Friedensmission, darf nicht aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit erfolgen. Dafür sind andere Ressorts in die Pflicht zu nehmen!

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Fraktion Die Linke geht teilweise in die richtige Richtung. Auch die FDP ist gegen die Finanzierung von Militäreinsätzen aus Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit. Das Ziel der für die Entwicklungszusammenarbeit eingesetzten Mittel ist nicht der Einsatz von militärischer Gewalt, sondern der Aufbau stabiler Strukturen in den betreffenden Regionen. Dies soll eine nachhaltige Gestaltung durch die ansässige Bevölkerung ermöglichen. Und dies trifft nicht nur auf die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zu, sondern auch - und besonders - auf die europäische. Die FDP-Fraktion ist nicht nur im Zusammenhang mit den hier in Rede stehenden Fragen der Auffassung, dass die europäische Entwicklungszusammenarbeit diejenige der Mitgliedstaaten nur ergänzen soll. Sie sollte im Übrigen nur dort koordinierend tätig werden, wo mehrere Länder gemeinsame Projekte oder Programme durchführen und dies sinnvoll erscheint. Nach dem allgemein geltenden Prinzip der Subsidiarität ist Entwicklungspolitik zunächst Sache der Mitgliedstaaten, nicht der Europäischen Union. Die Unsinnigkeit der Verlagerung der entwicklungspolitischen Verantwortlichkeiten nach Brüssel zeigt nicht zuletzt die Ausgestaltung des Europäischen Entwicklungsfonds, EEF, um den es auch in dem hier behandelten Antrag geht. Denn nur dadurch wird es möglich, dass mit deutschen Steuermitteln entwicklungspolitische Aktivitäten finanziert werden, die wir fraktionsübergreifend im Deutschen Bundestag ablehnen. Dies gilt gerade für die Zweckentfremdung von Entwicklungsmitteln für die Finanzierung solcher Militärausgaben. Dies widerspricht im Übrigen auch dem Grundsatz der Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit. Aber gerade dort liegt ein zentrales Problem des EEF: Er ist ja gerade nicht in den vom Europäischen Parlament kontrollierten Haushalt integriert. Er unterliegt überhaupt keiner parlamentarischen Kontrolle, und die Linke sollte vor allem hier im Grundsätzlichen ansetzen. Die FDP-Fraktion hat bereits mehrfach gefordert, die deutschen Mittel für den EEF zu sperren, bis eine hinreiZu Protokoll gegebene Reden chende parlamentarische Kontrolle gewährleistet ist. Das hat die Linke bisher stets abgelehnt, und deshalb muss sie sich jetzt auch nicht über solche Ergebnisse wundern. Die grundsätzliche Ausrichtung des EEF kritisiert die FDP-Fraktion ebenfalls schon seit langem. Für eine Sonderbehandlung der AKP-Staaten gibt es keine entwicklungspolitische Rechtfertigung. Die Ausdehnung der Aktivitäten des EEF auf die Finanzierung militärischer Maßnahmen ist auch unter diesem Gesichtspunkt kritisch zu bewerten und bereits in ihrem Grundsatz abzulehnen. Entwicklungspolitisch wird durch die Ausdehnung der Finanzierung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf militärische Maßnahmen deren Zielrichtung in ihr Gegenteil verkehrt. Entwicklungszusammenarbeit muss eine ethische Grundlage haben, sie ist schließlich aus dem Gedanken der Humanität entstanden. Ihre Grundlage sind die unveräußerlichen Rechte eines jeden Menschen. Unter dem Deckmantel der Entwicklungszusammenarbeit dürfen wir keine Militäreinsätze finanzieren. Auch steht für uns eine Anrechnung von aus dem EEF finanzierten Militäraktionen auf die ODA-Quote nicht zur Diskussion. Militär muss auch weiterhin das letzte Mittel der Politik bleiben. Eine leichtfertige oder rein finanzpolitisch motivierte Legitimation durch ein intransparentes Instrument wie den EEF ist strikt abzulehnen. Damit ist zunächst nichts gegen die Zielsetzung der Afrikanischen Friedensfazilität gesagt. Anders als die Linke hält die FDP-Fraktion begleitende Militäreinsätze zur Sicherung entwicklungspolitischer Maßnahmen für vertretbar und mitunter deren Mitfinanzierung auch für unvermeidbar. Doch sind diese nach unserer Auffassung auch klar im Haushalt auszuweisen und nicht in Fonds wie dem EEF zu verstecken. Daher kann die FDP-Fraktion dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Militäreinsätze sind zwar das letzte Mittel der Politik, aber dennoch in bestimmten Fällen ein legitimes oder gar unvermeidbares Mittel. Beispielsweise ist ein erfolgreiches entwicklungspolitisches Engagement in Afghanistan ohne eine militärische Unterstützung überhaupt nicht denkbar - auch wenn das von einigen Seiten ständig behauptet und gefordert wird. Das internationale Engagement in Afghanistan hat nicht nur dazu beigetragen, dass das Land aktuell nicht mehr zentraler Rückzugsort international agierender Terrorgruppen ist, sondern diese auch gehindert, die Aufbaubemühungen zu blockieren. Wir kritisieren wie die Linken die Finanzierung militärischer Maßnahmen aus einem parlamentarisch unkontrollierten und intransparenten Fonds. Einen grundsätzlichen Ausschluss von Militäreinsätzen im Rahmen der Begleitung entwicklungspolitischer Zielsetzungen lehnen wir jedoch ab. Insofern können wir dem Antrag der Fraktion Die Linke nicht zustimmen.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Als vor genau fünf Jahren die Afrikanische Friedensfazilität ({0}) eingerichtet wurde, haben viele kritisiert, dass diese Fazilität, die, anders als ihr Name suggeriert, nicht etwa zivile Konfliktbearbeitung, sondern Militärmissionen der Afrikanischen Union unterstützt, aus dem 9. Europäischen Entwicklungsfonds ({1}) gespeist wurde. Zu den energischsten Kritikerinnen an der Europäischen Kommission gehörte damals die deutsche Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul. „Die Grenze zwischen militärischen und entwicklungspolitischen Aufgaben und Aktivitäten muss klar sein“, forderte die Ministerin damals zu Recht. Dennoch wurde schließlich die Finanzierung der Fazilität aus dem EEF mit dem Hinweis auf fehlende Alternativen als vorläufige Ausnahmelösung vereinbart. Bis heute hat diese Ausnahmelösung Bestand. Und leider hat es auch die Ministerin versäumt, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Schritte zu unternehmen, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden. Mittlerweile hat schon die Laufzeit des 10. EEF begonnen und zumindest bis 2010 wird darin weiterhin die Finanzierung der AFF abgewickelt. Frau Wieczorek-Zeul nennt jetzt die Abwicklung der Afrikanischen Friedensfazilität im Entwicklungsfonds nicht mehr „Zweckentfremdung“ ({2}), sondern „Mehr Geld für den Frieden“ ({3}). Die Bundesregierung muss darauf drängen, dass der Europäische Entwicklungsfonds nicht länger die Finanzierung der Friedensfazilität tragen muss. Erstens werden die Mittel des Entwicklungsfonds dringend für andere Aufgaben benötigt, zum Beispiel für die Unterstützung ziviler Konfliktprävention und -bearbeitung. Die Linke hat vorgeschlagen, die Gelder für eine Initiative zur Einrichtung eines Afrikanischen Zivilen Friedensdienstes umzuwidmen. Wir fordern außerdem, dass die Bundesregierung einen Vorstoß für einen Europäischen Zivilen Friedensdienst unternimmt. Das ist schon lange in der Diskussion und wäre ein positiver Schritt auf EU-Ebene weg von der zunehmenden Militarisierung, hin zu einer wirklich zivilen Friedenspolitik. Spätestens im angekündigten Überprüfungsverfahren nach der ersten Hälfte der Laufzeit des 10. EEF muss die Finanzierung der AFF aus dem EEF herausgenommen werden. Militärpolitik ist keine Entwicklungspolitik! Zweitens geht es bei dieser Frage um Grundsätzliches: Unter dem Begriff „vernetzte Sicherheitspolitik“ wird von Mitgliedern der Bundesregierung und Abgeordneten der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, aber auch der FDP und der Grünen einer engeren Verflechtung von Entwicklungszusammenarbeit mit der Sicherheitspolitik das Wort geredet. Wir lehnen das ab! Extremstes Beispiel für diese unheilvolle Vermischung ist die sogenannte zivil-militärische Zusammenarbeit, die in Afghanistan in den Provincial Reconstruction Teams ({4}) zur Anwendung kommt und zu einer echten Gefahr für die zivilen Aufbauhelfer und Aufbauhelferinnen geworden ist. Die Linke fordert die Auflösung der PRTs und den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Frieden kann nicht militärisch herbeigeführt oder gesichert werden. Die „vernetzte Sicherheit“ ist ein Holzweg, auf den sich leider auch die Grünen begeben haben. Deren Außenpolitikerin Müller hat seinerzeit nicht nur allgemein die Vernetzung militärischer und ziviler Aufgaben, sondern auch ganz konkret die Finanzierung der AfrikaniZu Protokoll gegebene Reden schen Friedensfazilität aus dem EEF begrüßt. Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass die Grünen jetzt im Entwicklungsausschuss unserem Antrag zugestimmt und damit ein Umdenken angedeutet haben. Drittens kritisieren wir auch ganz grundsätzlich die Militarisierung der Beziehungen zwischen Europäischer Union und Afrika. Die drückt sich nicht nur in der Afrikanischen Friedensfazilität aus, sondern auch in der Unterstützung für den Aufbau einer afrikanischen schnellen Eingreiftruppe und natürlich in den militärischen Einsätzen der EU in Afrika, die in Häufigkeit und Umfang zunehmen - und nicht zuletzt auch in der Abschottung und Aufrüstung der Grenzen zwischen der EU und Afrika, der jährlich Hunderte Flüchtlinge zum Opfer fallen, die versuchen, über das Mittelmeer oder den Atlantik Europa zu erreichen. Die Linke sieht in all dem keinen Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung oder zur Stabilisierung der betroffenen Regionen. Den könnte die EU leisten, wenn sie ihre Fangflotten aus den afrikanischen Gewässern zurückziehen, auf die Durchsetzung von Freihandel verzichten, endlich die Agrarexportsubventionen abschaffen und massiv in die ländliche Entwicklung in Afrika investieren würde.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir alle haben in den vergangenen Monaten gelernt, zumindest verbal, mit riesigen Beträgen zu hantieren. Da können einem die 250 Millionen Euro, die aus dem neunten Europäischen Entwicklungsfonds ({0}) in die Afrikanische Friedensfazilität geflossen sind, klein und unwichtig vorkommen. Das wäre aber ein Trugschluss! 250 Millionen Euro sind in der Entwicklungszusammenarbeit nach wie vor eine Menge Geld. 250 Millionen sind ein Drittel dessen, was Deutschland 2009 für die technische Zusammenarbeit ausgibt. 250 Millionen sind 50 Millionen Euro mehr, als wir dieses Jahr in den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose einzahlen. 250 Millionen sind mehr als zehn Mal so viel, wie wir an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zahlen. Es handelt sich hier also nicht um einen Kleckerbetrag. Aus vielen zähen Haushaltsverhandlungen weiß ich, wie schwer es ist, Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zusammenzubekommen. Aus dem Haushalt des BMZ geht jedes Jahr ein beachtlicher Teil an den EEF. Zuletzt waren es 820 Millionen Euro. Dieses Geld ist für die Entwicklungszusammenarbeit der EU bestimmt. Deshalb habe ich mich schon vor Jahren dagegen ausgesprochen, dass Gelder aus dem 9. EEF in die Afrikanische Friedensfazilität fließen. Wir Grünen haben uns von Anfang an für die Unterstützung des Aufbaus einer afrikanischen Friedenstruppe im Rahmen der Afrikanischen Union ausgesprochen. Wir wollen, dass Afrika selbst in der Lage ist, für die regionale Sicherheit zu sorgen. Und das meint eben ganz eindeutig, einen relevanten finanziellen Beitrag hierfür zur Verfügung zu stellen. Trotzdem muss es gerade in diesen Zeiten eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit gerade in Afrika für die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele eingesetzt werden. Deshalb ist es falsch, für dieses sinnvolle Projekt der Friedensfazilität Geld zu verwenden, das für den Kampf gegen Hunger, Armut, Aids, Analphabetismus und für den Erhalt der Umwelt vorgesehen ist. Es ist falsch, dass Entwicklungsgelder der EU für die Bewältigung immer mehr neuer Aufgaben und für militärische Einsätze zweckentfremdet werden. Dies war schon beim 9. EEF falsch. Jetzt erleben wir beim 10. EEF erneut die Nutzung - und dies sogar in gesteigertem Maße - von Mitteln aus dem Fonds für die Fortsetzung der Unterstützung der Afrikanischen Friedensfazilität. Wir fordern - wie auch bereits in der vergangenen Legislaturperiode - eine eigenständige, verlässliche Finanzierung für die Afrikanische Friedensfazilität aus dem Gesamthaushalt der EU. Aus diesem Grund haben wir von der Bundesregierung gefordert, sich im Rahmen der Finanziellen Vorausschau der EU von 2007 bis 2013 dafür einzusetzen, eine eigenständige Budgetlinie auf den Weg zu bringen, die nicht zulasten des EEF geht. Das Gegenteil ist aber passiert: Es gibt immer noch keine eigenständige Finanzierung. Der EEF wird weiter geplündert. Und der Betrag, der aus dem 10. EEF kommt, ist dazu noch auf 300 Millionen Euro gestiegen! Die Finanzierung von Militäreinsätzen geht damit weiterhin zulasten der Entwicklungsaufgaben. Meine Fraktion wird dem Antrag der Linken aus den eben genannten Gründen zustimmen. Das soll aber nicht heißen, dass wir die ablehnende Position der Linken und ihres Vorsitzenden Lafontaine zu friedenserhaltenden Einsätzen wie etwa UNAMID und UNMIS teilen. Die ablehnende Position der Linken halten wir für fundamental falsch. Die Vorstellung, dass ohne eine solche Unterstützung die Lage zu verbessern sei, war und ist abenteuerlich. Anders als die Linke, die Friedenseinsätze dogmatisch ablehnt, setzen wir Grünen uns detailliert mit den einzelnen Einsätzen auseinander. Für uns Grüne gilt das Primat des Zivilen. Das darf auf keinen Fall ausgehebelt werden! Militär darf nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn es ein völkerrechtliches Mandat gibt, wenn der Einsatz zur Eindämmung von Gewalt beiträgt und wenn er hinsichtlich der Risiken und Fähigkeiten verantwortbar ist. Die Kernaufgabe von internationalen Truppen muss es dabei sein, Menschen zu schützen und in Krisensituationen zu stabilisieren. Konflikte lassen sich nicht mit Militär lösen. Das geht nur mit einem umfassenden politisch-zivilen Ansatz. Zusammenfassend sagen wir Ja zur finanziellen Förderung der Afrikanischen Friedensfazilität, aber Nein zur Finanzierung aus dem Etat für Entwicklungszusammenarbeit.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5984, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4490 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP, Gegenstimmen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt der Fraktion Die Linke und von Bündnis 90/Die Grünen ohne Enthaltungen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition - Drucksache 16/12226 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({0}) - Drucksache 16/12698 Berichterstattung: Abgeordnete Eduard Lintner Dr. Rolf Mützenich Dr. Werner Hoyer Dr. Norman Paech Kerstin Müller ({1}) Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Eduard Lintner, Andreas Weigel, Florian Toncar, Inge Höger und Winfried Nachtwei.1) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12698, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12226 anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf stimmen will, möge sich erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Gibt es keine. Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit der Zustimmung aller Fraktionen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12710. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung der einbringenden Fraktion und der Fraktion Die Linke und Ablehnung im übrigen Haus abgelehnt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1) Anlage 8 Abschottungspolitik beenden - Volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2009 herstellen - zu dem Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({3}), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und unbeschränkt in der Bundesrepublik Deutschland gewähren - Drucksachen 16/10237, 16/10310, 16/10688 Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Pothmer Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegen und Kolleginnen Thomas Bareiß, Josip Juratovic, Hartfrid Wolff, Kornelia Möller und Brigitte Pothmer.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Am 1. Mai 2004 sind der Europäischen Union zehn neue Länder beigetreten. Am 1. Januar 2007 traten mit Bulgarien und Rumänien zwei weitere neue Staaten der Union bei. Jedem der 15 „alten“ EU-Staaten wurde die Möglichkeit eingeräumt, von der Möglichkeit einer Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen Mitgliedsländer Gebrauch zu machen, außer in Bezug auf Malta und Zypern. Um der Notwendigkeit einer schrittweisen Anpassung der nationalen Arbeitsmärkte nachzukommen, hat man sich dabei auf ein flexibles 2+3+2-Modell geeinigt. Das heißt, jedes EU-Mitglied kann im eigenen Ermessen entscheiden, wie schnell eine komplette Öffnung des nationalen Arbeitsmarktes erfolgen soll. Spätestens aber bis 2011 beziehungsweise 2013 im Falle Bulgariens und Rumäniens wird aber eine volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für den gesamten EU-Raum bestehen. Mit dem Antrag der Fraktion der FDP wird nun verlangt, auf eine schrittweise Anpassung des deutschen Arbeitsmarktes zu verzichten und ab dem nächsten Monat die komplette Freizügigkeit für alle mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder zu gewährleisten. Ich muss offen sagen, dass ich eine gewisse Sympathie für den Antrag nicht verhehlen kann. Als liberaler Wirtschaftspolitiker stehe ich natürlich ausdrücklich hinter der Arbeitnehmerfreizügigkeit als einem der vier Eckpfeiler des EUBinnenmarktes. Allerdings können wir es uns bei diesem Thema nicht so einfach machen, wie es in dem Antrag der FDP vorgeschlagen wird. Vielmehr müssen wir uns unserer Verantwortung bewusst sein und sorgfältig die Folgen abschätzen. Dazu gehört die Notwendigkeit, unseren Arbeitsmarkt so gut wie möglich auf die eintretenden Veränderungen vorzubereiten, die durch die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit der neu beigetretenen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten entstehen werden. Lassen Sie mich im Folgenden zunächst klarstellen, dass ich nicht das Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die EU-Mitgliedsländer infrage stelle. Das Prinzip gehört als Eckpfeiler zu den „vier Freiheiten“ des EUBinnenmarktes, zu denen neben der Freizügigkeit von Personen auch der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital gehört. Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird ein wichtiger Beitrag dazu geleistet, dass ein einheitlicher europäischer Binnenmarkt mit all seinen enormen Vorteilen für die Bürger der EU verwirklicht werden kann. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, wie die Politik dafür sorgen kann, dass es am Stichtag der Freizügigkeit keine Struktureinbrüche gibt und wie Gefahren für den deutschen Arbeitsmarkt gebannt werden können. Aus diesem Grund wurde eine flexible Lösung geschaffen, um den nationalen Regierungen die Entscheidung zu überlassen, wie der Übergang zur vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit unter Einbindung der neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten am besten gestaltet werden kann. Die deutsche Bundesregierung hat sich dabei nicht etwa für eine totale Abschottungspolitik in den nächsten zwei Jahren entschieden, wie es in dem vorliegenden Antrag suggeriert wird. Vielmehr ist es gelungen, einen Kompromiss zu finden, um die Vorteile der Freizügigkeit bereits jetzt zu nutzen, ohne dabei vorschnell Risiken für den deutschen Arbeitsmarkt einzugehen. Schauen wir einmal auf die drei Optionen, die für Deutschland infrage kommen: Erstens eine sofortige Aufhebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in vollem Umfang, zweitens eine Verlängerung der Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ebenfalls in vollem Umfang, drittens eine Zusammenführung der beiden Optionen durch eine sinnvolle gezielte und schrittweise Öffnung des Arbeitsmarktes. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Bundesregierung mit der Wahl von Option drei die richtige Entscheidung getroffen hat. Um Deutschland im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe weiter zu stärken, wurde das Aktionsprogramm „Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland“ beschlossen. Dieses enthält ein Maßnahmenbündel zur Sicherung des Fachkräftebedarfs, da es in Deutschland sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig zusätzlichen Bedarf an Hochqualifizierten geben dürfte, unabhängig von der aktuellen wirtschaftlichen Situation. Auf den umfangreichen Maßnahmenkatalog will ich an dieser Stelle nicht ausführlicher eingehen. Lassen Sie mich nur zwei Punkte herausgreifen, um die Tragweite des Konzepts zu verdeutlichen. So soll mit dem Aktionsprogramm zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland der mittel- und langfristig entstehende Bedarf an Hochqualifizierten hierzulande gedeckt werden. Entsprechende Änderungen dazu wurden vorgenommen. Zum Beispiel wird der Zugang zum Arbeitsmarkt für Akademiker aus Drittstaaten über den IT-Bereich hinaus für alle Fachrichtungen unter Verzicht auf das nach geltendem Recht bisher geforderte öffentliche Interesse an der Beschäftigung mit Vorrangprüfung geöffnet. Auch geduldete Hochschulabsolventen, deren Studienabschluss in Deutschland anerkannt ist und die zwei Jahre lang durchgehend in einem ihrer Qualifikation entsprechenden Beruf gearbeitet haben, können einen sicheren Aufenthaltsstatus erhalten. Gleiches gilt für geduldete Fachkräfte, die drei Jahre lang durchgehend in einem Beschäftigungsverhältnis standen, das eine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt. Die Vorteile der Freizügigkeit für Deutschland werden durch den Maßnahmenkatalog der Bundesregierung somit bereits jetzt genutzt, indem eine gezielte Öffnung des Arbeitsmarktes vorgenommen wird. Verhindert werden dadurch eine Überforderung unseres Arbeitsmarktes und Struktureinbrüche am Stichtag der Öffnung. Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch darauf hinweisen, dass wir mit der Freizügigkeit in der EU ja bereits sehr weit sind. In vielen Bereichen haben wir volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Vorwurf, Deutschland schotte sich gegenüber dem Ausland ab, ist völlig ungerechtfertigt. Das Problem ist dabei ein ganz anderes: Trotz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer haben wir oft Schwierigkeiten, passende Arbeitskräfte in Deutschland zu finden. Dies ist sicherlich ein Problem, mit dem wir uns in Deutschland auseinandersetzen werden müssen. Ich will die Zeit nun noch nutzen, um auf den Antrag der Fraktion der FDP genauer einzugehen. Es wird unter anderem argumentiert, dass ja andere EU-Mitglieder eine sofortige Öffnung ihrer Arbeitsmärkte vorgenommen haben und damit gute Erfahrungen gemacht hätten. So zum Beispiel Großbritannien. Es lohnt sich aber, hier einmal genauer hinzuschauen. Die Erfahrungen in Großbritannien waren anfangs in der Tat positiv. Allerdings kam es dort bald zu einer Änderung der Sichtweise. So wurde, beispielsweise die Ausbeutung der Arbeitnehmer und die schlechte soziale Versorgung der Migranten beklagt. Übrigens trotz des staatlichen Mindestlohns, den es in Großbritannien bekanntlicherweise gibt. Selbst offizielle Stellen in Großbritannien räumen mittlerweile ein, dass sie mit der Migration überfordert sind. Wenig überraschend ist es daher auch, dass nicht nur Großbritannien, sondern alle EU-Mitgliedstaaten außer Schweden aus ihren Fehlern gelernt haben und die sofortige Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht auch für Bulgarien und Rumänien gewährt haben, die ja zwei Jahre später der EU beigetreten sind. Auch in Bezug auf den Wettbewerb um die besten Köpfe aus Ost- und Mitteleuropa ist mehr Augenmaß angebracht. In der Tat brauchen wir solche klugen Köpfe, und die Bundesregierung hat mit ihrem Maßnahmenkatalog darauf die richtige Antwort gegeben. Auch hier lohnt es sich, die Statistiken aus Großbritannien anzuschauen und zu prüfen, wer zugewandert ist und in welchen Tätigkeitsbereichen diese Migranten in Großbritannien eingesetzt werden. Fabrik- und Lagerarbeiter, Verpacker und Beschäftigte im Transportwesen: 82 Prozent, Servicekräfte für Hotel- und Gaststättengewerbe: 11 Prozent, Landwirtschaft: 4 Prozent. Das sind sicherlich keine Jobs, für die wir Hochqualifizierte brauchen, wenn Sie mir diese Anmerkung gestatten. Lassen Sie mich zum Abschluss nochmals eines deutlich sagen: Ab dem 1. Mai 2011 gilt für die Länder Polen, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Slowakei, TscheZu Protokoll gegebene Reden chien und Ungarn die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Für Bulgarien und Rumänien gilt dasselbe ab dem 1. Januar 2014. Dass Deutschland von der Möglichkeit einer schrittweisen Anpassung seines Arbeitsmarktes an die veränderten Bedingungen einer EU-27 Gebrauch machen will ist richtig und gut zu begründen. Damit werden bereits jetzt die Vorteile für unsere Wirtschaft genutzt und gleichzeitig verhindert, dass es unnötigerweise zu einer Überforderung unseres Arbeitsmarktes und zu überhasteten Maßnahmen mit unvorhersehbaren Folgen kommt. Der deutsche Arbeitsmarkt muss so weit wie möglich für die bevorstehende Arbeitnehmerfreizügigkeit fit gemacht werden. Dazu müssen Maßnahmen ergriffen werden, um Veränderungen abzufedern und notwendige Reformen und Strukturanpassungen durchzuführen.

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute abschließend die Anträge der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP zur Arbeitnehmerfreizügigkeit. Beide Fraktionen fordern in ihren Anträgen, die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den neuen ost- und mitteleuropäischen EU-Mitgliedsländern zum Mai 2009 herzustellen. Die Regierungskoalition hat dies in den Ausschussberatungen aus gutem Grund abgelehnt. Es ist richtig, dass die Bundesregierung im letzten Jahr bei der EU-Kommission die Verlängerung der Beschränkung des Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt bis Ende April 2011 beantragt hat. Es ist doch offensichtlich, dass wir heute eine erhebliche Störung auf dem Arbeitsmarkt haben. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise macht unserem Arbeitsmarkt schwer zu schaffen. Die Arbeitslosenzahl erreichte im März dieses Jahres schon fast die Marke von 3,6 Millionen, und sie steigt auch in den Monaten, in denen in anderen Jahren die Zahl der Arbeitslosen saisonbedingt gefallen ist. Angesichts der Weltwirtschaftskrise können wir also froh sein, dass wir die Übergangsfristen noch haben. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch einmal die Forderung von Handwerkspräsident HannsEberhard Schleyer aus dem letzten Sommer zurückweisen, polnische und tschechische Auszubildende nach Deutschland anwerben zu können. In Deutschland gibt es auch heute über 100 000 Altbewerber, die immer noch keine Lehrstelle haben. Solange diese Jugendlichen keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, stellt sich die Frage nach Bewerbern aus Polen oder Tschechien politisch nicht. Hier müssen sich alle der gesellschaftlichen Verantwortung stellen und unserer Jugend eine Chance geben. Auch wenn jetzt die Arbeitnehmerfreizügigkeit bis 2011 eingeschränkt bleibt, so ist der deutsche Arbeitsmarkt deshalb nicht abgeschottet. Mit dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz, das seit 1. Januar 2009 gilt, haben wir den Arbeitsmarkt für Akademiker aus allen EU-Staaten geöffnet. Die Beschäftigung von Akademikerinnen und Akademikern aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ist damit seit Jahresbeginn durch den Verzicht auf Vorrangprüfung inländischer Arbeitnehmer erheblich erleichtert. Gleiches gilt für Hochqualifizierte mit einem Jahreseinkommen über der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung. Schon seit 2005 können Unionsbürger aus den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa zu qualifizierten Beschäftigungen, die üblicherweise eine mindestens dreijährige Ausbildung voraussetzen, mit Vorrangprüfung zugelassen werden. Außerdem kommen jedes Jahr rund 290 000 Neu-Unionsbürgerinnen, vorwiegend aus Polen und Tschechien, als Saisonarbeitskräfte ins Land. Von Abschottung kann also keine Rede sein. Auch sehe ich nicht, dass die Arbeitsmarktbeschränkung dem Ziel des kulturellen Austausches und der Völkerverständigung schadet. Dass dies nicht so ist, sieht man an der Tatsache, dass allein aus dem polnischen Sprachraum rund 1 Million Menschen unter uns lebt und arbeitet. Es ist doch nur folgerichtig, erst diejenigen Fachkräfte zu uns ins Land zu lassen, die Arbeitsplätze schaffen, also Akademiker und Hochqualifizierte. Der Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften nützt gerade den Geringqualifizierten. Eine neue hochqualifizierte Fachkraft schafft zwei bis drei Stellen für weniger qualifizierte Fachkräfte im Land. So gewinnen wir auch Akzeptanz für Zuwanderung. Wir müssen die Zeit, die wir bis 2011, bis zur vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit haben, dafür nutzen, um mehr Akzeptanz für die Zuwanderung aufzubauen - und wir brauchen diese Zeit. Wenn ich in meinem Heilbronner Wahlkreis unterwegs bin, spüre ich deutlich die Sorgen der Menschen. Für eine völlige EU-weite Öffnung des Arbeitsmarktes ist in der Bevölkerung Überzeugungsarbeit zu leisten, damit Integration auch gelingt. Diesen Aspekt vermisse ich völlig in den vorliegenden Anträgen. Der Antrag der FDP blendet die Gefahren des Lohndumpings völlig aus. Das Wort Mindestlohn kommt im Antrag der Liberalen überhaupt nicht vor, obwohl wir vor einer EU-weiten Öffnung des Arbeitsmarktes einen Schutz vor Lohndumping aufbauen müssen, und dieser Schutz heißt Mindestlohn. Sonst dreht sich die Lohnspirale nach unten. Wir haben bereits für rund 3,5 Millionen Menschen in der Pflegebranche, im Wach- und Sicherheitsgewerbe, in der Abfallwirtschaft, bei den Bergbauspezialdiensten, den industriellen Großwäschereien und in der Weiterbildung einen Mindestlohn durch die Aufnahme ins Entsendegesetz erreichen können. Wenn die Unionsfraktion vertragstreu bleibt, werden wir auch für die Branche der Leiharbeit sehr bald eine Lohnuntergrenze vereinbaren können. Nur mit einem Mindestlohn können wir Lohndumping vermeiden und den Druck auf die untersten Lohngruppen entschärfen. Wir haben jetzt noch eine Schonfrist bis 2011. Bis dahin gilt es, die entsprechenden Vorbereitungen für die Öffnung zu treffen. Die SPD-Fraktion hat sich intensiv mit den Themen Migration und Arbeitnehmerfreizügigkeit auseinandergesetzt. In einer Querschnittsarbeitsgruppe haben wir zu diesen Themen intensiv gearbeitet und unsere Position bezogen. Eine moderne Migrationspolitik muss zwei Herausforderungen annehmen: Wir müssen Zuwanderungsprozesse in unserem eigenen Interesse steuern und Zu Protokoll gegebene Reden gestalten, ohne unsere humanitären Verpflichtungen zu vernachlässigen. Die Integration von Migrantinnen und Migranten ist eine wichtige Daueraufgabe von Politik und Gesellschaft. Um diese Aufgaben zu bewältigen und die Menschen nicht zu überfordern ist es richtig, schrittweise die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen EUBeitrittsländern herbeizuführen, damit Integration auch gelingen kann.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD ist Stückwerk. Die Bundesregierung bleibt halbherzig, wenn es um erhebliche Zukunftschancen für unsere Gesellschaft und für die deutsche Wirtschaft geht. Die bürokratische Vorrangprüfung für Hochqualifizierte bleibt ein Problem: Einmal soll die Vorrangprüfung gelten, ein anderes Mal nicht. Wie sollen gerade kleine und mittelständische Unternehmen so ihre Personalplanung betreiben? Sie sind in diesem Punkt von der deutschen Arbeitsverwaltung abhängig. Freies Unternehmertum geht anders. Auch die nach wie vor zu hohen Einkommensgrenzen sind Hürden, die dem Hochtechnologiestandort Deutschland insgesamt und unserem Mittelstand schaden. Eine weitere Beschränkung der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmer aus neu beigetretenen Mitgliedstaaten in der Bundesrepublik Deutschland ist kontraproduktiv. Die Beantragung der erneuten Verlängerung der Einschränkung bis 2011 bei der EU-Kommission durch die Bundesregierung ist kontraproduktiv. Vielmehr ist die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten erforderlich. Großbritannien profitiert davon mit einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Auch Frankreich will sich das zum Vorbild nehmen. Dagegen will unsere Regierung eine falsche Regelung jetzt auch noch verlängern. Das ist grotesk. Ich möchte ganz bewusst noch einen weiteren europapolitischen Aspekt hinzufügen: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist einer der Grundpfeiler der Europäischen Union. Gerade im Hinblick auf die europäische Verständigung ist deshalb diese Abschottungspolitik kontraproduktiv. Eine Politik der guten Nachbarschaft und Partnerschaft in Europa darf die Arbeitnehmer aus den neuen Partnerstaaten der EU nicht länger diskriminieren. Wir sollten mit Offenheit unseren neuen europäischen Partnern begegnen, nicht uns von ihnen abschotten und ihren Bürgern misstrauen! Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir uns weiterentwickeln können und die entsprechenden Kapazitäten hierfür haben. Dazu müssen wir das Problem des Fachkräftemangels dringend beheben. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich einig, dass der stärkere Zuzug von Fachkräften nach Deutschland über ein Punktesystem ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei uns ist. Denn der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. Gebraucht werden nicht nur Hochqualifizierte, sondern auch Facharbeiter und Saisonarbeitskräfte. In der Landwirtschaft beispielsweise trifft die weitere bürokratische Verschiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf komplettes Unverständnis. Die Bundesregierung bedient hier lediglich ungerechtfertigte Ängste. Die Erfahrungen aus den anderen EU-Staaten zeigen, dass eine überbordende Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt nicht erfolgen wird. Hier wäre die Bundesregierung in der Pflicht, die Bevölkerung wahrheitsgetreu aufzuklären, anstatt die Angstmache durch Verlängerung der Übergangsregelungen zu verstärken. Ohne ein einheitliches System droht Deutschland den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu verlieren. Aber anstatt die bewusste Gestaltung dieser Politik beherzt in die eigenen Hände zu nehmen, wird ein Verschiebebahnhof nach Brüssel aufgemacht. Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass wir mittelfristig den wirtschaftlichen Standard nicht mehr werden halten können, wenn wir uns nicht für qualifizierte Zuwanderung öffnen. Das bisherige Ausländerrecht zeigt nach wie vor deutlich: Die Bundesregierung will eigentlich keine Zuwanderung. Das Gegenmodell zur restriktiven Politik hat die FDP vorgelegt: Wir brauchen ein Punktesystem, das die Zuwanderung nach klaren Kriterien steuert und auch unsere Interessen und Erwartungen an die Zuwanderer klar definiert. Dabei spielen vor allem die Qualifikation, die berufliche Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschen Sprache eine große Rolle. Entscheidend ist: Wen wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann unsere Gesellschaft weiterbringen? Für diese brauchen wir eine Willkommenskultur, die es für Hochqualifizierte und Fachkräfte aus dem Ausland leichter macht, sich für Deutschland zu entscheiden. Die Bundesregierung will steuern, aber sie steuert mit stotterndem Motor auf Zickzack-Kurs. Deutschland braucht nicht das angstgeleitete zuwanderungspolitische Stückwerk von CDU/CSU und SPD, sondern eine moderne, klare, nachvollziehbare Zuwanderungssteuerung aus einem Guss.

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Heute stehen zwei Anträge zur Debatte, die sich gegen eine erneute Verlängerung der Übergangsbestimmungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Rahmen der EU aussprechen. Die FDP hat in einem Punkt recht: Die Arbeitnehmerfreizügigkeit muss voll gewährleistet werden. Fehlende Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeutet im Grunde, eine vom EU-Gemeinschaftsrecht garantierte Grundfreiheit zu beschränken. Dies ist aber auch der einzige Punkt, dem man zustimmen kann. Die in der FDP-Begründung genannten Zielstellungen lehnen wir als Linke jedoch ab, denn sie entsprechen voll und ganz der neoliberalen Ausrichtung von Deregulierung und völliger Marktöffnung. Ihre Position, meine Damen und Herren von der FDP, zielt letztlich auf eine weitere Schwächung der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Bei Ihnen steht allein die Kapitalverwertungslogik im Vordergrund. Wer den europäischen Wettbewerb um die besten Köpfe absolut in den Mittelpunkt stellt - was die Grünen in ihrem Antrag in ähnlicher Weise tun -, dem ist es völlig gleichgültig, ob Beschäftigte unterschiedlicher europäischer Länder gegeneinander ausgespielt werden - natürlich im Interesse der Unternehmensgewinne! Ihnen geht es nicht in erster Zu Protokoll gegebene Reden Linie um globale Freizügigkeit aller Menschen mit sozialen Rechten, Ihnen geht es nicht um Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne soziale Verwerfungen! Auch Ihre Argumentation zum Fachkräftemangel in der BRD ist nicht haltbar, denn der ist hausgemacht. Es gibt genug qualifiziertes Personal in Deutschland - und was noch entscheidender ist: Deutschland und seine Unternehmen sind reich genug, einen Fachkräftemangel überhaupt nicht zuzulassen! Problematisch ist jedoch die Beschäftigungssituation. Viele gut qualifizierte und hochmotivierte Berufsanfänger haben Schwierigkeiten beim Berufseinstieg. Sie müssen Tätigkeiten aufnehmen, die ihren Qualifikationen nicht entsprechen und vielfach im Niedriglohnbereich angesiedelt sind. So haben über 75 Prozent der im Niedriglohnbereich beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine abgeschlossenen Berufsausbildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Wenn Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, tatsächlich die weitere Qualifizierung und der Aufbau von Fachkräften am Herzen liegen, setzen Sie sich dafür ein, dass in Deutschland künftig nicht mehr die soziale Herkunft über den Bildungsweg und über die spätere Erwerbsbiografie entscheidet! Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, sehen zumindest den Zusammenhang zwischen der vollständigen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes und bisher fehlenden Mindestlöhnen. Allerdings bleiben Sie hinter den Forderungen nach einem gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn zurück. Auch auf die Höhe eines Mindestlohns gehen Sie nicht ein. Die Linke sieht sehr wohl die Notwenigkeit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle in der EU Lebenden sofort herzustellen, da fehlende Arbeitnehmerfreizügigkeit vielfach zu Diskriminierung führt und auch die Ausweitung von Schwarzarbeit fördert, wodurch viele Menschen in absolut unwürdige Arbeits- und Lebensverhältnisse und rechtlose Illegalität gedrängt werden. So wichtig und wünschenswert es auch ist, Arbeitnehmerfreizügigkeit rasch durchzusetzen und die nationale Abschottungspolitik zu beenden: Es kann dies erst dann geschehen, wenn bestimmte Regelungen auf nationaler Ebene erfüllt sind. Und diesbezüglich muss die Bundesregierung unter Druck gesetzt werden. Dazu gehört als wichtigster Punkt ein gesetzlicher flächendeckender Mindestlohn von mindestens 10 Euro sowie Mindeststandards für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - aus welchem Land sie auch kommen mögen! Wenn diese unabdingbaren Forderungen keinen Eingang finden, so wird Arbeitnehmerfreizügigkeit immer mit sozialen Verwerfungen verbunden sein. Lohndumping wird noch viel extremer betrieben, als es jetzt schon der Fall ist. Völlige Arbeitnehmerfreizügigkeit ist nur dann möglich, wenn die Koalition ihre Hausaufgaben macht und dem dringenden Erfordernis eines gesetzlichen Mindestlohns endlich nachkommt. Zwar ist mit der vor zwei Monaten getroffenen Ausweitung des Entsendegesetzes ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung getan worden, doch ist dies nicht mehr als ein kleiner Tropfen auf dem heißen Stein. Es gibt immer noch über sechs Millionen Menschen, die im Niedriglohnbereich beschäftigt sind. Und noch etwas möchte ich an Ihre Adresse sagen: Wenn Sie, meine Damen und Herren von den anderen beiden Oppositionsparteien, sich so vehement für Arbeitnehmerfreizügigkeit einsetzen, dann setzen Sie sich bitte auch mit dem gleichen Nachdruck und umfassend dafür ein, dass auch in Deutschland die notwendigen Rahmenbedingungen für eine Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne soziale Verwerfungen geschaffen werden. Statt eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns mit seiner sozial stabilisierenden Wirkung haben wir in den vergangenen Jahren eine Bewegung erlebt, die das Land zunehmend in Niedriglohn, Mini- und Midijobs, 1-Euro-Jobs und prekäre Beschäftigung führte. Über die Zunahme von Armut und Kinderarmut musste deswegen in diesem Hause in den letzten Jahren oft gesprochen werden. Wenn Sie es also ehrlich meinen mit Ihren Anträgen und dabei die Situation derjenigen im Auge haben, um deren Freizügigkeit es geht, nämlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dann müssen Sie helfen, alle Hindernisse aus dem Weg zuräumen, die heute einem gesetzlichen Mindestlohn entgegenstehen. Dazu gehören auch die HartzGesetze, die insgesamt das Lohn- und Gehaltsgefüge deutlich nach unten gedrückt haben. Wenn Sie in diesem Sinne handeln würden, dann wären Ihre Anträge ehrlich und wir könnten ihnen ohne Bedenken zustimmen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

„Kein Bürger der neuen Mitgliedstaaten geht ohne Aussicht auf einen Job in ein anderes EU-Land.“ So schlicht und zutreffend begegnet die Europäische Kom- mission denen, die Angst haben, dass ein offener deutscher Arbeitsmarkt überrannt würde von billigen Ar- beitskräften aus Osteuropa. Trotzdem hat die Bundesre- gierung beschlossen, Deutschland über den 1. Mai 2009 hinaus weiter abzuschotten und die volle Freizügigkeit in Europa weiter zu blockieren. Das ist nicht nur ein schlechtes europäisches Signal, sondern auch ein schlechtes arbeitsmarktpolitisches Signal, das Sie und Ihre Bundesregierung ausgerechnet zum Tag der Arbeit setzen. Das machen Sie gegen den Willen vieler Bundes- länder, wie zum Beispiel Berlin, Mecklenburg-Vorpom- mern oder Brandenburg, und das machen Sie trotz aller positiven Erfahrungen, die unsere europäischen Nach- barn mit ihren offenen Grenzen gemacht haben. Andere haben von diesen Erfahrungen gelernt: Frank- reich hat schon im letzten Jahr vorzeitig alle Beschrän- kungen aufgehoben, Belgien und Dänemark kommen am 1. Mai dazu. Und um das auch gleich deutlich zu machen: Diese Länder sind keine Inseln der Glückseligen in der Krise, die sind genauso betroffen wie Deutschland, aber diese Länder haben offensichtlich verstanden, was in die Köpfe der schwarz-roten Bundesregierung nicht hinein will: Die Beschränkung der europäischen Arbeitnehmer- freizügigkeit ist kein Schutz-, sondern ein Ausgrenzungs- instrument, das dafür sorgt, dass Deutschland sich selbst aus dem Rennen nimmt. Statt mit offenen Grenzen und klaren Regeln um die besten Köpfe und Hände zu werben, bleibt die Bundesregierung sich treu und frickelt mal hier und frickelt mal da, wenn irgendwo ein Fachkräfteman- gel öffentlich wird. Das hat sich, wie wir alle wissen, noch jedes Mal als erfolglose Strategie erwiesen. Zu Protokoll gegebene Reden Auch wenn der Bauernverband kürzlich vermeldete, dass sich im Gegensatz zu den Vorjahren 2009 kein Saisonarbeiter-Engpass in der Spargelernte abzeichnet: Sie alle wissen, dass dieser Zustand nur vorübergehender Natur sein wird. Bei einer Erholung des britischen Pfunds werden viele dieser Arbeitskräfte sofort wieder nach Großbritannien ziehen, weil sie dort bessere Arbeitsbe- dingungen als in Deutschland vorfinden. Zu diesen besseren Bedingungen zählt auch der Min- destlohn, auf den die meisten Beschäftigten in Deutsch- land nach wie vor warten. Diese Tatsache ist einer der großen arbeitsmarktpolitischen Sündenfälle der schwarz- roten Bundesregierung. Kolleginnen und Kollegen von SPD und Union, es ist nicht glaubwürdig, wenn Sie hier über den vermeintlichen Schutz einheimischer Beschäf- tigten reden, den sie durch die weitere Abschottung Deutschlands sicherstellen wollen. Wenn Sie Beschäftigte - und dabei ist es egal, woher sie kommen - wirklich schützen wollen, dann müssen sie für faire und verbindli- che Arbeitsbedingungen für alle sorgen. Das erfordert an erster Stelle flächendeckende und allgemeingültige Min- destlöhne. Weinen Sie hier also keine Krokodilstränen. Es ist Ihr Versäumnis, dass wir hier in den vergangenen Jah- ren nicht einen Schritt weitergekommen sind. Wir Grünen verbinden die Herstellung der Freizügigkeit unauflöslich mit der Frage von Mindestlöhnen, im Gegensatz zur FDP, die hier zwar ebenfalls für die Freizügigkeit auftritt, Min- destlöhne aber für des Teufels hält. Mit dieser Laissez- faire-Politik erweisen Sie der europäischen Freizügigkeit einen Bärendienst, und das ist auch der Grund dafür, dass wir Ihren Antrag ablehnen. Für halbe Sachen stehen wir nicht zur Verfügung. Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal an alle appellieren: Stimmen Sie mit uns Grünen für die volle Freizügigkeit, stimmen Sie für Mindestlöhne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/10688. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 16/10237. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke an- genommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/10310. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Be- schlussempfehlung bei Ablehnung durch die Fraktion der FDP und Zustimmung durch die übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Klaeden, Anke Eymer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Gert Weisskirchen ({2}), Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen kontrollieren - Drucksachen 16/10846, 16/12479 Berichterstattung: Abgeordnete Eduard Lintner Dr. Rolf Mützenich Dr. Werner Hoyer Wolfgang Gehrcke Marieluise Beck ({3}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer ({5}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Internationale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot der Erbringung militärischer Dienstleistungen durch Privatpersonen und Unternehmen - Drucksachen 16/11375, 16/12134 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Dr. Rolf Mützenich Dr. Werner Hoyer Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({6}) Zu Protokoll gegeben habe ihre Reden die Kollegen Holger Haibach, Wolfgang Wodarg, Jörg van Essen, Paul Schäfer und Omid Nouripour.1) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen kontrollieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12479, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/10846 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Ent- haltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zu- stimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP und Gegen- stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 16 b. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Internationale Ächtung des Söldnerwesens und Verbot der Erbringung militärischer Dienstleistungen durch Privatpersonen und Unterneh- men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 16/12134, den Antrag der Frak- tion Die Linke auf Drucksache 16/11375 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Ge- genstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die Be- 1) Anlage 9 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt schlussempfehlung bei Ablehnung durch die einbringende Fraktion und Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gewerkschaften in der Türkei stärken - Drucksachen 16/11248, 16/12655 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Bareiß Dr. Daniel Volk Rainder Steenblock Zu Protokoll gegebene Reden liegen von den Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß, Lale Akgün, Markus Löning, Hakki Keskin und Claudia Roth vor.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gegenstand der heutigen Debatte ist die Rolle der Gewerkschaften in der Türkei und die Notwendigkeit ihrer Stärkung. Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist aber kein isoliertes Problem, sondern spiegelt den Reformbedarf wider, der in der Türkei auch nach über drei Jahren Beitrittsverhandlungen vorherrscht. Im Oktober 2005 wurden unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Die CDU/ CSU hat sich von Anfang an skeptisch gegenüber einer Vollmitgliedschaft der Türkei geäußert und mit der privilegierten Partnerschaft ein Gegenkonzept vorgestellt, das der Bedeutung einer engen Beziehung angemessen ist und für beide Seiten große Vorteile bietet. Auch nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen sind die Grundsätze dieses Konzepts aktuell angesichts des offen gestalteten Verhandlungsprozesses, der ausdrücklich keine EU-Mitgliedschaft am Ende garantiert. Unabhängig von der Diskussion, die wir hier führen, will ich an dieser Stelle aber auch klarstellen, dass die Türkei ein enorm wichtiger Partner für die Europäische Union ist. Lassen Sie mich dazu zunächst einige Ausführungen machen, ehe ich anschließend zu den innertürkischen Problemen und einer Bewertung des Antrags der Linken zu sprechen komme. Zunächst einmal ist die Türkei ein wichtiger Handelspartner und Investitionsstandort, gehört sie doch mit einem Bruttosozialprodukt von 659 Milliarden US-Dollar im Jahr 2007 zu den 20 größten Volkswirtschaften der Welt. Das Außenhandelsvolumen betrug 277 Milliarden Euro. Die Türkei ist mit ihren 76 Millionen Einwohnern ein wichtiger Handelspartner für Europa und vor allem auch für Deutschland. So war die Bundesrepublik mit einem Anteil von rund 10 Prozent an den gesamten türkischen Wareneinfuhren im Jahr 2007 nach Russland zweitgrößter Lieferant der Türkei. Eine enge wirtschaftliche Kooperation bietet für beide Seiten große Vorteile. Das sehr junge Durchschnittsalter von rund 28 Jahren verdeutlicht, dass die Türkei nicht nur wirtschaftlich über ein enormes dynamisches Potenzial verfügt. Darüber hinaus ist die Türkei durch ihre geografische Lage ein wichtiges Bindeglied zwischen den Märkten Europas und den Erdöl und Erdgas exportierenden Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie der Region um das Kaspische Meer. Für die Energieversorgung Europas spielt die Türkei damit eine immer wichtigere Rolle. Ein Beispiel ist die Nabucco-Gasleitung, die Westeuropa unabhängiger von Russland machen soll. Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine im vergangenen Winter hat die Dringlichkeit dieses Projekts unterstrichen. Vor allem ist die Türkei aber ein wichtiges NATO-Mitglied, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie die zweitgrößte Armee des Bündnisses besitzt. Durch die Nähe zum arabischen Raum stellt sich die Türkei als ein wichtiger Partner in geostrategischer Hinsicht dar. Die Türkei grenzt an Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Iran, Irak und Syrien. Die Türkei hat sich in den letzen Monaten als wichtiger vermittelnder Brückenstaat zu diesen Ländern mit den dortigen Krisenherden entwickelt: Die KaukasusInitiative der türkischen Regierung zur Verbesserung der Beziehungen im Kaukasus, die Gespräche um den BergKarabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, eine stärkere westliche Einbindung der Turkstaaten durch die Türkei sowie die türkische Vermittlerrolle zwischen Israel und Syrien zeugen von einer neuen verantwortungsvollen türkischen Sicherheits- und Außenpolitik. Die Türkei mit ihrer Staatsform und ihrer außenpolitischen Ausrichtung ist als starke Mittelmacht in der Region somit eine wichtige Brücke zum Nahen Osten und der islamischen Welt. Bei meinen Gesprächen mit türkischen Politikern und Delegationen stelle ich immer wieder fest, wie wichtig es ist, die enge Partnerschaft zwischen Europa und der Türkei hervorzuheben und zu festigen. Zu einem ehrlichen Umgang miteinander gehört aber auch, die Frage einer EU-Mitgliedschaft mit der gebotenen Sachlichkeit zu diskutieren und auf die Reformnotwendigkeit hinzuweisen. Ein Beispiel ist der Umgang mit den Gewerkschaften in der Türkei, was in dem Antrag der Linken auch zur Sprache kommt. Der Antrag greift aber ein einzelnes Problem auf, ohne die Lage in der Türkei insgesamt zu beleuchten und blendet damit bewusst andere Bereiche aus. Aus diesem Grund will ich an dieser Stelle die Situation der Gewerkschaften in der Türkei in einen Gesamtrahmen einbetten, indem ich in aller Kürze auf die nach wie vor großen Demokratiedefizite aufseiten der Türkei eingehe. Auf dem Europäischen Rat im Juni 1993 in Kopenhagen wurden die Kriterien beschlossen, die potenzielle Beitrittsländer zur Europäischen Union erfüllen müssen. Es handelt sich dabei neben der Aufnahmefähigkeit der Union um drei Gruppen von Kriterien, die von den Beitrittskandidaten erfüllt werden müssen, und zwar erstens wirtschaftliche Voraussetzungen, zweitens das AcquisKriterium und drittens die politischen Beitrittsvoraussetzungen. Die politischen Voraussetzungen, die nach dem Beschluss des Europäischen Rates vom Dezember 1993 eigentlich vor der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen hätten erfüllt sein müssen, sind dabei die entscheidenden. In der Türkei herrschen nach wie vor enorme Defizite in zentralen Demokratie-Beitrittskriterien. Dazu gehören unter anderem der Schutz von Minderheiten, Frauenrechte, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Erst vor kurzem wurde uns wieder deutlich vor Augen geführt, wie weit es um die Pressefreiheit in der Türkei bestellt ist: Die Dogan-Mediengruppe hatte kritisch über die Regierung Erdogan berichtet, worauf der Ministerpräsident die Dogan-Zeitungen als „Lügenpresse“ bezeichnete und zum Boykott aufrief. Zudem wird die Dogan-Gruppe durch eine drastische Steuerstrafe in ihrer Existenz bedroht. Der Vorwurf lautet, die Dogan-Gruppe habe im Zuge eines Anteilsverkaufs an den Springer-Verlag Steuern hinterzogen, und sie wurde zu Zahlungen in Höhe von 390 Millionen Euro aufgefordert. Das Ziel ist eindeutig, dass die „unbequeme“ Mediengruppe vom Markt verschwinden soll. Im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit ist auch der mehr als eingeschränkte Handlungsspielraum türkischer Gewerkschaften zu sehen. Bis die Türkei diese Grundwerte westlicher Demokratien nicht nur auf dem Papier verabschiedet hat, sondern die Gerichte und die Menschen diese Prinzipien auch verinnerlicht haben, wird wohl noch eine lange Zeit vergehen. Nicht nur angesichts des morgigen Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern möchte ich zudem deutlich sagen, dass zu einer Demokratie auch die Aufarbeitung der eigenen Geschichte und die sich daraus ergebende Verantwortung gehören. Der Genozid an den Armeniern in den Jahren 1915 bis 1917 kostete Schätzungen zufolge über 1,5 Millionen Armeniern das Leben. Dieses Kapitel der türkischen Geschichte zu verleugnen, kann nicht hingenommen werden. Problematisch ist darüber hinaus auch der Zypern-Konflikt zu sehen. Bei aller Verantwortung, die auch von der griechischen Seite wahrzunehmen ist, muss deutlich gesagt werden, dass die Türkei in der ZypernFrage gegen Völkerrecht verstößt, indem sie den Norden besetzt hält und sich einer Einigung Zyperns nach wie vor entgegenstellt. Das Ankara-Protokoll zur Ausweitung der Zollunion mit der EU auf Zypern hat die Türkei zwar Ende Juli 2005 unterzeichnet, sie weigert sich aber bis heute, ihre See- und Flughäfen für zyprische Schiffe und Flugzeuge zu öffnen. Mit dem Wahlsieg der türkischen Nationalisten in Nordzypern am vergangenen Wochenende dürfte eine Einigung des Konflikts mit den Vertretern des griechischen Teils Zyperns in noch weitere Ferne gerückt sein. Nahezu unerträglich ist für mich aber, dass in der Türkei das Recht auf freie Religionsausübung nicht gewährleistet ist. Nach wie vor sind Christen und Angehörige anderer religiöser Minderheiten in der Türkei äußerst schwierigen Bedingungen ausgesetzt, da sie allein aufgrund ihrer Religion oft als Feinde der Türkei bzw. des Türkentums angesehen werden. Von Religionsfreiheit ist die Türkei gerade auch unter der reformorientierten AKP-Partei noch weit entfernt. Bestes Beispiel dafür ist die heftige Debatte um das jüngst verabschiedetet Stiftungsrecht in der Türkei. Dieses sieht die Rückgabe staatlich enteigneten Besitzes an kirchliche Stiftungen vor. Türkische Politiker fürchteten in diesem Zusammenhang den „Ausverkauf nationaler Interessen an die Christen und Juden“. Zudem verbessert das Gesetz die Stellung der Christen nur unwesentlich, da der türkische Staat die Anerkennung eines öffentlich-rechtlichen Status für die Kirchen nach wie vor verweigert. Erst letzte Woche habe ich mir bei einer Reise in die Türkei ein Bild von den Missständen machen können, als ich mit Kollegen meiner Fraktion dem christlichen Kloster Mor Gabriel einen Besuch abgestattet habe. Das Kloster gehört zu den ältesten der Christenheit und steht als geistiges Zentrum der weltweit verzweigten syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochia geradezu symbolisch für die schlimme Lage der Christen in der Türkei. Mor Gabriel muss um das Überleben kämpfen, da gegen das Kloster wegen angeblicher Aneignung fremden Bodens auch von staatlichen Stellen Anzeige erstattet wurde. Dadurch droht dem Kloster die Entziehung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Es kann nicht angehen, dass ein EU-Beitrittskandidat wie die Türkei so massiv gegen Religionsfreiheit als zentrales Demokratieprinzip verstößt. In der Verantwortung steht daher vor allem auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Wer wie Erdoğan mehr Rechte für Muslime in Deutschland fordert, der muss auch dafür Sorge tragen, dass Christen in der Türkei ihre Religion frei ausüben können. Angesichts der nach wie vor enormen Demokratiedefizite ist es völlig unverständlich, dass die EU-Kommission ihre Scheuklappen weiter aufbehält und unter der tschechischen Ratspräsidentschaft nun zwei weitere Beitrittskapitel eröffnen will. Hier muss auch einmal unseren türkischen Freunden deutlich gemacht werden, dass die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen und der Reformstillstand in der Türkei nicht ohne Folgen für den Beitrittsprozess bleiben können. Ich will nun aber zurückkommen auf den Antrag der Fraktion der Linken zur Stärkung der Gewerkschaften in der Türkei. Wie gesagt stehen sicherlich richtige Dinge in diesem Antrag. So wird zu Recht kritisiert, dass die türkischen Gewerkschaften aufgrund restriktiver gesetzlicher Regelungen nur über einen sehr eingeschränkten Handlungsspielraum verfügen. Hinzu kommen institutionelle und rechtliche Hürden, wie kostenverursachende Beglaubigungs- und Registrierungspflichten von Gewerkschaftsmitgliedern oder strenge Voraussetzungen für die Bejahung der Tariffähigkeit. Bislang werden also weder die Standards in der EU noch die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO in Bezug auf die uneingeschränkte Achtung der Gewerkschaftsrechte erfüllt. Dies betrifft insbesondere das Organisationsrecht, das Streikrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen. Nicht regierungskonforme Gewerkschaften werden unterdrückt und ihre Funktionäre politisch verfolgt. Dem Antrag kann aber dennoch aus folgenden Gründen nicht zugestimmt werden: Zunächst einmal weist der Antrag handwerkliche Fehler auf, die so nicht stehen gelassen werden können. So geht der Antrag stets von EUStandards im Gewerkschaftsrecht aus. Diese gibt es im eigentlichen Sinne aber gar nicht. Die Regelungen der Mitbestimmung von Gewerkschaften sind national geregelt beziehungsweise in den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO verankert und zudem sehr unterschiedlich ausgeprägt. Aus diesem Grund kann daher, wenn überhaupt, höchstens von Standards in der EU gesprochen werden. Vor allem aber greifen die AntragZu Protokoll gegebene Reden steller ein einzelnes Problem auf, ohne die Lage in der Türkei insgesamt zu beleuchten, wie ich es Ihnen geschildert habe. Ohne eine solche Einbettung in einen Gesamtrahmen kann man das Problem aber nicht stehen lassen. Schließlich ist die Situation mit den Gewerkschaften Teil eines größeren Problems, nämlich der Mangel an Demokratie im Allgemeinen und die Defizite im Bereich der Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit im Besonderen. Diese Defizite zeigen deutlich, dass zum jetzigen Standpunkt die Türkei nach wie vor weit davon entfernt ist, die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu erfüllen. Dies in der Konsequenz klar und deutlich zu nennen, scheuen sich aber die Linken mit ihrem Antrag.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In dieser Woche haben sich Vertreter der Europäischen Union und der Unterhändler der türkischen Regierung in Prag getroffen, um über die Zukunft der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei zu beratschlagen. Die Europäische Union hat dabei der Türkei vorgeschlagen, im Juni zwei neue Verhandlungskapitel, und zwar aus dem Bereich des Steuer- und Sozialrechtes, zu öffnen. Die Vertreter der Europäischen Union haben am 21. April unmissverständlich deutlich gemacht: Eine Öffnung neuer Verhandlungskapitel wird es nicht zum Nulltarif geben. Bevor die Kapitel eröffnet werden, muss die Türkei handfeste Fortschritte im Reformprozess vorweisen. Vor allem müssen die Gewerkschaften endlich mehr Rechte erhalten. Die Europäische Kommission hat damit im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 1. Mai der Türkei deutlich signalisiert: Wenn sie Mitglied in der Europäischen Union werden will, kann es so mit den Gewerkschaftsrechten in der Türkei nicht weitergehen. Ich begrüße es daher auch sehr, dass wir heute im Deutschen Bundestag über die Lage der Gewerkschaften in der Türkei diskutieren. Grundlage unserer Debatte ist der Antrag der Fraktion der Linken „Gewerkschaftsrechte in der Türkei stärken“. Schon bei den Beratungen im Europaausschuss haben wir als SPD-Fraktion deutlich gemacht, dass das Thema der Gewerkschaften für uns sehr wichtig ist. Es ist daher einfach schlicht falsch, wenn die Abgeordneten der Linken uns im Europaausschusses vorgehalten haben, wir seien in dieser Frage „zurückhaltend“. Für die SPD-Fraktion stimmt das nicht! Im Gegenteil: Wir haben die schrecklichen Ausschreitungen auf dem Istanbuler Taksim-Platz vom letzten Jahr noch sehr gut vor Augen. Eine Delegation der SPD-Bundestagsfraktion hat sich daher im Rahmen einer Delegationsreise nach Ankara im Januar dieses Jahres vor Ort einen Eindruck von der Situation der Gewerkschaften verschafft und mit Gewerkschaftsvertretern die Lage erörtert. Wir als SPD-Abgeordnete im Europaausschuss haben daher auch einen Koalitionsantrag zu den Gewerkschaftsrechten formuliert, der in seinen Forderungen sogar noch über Ihren Antrag, meine Damen und Herren von der Linken, hinausgeht. Die SPD ist also nicht zurückhaltend, was die Gewerkschaften in der Türkei anbelangt; ich kann es nur noch einmal sagen: im Gegenteil. Das Zustandekommen dieses Antrages ist dabei nicht an unserer Zurückhaltung, sondern - und auch das möchte ich einmal offen sagen - er ist an der Zurückhaltung unseres Koalitionspartners von der CDU/CSU gescheitert. Aus Gründen, die ich bis heute nicht ganz nachvollziehen kann, war die CDU/CSU nicht bereit, einen Koalitionsantrag zu Gewerkschaftsrechten in der Türkei mitzutragen. Es wurde vonseiten der CDU/CSU argumentiert, dass man sich zu dem jetzigen Zeitpunkt nicht zu Einzelfragen des Beitrittsprozesses äußern wolle. Wenn dem aber so ist, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wieso widmen Sie sich dann in einem Antrag der Situation um das Kloster Mor Gabriel in der Türkei? Dabei handelt es sich doch wohl auch um eine Einzelfrage des EU-Beitrittes! Eine solche Argumentationsweise ist für mich nicht einsichtig. Daher liegt uns heute nun also nur ein Antrag der Linken zur Abstimmung vor. Und diesem Antrag können wir als SPD - auch wenn wir mit der Situationsbeschreibung und einigen der Forderungen der Linken übereinstimmen, nicht zustimmen; denn der Antrag geht uns nicht weit genug. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich zunächst die Lage der Gewerkschaften in der Türkei aus unserer Sicht darstellen. Wir stimmen mit der Linken darin überein, dass in der Türkei bei der Verwirklichung der Rechte von Gewerkschaften immer noch erhebliche Mängel bestehen. Die türkische Verfassung garantiert zwar den Arbeitnehmern das Recht, sich frei in einer Gewerkschaft zusammenschließen zu dürfen. Aber die Realität sieht anders aus. Die rechtliche Stellung der Gewerkschaften hat sich mit dem Militärputsch von 1980 gravierend verschlechtert und ist bis heute nicht ausreichend gesichert. Reformen wurden dabei lange durch die mächtigen staatsnahen Gewerkschaften und Arbeitgeber blockiert. Die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Gewerkschaftsrechte in der Türkei stehen heute immer noch nicht im Einklang mit einschlägigen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation ({0}) und dem EU-Recht. Vor allem beim Vereinigungsund Streikrecht und bei dem Recht auf Kollektivverhandlungen gibt es große Probleme. Die Internationale Arbeitsorganisation und der Internationale Gewerkschaftsbund kritisieren, dass Gewerkschaften in der Türkei an Tarifverhandlungen nur dann teilnehmen können, wenn mindestens 10 Prozent der Beschäftigen in einer Branche im Land in einer Gewerkschaft organisiert sind und zugleich mehr als 50 Prozent der Beschäftigten eines Betriebes in dieser Gewerkschaft organisiert sind. Diese sogenannte Ermächtigungsklausel stammt aus dem Jahr 1983 und ist immer noch in Kraft. Diese Regelung erschwert die Ausübung gewerkschaftlicher Rechte in extremer Weise. So sind bis zum heutigen Tag nur circa 25 Prozent der Arbeitnehmer nach einem gewerkschaftlichen Tarif beschäftigt. Das kann und darf nicht sein! Auch die Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist nach wie vor mangelhaft ausgeprägt. So wird offiziell von einer Unabhängigkeit der Gewerkschaften gesprochen, in realitas jedoch nimmt die Regierung durchaus immer noch Einfluss auf die Gründung, die Struktur und die finanzielle Situation der Gewerkschaften. So brauchen die Gewerkschaften eine Erlaubnis des Arbeitsministeriums, wenn sie in einem Unternehmen tätig werden wollen. Zu Protokoll gegebene Reden Auch für die Abhaltung von Versammlungen oder Demonstrationen wird eine Erlaubnis gebraucht, an Versammlungen nimmt immer ein Regierungsvertreter teil. Als letztes möchte ich hier noch das Streikrecht erwähnen. Dieses darf in der Türkei nur bei Tarifverhandlungen ausgeübt werden. Alle Formen von Warn-, General- oder Unterstützungsstreiks sind seit 1980 grundsätzlich verboten. Dazu kommt noch: Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes besitzen weder Streik- noch Tarifrecht. Sie dürfen bei Gehaltsverhandlungen nur beraten. Und einige Bereiche, wie zum Beispiel der Bildungs-, der Kranken- und der Pflegebereich haben gar kein Streikrecht. Diese Situation ist für die türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt nicht zufriedenstellend. Sie entspricht weder den Standards der EU, noch denen der Internationalen Arbeitsorganisation. So weit gehen wir also d’accord mit einer Einschätzung der Lage, wie sie auch von der Fraktion der Linken in ihrem Antrag vorgenommen wurde. Wir können uns daher auch der Aufforderung der Linken an die Bundesregierung anschließen, sich sowohl im bilateralen Rahmen als auch auf EUEbene dafür einzusetzen, dass eine Angleichung der Gewerkschaftsrechte in der Türkei an die Normen der EU und der IAO erfolgt. Auch wir als SPD wollen, dass das geplante Gesetz über die Gewerkschaftsrechte in der Türkischen Nationalversammlung verabschiedet wird und fordern die Bundesregierung auf, sich hierfür einzusetzen. Faire Tarifverhandlungen, ein umfassendes Recht auf Streik und das Verbot von Aussperrungen sind wichtige Bereiche, die es neu zu regeln gilt. So wichtig diese Forderungen aber sind - sie gehen uns nicht weit genug. Die Situation der Gewerkschaften in der Türkei ist schließlich durch eine starke Zersplitterung und durch ein Nebeneinander von vier Dachverbänden, den staatsnahen, den islamisch orientierten, den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und den revolutionären Gewerkschaften, geprägt. Dabei sind die meisten Arbeitnehmer immer noch in den staatsnahen Gewerkschaften organisiert. Dies möchten wir betonen, und wir halten es auch für wichtig, dies ausdrücklich in einem Antrag auszuformulieren. Die Stellung der nicht staatsnahen Gewerkschaften muss gestärkt werden; denn gerade sie sind immer wieder Repressionen ausgesetzt. So ist im letzten Jahr das Büro der DISK, des Bundes Revolutionärer Gewerkschaften, angegriffen worden. Deshalb halten wir es zum Beispiel für wichtig, dass Vertreter anderer Gewerkschaften als des nur staatsnahen Bundes der Türkischen Arbeitergewerkschaften, Türk-İş, an offiziellen und anderen Gesprächskreisen bei der Internationalen Arbeitsorganisation miteinbezogen werden. Neben diesem Punkt kommt uns im Antrag der Linken auch die europäische Dimension etwas zu kurz. Gewerkschaftsrechte in der Türkei können nur im Rahmen der Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei verwirklicht werden. Deshalb ist es auch so wichtig, dass - wie eingangs erwähnt - die EU weitere Verhandlungskapitel erst dann eröffnet, wenn endlich das neue Gewerkschaftsrecht verabschiedet wird. Meine Damen und Herren, mit Blick auf den anstehenden Tag der Arbeit gilt es, das noch einmal ganz deutlich auszusprechen. Wir fordern die türkische Regierung auf, das Verbot der Maifeiern, wie es seit den blutigen Auseinandersetzungen seit 1970 besteht, endlich aufzuheben. Wir fordern sie auf, das neue Gewerkschaftsrecht zu verabschieden. Dann können auch die Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU wieder neuen Schwung bekommen. Dann kann die EU im Juni die Verhandlungskapitel zur Steuer- und Sozialpolitik eröffnen. Und dann, meine Damen und Herren, wird auch die Beitrittsperspektive wieder ein Stück realistischer. Zum EU-Beitritt der Türkei stehen wir Sozialdemokraten im Bundestag weiterhin! Den türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, vor allem den Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern unter ihnen, wünschen wir von hier aus einen erfolgreichen und friedlichen 1. Mai 2009.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP wird diesen Antrag ablehnen. In der Türkei gibt es einiges gesellschaftlich und politisch zu verbessern. Aber Ihr Antrag ist einseitig, unausgewogen und kurzsichtig. Dieser Antrag ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein Gefälligkeitsantrag für Gewerkschaftsfunktionäre in der Türkei mit zweifelhafter politischer Einstellung. Ihr Kalkül ist doch ganz klar, Sie wollen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei politisch aufladen. Darin unterscheiden Sie sich nicht von der CSU. Wir Liberale nehmen die Verhandlungen mit unserem Partner Türkei ernst. Wir lehnen es ab, sie zum Spielball von Populisten im Wahlkampf zu machen. Wir werden langfristige deutsche und europäische Interessen nicht in der Wahlkampfarena auf Berliner Straßen opfern. Denn es ist ganz klar Ihre Absicht, in den traditionell sozialdemokratischen Gefilden türkischer Verbände in Deutschland zu wildern. Die Folgen sind Ihnen egal. Sie wissen genau, dass das, was wir hier im Bundestag zum Thema Türkei machen, eins zu eins in den türkischen Medien Widerhall findet. Und ob es zu innenpolitischen Spannungen in der Türkei kommt oder zu Belastungen der Beitrittsverhandlungen, ist Ihnen offensichtlich egal. Dieses Spielchen ist kurzsichtig und höchstgradig unseriös, wie Ihre gesamte Europapolitik. Der vorliegende Antrag leidet zudem daran, dass er die Situation der Gewerkschaften einseitig hervorhebt und daraus einen generalisierenden Blick auf die innenpolitische Situation in der Türkei ableitet. Von einem seriösen Antrag wäre zu erwarten gewesen, dass er die politischen und wirtschaftlichen Fortschritte seit Aufnahme der Beitrittsverhandlungen anerkennt. Davon ist im Antrag absolut nichts zu finden. Stattdessen rekurrieren Sie auf amerikanischen Einfluss beim ersten türkischen Gewerkschaftsgesetz 1947. Verehrte Kollegen, in welcher Zeit leben Sie denn? Soll ich Ihnen antworten, dass die Sowjets 1947 damit begonnen haben, die Gewerkschaften zum Werkzeug der vereinigten Arbeiterpartei zu organisieren, was ihnen mit dem gleichgeschalteten FDGB bis 1989 auch gelungen ist? Diese Art der Argumentation ist doch selbst unter Ihrem - zugegeben sehr niedrigen - Niveau. Zu Protokoll gegebene Reden Noch ein Wort zum Thema Versammlungsfreiheit in der Türkei. Damit keine Missverständnisse entstehen: Für die FDP ist die Versammlungsfreiheit ein elementares Grundrecht, an dem es nichts zu rütteln gibt. Uns ist auch die Situation in der Türkei sehr wohl bekannt. Ihr Verhalten ist jedoch unfassbar scheinheilig. Denn Sie versuchen mit solchen Anträgen, die laufenden Beitrittsverhandlungen zu stören, die ja gerade die Verpflichtung der türkischen Seite auf die europäischen Grundrechte - und damit auch das Recht auf Versammlungsfreiheit - fest verankern sollen. Auch der Vertrag von Lissabon, den Sie gemeinsam mit dem Kollegen Gauweiler und in einem Boot mit der NPD so leidenschaftlich bekämpfen, erklärt die EU-Grundrechtecharta für rechtsverbindlich und damit auch Art. 12 der Charta. Da Sie den Text offensichtlich nicht kennen, lese ich Ihnen den Text vor: „Jede Person hat das Recht, sich insbesondere im politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich auf allen Ebenen frei und friedlich mit anderen zu versammeln und frei mit anderen zusammenzuschließen, was das Recht jeder Person umfasst, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.“ Ihre Ablehnung des Lissabonner Vertrages ist nichts als dumpfer Populismus. Wenn Sie sich hier also als Rächer der Gewerkschaftsfunktionäre aufspielen, ist das scheinheilig, kurzsichtig und auch gefährlich. Denn wir alle wissen, warum Sie hier voller Pathos ins Gewerkschaftshorn blasen und im Vorfeld nicht bereit waren, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Denn der 1. Mai steht vor der Tür. Und da wollen Sie sich gerne etwas revolutionär aufhübschen. Und da scheinen Ihnen Straßenschlachten wie im letzten Jahr in Istanbul ganz gut in den Kram zu passen. Dies sollte nicht der Stil politischer Auseinandersetzung in diesem Haus sein. Ich fordere Sie deshalb auf: Legen Sie ihre Scheinheiligkeit ab, denn in Wirklichkeit schaden Sie mit diesem Antrag den Interessen Deutschlands, aber genauso den Interessen der türkischen Gewerkschaften.

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In wenigen Tagen feiern wir wieder den 1. Mai, einen durch die internationale Arbeiterbewegung erkämpften Feiertag. Mit Freude und großer Zustimmung habe ich vernommen, dass das türkische Parlament gestern den 1. Mai zum offiziellen Feiertag erklärt hat. Dieser Schritt war schon seit Jahren notwendig, und trotzdem freut es mich, dass in Zukunft auch in der Türkei der „Tag der Arbeit und Solidarität“ offiziell gefeiert werden wird. Wenn dies auch eine positive Entwicklung ist, dürfen die Bilder des vergangenen 1. Mai nicht vergessen werden. Das brutale Vorgehen der Polizei am 1. Mai 2008 in Istanbul war der Beweis für einen willkürlichen und gewalttätigen Umgang mit den Demonstranten und den Vertretern der Gewerkschaften. Menschen erlebten die polizeilichen Eingriffe in Form von Tränengas und körperlicher Gewalt. Dieses unverhältnismäßige Vorgehen hat gezeigt, dass unabhängige und starke Gewerkschaften von der türkischen Regierung weiterhin als Gefahr wahrgenommen und nicht als Elemente einer demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden. Dabei brauchen die türkischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerade jetzt starke Gewerkschaften. Insbesondere in den vergangenen Jahren kam es angesichts der massiven Privatisierung unter der Regierung Recep Tayyip Erdoğans immer wieder zu Massenentlassungen und einem stetigen Wachsen des Niedriglohnsektors. Als EU-Erweiterungsbeauftragter der Fraktion Die Linke frage ich mich, warum die Situation der Gewerkschaften im Beitrittsland Türkei in den jährlichen Kommissionsberichten völlig ignoriert wird. Durch eine Vielzahl institutioneller und rechtlicher Hürden werden Gewerkschaften daran gehindert, die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entsprechend zu vertreten und sich gegenüber der Arbeitgeberseite zu behaupten. Sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die bestehenden rechtlichen Hürden für effektive Gewerkschaften nicht wichtig genug für die Europäische Union? In unserem Antrag fordern wir, dass in künftigen EU-Kommissionsberichten die Lage der Gewerkschaften intensiv beobachtet und ausführlich bewertet wird. Insbesondere die mangelnde Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die rechtlichen Hürden für eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft sollten dabei im Mittelpunkt stehen. Auch sollte auf EU-Ebene eine zeitnahe Angleichung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei an die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ({0}) und die Standards der EU gefordert werden. Ich rufe dazu auf, den Umgang der Polizeikräfte unter der Order der AKP-Regierung am 1. Mai aufmerksam zu beobachten. Sollten sich die Gewaltaktionen vom vergangenen Jahr wiederholen, wäre dies ein weiteres Armutszeugnis für die AKP-Regierung mit Blick auf ihr Demokratieverständnis.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Geschichte der Gewerkschaften in der Türkei ist eine leidvolle und zugleich kämpferische Geschichte. In Zeiten des Kalten Krieges standen die Gewerkschaften im NATO-Land Türkei unter einem fortwährenden Generalverdacht. Dies führte zu unglaublichen Restriktionen und Einschränkungen von selbstverständlichen und fundamentalen Rechten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Die Entrechtung und Kriminalisierung von Arbeitnehmern fand ihre traurigen Höhepunkte in der brutalen Unterdrückung und dem blutigen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Aktivistinnen und Aktivisten der Gewerkschaften und gegen Arbeitnehmervertretungen. Die Erinnerung an die Erschießung von über 30 Demonstrierenden am 1. Mai des Jahres 1977 auf dem Istanbuler Taksim-Platz ist in der Türkei immer noch sehr lebendig und weiterhin Gegenstand von politischen Auseinandersetzungen. Wir unterstützen die Forderungen der türkischen Gewerkschaften, die Aufklärung der Umstände dieses grauenhaften Ereignisses einem gemeinsamen Untersuchungsausschuss anzuvertrauen, der endlich zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der türkischen Geschichte beitragen könnte. Zu Protokoll gegebene Reden Claudia Roth ({0}) Auch die Position der türkischen Regierung und der Istanbuler Stadtbehörden im Streit um die Genehmigung von 1.-Mai-Kundgebungen auf dem zentralen Taksim- Platz in Istanbul ist trotz aller Symbolik unverständlich. Die tragischen Folgen eines solchen Streits haben wir am 1. Mai 2008 zur Kenntnis nehmen müssen: Das gewalt- same Vorgehen der Polizei gegen Demonstrierende und Gewerkschaftler mit zahlreichen Leidtragenden hat auch in Deutschland Entsetzen ausgelöst. Dieses Verhalten verhöhnt die Grundsätze von Demokratie und Rechts- staatlichkeit. Denn das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ist ein Grundrecht, das überall und insbesondere auch in einem Land, das EU-Beitrittskandi- dat ist und Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, ge- währleistet werden muss. Die türkische Regierung muss umgehend dafür Sorge tragen, dass die gegenwärtige Rechtlosigkeit der Ge- werkschaften in der Türkei überwunden und die Restrik- tionen im Bereich von Grundrechten beseitigt werden. Sie steht in der Pflicht, die Reformen mit mehr Leidenschaft im Sinne der Beitrittsverhandlungen voranzutreiben. Das gilt auch für die Öffnung zweier neuer Verhandlungska- pitel zur Steuer- und Sozialpolitik, die im Sommer erfol- gen soll. Es ist richtig, wenn die EU die türkische Regie- rung auffordert, den Gewerkschaften mehr Rechte einzuräumen und Reformen fortzusetzen, die das Gewerk- schaftsrecht in der Türkei an die Konventionen der Inter- nationalen Arbeitsorganisation und die Standards der EU angleicht. Es ist nicht nur im Interesse der EU, sondern vor allem im Interesse der Türkei und der türkischen De- mokratie, dass die Türkei ein modernes Gewerkschafts- Gesetz verabschiedet. Denn Demokratie und Rechtsstaat- lichkeit sind ohne Beteiligungsrechte von Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmern, ohne Teilhabe und Partizipa- tionsmöglichkeiten nicht vorstellbar. Die türkische Politik, aber auch die Wirtschaft, die multinationalen und europäischen Konzerne und die EU müssen in ihren Wir- kungsbereichen bzw. Betrieben die Einhaltung moderner Arbeits- und Sozialstandards garantieren. Es gab und gibt keine Entschuldigung für den Re- formstau, der in den letzten zwei Jahren so viel politi- schen Schaden angerichtet hat. Erfreulich ist allerdings, dass die türkische Regierung in diesen Tagen eine alte Forderung der Gewerkschaften erfüllt hat: Nachdem be- reits das nach den blutigen Auseinandersetzungen in Istanbul 1977 ausgesprochene Verbot der Maifeier zu- rückgenommen wurde, wird von diesem Jahr an der 1. Mai ein gesetzlicher Feiertag für alle türkischen Ar- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein. Unsere Kritik an der Lage der türkischen Gewerk- schaften und am Reformstau geht mit Anerkennung und Ermutigung für das Vorhaben der Regierung und ihres neuen Chefunterhändlers Bagis einher, nach dem Kabi- nettsbeschluss über ein nationales Reformprogramm mit mehr als 130 Gesetzesänderungen nun schnell mit den parlamentarischen Beratungen zu beginnen. Nur so kön- nen die beschlossenen Reformen in angemessenem Tempo umgesetzt werden. Große Sorgen bereitet uns das aktuelle Vorgehen der türkischen Justiz gegen die kurdische Partei DTP und ihre Spitzenpolitiker, gegen die mit großen Mehrheiten gewählten Bürgermeister kurdischer Städte und gegen kurdische Aktivistinnen und Aktivisten. Die türkische Re- gierung steht in der Pflicht, alles zu tun, um der nationa- listischen Stimmungsmache, die gegenwärtig zu beob- achten ist, ein Ende zu setzen. Sie muss die Einhaltung der demokratischen Rechte aller türkischen Staatsbürge- rinnen und -bürger gewährleisten. Die zügellosen Natio- nalisten und Demokratiefeinde in der Justiz und anderen Bereichen, die an einer alten, längst überholten Türkei festhalten wollen, kann die Regierung Erdoğan mit einer vorbehaltlosen Abschaffung und Streichung von Zensur- und Unterdrückungsparagrafen ins Leere laufen lassen. Die Regierungspartei AKP ist selbst aber reformmüde und damit Teil der Kräfte, die die Reformdynamik brem- sen. Die EU sollte der entsprechenden Forderung an die türkische Regierung mehr Nachdruck verleihen, verbun- den mit einer glaubwürdigen Beitrittsperspektive für die Türkei und einer ehrlichen Verhandlungspolitik.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12655, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11248 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Die Gegenprobe! - Die Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD und Gegenstimmen durch Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für Batterien und Akkumulatoren - Drucksachen 16/12227, 16/12301 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - Drucksache 16/12721 - Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Horst Meierhofer Sylvia Kotting-Uhl b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen - Drucksachen 16/11917, 16/12721 - Vizepräsidentin Katrin Göhring-Eckardt Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Horst Meierhofer Sylvia Kotting-Uhl Hier sind die Reden der Kolleginnen und Kollegen Michael Brand, Gerd Bollmann, Horst Meierhofer, Eva Bulling-Schröter und Sylvia Kotting-Uhl zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen zur Abstimmung. Zunächst zu Tagesordnungspunkt 18 a. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12721, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/12227 und 16/12301 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koalition, Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, werden gebeten, aufzustehen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen. Nun zu Tagesordnungspunkt 18 b. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12721 empfiehlt der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 16/11917 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die FDP und Ablehnung durch Bündnis 90/ Die Grünen und die Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 23: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Marieluise Beck ({3}), Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sanitäre Grundversorgung international verbessern - Drucksachen 16/11204, 16/11812 Berichterstattung: Abgeordnete Hartwig Fischer ({5}) Gert Weisskirchen ({6}) Marina Schuster 1) Anlage 10 Monika Knoche Zu Protokoll gegebene Reden liegen von den Kolleginnen und Kollegen Sibylle Pfeiffer, Brunhilde Irber, Gabriele Groneberg, Karl Addicks, Hüseyin-Kenan Aydin und Uschi Eid vor.

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sanitäre Grundversorgung - oft ein Tabuthema: Die sanitäre Grundversorgung gehört in der Entwicklungszusammenarbeit nicht gerade zu den „sexy“ Themen. Ja, ich habe manchmal den Eindruck, dass dieses Thema regelrecht tabuisiert wird. Und dieses Tabu muss gebrochen werden. Diese Debatte ist eine gute Gelegenheit, das Thema in die Öffentlichkeit zu rücken. Denn hierbei geht es um einen Komplex, der gerade für die armen Länder lebenswichtig ist: Sanitäre Grundversorgung umfasst Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung. Sanitäre Anlagen - wichtig für Gesundheit: Über 1 Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Über 2,5 Milliarden Menschen, darunter 1 Milliarde Kinder, haben keinen Zugang zu ausreichenden sanitären Einrichtungen. Sie müssen offene Latrinen, Eimer oder unhygienische Gemeinschaftstoiletten benutzen. In den Slums der Großstädte haben sie oft überhaupt keine Toiletten. Sanitäre Anlagen sind kein Luxus, sondern eine Grundvoraussetzung für gesundes Leben. Sanitäre Grundversorgung ist die beste Prävention gegen viele Krankheiten. Doch nicht nur das. Sanitäre Anlagen sind eine Grundvoraussetzung zur Armutsbekämpfung. Nicht von ungefähr hat man den verbesserten Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Anlagen zusätzlich in die Millenniumsziele aufgenommen. Ein weiteres Millenniumsziel ist: „Kindersterblichkeit verringern“. Wie wollen wir das ohne geeignete Sanitärversorgung und ohne sauberes Wasser erreichen? Jeden Tag sterben 5 000 Kinder an Durchfallerkrankungen, die auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen sind. Dabei wären Gegenmaßnahmen einfach. Studien belegen, dass durch regelmäßiges Händewaschen mit sauberem Wasser und Seife die Durchfallerkrankungen um fast 50 Prozent gesenkt werden können. Wie wollen wir das Millenniumsziel „Müttergesundheit verbessern“ ohne fließendes Wasser und ohne Toiletten erreichen? Hierzu zwei Beispiele: In Äthiopien haben wir zusammen mit einer Delegation ein Krankenhaus besucht, in dem Frauen mit Scheidenfisteln behandelt werden. Bei dieser Krankheit leiden die Frauen unter anderem an Inkontinenz. Es ist nicht vorstellbar, wie diese Frauen leiden, weil sie keine Toiletten aufsuchen können. In Sambia haben wir ein Krankenhaus besucht, in dem die Toiletten kaputt waren. Frauen mussten kurz vor der Entbindung ihre Notdurft im Freien verrichten. Frauen sind besonders anfällig. In unseren Breitengraden können wir uns heute nicht vorstellen, was es heißt, wenn ein Mensch ohne Schutz und ohne jegliche Privatheit seine Notdurft verrichten muss. In Entwicklungsländern kann dies für Mädchen und Frauen Gefahr für Leib und Leben bedeuten. Viele können sich aus Scham nur in der Dunkelheit erleichtern. Dabei werden sie oft Opfer von sexuellen Übergriffen. Noch ein weiteres Millenniumsziel ist in diesem Zusammenhang betroffen: die Schulbildung. Es werden viele Pläne für die verbesserte Schulbildung von Mädchen in Entwicklungsländern entworfen. Dabei wird aber oft das Naheliegende vergessen. In vielen Schulen fehlt es an Toiletten bzw. an für Jungen und Mädchen getrennten Toiletten. So verlassen in manchen Ländern 10 Prozent der Mädchen die Schule, wenn sie in das Menstruationsalter kommen. Fazit: Die oben genannten Verhältnisse sind in meinen Augen ein Angriff auf die Würde der Frauen und Kinder. Eine Verbesserung der Grundversorgung mit sanitären Anlagen bedeutet verstärkten Schutz für Frauen und Mädchen. Das wiederum bedeutet auch eine Verringerung der Armut. Deutschland engagiert sich sehr stark in dem Bereich der sanitären Grundversorgung. Viele Forderungen aus dem vorliegenden Antrag werden von der Bundesregierung bereits erfüllt. Daher können wir dem Antrag nicht zustimmen. Nichtsdestotrotz misst die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesem Thema eine besondere Bedeutung bei. Daher haben wir dem interfraktionellen Antrag zugestimmt, dass das Jahr 2008 zum „Internationalen Jahr der sanitären Grundversorgung“ ausgerufen wird. Pro Jahr gibt das BMZ derzeit 350 Millionen Euro im Bereich Wasser und Abwasser aus. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass dabei der Grundsatz gilt, dass jedes Trinkwasserprojekt auch Abwasser berücksichtigen muss. Rund 30 Prozent der gesamten bilateralen Fördersumme des Wassersektors werden in den Abwasserbereich investiert. Deutschland ist seit vielen Jahren in der Welt einer der größten Geber im Abwasser- und Sanitärbereich. An dieser Stelle möchte ich auf einen entscheidenden Punkt hinweisen. Die Hauptverantwortung für sanitäre Grundversorgung tragen die Partnerländer selbst. Deutschland kann nicht einfach in ein Land gehen und sagen: So, wir machen jetzt sanitäre Grundversorgung. Wir orientieren uns bei der bilateralen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit eng an den Strategien der Partnerländer, was übrigens in der Pariser Erklärung gefordert wird. Und wir müssen feststellen, dass für viele Partnerländer der Wasser- und Abwassersektor keine besonders hohe Priorität hat. Am Ende möchte ich folgende Punkte zusammenfassen: Erstens. Eine Verbesserung der sanitären Grundversorgung trägt zur Reduzierung der Armut bei. Zweitens. Sanitäre Grundversorgung stärkt Frauen und Kinder. Drittens. Das Thema sanitäre Grundversorgung ist zu wichtig, als dass es vernachlässigt und tabuisiert werden darf. Wir alle müssen mitwirken, damit das Tabu durchbrochen wird.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Bedeutung der sanitären Grundversorgung wird in der internationalen Entwicklungspolitik unterschätzt. Tatsächlich klingt es in den Ohren der meisten Menschen hierzulande erst einmal sonderbar, vielleicht sogar albern, wenn sie hören, dass Deutschland Klohäuschen in Afrika oder Asien baut. Bei näherem Hinsehen stellt sich dann schnell heraus, dass es sich hier nicht um ein albernes Thema handelt. Im Gegenteil: Das Thema Toiletten und Abwasserentsorgung ist sehr ernst. Täglich sterben rund 5 000 Kinder an den Folgen fehlender sanitärer Grundversorgung und leicht vermeidbarer Krankheiten, die durch verschmutztes Trinkwasser und mangelnde Hygiene entstehen. Obwohl dieser Mangelzustand wohl mehr Menschenleben fordert als bewaffnete Konflikte, hört man in den Medien wenig darüber. Es ist hierzulande fast niemandem bekannt, dass 18 Prozent der Weltbevölkerung - das sind rund 1,2 Milliarden Menschen - über keinen Zugang zu Toiletten in irgendeiner Form haben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Trinkwasserbrunnen und Gewässer mit Cholerabakterien verseucht sind. Allein eine funktionierende Sanitärversorgung könnte daher die Kindersterblichkeit mehr als halbieren. Um dieses Problem effektiv anzugehen, braucht es einen offenen Umgang mit dem Thema Toilette und Abwasserentsorgung. Politiker in den ärmsten Ländern der Welt tun sich schwer, ein „schmutziges Thema“ wie Toiletten in ihren Wahlkampf aufzunehmen. Politischer wie auch zivilgesellschaftlicher Wille werden offensichtlich durch das „Toilettentabu“ gehemmt. Doch auch in unserem Land tun sich die Menschen schwer, Geld für den Bau von Toiletten und Abwasserbehandlung zu spenden. Entwicklungspolitisch orientierte Unternehmen oder Berühmtheiten bevorzugen in der Regel den Einsatz ihrer Mittel in Schul- oder Brunnenbauprojekten. Um die Scheu vor dem Thema sanitäre Grundversorgung zu überwinden und ein Bewusstsein für richtiges hygienisches Verhalten zu fördern, hat die SPD-Bundestagsfraktion ({0}) bereits einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Mit diesem Antrag forderte sie die Bundesregierung auf, sich bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen dafür einzusetzen, dass das Jahr 2008 zum „Internationalen Jahr der sanitären Grundversorgung“ ausgerufen wird. Es galt hierbei, nicht nur ein unpopuläres Tabu-Thema zu brechen, sondern auch ein Bewusstsein für richtiges hygienisches Verhalten zu vermitteln. Trotz sichtbarer Verbesserungen in den Bereichen Siedlungshygiene und Abwassermanagement bleiben die Fortschritte in zahlreichen Ländern deutlich hinter den Erwartungen zurück. In Subsahara-Afrika ist die Anzahl der Menschen ohne Zugang zu menschenwürdigen sanitären Einrichtungen aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums sogar gestiegen. Setzt sich der Trend fort, wird das Millenniumsentwicklungsziel der Vereinten Nationen zur Sanitärversorgung verfehlt werden. Die Bundesregierung setzt sich deshalb intensiv für eine Verbesserung der Wasser- und Sanitärversorgung ein. Sie orientiert sich dabei an den Millenniumsentwicklungszielen und den Prinzipien des Integrierten Wasserressourcenmanagements. Zu Protokoll gegebene Reden Deutschland gehört weltweit zu den führenden Nationen im Wassermanagement, dessen Erfahrung und Know-how weltweit gefragt sind. Das spiegelt sich auch in der Entwicklungszusammenarbeit wider. Wasser und Abwasser gehören seit über 30 Jahren zu den wichtigsten Arbeitsfeldern. Gemessen an der bilateralen Fördersumme von rund 350 Millionen Euro pro Jahr ist der Wasser- und Abwasserbereich der zweitgrößte Investitionsbereich der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. In Afrika ist Deutschland der größte bilaterale Geber. Circa 40 Prozent dieses Betrags werden für Maßnahmen im Bereich Sanitärversorgung und Abwassermanagement eingesetzt. Im Regelfall enthalten Trinkwasserprojekte immer auch eine Abwasserkomponente. Die deutsche entwicklungspolitische Zusammenarbeit erreicht mit den derzeit laufenden Projekten in den Bereichen Sanitärversorgung und Abwassermanagement rund 35 Millionen Menschen. Wir werden das Problem der unzureichenden sanitären Grundversorgung in weiten Teilen unserer Welt nicht allein schultern können. Der Schlüssel zum Erfolg ist daher eine effektive internationale Zusammenarbeit. Deutschland setzt sich daher seit einigen Jahren verstärkt in internationalen Organisationen und Initiativen für das Thema nachhaltige Sanitärversorgung ein. Ich möchte hier keine ausführliche Aufzählung der deutschen Initiativen zur Förderung der sanitären Grundversorgung auf internationalem Parkett abliefern. Ein kleiner Überblick über die deutschen Aktivitäten während des vergangenen Jahres, des „Internationalen Jahres der sanitären Grundversorgung“, soll hier genügen. So hat die Bundesregierung auf der 16. Sitzung der Kommission für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen in New York, während des Gipfeltreffens der acht großen Industriestaaten ({1}) in Japan im August 2008 sowie mit der Organisation einer Veranstaltung zum Thema „Water and Sanitation“ am Rande des VN High Level Event zu den Millenniumsentwicklungszielen im September 2008 ihre führende Rolle im Bereich Sanitärversorgung unterstrichen. Ferner setzt sich Deutschland im Rahmen der Wasserinitiative der Europäischen Union sowie im Dialog mit internationalen Partnern wie dem Afrikanischen Rat der Wasserminister ({2}) aktiv für das Thema ein. Ob und wann alle Menschen weltweit in den Genuss einer sanitären Grundversorgung kommen werden, ist leider noch nicht abzusehen. Dass wir heute über das Thema sanitäre Grundversorgung diskutieren, ist aber ein Zeichen dafür, wie stark das Thema in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Ich bin daher optimistisch, dass wir in den nächsten Jahren weltweit eine deutliche Ausweitung der Sanitärversorgung und parallel dazu einen Rückgang der wasserbedingten Erkrankungen erleben werden. Vor diesem Hintergrund hat sich das Anliegen des vorliegenden Antrages der Grünen erledigt. Ich bitte Sie daher, den Antrag abzulehnen.

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Antrag und die Große Anfrage von Bündnis 90/ Die Grünen haben einen guten Zweck erfüllt: Sie haben erneut den Fokus auf das Thema Trinkwasser und sanitäre Grundversorgung gelenkt, sodass wir heute die Möglichkeit haben, darüber zu reden und nicht zuletzt auch Öffentlichkeit für dieses Thema herzustellen. Das ist wichtig; denn wie wir alle wissen, gibt es bei diesem Thema noch immer zu viele Berührungsängste. Trotzdem lehnen wir den Antrag ab. Nehmen wir zum Beispiel die Forderung, dass zukünftige Trinkwasserprojekte in der internationalen Zusammenarbeit in Zukunft immer eine Sanitärkomponente enthalten sollen. Das ist nicht neu. Das wird dort, wo es mit den Partnerländern realisiert werden kann, auch so gehandhabt, und es wird auch in Zukunft so sein. Diesbezüglich möchte ich unsere parlamentarische Staatssekretärin Karin Kortmann zitieren, die uns versichert hat: „Es gibt im BMZ die Maßgabe: Keine Trinkwasserversorgung ohne eine entsprechende Abwasserversorgung.“ Auch das siebte Millennium Development Goal der UN ({0}) beinhaltet diese Verknüpfung. Dabei geht es um die Halbierung der Anzahl von Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu sanitärer Grundversorgung haben. Viele Länder sind dank des MDGs „on track“ - also auf gutem Wege, das Ziel zu erreichen, zum Beispiel in Südostasien die Philippinen, Myanmar, Vietnam. Da konnte bislang die Versorgung mit sanitären Anlagen um 17 Prozent gesteigert werden. Ähnlich positiv sieht es im Norden Afrikas aus. Sicher ist richtig: Das Ziel der Halbierung ist auch in diesen Ländern noch nicht erreicht, aber es sind Fortschritte erkennbar. In vielen anderen Ländern, vor allem in Subsahara-Afrika, stellt sich die Situation allerdings noch ganz anders dar. Und genau aus diesem Grund treiben wir den Dialog mit unseren Partnerländern voran - übrigens eine weitere Forderung im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der bereits nachgegangen wird. Wir alle wissen wie wichtig die MDGs sind, welche Signalwirkung auch von ihnen ausgeht. Ich kann daher aus meiner eigenen Erfahrung sagen, dass das Thema Trinkwasser und Abwasserentsorgung sowie Sanitärversorgung bei Gesprächen mit den Partnerländern immer auf der Tagesordnung steht. Die Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen werden also in den laufenden Prozessen bereits berücksichtigt. Sie müssen nicht neu formuliert werden. Dennoch: Auch wenn sanitäre Grundversorgung auf diversen Konferenzen diskutiert und behandelt wird und sich Ministerinnen und Minister sowie Abgeordnete Gedanken und Pläne zur Verbreitung des Themas machen, heißt das noch lange nicht, dass damit die Akzeptanz des Themas in allen Kulturen erfolgt ist. Erst letztens musste ich beispielsweise in Sambia feststellen, dass die Verwendung von menschlichen Fäkalien als Biomasse aus kulturellen Gründen abgelehnt wird. Dabei wäre diese Verknüpfung von Ver- und Entsorgung so wichtig, insbesondere in der ländlichen Entwicklung. Hier können Exkremente beispielsweise für die Betreibung von Biogasanlagen genutzt werden. Ich habe dies in meiner Rede am 5. Dezember 2008 ausführlich beschrieben: Ohne ökologisch nachhaltige Kreislaufsysteme wird die Realisierung der verschiedenen MDGs kaum möglich sein. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir - wenn wir mit unseren Lösungen in den Partnerländern wegen kulturelZu Protokoll gegebene Reden ler Differenzen nicht weiterkommen - dieses erkennen und nach anderen Wegen suchen. Nur mit den Menschen und nicht gegen sie kann eine nachhaltige Entwicklung auch auf diesem Gebiet stattfinden. Die Versorgung mit sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen - als Schlüssel für mehr Entwicklung und weniger Armut - ist zu wichtig, um daran zu scheitern.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir reden heute über ein anrüchiges Thema, ein Thema, das man gerne vermeidet, wenn nicht gar tabuisiert. Aber das Thema ist zu wichtig, als dass es einem Tabu zum Opfer fallen könnte: Wir reden über menschliche Exkremente, die in vielen Teilen dieser Welt zum Himmel stinken. Das ist nicht nur unangenehm, das verursacht auch schlimme Folgen, vor allem für die Kinder dieser Welt: Von unsachgemäß abgelagerten Fäkalien transportieren Fliegen Amöben und andere Krankheitserreger direkt in die Häuser, auf den Tisch und die Speisen, sogar direkt auf den Mund der Kinder, Sie kennen doch alle diese Bilder. Der Weg vom Darmausgang des einen zum Mund des anderen ist kürzer, als man gewöhnlich denkt. Und dann entwickeln sich in den unsachgemäß abgelagerten Fäkalien Wurmlarven: Die klettern an Grashalmen hoch, warten dort auf einen, der vorüberkommt, und dringen dann aktiv durch die Haut in den Körper ein, wo sie eine Wanderung machen und sich dann wieder im Darm ansiedeln. Dies hatten wir früher auch hier bei uns, es war eine anerkannte Berufskrankheit der Bergleute. Unter Tage waren früher auch schlechte Sanitärverhältnisse. Des Weiteren sickern die Erreger in unsachgemäß abgelagerten Fäkalien mit dem Regenwasser in die Brunnen und gelangen so ins Trinkwasser. Dann kommt kontaminiertes Wasser aus den Trinkwasserleitungen, Trinkwasser, das die Leute in gutem Glauben trinken. Dadurch kommt es in großen Teilen der Welt immer noch zu großen Massenepidemien, Cholera, Typhus etc. Besonders für Kinder, die schon schutzlos den Malariamücken ausgesetzt sind oder aus anderen Gründen schon an Blutarmut leiden, zum Beispiel durch eine Wurmerkrankung, ist schmutziges Trinkwasser das Todesurteil. Auch die Malariamücke selber könnte durch ein verbessertes Wassermanagement reduziert werden. Wir haben es alle schon gesehen. In fast jedem Dorf Afrikas stehen Wassergefäße herum, oft tagelang. Diese sind eine ideale Brutstätte für die Moskitomücke, den Überträger des Malariaparasiten. All das kann mit relativ einfachen Mitteln ganz schnell abgestellt werden: Dazu braucht es vor allem erst mal eine Aufklärungskampagne. Überall müssen die Menschen diese Zusammenhänge lernen. Vielen ist gar nicht bewusst, dass regelmäßiges Händewaschen oder auch die sachgerechte Entsorgung des Abwassers schon ein erster wichtiger Schritt zu Vermeidung von Krankheiten sein kann. Dazu reichen am Anfang auch ganz einfache Latrinen, die man sogar fliegensicher mit einfachen Mitteln anlegen kann. Auch der Deutsche Bundestag hat sich mit einem interfraktionellen Antrag im September 2006 für „Das Jahr 2008 als internationales Jahr der sanitären Grundversorgung“ ausgesprochen. Ziel dieses UN-Jahres ist es zum einen, das „Toiletten-Tabu“ zu durchbrechen. Zum anderen gilt es, sich für nachhaltige Sanitärlösungen stark zu machen. Immer noch haben rund 2,6 Milliarden Menschen laut WHO keinen Zugang zu menschenwürdigen sanitären Einrichtungen. Das ist mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung! Die Folgen dieser Unter- bzw. Nichtversorgung mit sauberem Trinkwasser bzw. mangelnder Abwasserentsorgung sind verheerend! Gesundheit: 1,8 Millionen Menschen sterben jährlich an den Folgen von Durchfallerkrankungen, über 90 Prozent sind Kinder unter 5 Jahren. Umwelt: Circa 90 Prozent der Abwässer weltweit gelangen ungeklärt oder nicht ausreichend gereinigt in die Gewässer. Wirtschaft/Armutsbekämpfung: hoher zeitlicher Aufwand bei der Trinkwasserbeschaffung, hohe Kosten für die Behandlung von Krankheiten. Wie Sie sehen, die Auswirkungen sind enorm und betreffen alle Bereiche des Lebens. Insbesondere die gesundheitlichen Folgen sind gravierend. Ich habe es am Beginn meiner Rede schon gesagt. Doch nicht nur aus humanitärer Motivation, sondern gerade auch zur Verhinderung von Konflikten um Wasservorräte müssen die Versorgung der Menschen mit sauberem Trinkwasser sowie eine funktionierende Abwasserentsorgung weltweit sichergestellt werden. Einer sich immer weiter verschärfenden Wasserkrise auf dem afrikanischen Kontinent kann nur durch eine Optimierung der Wassernutzung begegnet werden. Für eine nachhaltige Wasserwirtschaft ist ein Wasserbedarfsmanagement erforderlich, um das zur Verfügung stehende Wasser unter sozialen, ökologischen und ökonomischen Aspekten - mithin unter dem Leitgedanken der Nachhaltigkeit - optimal zu nutzen. Zu berücksichtigen sind unter anderem die Aspekte Wasserverfügbarkeit, Wassernutzung, Wasserversorgung, Wasserqualität und Landnutzung. Hier sind alle Akteure gefragt: Nicht nur die Geberländer müssen ihren Beitrag leisten, sondern gerade Entwicklungsländer sollten ein vitales Interesse daran haben, wie die wasserreichen und wirtschaftlich entwickelten Länder ihr Wasser schützen, Trinkwasser aufbereiten und Abwasser behandeln. Leider ist dies noch nicht in allen Ländern angekommen. Hier gibt es Nachholbedarf. Wie Sie sehen, müssen wir mehr tun. Aus diesem Grund stimmen wir auch dem Antrag der Grünen zu.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Dezember letzten Jahres haben wir hier im Plenum in erster Lesung den Antrag der Grünen „Sanitäre Grundversorgung international verbessern“ beraten. Ich habe Ihren Reden aufmerksam zugehört. Heute sage ich Ihnen, liebe Kollegen von SPD und CDU/CSU: Ich bin - wieder einmal - verständnislos und wütend über die riesige Kluft zwischen Ihren schönen Worten und Ihren Taten! Mit welcher Begründung haben Sie diesen Antrag abgelehnt? Mit gar keiner, denn es gibt keinen einzigen Grund dafür! In Ihren eigenen Reden finde ich nicht ein Zu Protokoll gegebene Reden Wort der Ablehnung, nicht ein Wort der Kritik. Woher kommt dieser Sinneswandel? Oder ist es gar kein Sinneswandel, sondern genau kalkulierte öffentliche Verschleierungstaktik? Rekapitulieren wir noch einmal:Weltweit steht genügend Wasser zur Verfügung. Ob es jedoch sauber und trinkbar ist und wie es verteilt wird, hat mit dem sozialen Gefälle in der Gesellschaft zu tun. Weltweit leben 2,6 Milliarden Menschen ohne menschenwürdige Toiletten. Das ist mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung. Es ist ein menschenunwürdiges Leben. Es braucht wenig, um das Leben menschenwürdig zu machen: Zugang zu sauberem Wasser, zu sanitären Einrichtungen, elementarste Hygiene. Aber das braucht es. Die meisten Menschen ohne sanitäre Anlagen leben auf dem Land oder in armen Stadtregionen. Über die Hälfte der Betroffenen leben in Süd- und Ostasien. Die Weltbank hat in einer Studie die Folgen dieser katastrophalen Zustände in einigen südostasiatischen Ländern analysiert, zum Beispiel in Kambodscha. Hier leben 84 Prozent der Menschen in ländlichen Regionen, davon besitzen nur 15 Prozent eine sanitäre Grundversorgung. Von den 16 Prozent der in den Städten lebenden Menschen weisen 56 Prozent eine Grundversorgung auf. Dabei sind über 12 Prozent der Menschen Kinder unter fünf Jahren. Der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, liegt bei 35 Prozent. Menschen ohne Zugang zu angemessenen Toiletten sind einem Kreislauf aus Krankheit und Armut ausgesetzt. In Zahlen ausgedrückt, bedeutet der Verlust an Einkommen und Ausgaben für die Gesundheit für die ohnehin schon benachteiligten Menschen in Kambodscha 7,2 Prozent des Bruttosozialproduktes. 7,2 Prozent! Die Fortschritte in zahlreichen Ländern bleiben deutlich hinter den Erwartungen zurück. In Subsahara-Afrika ist die Anzahl der Menschen ohne Zugang zu menschenwürdigen sanitären Einrichtungen sogar gestiegen. Hier sind es zwei von drei Menschen, die in solch menschenunwürdigen Situationen leben. Das Recht auf Wasser ist unteilbar mit dem Recht auf sanitäre Grundversorgung verbunden. Besonders sind dabei Kinder und Frauen betroffen. Alle zwanzig Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an einfachen Erkrankungen wie Durchfall. Mangelnde Privatsphäre und Scham führen zu Erkrankungen, da die Mädchen erst im Schutz der Dunkelheit auf Toilette gehen. Leider schützt sie das nicht vor sexuellen Übergriffen. Viele Mädchen besuchen mangels eigener Toiletten spätestens ab der Pubertät keine Schulen mehr. Das alles wissen wir schon länger. Wir brauchen dezentrale, technisch einfache Sanitärkonzepte, die zusammen mit Konzepten in der Landwirtschaft und im Energiebereich entwickelt werden. Einfache übergreifende Konzepte bedeuten Würde für die Menschen. Der Antrag der Grünen hat dieses Thema angesprochen und viele unterstützenswerte Forderungen aufgestellt. Wie, meine Damen und Herren von SPD und CDU, wie können Sie morgens beim Händewaschen noch in den Spiegel schauen und sich nicht schämen dafür, dass Sie diesen Antrag ablehnen? Frau Groneberg sagte in ihrer Rede vom 5. Dezember 2008: „Insofern ist es schön, dass wir darüber geredet haben, aber wir sollten nicht nur darüber reden, sondern auch eine Menge tun.“ Belangloser geht es nicht. Frau Pfeiffer sagte in ihrer Rede: „Auch unsere Durchführungsorganisationen sehen in der sanitären Grundversorgung nicht die erste Priorität.“ Und sie fragte: „Ich bin mir nicht sicher, wie wir mit dem vorliegenden Antrag weiter verfahren sollen.“ Ich habe Ihnen damals schon die einzig mögliche Antwort gegeben: „Zustimmen, Frau Pfeiffer!“ Sie hätten etwas tun und diesem Antrag zustimmen können. Die Ablehnung des Antrags mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD gegen die Stimmen der Fraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ist absolut unverständlich. Ich hoffe, dass Sie für Ihre falschen Reden im September von den Wählerinnen und Wählern zur Verantwortung gezogen werden.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das internationale Jahr für sanitäre Grundversorgung ist vorbei, und es ist Zeit, ein Resümee zu ziehen. Das Jahr war insofern ein Erfolg, als sich eine Menge bewegt hat. Das Thema Toiletten und Abwasser wurde endlich enttabuisiert. Experten und Politiker wurden wachgerüttelt und haben angefangen, zu erkennen, dass sie dieses Thema nicht länger vernachlässigen dürfen, wenn sie die Lebensbedingungen der ärmsten Teile der Weltbevölkerung verbessern wollen. Zu lange wurde die Tatsache vernachlässigt, dass wir dauerhaft nicht genügend Trinkwasser zur Verfügung haben werden, wenn wir uns nicht um Abwasserentsorgungssysteme und Zugang zu anständigen Toiletten kümmern. Besonders zwei Themen, die auch weiterhin unsere Aufmerksamkeit benötigen, möchte ich heute hervorheben: die Bedeutung der sanitären Grundversorgung für die Verbesserung der Situation der Frauen und die Entwicklung alternativer, nachhaltiger Abwasserkonzepte. Beim diesjährigen Weltwasserforum in Istanbul wurde endlich auch die Bedeutung von sanitärer Grundversorgung für die Gleichstellung der Frauen diskutiert; denn es sind besonders die Frauen und Mädchen, die unter dem Mangel an Toiletten und Hygiene leiden. Für sie stellt mangelnder Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitärer Grundversorgung einen Teufelskreis dar: Sie verlassen vorzeitig schon während der Pubertät die Schule, da ihnen dort keine abschließbaren und nach Geschlechtern getrennten Toiletten zur Verfügung stehen. Sie sind ständig der Gefahr von sexuellen Überfällen ausgeliefert, wenn sie nachts buchstäblich in den Busch gehen müssen, um sich zu erleichtern. Sie verbringen täglich Stunden mit dem Schleppen von Trinkwasserkanistern von weit entlegenen Trinkwasserquellen. Sie sind meistens verantwortlich dafür, die Kinder und Angehörigen zu pflegen, wenn diese wegen verunreinigtem Trinkwasser und unhygienischen Toiletten an Durchfall und anderen Infektionen erkranken. Die Chancen für Frauen, eine Schulausbildung abzuschließen, selbst erwerbstätig zu sein oder einflussreiche Funktionen in der Gesellschaft einzunehmen, werden dadurch erheblich eingeschränkt. Ich fordere daher die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich im Rahmen der Zu Protokoll gegebene Reden G 8 für ein Programm zur Ausstattung von Schulen mit abschließbaren und nach Geschlechtern getrennten Toiletten einzusetzen und damit einen Anstoß für die Verbesserung der Lebenssituation und Gleichstellung der Frauen zu geben. Im internationalen Jahr für sanitäre Grundversorgung wurden auch andere als die herkömmlichen Abwasserentsorgungssysteme diskutiert. Dies war allerhöchste Zeit; denn unsere auf großem Wasserverbrauch basierenden Systeme zur Entsorgung des Urins und der Fäkalien sind bei sinkenden Grundwasserspiegeln und abnehmenden Regenfällen nicht nur in den trockenen Weltregionen, sondern auch bei uns in Europa langfristig nicht haltbar. Allein für die Toilettenspülung werden in Deutschland täglich pro Person circa 45 Liter Trinkwasser verschwendet. Damit verschmutzen wir nicht nur unnötig viel Wasser, sondern vergeuden auch die darin enthaltenen wichtigen Nährstoffe, insbesondere Phosphate. Dadurch gehen weltweit jährlich wiederverwertbare Stoffe im Wert von 15 Milliarden Dollar verloren. Spätestens wenn die weltweiten Phosphatvorkommen endgültig erschöpft sind, werden wir diese Verschwendung sehr bedauern. Wir müssen daher zukünftig auf eine Wiederverwendung und Weiterverwertung der Abwässer setzen und der Entwicklung alternativer Methoden, wie sie unter dem Begriff Ecosan bekannt sind, mehr Aufmerksamkeit schenken. Mit Hilfe dieser Konzepte kann nicht nur immens viel Wasser eingespart werden, sondern aus den menschlichen Fäkalien können auch circa 40 Kilogramm Dünger pro Person gewonnen werden. Um diese Methoden auch bei uns umsetzen zu können, wäre es aber notwendig, unsere Gesetzesgrundlagen den zukünftigen Anforderungen anzupassen und die legalen Voraussetzungen für eine flächendeckende Modernisierung unserer Systeme zu schaffen. Welche Folgen die Missachtung zukünftiger Bedarfe und Entwicklungen haben kann, sehen wir durch den Zusammenbruch der deutschen Autoindustrie derzeit nur allzu deutlich. Gleichzeitig zeigt sich der Nutzen von Investitionen in die Zukunft für unsere Wirtschaft im Bereich erneuerbarer Energien. Wir müssen daher dringend dafür sorgen, dass unsere Gesetzeslage dem flächendeckenden Einsatz alternativer und zukunftsfähiger Abwassersysteme nicht im Wege steht, um unsere Wasser- und Nährstoffressourcen zu schonen, Innovationen zu begünstigen und diesen Wirtschaftszweig - auch in Deutschland - zu fördern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11812, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11204 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition und Ablehnung durch die Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes - Drucksache 16/12232 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) - Drucksache 16/12518 Berichterstattung: Abgeordnete Julia Klöckner Hans-Michael Goldmann Nicole Maisch Hier liegen uns die Reden der Kolleginnen und Kollegen Kurt Segner, Elvira Drobinski-Weiß, HansMichael Goldmann, Karin Binder und Nicole Maisch vor.

Kurt Segner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003633, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Dezember 2006 ist das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz in Kraft getreten. Ziel dieses Gesetzes ist es, den kollektiven Verbraucherschutz im europäischen Binnenmarkt zu stärken. Das Gesetz dient der Umsetzung der EG-Verordnung über die Zusammenarbeit im Verbraucherschutz. Als deutsche Verbindungsstelle zu den Verbraucherschutzbehörden in den anderen EU-Mitgliedstaaten wird das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, bestimmt. Die gesetzlichen Grundlagen, auf denen das BVL international tätig ist und mit seinen Partnerbehörden in den anderen EU-Mitgliedstaaten zusammenarbeitet, sind ergänzungsbedürftig. Aus diesem Grund hat die Bundesregierung den heute zur Beratung anstehenden Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes vorgelegt. Mit diesem Gesetzentwurf sollen sowohl Änderungen am EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz als auch am BVL-Gesetz vorgenommen werden. Das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz soll dahingehend verändert werden, dass das BVL bestimmte Auskünfte von Post-, Telekommunikations- oder Telemediendiensten verlangen darf. Um fragwürdigen Angeboten für Verbraucher besser auf den Grund gehen zu können, soll das BVL das Recht erhalten, bei diesen Diensten Name und Anschrift von Personen zu erfragen. Wie wichtig das ist, wird am Beispiel verbraucherrechtswidriger Angebote im Internet deutlich: Durch die Gesetzesänderung wird das BVL in die Lage versetzt, von dem Internetprovider Namen und Anschrift des Anbieters zu verlangen. Dem BVL wird durch die Gesetzesänderung ermöglicht, entsprechende Anfragen ausländischer Verbraucherschutzbehörden zu beantworten. Bislang konnten bei derartigen Informationsersuchen ausländischer Verbraucherschutzbehörden die gewünschten Daten nicht festgestellt und übermittelt werden. Die vorgeschlagene Neuregelung ist sinnvoll, weil sie den Informationsaustausch zwischen den ausländischen Verbraucherschutzbehörden und dem BVL verbessert. Für Post-, Telekommunikations- oder Telemediendienste ist die entstehende Belastung vertretbar: Das BVL erhält vergleichbare Auskunftsansprüche, wie sie den Verbraucherzentralen bereits jetzt nach dem Unterlassungsklagengesetz zustehen. Wenn ein Post-, Telekommunikations- oder Telemediendienst eine Auskunft erteilen muss, erfolgt eine Entschädigung nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz. Zudem ist nur mit wenigen Anfragen im Jahr zu rechnen. Die Unternehmen werden nicht verpflichtet, neue Daten zu erheben; sie müssen nur Daten zur Verfügung stellen, über die sie ohnehin verfügen. Der Auskunftsanspruch des BVL bezieht sich also nur auf die Bestandsdaten. Die sogenannten Verkehrsdaten, die zum Beispiel Auskunft über einzelne Telefonverbindungen geben, dürfen vom BVL nicht abgefragt werden. Des Weiteren möchte die Bundesregierung das BVLGesetz geändert sehen. Der Gesetzentwurf schlägt zwei wichtige Ergänzungen vor: Erstens soll das BVL an der Erstellung eines Informationsportals mitwirken, das zur Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie in Deutschland erforderlich ist. Über dieses Portal sollen Informationen über den Verbraucherschutz in anderen Mitgliedstaaten bereitgestellt werden. Aufgrund der Vernetzung des BVL mit den anderen Verbraucherschutzbehörden in der EU ist es wichtig, das BVL in die Erstellung des Informationsportals mit einzubeziehen und dafür die gesetzliche Grundlage zu schaffen. Zweitens soll im BVL-Gesetz festgelegt werden, dass diese Behörde in internationalen Verbraucherschutzorganisationen mitarbeitet. Dabei ist insbesondere an die Mitarbeit im International Consumer Protection and Enforcement Network ({0}) zu denken. Das ICPEN ist ein internationales Netzwerk von Behörden, die mit Verbraucherschutz befasst sind. Durch das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz nimmt das BVL bereits jetzt wichtige Aufgaben im grenzüberschreitenden Verbraucherschutz wahr und ist zudem Verbindungsstelle zu anderen Verbraucherschutzbehörden in der EU. Deshalb ist es zweckmäßig, beim BVL die Zuständigkeit für die internationale Zusammenarbeit im Verbraucherschutz zu konzentrieren. Dies wird die Handlungsfähigkeit des BVL auf internationaler Ebene stärken. Aus meiner Sicht ist der Gesetzentwurf insgesamt positiv zu bewerten: Er enthält kleine, aber dennoch notwendige Schritte, um die Mitwirkung Deutschlands an der europäischen und internationalen Zusammenarbeit beim Verbraucherschutz auszubauen. Auch für den Verbraucherschutz gilt: In dem Maße, wie Grenzen ihre Bedeutung verlieren, muss die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der staatlichen Behörden zunehmen. Dem trägt der Gesetzentwurf Rechnung und setzt damit den Weg fort, der vor über zwei Jahren mit der Verabschiedung des EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetzes begonnen wurde. Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Um den Aufgabenbereich und die Kompetenzen des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ({0}) zu verändern, stehen heute sowohl Änderungen im BVL-Gesetz als auch im EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz zur Abstimmung. Das EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz, in Deutschland am 21. Dezember 2006 in Kraft getreten, regelt die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden. Grundlage ist die Verordnung ({1}) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober 2004, deren Ziel es ist, die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungsbehörden zu verbessern. Im Falle eines Verdachtes eines innergemeinschaftlichen Verstoßes gegen die Umsetzung oder Durchführung von Vorschriften ist - je nach Themenbereich - eine zuständige nationale Behörde als Ansprechpartner festgelegt worden. Zusätzlich sind die Aufgaben und Befugnisse der Behörde sowie die Duldungs- und Mitwirkungspflichten im Gesetz definiert. Irreführende Werbung, Verdachtsmomente im Bereich Lebensmittelsicherheit, bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, bei Verbraucherkrediten oder bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz fallen beispielsweise in den Tätigkeitsbereich des BVL. In der Praxis offenbarten sich jedoch in den letzten Jahren Vollzugsprobleme. Den zuständigen Behörden fehlte bisher die ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage, Informationen über Bestandsdaten von Anbietern von Post-, Telekommunikations- oder Telemediendiensten zu erhalten. Mit der heute zur Abstimmung stehenden Änderung soll eine ausdrückliche Befugnisnorm für die zuständigen Behörden zur Erlangung von Bestandsdaten geschaffen werden. Ich verweise hier ausdrücklich darauf, vom Auskunftsanspruch nicht erfasst sind nach Art. 10 des Grundgesetzes geschützte Verkehrsdaten wie zum Beispiel die Auskunft über einzelne telefonische Verbindungen. Und es geht um Daten, die beim Auskunftspflichtigen bereits vorhanden sind. Eine Pflicht zur Beschaffung oder Speicherung von Daten ergibt sich aus der Vorschrift nicht. Neben den Kompetenzen des BVL soll auch dessen Aufgabenbereich vergrößert werden. Zukünftig wird das BVL auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes stärker in die Aufgaben des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz eingebunden. Als zusätzlich mögliche Tätigkeitsbereiche werden zum Beispiel die Erfüllung des Informationsbedarfs der Verbraucherinnen und Verbraucher nach Art. 21 der EG-Dienstleistungsrichtlinie oder die Mitarbeit an internationalen Netzwerken und Organisationen aufgezählt, ohne jedoch eine abschließende Regelung zu treffen. Ich unterstütze sowohl die Änderungen im BVL-Gesetz als auch die im EG-Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetz. Die vielfältigen Skandale im Lebensmittelbereich, Klagen im Bereich Verbraucherschutz und Finanzdienstleistungen haben gezeigt, wie wichtig schlagkräftige Verwaltungen sind, um einerseits schnell über bestehende Mängel europaweit zu informieren und andererseits die Verantwortlichen zu ermitteln bzw. haftbar zu machen. Zu Protokoll gegebene Reden

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zu einem Europa der Verbraucher gehört auch eine ständig enger werdende Kooperation derjenigen Behörden, die in Europa für Verbraucherschutz zuständig sind. Deutschland kann zu Recht stolz darauf sein, dass Verbraucherrechte nicht durch eine bürokratische Behördenstruktur verwaltet werden, sondern dass wir bei der Durchsetzung der Verbraucherrechte auf eine effiziente Struktur von Verbraucherorganisationen und privaten Vereinen für Wettbewerbsschutz zurückgreifen können. Innerhalb Europas allerdings ist das deutsche Modell in der Minderheit. Der Verbraucherschutz ist dabei, immer stärker von Europa aus entwickelt zu werden. Ich weise hier nur auf die geplante Richtlinie zu den Verbraucherrechten hin. Hier strebt die Europäische Kommission einheitliche europäische Regeln für Verbraucherverträge an, insbesondere für solche, die im Wege des Fernabsatzes abgeschlossen werden. Damit wird in diesem Bereich eine Abkehr von dem bisher geltenden Grundsatz der Mindestharmonisierung eingeleitet, die in der Praxis zu 27 verschiedenen Verbraucherschutzregimen in der EU führt. Die FDP-Fraktion trägt diesen Fortschritt in Richtung einheitliche europäische Verbraucherrechte dort mit, wo es um Kernbereiche der Verbraucherrechte in Verträgen geht, insbesondere bei Widerrufsrechten und Belehrungspflichten. Es ist daher nur folgerichtig, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der EU stärker zu institutionalisieren. Nur so können letztlich in einem Binnenmarkt betrügerische Aktivitäten, die nicht an der Landesgrenze haltmachen, wirksam verfolgt werden. Bereits bei der Aufsicht der Länder über die Produktsicherheit hat sich die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden gegenseitigen Information über gefährliche Produkte erwiesen, die dann in die Schaffung des Warn- und Informationsdienstes RAPEX mündete. Deswegen ist es folgerichtig, dass wir das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit noch stärker in die Erfüllung europäischer Anforderungen im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Verbraucherschutz einbinden. Den anderen Teil des Gesetzes, in dem es um stärkere Eingriffsrechte der Behörden geht, bewerte ich erheblich kritischer, da sich hier der Trend zur Schaffung spezieller Auskunftsansprüche fortsetzt. Immer mehr Unternehmen werden verpflichtet, eigentlich vertrauliche Daten zu ihren Kunden an Behörden herauszugeben. Ohne zureichende Entschädigung ist eine solche Regelung zudem mit unverhältnismäßigen Belastungen für die Unternehmen verbunden. Die FDP-Fraktion stimmt daher mit Enthaltung.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der vorliegenden Gesetzentwurf, das sogenannte EGVerbraucherschutzdurchsetzungsgesetz ({0}), soll den Verkehr zwischen Behörden und Einrichtungen anderer Staaten und dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ({1}) erleichtern. Dieser Behördenverkehr müsste sonst wie bisher über das zuständige Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) laufen. Nun erhalten die zuständigen Behörden das Recht, direkte Auskünfte einzufordern, Bestandsdaten von Anbietern wie der Post, Telekommunikations- oder Telemediendiensten einzuholen. Das erspart Zeit und mindert den bürokratischen Aufwand. Auf dem Gebiet des grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Verbraucherschutzes soll das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ({3}) darüber hinaus auch stärker in die Aufgaben im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz eingebunden werden. Hier ist das BVL im europäischen Handelsverkehr verantwortlich für die Bereiche irreführende und vergleichende Werbung, Haustürgeschäfte, Verbraucherkreditgeschäfte, Pauschalreisen, missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Teilzeitnutzungsrechte an Immobilien, Fernabsatzgeschäfte, Verbrauchsgüterkauf, elektronischer Geschäftsverkehr und unlautere Geschäftspraktiken. Die Entbürokratisierung und die Aufgabenerweiterung sollen den Verbrauchern und Verbraucherinnen mit rascheren und aussagefähigen Auskünften zugutekommen. Die Fraktion Die Linke begrüßt grundsätzlich den Willen der Regierung, Verbraucherrechten zu mehr Durchsetzungskraft zu verhelfen. Beim vorliegenden Gesetzentwurf ist dies jedoch nur bedingt der Fall. Die Durchsetzung des innerstaatlichen Verbraucherschutzes obliegt weiterhin den finanziell und personell schlecht ausgestatteten Verbraucherverbänden. Für eine effektive Durchsetzung von EG-Verbraucherrechten ist nicht nur eine Kompetenzverlagerung von einer Behörde auf eine andere notwendig. Wichtig sind auch effektive Mittel zur Rechtsdurchsetzung. Hier besteht Handlungsbedarf, wie schon der Europäische Gerichtshof anmerkte; denn durch rechtliche Lücken und Schlupflöcher im Verbraucherrecht lässt sich auch weiterhin leicht Geld verdienen. Wichtig wäre daher die Weiterentwicklung von Musterund Gruppenklagen und eine echte Gewinnabschöpfung von unlauter erlangten Gewinnen, die den Verbraucherverbänden zufließen müsste. Dazu kommt, dass die hier vorgeschlagene Regelung den Griff nach Daten von Kundinnen und Kunden von Post-, Telekommunikations- oder Telemediendiensten erlaubt. Hier sieht Die Linke ein generelles Problem. Die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern in Fragen des Datenschutzes wurden in den letzten Jahren auf europäischer und deutscher Ebene massiv beschnitten und die Eingriffsrechte der Behörden dagegen ungehindert erweitert. Dies ist auch im vorliegenden Gesetzentwurf der Fall. Es wird eine neue Befugnisnorm für eine Behörde geschaffen. Zwar beruft sich die Bundesregierung auf die bereits vorhandenen Herausgaberechte für Verbraucherund Wirtschaftsverbände nach § 13 des Gesetzes über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen ({4}). Diese Rechte sind jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden, nämlich daran, dass die Verbände schriftlich zusichern, dass die Daten erstens zur Durchsetzung eines Anspruchs benötigt werden und zweitens anderweitig nicht zu beschaffen sind. Diese Konkretisierung bzw. Einschränkung soll im vorgeschlagenen EG-VerbraucherschutzdurchsetZu Protokoll gegebene Reden zungsgesetz jedoch nicht vorgenommen werden. Hier kann die Behörde pauschal die Daten ohne Anknüpfung an Voraussetzungen verlangen. In der Begründung zum Gesetzentwurf beruft sich die Bundesregierung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eine gesetzliche Klarstellung, die mit den Regelungen im Unterlassungsklagengesetz vergleichbar ist, bietet der Gesetzentwurf nicht. Die Linke kann deshalb dem Gesetz nicht zustimmen und wird sich aufgrund der unklaren Situation zum Datenschutz enthalten.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir beraten heute den Gesetzentwurf zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes, einen Entwurf, den uns die Bundesregierung offensichtlich als einen „großen Wurf“ verkaufen möchte. Wir sind gespannt, ob die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland auch etwas davon haben werden. „Mehr Schlagkraft für den wirtschaftlichen Verbraucherschutz“ hieß die Pressemitteilung der Ministerin vom 21. Januar 2009 anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes im Kabinett. Das hört sich zunächst einmal gut an. Und wir Grünen begrüßen selbstverständlich jede Verbesserung des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes, sofern sie in der Praxis auch ihre Wirkung entfaltet. Durch das Gesetz wird eine neue Informationspflicht für die Wirtschaft eingeführt. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit hat in Zukunft das Recht, bestimmte Auskünfte von Post-, Telekommunikations- oder Telemediendiensten zu verlangen. So kann das Bundesamt beispielsweise von unseriösen Internetprovidern Informationen über die Firmen und die Personen anfordern. Durch die Kompetenzerweiterungen sollen in Zukunft Verbraucherrechtsverstöße besser geahndet werden können. So weit, so gut. Allerdings hat das Gesetz in seiner bisherigen Form nur mäßige praktische Relevanz gezeigt. Das zeigt die Antwort auf unsere schriftliche Anfrage vom 26. März 2009. Seit Dezember 2006 hat das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit insgesamt nur 71 sogenannte Amtshilfeersuchen erhalten. In 15 Fällen wurden abschließend auch Abmahnungen gegen die Unternehmen ausgesprochen. Das ist vergleichsweise gering, wenn man sich überlegt, wie viele unzählige Anfragen und Streitfälle die Verbraucherzentralen in Deutschland jeden Tag bearbeiten müssen. Inwieweit die jetzigen Ergänzungen im Gesetz tatsächlich zu mehr Schlagkraft für den wirtschaftlichen Verbraucherschutz und einer besseren Durchsetzung der Verbraucherrechte führen, wird sich in der Praxis zeigen müssen. Sogar das Ministerium rechnet nur mit wenigen Anwendungsfällen. Wir hätten uns von der Bundesregierung gewünscht, dass sie in Sachen wirtschaftlicher Verbraucherschutz nicht nur an den kleinen Stellschrauben dreht, sondern die wirklich brisanten Probleme angeht. Dazu zählt für uns unter anderem auch, dass die Verbrauchervertretungen mehr Mittel erhalten, dass das Verbraucherinformationsgesetz endlich so reformiert wird, dass es seinen Namen auch verdient, und dass der Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten gestärkt wird, damit sich die Verbraucherinnen und Verbraucher wieder sicher fühlen können. Eine richtige Prioritätensetzung beim wirtschaftlichen Verbraucherschutz würden ihnen auch die Verbraucherinnen und Verbraucher danken, die durch die derzeitige Finanz- und Wirtschaftkrise erheblich verunsichert sind.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12518, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12232 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, ohne Gegenstimmen und bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, der möge bitte aufstehen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Anreizregulierung im Strom- und Gassektor nachbessern - Benachteiligung von städtischen Versorgern verhindern - Drucksachen 16/11878, 16/12167 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Joachim Pfeiffer, Rolf Hempelmann, Gudrun Kopp, Hans-Kurt Hill und Thea Dückert ihre Reden zu Protokoll gegeben.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Linken spielen mit ihrem Antrag die alte Leier. Entweder sie fordern direkt Verstaatlichung oder sie fordern, wie mit diesem Antrag, einen Zwischenschritt, der im Weiteren zur Verstaatlichung führt. Dabei stürzen sie sich mit Vorliebe auf Bereiche, in denen der Wettbewerb noch nicht so funktioniert, wie es für den Verbraucher wünschenswert wäre. Das ist der einfachste Weg. Sie reißen das zarte Bäumchen, welches erste Knospen trägt, aus der Erde, statt es zu gießen. Dabei hat die Bundesregierung schon für viel Wettbewerb im Energiemarkt gesorgt. Ich möchte nur daran erinnern, wo wir eigentlich herkommen. Seit 1998 wächst der EU-Energiemarkt sukzessive zu einem Binnenmarkt zusammen. Die Vorteile, die den Verbrauchern durch den EU-weiten Wettbewerb bei anderen Produkten und Dienstleistungen schon lange zugutekamen, sollten auch für den Strom- und Gasbereich Nutzen bringen. Leider ist insbesondere Deutschland unter der damaligen rot-grünen Regierung mit angezogener Handbremse gestartet. Zwar sind bis 2001/2002 die Strompreise gesunken, aber das war eher ein Marktbereinigungseffekt der großen vier Erzeuger als wirklicher Wettbewerb. Der verhandelte Netzzugang hemmte jede Entwicklung, vom Gassektor will ich gar nicht erst reden. Mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes im Jahr 2005 haben wir einen Paradigmenwechsel im Energiemarkt eingeläutet. Der Union ist es im Vermittlungsverfahren gelungen, durch Regulierung der Netze und ein vereinfachtes Marktmodell im Gasbereich dem Wettbewerb mit dem Gesetz wichtige Impulse zu geben. Seit November 2005 ist die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, kurz Bundesnetzagentur, BNetzA, per Gesetz der neutrale Schiedsrichter, der die Netzentgelte vorab anhand eines präzisen Kostenkatalogs genehmigt und für einen fairen Zugang zu den Netzen sorgt. Das heißt, staatliche Regulierung wurde auf den Bereich eingeschränkt, wo die Mechanismen des Marktes versagt haben. Dazu gehört der natürliche Monopolbereich der Netze, nicht aber die Erzeugung oder der Vertrieb. Und das Netz bleibt ein Monopol, egal ob in staatlicher oder privater Hand. Dem Wettbewerb und den Verbrauchern ist durch eine staatliche Übernahme der Netze nicht geholfen, ganz im Gegenteil. Nennen Sie mir doch einen Bereich, in dem es ein Staat geschafft hat, effizienter zu wirtschaften als private Unternehmen. Wir brauchen eine Regulierung, die diesem natürlichen Monopol entsprechende Rahmenbedingungen setzt und einen Als-ob-Wettbewerb darstellt. Hier haben wir gehandelt und sind den Weg des regulierten Netzzuganges gegangen. Die Ex-ante- und die Anreizregulierung sind Markenzeichen des Paradigmenwechsels. Damit wurde klar der Pfad zu mehr Wettbewerb betreten. Das ist zukunftsweisend und trägt bereits erste Früchte: Ohne die Absenkung der Netzentgelte in den letzten zwei Jahren wäre der Strompreis heute deutlich höher. Für Haushaltskunden wäre er um insgesamt 21,7 Prozent, für die stromintensive Industrie um 15 Prozent gestiegen. Dies entspricht einer Entlastung für Haushaltskunden von über 1,6 Milliarden Euro. Das Pflänzchen Anreizregulierung haben wir erst dieses Jahr angepflanzt. Natürlich ist es zu früh, die Früchte zu ernten. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers war und ist es, dass zukünftig Anreize für einen effizienteren Betrieb der Strom- und Gasversorgungsnetze gesetzt werden. Die Verordnung zur Anreizregulierung wird aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion über anspruchsvolle Effizienzziele nicht nur den Interessen der Verbraucher gerecht, sondern berücksichtigt auch die berechtigten Anliegen der kleineren und mittleren Stadtwerke. Entgegen der ursprünglichen Planungen haben wir zahlreiche Anpassungen zugunsten der Netzbetreiber vorgenommen. Statt acht Jahren haben die Unternehmen nun zehn Jahre Zeit, um die Effizienzvorgaben zu erfüllen. Die Deckelung des Effizienzwertes wurde auf 60 Prozent erhöht und der allgemeine Produktivitätsfaktor für die gesamte Branche wurde für die erste Regulierungsperiode auf 1,25 Prozent gesenkt. Zusätzlich enthält die Verordnung eine ganze Reihe von Sicherheitselementen zugunsten der Netzbetreiber, die die Erreichbarkeit und Übertreffbarkeit der Effizienzvorgaben sicherstellen. Dazu gehören mehrere Härtefallklauseln und die Berücksichtigung struktureller Besonderheiten der Unternehmen. In der Diskussion um die Anreizregulierung haben wir im Bundestag ausgiebig über die Frage diskutiert, wie kleinere Netzbetreiber vom übermäßigen Bürokratieaufwand und ungerechten Härten entlastet werden können. Dazu sieht die Verordnung nun ein stark vereinfachtes Verfahren vor, durch welches sie von zahlreichen Berichts- und Informationspflichten befreit sind. Zusätzlich wird ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich vor Beginn der Anreizregulierung keiner erneuten aufwendigen Kostenprüfung zu unterziehen, soweit sie keine Erhöhung ihrer bisherigen Entgelte beantragen. Die Effizienzvorgabe für die erste Regulierungsperiode beträgt für die Unternehmen nur die allgemeine Vorgabe von 1,25 Prozent. Erst ab der zweiten Regulierungsphase müssen sie sich einem Vergleich stellen, doch auch nur für einen gemittelten Effizienzwert der übrigen Unternehmen. Gleichzeitig können die Netzbetreiber jetzt vor jeder Regulierungsperiode wählen, ob sie am vereinfachten Verfahren teilnehmen oder nicht. Die Grenze für die Teilnahme am vereinfachten Verfahren wurde vom Bundeswirtschaftsministerium auf 30 000 angeschlossene Strom- und 15 000 angeschlossene Gaskunden festgelegt. Damit können praktisch drei Viertel der Unternehmen am vereinfachten Verfahren teilnehmen. Eine besondere Bedeutung misst die Verordnung der Sicherstellung von Investitionen bei. Sie enthält eine Reihe von Elementen zur Gewährleistung des notwendigen Erhalts und Ausbaus der Netze, wie zum Beispiel pauschale Investitionszuschläge, Investitionsbudgets oder die Einführung eines Erweiterungsfaktors zur Anpassung der Erlösobergrenzen bei Netzausbaumaßnahmen. Das Zusammenspiel mit den anderen Maßnahmen der Bundesregierung zur Intensivierung des Wettbewerbs zeigt sich insbesondere bei der Kraftwerk-NetzanschlussVerordnung. Diese dient der Verbesserung der kurz- und mittelfristigen Angebotsstrukturen der Stromversorgung in Deutschland. Hiervon können gerade Stadtwerke profitieren, sei es als Stromabnehmer oder als Stromerzeuger. Die Anreizregulierungsverordnung sichert in diesen Fällen die notwendigen Netzausbaumaßnahmen. Gleiches gilt beim Anschluss von Anlagen zur Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung und aus erneuerbaren Energien. Zur Qualitätssicherung sieht der VerordnungsZu Protokoll gegebene Reden entwurf ergänzend die zeitnahe Einführung eines Qualitätselements vor, das Zu- oder Abschläge auf die Erlösobergrenzen bei guter oder minderwertiger Versorgungsqualität ermöglicht. Damit hat die Bundesregierung viele Bedenken der Branche aufgenommen und berücksichtigt. Die Effizienzvorgaben sind ohne Zweifel anspruchsvoll. Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich die Orientierung an den effizientesten Unternehmen. Die Anreizregulierung simuliert den Wettbewerb in einem natürlichen Monopol. Auch im echten Wettbewerb anderer Branchen orientieren sich die Unternehmen nicht am Durchschnitt. Ohne Zweifel betritt Deutschland mit der Anreizregulierung energiepolitisches Neuland. Die Auswirkungen des neuen Regulierungssystems können trotz aller Modellrechnungen nicht sicher vorausgesagt werden. Umso wichtiger ist es deshalb, dass das System frühzeitig und regelmäßig überprüft wird, um Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennen und bei Bedarf gegensteuern zu können. Deshalb hat die Bundesnetzagentur nach § 112 a Abs. 3 des Energiewirtschaftsgesetzes zwei Jahre nach Einführung der Anreizregulierung eine Evaluierung durchzuführen und einen entsprechenden Erfahrungsbericht der Bundesregierung vorzulegen. Weitere Evaluierungspflichten setzen unmittelbar in der ersten Regulierungsperiode ein. Insgesamt trägt die Verordnung den Interessen aller Beteiligten in ausgewogener Weise Rechnung und stellt gleichzeitig die Weichen für mehr Wettbewerb auf den Strom- und Gasmärkten. Gerade für kleinere Netzbetreiber haben wir in die Verordnung viele Elemente aufgenommen, um vorhandene Befürchtungen auszuräumen. Hinzu kommen die neuen Chancen auf einem noch stärker vom Wettbewerb geprägten Markt. Hier eröffnen sich neue Möglichkeiten, etwa aus Kooperationen zusätzliche Synergien zu schöpfen oder verstärkt in die Eigenerzeugung einzusteigen. Entgegen den Befürchtungen der Linken haben Stadtwerke im Wettbewerb gute Chancen. Die liegen unter anderem in Erzeugung und Vertrieb. Investitionen in erneuerbare Energien, Kraft-Wärme-Kopplung und vor allem innovative, horizontale Kooperationen können die eigene Marktposition festigen. Keiner kann die Möglichkeiten von erneuerbaren Energien vor Ort so gut beurteilen wie Stadtwerke. Durch Kooperationen können Kostenstrukturen optimiert und andere Synergieeffekte genutzt werden. Eine weitere Chance bietet der Energieservice. Dazu haben wir die Voraussetzungen geschaffen, wie beispielsweise die Einführung von intelligenten Stromzählern. Das eröffnet einen riesigen Markt an Serviceleistungen. Hier können Stadtwerke ihren größten Vorteil nutzen: die Nähe zum Kunden. Die Große Koalition hat in dieser Legislaturperiode bereits viele Maßnahmen getroffen, um den Wettbewerb auf dem Energiemarkt zu fördern. Wir haben unter anderem eine neue Gasnetzzugangsverordnung verabschiedet, das Wettbewerbsrecht novelliert, die Gasmarktgebiete reduziert und das besagte Mess- und Zählerwesen liberalisiert. In den nächsten Wochen werden wir das Energieleitungsausbaugesetz verabschieden, das zur besseren Integration erneuerbarer Energien in das Stromnetz beitragen wird. Auch die Anreizregulierung kommt langsam zur Entfaltung. Sie und die anderen Maßnahmen müssen wir durch richtige Rahmenbedingungen weiter fördern und dürfen sie nicht zerstören. Das ist der einzig richtige Weg zu mehr Wettbewerb und Effizienz auf dem Energiemarkt. Die Stadtwerke haben in diesem Wettbewerb große Chancen. Der Antrag der Linken ist völlig kontraproduktiv und überflüssig. Daher lehnt die Union ihn ab.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist zweifelsohne richtig, dass die zum Jahresbeginn 2009 eingeführte Anreizregulierung der Strom- und Gasnetze eine Herausforderung insbesondere für kleine und mittlere Netzbetreiber darstellt. Die Koalition hat daher kleinen Netzbetreibern mit weniger als 30 000 angeschlossenen Kunden - davon weniger als 15 000 im Gasbereich - die Möglichkeit eröffnet, bei der Bestimmung der Erlösobergrenzen ein vereinfachtes Verfahren zu wählen und so das aufwändige Antrags- und Festlegungsverfahren zu vermeiden. Bis Mitte März hatten im Strombereich von 243 Verteilnetzbetreibern 136 - und damit deutlich mehr als die Hälfte - das vereinfachte Verfahren gewählt und so für die erste Periode der Anreizregulierung einen Effizienzwert von 87,5 Prozent akzeptiert. Im Gasbereich waren es mit 140 Verteilnetzbetreibern von insgesamt 214 Verfahren sogar fast zwei Drittel, die sich für das vereinfachte Verfahren entschieden haben. Dies zeigt, dass die Koalition schon bei der Erarbeitung der Anreizregulierungsverordnung ein besonderes Augenmerk auf die kleinen Netzbetreiber gelegt hat. Die im Antrag aufgestellten Behauptungen, Lohnkosten und Betriebsrenten würden von der Bundesnetzagentur als Teil der beeinflussbaren Kosten angesehen, wodurch es im Rahmen der Anreizregulierung zu einer Abwärtsspirale bei Löhnen und Sozialleistungen kommen könne, wurde zwischenzeitlich von der Bundesnetzagentur widerlegt. Zusammen mit den ersten Bescheiden zur Anreizregulierung hat die Bundesnetzagentur Ende März öffentlich erklärt, dass sie im Rahmen der Anreizregulierung Kosten wie Pensionsansprüche, Berufsausbildung, Abgaben, Steuern und sogar Ausgaben für den Betriebskindergarten als nicht beeinflussbar anerkennt und damit dem Auftrag des Gesetz- und Verordnungsgebers nachkommt. Die Regulierung unterliegt gelegentlich allerdings durchaus der Gefahr, den Rahmen des Gesetzes zu verlassen und Vorgaben, die beispielsweise im Rahmen des dritten EU-Energie-Binnenmarktpakets für Übertragungsnetzbetreiber gefordert werden, bereits heute auf Verteilnetzbetreiber zu übertragen. Hier ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, die Regulierungsbehörden auf die geltende Gesetzeslage zu verweisen. Dazu bedarf es allerdings keiner Änderung der Verordnung. Entsprechende - möglichst gemeinsame - Aktivitäten der MitZu Protokoll gegebene Reden glieder im Beirat der Bundesnetzagentur sind da zunächst der sinnvollere Weg und haben in der Vergangenheit auch schon zum Erfolg geführt. Die von der Bundesnetzagentur vor Einführung der Anreizregulierung durchgeführten zwei Entgeltgenehmigungsrunden haben im Übrigen gezeigt, dass es sehr wohl kleine und mittlere Netzbetreiber gibt, die genauso gut oder sogar besser abschneiden als die großen Netzbetreiber. Vorgabe der Anreizregulierungsverordnung ist, dass die Effizienzvorgaben erreichbar und übertreffbar sein müssen - dies gilt auch für kleine und mittlere Netzbetreiber. Im Zusammenhang mit der Anreizregulierung von „marktbeherrschenden Energiekonzernen“ zu reden, grenzt an Irreführung. Der Netzbetrieb ist ein natürliches Monopol - und das ganz unabhängig davon, ob sich das Netz in der Hand eines kleinen Stadtwerks oder eines großen Energiekonzerns befindet. Das Diskriminierungspotenzial im Netzbereich ist daher grundsätzlich ganz unabhängig von der Größe eines Netzes vorhanden. Genau aus diesem Grund sind sowohl Übertragungs- als auch Verteilnetzbetreiber in die Netzentgeltregulierung einbezogen worden. Vollkommen unverständlich bleibt die Aussage des Antrags, die Anreizregulierung sei für die Regulierung der Übertragungsnetze ungeeignet und man müsse daher zur bisherigen Entgeltgenehmigung zurückkehren. Die Bundesnetzagentur hat die Effizienzvorgaben für die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber anhand eines internationalen Effizienzvergleichs unter Einbeziehung von Übertragungsnetzbetreibern aus anderen EU-Mitgliedstaaten ermittelt. Dies halte ich für ein faires und aussagekräftiges Vergleichskriterium. Ebenso unverständlich ist die in diesem Zusammenhang erhobene Forderung, die Strom-Übertragungsnetze sollten wegen ihres preislichen Missbrauchspotenzials in die öffentliche Hand überführt werden. Die Fraktion Die Linke irrt, wenn sie meint, staatliche Netzbetreiber könnten sich einer wirksamen Regulierung entziehen, weil so kein Missbrauchspotenzial mehr bestünde. Die Netze unterliegen - ganz unabhängig davon, ob sie sich in privatem, staatlichem oder gemischtem Eigentum befinden der Aufsicht durch die Regulierungsbehörden. Den Regulierungsbehörden kommt dabei allerdings eine doppelte Aufgabe zu. Sie haben einerseits den Auftrag, die Netzentgelte über die Regulierung auf ein angemessenes Niveau zu bringen, das sich im Wettbewerb ergeben hätte. Dabei ist selbstverständlich darauf zu achten, dass die Vorgaben des Gesetzgebers aus dem Energiewirtschaftsgesetz und der Anreizregulierungsverordnung so exakt wie möglich umgesetzt werden. Darüber hinaus ist es allerdings auch die Aufgabe der Regulierungsbehörden, angemessene Rahmenbedingungen für Investitionen in die notwendige Erneuerung sowie den Aus- und Umbau der Netze zu schaffen. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise, in der der Staat Milliardensummen zur Stützung von Banken und Konjunktur in die Hand nimmt, gilt heute stärker denn je, dass die Regulierungsbehörden dem Komplex Investitionen im Rahmen der Anreizregulierung ein besonderes Gewicht einräumen müssen. Kurz-, mittel- und langfristig haben wir erheblichen Erneuerungs- und Ausbaubedarf in unseren Strom- und Gasnetzen. Ein entscheidendes Kriterium ist eine angemessene Verzinsung der Investitionen, die dem Risiko angemessen und international vergleichbar sein muss. Eine der wichtigsten Aufgaben der Bundesnetzagentur der kommenden Monate sehe ich außerdem darin, im Rahmen der Anreizregulierung eine Qualitätsregulierung einzuführen, die einen Anreiz für Investitionen in den Erhalt und Ausbau der Netze schafft.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erst seit Januar 2009 gelten für Netzbetreiber neue Effizienzanforderungen an den Betrieb von Strom- und Gasnetzen. Dazu gehört die Orientierung an den Branchenbesten und die Setzung von Anreizen bei der Vornahme von Effizienzverbesserungen. Der Antrag der Fraktion Die Linke fordert nun, die angebliche strukturelle Benachteiligung von Stadtwerken im Rahmen des neuartigen Systems der Anreizregulierung zu beseitigen. Durch die im Antrag geforderten Eingriffe in wesentliche Stellschrauben der Anreizregulierung würde das System praktisch unterlaufen. Die Grundlage der Anreizregulierung ist ein Vergleich der ({0})Effizienz der Netzbetreiber auf dem Wege des Benchmarkings. Würden sämtliche Lohnkosten und dazu noch die Kapitalkosten für den Betreiber bzw. Käufer eines Netzes dem Effizienzvergleich entzogen, würden zentrale Kostenfaktoren bei der Festlegung der Effizienzanforderungen fehlen. Darüber hinaus erstaunt es mich, dass die Linke mit diesem Antrag die Übertragungsnetzbetreiber vor staatlicher Regulierung beschützen - und gleichzeitig enteignen will. Statt in übereilten Aktionismus zu verfallen, sollte jetzt genau beobachtet werden, welche Wirkung die Anreizregulierung in der Praxis entfaltet. Wir haben es hier mit einem Instrument zu tun, dessen Wirkung - insbesondere auf die Investitionstätigkeit - von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Regulierung insgesamt ist. Das vorhandene Instrumentarium erlaubt bereits eine mögliche Anpassung bei unvorhergesehenen Änderungen, um unzumutbare Härten zu vermeiden. Außerdem ist die Bundesnetzagentur bei der Verzinsung des Eigenkapitals und in anderen Punkten den Forderungen der Netzbetreiber erheblich entgegengekommen. Die Bonner Behörde hat mit Beginn der sogenannten Anreizregulierung Anfang 2009 erstmals Erlösobergrenzen für die Netzbetreiber festgelegt. Dabei wurden den meisten Netzbetreibern höhere Erlöse zugestanden als in der vergangenen Genehmigungsrunde. Die Bundesnetzagentur hat in den vergangenen Jahren bei der Regulierung des natürlichen Monopols „Energienetze“ ihre Arbeit sehr gut gemacht. Insbesondere vor dem Hintergrund gewaltiger Erwartungen und großer Informationsasymmetrien zwischen Regulierer und Netzbetreiber ist das keine leichte Aufgabe, die noch dazu in einem dynamisch sich entwickelnden rechtlichen Umfeld geleistet werden muss. Das Thema Anreizregulierung ist ein Jahr lang von der Bundesregierung verschleppt worden, sodass die notwendige Verordnung erst Anfang 2009 Zu Protokoll gegebene Reden umgesetzt wurde. Obwohl die entsprechenden Vorschläge der Bundesnetzagentur durch die Bundesregierung dann auch noch in wesentlichen Punkten abgeschwächt wurden, was wir in diesem Hause bereits ausdrücklich kritisiert haben, muss die Anreizregulierung nun in der Praxis genau beobachtet werden. Voreilige Versuche, nun die gesamten Regulierungsinstrumente auszuhebeln, so wie es in dem Antrag der Linken vorgeschlagen wird, lehnen wir Liberalen strikt ab.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ein künstlich veranstalteter Wettbewerb zwischen den Strom- und Gasnetzbetreibern geht zulasten der Stadtwerke. Es zeigt sich auch, dass diese „Anreizregulierung“ ein bürokratisches Monster ist. Dennoch kann die Bundesnetzagentur keinen echten und fairen Wettbewerb erzeugen. Das Problem: Die Anreizregulierung beschränkt sich auf betriebswirtschaftliche Effizienz. Und das bedeutet: Investitionen, die über das Notwendige hinausgehen, werden zusammengestrichen, Löhne werden gedrückt, Kundenservice und Klimaschutz kommen zu kurz. Das Dilemma für kleine Stadtwerke ist immer das gleiche: Die Kleinen kommen gegen die großen Konzerne nicht an. Das ist wie auf dem Wochenmarkt. Der Bauer aus der Region bietet frische, schmackhafte Tomaten aus der Region. Aber bei den Dumpingpreisen der Discounter kann er nicht mithalten. Wenn aber der Preis der einzige Maßstab ist, können die Kleinen einpacken. Hinzu kommt: Das Verfahren zur Bewertung der einzelnen Netzbetreiber ist überaus komplex und intransparent. Kleine Stadtwerke haben deshalb oft nicht das Wissen und das Personal, die Entscheidungen der Bundesnetzagentur nachzuvollziehen. Wenn dann die Behörden massive Ertragsminderungen vorschreiben, kann so mancher kommunale Versorger einpacken. Die Anreizregulierung stellt die kleinen Netzbetreiber vor kaum lösbare Herausforderungen: Der Handlungsspielraum wird massiv eingegrenzt, Investitionen können nicht getätigt werden. Löhne und Betriebsrenten müssen gekürzt werden. Letzteres ist faktisch ein unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie. Man muss sich schon fragen, welche Aufgaben die Bundesnetzagentur eigentlich hat! Auf keinen Fall darf es dazu kommen, dass der Monopolbildung im Strom- und Gassektor weiter Vorschub geleistet wird. Die Linke fordert deshalb zumindest eine faire Ausrichtung der Anreizregulierung: Erstens. Das Verfahren zur Durchführung der Anreizregulierung muss gegenüber allen Teilnehmern einschließlich der Offenlegung aller Basisdaten und der Methodik transparent und nachvollziehbar gestaltet werden. Zweitens. Vor allem Lohnkosten, Betriebsrenten, bisher getätigte Netzkaufkosten sowie Investitionen, die zur Servicequalität und zum Klimaschutz beitragen, dürfen von der Anreizregulierung nicht negativ beeinflusst werden. Drittens. Die Übertragungsnetze müssen als ungeeignet aus der Anreizregulierung herausgenommen und bis zu einer Überführung in die öffentliche Hand wie bisher über eine wirksame Netzentgeltgenehmigung reguliert werden. Ich will das noch einmal erläutern: Die Bundesnetzagentur simuliert zwar eine genaue Wettbewerbssituation für jeden einzelnen Netzbetreiber, stellt diesen aber nicht alle Informationen und Daten uneingeschränkt und in nachvollziehbarer Form zur Verfügung. Wie sollen die kleineren Stadtwerke auf dieser Basis die Richtigkeit der Behördenentscheidung überprüfen? Die jetzigen Regeln in der Anreizregulierungsverordnung führen zu einer Schlechterstellung der mittleren und kleinen städtischen Netzbetreiber gegenüber den großen Unternehmen. Das führt zu einer Wettbewerbsverzerrung und befördert die Kartellbildung. Besonders bei den Übertragungsnetzbetreibern, die ein marktfernes Oligopol darstellen, ist die Anwendbarkeit der Anreizregulierung völlig sinnlos. Sie sind mit anderen europäischen Netzbetreibern nicht vergleichbar, da die Unterschiede zu groß sind. Darüber hinaus wird mittlerweile eine bundesweit einheitliche Regelzone für die Übertragungsnetze vorgeschlagen. Eine Anreizregulierung mit nur einem Teilnehmer im Bereich der Übertragungsnetze wäre dann gänzlich unwirksam. Die Übertragungsnetzbetreiber sind deshalb aus der Anreizregulierung herauszunehmen. Das Ziel muss letztendlich die Überführung der Höchstspannungstrassen in die öffentliche Hand sein.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Linke hat einen Showantrag vorgelegt. Die Verordnung zur Anreizregulierung wurde im Juni 2007 vom Bundeskabinett beschlossen und ist seit Januar 2009 in Kraft. Sie war im Bundesrat zustimmungspflichtig, aber nicht im Bundestag. Insofern kann der Antrag der Linken allenfalls appellativen Charakter haben. An dem im April 2007 veröffentlichten Entwurf hatte es tatsächlich starke Kritik aus den Stadtwerken gegeben. Sie befürchteten, die Anforderungen, die sich aus der Anreizregulierung ergeben, nicht erfüllen zu können. Die Kommunen hatten Sorge, dass sie Stadtwerke verkaufen müssten und forderten, die Effizienzanforderungen abzuschwächen. Bündnis 90/Die Grünen haben diese Sorgen ernst genommen und sich dafür eingesetzt, dass den Bedenken Rechnung getragen wird, ohne die Effizienzziele aufzugeben. Uns war wichtig, sowohl die Wünsche der Verbraucher nach günstigeren Tarifen und umweltfreundlichem Strom als auch die Interessen der Kommunen und ihrer Stadtwerke zu berücksichtigen. Gegenüber dem Entwurf vom April 2007 ist das Wirtschaftsministerium in der im Juni verabschiedeten Fassung den Kritikern weit entgegengekommen. Es können jetzt mehr Unternehmen am vereinfachten Verfahren teilnehmen, nach dem dauerhaft nicht beeinflussbare Kostenanteile wie Konzessionsabgaben, Betriebssteuern, genehmigte Investitionsbudgets, Kosten für Betriebs- und Personalräte etc. nicht einzeln nachgewiesen werden müssen, sondern pauschal mit 45 Prozent der Gesamtkosten angesetzt werden. Auch die Fristen für die Antragstellung für das vereinfachte Verfahren wurden gelockert. Alle kleineren Netzbetreiber - das sind besonders die Zu Protokoll gegebene Reden Stadtwerke - können an diesem vereinfachten Verfahren mit weniger Bürokratie teilnehmen. Zudem wurde inzwischen von der Bundesnetzagentur die Verzinsungsobergrenze der Netze auf 9,25 Prozent angehoben. Das führt zu mehr Einnahmen, auch bei kommunalen Energieunternehmen. Allerdings sollten die Erlöse nicht vorwiegend aus der Ausnutzung des Netzmonopols kommen. Wenn die Einnahmen nicht ausreichen, dann weist das darauf hin, dass beim Verkauf von Energie und Energiedienstleistungen etwas schiefläuft. Bündnis 90/Die Grünen haben sich massiv dafür eingesetzt, dass die Bedeutung regenerativer Energien bei den Effizienzkritierien besonders berücksichtigt wird. Auch das wurde in die Verordnung aufgenommen und ist ein Feld, auf dem sich die Stadtwerke besonders profilieren können. Zudem gibt es für kleine Unternehmen die Möglichkeit, dem Kostendruck wirksam zu begegnen, indem sie sich zum Beispiel regional zusammenschließen, um die Betriebskosten zu optimieren. Die Anreizregulierung ist ein wichtiges Instrument für mehr Wettbewerb auf dem Strommarkt und wird dazu beitragen, die Kosten zu senken. Sie kann aber zum Beispiel nicht gewährleisten, dass die Unternehmen schnell dort investieren, wo Engpässe im Netz herrschen. Darum müssen wir weitergehen auf dem Weg zu mehr Wettbewerb im Energiemarkt. Wir wollen, dass die Übertragungsnetze eigentumsrechtlich von der Versorgung bzw. der Erzeugung von Strom und Gas getrennt werden. Dazu wollen wir die Netze in eine einheitliche Netzgesellschaft überführen, die sich aber nicht, wie von der Linken gewollt, vollständig in öffentlicher Hand befinden muss. Zusätzlich wollen wir, dass Energieunternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung bei der Erzeugung von Strom entflochten werden. Es ist überfällig, dass die Bundesregierung endlich im Sinne der Verbraucher aktiv für Wettbewerb auf den Strom- und Gasmärkten eintritt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12167, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11878 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben alle Fraktionen des Hauses bis auf die Fraktion Die Linke, die dagegengestimmt hat. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Rates 2008/615/JI vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität - Drucksache 16/12585 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Wir haben zu Protokoll bekommen die Reden der Kolleginnen und Kollegen Clemens Binninger, Wolfgang Gunkel, Max Stadler, Ulla Jelpke und Wolfgang Wieland.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sicherheit ist mehr als je zuvor eine Angelegenheit internationaler und europäischer Zusammenarbeit. Die Terroranschläge und Anschlagsvorbereitungen der letzten Jahre, die OK-Prozesse in Deutschland, Schleuserei und Menschenhandel, aber auch Großereignisse wie Fußballwelt- und -europameisterschaften oder jüngst der NATO-Gipfel zeigen, warum die grenzüberschreitende Kooperation von Polizei- und Sicherheitsbehörden elementar ist. Kriminalität und Terrorismus sind in einer globalisierten Welt zunehmend international und machen keinen Halt an Landesgrenzen und vor nationalen Zuständigkeiten. Binnen Sekunden können Bauanleitungen für Bomben via E-Mail verschickt oder Geldtransaktionen über das Internet getätigt werden. Wegfallende Grenzkontrollen führen zu größerer Bewegungsfreiheit terroristischer und krimineller Gruppierungen. Wenn die Vernetzung immer mehr zunimmt, wird das nationalstaatliche Regelungsmonopol ein Stück weit obsolet, dafür aber enge Abstimmung und Zusammenarbeit auf europäischer Ebene unverzichtbar. Das stellt uns vor neue Herausforderungen. Ein einzelner Staat kann hier nicht viel ausrichten. Vielmehr müssen wir gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn wirksame Lösungen finden. Hierzu existiert bereits heute eine ganze Reihe von gemeinsamen Projekten - sei es im Rahmen von Europol, der Schengen-Informationssysteme oder der gemeinsamen Grenzschutzagentur Frontex. In diese Reihe gehört auch der 2005 geschlossene und mittlerweile erweiterte Vertrag von Prüm und der sogenannte Prüm-Beschluss der EU aus dem Jahr 2008, der neue Standards in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden setzt. Kernstück des Informationsverbundes, der mit dem Ratsbeschluss zu Prüm 2008 für alle EUStaaten verbindlich ist und mit dem vorliegenden Gesetz in nationales Recht umgesetzt werden soll, ist der gegenseitige Austausch von Informationen zwischen den EUMitgliedstaaten. Erlauben Sie mir einen Blick in die Vergangenheit: Bereits im Jahr 2003 regten mehrere EU-Staaten - darunter Deutschland - eine verstärkte Zusammenarbeit insbesondere beim Informationsaustausch an. Hintergrund waren die guten Erfahrungen, die man mit bilateralen Polizeiund Justizverträgen in diesem Bereich gemacht hatte. Im Mai 2005 wurde schließlich in Prüm in der Eifel zwischen Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und Österreich ein Vertrag zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit unterzeichnet. Mit dem Abgleich von DNA-Datenbanken, dem Austausch von Fingerabdruckdaten und dem grenzüberschreitenden Zugriff auf Kraftfahrzeugregister stehen den Vertragspartnern wichtige Instrumente der KriminaClemens Binninger litätsbekämpfung zur Verfügung. Auch die Übermittlung von Daten zur Verhinderung terroristischer Straftaten und auch im Fall der terroristischen Ausbildung eröffnet neue Handlungsräume für Polizeibehörden. Nicht zuletzt ermöglicht der Vertrag auch die operative polizeiliche Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Die Kooperation der Vertragspartner hat sich als effektiv und erfolgreich erwiesen. Beim DNA-Datenaustausch zwischen Deutschland, Österreich, Spanien und Luxemburg zum Beispiel sind allein auf deutscher Seite bereits weit über 3 000 Treffer erzielt worden, davon etliche Treffer im Bereich Tötungsdelikte. Mehrere Sexualund Tötungsdelikte konnten bei den Prüm-Partnern in den letzten Jahren so aufgeklärt werden. Und es sind Erfolge wie die angesprochenen, die zu einer dynamischen Entwicklung des Prüm-Vertrages geführt haben. Trotz Skepsis und Kritik von verschiedenen Seiten traten dem Prüm-Vertrag weitere Staaten bei. Dass wir heute über diesen Prüm-Beschluss beraten können, geht zurück auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und die Initiative des Bundesinnenministers. Deutschland hat sich im Jahr 2007 entschieden, die EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen, um mit den Vertrags- und Beitrittsstaaten des Prümer Vertrages, den „Prüm-Partnern“, einen entsprechenden Beschluss des Rates mit besonderem Nachdruck voranzutreiben. Mit einem beeindruckenden Ergebnis: Innerhalb weniger Monate kam eine Einigung aller 27 Mitgliedstaaten zustande, und fast alle Inhalte des Prümer Vertrages wurden in das Gemeinschaftsrecht übernommen. Der Beschluss sieht vor, dass im Sommer 2009 alle EU-Staaten den Prüm-Beschluss in nationales Recht umzusetzen haben. Bis Ende 2011 soll ein automatisierter Datenaustausch auf der Grundlage des Prüm-Beschlusses realisiert werden. Natürlich sind im Prüm-Beschluss wie auch schon im Prüm-Vertrag umfangreiche Datenschutzbestimmungen enthalten, die insbesondere für den automatisierten Datenaustausch maßgeschneidert wurden. Mit dem heute von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf schaffen wir die Grundlagen für die Umsetzung des Prüm-Beschlusses. Im Wesentlichen geht es dabei um den Umbau von Organisationsstrukturen, detaillierte Bestimmungen zum Datenaustausch, die Schaffung neuer Stellen für Kooperation und Informationsaustausch sowie technische Voraussetzungen. Der PrümBeschluss bietet ein funktionierendes Gesamtpaket für die polizeiliche Zusammenarbeit, eine erhebliche Beschleunigung beim grenzüberschreitenden Datenaustausch und ein Datenschutzsystem für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Sicherheitsinteressen und Grundrechtsschutz. Mit seinen rechtlichen und technischen Standards leistet das Prüm-System einen entscheidenden Beitrag zu einem modernen und praxistauglichen Informationsverbund in einem Europa der 27. Deshalb unterstützt die CDU/CSUFraktion den vorliegenden Gesetzentwurf.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur europaweiten Zusammenarbeit im Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität. Der Entwurf formuliert die Umsetzung des Ratsbeschlusses Prüm vom Juni vergangenen Jahres in nationales Recht. Bei diesem Ratsbeschluss wiederum handelte es sich um die Überführung des 2005 geschlossenen Prümer Vertrages in EU-Recht. Insofern ist die politische Auseinandersetzung um den Inhalt des Abkommens bereits weitgehend erfolgt. Die Umsetzung in nationales Recht stellt in erster Linie eine Formsache dar. Überwiegend enthält er redaktionelle Anpassungen, die sich aus der Überführung des Prümer Vertrages in einen europäischen Rechtsakt ergeben. Lassen Sie mich also die Möglichkeit zu einer kritischen Würdigung der Erfolge des Prümer Vertrages beziehungsweise des Ratsbeschluss von Prüm nutzen: Am 27. Mai 2005 schlossen Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Österreich den Prümer Vertrag. Das Abkommen hat die amtliche Bezeichnung „Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration“. Das Vertragswerk sollte die grenzüberschreitende Zusammenarbeit vereinfachen und damit effektiver machen. Es steht außer Zweifel, dass die nationalen Strafverfolgungsbehörden mit einer engeren Koordination und einem intensiveren Informationsaustausch auf die Bedrohung durch global agierende terroristische Netzwerke und weltweit organisierte Kriminalität reagieren müssen. Der Vertrag ermöglichte einen einfacheren Datenaustausch der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden untereinander. So kann auf Datenbanken mit DNA-Daten und Fingerabdrücken oder elektronische Register mit KfzDaten der Behörden anderer Staaten zugegriffen werden. Darüber hinaus wurden unterschiedliche andere Formen der Zusammenarbeit geregelt, unter anderem bei Großereignissen, Katastrophen, zur Verhinderung terroristischer Straftaten oder zur Bekämpfung der illegalen Migration. Im Februar 2007 beschlossen die Justiz- und Innenminister der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Regelungen des Prümer Vertrags in das EU-Recht zu überführen. Auf der Tagung des Rates am 12./13. Juni 2007 einigten sie sich auf einen Beschluss zur Überführung der wesentlichen Vertragsregeln des Prümer Vertrags in den Rechtsrahmen der EU. Vor allem die für die polizeiliche Zusammenarbeit bedeutsamen Inhalte wurden so in den Rechtsrahmen der EU überführt und müssen nun in nationales Recht übersetzt werden. Das Abkommen hat die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Behörden maßgeblich effektiviert und schon zahlreiche Erfolge gezeitigt: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden bis Ende September 2008 bereits rund 4 170 Treffer in DNA-Datenbanken anderer Vertragsstaaten erzielt. Noch größer ist der Vorteil für kleinere Mitgliedstaaten, die nun auf die Datensätze ihrer „großen Nachbarn“ zugreifen können. Diese Vernetzung von Daten birgt natürlich Risiken für den Datenschutz: Hier muss in Zukunft genau hingesehen und gegebenenfalls nachgebessert werden! 14 Jahre, nachdem in Großbritannien die erste nationale DNA-Datenbank eingerichtet wurde, sind mittlerweile die genetischen Fingerabdrücke von mehr als 5,5 Millionen Menschen in der EU erfasst. Diese Zahl ist ein großes Zu Protokoll gegebene Reden Potenzial in der effektiven Verbrechensbekämpfung, birgt aber gleichzeitig ein hohes Missbrauchsrisiko! So erfolgt der Datenabgleich beispielsweise der DNA-Datenbanken nach dem sogenannten Hit/No Hit-Verfahren: Die abfragende Polizeidienststelle erhält nur die Mitteilung, ob zu dem gesuchten Profil ein Eintrag in einem anderen Vertragsstaat vorliegt oder nicht. In einem zweiten Schritt müssen die Dienststellen in Kontakt treten bzw. ein Rechtshilfegesuch einleiten, um Informationen zur Identität der gesuchten Person zu erhalten. Dabei ist allerdings nicht festgelegt, wie viele Übereinstimmungen es zwischen zwei DNA-Sätzen geben muss, bevor das System einen Treffer meldet, was schon der europäische Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx kritisierte. Er forderte mehrfach klarere Datenschutzauflagen beim Prümer Abkommen, so etwa Auflagen darüber, wie in die Datenbank aufgenommene irrelevante Datensätze behandelt werden. Auch das EU-Parlament fordert in seiner Stellungnahme, „ein angemessenes Datenschutzniveau“ zu gewährleisten und dieses Niveau zwischen den Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Daten, die sensible Persönlichkeitsbereiche wie etwa die sexuelle Ausrichtung, die Gesundheit oder die politische Einstellung betreffen, dürften nur dann verarbeitet werden, „wenn dies absolut notwendig“ sei. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar bescheinigte dem Abkommen einen hohen datenschutzrechtlichen Standard. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass dies auch so bleibt und die Datenschutzgrundsätze der Mitgliedsländer endlich harmonisiert werden. Mit der Überführung des Prümer Vertrages in den Rechtsrahmen der Europäischen Union wird eine erhebliche Beschleunigung und Effektivitätssteigerung beim europaweiten Datenaustausch einhergehen. Von daher ist es wünschenswert, dass der Gesetzentwurf noch diese Legislatur umgesetzt wird, wenn das notwendige Augenmerk auf die angesprochenen datenschutzrechtlichen Bedenken gelegt wird.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der heute zu beratende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung des Beschlusses des Rates vom 23. Juni 2008 geht auf den sogenannten Prümer Vertrag zurück. Dieser Vertrag ist durch ein entsprechendes Vertragsgesetz in das deutsche Recht transformiert worden. Damals hat sich die FDP der Stimme enthalten. Die Gründe, die seinerzeit dafür maßgeblich gewesen sind, gelten weiter fort. Deshalb ist die Haltung der FDP zur heute vorliegenden Änderung des Ausführungsgesetzes zum Prümer Vertrag und zu weiteren Folgeänderungen unverändert. Der Ratsbeschluss vom 23. Juni 2008, der mit dem heutigen Gesetz umgesetzt werden soll, entspricht nämlich im Wesentlichen dem Inhalt des Vertrages selbst. Den Vertrag hat die FDP im Grundsatz begrüßt, weil damit eine verbesserte internationale Zusammenarbeit im Bereich der polizeilichen Arbeit in der Europäischen Union zum Zwecke der Gefahrenabwehr, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität beabsichtigt war. Allerdings haben mehrere Einzelpunkte nicht die Zustimmung der FDP gefunden. Wir haben kritisiert, dass die Anforderungen für die Übermittlung von DNA-Daten nicht ausreichend definiert worden sind. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist dabei nicht vollständig beachtet worden. Die Rechtsschutzmöglichkeiten der EUBürgerinnen und EU-Bürger sind nicht ausreichend ausgestaltet worden. Nach wie vor gibt es übrigens auch keine zufriedenstellenden Kontrollrechte des EU-Parlaments bezüglich der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit. Ferner hat die FDP damals kritisiert, dass dem Vertrag von Prüm auch andere, sogar außereuropäische Staaten beitreten können, deren Datenschutzniveau nicht hinreichend ist. Es ist klar, dass der heute vorliegende Gesetzentwurf im Wesentlichen Rechtstechnik betrifft, gleichwohl kann man nicht darüber hinweggehen, dass Ausgangspunkt hierfür eben der Vertrag von Prüm ist, der in seiner konkreten Ausgestaltung trotz grundsätzlich richtiger Zielsetzung von der FDP nicht mitgetragen werden konnte. Deshalb ist es folgerichtig, dass sich unsere Fraktion auch bei dem jetzt zur Debatte stehenden Gesetzentwurf der Stimme enthält.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll ein Ratsbeschluss der EU in deutsches Recht umgesetzt werden, der die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in Europa ausdehnen soll. Ursprünglich hatten sieben EU-Staaten diese Ausdehnung im Alleingang beschlossen, 2006 im Vertrag von Prüm. Dieser Vertrag wurde durch den Ratsbeschluss 2008 für alle EU-Staaten verbindlich. Es ist wohl wenig überraschend, dass die Fraktion Die Linke diesen Gesetzentwurf ablehnt. Im Ratsbeschluss finden sich sämtliche negativen Entwicklungen der europäischen Innenpolitik wieder. Es wurde die Chance verpasst, dringend notwendige Korrekturen am Prümer Vertragswerk vorzunehmen. Nach dem Motto „erst schießen, dann fragen“ werden den Sicherheitsbehörden weitreichende Befugnisse erteilt. Grundrechtsschutz und Datenschutz spielen höchstens die zweite Geige. Eine der zentralen Fehlentwicklungen der europäischen Innenpolitik sehen wir im automatisierten Datenaustausch nach dem „Grundsatz der Verfügbarkeit“. Schickt ein EU-Staat ein DNA-Identifizierungsmuster an einen anderen, bekommt er automatisch die dazu gespeicherten Daten. Von der Stelle, die die Daten ursprünglich erhoben hat, wird nicht geprüft, was mit diesen Daten anschließend passiert. Erst recht sind die Betroffenen des Datenaustauschs von jeder wirksamen Kontrolle ausgeschlossen. Letztlich ist nicht mehr zu überblicken, wo welche Daten innerhalb der EU eigentlich landen. Angesichts moderner technologischer Möglichkeiten ist der Datenaustausch so einfach wie nie zuvor. Dem entspricht das derzeitige Datenschutzrecht der EU bei weitem nicht, und auch in Deutschland diskutieren wir immer noch recht ergebnislos über die Stärkung des informationellen Selbstbestimmungsrechts der Bürgerinnen und Bürger. Zu Protokoll gegebene Reden Der Datenaustausch bleibt aber nicht bei den DNAIdentifizierungsmustern stehen. Auch auf die Fingerabdruckdateien der verschiedenen Behörden sollen statt bisher sieben nun alle EU-Staaten untereinander zugreifen können. Das Gleiche gilt für Fahrzeugregisterdaten. In Deutschland sind das immerhin fast 50 Millionen Datensätze. Zum automatisierten Abgleich kommt noch die Möglichkeit der spontanen Datenübermittlung hinzu. Bei den sogenannten Großereignissen von grenzüberschreitender Bedeutung kann das Bundeskriminalamt von sich aus Daten übermitteln. Es wird also beispielsweise den französischen Behörden mitgeteilt, welche potenziellen Störer sich von deutscher Seite aus zu Protesten gegen einen internationalen Gipfel im Nachbarland aufmachen. Denen wird dann vielleicht die Einreise verweigert, ohne dass sie so recht wissen, warum. Durch das fehlende Datenschutzregime gibt es keinerlei Möglichkeit für die Betroffenen, die Löschung ihrer Daten in Frankreich durchzusetzen. Das war bereits der Webfehler des Vertrages von Prüm. Und wie bei allen EU-Entscheidungen im Bereich der „Inneren Sicherheit“ setzt sich dieser Webfehler nun auch in dem Ratsbeschluss fort. Ein anderer Aspekt des Vertrages ist nicht minder bedrohlich: Beamte des einen Staates sollen mit Einwilligung eines anderen Staates Exekutivbefugnisse auf fremdem Territorium erhalten. Schon bei gemeinsamen Einsätzen zur Strafverfolgung bringt dies zahlreiche Schwierigkeiten durch das unterschiedliche Polizeirecht mit sich. Aber wie wird das erst bei Großereignissen? Von Beamten selbst begangene Straftaten werden in dem Land verfolgt, das Einsatzort war - faktisch wird dadurch der Rechtsschutz ausgehöhlt. Neuestes Beispiel für die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit war die Repression gegen den Protest zum NATO-Gipfel in Kehl und Straßbourg. Aus zahlreichen Berichten und eigener Anschauung wissen wir, dass dort auch mal Daten auf dem „kleinen Dienstweg“ übermittelt wurden. Wir wissen vom Einsatz deutscher Wasserwerfer auf französischem Boden. Durch den grenzüberschreitenden Charakter dieser Einsätze wird aber letztlich vernebelt, wer dafür die politische Verantwortung zu tragen hat. Auch hier gilt wieder: Was schon im Vertrag von Prüm falsch war, wird durch einen EURatsbeschluss nicht richtiger. Für uns bleibt es dabei: Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts entpuppt sich mit diesem EURatsbeschluss ein weiteres Mal als Raum ohne Grundrechte, ohne Datenschutz und ohne demokratische Kontrolle. Gegen diese Politik werden wir auch weiterhin unsere Stimme erheben!

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Was fast ewig lange währte, wird nun am Ende doch nicht besonders gut. Schon bald nachdem im Mai 2005 der Prümer Vertrag unterzeichnet wurde, wollte insbesondere die deutsche Bundesregierung ihn zum Teil des EU-Rechtsrahmens machen. Das hat nun aber wesentlich länger gedauert: langes Hin und Her, abwägen, neu ansetzen - fast so, wie man es von der Großen Koalition hierzulande kennt. Das Umsetzungsgesetz, das wir heute diskutieren, ist als solches nicht der großen Debatte wert: Es verändert die schon bestehenden Regelungen in der Bundesrepublik vor allem redaktionell. Überall, wo „Vertrag von Prüm“ stand, soll dann auch noch „Ratsbeschluss Prüm“ stehen. Insofern ändert sich an der deutschen Rechtslage nichts Bedeutendes. Aber dennoch sollte man an dieser Stelle noch einmal über die im Prümer Vertrag und nun auch im Ratsbeschluss Prüm enthaltenen Schwierigkeiten sprechen. Denn die darin liegenden Defizite und Probleme wirken sich durch dieses Umsetzungsgesetz ja nun direkt in Deutschland aus. Herzstück des Prümer Vertrages und des Ratsbeschlusses ist das Prinzip der Verfügbarkeit. Man könnte es kurz beschreiben als: alle Daten immer und überall. Im Ratsbeschluss geht es konkret um DNA-Profile, Fingerabdrücke und Kfz-Halterdaten. Das Verfügbarkeitsprinzip bedeutet, dass bei der Arbeit mit diesen Daten und der Weitergabe an Behörden anderer Länder ein Grundprinzip des Datenschutzes auf den Kopf gestellt wird. Bisher wurde davon ausgegangen, dass Daten nicht weitergegeben werden dürfen, und dann wurden begründete Ausnahmen von diesem grundsätzlichen Verbot ausgehandelt und die Bedingungen dafür definiert. Nun heißt die Regel: Es wird ausgetauscht, und die Nichtweitergabe ist zu begründen. Ein besonderes Problem bei der Anwendung des Verfügbarkeitsprinzips sind die unterschiedlichen Standards der Datenführung. Warum DNA oder ein Fingerabdruck in einer Datei gespeichert sind, ist in den Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt. Auch die Qualität der Daten ist unterschiedlich. Das kann durchaus zu fehlerhaften Treffern im sogenannten Hit-/No-hit-Verfahren führen - mit den entsprechenden Folgeproblemen. Auch nicht unbedenklich ist die vorgesehene Weitergabe von Daten zur Verhinderung terroristischer Straftaten. Diese kann der datenführende Staat nach eigenem Ermessen vornehmen. Er kann - und das ist auch richtig so - Nutzungsbegrenzungen mit übermitteln; das ist wichtig, weil sonst wegen der unterschiedlichen Sicherheitsarchitekturen in den Mitgliedstaaten die Grenzen zwischen Geheimdiensten und Polizei, wie wir sie kennen und wollen, nicht zu garantieren sind. Aber solche Beschränkungen müssen dann auch durchgängig gemacht werden, und sie müssen eingehalten werden. Das wird sehr schwer zu kontrollieren sein. Das alles wirft dringende Fragen nach dem Datenschutz auf. Denn wenn so weitgehend der gegenseitige Zugriff gestattet wird, wenn Daten in andere EU-Mitgliedstaaten weitergegeben werden, dann ist der Datenschutz nur schwer zu kontrollieren. Deshalb muss hier wirklich alles wasserdicht geregelt sein. Die entsprechenden Artikel des Ratsbeschlusses enthalten jeweils datenschutzrechtliche Regelungen. Aber es fehlt nach wie vor eine wirklich bindende und starke europäische Datenschutzregelung im Bereich der inneren Sicherheit. Es gibt den Rahmenbeschluss vom November 2008, aber der lässt auch erhebliche Lücken. Der Ratsbeschluss Prüm Zu Protokoll gegebene Reden sieht leider auch keine ausreichende Kontrolle des Austausches und Evaluierung des gesamten Systems durch unabhängige Beauftragte vor. Wegen dieser immer noch nicht bereinigten Defizite werden wir dem Umsetzungsgesetz nicht zustimmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12585 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da es keine anderweitigen Vorschläge zu geben scheint, ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 28: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Humanitäre Entschädigungslösung für mit HCV infizierte Hämophilieerkrankte schaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Entschädigungsregelung für durch Blutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen - Drucksachen 16/10879, 16/11685, 16/12515 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Kleiminger Zu Protokoll gegangen sind die Reden von Jens Spahn, Christian Kleiminger, Konrad Schily, Frank Spieth und Harald Terpe.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In der heutigen Debatte geht es um die abschließende Beratung der beiden Anträge zu einer Entschädigungsregelung für die durch Blutprodukte mit HCV infizierten Bluter. Es ist unbestritten, dass diese Infektionen ein schweres Schicksal für die Betroffenen darstellen. Sie und ihre Angehörigen hatten und haben eine große gesundheitliche und psychische Belastung zu tragen. Deshalb gilt ihnen unser Mitgefühl. Die vorliegenden Anträge enthalten aber keine neuen Ansätze. Mit der Wiederholung der seit langem bekannten Positionen ist niemandem geholfen. Die Hämophilen, die aufgrund ihrer Erkrankung regelmäßig auf die Gabe von Blutplasmaprodukten angewiesen sind, gehören zu der Gruppe, die am stärksten von den Infektionen mit dem Hepatitis-C-Virus in den 1980erJahren, die durch die Anwendung von Blutprodukten ausgelöst wurden, betroffen ist. Aber auch andere Patienten sind durch Blutprodukte mit dem HCV infiziert worden. Es bleibt festzuhalten, dass es weiterhin keinen Grund für eine staatliche Entschädigungsregelung gibt, wie sie nun in den vorliegenden Anträgen gefordert wird. Die dazu erforderliche Verletzung staatlicher Rechts- oder Prüfungsaufsichten liegt nicht vor. Eine staatliche Verantwortung für die HCV-Infektionen, die haftungsrechtlich relevant wäre oder die Verpflichtung zu einer Entschädigung auslösen würde, trifft die Bundesrepublik Deutschland nicht. Auch die Rechtsprechung kommt zum selben Ergebnis und hat in den bisherigen Verfahren die Entschädigungsansprüche gegen den Bund unter anderem aufgrund mangelnder Kausalitätsnachweise abgelehnt. Zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich bei dem Infektionsgeschehen um - so hart es ist - unvermeidbare Ereignisse. Schließlich ließ sich bis weit in die 80er-Jahre kein Verfahren finden, welches eine Infizierung von Blutprodukten mit HC-Viren vollständig ausschließen konnte. Ein Staatsversagen lässt sich auch deshalb nicht eindeutig feststellen. Auch die häufig angeführte sogenannte ALT-Testung und andere damals bekannte Verfahren waren nicht hinreichend spezifiziert, um eine sichere Aussage über die Durchseuchung mit HCV zu treffen. Darüber hinaus war die seit 1976 in Deutschland vorgeschriebene ALT-Testung ohne nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen bei Hämophilen, da diese Patientengruppe mit Plasmapräparaten behandelt wird, bei deren Herstellung Tausende Einzelspenden gepoolt werden. Der unvermeidliche HCV-Eintrag in Plasmapools basiert hauptsächlich auf chronisch HCV-infizierten Personen, die meist nur sporadisch ALT-Erhöhungen aufweisen. Erst durch den spezifischen Anti-HCV-Test konnten endlich die HCV-positiven Spenden identifiziert werden. Auch die häufig vorgenommene Bezugnahme in der Argumentation für eine Entschädigungsregelung auf die finanzielle Hilfe für die durch Blutprodukte HIV-infizierten Personen, wie sie auch in den vorliegenden Anträgen stattfindet, stiftet eher Verwirrung. Der vom Deutschen Bundestag eingesetzte 3. Untersuchungsausschuss „HIVInfektionen durch Blut und Blutprodukte“ in der 12. Legislaturperiode kam bezüglich der Infektionen mit HIV und HCV durch Blutprodukte zu unterschiedlichen Bewertungen. Er erhob die Forderung nach einer finanziellen Unterstützung für die durch Blutprodukte HIV-Infizierten, welche der Bund auch umgehend erfüllte. Eine Entschädigungsregelung oder humanitäre Hilfe für die durch Blutprodukte mit Hepatitiserregern infizierten Personen forderte er jedoch nicht. Insofern stellt sich die Sachlage bei den HIV-Infektionen anders da. Es wurde eindeutig eine seinerzeitige Verantwortung des Staates durch den Untersuchungsausschuss zugewiesen. Zudem ist eine HIV-Infektion trotz aller Fortschritte in der medizinischen Behandlung im Gegensatz zur HCV-Infektion noch immer in jedem Fall ein Todesurteil. Auch dies muss zu einer anderen Bewertung führen. Losgelöst von der Frage der Entschädigungsregelungen muss in jedem Falle sichergestellt sein, dass die HCV-Infizierten Zugang zu einer flächendeckenden, hochwertigen Versorgung haben. Dies ist bei uns in Deutschland auch der Fall. Immer wieder wird auch auf die Entschädigungsregelungen anderer Länder verwiesen. Solche Vergleiche müssen differenziert betrachtet werden, weisen doch andere Länder im Vergleich zur Bundesrepublik eine abweichende staatliche Verantwortung für das Gesundheitswesen und die Versorgung von Patienten auf. So sind Anbieter der Blutprodukte innerhalb Deutschlands weitgehend private Unternehmen oder Einrichtungen, welche nach der Rechtsverordnung der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich eigenverantwortlich handeln und zivil- und strafrechtlich verantwortlich sind. Auch die stationäre und ambulante Versorgung der Bevölkerung ist in der Bundesrepublik weitgehend nicht staatlich organisiert. Wenn überhaupt, kann für den Kreis der HCV-infizierten Personen nur eine soziale Entschädigungslösung in Betracht kommen. Diese setzte jedoch ein Engagement der beteiligten Unternehmen der pharmazeutischen Industrie, der Blutspendedienste sowie der Länder voraus. Die Bundesregierung hat sich wiederholt um eine gemeinsame Initiative für humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HCV-infizierte Personen bemüht, ist jedoch bisher auf Ablehnung gestoßen. Die Bundesregierung sollte diese Bemühungen fortsetzen und mit den genannten Partnern, darunter natürlich auch den betroffenen Patientenverbänden, weiter im Gespräch bleiben. Die vorliegenden Anträge lehnt die Fraktion der CDU/CSU hingegen ab.

Christian Kleiminger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In der heutigen Debatte befassen wir uns mit der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu einer von der Linken und den Grünen geforderten Entschädigungslösung für mit HCV infizierte Hämophilieerkrankte. Die beiden Anträge wurden im Ausschuss für Gesundheit und in den mitberatenden Ausschüssen mehrheitlich abgelehnt. Ich möchte die Sicht meiner Fraktion kurz begründen, allerdings bereits zu Beginn noch einmal ausdrücklich unterstreichen, dass das Schicksal der betroffenen Menschen sehr bedauerlich ist. Doch es handelt sich hier um eine menschlich schwierige und eben andererseits außerordentlich komplexe Materie, die in beiden Anträgen nur unzureichend gewürdigt wird. Die Anträge weisen insbesondere in ihren Begründungen unakzeptable Verkürzungen auf. Zudem werden sie der Vielschichtigkeit der mit einer Entschädigungsregelung verbundenen offenen Fragen und der Verantwortung gegenüber den Betroffenen nicht gerecht. So möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass es nicht gerecht wäre, die von Hepatitis-C betroffene Patientengruppe undifferenziert mit der HIV-infizierten Patientengruppe gleichzusetzen. Als diese Stiftung gegen den anfänglichen Widerstand auch der Pharmaindustrie eingerichtet wurde, war Aids bekanntermaßen noch eine in jedem Falle tödlich verlaufende Krankheit. Und nur deshalb konnten Bund und Länder, die Pharmaindustrie und die Blutspendedienste von der Unumgänglichkeit einer solchen Stiftung überzeugt werden. Zudem gibt es entgegen den Behauptungen der Fraktion Die Linke und auch der Grünen keinen hinreichenden Beleg dafür, dass im betreffenden Zeitraum in den 70er- und 80er-Jahren nach damaligem Kenntnisstand eine Infizierung mit HCV tatsächlich hätte verhindert werden können. Man macht man es sich deshalb zu einfach, die Problematik allein aus heutiger Sicht zu betrachten - mit den Kenntnissen und den Chancen der modernen Medizin. Auch wenn sich im Nachhinein herausgestellt hat, dass Präparate zur Verfügung gestanden hätten, ändert dies nichts daran, dass zum damaligen Zeitpunkt große Unsicherheiten bei den Beteiligten bestanden. Um es aber noch einmal zu betonen: Keiner möchte das Leid, das den Betroffenen durch eine Infizierung mit Hepatitis-C entstanden ist, leugnen: HCV ist eine - meist chronisch verlaufende - Krankheit, die auch zu schwerwiegenden Erkrankungen wie Leberzirrhosen oder auch Leberkarzinomen führen kann. Auch mich persönlich macht der Leidensweg einiger Erkrankter sehr betroffen. Deshalb haben wir uns ja auch in der Vergangenheit immer wieder in den verschiedensten Gremien mit der Materie befasst. Wir haben im Ausschuss mehrfach darüber gesprochen, wir haben die Betroffenen getroffen und mit ihnen die Problematik erörtert und wir haben versucht, Lösungen zu finden. Um die Leidtragenden mit ihrem Schicksal nicht allein zu lassen, haben wir in der Vergangenheit auch die Bemühungen der Bundesregierung für eine angemessene humanitäre Hilfe unterstützt. Aber alle bisherigen Bemühungen, zu einer gemeinsamen freiwilligen Regelung mit den Ländern, den pharmazeutischen Unternehmen und den Blutspendediensten zu kommen, scheiterten. Sie scheiterten an der Pharmaindustrie, am Roten Kreuz und nicht zuletzt an den Ländern, und das im Übrigen auch in der Zeit, in der die Grünen die Bundesgesundheitsministerin stellten. Nebenbei gesagt, ist mir auch nach gründlicher Recherche keine Initiative aus den Jahren bekannt, in denen die PDS die Verantwortung für das Gesundheitsressort in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern innehatte. Wir sollten deshalb den Betroffenen nicht immer wieder mit derartigen Anträgen Hoffnungen auf eine allein vom Bund getragene Entschädigungszahlung machen.

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP-Bundestagsfraktion bedauert sehr, dass es im Rahmen der lebensnotwendigen Therapie von überwiegend an Hämophilie erkrankten Patientinnen und Patienten durch die Anwendung von mit HCV-Viren verseuchtem Blut bzw. Blutprodukten zu HCV-Infektionen gekommen ist. Aus Anteilnahme an dem Schicksal der Betroffenen ist auch auf Betreiben der FDP wiederholt der Versuch unternommen worden, eine humanitäre Lösung zu finden. In Analogie zu dem HIV-Hilfefonds wurde zusammen mit pharmazeutischen Unternehmen, Blutspendediensten und Ländern eine einvernehmliche Lösung im Sinne der Betroffenen zu finden versucht. Dies ist jedoch nicht gelungen. Wir halten es weiterhin für relevant, darauf hinzuweisen, dass bis zum heutigen Tag kein Gerichtsurteil die Schuldhaftigkeit der Handlungen beweisen konnte. Zu Protokoll gegebene Reden Auch der Bund setzte sich immer wieder für eine Entschädigungslösung auf freiwilliger Basis ein, zu der es leider nicht gekommen ist. Die seinerzeit Verantwortlichen zeigten immer weniger Bereitschaft zu handeln, je länger die Ereignisse zurückliegen. Im Hinblick darauf, dass auch nicht zu erwarten ist, dass sich an dieser Haltung etwas ändert, werden mit dem Antrag falsche Hoffnungen geweckt. Insofern sind die beiden Anträge abzulehnen.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der HIV-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages hat im Jahre 1994 festgestellt, dass nicht nur die Arzneimittelhersteller, die Blutspendedienste und die Behandler, sondern auch die Bundesrepublik Deutschland verantwortlich dafür war, dass eine Gruppe von mehreren Tausend Blutern durch Blutprodukte mit HCV infiziert worden ist. Diese relativ kleine Gruppe, die durch diesen Medikamentenskandal mit dem Hepatitis-CVirus infiziert wurde, bekommt keinerlei Entschädigung für ihre Leiden. Die Bundesregierung und die Große Koalition drücken sich mit mehr oder minder irreführenden Erklärungen um Entschädigungsleistungen. Als wir im Februar in der ersten Lesung über diese Fragestellung debattiert haben, wurde uns unterstellt, dass unser Antrag - wie ein SPD-Redner mutmaßte „dem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet“ sei. Einen größeren Unsinn kann man nicht behaupten. Für Wahlkämpfe gibt es deutlich geeignetere Themen. Ein Kollege der FDP meinte, dass unser Antrag „falsche Hoffnungen“ wecke. Wir wollen keine falschen Hoffnungen wecken. Die Linke will, dass den Betroffenen, wie es weltweit auch geregelt wurde, endlich geholfen wird. Wir wecken keine falschen Hoffnungen, ganz im Gegenteil. Sie schaffen durch Ihre ablehnende Haltung große Enttäuschung bei den Betroffenen. Die Linke will, dass den Betroffenen endlich Gerechtigkeit widerfährt und eine Entschädigungsregelung beschlossen wird. Wenn behauptet wird, dass die Erkenntnisse aus dem Untersuchungsausschuss uns zu falschen Schlussfolgerungen führten, sei den Kritikern das Studium der Ergebnisse empfohlen. Ein Kollege von der CDU sagte in der Debatte, die Infektionen seien zum damaligen Zeitpunkt unvermeidlich gewesen. Erst sehr viel später habe man den Erreger, das Hepatitis-C-Virus, mit verbesserten technischen Möglichkeiten zweifelsfrei identifizieren können. Hier werden einige wichtige Tatsachen verdreht: Seit den 1970er-Jahren war die Infektionsgefahr bekannt. Ende der 1970er-Jahre wurden Verfahren erforscht, die eine Infektion durch Blutprodukte nahezu ausschließen konnten. Diese Verfahren funktionieren unabhängig davon, ob man das Virus kennt, weil sie gegen alle Viren wirken. Richtig ist, dass genau deshalb die mit dem alten Verfahren hergestellten Blutprodukte seit Ende 1983 nicht mehr in Verkehr hätten gebracht werden dürfen. Grundlage dafür war § 5 des Arzneimittelgesetzes. Dennoch wurden die Medikamente zum Teil bis 1987 weiter verabreicht. Ich bin wie der Untersuchungsausschuss der Auffassung, dass hier ein Versagen des Bundesgesundheitsamtes vorliegt. Auch der damalige Bundesgesundheitsminister und heutige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sah das damals offenbar so: Wie in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 28. Januar 1994 nachzulesen ist, war für Herrn Seehofer dieser Medikamentenskandal sogar der Anlass, das Bundesgesundheitsamt aufzulösen. Die Betroffenen müssen in mühsamen Prozessen versuchen, zu ihrem Recht zu kommen. Aktuell wird in den USA ein internationaler Prozess geführt, an dem auch etwa 60 bis 70 deutsche Opfer beteiligt sind. Es sieht derzeit so aus, dass sich die Pharmaindustrie außergerichtlich zu Zahlungen bereiterklären könnte - ein möglicher Erfolg, aber immerhin erst ein Vierteljahrhundert nach den Infektionen. Und was bedauerlich ist: in Deutschland weiterhin Fehlanzeige! Ich kann die Haltung der Bundesregierung und der Koalition nicht nachvollziehen: Selbst wenn man der Auffassung ist, dass im rechtlichen Sinn keine eindeutige Schuld bei den Beteiligten vorliegt, und in dieser Frage eine andere Auffassung vertritt als der damalige Untersuchungsausschuss, muss man doch fragen, warum keine Entschädigungslösung ermöglicht wird. Andere Staaten waren in der Lage, das zu regeln. In denselben Blutprodukten steckte oft auch das AidsVirus. Für die Personengruppe, die sich mit HIV infizierte, wurde 1995 - wie ich finde, vollkommen zu Recht - das HIV-Hilfegesetz verabschiedet. Die Ansteckung mit Aids hätte sich durch die veränderten Herstellungsverfahren genauso vermeiden lassen können wie die Hepatitis-CInfektionen. Was macht also den Unterschied aus? Der Unterschied bestand ganz offenkundig darin, dass davon ausgegangen wurde, dass es gegen Aids keine Behandlungsmöglichkeiten gibt und diese Krankheit tödlich ist. Aids ist auch noch heute tödlich, allerdings hat sich durch die Behandlung die Lebenserwartung deutlich vergrößert. Für die Hepatitis-C-Infektionen gilt das im Grunde genommen auch. Im Vergleich zu Aids gibt es aber einen deutlichen Unterschied: Hepatis C ist nicht im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Mittlerweile weiß man, dass auch diese Krankheit die Lebenserwartung um 15 bis 18 Jahre verringert und die verbleibende Lebenszeit zudem durch die Erkrankung in ihrer Qualität stark beeinträchtigt ist. Deshalb fordert die Linke, ob nun ein Staatsverschulden vorliegt oder nicht, endlich auch dieser Betroffenengruppe eine Entschädigungsregelung zukommen zu lassen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vor 25 Jahren haben sich durch verseuchte Blutprodukte viele Menschen mit dem HIV-Virus infiziert. Sie wurden dafür mit finanzieller Beteiligung des Staates entschädigt, weil im Ergebnis der Erkenntnisse eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses die Mehrheit des Deutschen Bundestages die politische Verantwortung für Versäumnisse des Bundesgesundheitsamtes übernommen hatte. Vor 25 Jahren haben sich durch gleichartige verseuchte Blutprodukte aber auch viele Menschen mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert. Sie wurden bisher dafür nicht entschädigt, obwohl der genannte Untersuchungsausschuss bezüglich der mit HCV verseuchten Blutprodukte dieselben Versäumnisse wie im Falle der mit HIV Zu Protokoll gegebene Reden verseuchten Produkte festgestellt hatte. Und dennoch verweigern das Bundesgesundheitsministerium, Union, SPD und FDP diesen Menschen eine Entschädigung. Und schlimmer noch: Sie behaupten, die Infektionen seien ein unvermeidbares Ereignis gewesen. Man muss das so klar sagen: Das entspricht nicht der Wahrheit. Im Bericht des Untersuchungsausschusses von 1995, den auch SPD und Union damals beschlossen haben, steht wörtlich das Gegenteil: Das Fehlen jeglicher Reaktionen seitens des Bundesgesundheitsamtes auf die Gefahr der Hepatitisinfektionen muss als Versäumnis und folglich als Amtspflichtverletzung gewertet werden. Seit spätestens Anfang der 70er-Jahre wusste das Bundesgesundheitsamt von der Gefahr, dass eine virale ({0})Hepatitis durch infizierte Blutspenden und Blutprodukte übertragen werden konnte. Spätestens ab 1981 standen alternativ virusinaktivierte Präparate zur Verfügung, bei denen eine solche Gefahr nicht bestand. Dennoch wurden bis 1985 auch weiterhin nicht inaktivierte Produkte zugelassen, obwohl beispielsweise Faktor-VIIIHochkonzentrate spätestens ab 1983 als bedenkliche Arzneimittel hätten eingestuft und ihre Verkehrsfähigkeit verlieren müssen. Erst 1990 mussten alle nicht inaktivierten Produkte aus dem Verkehr gezogen wurden. Das Bundesgesundheitsamt ist damals auf dieses Risiko wiederholt hingewiesen worden. Dennoch verharrte es in seiner Untätigkeit - fast wie jetzt die Bundesregierung im Hinblick auf die Schaffung einer angemessenen Entschädigungsregelung. Das Bundesgesundheitsamt hat es damals weder für notwendig erachtet, die Zulassung solcher Risikoprodukte zu widerrufen oder ruhen zu lassen, noch die Auflage zu erteilen, derartige Produkte zukünftig nur noch nach einer Inaktivierung auf den Markt zu bringen. In diesem Zusammenhang ist es auch völlig unerheblich, ob damals bereits ein entsprechender Antikörpertest zur Verfügung stand oder nicht. Zu Recht hat der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids diese Untätigkeit auch im Falle der Infektionen mit Hepatitis C als schuldhafte Amtspflichtverletzung gewertet. Die Entschädigung der Menschen, die in diesem Zeitraum infiziert wurden, ist dringend notwendig. Das Leid, das diese Menschen durch ihre Infektion erfahren haben, kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber angesichts der bislang von der Bundesregierung, von Union, SPD und FDP gezeigten Verweigerungshaltung wäre der Einsatz für eine solche Entschädigung auch und in erster Linie ein Zeichen politischer Reife, weil sie die staatliche Mitverantwortung für das Geschehene nicht mehr kategorisch leugnet - und ein überfälliger Ausdruck des Bedauerns. Der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids hat 1995 klare Versäumnisse des damaligen Bundesgesundheitsamtes festgestellt. Auf dieser Grundlage wurde eine Entschädigungsregelung für diejenigen Menschen geschaffen, die sich durch verseuchte Blutprodukte mit HIV infiziert hatten. Ursache dieser Infektionen waren exakt dieselben Versäumnisse, die zur Infektion der Hämophilieerkrankten mit Hepatitis C führten. Es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung die Erkenntnisse dieses parlamentarischen Untersuchungsausschusses ignoriert. Und es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung seit Jahren versucht, statt eine gerechte Entschädigungslösung zu schaffen, den Sachverhalt immer weiter zu vernebeln. Es ist vor allem aber eine Ungeheuerlichkeit, wie die Bundesregierung Tatsachen leugnet und diesen Menschen Gerechtigkeit verwehrt. Fiskalische Erwägungen vermögen dieses sture Beharren nicht zu erklären ebenso wenig wie die Angst vor weiteren juristischen Auseinandersetzungen. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass es hier in erster Linie um einen verzweifelten Versuch der Gesichtswahrung handelt, die ein vor 25 Jahren stattgefundenes staatliches Versagen einfach negieren will. Verlierer sind dabei die Betroffenen. Es ist an der Zeit, eine gerechte Entschädigungsregelung zu schaffen und dabei alle damals beteiligten Akteure - den Bund, die Länder, pharmazeutische Unternehmen und Blutspendedienste - mit einzubeziehen. Ein Vorbild gibt es dafür bereits: das 1995 beschlossene HIV-Hilfegesetz. Ich fordere daher die Bundesregierung und die Fraktionen von Union, SPD und FDP auf, endlich die Tatsachen zu akzeptieren und sich schnellstmöglich für eine humanitäre Entschädigung der Erkrankten einzusetzen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 16/12515. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10879 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Dagegengestimmt hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11685 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und FDP angenommen. Enthalten hat sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und die Fraktion Die Linke hat dagegengestimmt. Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 16/12596 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Hier liegen die Reden der Kolleginnen und Kollegen Peter Rauen, Wolfgang Grotthaus, Heinrich Kolb, Katja Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Kipping, Markus Kurth und des Parlamentarischen Staatssekretärs Klaus Brandner vor.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute ist ein wirklich guter Tag für die Bauwirtschaft aber auch für die Wirtschaft im Allgemeinen. Mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf wird die 2002 von Rot-Grün in der Bauwirtschaft eingeführte Generalunternehmerhaftung endlich von dem Ballast quälender Bürokratie befreit. Verwaltungsintensive und uneinheitliche Regelungen werden beseitigt. Dies bringt Erleichterung für viele Baubetriebe und deren Beschäftigte und sollte zugleich Vorbild für andere Branchen sein, wenn es um Vereinfachung von Strukturen und Verwaltungswegen geht. Lediglich eine Unstimmigkeit bezüglich der Gleichbehandlung von kleinen und größeren Unternehmen müssen wir im Gesetzesverfahren noch etwas präziser regeln. Darauf werde ich aber später noch genauer eingehen. Konkret werden wir im Baugewerbe die haftungsrechtliche Entlastung für den Generalunternehmer vorrangig durch Präqualifizierung im vereinfachten Verfahren einführen, die Generalunternehmerhaftung für die gesamte Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung vereinheitlichen und die Mindestgrenze für das Eingreifen der Haftung auf ein Gesamtbauvolumen von 275 000 Euro senken. Die von uns vorgelegte Einbeziehung des Präqualifikationsverfahrens in die Generalunternehmerhaftung wird zu einer deutlichen Vereinfachung und zu einem massiven Abbau von Verwaltungslasten für die Bauwirtschaft in Deutschland führen; denn seit 2002 muss ein Generalunternehmer für die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge durch einen von ihm mit der Erbringung von Bauleistungen beauftragten Nachunternehmer geradestehen. Zahlt dieser Nachunternehmer seine Sozialversicherungsbeiträge nicht, haftet der Hauptunternehmer, sofern er nicht nachweist, dass er von der Erfüllung der Zahlungspflicht eines Nachunternehmers ausgehen konnte. Dieser Nachweis erfolgt derzeit noch durch sogenannte Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die die Unternehmer bei den Sozialversicherungsträgern mehrmals im Jahr für alle Arbeitnehmer beantragen müssen. Dieses Verfahren verursacht Bürokratiekosten in Höhe von rund 11 Millionen Euro pro Jahr. Künftig jedoch entfällt die Generalunternehmerhaftung nicht nur bei der Vorlage von Unbedenklichkeitsbescheinigungen, sondern auch dann, wenn präqualifizierte Bauunternehmen eingesetzt werden. Das bedeutet, dass ein Betrieb bereits eine Präqualifikation im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge nach § 8 der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil A zertifiziert hat, VOB/A. Dabei wird überprüft, ob ein Betrieb für die öffentliche Vergabe nach der VOB geeignet ist. Der Nachweis der Präqualifikation reicht also zukünftig aus, um für den Generalunternehmer in der Haftung Rechtssicherheit zu schaffen und gleichsam seiner sozialen Verantwortung nachzukommen. Zudem ist die Präqualifikation schnell und unproblematisch über Internet abrufbar. Letztlich wird das ursprünglich nur für das Vergaberecht gedachte Präqualifikationsverfahren mit der Generalunternehmerhaftung verknüpft und führt so zu einer Entlastung vieler Baubetriebe. Doch wie war es zuvor? Von der Einführung der Generalunternehmerhaftung im August 2002 bis Ende 2008 gab es insgesamt 34 Fälle, in denen die Generalunternehmerhaftung geltend gemacht wurde. In neun Fällen sind die erlassenen Haftungsbescheide rechtskräftig geworden. Die Summe der daraus resultierenden Gesamtversicherungsbeträge belief sich auf rund 213 000 Euro, wovon ein Drittel tatsächlich realisiert werden konnte. So der Bericht der Bundesregierung vom Dezember 2008. Die Zahlen sprechen für sich, nämlich zum einen für eine durchaus funktionierende Selbstkontrolle der Bauwirtschaft, zum anderen vor allem aber für eine spürbare Präventionswirkung dieser Maßnahme. Dennoch: Mit diesen knappen Daten allein war der auftretende Verwaltungsaufwand bei den Unternehmen der Bauwirtschaft nicht zu rechtfertigen. Das gesteht sogar der erste Bericht der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung an die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes über die Erfahrungen mit entsprechenden Regelungen des Sozialgesetzbuches ein, Bundestagsdrucksache 15/4599. Zwar ist mit den genannten Zahlen kaum belegbar, in welchem Umfang die Haftung der Hauptunternehmer zur Beitragsehrlichkeit in der gesetzlichen Sozialversicherung und damit zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung beitrug, die Erfahrungen zeigen jedoch, dass Hauptunternehmer positiv beeinflusst wurden, Nachunternehmer einzusetzen, die in der Vergangenheit ihren Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Sozialversicherungsträgern nachgekommen sind. Es ist zumindest offensichtlich, dass die bestehende Regelung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung entgegenwirkt. Insofern ist es keineswegs unser Ziel, die Generalunternehmerhaftung zu unterlaufen, sondern vielmehr durch Struktur- und Verwaltungsvereinfachung die positive Wirkung weitgreifend zu optimieren; denn diejenigen Stimmen, die die völlige Abschaffung der Generalunternehmerhaftung fordern, sind nicht zielführend. Schließlich hat jeder Unternehmer, der zu seinen eigenen Gunsten einen Subunternehmer einstellt, auch eine subsidiäre Verantwortung für dessen Arbeitnehmer. Es darf dem Generalunternehmer auch keinesfalls egal sein, ob die nachgeordneten Arbeitnehmer ihr Geld bekommen und sozial abgesichert sind oder nicht. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass legal arbeitende Unternehmen es im Lohn- und Preiskampf gegenüber illegal agierenden Firmen sehr schwer haben. Aber gerade deshalb sollte es im eigenen Interesse legaler Arbeitgeber liegen, dass die Haftung des Hauptunternehmers durchgreift. Erst wenn die Haftungskette Bauherr-GeneralunternehmerNachunternehmer etc. funktioniert, ist eine faire Preisgestaltung im Bieterverfahren möglich. Weitere Rechtsklarheit bietet zudem die Generalunternehmerhaftung gemäß Arbeitnehmer-Entsendegesetz, nach dem ein Bauunternehmer auch für tarifliche Lohnzahlungen des Subunternehmers gerade stehen muss, AentG § 1 a. Ein Arbeitnehmer des Subunternehmers hat somit seinen tariflichen Mindestlohnanspruch beim Generalunternehmer. Kurzum: Wenn die Haftung des Generalunternehmers wegfiele, dann könnte es diesem egal sein, wen er als Subunternehmer beauftragt. Er würde auch nicht Zu Protokoll gegebene Reden darauf achten, ob das einer ist, der Schwarzarbeit organisiert. Dass wir hier nicht von Nebenschauplätzen der Bauwirtschaft reden, zeigen uns die vorhandenen Daten: Das Baugewerbe hatte 2007 mit circa 1,87 Millionen abhängig Beschäftigten ein Bauvolumen von insgesamt circa 166 Milliarden Euro. Es setzt sich zusammen aus dem Bauhauptgewerbe mit 74 765 Unternehmen und circa 714 000 Beschäftigten und dem Ausbaugewerbe mit circa 255 000 Betrieben und circa 1,15 Millionen Beschäftigten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes über die Anzahl von Bauvorhaben, die von Generalunternehmern durchgeführt werden, bewerben sich jährlich rund 76 000 Baubetriebe im Schnitt viermal im Jahr um einen Auftrag. Jährlich werden - auch für andere Zwecke - etwa 2,15 Millionen Unbedenklichkeitserklärungen erstellt. Und hierin liegt eine gewisse Schwierigkeit. Wohlgemerkt: Nicht die schwarzen Schafe werden veröffentlicht, sondern jeder Bauunternehmer muss sich dem Zertifizierungsverfahren unterziehen oder vierteljährlich Unbedenklichkeitserklärungen einholen, um zu den weißen Schafen gerechnet zu werden. Die Präqualifikation kostet bei der erstmaligen Registrierung Gebühren von rund 450 Euro und für die jährliche Aufrechterhaltung Gebühren von anschließend circa 350 bis 400 Euro. Sie bietet den Vorteil, dass sich die Unternehmen unter Hinweis auf die zertifizierte Zulassungsbescheinigung unbegrenzt bewerben können. Wer dieses Verfahren als Bauunternehmer zum Beispiel für öffentliche Aufträge benutzt, hat somit keine weiteren Kosten. Bei Vorlage einer Unbedenklichkeitsbestätigung anstelle einer Präqualifizierung entstehen zwar keine Kosten; diese muss jedoch für jede einzelne Bewerbung erneut angefordert werden, was einen weitaus größeren Verwaltungsaufwand bedeutet. Für Betriebe, die sich gewohnheitsgemäß um öffentliche Aufträge bemühen, ist diese Situation von großem Vorteil. Im Nachteil sind allerdings vor allem kleine Betriebe aus den Ausbauhandwerken, die sich selten um öffentliche Aufträge bemühen, da sie zumeist privat beauftragt sind. Sie müssen - im Nachteil zu den automatisch präqualifizierten Betrieben - immer wieder neue Unbedenklichkeitsbescheinigungen heranschaffen, wenn sie als Subunternehmer tätig werden wollen. Im Maler- und Lackiererhandwerk haben sich beispielsweise von den circa 40 000 bestehenden Betrieben aufgrund der hohen Kosten, die anfallen, erst 100 präqualifizieren lassen. Hier besteht nach meiner Auffassung noch Bedarf, eine sinnvolle Regelung im Rahmen des kommenden Gesetzgebungsverfahrens zu erarbeiten und im Gesetz zu implementieren.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit der Einbringung dieses Gesetzentwurfes beabsichtigt die Bundesregierung die Einführung einer Präqualifikation im Rahmen der Generalunternehmerhaftung. Dieses Vorhaben wird von meiner Fraktion sehr begrüßt, da dadurch nicht nur ein eindeutiger und rechtssicherer Nachweis für die einfache und damit unbürokratische Überprüfung der Nachunternehmer und etwaig beauftragter Verleiher ermöglicht wird. Die Handhabung des Präqualifikationsverfahrens hat den Vorteil, dass es in einer allgemein zugänglichen Internetliste aufgeführt wird und so die Unternehmen bundesweit ihre Eignung nachweisen können. Ergänzend zu der Einführung der Präqualifikation sollen auch die unterschiedlichen Haftungsgrenzen in der Unfallversicherung und in den übrigen Zweigen der Sozialversicherung vereinheitlicht werden. Auch diese Regelung ist begrüßenswert. Besonders hervorzuheben ist, dass diese Regelung auf die Zustimmung der Spitzenverbände der Bauwirtschaft und der IGBau stoßen. Übergangsregelung zur Beitragshaftung und Regelung zur Gleitzone sind in diesem Gesetz ebenfalls sichergestellt. Da es sich um ein sogenanntes Omnibusgesetz handelt, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass auch die weiteren von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzesänderungen bzw. redaktionellen Änderungen auf unsere Zustimmung stoßen. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die Erweiterung des Unfallversicherungsschutzes für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Freiwilligendienstes „weltwärts“. Mit diesen Maßnahmen wird das besondere Engagement der jungen Menschen, das sich in der Übernahme eines solchen Dienstes zeigt, anerkannt und sie erfahren damit den Schutz der Solidargemeinschaft. Insgesamt handelt es sich um einen Gesetzentwurf, den wir positiv begleiten werden, in den wir aber auch als Koalition noch einige aus unserer Sicht geringfügige Änderungen von bestehenden Gesetzen einbringen werden.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie mich zunächst feststellen: Es ist schon bemerkenswert, was der Bundeswirtschaftsminister als „wesentlichen Schritt zum Bürokratieabbau“ ankündigt. Da soll die Generalunternehmerhaftung durch die Herabsetzung der Mindestgrenzen auf unzählige kleine und mittelständische deutsche Baubetriebe ausgedehnt werden; und die Bundesregierung verkauft es als Wohltat für die Betriebe. Die FDP hat die Generalunternehmerhaftung schon bei ihrer Einführung - im Jahr 2002 im Rahmen des Gesetzes zur Erleichterung der Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit - abgelehnt; denn schon damals war absehbar, dass der bürokratische und finanzielle Aufwand der Regelung in keinem Verhältnis zum Nutzen - der Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung - steht. Auch mit dem aktuellen Gesetzesvorschlag wird keine Abhilfe geschaffen: Denn unter den Schlagworten „Vereinheitlichung“ und „Vereinfachung“ der Generalunternehmerhaftung verbirgt sich eine Ausweitung und Verschärfung der Haftung. Besonders augenscheinlich wird dies durch die vorgeschlagene Senkung der Haftungsgrenze für die Generalunternehmerhaftung von derzeit 500 000 Euro auf 275 000 Euro pro Gesamtbauvolumen. Damit werden nunmehr auch diejenigen Baubetriebe von der Regelung erfasst, deren Aufträge sich im Rahmen eines Gesamtbauvolumens unterhalb von 500 000 Euro bewegen. Bisher entstehen den Betrieben des Baugewerbes und den Einzugsstellen insgesamt Kosten von circa 70 Millionen Euro im Zu Protokoll gegebene Reden Jahr. Die Einzugsstellen selber teilen mit, dass der Verwaltungsaufwand bei der Prüfung, ob eine Generalunternehmerhaftung in Betracht kommt, erheblich, teilweise sogar „immens“ sei. Gleichzeitig gab es bis Ende 2008 insgesamt 34 Fälle, in denen die Generalunternehmerhaftung geltend gemacht wurde. Dabei belief sich die Summe der aufgrund der Generalunternehmerhaftung angeforderten Sozialversicherungsbeiträge auf rund 213 000 Euro, wovon ein Drittel tatsächlich realisiert werden konnte. Das Missverhältnis zwischen Aufwand und Nutzen der Haftungsregelung könnte größer nicht sein! Die FDP wird den aktuellen Entwurf der Bundesregierung allein schon aus diesen Gründen ablehnen. Dabei sieht die FDP sehr wohl, dass der Gesetzentwurf auch einige tatsächliche Verbesserungen gegenüber der geltenden Rechtslage - beispielsweise bei den Entlastungsmöglichkeiten der Betriebe - beinhaltet. Dies sind jedoch lediglich Korrekturen an einem von vornherein falschen Regulierungsansatz. Die FDP bleibt deshalb dabei: Die Generalunternehmerhaftung ist eine Gängelung der Betriebe ohne erkennbaren Nutzen weder für die Sozialkassen noch für die Betriebe und die Arbeitnehmer. Sie belastet die Unternehmen in Millionenhöhe und zeigt einmal mehr, dass der Staat allzu oft dort in die Wirtschaft eingreift, wo er sich besser zurückhielte, während er an anderen Stellen wegschaut oder durch mangelnden Sachverstand erheblichen Schaden anrichtet. Für die FDP sage ich: Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind nicht hinnehmbar und müssen bekämpft werden. Ich sage für die FDP-Fraktion aber genauso klar: Die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen ändern nichts daran, dass die Generalunternehmerhaftung insgesamt ineffektiv, zu bürokratisch, zu teuer und sogar dazu angetan ist, reguläre Arbeitsplätze zu vernichten. Es ist nicht zielführend, die Unternehmer unter einen Generalverdacht zu stellen und den ehrlichen Unternehmen zusätzliche bürokratische Belastungen aufzuerlegen, um die schwarzen Schafe zu bekämpfen. Dadurch werden die seriösen Firmen mit zusätzlichen Kosten belastet. Die Bundesregierung sollte aufhören, Vorschläge zu erarbeiten, um die Generalunternehmerhaftung zu retten. Sie sollte sie abschaffen. Anstatt an den Symptomen herumzukurieren, muss man das Übel an der Wurzel bekämpfen. Wir brauchen effektive und unbürokratische Maßnahmen, um illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit und Lohndumping zu verhindern. Das wirksamste Mittel ist die Senkung der Lohnnebenkosten und Zurückhaltung bei der Mehrwertsteuer. Das hilft letztlich Unternehmen und Arbeitnehmern am besten. Hierfür hat die große Koalition in mehr als drei Jahren schwarz-roter Regierungsverantwortung in der Summe nichts bewirkt. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie diesen brauchen die Betriebe andere politische Signale als diese. Die FDP Bundestagsfraktion lehnt den Gesetzentwurf ab.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht - neben verschiedenen anderen Regelungen - vor allem eine einheitliche und vereinfachte Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft sowie endlich auch die Einbeziehung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ in die gesetzliche Unfallversicherung vor. Vor allem die Ausweitung des Unfallversicherungsschutzes auf die mittlerweile mehr als 10 000 jungen Menschen, die nun seit mehr als einem Jahr freiwillige Hilfe im Ausland leisten, begrüße ich sehr. Bislang konnten sich die Teilnehmenden dieses vom Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit ins Leben gerufenen Programms lediglich privatrechtlich versichern. Mit dem aktuellen Entwurf werden sie unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung mit Zuständigkeit der Unfallkasse des Bundes gestellt. Prinzipiell befürwortet meine Fraktion auch den zweiten zentralen Punkt, die Neugestaltung der Generalunternehmerhaftung, den Drucksache 16/12596 regeln möchte. Die Generalunternehmerhaftung ist 2002 eingeführt worden, um Schwarzarbeit zu vermeiden. Mit dieser Art von Haftung sind Generalunternehmer in der Pflicht, wenn die Nachunternehmen ihren sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten nicht ordnungsgemäß nachkommen. Das vorliegende Gesetz will das Verfahren nun verändern, laut Bundesregierung vereinfachen. Erreicht werden soll das dadurch, dass die Generalunternehmerhaftung für die gesamte Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung vereinheitlicht wird. Die vorgesehene Absenkung der Haftungsgrenze von 500 000 Euro auf 275 000 Euro erweitert die Reichweite der Generalunternehmerhaftung und kann auch eine präventive Wirkung entfalten. Hauptunternehmer werden von vornherein dazu veranlasst, nur Nachunternehmer einzubinden, die in der Vergangenheit ihren Zahlungsverpflichtungen nachgekommen sind. Eine haftungsrechtliche Entlastung wird in Zukunft nur noch über den Weg der Präqualifikation möglich sein, das heißt, Subunternehmer können sich einer Zertifizierung unterziehen. Die Liste mit den präqualifizierten Bauunternehmen kann dann im Internet eingesehen werden. Diese Präqualifikation der Subunternehmer entlastet den Generalunternehmer. Diese Vorhaben sind durchaus positiv zu bewerten. Kritisieren muss ich aber an dieser Stelle, dass die Regelungen im Gesetzentwurf in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt sind. Meine Fraktion hat schon im Antrag „Verstöße gegen den Mindestlohn im Baugewerbe wirksam bekämpfen“ mit der Drucksachennummer 16/9594 einen Ausbau der Generalunternehmerhaftung gefordert und auf ihre strikte Anwendung gedrängt. Wir wollen, dass die Generalunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge, die in § 28 Abs. 3 des Vierten Sozialgesetzbuches geregelt wird, mit der Generalunternehmerhaftung für die Zahlung der Mindestentgelte nach § 1a Arbeitnehmerentsendegesetz harmonisiert wird. Dazu gehört eine komplette Abschaffung der Bagatellgrenze. Ebenso darf die Möglichkeit der Exkulpation, also einer Befreiung von der - subsidiären Haftungspflicht, in Anlehnung an § 1a Arbeitnehmerentsendegesetz nicht mehr möglich sein. Zwar wird uns die Bauwirtschaft wieder mit Klagen über den - nach ihrer Meinung - unzumutbaren Verwaltungsaufwand für die Betriebe, der mit dem Exkulpationsverfahren mittels Unbedenklichkeitsbescheinigung verbunden ist, in den Ohren liegen. Allerdings wird dieser Aufwand spätestens Zu Protokoll gegebene Reden 2011 durch die Einrichtung von Weiterleitungsstellen erheblich geringer werden. Das eröffnet den Betrieben die Möglichkeit, nur noch mit einer Stelle zu kommunizieren. Bislang müssen sie sich noch regelmäßig mit mehreren Krankenkassen verständigen. In diesem Zusammenhang wäre auch noch zu klären, inwieweit die Zuständigkeit für die Geltendmachung der Generalunternehmung von den Krankenkassen auf die Deutsche Rentenversicherung übertragen werden sollte. Die IG Bau als zuständige Interessenvertretung fordert das seit längerem. Die Krankenkassen stehen untereinander im Wettbewerb, sodass die Annahme nicht von der Hand zu weisen ist, dass die Rentenversicherung in diesem Fall die zuverlässigere Kontrollinstanz wäre. Unser Vorschlag einer Ausweitung der Generalunternehmerhaftung auf alle beteiligten Subunternehmer stellt ebenfalls eine sinnvolle Ergänzung des vorliegenden Gesetzentwurfs dar. Dadurch bleibt die Haftung nicht mehr auf die nächste Ebene der Subunternehmerkette beschränkt. Heute stehen noch viele Möglichkeiten einer Haftungsvermeidung offen. Gerade die Einschaltung von „Zwischenhändlern“, die nicht der Baubranche angehören und im Ernstfall nicht auffindbar oder ohne zu verwertendes Vermögen sind, stellt heute einen beliebten Weg dar, sich billig aus der Affäre zu ziehen. Diese Schlupflöcher werden nun geschlossen oder zumindest deutlich verbaut. Besonders die Bundesregierung - als Einreicherin des vorliegenden Gesetzentwurfes - ist aber noch die Antwort auf die Frage schuldig, wer das Haftungsrisiko in den Fällen trägt, in denen eine Präqualifikation der Subunternehmen erfolgt ist, die Sozialversicherungsbeiträge von den Subunternehmen aber dennoch nicht abgeführt werden. Ich hoffe, die Diskussion bringt uns auch darüber Klarheit.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Illegale Beschäftigung schädigt die Wirtschaft in erheblichem Maße. Noch unter der rot-grünen Bundesregierung haben wir im Jahr 2002 gesetzlich festgeschrieben, dass Unternehmen im Baubereich für die Sozialversicherungsbeiträge der Beschäftigten in Subunternehmen haftbar gemacht werden. Diese sogenannte Generalunternehmerhaftung kommt nur dann zur Geltung, wenn der Generalunternehmer seiner Sorgfaltspflicht unzureichend nachgekommen ist. Dies ist bislang dann der Fall, wenn das Unternehmen im Vorfeld nicht überprüft hat, ob ein Subunternehmen bei den Lohnkosten die Sozialversicherungsbeiträge zutreffend kalkuliert hat. Zu seinem Schutz kann der Generalunternehmer ferner die regelmäßige Vorlage der Beitragsnachweise durch Sub- und Leihunternehmer vereinbaren oder sich deren vorschriftsmäßiges Verhalten schriftlich zusichern lassen. In der Praxis haben sich diese Regelungen als recht kompliziert gezeigt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung möchte die Möglichkeiten für den Generalunternehmer, sich von der Haftung zu entlasten, vereinfachen. So soll die haftungsrechtliche Entlastung vorrangig nur noch im Wege der sogenannten Präqualifikation geschehen. Somit können Unternehmen in einer allgemein zugänglichen Internetliste sehen, welche Bauunternehmen ihre Eignung bundesweit nachgewiesen haben. Wir begrüßen diesen Ansatz der Bundesregierung. Ob das Instrument der Präqualifikation das einzig sinnvolle bleibt - mit Ausnahme der Unbedenklichkeitsbescheinigung für den Übergang -, werden wir in den Ausschussberatungen evaluieren. Der Gesetzentwurf sieht zudem eine sozialversicherungsübergreifende Vereinheitlichung der Regeln vor. So wird die Generalunternehmerhaftung auf die gesetzliche Unfallversicherung ausgedehnt. Auch dies halten wir für geboten. Bündnis 90/Die Grünen begrüßen ferner die Absenkung der Mindestgrenze für das Eingreifen der Haftung auf 250 000 Euro je Gesamtbauvolumen. Die Absenkung von derzeit 500 000 Euro hat zur Folge, dass künftig mehr Unternehmen für ihre Subunternehmer haftbar gemacht werden. Der Gesetzentwurf sieht neben den haftungsrechtlichen Fragen vor, den Unfallversicherungsschutz auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ auszuweiten. Diese Änderung ist im Sinne der Betroffenen zu begrüßen; denn schon zu rot-grünen Zeiten haben wir den Versicherungsschutz in der Unfallversicherung auf freiwillig Engagierte im Inland ausgeweitet. Dass nun auch Menschen, die während ihres freiwilligen Einsatzes im Ausland besonderen Gefahren ausgesetzt sind, den Schutz erhalten, ist eine konsequente Fortentwicklung dieses Ansatzes.

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Wenn zu später Stunde ein mehr technisch anmutender Gesetzentwurf wie das Dritte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze aufgerufen wird, ist es schwierig, einen solchen Entwurf noch spannend darzustellen. Dabei haben gerade sogenannte Omnibusgesetze angemessene Aufmerksamkeit verdient. Während die beiden Vorgängergesetze mit erheblichen Bürokratiekostenentlastungen aufwarten konnten, beläuft sich die messbare Bürokratiekostenentlastung von Informationspflichten durch dieses Gesetz auf „nur“ rund 1 Million Euro für das Verwaltungsverfahren der Künstlersozialkasse. Wichtiger als große Zahlen ist daher die Senkung der gefühlten Bürokratiebelastung, hier speziell bei den Informationspflichten zur Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft. Die im Jahr 2002 eingeführte Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft für Beitragsausfälle in der Sozialversicherung soll die Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung erleichtern. Ziel der Regelung war es, den Generalunternehmer zu veranlassen, seine Nachunternehmer dazu anzuhalten, ihren sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten nachzukommen. Die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten für den Generalunternehmer, sich von dieser Haftung zu entlasten, sollen vereinfacht werden. Außerdem sollen für Haftungsgrenze und Entlastung künftig einheitliche Regelungen für alle Sozialversicherungszweige gelten. Hierzu ergreifen wir folgende Maßnahmen: erstens die Vereinheitlichung der Generalunternehmerhaftung im Zu Protokoll gegebene Reden Parl. Staatssekretär Klaus Brandner: Vierten und Siebten Buch Sozialgesetzbuch, das heißt für die gesamte Sozialversicherung einschließlich der Unfallversicherung; zweitens die haftungsrechtliche Entlastung für den Generalunternehmer vorrangig nur noch im Wege der Präqualifikation, das heißt durch ein Zertifizierungsverfahren; drittens die Absenkung der Mindestgrenze für das Eingreifen der Haftung von bisher 500 000 Euro auf künftig 275 000 Euro je Gesamtbauvolumen. Mit der Präqualifikation nutzen wir einen eindeutigen und rechtssicheren Nachweis, der künftig auch für die Generalunternehmerhaftung eine einfache und damit unbürokratische Überprüfung der Nachunternehmer und beauftragten Verleiher ermöglicht. Bei der Präqualifikation handelt es sich um eine vorwettbewerbliche Eignungsprüfung, bei der potenzielle Auftragnehmer nach speziellen Vorgaben unabhängig von einer konkreten Ausschreibung ihre Fachkunde und Leistungsfähigkeit vorab nachweisen. Die Durchführung der Präqualifikation von Bauunternehmen erfolgt nach der Leitlinie des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung für die Durchführung eines Präqualifikationsverfahrens. Für die Unternehmen bietet das Präqualifikationsverfahren den Vorteil, dass sie in einer allgemein zugänglichen Internetliste des Vereins für die Präqualifikation von Bauunternehmen e.V. aufgeführt sind und so ihre Eignung bundesweit nachgewiesen ist. Die Generalunternehmerhaftung kommt künftig einheitlich ab einem geschätzten Gesamtwert aller für ein Bauwerk in Auftrag gegebenen Bauleistungen von 275 000 Euro zur Anwendung. Damit wird der bisher in der allgemeinen Sozialversicherung geltende Betrag von 500 000 Euro deutlich abgesenkt. Gleichzeitig wird die Regelung auch auf die gesetzliche Unfallversicherung erstreckt, für die in der Vergangenheit keine Mindestgrenze galt. Da die reinen Baukosten für ein konventionelles Einfamilienhaus laut Bautätigkeitsstatistik in 2007 bundesdurchschnittlich bei 178 000 Euro lagen, ist gewährleistet, dass private Eigenheimbauer weiterhin vor dem Risiko der Haftung geschützt bleiben. Die Bundesregierung hat in ihrem zweiten Bericht zur Generalunternehmerhaftung beschlossen, zeitnah die Notwendigkeit, Wirksamkeit und Reichweite der Generalunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge im Baugewerbe unter Beteiligung des Normenkontrollrates aus ihrer Sicht abschließend zu bewerten. Dies soll im Jahr 2012 in einem Bericht an die gesetzgebenden Körperschaften erfolgen. Bis dahin kann davon ausgegangen werden, dass aussagekräftige Erkenntnisse mit der Neuregelung aus der betrieblichen Praxis vorliegen. Eine weitere wichtige Änderung durch diesen Gesetzentwurf betrifft die schon oben erwähnte Einführung einer gesonderten Meldung der Künstlersozialkasse an die Krankenkassen. Ab dem 1. Januar 2009 erhalten die Krankenkassen von der Künstlersozialkasse aufgrund der Beitragsabführung an den Gesundheitsfonds keine Beitragsnachweise mehr und damit auch keine Informationen über die Höhe des voraussichtlichen Arbeitseinkommens und zu einer eventuell bestehenden Rentenversicherungspflicht für die über die Künstlersozialkasse versicherten Personen. Für die Krankenkassen und die Künstlersozialkasse führt dies zu einem erheblichen Mehraufwand. Für rund ein Viertel des Versichertenbestandes müssten ohne die Neuregelung zum Beispiel im Falle von Entgeltersatzleistungen Einzelmitteilungen erfolgen. Bisher konnten die erforderlichen Daten den monatlichen Beitragsnachweisen entnommen werden, nunmehr wäre mit einer Vielzahl von Einzelaufklärungen bei der Künstlersozialkasse zu rechnen. Durch einen automatisierten monatlichen Melde- und Beitragsnachweis an die zuständige Krankenkasse durch die Künstlersozialkasse kann dieser zusätzliche Bürokratieaufwand vermieden werden. Hierfür wurde eine Einsparung von Verwaltungskosten bei der Künstlersozialkasse von rund 1 Million Euro berechnet. Durch die erhebliche Vereinfachung des Verfahrens ist auch eine zügigere Leistungsgewährung für die Versicherten möglich. Das dritte zentrale Anliegen des Gesetzentwurfes ist es, einen gesetzlichen Unfallversicherungsschutz für den Freiwilligendienst „weltwärts“ zu schaffen. Durch die Erweiterung der einschlägigen Vorschrift erhalten nunmehr auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ umfassenden gesetzlichen Unfallversicherungsschutz. Das besondere Engagement der jungen Menschen, das sich in der Übernahme eines solchen Dienstes zeigt, erfährt damit Anerkennung sowie den Schutz der Solidargemeinschaft. Die Einbeziehung in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ist insbesondere erforderlich im Hinblick auf die mit der Tätigkeit im Ausland einhergehenden gesteigerten Gefährdungsrisiken, die besondere Anforderungen an die Prävention stellen. Da es sich zudem um einen Dienst handelt, der festen Rahmenbedingungen unterliegt und mit öffentlichen Mitteln gefördert wird, ist die Erweiterung zugunsten der jungen Menschen, die im Rahmen des entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes „weltwärts“ Aufgaben im Ausland übernehmen, gerechtfertigt. Zuständig wird die Unfallkasse des Bundes. Die alleinige Zuständigkeit eines Unfallversicherungsträgers ist erforderlich, um eine einheitliche Durchführung des Versicherungsschutzes, insbesondere auch der Prävention, zu erreichen. Die gesetzliche Zuweisung ist darüber hinaus auch sachgerecht, da die Unfallkasse des Bundes durch ihre langjährige Erfahrung im Hinblick auf den Versicherungsschutz von Entwicklungshelfern sowie von Mitarbeitern der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GmbH besondere Kenntnisse im Bereich der weltweiten Gesundheitsgefahren und der erforderlichen Prävention hat. Zudem wird dieser Dienst mit öffentlichen Mitteln gefördert. Bei den weiteren Änderungen im Gesetzentwurf - das liegt im Charakter eines „Omnibusgesetzes“ - handelt es sich um kleinere Anpassungen in einer Vielzahl von gesetzlichen Vorschriften, die jede für sich keine zentrale politische Bedeutung haben, aber trotzdem für die tägliche Verfahrenspraxis unserer Sozialversicherungsträger und der Sozialgerichte von Bedeutung sind. Diese Vorschläge gehen auf Anregungen aus der Praxis zurück und werden mit diesem Gesetz zeitnah umgesetzt. Zu Protokoll gegebene Reden

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12596 an die Ausschüsse, die in der Tagesordnung aufgeführt sind, vorgeschlagen. Dazu gibt es offenbar keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 29: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen - Drucksachen 16/11663, 16/12514 Berichterstattung: Abgeordnete Maria Eichhorn Rolf Koschorrek, Mechthild Rawert, Konrad Schily, Frank Spieth und Elisabeth Scharfenberg haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.

Dr. Rolf Koschorrek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003791, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Einschränkungen der Kostenübernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung durch die gesetzlichen Krankenversicherungen, die im Rahmen des GKVModernisierungsgesetzes zum 1. Januar 2004 eingeführt wurden, erfolgten primär aus finanziellen Gründen. Zu diesem Zeitpunkt wurden aus finanziellen Gründen auch andere Kostenbeteiligungen erhöht bzw. eingeführt. Die Einschränkungen hinsichtlich der Höchst- und Mindestaltersgrenzen für die künstliche Befruchtung sowie die Begrenzung von vier auf drei Versuche wurden keineswegs willkürlich und auch nicht unter rein finanziellen Aspekten gewählt. Vielmehr wurden die Beschränkungen aufgrund einschlägiger Forschungsergebnisse festgelegt. Maßgeblich waren dabei die medizinische Notwendigkeit und die Erfolgsaussicht der Behandlungen. Wie mein Kollege Hubert Hüppe bereits anlässlich der ersten Beratung des vorliegenden Antrags im Februar dieses Jahres ausführte, hat der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen den Altersbegrenzungen wie auch der Beschränkung auf drei Versuche ausdrücklich zugestimmt. Die derzeitige Regelung für die eingeschränkte Kostenübernahme durch die GKV-Kassen wurde darüber hinaus vom Bundessozialgericht bestätigt. Während die Diagnostik der ungewollten Kinderlosigkeit sowie die Behandlungen, Medikamente und Eingriffe für eine Herstellung der Zeugungs- und Empfängnisfähigkeit ebenso wie die psychotherapeutische Behandlung in diesem Kontext fraglos von den gesetzlichen Krankenversicherungen getragen werden, ist die Unterstützung und finanzielle Förderung für die Erfüllung des Kinderwunsches durch künstliche Befruchtung auch eine familienpolitische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie ist nicht ausschließlich eine gesundheitspolitische Maßnahme, die von der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen ist. Dies dürfte vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Geburtenrückgangs und der weitreichenden gesellschaftlichen und sozialen Folgen dieser demografischen Entwicklung, die eine Reihe von weitreichenden Veränderungen mit sich bringt und unser Sozialsystem vor große Herausforderungen stellt, ganz klar sein. Insofern ist die Kostenübernahme für Maßnahmen der reproduktiven Medizin eindeutig eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die durch Steuermittel und nicht durch die GKV zu tragen ist. Eine weitere Erhöhung der GKV-Beiträge für eine bessere und vollständige Finanzierung der Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung, so wie sie die Fraktion der Linken in dem hier vorliegenden Antrag fordert, wäre für die Beitragszahler weder einsehbar noch zumutbar. In der CDU/CSU besteht Konsens darüber, dass es unser Wunsch und Ziel ist, einer noch größeren Zahl von Paaren zur Erfüllung ihres Kinderwunschs mithilfe der künstlichen Befruchtung zu verhelfen. Dabei stehen wir auch einer vollen Finanzierung reproduktiver Maßnahmen im Grundsatz absolut positiv gegenüber. Da die Finanzierung jedoch bei realistischer und ehrlicher Betrachtung von den öffentlichen Haushalten nicht im vollen Umfang für alle Betroffenen zu leisten sein wird, ist es zum Beispiel denkbar, einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss einzuführen, der nach finanzieller Bedürftigkeit gestaffelt wird. So könnten wir es künftig verhindern, dass Paare wegen der nicht unerheblichen Kostenbeteiligung von 50 Prozent an den ersten drei Versuchen auf eine reproduktionsmedizinische Behandlung verzichten oder die Versuche hierzu vorzeitig abbrechen. Dafür tritt auch unsere CDU-Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen ein. Um Paaren mit Kinderwunsch auch in schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen den Zugang zu den Methoden der modernen Reproduktionsmedizin zu ermöglichen, begrüßt sie ganz ausdrücklich die von der CDU-geführten Landesregierung in Sachsen beschlossene Regelung zur Kostenübernahme für die Kinderwunschbehandlung. Die Ministerin prüft, inwieweit ergänzend zu einem Länderanteil zur Finanzierung einer Kinderwunschbehandlung gegebenenfalls auch Mittel aus dem Haushalt des Bundesfamilienministeriums bereitgestellt werden können. Sachsen hat als erstes Bundesland eine zusätzliche Förderung der künstlichen Befruchtung aus den Mitteln seines Landeshaushaltes beschlossen und damit eine Vorreiterrolle übernommen. Das Land zahlt seit März dieses Jahres für die zweite und dritte Behandlung zur künstlichen Befruchtung jeweils bis zu 900 Euro und für die vierte bis zu 1 800 Euro. Die ebenfalls CDU-geführten Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Hessen wollen daraufhin eine ergänzende finanzielle Unterstützung für die Kinderwunschbehandlung aus den Haushalten ihrer jeweiligen Länder prüfen. Aber im rot-roten Berliner Senat, der Landesregierung, wo die Linken an der Regierungsverantwortung beteiligt sind, wird eine finanzielle Unterstützung für die ungewollt kinderlosen Paare nicht einmal in Erwägung gezogen, sondern mit Hinweis auf die angespannte Haushaltslage abgeschmettert. Wir können uns glücklich schätzen, in einer Zeit zu leben, in der der medizinische Fortschritt uns eine Viel23680 zahl von neuen und stetig wachsenden Möglichkeiten zur Diagnose und Therapie von Krankheiten erlaubt. Dies bedeutet für viele Menschen eine verbesserte Lebensqualität und dass sie ein höheres Lebensalter erreichen. Auch auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin verfügen wir heute über neue, modernste Methoden und können bereits Erfolge erzielen, die noch vor einigen Jahren utopisch erschienen. Zugleich möchte ich gerade im Zusammenhang mit der künstlichen Befruchtung davor warnen, bei den ungewollt kinderlosen Paaren zu hohe Erwartungen zu wecken und den Eindruck zu vermitteln, eine Erfüllung des Kinderwunschs sei heute in jedem Falle machbar, wenn man nur genügend Versuche zur künstlichen Befruchtung auf sich nehme. Vielmehr muss ins Bewusstsein gerufen und in die Beratung einbezogen werden, wie der jeweils besonderen und individuellen Situation der betroffenen Paare angemessen Rechnung zu tragen ist. Hier müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, um die Rahmenbedingungen für die Entscheidungen der Paare zu verbessern. Wir dürfen keine unrealistischen Hoffnungen wecken, sondern wir müssen die Paare mit Kinderwunsch realistisch über die Erfolgsaussichten, die medizinischen Risiken und die körperlichen und psychischen Belastungen der Kinderwunschbehandlung aufklären.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was bedeutet aktive Familienpolitik heute? Wenn es nach dem vorliegenden Antrag „Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ der Fraktion Die Linke geht, Rückschritt. Die Behebung ungewollter Kinderlosigkeit durch künstliche Befruchtung ist jedoch sehr viel mehr als Gesundheitspolitik, sie ist eine Herausforderung für eine aktive Familienpolitik. Die Linke fordert die Bundesregierung auf, den alten Rechtszustand von vor 2004 im Hinblick auf die Finanzierung der künstlichen Befruchtung ({0}) wiederherzustellen. Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 27. Januar zum wiederholten Mal bestätigt hat, dass die assistierte Reproduktion keine Krankheit ist, deren Kosten voll von der Solidargemeinschaft der Versicherten zu tragen ist, beweist: Der Antrag der Linksfraktion geht fehl. Mir ist sehr wohl bewusst: Die Belastung ungewollter Kinderlosigkeit ist für viele Menschen sehr groß ist. Vor allem für wirtschaftlich schlechter gestellte Paare ist es oft schwer, die erforderlichen Eigenleistungen für die Zyklen der assistierten Reproduktion aufzubringen. Der Rückgang der durch Maßnahmen der künstlichen Befruchtung erzielten Geburten von circa 19 000 auf gut 10 000 ist ein Indiz dafür. Deshalb ist hier eine aktivere Familienpolitik der zuständigen Bundesfamilienministerin nötig! Ich habe Frau von der Leyen deshalb im Rahmen der ersten Lesung dieses Antrags aufgefordert, sich bei diesem Thema eindeutig zu positionieren und eine aktive Familienpolitik zu betreiben. In der Folge wurden die Initiativen einzelner Bundesländer zur Förderung der künstlichen Befruchtung von der Ministerin zwar begrüßt, und es wurde angekündigt, für eine bundesweit einheitliche Regelung eine mögliche Finanzierung durch ihr Haus prüfen zu lassen. Bisher jedoch ist es leider nur bei einer Prüfung ohne politische Konsequenzen seitens des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend geblieben. Wenn Frau von der Leyen weiter meint, sie hätte die Diskussion um die künftige Finanzierung der künstlichen Befruchtung belebt, dann ist mir das eindeutig zu wenig. Wer A sagt, muss dann auch irgendwann B sagen. Konkrete Pläne der Bundesfamilienministerin sind aber leider auch aus den aktuellen Äußerungen des Staatssekretärs Kues vom 17. April 2009 nicht zu erkennen. Eine Gesamtlösung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist aber notwendig, um einen föderalen Flickenteppich, wie er sich jetzt leider andeutet, zu vermeiden. Deshalb gilt: Ein einheitliches familienpolitisches Konzept des zuständigen Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur künstlichen Befruchtung muss noch vor der Bundestagswahl im September auf den Tisch! Ein solches Konzept wäre auch eine logische Konsequenz der aktuellen Rechtsprechung der Bundesverfassungsrichter und -richterinnen. Diese haben mit ihrem Beschluss erneut begründet, dass die seit dem 1. Januar 2004 geltende Begrenzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung bei medizinischen Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft ({1}) auf einen Zuschuss von 50 Prozent verfassungsgemäß ist und bleibt. Nach Ansicht der Karlsruher Richter beseitigt die künstliche Befruchtung aus dem Reagenzglas keinen regelwidrigen körperlichen Zustand, sondern umgeht ihn mithilfe medizinischer Technik, ohne auf dessen Heilung zu zielen. Damit wird auch der von den CDU-geführten Ländern Saarland, Sachsen und Thüringen in den Bundesrat eingebrachte und von der Länderkammer am 3. April 2009 erneut beschlossene Antrag zu diesem Thema relativiert. Darin fordert der CDU-dominierte Bundesrat die volle Kostenübernahme der künstlichen Befruchtung durch die Krankenkassen. Die zusätzlichen Kosten für die Krankenkassen werden auf 100 bis 150 Millionen Euro geschätzt. Im Hinblick auf die schon erwähnte demografische Entwicklung seien alle Maßnahmen zu unterstützten und zu fördern, die „ansonsten nicht realisierbare“ Kinderwünsche ermöglichen helfen könnten, heißt es in diesem Antrag. Die Karlsruher Richter und Richterinnen sehen die derzeitige Regelung auch in Einklang mit Art. 3 des Grundgesetzes, da das GKV-Modernisierungsgesetz von 2004 alle Versicherten rechtlich gleich behandle. Zwar könne es leider vorkommen, dass finanziell schwache Personen die Kosten für die künstliche Befruchtung ({2}) nicht oder nicht im gewünschten Umfang finanzieren können. In Bezug auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung bestehe jedoch keine staatliche Verpflichtung des Gesetzgebers, die Entstehung einer Familie aus dem Finanzierungstopf der Beitragsgelder der gesetzlichen Krankenversicherung zu fördern. Es handle sich um eine in seinem Ermessen stehende Leistung, die nicht medizinisch für eine Therapie notwendig sei, sondern die Wünsche einer/eines Versicherten für ihre/seine individuelle Lebensgestaltung betreffe. Soweit die Rechtsprechung, die für viele ungewollt Kinderlose - das ist mir aus vielen Gesprächen bewusst Zu Protokoll gegebene Reden schwer zu ertragen ist. Nicht zu ertragen sind aber auch Äußerungen aus den Reihen der CDU ({3}), wonach unsere Gesellschaft die Finanzierung von Abtreibungen durch die Krankenkassen zulasse, der Kinderwunsch jedoch finanziell bestraft werde. Das macht deutlich, welch Geistes Kind einige ältere Herren aus den Reihen der Christdemokraten sind. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, die Solidargemeinschaft hätte sich aus der Finanzierung von medizinischer Hilfe bei Kinderlosigkeit komplett zurückgezogen. Deshalb hier noch mal zu Erinnerung: Alle Mitglieder der GKV haben - unter anderem aufgrund des § 27 SGB V - bei ungewollter Kinderlosigkeit weiterhin einen Leistungsanspruch auf Krankenbehandlung! Die Kosten für die Diagnostik der ungewollten Kinderlosigkeit werden grundsätzlich übernommen und durch Beitragsgelder und Steuerzuschüsse finanziert. Dies gilt auch für medizinische Maßnahmen zur Herstellung der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit beispielsweise durch chirurgische Eingriffe, die Verordnung von Medikamenten oder auch durch eine psychotherapeutische Behandlung. Die beschriebenen Maßnahmen haben Vorrang vor der künstlichen Befruchtung durch zum Beispiel intrauterine Insemination ({4}), durch die In-vitro-Fertilisation ({5}) und/oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion ({6}). Wenn diese Maßnahmen nicht greifen, übernimmt die zuständige Krankenkasse für Ehepaare 50 Prozent der Behandlungskosten und Medikamente für bis zu drei Versuche. Grundlage ist der von ihr im Vorfeld zu bewilligende Behandlungsplan. Die übrigen 50 Prozent sind als Eigenanteil zu erbringen. Doch zurück zum Antrag der Linksfraktion. Bei der Lektüre der Begründung des Antrags der Fraktion Die Linke fühlte ich mich auch an ein Zitat von Adalbert Stifter erinnert, das da lautet: Das Leben scheint unendlich lang, solang man noch jung ist. Man meint noch viel Zeit vor sich zu haben und erst einen kurzen Weg gegangen zu sein. Vieles schiebt man deshalb auf die lange Bank, in dem Glauben, es jederzeit nachholen zu können. Aber wenn man es vornehmen will, ist es zu spät, und man merkt, dass man alt ist. Lassen Sie mich kurz erläutern, was ich damit meine: Die Linke spricht sich in ihrem Antrag „Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ unter anderem dafür aus, die Altersgrenzen bei der sogenannten assistierten Reproduktion wieder anzuheben. Die volle Kostenübernahme für Versuche der künstlichen Befruchtung soll bei Männern über das 50. Lebensjahr und bei Frauen über das 40. Lebensjahr hinaus greifen. Die derzeit gültigen Altersgrenzen ({7}) wurden im Rahmen des GKV-Modernisierungsgesetzes im Jahr 2004 im Bereich der künstlichen Befruchtung als letzte Förderungsmöglichkeit der gesetzlichen Krankenversicherungen festgelegt. Hebt man diese Altersgrenzen jedoch wieder an, wie es Die Linke mit ihrem Antrag beabsichtigt, kann ich nur einmal mehr Adalbert Stifter in Erinnerung rufen: Dann nämlich kann es für so manche Frau und manchen Mann erst recht zu spät sein, sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Der Antrag der Fraktion Die Linke bedeutet deshalb ein vollkommen falsches gesellschafts- und familienpolitisches Signal an die Frauen und Männer in unserem Land. Was heißt das für die Kinder und die Eltern in der Zukunft? Unsere Gesellschaft wird, diese Tatsache ist unstrittig und höchst positiv zu bewerten, immer älter. Dafür sorgt auch der medizinische Fortschritt. Heißt das aber zwangsläufig auch, dass Eltern immer älter werden müssen und - bitte verzeihen Sie die Polemik - ihre Kinder künftig bevorzugt nach dem eigenen Renteneintritt einschulen? Wer die Altersgrenze, bis zu der Paare mit staatlicher Unterstützung Eltern werden können, immer weiter nach hinten verschiebt, gibt dem Primat der ökonomischen Verwirklichung einen zu weiten Raum. Viele Bürgerinnen und Bürger denken doch heute schon: Kinder und Familiengründung müssen warten, bis ich im Beruf erfolgreich und fest verankert bin. - Darum schieben sie die Entscheidung für Kinder und für eine Familiengründung oft so weit auf, bis ihnen die Biologie die Entscheidung auf oft schmerzliche Weise abnimmt. Ich hatte diesen entscheidenden Punkt, der meiner Meinung nach in der gesamten Debatte noch zu kurz kommt, bereits in meiner Rede vom Februar angesprochen ({8}) und wiederhole ihn heute gern: Wir müssen Frauen, aber eben auch Männer in ihrem Wunsch unterstützen, möglichst frühzeitig Familie und Karriere miteinander verbinden zu können. Wir müssen zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen auf Länderebene noch bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit Frauen und Männer nicht vor dem Dilemma „Karriere oder Kind“ stehen. Hier ist aber nicht nur der Gesetzgeber im Bund und in den Ländern gefragt. Auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber müssen, zum Beispiel mit der Ausgestaltung flexiblerer Arbeitszeitmodelle, ihren Teil dazu beitragen. Die Gesellschaft insgesamt muss kinderfreundlicher werden. Gerade weil wir alle viel mehr Kinder in unserem Land wollen, ist für eine erfolgreiche und lebenswerte Zukunft unseres Gemeinwesens eine verbesserte Familienpolitik vorrangig. Ich begrüße in diesem Zusammenhang noch einmal die Initiative des Bundeslandes Sachsen, wo die künstliche Befruchtung bei Frauen als familienpolitische Leistung unter bestimmten Voraussetzungen ab dem zweiten Versuch finanziell gefördert wird. Andere Länder prüfen in ihren Budgets die Spielräume für ähnliche Maßnahmen. Es muss jedoch eine bundeseinheitliche Lösung der Familienpolitik geben, damit nicht der Wohnort darüber bestimmt, ob Frauen und Männer eine künstliche Befruchtung finanziert bekommen oder nicht. Bei der ganzen, oft emotional geführten Debatte sollten wir auch folgende Punkte nicht aus den Augen verlieren. Viele Faktoren spielen für eine erfolgreiche künstliche Befruchtung eine Rolle: Neben dem Alter entscheidet auch die gesundheitliche Verfassung über Erfolg und Misserfolg. Vor allem die psychische und physische Belastung der Frauen und Männer ist während einer Behandlung enorm hoch. Nicht selten sind es auch seelische Gründe, die einer Schwangerschaft im Wege stehen. Hier helfen in vorbildlicher Weise - auch in Berlin - SelbsthilZu Protokoll gegebene Reden fegruppen weiter, die bei der psychologischen Betreuung und Beratung von Betroffenen helfen. Ebenso wenig sollte verschwiegen werden, dass es mit der Verbreitung der sogenannten assistierten Reproduktion zu vermehrten Mehrlingsschwangerschaften kommt. Insgesamt 40 Prozent der Kinder, die in Deutschland nach assistierter Reproduktion geboren werden, sind Mehrlinge. Das Problem dabei: Das Gesundheitsrisiko für Mutter ({9}) und Kinder ({10}) steigt bei Mehrlingsgeburten deutlich. Bei allen medizinischen Möglichkeiten der Moderne: Die Hauptursache für ungewollte Kinderlosigkeit ist und bleibt die Verschiebung der Familienplanung in spätere Lebensphasen. Hier muss auch die Politik dringend Antworten finden. Die SPD war und ist der Motor des familienpolitischen Paradigmenwechsels der vergangenen zehn Jahre - nicht die Fraktion Die Linke und auch nicht Ministerin von der Leyen. Wir waren die Partei, die in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen hat, dass Frauen und Männer Beruf und Familie besser unter einen Hut bekommen. Doch noch ist hier nicht das Ende der Fahnenstange erreicht: Nach wie vor sind es die Frauen, die für die Familie und den Haushalt hauptverantwortlich sind. Nach wie vor sind sie es, die den Großteil der Elternzeit nehmen und dafür aus dem Beruf aussteigen. Wir brauchen ein neues Verständnis von Familien ein Familienverständnis von zwei gleichberechtigten Partnern, für die Kinder nicht zum Karrierehemmnis werden und im schlimmsten Fall den Ausstieg aus dem Erwerbsleben bedeuten. Hierfür brauchen wir auch eine Neugestaltung unseres Steuerrechts, gleiche Karrierechancen für Frauen durch ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft, mehr Väter in der Familie, den Ausbau staatlicher Infrastruktur und vieles mehr. Auch das ist aktive Familienpolitik! Mein Fazit: Die Linke glaubt, der Komplexität der Materie durch den einseitigen Fokus auf die Finanzierung gerecht zu werden. Hier irrt sie. Die Linke will die finanziellen Hilfen bei künstlichen Befruchtungen aus Beitragsgeldern erhöhen. Zur Ausweitung der jetzigen Leistungen bei künstlicher Befruchtung auf alle, hetero- und homosexuellen, Lebensformen und damit die familienpolitische Gleichstellung von Regenbogen- und anderen Familien findet sich in der Begründung des Antrags aber nur die vage Formulierung, dass „die derzeitige Begrenzung auf verheiratete Paare einer erweiterten Regelung bedarf“. Klar ist, dass im Sinne ungewollt kinderloser Paare die Diskussion fortgeführt werden muss. Wer aber den Betroffenen wirklich helfen und nicht nur ein Thema besetzen will, muss ein stringentes gesundheits- und vor allem familienpolitisches Maßnahmebündel schnüren und es entsprechend formulieren. Das aber erfüllt der Antrag der Fraktion Die Linke zu „Kürzungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ weiterhin nicht. Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag deshalb ab.

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wie wir alle wissen, ist die Kinderlosigkeit ein sehr emotional diskutiertes Thema in Deutschland. Künstliche Befruchtungen scheinen die glückbringende Lösung für den biografischen „Störfall“ der Kinderlosigkeit zu sein. Das ist ein Trugschluss! Ich bin als Arzt davon überzeugt, dass die medizinisch-psychologischen Risiken und die Komplexität der Problematik einer sensiblen Betrachtung bedürfen. Nur eine Rücknahme der im GKV-Modernisierungsgesetz vorgenommenen Einschränkungen der Kostenübernahme für Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung - wie es der Antrag der Linken vorsieht - greift hier zu kurz. Zudem ist ein originär familien- und sozialpolitisches Problem wie die Kinderlosigkeit nicht allein auf technischem Wege zu lösen. Vielmehr sollte diese sensible Thematik über eine Ausweitung von Informationsund Aufklärungsangeboten auch über gesundheitliche Risiken und Folgeschäden ergänzt werden. Wir vertreten die Position, dass die Finanzierung der künstlichen Befruchtung nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehört, sondern, wenn bevölkerungspolitisch erwünscht, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die aus Steuermitteln finanziert werden muss. Den vorliegenden Antrag lehnen wir aus den dargelegten Gründen ab.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Eine künstliche Befruchtung darf nicht vom Geldbeutel der betroffenen Paare abhängen. Seit 2004 müssen die Betroffenen jedoch die Hälfte der Kosten selbst tragen. Diese finanzielle Hürde, die CDU/CSU, SPD und Grüne geschaffen haben, wollen wir wieder abschaffen. Die Betroffenen müssen zahlen, können es aber oft nicht. Durch die Gesetzesänderung 2004 sind die Geburten nach künstlicher Befruchtung um etwa die Hälfte eingebrochen und verharren seitdem auf diesem Niveau. Im Klartext bedeutet das: Dahinter stecken Tausende Betroffene, die gerne ein Kind bekämen, aber das Geld für die künstliche Befruchtung nicht auftreiben können. Knapp 50 000 Behandlungen pro Jahr werden seitdem weniger durchgeführt. Pro Versuch müssen die Betroffenen etwa 1 750 Euro draufzahlen. Da der vierte Versuch seit 2004 gar nicht mehr übernommen wird, sind dies nach vier Versuchen etwa 8 750 Euro Eigenbeteiligung. Das können viele Paare mit Kinderwunsch nicht aufbringen. Seit wir dies fordern und aus den Bundesländern ähnliche Vorschläge kommen, gibt es wieder eine breite öffentliche Debatte zum Thema. Noch vor eineinhalb Jahren, als wir die künstliche Befruchtung auch für nichtverheiratete Paare gefordert haben, hat dieses Thema kaum jemanden interessiert. Ich finde es gut, dass dies jetzt anders ist. Offenkundig wird in allen Fraktionen die Begrenzung der künstlichen Befruchtung auf drei Versuche und die 50-prozentige Kostenbeteiligung der Betroffenen als problematisch angesehen. Selbst die Bundesregierung sieht Handlungsbedarf. Leider mit vollkommen unterschiedlichen Lösungsansätzen. Die Bundesgesundheitsministerin sagt, die Finanzierung der künstlichen Befruchtung sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und daher aus Steuermitteln zu bezahlen und nicht durch Krankenversicherungsbeiträge. Sie will, dass das Bundesfamilienministerium dies regelt. Ja, diesem Zu Protokoll gegebene Reden Lösungspfad kann man folgen. Dann muss aber endlich gehandelt werden. Die Familienministerin fordert mehr Unterstützung für Paare mit unerfülltem Kinderwunsch. Ja, dann frage ich: Warum machen Sie das nicht endlich? Sie sind die Regierung. Sie haben im Bundestag fast drei Viertel der Sitze. Sie haben die Mehrheit im Bundesrat. Die Bundesländer haben ja im Bundesrat gefordert, wieder zum alten Gesetzeszustand des Jahres 2003, also vor der Kürzung, zurückzukehren. Die einzigen, die hier bremsen, sind die Bundesregierung und die große Koalition aus Union und SPD. Ich habe den Eindruck, es wird getarnt, getäuscht, getrickst, und das auf dem Rücken der Betroffenen. Das ist nicht christdemokratisch und auch nicht sozialdemokratisch. Das ist absurd und zynisch. Die Bundesfamilienministerin hat angekündigt, in die nächsten Haushaltsgespräche die Frage der Finanzierung der künstlichen Befruchtung einzubringen. Weshalb so zögerlich? Bei anderen Projekten der Bundesregierung wird ganz schnell und ohne formale Haushaltsberatung deutlich mehr Geld eingestellt. Ich will an dieser Stelle gar nicht über die 500 Milliarden Euro für den Bankenrettungsschirm reden. Einen Vergleich möchte ich allerdings ziehen, und zwar zu Ihrer Handlungsfähigkeit im Rahmen des Konjunkturpaketes II und der darin verabredeten Abwrackprämie. Den Umtausch von alten Autos in neue fördert die Bundesregierung mittlerwelle insgesamt mit einem Finanzvolumen von 5 Milliarden Euro. Die Kürzungen bei der künstlichen Befruchtung zurückzunehmen, würde etwa 100 Millionen Euro pro Jahr kosten. Wir könnten also mit dem gleichen Mittelansatz wie bei der Abwrackprämie 50 Jahre lang die Vollfinanzierung der künstlichen Befruchtung sicherstellen. Fürwahr ein humanitäres und soziales Zukunftsprojekt für unsere Gesellschaft. Es geht also wie so oft um die Gretchenfrage: „Was sind uns Kinder, was Familien wert?“ Wir schlagen vor, dass die Krankenkassen zukünftig wieder vier Versuche voll übernehmen, dafür aber als Ausgleich einen entsprechend erhöhten Steuerzuschuss erhalten sollen. Faktisch soll also zukünftig die Hälfte der Gesamtkosten von der gesetzlichen Krankenversicherung, die andere Hälfte aus Steuern bezahlt werden. Die Koalitionsfraktionen lehnen dies bislang ab. Genau bei dieser Gretchenfrage zeigen sich die tatsächlichen Prioritäten der Bundesregierung und der Koalition. Es geht nicht darum, dass kein Geld da ist, sondern dass man es nicht für die künstliche. Befruchtung bereitstellen will. Ich befürchte, dass die Mehrheit in diesem Hause unseren Antrag ablehnen wird. Und dies nur deshalb, weil er von der Linken kommt. Auf die Inhalte kommt es der Koalition sehr wahrscheinlich nicht an. Wenn Sie aber schon unseren Antrag ablehnen, dann hören Sie wenigstens auf den Bundesrat, der in seiner Sitzung am 3. April 2009 erneut gefordert hat, die Kürzungen zurückzunehmen. Der Bundesrat fordert die komplette Übernahme der Kosten, aber ausschließlich durch die Krankenkassen. Dies entspricht nicht ganz unseren Vorstellungen, wäre aber für die Betroffenen eine große Hilfe. Eine solche Änderung ließe sich in dem derzeit laufenden Verfahren zum Arzneimittelgesetz ganz einfach unterbringen. Das ist die letzte Chance vor der Bundestagswahl, den Betroffenen zu helfen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir Grüne wissen, dass das Thema der künstlichen Befruchtung die Menschen, die ungewollt kinderlos sind und sich sehnlich ein Kind wünschen, sehr stark belasten kann. Sie sind bereit, alles erdenklich Mögliche dafür zu tun, und erwarten dafür die uneingeschränkte gesellschaftliche Solidarität durch die Krankenversicherung. Sie stoßen jedoch auf rechtliche Beschränkungen, wie die Beteiligung an einer eingeschränkten Anzahl von Versuchen, vergleichsweise hohe Zuzahlungen oder Altersgrenzen bei der künstlichen Befruchtung. Dies empfinden die Betroffenen als zusätzliche Belastung und als rein technokratische Hemmnisse. Der Antrag der Linken wie auch der entsprechende Antrag des Bundesrates geben vor, diese Empfindungen aufzugreifen und eine Lösung dafür anzubieten. Auch wir Grüne können die Belastung der Betroffenen sehr gut nachvollziehen und wollen sie keineswegs wegreden. Dennoch lehnen wir den Antrag der Linken ab. Wenngleich das Thema natürlich sehr emotional ist, halten wir es für wichtig, das Für und Wider in dieser Debatte genau und sachlich abzuwägen. Und dabei liegt uns das Wohl der betroffenen Frauen und Männer sehr wohl am Herzen. Wir in der Politik müssen aber bei unseren Entscheidungen das Problem abstrahieren und dabei auch die Interessen anderer in den Blick nehmen, zum Beispiel die der Beitragszahlerinnen und -zahler, für die der Vorschlag der Linken eine Mehrbelastung bedeuten würde. Gleichzeitig bestehen hier auch wirtschaftliche Interessen von Pharmaunternehmen und Praxen . Bereits in der ersten Lesung des Antrags im Februar haben wir deutlich gemacht, dass die Linke nicht weiß, was sie will. Erst im Jahr 2008 forderte sie in einem Antrag zum selben Thema, dass der von den Krankenkassen zu übernehmende hälftige Anteil der Kosten der künstlichen Befruchtung nicht nur Ehepaaren, sondern auch nichtehelichen Partnern zugute kommen müsse. In ihrem aktuellen Antrag fordert die Linke, dass die Krankenkassen wieder die vollen Kosten der künstlichen Befruchtung übernehmen - aber nur für Ehepaare. Diesen merkwürdigen, konservativen Sinneswandel zu erklären, unterlässt die Linke, weil sie es vermutlich gar nicht kann. Alleinstehende Frauen oder Lesben sollen von dem aktuellen Vorschlag der Linken nicht profitieren. Doch auch sie können selbstverständlich stark unter einem unerfüllten Kinderwunsch leiden. Wo bleibt das Verständnis der Linksfraktion für diese Frauen? Spielt bei ihnen das Selbstbestimmungsrecht, mit dem die Linke argumentiert, keine Rolle? Alle Änderungen zur künstlichen Befruchtung, die mit der Gesundheitsreform 2003 vorgenommen wurden, sollen nach Ansicht der Linken pauschal zurückgenommen werden. Auch die Altersgrenzen für Frauen wie Männer sollen wieder abgeschafft werden. Diese Altersgrenzen Zu Protokoll gegebene Reden sind 2003, entgegen der Meinung der Linken, nicht etwa willkürlich, sondern nach reiflicher Überlegung ins Gesetz aufgenommen worden. Die Altersgrenzen sollen junge Frauen bis zum 25. Lebensjahr davor schützen, womöglich überstürzt eine unnötige Maßnahme der künstlichen Befruchtung vornehmen zu lassen. Genauso sollen Frauen nach dem 40. Lebensjahr vor solchen Maßnahmen bewahrt werden, denn mit steigendem Alter steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Behandlung erfolglos bleibt. Denn es handelt sich keineswegs um Bagatellbehandlungen. Und viele Behandlungen führen nicht zum gewünschten Ergebnis - einem Kind. Auch dies sollte klar ausgesprochen werden. Eben darum warnen wir Grüne vor einer zu unkritischen Haltung gegenüber Methoden der künstlichen Befruchtung, wie der ICSI oder der IVF. Und eben darum stehen wir zu den geltenden gesetzlichen Bestimmungen, die Bestandteil eines damaligen Kompromisspaketes zwischen SPD, CDU/CSU und Grünen waren. Die Altersgrenzen wie auch der zu zahlende Eigenanteil sind im Übrigen in verschiedenen Urteilen des BSG für rechtmäßig erklärt worden. Das bestätigt, dass der Gesetzgeber damals wohlüberlegt und nicht etwa willkürlich gehandelt hat. Für uns ist die Debatte deshalb jedoch nicht erledigt. Das haben wir bereits in der ersten Lesung zu diesem Antrag deutlich gemacht. Wir sind sehr wohl im Interesse der Betroffenen dafür, weiter zu diskutieren und neue Erkenntnisse zu erzielen. Dabei jedoch ausschließlich über die finanziellen Rahmenbedingungen der künstlichen Befruchtung zu streiten, ist viel zu kurz gesprungen und wird auch den Betroffenen nicht gerecht. Es geht um mehr als um die Finanzierung der Behandlung, nämlich auch darum, wie riskant und wie wirksam die Behandlungen wirklich sind. Nicht zuletzt darum haben wir Grüne und auch die SPD - nicht etwa die Linke - vorgeschlagen, dass wir einen Bericht über den Stand, die Vorteile, Risiken und die Perspektiven der Fortpflanzungsmedizin brauchen. Diesem Vorschlag ist der Forschungsausschuss des Bundestages gefolgt. Das Büro für Technikfolgenabschätzung, TAB, wird eine entsprechende Studie erstellen. Darin sollen Methoden der Fortpflanzungsmedizin, aber auch nichttechnische Maßnahmen, zum Beispiel die psychosoziale Beratung, in ihrer Wirksamkeit auch im internationalen Vergleich beleuchtet werden. Nicht zuletzt soll daraus abgeleitet werden, ob die rechtlichen und auch nichtrechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland ausreichend oder womöglich verbesserungswürdig sind. Die Ergebnisse dieser Studie sollen etwa Mitte nächsten Jahres vorliegen. Dies ist ein absehbarer Zeitraum. Wir plädieren nochmals dafür, diesen Bericht und seine Empfehlungen abzuwarten, um dann auf dieser Grundlage die Debatte fortzuführen. In der Zwischenzeit sollte man auf widersprüchliche und wenig durchdachte Vorstöße wie den der Linken doch bitte verzichten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12514, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11663 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Zustimmung des Hauses im Übrigen angenommen. Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Bürgerportalen und zur Änderung weiterer Vorschriften - Drucksache 16/12598 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien Clemens Binninger, Michael Bürsch, Gisela Piltz, Jan Korte und Silke Stokar von Neuforn haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unser Kommunikations- und Informationsverhalten verändert sich. Dem tragen wir mit dem sogenannten Bürgerportalgesetz Rechnung. Hinter dem Bürgerportalgesetz steht das Projekt De-Mail - ein sicherer und zuverlässiger Weg, Informationen per E-Mail zu verschicken. Ergänzt wird De-Mail mit einer sicheren Dokumentenablage namens De-Safe und dem elektronischen Identitätsnachweis De-Ident. Das Internet ist aus dem täglichen Leben der meisten Deutschen nicht mehr wegzudenken. Rund 70 Prozent aller Privathaushalte in Deutschland haben einen Internetzugang. Das ist fast ein Fünftel mehr als noch 2003. Alle Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten und auch die meisten kleineren Unternehmen verfügen über einen Internetzugang. Das bietet neue Möglichkeiten und neue Herausforderungen, vor denen auch die öffentliche Verwaltung steht. Bereits 2007 nutzten rund die Hälfte der Unternehmen mit Internetzugang e-Government-Angebote. Beim e-Government sind 14 500 Kommunen, die 16 Länder und der Bund aktiv. Wir erfahren es täglich: Mit der Nutzung moderner Kommunikations- und Informationstechnologie ist im Privaten wie im Geschäftlichen vieles einfacher, schneller und kostengünstiger geworden. Einkaufen, Bankgeschäfte erledigen, Reisen buchen - all das ist heute für die meisten von uns nicht mehr ohne Internet und E-Mail denkbar. Aber: Die Entwicklung der Informations- und Kommunikationssysteme hat nicht nur positive Seiten. Unsere IT-Infrastrukturen sind zunehmend auch Ziel von Angriffen, von denen jeder Nutzer betroffen ist. Bereits 4 Millionen Deutsche sind Opfer von Internetkriminalität geworden. Beispiele könnte man viele nennen: Laut Umfragen aus dem Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung sind von rund 100 empfangenen E-Mails durchschnittlich gerade einmal 1,5 Mails gewünscht. Personenbezogene Daten, Passworte und Zugangsinformationen werden gestohlen, missbraucht und zu Geld gemacht. Ich denke, gerade diese Gefahren spiegeln sich im Bewusstsein der Öffentlichkeit und in der Wahrnehmung des einzelnen Nutzers nicht ausreichend wider. Diese Gefährdungen bedrohen in steigendem Maße private Kommunikation und wirtschaftliche Aktivitäten. Deshalb müssen private Nutzer, Wirtschaft und Verwaltung ein großes Interesse an sicherer Kommunikation haben. Eine ganz wesentliche Voraussetzung für mehr Sicherheit in der elektronischen Kommunikation sind dabei sichere Verfahren, die ohne hohen technischen und finanziellen Aufwand genutzt werden können. Das spielt gerade für die private Nutzung und für viele kleine und mittlere Unternehmen eine große Rolle. Solche Verfahren gibt es heute praktisch nicht. Eine Folge: Mangels Alternativen werden viel zu oft persönliche, sensible oder interne Informationen über E-Mails verschickt - und das, obwohl fast jede normale E-Mail mit der nötigen kriminellen Energie und begrenztem Aufwand auf dem Weg durchs Internet wie eine Postkarte mitgelesen werden kann. Möchte man derartige Sicherheitslücken vermeiden, wird oft ausgedruckt und über den Postweg versendet. Die Bundesregierung setzt daher im Rahmen der Hightech-Strategie die Rahmenbedingungen für eine effiziente und sichere vernetze Kommunikation. Das Gesetz zur Regelung von Bürgerportalen, über das wir heute sprechen, ist hier ein ganz wesentlicher Baustein. Kern des Bürgerportalgesetzes ist De-Mail. Unter dem Stichwort De-Mail kann sicher, zuverlässig und vertraulich über das Internet kommuniziert werden. Den Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft wird in Deutschland damit die Möglichkeit gegeben, eine authentische elektronische Adresse anzulegen, die mit der normalen Anschrift vergleichbar ist. Hinter allen De-Mail-Adressen stehen jeweils sicher identifizierte Kommunikationspartner. Ergänzt wird De-Mail durch eine sichere Dokumentenablage, den De-Safe, und einen benutzerfreundlichen, elektronischen Identitätsnachweis, De-Ident. Für die Kommunikation mit den unter De-Mail zusammengefassten Diensten werden besondere Sicherheitsstandards gelten, die der Bund vorgibt. Diese Voraussetzungen müssen Anbieter von De-Mail erfüllen, um zugelassen zu werden. Die Kommunikation wird geschützt vor unerwünschtem Mitlesen, vor Datendiebstahl, vor Internetbetrug und Spam. Damit können sensible und vertrauliche Inhalte sowie rechtlich relevante Dokumente künftig genauso effizient, schnell und kostengünstig versandt werden wie mit einer herkömmlichen E-Mail. Der große Vorteil: De-Mail und die damit verbundenen Angebote sind sicher, die Daten sind geschützt! Das Bürgerportalgesetz schafft den dafür notwendigen Rechtsrahmen. De-Mail wurde zusammen mit der Wirtschaft entwickelt. Versicherungen, Banken, Sparkassen, Handwerk, Steuerberater, Anwälte und natürlich auch Unternehmen aus der IT-Wirtschaft haben ein großes Interesse an diesem Projekt. Zusammen mit Datenschützern und Datenschutzverbänden wurden die Sicherheitsstandards entwickelt. Das Gesetz regelt, welche Kriterien ein Unternehmen, das die Infrastruktur für DeMail anbieten will, erfüllen muss. Dazu gehören insbesondere die Einheitlichkeit, Sicherheit und der Datenschutz der angebotenen Postfach-, Versand- und Speicherdienste. Es regelt zudem zum Beispiel die Aufsicht, Deckungsvorsorge und die Modalitäten zur Eröffnung und Sperrung von De-Mail-Konten. Wichtig ist mir dabei: Die Anbieter von De-Mail-Diensten werden kontrolliert und vom Staat zertifiziert, um höchste Sicherheitsstandards zu garantieren. Mit dem elektronischen Personalausweis, den wir im letzten Jahr beschlossen haben, und auch mit De-Mail bieten wir den Bürgerinnen und Bürgern zwei ganz wesentliche Elemente, die zu mehr Sicherheit beitragen und das Vertrauen in e-Government und elektronische Kommunikation erhöhen. De-Mail bietet aber nicht nur mehr Sicherheit und Datenschutz, sondern hat auch einen ganz wesentlichen wirtschaftlichen Aspekt. Unternehmen in Deutschland werden in Zukunft durch Umstellung auf sichere elektronische Kommunikation und beschleunigte Geschäftsprozesse mehrere Hundert Millionen Euro pro Jahr einsparen können. Darüber hinaus wird mit dem Bürgerportalgesetz ein neuer Markt für sichere elektronische Kommunikation geschaffen, der in Deutschland einen Wachstumsimpuls für innovative ITK-Technologien geben wird. Auch die öffentliche Verwaltung wird mit De-Mail über eine einfachere und schnellere rechtsverbindliche Kommunikation mit Bürgern und Unternehmen 100 bis 150 Millionen Euro jährlich einsparen können. Deutschland ist das erste Land weltweit, das mit einem Konzept wie De-Mail an den Start geht. Wir bauen damit unsere Vorreiterrolle, die wir bereits mit dem e-Personalausweis unter Beweis gestellt haben, weiter aus. Wir tragen mit dem Bürgerportalgesetz zu mehr Sicherheit und Datenschutz in der elektronischen Kommunikation bei. Und wir leisten unseren Beitrag, dass Deutschland zu einem international führenden IT-Standort mit großer Bürgernähe, hoher Verwaltungseffizienz und geringen Bürokratiekosten wird.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Bundesregierung hat sich dem Ziel verschrieben, Verwaltungsabläufe bürgernah zu gestalten. Dazu gehört im Rahmen des sogenannten e-Government-Programms 2.0 und der High-Tech-Strategie der Bundesregierung auch die Frage, wie Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen auf sicherem Wege die elektronische Kommunikation mit Behörden erledigen können. Im Zeitalter des Internets und der mittlerweile sehr gebräuchlichen Kommunikation via E-Mail erlangt diese Frage zunehmend Bedeutung. Wenn sich neue Medien wie E-Mail und Internet etablieren, dann ist es Aufgabe des Gesetzgebers, verlässliche Rahmenbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Datensicherheit und Datenschutz, für die Nutzung dieser Medien zu schaffen. Und genau hier gibt es aktuellen Regelungsbedarf. Bislang ist die Kommunikation über E-Mail und Internet dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar schnell und einfach abgewickelt, aber auch leicht manipuliert werden kann. E-Mails können von unbefugten Dritten abgefangen, mitgelesen und verändert werden. Die Vertraulichkeit der Kommunikation und die Identität der Kommunikationspartner sind mit ihnen nicht ohne Weiteres gewährleistet bzw. nicht sicher nachvollziehbar. RechtsZu Protokoll gegebene Reden verbindliche Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern bzw. Wirtschaftsunternehmen einerseits und staatlichen Stellen andererseits erfordert aber die Garantie unverfälschter Übermittlung sowie eindeutiger Identifizierung der Kommunikationspartner und die Möglichkeit einer rechtssicheren Zustellung elektronischer Dokumente. Diesen Erfordernissen will der vorliegende Gesetzentwurf gerecht werden: Er sieht gesetzliche Rahmenbedingungen und technische Grundlagen für die Schaffung sogenannter Bürgerportale im Internet vor. Diese Portale sollen wie eine Art E-Mail-Intranet funktionieren. Dazu müssen Privatpersonen oder Unternehmen ein elektronisches Postfach eröffnen, über das sie später mit staatlichen Stellen kommunizieren können und das so mit technischen Sicherheitsvorkehrungen versehen sein soll, dass unbefugte Zugriffe durch Dritte ausgeschlossen werden können. Zudem ist eine einmalige Akkreditierung bzw. Identifizierung durch den Nutzer erforderlich, wie sie heute beispielsweise bei der Eröffnung eines Bankkontos erfolgt. Danach lässt sich ein solcherart gesichertes Postfach wechselseitig für alle Angelegenheiten mit rechtlich verbindlichem Charakter nutzen, also etwa für Widersprüche gegen Steuerbescheide, Kaufverträge, Mahnungen usw. Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, dass Bürgerportale von privaten Anbietern betrieben werden, die durch das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik ({0}) akkreditiert, zertifiziert und kontrolliert werden sollen. Damit soll ausgeschlossen werden, dass unseriöse Anbieter sich im Feld der Bürgerportale bewegen können. Alles in allem halten wir die Einrichtung von Bürgerportalen für einen guten Weg, der technischen Entwicklung und dem zunehmenden Bedürfnis nach zeit- und kostensparender Kommunikation mit Behörden gerecht zu werden. Wer von Bürgernähe und guten Bedingungen für Unternehmen redet, darf sich den Zeichen der Zeit nicht verschließen: Verbesserte Kommunikationskanäle und ein verbesserter Datenschutz müssen Bestandteile modernen Regierens sein. Deshalb unterstützt die SPDFraktion das Vorhaben der Bundesregierung, das im Übrigen durch ein vom Bundesministerium des Inneren sorgfältig vorbereitetes Pilotprojekt in Friedrichshafen ab Mitte dieses Jahres getestet werden soll. Allerdings gibt es noch eine Reihe von Punkten bzw. offenen Fragen, die geklärt werden müssen, bevor das Gesetz zur Regelung von Bürgerportalen verabschiedet werden kann. Dazu abschließend einige Anmerkungen: Bei der Akkreditierung und Zertifizierung privater Betreiber von Bürgerportalen muss sichergestellt werden, dass sie datenschutzrechtliche Standards auf jeden Fall einhalten. Die Nutzer müssen sicher sein können, dass ihre Daten nur für Zwecke des Bürgerportals und zum Beispiel nicht für Werbezwecke genutzt werden. Es darf nicht möglich sein, dass Nachrichten bei den Portalbetreibern durch unbefugte Dritte gelesen oder manipuliert werden können. Die Einführung von Bürgerportalen darf nicht zur Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern führen, die keinen Zugang zu elektronischer Kommunikation haben. Die herkömmlichen Zustellungswege müssen auch künftig gleichberechtigt erhalten bleiben. Auch die Verquickung privater Dienstleistungen mit hoheitlichen Aufgaben muss genau abgewogen werden. Wenn private Betreiber von Bürgerportalen amtliche Schriftstücke rechtsverbindlich zustellen dürfen, muss sichergestellt werden, dass privates Interesse und Handeln im hoheitlichen Auftrag eindeutig voneinander getrennt bleiben. Wegen dieser und anderer Punkte liegt es nahe, nach der Überweisung des Gesetzentwurfs in die zuständigen Ausschüsse eine öffentliche Anhörung zu veranstalten, um dann nach sorgfältiger Abwägung aller offenen Fragen zu einem guten Gesetz zu gelangen. Den Bemühungen der Bundesregierung um ein bürgerfreundliches Deutschland mit modernen Kommunikationsstrukturen würde dies zugute kommen.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Initiativen zur Förderung des E-Government sind richtig und wichtig. Es ist gut, dass die Bundesregierung das Potenzial des E-Government für die Modernisierung der Verwaltung und für Bürokratieabbau nutzen will. Im Mittelpunkt muss beim E-Government die Sicherheit und Vertraulichkeit der Kommunikation mit Behörden stehen. E-Government braucht vor allem das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wie auch der Wirtschaft. Daher ist es auch gut, dass die Bundesregierung die Schaffung sicherer Kommunikation mit Behörden zum zentralen Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs erhebt. Allerdings leidet der Gesetzentwurf an gravierenden Mängeln. Schon ganz grundsätzlich ist nicht nachvollziehbar, warum neben bestehenden auf dem Markt entwickelten Technologien zur sicheren Kommunikation mit De-Mail ein neues Mammutprojekt aus der Taufe gehoben werden muss. Mit der Größe eines solchen Projekts steigert sich proportional auch die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Damit wäre aber E-Government überhaupt nicht geholfen. Das Prinzip, dass derartige Mammutprojekte weniger bringen, als es einfach und praktisch zu gestalten, hat sich bei der Maut gezeigt - diese Gefahr besteht bei De-Mail ebenso. Der Staat ist nicht der bessere Anbieter von neuen Technologien. In anderen Staaten, die Deutschland hinsichtlich E-Government weit voraus sind, werden gängige sichere Kommunikationstechnologien genutzt, die sich am Markt bewährt haben und auch am Markt beständig fortentwickelt werden. Würden die Behörden den Bürgerinnen und Bürgern anbieten, mit ihnen unter Nutzung von solchen am Markt vorhandenen Technologien zu kommunizieren, die bestimmte Mindeststandards erfüllen, würde sich ein Markt eröffnen, der die Weiterentwicklung dieser Technologien beflügeln würde. In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion „Planungen zur Einführung von DeMail“ ({0}) konnte die Bundesregierung über die Initialkosten der Einführung von De-Mail bei den Behörden noch keine Auskunft geben. Auch zu den Kosten, die auf die Bürgerinnen und Bürger bei der Nutzung zukommen, gibt es nur vage Vermutungen. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass die Kosten eiZu Protokoll gegebene Reden nes marktorientierten Modells niedriger liegen würden. Hierfür spricht schon die allgemeine Lebenserfahrung. Es besteht daher die Gefahr, dass De-Mail sich als Bremse bei der Entwicklung von E-Government erweist und zu einer Abkopplung der Sicherheit in der Behördenkommunikation im Bereich der elektronischen Kommunikation vom allgemeinen Markt führt. Und die Bundesregierung wäre nicht die Bundesregierung, insbesondere der Bundesinnenminister nicht der Bundesinnenminister, wie wir ihn kennen, wenn nicht auch noch ein paar Gefahren für die Bürgerrechte enthalten wären. Nach § 16 des Gesetzentwurfs besteht unter sehr weiten Voraussetzungen ein Auskunftsanspruch für Dritte, also private wie auch öffentliche Stellen, gegen den Dienstebetreiber hinsichtlich personenbezogener Daten des Nutzers. Das öffnet nicht nur dem Adresshandel mit den De-Mail-Adressen Tür und Tor, sondern hat mit Datenschutz überhaupt nichts zu tun. Da kann dann jede Behörde in Deutschland und auch sonst jeder private Dritte kommen und vom Provider verlangen, Auskunft über persönliche Daten zu erteilen, wohlgemerkt beim Provider, nicht bei einer Behörde. Der Provider soll dann prüfen, ob glaubhaft dargelegt ist, dass das Ersuchen der Verfolgung eines Rechtsanspruchs dient und nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlich ist. Das ist eine Aufgabe, die ein privates Telekommunikationsunternehmen, also ein Provider, nicht leisten kann - und in einem Rechtsstaat, mit Verlaub, auch nicht leisten sollte. Was ist, wenn die Daten unrichtigerweise an eine Werbefirma weitergegeben wurden? Dann bleibt dem Kunden wohl nur die erneut kostenpflichtige Einrichtung einer neuen Adresse oder die Alternative, einen Spam-Filter einzurichten. Mit De-Mail schafft sich der Staat im Übrigen ein neues Anwendungsfeld für den E-Personalausweis. Da dieser Voraussetzung zur Nutzung von De-Mail sein wird, wird die Freiwilligkeit der Funktionen, die nur in Verbindung mit der Speicherung biometrischer Daten vorhanden ist, zur Farce. E-Government nur gegen persönliche Daten - das untergräbt das Vertrauen in diese Anwendungen und ist im Hinblick auf die informationelle Selbstbestimmung sehr fragwürdig. Würde ein privater Anbieter so handeln, läge ein klarer Verstoß gegen das „Kopplungsverbot“ vor, das verbietet, den Zugang zu Diensten im Internet nur gegen Preisgabe persönlicher Daten zu gewähren, die nicht für die Diensteerbringung zwingend erforderlich sind. Die akkreditierten Diensteanbieter haben nach § 21 Abs. 1 des Entwurfs auch eine umfassende Mitwirkungspflicht gegenüber dem BSI. So ist der Behörde das Betreten der Geschäftsräume während der üblichen Betriebszeiten zu gestatten, auf Verlangen die in Betracht kommenden Bücher, Aufzeichnungen, Belege, Schriftstücke und sonstigen Unterlagen in geeigneter Weise zur Einsicht vorzulegen, auch soweit sie elektronisch geführt werden, Auskunft zu erteilen und die erforderliche Unterstützung zu gewähren. Damit geht die Bundesregierung weiter auf dem Weg, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, schleichend zu einer Sicherheitsbehörde mit erheblichen Eingriffsbefugnissen umzubauen. Zugleich soll das BSI auch als zentraler Dienstleister im Bereich der ITTechnik von Bund und Ländern eine immer kritischere Rolle einnehmen. Das BSI soll die Technik für die öffentlichen Stellen bereitstellen, die IT-Sicherheit kontrollieren und zudem auch noch mit Hoheitsbefugnissen ausgestattet die Teilnehmer an den IT-Systemen überwachen. Mit dem parallel eingebrachten Gesetzentwurf für ein neues BSI-Gesetz soll diese Behörde unter anderem die Befugnis erhalten, jede elektronische Kommunikation zwischen Behörden und Bürgern ebenso wie Unternehmen aufzuzeichnen und auszuwerten. Im Zusammenspiel mit den Befugnissen aus dem Bürgerportalgesetz verfolgt die Bundesregierung also weiterhin ihre Pläne, das BSI zu einer Art NSA umzugestalten, zu einer NSA allerdings, die zugleich noch auf dem Markt auftritt und dort Wirtschaftsunternehmen im IT-Bereich Konkurrenz macht. Das ist eine sehr unglückliche Verquickung. Zunächst positiv erscheint die Eröffnung zusätzlicher Möglichkeiten für die Zustellung von Dokumenten im Rechtsverkehr. Allerdings liegt auch hier der Teufel im Detail. Die Zustellung kann zukünftig durch die „Niederlegung“ in einem virtuellen Postfach erfolgen. Bislang musste der Absender aktiv die Zustellung bewirken und sie in den Kenntnisnahmebereich des Empfängers bringen. Durch das Bürgerportal wird diese Sphäre zulasten des Empfängers verschoben. Dieser ist nun gezwungen, sich regelmäßig in seinem Bürgerportalkonto anzumelden, um nicht in die Gefahr einer Unanfechtbarkeit wegen Fristversäumnis, so zum Beispiel bei Mahnbescheid oder Gerichtsurteil, zu geraten. Denn es handelt sich ja nicht um einen Briefkasten, an dem man regelmäßig vorbeikommt und bei dem man im Urlaub den Nachbarn mit der Leerung beauftragen kann. Da die Weitergabe des Passworts unzulässig wäre, ist dies nämlich ausgeschlossen. Die vorgeschlagene Niederlegung ist dann auch keine Erleichterung, sondern eine Zumutung für die Bürgerinnen und Bürger. Mindestens müsste sichergestellt sein, dass eine elektronische Mitteilung, etwa per Mail oder SMS, erfolgt, wenn eine Niederlegung erfolgt ist. E-Government ist für die Zukunft zu bedeutsam, als dass man seine Weiterentwicklung durch Fehlsteuerungen gefährden darf. Die FDP-Bundestagsfraktion wird daher im Weiteren parlamentarischen Verfahren auf eine kritische Würdigung der Vorschläge dringen und eine Sachverständigenanhörung beantragen.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der heute Gegenstand der Beratungen ist, sieht rechtliche Rahmenbedingungen für eine sichere und vertrauenswürdige Kommunikation zwischen den Bürgerinnen und Bürgern auf der einen und der Wirtschaft und der Verwaltung auf der anderen Seite im Internet vor. In der Öffentlichkeit wird dieser Gesetzentwurf vor allem mit den Begriffen De-Mail und De-Safe diskutiert und transportiert. E-Mails, so weit so richtig im Gesetzentwurf der Bundesregierung, sind zu einem Massenkommunikationsmittel geworden. E-Mails sind preiswert, schnell, einfach und ortsunabhängig, heißt es in dem Entwurf weiter. Dieser Aussage ist vonseiten der Linken nicht in allen Details Zu Protokoll gegebene Reden Jan Korte ({0}) zuzustimmen. Denn die Nutzung von E-Mails setzt meist die Bereitstellung geeigneter technischer Gerätschaften und Infrastrukturen voraus, über die wir hier im Plenum bereits mehrfach gesprochen haben. Denn nicht alle Regionen der Republik können entsprechende Infrastrukturen zur barrierefreien und schnellen Nutzung von E-MailDiensten bereitstellen. Zudem ist es vielen Bürgerinnen und Bürgern, vor allem aber sozial Benachteiligten, nicht möglich, die technischen Gerätschaften, die für die Kommunikation im Internet notwendig sind, zu erwerben oder bereitzustellen. An diesen Punkt greift auch die Entschließung der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 16. April des Jahres ein. Hierin wird kritisiert, dass durch den Gesetzentwurf eine Benachteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, die über kein Bürgerkonto verfügen, nicht ausgeschlossen wird. Zu Recht mahnt die Bundesregierung die Kostenersparnis durch eine sichere Kommunikationsplattform im Internet für viele Bereiche des öffentlichen und privatwirtschaftlichen Lebens an. Dieses richtige Argument darf aber nicht den Blick darauf verstellen, dass sowohl aus finanziellen als auch aus sozialen und gesundheitlichen Gründen nicht alle Bürgerinnen und Bürger des Landes die ins Gespräch gebrachten Bürgerplattformen nutzen werden oder können. Diesen darf jedoch daraus kein Nachteil oder gar ein Zwang zur technischen Nachrüstung oder persönlichen Nachschulung entstehen. Dazu allerdings findet sich im Gesetzentwurf kein Wort. Überhaupt hat die Konferenz der Datenschützer mehrere Kritikpunkte formuliert, die dringend beachtet werden müssen und ohne die der vorgelegte Gesetzentwurf das Parlament nicht passieren darf. Zwar stellt der Entwurf darauf ab, dass Voraussetzung für eine Akkreditierung von Dienstanbietern von sogenannten Bürgerportalen der Nachweis der technischen und administrativen Sicherheit gegenüber dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, ist, jedoch wird nicht geregelt, dass auch die tatsächliche Einhaltung der datenschutzrechtlichen Standards kontinuierlich vorgenommen wird. Gerade die Datenschutzverstöße bei der Bahn, der Telekom, Airbus, Müller, Lidl und Daimler haben uns allen vor Augen geführt, dass ein Datenschutzrecht gut und schön ist, es aber systematisch umgangen wird. Regelmäßige Kontrollen sind also nötiger als jemals zuvor. In Zeiten der zunehmenden Technisierung der Kommunikation steigt auch die sogenannte Internetkriminalität besorgniserregend an. Vor allem im elektronischen Geschäftsverkehr kommt es vielfach zu Missbrauch und Betrugsversuchen. Dem einen Riegel vorzuschieben und die Nutznießer derartiger Kriminalität zur Rechenschaft zu ziehen, war auch immer Anliegen der konsequenten Bürgerrechts- und Datenschutzpolitik der Linken. Um jedoch der Internetkriminalität das Leben zumindest etwas schwerer zu machen, reicht es eben nicht aus, wie vorgeschlagen, lediglich die Vertraulichkeit, die Integrität und die Authentizität von Nachrichteninhalten durch einen verschlüsselten Transport zu gewährleisten. Nein, vielmehr muss auch ausgeschlossen werden, dass Nachrichten bei den Portalbetreibern oder Dienstanbietern von Dritten eingesehen, manipuliert oder gar gelöscht werden können. Hier besteht ein großes Defizit im Gesetzentwurf, das dringend behoben werden muss. Auch die vorgesehene Möglichkeit der Anmeldung bei Bürgerportalen durch Passwörter öffnet Angriffen durch Schadsoftware Tür und Tor. Dadurch wird das gesamte Projekt des sicheren Bürgerportals diskreditiert. Für die weitere Debatte möchte ich deshalb auf die zahlreichen Stellungnahmen der Datenschützer in diesem Lande verweisen und hoffe, dass die Regierung nach den Beratungen in den Ausschüssen in der Lage ist, eine deutlich korrigierte Fassung ihrer im Grundsatz zu begrüßenden Initiative auf den Tisch zu legen. Andernfalls kann Die Linke diesem Gesetzentwurf nicht nur nicht zustimmen, sondern muss erneut darauf verweisen, dass die Bundesregierung dem Datenschutz in diesem Lande lediglich mit Desinteresse und Unfähigkeit begegnet.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Diese Bundesregierung in ihren letzten Zügen hat es wieder einmal fertig gebracht, ein gutes Vorhaben so zu vermurksen, dass man nur hoffen kann, dass dieses Gesetz das Ende der Legislaturperiode nicht mehr erreicht. Wie üblich werden auch hier wichtige Fragen der technischen Ausgestaltung der Bürgerportale unter Rechtsverordnungsvorbehalt gestellt. Das ist die gleiche Methode wie beim Audit-Gesetz. So geht es aber nicht. Gesetze sind dazu da, normenklar die wirklich wesentlichen Fragen zu klären. Gesetzliche Bestimmungen sind keine Leerstellen, die von der Exekutive nach Gutdünken am Parlament vorbei geregelt werden können. Ein Bürgerportal ist eine sinnvolle Einrichtung. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen ein sicheres System, um mit Behörden, aber auch mit anderen Privaten zu kommunizieren. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen Container, in denen sie sensible Daten sicher ablegen können, und der Staat muss die Sicherheit des Internets genauso gewährleisten wie die Sicherheit auf öffentlichen Straßen. Wir leben im Informationszeitalter. Da unterstützen gesetzlich festgelegte Standards eine sichere Kommunikation mit öffentlichen Behörden. Gut gemeint ist aber noch längst nicht gut gemacht. Was die Datensicherheit angeht, ist der Gesetzentwurf mangelhaft. Hier muss erheblich nachgebessert werden, und ich bin überzeugt, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte hier gerne behilflich ist. Sie müssen seine Anregungen allerdings auch aufnehmen und umsetzen. Allerdings fehlt mir beim Thema Datenschutz mittlerweile der Glaube, dass Sie wirklich ernsthaft bemüht sind, den Datenschutz zu stärken. Defizite haben wir hier nicht nur in der Privatwirtschaft, sondern, wie wir hier wieder deutlich sehen, auch bei jedem Gesetz dieser Großen Koalition. Mir fehlt in dem Gesetzentwurf eine wirksame Garantie dafür, dass die datenschutzrechtlichen Standards auch tatsächlich eingehalten werden. Ich habe im Gesetzentwurf vergeblich nach diesen Mindestanforderungen gesucht. Ich teile hier die Forderung der Konferenz der Datenschutzbeauftragten, dass die Akkreditierung der Anbieter erst dann erfolgen darf, wenn auch eine unabZu Protokoll gegebene Reden hängige Prüfstelle bescheinigt, dass die Anforderungen erfüllt sind. Die Bundesregierung will ganz offensichtlich verhindern, dass Externe dem BSI auf die Finger schauen. Wir beobachten den Ausbau des BSI mit immer größerer Sorge. Hier entsteht eine Behörde, die immer mehr Zugriff auf Daten erhält und die sich gleichzeitig immer stärker einer Kontrolle entzieht. Ohne Transparenz kann hier kein Vertrauen entstehen. Die Datensicherheit ist beim Bürgerportal in keiner Weise gewährleistet. Ein Gesetz, das keine Ende-zuEnde-Verschlüsselung festschreibt, ist nicht zustimmungsfähig. Hier muss es im Interesse der Bürgerinnen und Bürger Verbesserungen geben. Es muss klar verboten sein, dass die Nachrichten durch Dritte gelesen oder manipuliert werden können. Was hier an Verschlüsselung angeboten wird, reicht nicht aus. Wenn Verschlüsselung tatsächlich die Zukunft der Datensicherheit ist, dann haben Sie noch nicht verstanden, was die Grundsätze einer sicheren Verschlüsselung sind. Es stellt sich überhaupt die Frage, ob auch das vom Bund angebotene System einer Bürger-E-Mail-Adresse, „De-Mail“ ebenso wie der „De-Safe“ als Zwischenlager für Unterlagen bereits hinlänglich technisch ausgereift ist. Bei allem Verständnis dafür, die Menschen an die moderne elektronische Kommunikation mit der Verwaltung heranzuführen: Hier brauchen wir solide technisch ausgereifte Konzepte und keine Optionen auf erhoffte künftige Entwicklungen. Wie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, schützt das neue Gesetz die Nutzerinnen und Nutzer während des Anmeldevorgangs vor einer Schadsoftware? Mit dem höchst unsicheren Zugang durch ein Passwort können Sie uns doch nicht zufriedenstellen. Das knackt doch ein Informatikstudent in den Anfangssemestern. Wir treffen Vorsorge für die moderne elektronische Kommunikation. Das ist richtig. Wir dürfen aber auch die Menschen nicht am Wegesrand stehen lassen, die hier nicht mehr mitkommen. Ich denke nicht nur an ältere Menschen, sondern auch an Menschen, die aus vielerlei Gründen mit der modernen Technik nicht mehr zurechtkommen. Auch die haben einen Anspruch, mit Behörden zu kommunizieren, ohne einen Nachteil zu haben. Leider fehlt hier jede Sicherheit, dass sie ohne den Zugriff auf ein Bürgerportal nicht diskriminiert und benachteiligt werden. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Nutzerinnen und Nutzer aufgeklärt und über die Rechtsfolgen dieser Nutzung hinreichend informiert werden. Auch hier reicht der Gesetzentwurf nicht aus. Die Betroffenen müssen wissen, was die Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten für den Rechtsverkehr bedeutet. Die Vielzahl der offenen Fragen und Kritikpunkte verbietet einen parlamentarischen Schnelldurchlauf. Wir brauchen, auch wenn die Zeit in den Ausschüssen langsam knapp wird, eine parlamentarische Anhörung, in der auch die vielfältigen Bedenken aus den Bundesländern zur Sprache kommen müssen. Es macht überhaupt keinen Sinn, so ein wichtiges Vorhaben ohne ausführliche Beratung durch das Parlament zu jagen. So fehlerhaft, wie das Gesetz derzeit ist, können wir ihm nicht zustimmen. Wir wollen Bürgerportale mit staatlichen Standards, aber bitte mit Datensicherheit und mit Datenschutz, sonst wird das Ganze ein Flop.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12598 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgeschlagen. - Dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist so beschlossen. Tagesordnungspunkt 30: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unabhängige Beauftragte zur Untersuchung von Polizeigewalt - Drucksache 16/12683 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Helmut Brandt, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, Ulla Jelpke und Wolfgang Wieland.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir debattieren heute über einen Antrag der Fraktion Die Linke, in dem diese die Einrichtung eines unabhängigen Beauftragten zur Untersuchung von Polizeigewalt fordert. Bevor ich inhaltlich im Einzelnen auf den Antrag eingehe, lassen Sie mich zunächst ein paar allgemeine Bemerkungen zu dem hier zu beratenden Antrag der Linksfraktion äußern. Insbesondere die Begründung des vorliegenden Antrags soll offensichtlich den Eindruck erwecken, als seien alle deutschen Polizisten gewalttätige Rassisten, die sich an keine rechtsstaatlichen Regeln hielten. Ich möchte daher zunächst einmal klarstellen, dass davon hier in Deutschland keine Rede sein kann. Ganz im Gegenteil, unsere Polizei verhält sich in aller Regel absolut korrekt gegenüber jedermann, ganz gleich, ob er Deutscher oder Ausländer ist. Wir von der CDU/CSUBundestagsfraktion lassen deshalb nicht zu, dass Sie deutsche Polizisten unter einen Generalverdacht stellen und derartig verunglimpfen. Dennoch ist richtig, dass es in der Vergangenheit auch zu Vorfällen gekommen ist, wo einzelne - ich betone nachdrücklich: einzelne - Polizeibeamte sich nicht richtig beziehungsweise sogar rechtswidrig verhalten haben. Wir alle wissen, dass Polizeibeamte tagtäglich unter enormem Druck stehen und sich Beleidigungen, Anfeindungen und gewalttätiges Verhalten gefallen lassen müssen, Tendenz steigend. Die Innenminister haben dieses Problem erkannt und werden sich im Rahmen einer der nächsten IMK-Sitzungen mit diesem Problem befassen. Dass angesichts solcher Anfeindungen und gewalttätigen Verhaltens auch ein Polizist die Beherrschung verlieren kann, ist definitiv nicht gerechtfertigt, aber doch in einigen Fällen menschlich nachvollziehbar. Nicht dass Sie mich missverstehen: Ein rechtswidriges oder strafbares Verhalten einzelner Polizeibeamter verurteilen auch wir aufs Schärfste. Wie ich jedoch schon sagte, handelt es sich dabei um Einzelfälle. Meine Erfahrung ist außerdem, dass die Polizeibeamten, die sich in unserem Land nicht an Gesetze halten, von Staatsanwälten und Gerichten dafür zur Verantwortung gezogen werden. Mit der Dienstaufsichtsbeschwerde steht außerdem jedermann eine innerbehördliche Kontrollmöglichkeit zur Verfügung. Ich habe vollstes Vertrauen in die Justiz bei der Aufklärung und Ahndung polizeilichen Fehlverhaltens. Auch bezweifle ich, dass ein unabhängiger Beauftragter in der Lage wäre, den vermeintlichen polizeilichen Korpsgeist, der Ihrer Beschreibung nach die Aufklärung eventueller Straftaten von Polizisten unmöglich machen soll, zu verhindern. Denn wollten wir einmal davon ausgehen, dass es solch ein „Mauern“ und einen von Ihnen beschriebenen Korpsgeist seitens der Polizei gäbe, ist mir nicht ersichtlich, inwiefern Ihr Beauftragter diese Mauer des Schweigens eher durchbrechen könnte als ein von Amts wegen unabhängiger Staatsanwalt. Selbst unter diesem Gesichtspunkt bedeutete die Einrichtung des Beauftragten also keinen Fortschritt. Nun zum Inhalt Ihres Antrages: Es erstaunt, dass Sie Ihre Forderung nach einem unabhängigen Beobachter auf einen Bericht von Amnesty International aus dem Jahre 2004 stützen. Wir alle schätzen die Arbeit von Amnesty International und wissen um das Engagement dieser Organisation. Dass Amnesty International offenbar seitdem keinen neuen Bericht vorgelegt hat, lässt für mich nur einen Schluss zu: nämlich den, dass das von Ihnen beschriebene Problem der mutmaßlichen Polizeigewalt in unserem Lande bislang jedenfalls marginal ist. Wie ich bereits sagte: Einzelfälle gibt es immer. Auf Bundesebene ist mir übrigens bislang kein Fall bekannt, in dem es zu rechtswidrigem oder strafbarem Handeln eines Polizisten gegenüber Einzelnen gekommen wäre. Die Vorwürfe, die Amnesty International erhebt, richteten sich bislang ausschließlich gegen Beamte der Länderpolizeien. Das System der Gewaltenteilung, das unserem Grundgesetz zugrunde liegt, erlaubt es uns gar nicht, den Ländern die Einrichtung eines unabhängigen Beauftragten vorzuschreiben. Ich bin deshalb ebenfalls etwas erstaunt über Ihre Forderung, im Rahmen der Innenministerkonferenz eine entsprechende Initiative zur Einrichtung eines unabhängigen Beobachters zu starten. Sie fordern in Ihrem Antrag, dem Beauftragten Eingriffsbefugnisse zuzugestehen. Das bedeutet, Sie wollen dem Beauftragten Befugnisse bei den Ermittlungen zuteilen, die denen des Staatsanwalts in so gut wie nichts nachstehen. Wir sehen da die Gefahr der Einrichtung einer Paralleljustiz, die dem Gang der staatsanwaltlichen Ermittlungen abträglich wäre, da es zu einer Konkurrenz in den Kompetenzen kommen würde, welche die Autorität des Staatsanwaltes untergraben würde. Und das kann wohl kaum in unserem Interesse sein. Schließlich legen Sie besonderen Nachdruck darauf, dass der Beauftragte unbedingt unabhängig von den Polizeibehörden sein sollte. Davon einmal abgesehen, dass ich der Überzeugung bin, dass kaum ein Polizist bei der Ahndung von Straftaten seiner Kollegen, wie Sie sagen, „mauert“, möchte ich darauf hinweisen, dass auch die Beauftragten, wie Sie sie sich vorstellen, nicht vollkommen unabhängig sind. Vielmehr schlagen Sie in Punkt 3 d vor, dass auch der Sachverstand von NGOs wie Amnesty International oder Komitee für Grundrechte und Demokratie auf ehrenamtlicher Basis eingeholt werden soll. Sie können doch nicht einerseits diesen Beauftragten weitreichende quasi-staatsanwaltliche Befugnisse bei den Ermittlungen geben und andererseits NGOs zu Rate ziehen. Wo bleibt dann die Unabhängigkeit, wenn die Beauftragten von der Meinung von NGOs abhängen? Der Staatsanwalt ist seinerseits durch die strikte Gewaltenteilung in Deutschland gänzlich unabhängig, sei es von der Polizei oder von NGOs. Somit wäre die Einrichtung solcher Beauftragter nicht nur kein Gewinn, nein, sie bedeutete gar einen Rückschritt gerade in Bezug auf die Unabhängigkeit in der Strafverfolgung. Ich glaube, es ist klar geworden, dass wir einen in Ihrem Antrag geforderten unabhängigen Beauftragten zur Untersuchung von Polizeigewalt nicht benötigen. Wir leben in einem funktionierenden Rechtsstaat, in dem unabhängig von der Person begangene rechtswidrige und strafbare Handlungen konsequent verfolgt und geahndet werden. Wir verfügen hierzu über genügend unabhängige Kontrollmöglichkeiten. Die Medien beobachten im Übrigen sehr genau Veranstaltungen und das polizeiliche Vorgehen im Allgemeinen. Wir lehnen Ihren Antrag folglich ab.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute beraten wir einen Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion Die Linke: Unabhängige Beauftragte zur Untersuchung von Polizeigewalt. Der Antrag nimmt die Kritik unterschiedlicher internationaler Institutionen wie dem UN-Menschenrechtsausschuss, des Europaratskomitees gegen Rassismus und Intoleranz, dem UN-Ausschuss und der Europaratskommission zur Verhinderung von Folter und erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International an der Praxis der deutschen Strafverfolgungsbehörden auf. Diese Kritik wird zum Ausgangspunkt für die Einrichtung polizeiunabhängiger Beschwerde- und Untersuchungsmechanismen zur Untersuchung insbesondere der Polizeigewalt in Deutschland genommen. Die in dem Antrag aufgezählten Todesfälle, die in polizeilicher Obhut erfolgten, bedaure ich sehr. Wenn Menschen in staatlicher Obhut ums Leben kommen, müssen die Umstände, unter denen dies geschah, aufgeklärt werden. Es darf keine Entschuldigung dafür geben, solche Ermittlungen zu behindern. Die Ziele, die in dem Antrag benannt werden, sind zweifelsohne unterstützenswert: Potenzielles polizeiliches Fehlverhalten soll möglichst schon im Vorfeld verhindert werden; polizeilich begangene Straftaten sollen aufgedeckt werden. Auch strukturelle Probleme innerhalb der Polizeiorganisation aufzudecken, die Überforderung von PoZu Protokoll gegebene Reden lizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu benennen und in Zukunft zu verhindern mit dem Ziel, Lösungsvorschläge für die Optimierung polizeilicher Handlungs- und Organisationsstrukturen zu benennen, teile ich voll und ganz. Dass neutrale Beobachter polizeiliche Großeinsätze wie beispielsweise Demonstrationen begleiten und durch ihren offensichtlichen Beobachterstatus präventiv und deeskalierend wirken, halte ich für sinnvoll. Diese Praxis existiert bereits und hat sich in der Vergangenheit auch als erfolgreich herausgestellt. Nichtregierungsorganisationen wie das Komitee für Grundrechte und Demokratie oder der Arbeitskreis Kritischer JuristInnen führten diese Demobeobachtungen seit Jahren durch, sodass in meinen Augen kein Anlass besteht, diese erfolgreiche und per se vom Staat unabhängige Arbeit durch eine staatliche Instanz zu ersetzen. Das Gleiche gilt für die Feststellung, dass immer wieder Beschwerden eingehen, die überprüft werden sollten. Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder das Komitee für Grundrechte und Demokratie erfüllen diese Aufgabe hinreichend. Daher sehe ich keine Notwendigkeit, einen weiteren administrativen Wasserkopf zu errichten, wie ihn dieser Antrag mit eigenen Diensträumen und einem Mitarbeiterstab aus hauptamtlichen und ehrenamtlichen Personen fordert. In der vorliegenden Form fordert der Antrag geradezu die Schaffung von Parallelstrukturen zur Staatsanwaltschaft, auch wenn er gerade dies bestreitet. Doch was ist eine Behörde, der Eingriffsbefugnisse zustehen sollen wie ein „uneingeschränktes und sofortiges Akteneinsichtsrecht, ein Betretungsrecht für dienstliche Räume sowie ein Befragungsrecht“ anderes als eine Parallelinstitution zur Staatsanwaltschaft? Mit der Unterstellung, die Staatsanwaltschaft ermittle nicht unabhängig, kann genauso gut die Überprüfung aller anderen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gefordert werden. Falls berechtigte Zweifel an der Objektivität der Staatsanwaltschaft bestehen, steht es Anwälten offen, dagegen vorzugehen. Ein Generalverdacht, der in einer Behörde institutionalisiert werden soll, trifft aber einen Kernbestand rechtsstaatlicher Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit der Justiz darf keiner Politjustiz geopfert werden! Dass deutsche Staatsanwaltschaften natürlich in keiner Weise unfehlbar sind und genau kontrolliert werden müssen, daran besteht kein Zweifel. Außerdem müssen die Staatsanwaltschaften ihre Ermittlungsergebnisse einem Gericht vorlegen, das dann entsprechend entscheidet. Der im Antrag formulierte Unmut über das Aussageverhalten der Polizei ist nachvollziehbar. Mehr als fraglich ist jedoch, ob eine „unabhängige Untersuchungsstelle“ mit der Aufgabe, polizeiliche Verfehlungen aufzudecken, daran etwas ändern würde. Deswegen und wegen der anderen formulierten Bedenken ist der Antrag abzulehnen.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag, den die Fraktion Die Linke hier heute vorgelegt hat, spricht in jeder Zeile, in jedem Satz von einem tiefen Unverständnis für den Rechtsstaat und die freie Gesellschaft, in der mündige Bürgerinnen und Bürger im Vertrauen auf den Rechtsstaat Zivilcourage beweisen. Die Polizei in Deutschland steht wie keine andere Behörde an vorderster Front für die Wahrung des Rechtsstaats und des Rechts. Die Polizistinnen und Polizisten riskieren oft genug ihre Gesundheit, wenn sie engagiert Tag und Nacht und auch am Wochenende für Recht und Gesetz, für öffentliche Sicherheit und Ordnung sorgen. Die Polizei in Deutschland hat es nicht verdient, von Mitgliedern des Deutschen Bundestags, von einer ganzen Fraktion, hingestellt zu werden, als wäre sie die Vollstreckerin eines Willkür- und Unrechtsstaats. Die Fraktion Die Linke wirft den Polizistinnen und Polizisten vor, dass sie Korpsgeist beweisen. Korpsgeist, was heißt das denn? Korpsgeist bei der Polizei ist ein anderes Wort für Teamgeist, für das Vertrauen aufeinander und das Sich-Verlassen-Können in Gefahrensituationen. Einer für alle und alle für einen. Daraus einen Vorwurf zu konstruieren, ist unzulässig. In allen anderen Bereichen wird Teamgeist eingefordert. Aber bei der Polizei soll es vorwerfbar sein, gerade bei der Polizei, bei der das gegenseitige Vertrauen notwendige Voraussetzung einer reibungslosen Arbeit ist. Wenn hier so getan wird, als wäre es ein spezielles Problem der Polizei, dass Kollegen sich nicht gegenseitig anzeigen, ist das eine Verdrehung der Tatsachen. Wenn eine Kassiererin die andere beim Stehlen beobachtet und das nicht zur Anzeige bringt, dann wirft keiner pauschal den Kassiererinnen Deutschlands Strafvereitelung vor. Wenn aber ein Polizist seinen Kollegen beim Rechtsbruch erwischt, gilt auch in diesem Falle für ihn der Amtsermittlungsgrundsatz, und er muss Anzeige erstatten - denn ansonsten macht er sich wegen Strafvereitelung im Amt schuldig. Ein bei jedem anderen Berufsstand als menschlich angesehenes Verhalten, Kollegen nicht „verpfeifen“ zu wollen, ist bei Polizistinnen und Polizisten also strafbewehrt. Hinzu kommt, dass es ja gerade dem Berufsethos eines Polizisten entspricht, sich für Recht und Gesetz einzusetzen. Gerade hier ist doch die Sensibilität für Rechtstreue besonders hoch. Oft genug kommt es vor, ja, ich würde sogar sagen, in der Regel ist es so, dass Polizistinnen und Polizisten anzeigen, wenn ein Kollege oder eine Kollegin zu weit gegangen ist oder sich eines Vergehens oder Verbrechens schuldig gemacht hat. Die Fraktion Die Linke stellt es in ihrem Antrag so dar, als seien bei der Polizei insbesondere Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu Hause. Das ist eine nachgerade infame Unterstellung. Die Polizei ist sehr sensibel, wenn es um Fremdenfeindlichkeit in den eigenen Reihen geht. Rassismus oder rechtsextremen Tendenzen wird innerhalb der Polizei engagiert entgegengetreten. Natürlich gibt es auch unter den 271 000 Polizistinnen und Polizisten in Deutschland nicht nur Engel. Die Fraktion Die Linke benennt zwei Fälle konkret und verweist daneben auf ungeklärte sowie „zahlreiche“ weitere, nicht näher bestimmte Fälle. Auch der genannte Bericht von Amnesty International bleibt diesbezüglich im Vagen. Dort heißt es, dass kein verlässliches Zahlenmaterial vorliege. Zu Protokoll gegebene Reden Natürlich muss in unserem Rechtsstaat jede Straftat, die durch Polizistinnen und Polizisten begangen wird, zumal im Amt, geahndet werden. Hierzu stellt unsere Rechtsordnung zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung. Die Polizei steht unter Fach- und Dienstaufsicht der übergeordneten Behörden und schließlich der jeweiligen Innenministerien. Die deutsche Staatsanwaltschaft ist die unabhängigste Behörde der Welt. Das ist nicht nur ein fast schon geflügeltes Wort, sondern die Beschreibung der rechtsstaatlichen Realität. Die Staatsanwaltschaften sind mitnichten auf einem Auge blind, sondern im Gegenteil sehr sensibel, wenn es um Vergehen oder Verbrechen geht, die möglicherweise durch Staatsdiener selbst begangen wurden. Die Justiz prüft unabhängig und ohne Ansehen der Person alle Fälle, in denen möglicherweise Recht gebrochen wurde. Es ist schon erstaunlich, vor allem aber sehr erschreckend, dass die Fraktion Die Linke hier mit einem derartigen Misstrauen auf unseren Rechtsstaat blickt und Staatsanwaltschaften, Justiz und Polizei gleichermaßen nicht zutraut, das zu tun, was ihre Aufgabe ist, nämlich Recht und Gesetz zur Geltung zu verhelfen. Im Gegenteil tut die Linke so, als trügen diese quasi im kollusiven Zusammenwirken dazu bei, das Recht zu brechen und Rechtsbruch zu vertuschen. Schließlich darf man nicht übersehen, dass gerade die Polizei - völlig zu Recht angesichts der ihr übertragenen Eingriffsbefugnisse in grundrechtlich geschützte Positionen - unter Beobachtung von Öffentlichkeit und Medien steht. Diese gesellschaftliche Kontrolle ist notwendig und zugleich die Gewähr dafür, dass Missstände nicht unter der Decke gehalten werden können. Im Gegensatz zur Fraktion Die Linke hat die FDP-Bundestagsfraktion großes Zutrauen in die freie und verantwortungsvolle Bürgergesellschaft, in der Zivilcourage und Achtung der Bürgerrechte sowie die Kontrolle staatlicher Gewalt durch das Volk gelebt werden. Neben den genannten Kontrollmöglichkeiten wird die Polizei auch noch intern kontrolliert. In einigen Bundesländern gibt es Innenrevisionen, in einigen Ländern wie in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen ein landesweit agierendes eigenes Kommissariat für Beamtendelikte. Bei Verdacht wird so unabhängig und objektiv ermittelt. In Nordrhein-Westfalen ist es beispielsweise auch üblich, dass die Staatsanwaltschaft sich einer der umliegenden Polizeibehörden bedient, wenn es um Ermittlungen gegen Polizistinnen und Polizisten geht, um so zu vermeiden, dass in der eigenen Behörde ermittelt werden muss. Auch das Disziplinarrecht steht zur Verfügung, sodass auch in Fällen, in denen Fehlverhalten unterhalb der Strafbarkeitsschwelle vorliegt oder auch ein strafbares Verhalten nicht beweisbar war, aber dennoch gewichtige Anhaltspunkte für Fehlverhalten vorliegen, ein geeignetes Instrumentarium zur Verfügung steht. Die Polizei setzt so innerhalb der eigenen Reihen regelmäßig ein klares Zeichen, dass gerade von Polizistinnen und Polizisten einwandfreies Verhalten gefordert ist. Die Fraktion Die Linke blendet übrigens die Kehrseite der Medaille völlig aus. Das Land Sachsen hat gerade im Bundesrat eine Initiative eingebracht, um der Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten zu begegnen. Unabhängig von der kritisch zu beleuchtenden Frage, ob, wie von Sachsen vorgeschlagen, das Strafrecht der richtige Rahmen zur Lösung des Problems ist, ist die Initiative ein hilfreicher Beitrag zu einer notwendigen Debatte. Die Bundesregierung hat gerade im vergangenen Monat auf meine schriftlichen Fragen zu Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten des Bundes dargelegt, dass Bundespolizei und Bundeskriminalamt sowie der Zoll der Thematik Gewalt gegen Polizeibeamte seit Jahren besondere Aufmerksamkeit widmen - und angesichts von circa 1 000 Übergriffen pro Jahr allein gegen Bundespolizeibeamte auch widmen müssen. Gerade im Rahmen von Demonstrationen ist es in den letzten Jahren immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen auf die Polizei gekommen, insbesondere aus dem linksextremistischen Lager. Eine derart einseitige Befassung mit dem Thema wie hier von der Fraktion Die Linke vorgelegt, ist aus Sicht der FDP-Fraktion jedenfalls nicht nachvollziehbar.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dass es auch in Deutschland Rassismus gibt, muss endlich klar erkannt und benannt werden. Ein Problem kann erst bearbeitet werden, wenn es benannt wird. Genau davor drückt sich die Bundesregierung immer noch, und das trotz steigender Zahlen rassistischer Übergriffe. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Minister, ein Ministerpräsident oder die Bundeskanzlerin in den letzten Jahren gesagt hätte: Ja, wir haben ein Problem mit Rassismus! Nach wie vor reduziert die Bundesregierung Rassismus auf ein Problem von Rechtsextremisten. Solange rassistische Vorfälle als Einzelfälle und Ausnahme von der Regel begriffen werden, wird sich aber an der Wurzel des Problems nichts ändern. Der UN-Menschenrechtsrat empfahl dem deutschen Gesetzgeber, endlich eine klare und umfassende Definition von Rassismus und rassistischer Diskriminierung gesetzlich zu verankern. Zudem müsse die Bundesregierung Maßnahmen zur Verbesserung und Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans gegen Rassismus ergreifen. Gerade der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus zeigt, wie schlampig die Bundesregierung mit dem Thema Rassismus umgeht. Diskriminierende und ausgrenzende Gesetze und Vorschriften stehen gar nicht erst zur Diskussion, obwohl Migrantinnen und Migranten durch Einschränkungen ihrer Rechte gegenüber Deutschen als „nicht gleichwertig“ stigmatisiert werden. In Togo war es der Bevölkerung während der deutschen Kolonialzeit verboten, ihr Dorf oder Gebiet ohne eine kostenpflichtige Sondergenehmigung zu verlassen. Die heutige Residenzpflicht für Flüchtlinge bedeutet im Kern nichts anderes. Daneben weist auch das Asylbewerberleistungsgesetz rassistische Schikanen auf. Die Leistungen liegen rund 35 Prozent unter dem Sozialhilfesatz und werden oft nur in Form von Sachleistungen gewährt. Dass Abschiebungshäftlinge für Kosten der Haft und der Abschiebung auch noch zahlen müssen, ist der zynische Höhepunkt einer rassistischen Abschiebepraxis in Deutschland. Zu Protokoll gegebene Reden Und so wie die Bundesregierung die in der Abschlusserklärung der Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban 2001 geforderte Beseitigung aller „diskriminierenden Politiken und Praktiken gegenüber Migranten“ ignoriert, will sie auch nicht der Aufforderung nachkommen, Akte des Rassismus insbesondere von Strafverfolgungsbeamtinnen und -beamten zu erfassen. Doch der UN-Menschenrechtsrat empfahl dem deutschen Gesetzgeber eben auch, gegen rassistische Polizeiübergriffe Maßnahmen zu ergreifen. Insbesondere im Bereich Justiz und Polizei ist die Bundesregierung wiederholt von internationalen Gremien in deutlicher Form kritisiert worden, zuletzt im August 2008 vom UN-Ausschuss zur Beseitigung der rassistischen Diskriminierung CERD. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz - ECRI wies in ihrem dritten Bericht zu Deutschland gleichfalls auf Erscheinungen des Rassismus in Staat und Gesellschaft hin, ebenso die Menschenrechtsbeauftragte des Europarats. Immer wieder gehen auch Beschwerden bei Flüchtlingsräten und Opferberatungsstellen von Menschen ein, die geltend machen, dass sie ohne ersichtlichen Grund und offenbar anknüpfend allein an die Hautfarbe durch die Polizei kontrolliert, diskriminiert und gedemütigt werden. Rassistische Kontrollen, Pauschalverdächtigungen, Entrechtung sowie politische und juristische Verfolgung sind für viele Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten alltägliche Erfahrungen. Für die Betroffenen bedeutet der Übergriff häufig das Gefühl völliger Ohnmacht gegenüber Polizei und Staat. Dies wird durch die geringe Chance einer strafrechtlichen Ahndung des Übergriffs noch verstärkt. Aufgrund einer ungerechtfertigten Gegenanzeige und einer systematischen Nichtverfolgung und Nichtsanktionierung von Übergriffen hat meistens nicht der Täter, sondern das Opfer mit einer Verurteilung zu rechnen. Immer das gleiche Schicksal einer Strafanzeige gegen die Täter: Gegenanzeigen, interne Untersuchungen, die diese Bezeichnung nicht verdienen, Staatsanwälte, die kaum ermitteln und schon gar nicht anklagen. Ein solches Opfer ist Erdal R., dessen Wohnung von einem Berliner Spezialeinsatzkommando gestürmt wurde. Er wurde eines bewaffneten Überfalls verdächtigt - irrtümlich, wie sich bald herausstellte. Sein Zustand nach erfolgter Festnahme legt hingegen den Gedanken nahe, er selbst sei Opfer eines bewaffneten Überfalls geworden. Fotos zeigen ihn mit blutigem, zugeschwollenem Gesicht und einem ausgeschlagenen Schneidezahn. Die darauffolgende Arbeit der Staatsanwaltschaft lässt sich eher als Vertuschungsmanöver denn als ernsthafte Ermittlungstätigkeit beschreiben. Hätte nicht die Mutter des Zeugen geistesgegenwärtig Fotos ihres Sohnes nach erfolgter „Festnahme“ gemacht, dann wäre wohl kaum jemand vor Gericht gestellt worden. Doch auch so war noch ein langjähriges Klageerzwingungsverfahren erforderlich, das letztlich Anfang 2008 mit Freispruch endete. Allerdings hielt es der Richter der ersten großen Strafkammer des Landgerichts Berlin-Moabit für „unfassbar“, wie die Berliner Staatsanwaltschaft und ihr unterstellte Polizeibeamte von der Dienststelle für Interne Ermittlungen die Aufklärung schwerer Vorwürfe gegen drei Polizisten betrieben - oder besser gesagt: nicht betrieben - haben. Lückenhafte Untersuchungen, offensichtliche Widersprüche in den Vernehmungsprotokollen, viel zu späte Ermittlungen - alles in allem, sagt der Richter laut „Die Zeit“ vom 1. Mai 2008, hätten die Behörden „die Wahrheitsfindung massiv erschwert“. Man muss sich nicht lange umschauen, um ähnliche Fälle zu finden. In Hagen starb 2007 ein junger Mann mit türkischem Migrationshintergrund auf einer Polizeiwache. Vermutet wurde ein „lagebedingter Erstickungstod“. Er war bäuchlings liegend an Händen und Füßen zusammengebunden worden, eine Fesselungstechnik, die in den USA seit 20 Jahren verboten ist. Es bedurfte aber erst politischen Drucks aus Deutschland und der Türkei, damit die Staatsanwaltschaft den Vorwürfen nachging. Und vor dem Landgericht Dessau wurde der Tod von Oury Jalloh verhandelt, der unter mehr als zweifelhaften Umständen im Polizeigewahrsam verbrannt war. Der Fall des in Polizeigewahrsam zu Tode gekommenen Oury Jalloh hat einmal mehr gezeigt, dass die Aufklärung unzulässiger und/oder unverhältnismäßiger staatlicher Gewaltanwendung mit den vorhandenen Mitteln nur schwer zu erreichen ist. Wie in zahlreichen anderen Fällen von unzulässiger Polizeigewalt oder unzulässigem Handeln der Polizei kam es auch in diesem bundesweit beachteten Fall zu keiner wirklichen Aufklärung des Geschehens, bei dem immerhin ein Mensch im Polizeigewahrsam verbrannte. Im konkreten Fall wurden vom Vorsitzenden Richter vor allem die ({0})Aussagen der beteiligten Polizeibeamten dafür verantwortlich gemacht, dass es zu keiner befriedigenden Rekonstruktion des Tathergangs kommen konnte. Der spektakuläre Fall aus Sachsen-Anhalt reiht sich ein in weitere Fälle unverhältnismäßiger Polizeigewalt. In Bremen unterstellte die Polizei Laya Alama Condé, er sei ein Drogendealer und hätte Kügelchen verschluckt - mit tödlicher Folge. Im Zuge eines sogenannten Brechmitteleinsatzes starb Laya Alama Condé 2005. Auch N’deye Mareame Sarr, Halim Dener, Michael Paul Nwabuisi genannt John Achidi, Laye Konde, Zdravko Nikolov Dimitrov, Aamir Ageeb, Arumugasamy Subramaniam, Dominique Koumadio starben in staatlicher bzw. polizeilicher Obhut. In nicht allen Fällen wurde eindeutig aufgeklärt, wie es zum Tod dieser Menschen kommen konnte. All das zeigt, dass die Bereitschaft der Polizei in der Bundesrepublik, Fehlhandlungen und strukturelle Probleme von außen betrachten zu lassen, derzeit gering bis gar nicht vorhanden ist. Zahlreiche Expertinnen und Experten fordern deshalb die Einrichtung polizeiunabhängiger Beschwerde- und Untersuchungsmechanismen zur Untersuchung insbesondere auch rassistischer Polizeigewalt in Deutschland. Die Empfehlung zur Einrichtung eines polizeiunabhängigen Kontrollmechanismus ist wiederholt auch von internationaler Ebene - von den Vereinten Nationen und dem Europarat - an Deutschland ergangen. Zuletzt hat der Europaratskommissar Thomas Hammarberg in seinem im Juli 2007 veröffentlichten Besuchsbericht zu Deutschland deutlich gemacht, dass die Polizei in einer demokratischen Gesellschaft bereit sein muss, ihre Maßnahmen überwachen zu lassen, und für diese zur Verantwortung gezogen zu werden. Der EuroZu Protokoll gegebene Reden paratskommissar ruft die deutschen Behörden auf, zu diesem Zweck unabhängige Beobachtungs- und Beschwerdegremien einzurichten. Damit würde das Bemühen deutlich, begangene Fehler und absehbare Fehlentwicklungen zu erkennen und zu beseitigen. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, im Rahmen der Innenministerkonferenz eine Initiative mit dem Ziel zu starten, in allen Bundesländern und im Bund polizeiunabhängige Beschwerde- und Untersuchungsmechanismen durch die Einrichtung unabhängiger Beauftragter zur Untersuchung von Polizeigewalt einzurichten, die sich mit der Anwendung ungesetzlicher und unverhältnismäßiger sowie insbesondere rassistischer Polizeigewalt beschäftigen soll. Diese müssen unabhängig sein, das heißt frei von Einflussnahmen und Weisungen durch Polizei, Staatsanwaltschaft, Ministerien oder politisch Verantwortliche. Die Beauftragten - wie unter anderem von Amnesty International vorgeschlagen - sollen die Polizei auf Defizite und Fehlhandlungen aufmerksam machen und zu Lösungen für deren Beseitigung beitragen. Diese Aufgabe kann mit der Aufarbeitung von Einzelfällen polizeilichen Fehlverhaltens erfüllt werden, bei denen sie eigeninitiativ, aufgrund von Beschwerden Betroffener und Zeugen, Medienberichten oder aufgrund von Hinweisen aus der Polizeiorganisation tätig werden können. Wenn sich die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft besonders an ihrem Umgang mit Migrantinnen und Migranten bemessen lässt, steht es derzeit schlecht um die Bundesrepublik. Mit der Einrichtung unabhängiger Polizeibeauftragter, könnte sie einen Schritt tun, um rassistischer Gewalt vonseiten der Polizei konsequent entgegenzutreten.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es stimmt. Es gibt immer wieder Fälle von Polizeigewalt. Leider. Wir haben heute zwar im Großen und Ganzen eine gut funktionierende und dem Rechtsstaat verpflichtete Polizei in den Ländern und im Bund. Dennoch kommen Übergriffe vor, und es gibt zu harte und exzessive Einsätze. Davon sind in der Tat überproportional Migrantinnen und Migranten betroffen. Auch das ist zutreffend, und es zu leugnen, ist nicht nur dumm, sondern sogar gefährlich. Betrachten Sie es einmal aus der Sicht der Polizistinnen und Polizisten. Sie versehen einen harten Dienst, müssen nicht selten den Kopf für andere hinhalten, begegnen zunehmend einem aggressiven Gegenüber und werden zuweilen auch noch schlecht geführt. So kommt es allzu häufig vor, dass sie auf Kritik reflexartig mit Abschottung und Korpsgeist reagieren. Dazu kommt: Polizistinnen und Polizisten, die Verfehlungen offenlegen wollen, droht entweder die Strafbarkeit bei eigenem Fehlverhalten oder bei Nichtanzeige der Taten von Kollegen die strafbare Strafvereitelung im Amt. Und den Betroffenen stehen mit der Staatsanwaltschaft und der Polizei keine Ansprechpartner zur Seite, die außerhalb des Apparates angesiedelt sind und jenseits des Strafverfolgungszwanges agieren können. Das ist ein Übel, dem nur mit Transparenz und Kontrolle beizukommen ist. Ein unabhängiger Beauftragter für Fälle von Polizeigewalt, ein Ombudsmann, eine Polizeibeschwerdestelle oder wie immer man eine solche Kontrollinstanz nennen will, ist nicht dafür da, die Polizei vorzuführen. Sie arbeitet nicht gegen die Beamtinnen und Beamten. Polizeikontrolle geht nach meinem Verständnis nur mit der Polizei, nicht gegen sie. Umgekehrt gilt: Polizei im demokratischen Rechtsstaat darf die Kontrolle nicht fürchten, sondern muss sie fördern. Und Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Da hat die Linke ausnahmsweise einmal recht. Das hilft auch der Polizei, weil es ihr Ansehen in der Bevölkerung hebt. Umso unverständlicher ist es, dass sich Innenpolitiker in Bund und Ländern immer noch gegen eine Kontrolle wie der Teufel gegen das Weihwasser wehren und alle Arbeit dem Disziplinarrecht und erst dann, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt, mehr schlecht als Recht dem Strafrecht überlassen und damit die Polizisten letztlich sich alleine überlassen. Wir hatten unter Rot-Grün eine Kommission in Hamburg als historisch erste Kontrollinstanz in Deutschland. Sie litt noch unter zu geringer Mittelausstattung und trug die erschwerende Last einer ausschließlich ehrenamtlichen Arbeit der Kontrolleure. Dennoch hat die Kommission gearbeitet und hatte auch Erfolge. Der nachfolgende Justizsenator mit Namen Roland Barnabas Schill zertrat diese zarte Pflanze. Die Hamburger Grünen haben dieser Idee wieder Leben eingehaucht und im Koalitionsvertrag mit der CDU eine „Zentralstelle für Transparenz und Bürgerrechte“ vereinbart. Die wird auch kommen; denn die Mittel sind schon in den Haushaltsplan eingestellt. In Sachsen-Anhalt startete SPD-Innenminister Hövelmann im letzten Jahr zumindest eine Spar-Beschwerdestelle. Auch da ist Kritik angebracht, aber es ist schon ein Schritt in die richtige Richtung. In den übrigen 14 Bundesländern gibt es gar nichts, und auch der Bund hält es beim Thema Polizeigewalt immer noch nach der Methode der drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Das ist falsch verstandene Solidarität. Damit helfen Sie den Beamten vor Ort nicht. Anderswo in Europa funktioniert es besser. Die Kritik aus dem UN-Bericht ist daher gerechtfertigt. In Sachsen-Anhalt hatten wir im letzten Jahr eine sehr informative Veranstaltung mit zwei Ombudsmännern der nordirischen Polizei. Die mussten in Nordirland die Folgen eines Bürgerkrieges bekämpfen und das Vertrauen in eine Polizei wiederherstellen, der sehr viel schwerwiegendere Dinge als der deutschen Polizei vorgeworfen wurden. Das ist ihnen gelungen. Aber nicht, indem sie eine Mauer des Schweigens aufgebaut haben, sondern indem sie sich über ein Melde- und Kontrollsystem systematisch das Vertrauen der Bevölkerung wieder erworben haben. Die 1,7 Millionen Nordiren können sich jederzeit an einen der 150 Mitarbeiter dieser Stelle wenden. Vertrauen kann man aber nur bilden, wenn Missstände - und die gibt es in jeder Institution - offen angesprochen und bei Bestätigung des Verdachts beseitigt werden. Wir brauchen eine echte Bürgerpolizei und nicht eine durch falsche Laissez-faire-Politik in ihrer Cop-Culture alleingelassene Polizeitruppe. Ich habe immer gesagt, es darf keine rechtsfreien Räume geben, erst recht nicht bei der Polizei! Zu Protokoll gegebene Reden

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hier wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/12683 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen. Tagesordnungspunkt 31: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gewerbesteuerumlage - An den Bund abschaffen, an die Länder schrittweise auf Null absenken - Drucksachen 16/11373, 16/12700 Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Scheelen Dr. Axel Troost Antje Tillmann, Bernd Scheelen, Frank Schäffler, Katrin Kunert und Britta Haßelmann haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Behauptung der Linken, durch eine Abschaffung der Gewerbesteuerumlage an den Bund die Konjunktur zu stärken, geht an den Fakten vorbei. Zu ungenau und zu ungleichmäßig würde eine Absenkung der Gewerbesteuerumlage wirken, um im Großen die Wirtschaft vor Ort zu stärken. Erstens: Wirkung der Konjunkturpakete I und II. Wir haben bereits effektiv durch die Konjunkturprogramme gehandelt und gezielt Maßnahmen ergriffen, um die Wirtschaft in den Kommunen zu beleben. Einige Schlagworte möchte ich nennen: Aufstockung des Gebäudesanierungsprogramms: 3 Milliarden Euro mehr fließen in den nächsten zwei Jahren in das Programm sowie in andere Maßnahmen, wie zum Beispiel den altersgerechten Umbau von Wohnungen; Verbesserung der Infrastruktur in finanzschwachen Kommunen: Diese bekommen über Programme der KfW 3 Milliarden Euro; Finanzmittel zur „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“: In einem Sonderprogramm werden 200 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt; Und nicht zuletzt das im Februar 2009 beschlossene kommunale Investitionsprogramm: Für Investitionen von Bund und Ländern - zum Beispiel in Kitas, Schulen und Hochschulen sowie in Verkehrswege, Krankenhäuser und ländliche Infrastruktur stellt der Bund 10 Milliarden Euro in den Jahren 2009 und 2010 zur Verfügung, mehr als 7 Milliarden Euro davon gehen an die Kommunen. Immer mehr konkrete Bauund Sanierungsvorhaben werden beispielsweise von den Ratsversammlungen der Städte beschlossen. Die Planungen in den Stadtverwaltungen sind oft schon fortgeschritten. Die Kommunen wollen die Mittel aus dem Konjunkturpaket zügig einsetzen und so aktiv Arbeitsplätze vor Ort sichern. Ausschreibungen sollen im April und Mai anlaufen. Schon in wenigen Wochen können Handwerker und mittelständische Unternehmen mit den ersten Aufträgen rechnen. Zudem erlauben wir durch eine Änderung des Art. 104 b GG, in Krisen Finanzhilfen des Bundes auch dort zu gewähren, wo der Bund keine Gesetzgebungskompetenz hat. Besonders das Investitionspaket bietet die Chance, den Menschen mit kommunalen Investitionen Hoffnung zu geben. Wenn Einrichtungen der Kinderbetreuung in Ordnung gebracht, Schulen und Krankenhäuser energetisch saniert werden und in kommunale Infrastruktur investiert wird, dann sichert dies Arbeitsplätze im heimischen Handwerk, ist gut für die Umwelt und das Klima, verbessert die Wirtschaftlichkeit kommunaler Einrichtungen und stärkt nachhaltig den Wirtschaftsstandort Deutschland. Daneben wirken auch die Milliarden aus dem Bankenrettungsfonds und die Milliarden aus Bundund Länderinvestitionen in Kommunen; denn auch die beauftragten Unternehmen haben ihren Sitz in einer Kommune und zahlen dort Gewerbesteuer. Sicherlich ist das Investitionsprogramm kein Rettungsprogramm für Länderfinanzen oder für klamme kommunale Haushalte. Im Vordergrund steht ganz klar die nachhaltige Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Und auch eine Entlastung der Arbeitgeber von Lohnkosten hat Auswirkungen auf die Steuereinnahmen der Kommunen. Aus Sicht der Kommunen ist dabei die Gewerbesteuer nicht unproblematisch. Vor allem ihre Abhängigkeit vom Auf und Ab der Konjunktur und die damit gegebenen starken Schwankungen der Einnahmen sorgen bei den Kämmerern für Verdruss. Besonders brenzlig für sie wird es dann, wenn in schlechten Zeiten größere Unternehmen als Steuerzahler ausfallen. Zweitens: Der Bund ist von der Krise massiv betroffen. Vor der Krise hatten die Kommunen in Deutschland ein gutes Ergebnis erzielt. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes haben sie insgesamt 174,9 Milliarden Euro und damit 3,3 Prozent mehr an Einnahmen erzielt als im Vergleichsjahr 2007. Die Situation des Bundes war bei weitem nicht so erfreulich! Nach aktuellen Schätzungen werden die neuen Schulden in 2009 und 2010 100 Milliarden Euro erreichen. Natürlich ist mir auch bewusst, dass sich solch ein Ergebnis aufgrund der Wirtschaftkrise, die sich auch auf die Finanzen von Städten und Gemeinden durchschlägt, in diesem Jahr nicht realisieren lässt. Im Januar 2009 gaben die kommunalen Spitzenverbände einen voraussichtlichen Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen um durchschnittlich 9,1 Prozent an. Aber die Auswirkungen auf den Bund sind weit dramatischer: Arbeitslosenversicherung, Steuereinbrüche, Steuerreform, Zinsen für Konjunkturprogramme, Milliarden-Konjunkturprogramme. Trotzdem tun wir gerade auch mit dem vor kurzem verabschiedeten Investitionsprogramm für Länder und Kommunen alles, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Finanzen zu sichern. Wo dann aber noch die 8 Milliarden Euro Gewerbesteuer-Umlageausfälle beim Bund herkommen sollen, lassen die Linken wie üblich offen. Drittens: Wer viel Gewerbesteuer kriegt, gewinnt am meisten. Würden wir, wie es die Linke beantragt, die Gewerbesteuerumlage abschaffen, würden Kommunen, die eine geringe Wirtschaftskraft haben, nicht von der Abschaffung der Umlage profitieren. Diejenigen, die noch anständige Gewerbesteuereinnahmen haben, zahlen eine relativ hohe Gewerbesteuerumlage. Würden wir Ihrem Antrag folgen, dann würden wir genau denen einen hohen Anteil zurückgeben. Diejenigen, die aufgrund sinkender Gewerbesteuereinnahmen Schwierigkeiten haben, würden keinen Vorteil davon haben, wenn wir die in Ihrem Antrag aufgestellten Forderungen umsetzten. Uns dagegen war es im Investitionsprogramm wichtig, dass auch die finanzschwachen Kommunen mitmachen können. Oft ist die Arbeitsmarktsituation in den finanzschwachen Kommunen besonders schwierig. Entscheidend ist, dass Bund, Länder und Kommunen gemeinsam der Wirtschaft einen kräftigen Impuls geben. In vielen Ländern wird der kommunale Mitleistungsanteil bei finanzschwachen Kommunen zusätzlich übernommen. In Thüringen beispielsweise können Gemeinden, die aufgrund ihrer Finanzschwäche nicht in der Lage sind, den Mitleistungsanteil in Höhe von 25 Prozent zu erbringen, Landesmittel aus dem Landesausgleichsstock erhalten. Viertens: Wie ist es eigentlich zur Umlage gekommen? Wer die Gewerbesteuerumlage im aktuellen System unter Beibehaltung der bestehenden Gewerbesteuer abschaffen will, verkennt die finanzpolitische Bedeutung dieser Umlage: Die Gewerbesteuerumlage geht zurück auf die am 1. Januar 1970 eingeführte Gemeindefinanzreform. Kernstück hierbei war ein Steueraustausch zwischen Bund, Ländern und Gemeinden: Die Gemeinden wurden an dem Aufkommen der Einkommensteuer beteiligt, Bund und Länder erhielten einen Anteil am Gewerbesteueraufkommen, Gewerbesteuerumlage. Dies war ein Wunsch der Kommunen, da die Gewerbesteuer weit mehr Konjunkturschwankungen unterliegt als die Einkommensteuer. Des Weiteren hat die Gewerbesteuerumlage zuletzt bei der Unternehmensteuerreform als eine wichtige Stellschraube zum Austarieren der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen gedient. Damit die Kommunen an der Finanzierung der Unternehmensteuerreform bei voller Jahreswirkung nicht beteiligt werden, sieht das Unternehmensteuerreformgesetz eine dauerhafte Absenkung der Gewerbesteuerumlage vor. Aus all den genannten Gründen lehnen wir den Antrag der Linken ab.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In dem hier vorgelegten Antrag gibt es nur einen einzigen Punkt, dem zuzustimmen ist, und das ist die korrekte Wiedergabe des Einführungsdatums der Gewerbesteuerumlage am 1. Januar 1970. Bereits in meiner letzten Rede zu diesem Antrag habe ich darauf hingewiesen, dass der von der Linken vorgeschlagene Weg der Abschaffung der Gewerbesteuerumlage ins Nirgendwo führt. Bedauerlicherweise haben Sie es immer noch nicht verstanden, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Das Argument, die Abschaffung würde die finanzielle Situation der Kommunen insbesondere in der aktuellen Finanzkrise verbessern, klingt vordergründig gut - entspricht aber nicht der Realität. Die Absenkung bzw. Abschaffung würde keinen Einfluss auf die aktuelle Situation haben. Sie würde zu spät, zu ungenau und vor allem zu ungleichmäßig wirken und damit weder den Kommunen helfen noch die Wirtschaft stärken oder gar die Konjunktur stützen. Die Große Koalition hat bereits vielfältige Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunalfinanzen vorgenommen. An dieser Stelle sei exemplarisch auf die Unternehmensteuerreform hingewiesen, in deren Rahmen sichergestellt wurde, dass Mindereinnahmen ausschließlich zulasten von Bund und Ländern gehen - im Gegenzug aber die Gewerbesteuer konjunkturunabhängiger gestaltet wurde. Zudem hat die Bundesregierung mit dem Konjunkturpaket II den Kommunen zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt, um so der Krise entgegenzuwirken und den Kommunen einen finanziellen Spielraum zu ermöglichen. Auch an meinem Argument, dass die Abschaffung der Umlage ungerecht sei, da Gemeinden mit geringer Wirtschaftskraft verhältnismäßig wenig profitieren würden, hat sich nichts geändert - und es konnte bis jetzt auch nicht von Ihrer Seite, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, entkräftet werden. Gemeinden mit geringer Wirtschaftskraft verfügen über weniger Gewerbesteuereinnahmen und damit über weniger Umlagenanteile. Gemeinden wie beispielsweise München haben dagegen deutlich höhere Gewerbesteuereinnahmen und folglich auch mehr Umlagenanteile. Als logische Schlussfolgerung ergibt sich daraus, dass Sie denen, die sowieso schon mehr haben, auch mehr geben - was daran sozial gerecht sein soll, müssen Sie mir mal bitte erklären. Und davon mal ganz abgesehen haben die Kommunen selbst überhaupt kein Interesse daran, die Gewerbesteuerumlage abzuschaffen, denn damit würden der Abschaffung der Gewerbesteuer insgesamt Tür und Tor geöffnet. Die Kommunen haben ein höchst eigennütziges Interesse an der Beteiligung von Bund und Ländern an der Gewerbesteuerumlage. Solange nämlich alle drei im selben Boot sitzen, kann auch niemand ernsthaft Interesse daran haben, das Boot zu versenken. Der Antrag ist nach wie vor weder zielführend noch besonders hilfreich und daher rundherum abzulehnen. Sie von der Linksfraktion können sich ja gern auf den Weg ins Nirgendwo machen - aber erwarten Sie bitte nicht, dass wir Sie auf Ihrer Reise begleiten.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Bruttoinlandsprodukt in unserem Land wird in diesem Jahr nach der heutigen Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute um 6 Prozent schrumpfen. Im gerade begonnenen Quartal von April bis Juni wird sogar ein Rückgang von 8,2 Prozent erwartet, und auch für das nächste Jahr wird ein Minus prognostiziert. In dieser Situation ist es richtig, zu fragen, wie die Steuerpolitik auf diese Krise reagieren muss. Es ist bedauerlich, dass der Linken dazu nur Umverteilung einfällt. Durch Ihren Vorschlag werden die Unternehmen um keinen Cent entlastet, sondern es werden nur Steuereinnahmen hin- und hergeschoben. Tatsächlich hat aber die Koalition die Krise durch Änderungen im Rahmen der Unternehmensteuerreform verschärft, die Gewerbesteuer wurde ja gerade ausgeweitet. Die Bundesregierung hat nun ein halbherziges Zurückrudern mit minimalen Änderungen angekündigt. Wir fordern, die krisenverschärfenden Belastungen durch die Unternehmensteuerreform kurzfristig zurückzunehmen. Hinsichtlich der Gewerbesteuer werden unter anderem Zu Protokoll gegebene Reden Zinsen sowie die Finanzierungsanteile aus Mieten, Pachten und Leasingraten besteuert. Die gewerbesteuerpflichtigen Unternehmen müssen also Steuern auf ihre Kosten entrichten. Die Fremdfinanzierung der Betriebe wird künstlich verteuert, weil ein Viertel der gezahlten Zinsen der Gewerbesteuer unterliegt, unabhängig davon, ob Gewinne erzielt werden oder nicht. Teilweise ist die Steuer damit sogar aus der Substanz der Unternehmen zu zahlen. Viele Einzelhändler klagen darüber, dass sie trotz zurückgehender Umsätze 75 Prozent der gezahlten Mieten versteuern müssen. Ein Festhalten an dieser Regelung ist angesichts der wirtschaftlichen Lage unverantwortlich. Die Hinzurechnungsbesteuerung verschlechtert die Lage vieler Unternehmen zusätzlich. Unsere kurzfristig umzusetzenden Vorschläge haben wir im Entwurf eines Gesetzes zur Korrektur der Unternehmensteuerreform vorgelegt, Bundestagsdrucksache 16/12525. Darüber hinaus halten wir daran fest, dass es eine umfassende Gemeindefinanzreform geben muss. Dabei soll die Gewerbesteuer durch ein Konzept der Kommunalfinanzierung ersetzt werden, das für die Gemeinden ein ausreichendes Finanzierungsniveau gewährleistet und ihnen stetige Einnahmen sichert. Die Finanzen der Kommunen sollen auf eine solide Grundlage gestellt werden, indem die konjunkturanfällige Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und ein eigenes Hebesatzrecht der Kommunen auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer ersetzt wird.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe mir die Argumente angesehen, die in der ersten Lesung am 18. Dezember 2008 im Bundestag gegen den Antrag der Linken „Gewerbesteuerumlage - An den Bund abschaffen, an die Länder schrittweise auf Null absenken“ vorgebracht wurden. Den Vogel schießt dabei zweifellos die Fraktion der SPD ab: „Die Gewerbesteuerumlage ist unerlässlich, damit das Interesse des Bundes und der Länder an der Existenz der Gewerbesteuer Bestand hat.“ Nach dieser Logik müssten Bund und Länder wohl auch an der Hundesteuer der Kommunen beteiligt werden, wenigstens an der für Kampfhunde. Und wie wäre es mit einer staatlichen Beteiligung an der Grundsteuer? Wer - wie die SPD in ihren Sonntagsreden - die Gewerbesteuer als Band zwischen Wirtschaft und Kommune verteidigt, das wir dringend brauchen, damit es vor Ort ein Ansiedlungsinteresse und aktive Wirtschaftsförderung gibt, müsste eigentlich zustimmen, dass jede Beschneidung der Gewerbesteuer durch eine Abführung an Bund und Länder in Höhe von fast 20 Prozent dieses Band beschädigt. Eine Rechtfertigung der Gewerbesteuer als Klammer zwischen Kommune und örtlichem Gewerbe erlaubt eine Gewerbesteuerumlage überhaupt nicht. Völlig merkwürdig ist auch der Vorwurf der SPD, „mit der Forderung nach Abschaffung der Gewerbesteuerumlage ({0}) auch die Gewerbesteuer selbst zur Disposition gestellt“. Das Leben spricht eine andere Sprache. Alle Bundesregierungen mit SPD-Beteiligung haben in den letzten 20 Jahren die Gewerbesteuer systematisch abgebaut. 1997 entfiel die Gewerbekapitalsteuer. 2001 senkte Rot-Grün den Steuersatz, zudem wurden Gewinne aus dem Verkauf von Anteilen an andere Unternehmen steuerfrei gestellt. Im Ergebnis kam es zu tiefen Einbrüchen bei den Gewerbesteuereinnahmen. Erst 2006 war wieder das Niveau des Jahres 2000 erreicht. Doch durch die Unternehmensteuerreform der Großen Koalition kam es bereits 2008 wieder zu Einnahmeausfällen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro gegenüber 2007. Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist zu befürchten, dass es zu weiteren Gewerbesteuereinbrüchen kommt. Wenn die Wirtschaft nicht läuft, läuft auch die Gewerbesteuer nicht. Einige Unternehmen haben bereits angekündigt, geleistete Gewerbesteuervorauszahlungen von den Kommunen zurückzufordern. Besonders hart wird das Standortkommunen von Banken, Versicherungen, der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer treffen. Mit steigender Arbeitslosigkeit werden die kommunalen Ausgaben für soziale Leistungen deutlich steigen. Insofern werden die Kommunen von zwei Seiten in die Zange genommen. Damit erhöht sich der Druck, kommunale Leistungen zu kürzen und kommunales Vermögen verkaufen zu müssen. Eine verbesserte Gewerbesteuer ist also notwendig, damit die Kommunen endlich wieder mehr investieren und damit Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung geben können und so auch Arbeitsplätze vor Ort entstehen. Die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage wäre dazu ein erster Schritt in die richtige Richtung. Als ebenso notwendig erachtet Die Linke eine Steuerpflicht für alle selbstständig ausgeübten Tätigkeiten. Bislang unterliegen Freiberufler oder andere nichtgewerbliche selbstständige Tätigkeiten wie Rechtsanwälte, Ärzte nicht der Gewerbesteuer. Land- und forstwirtschaftliche Betriebe werden nur besteuert, wenn sie im Handelsregister eingetragen sind oder der Umsatz, der mit gewerblichen Dienstleistungen erzielt wird, 5 000 Euro übersteigt. Die Einbeziehung aller unternehmerisch Tätigen in die Gewerbesteuerpflicht - bei Berücksichtigung sozialer Belange kleiner Unternehmen und Existenzgründer würde dazu führen, die Steuerlast auf mehr „Schultern“ zu verteilen. Das nützt der örtlichen Wirtschaft, dem Arbeitsmarkt, den Bürgerinnen und Bürgern. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sorgt sich, „eine spontane Abschaffung der Gewerbesteuerumlage ({1}) das diffizile Gleichgewicht des Finanzausgleichs zwischen Bund, Ländern und Kommunen aus dem Lot bringen“. Dazu ist dreierlei festzustellen. Erstens, die Kommunen sind nach der Finanzverfassung Teil der Länder, zwischen Bund und Gemeinden bestehen keine Finanzausgleichsbeziehungen. Also kann hier gar nichts aus dem Lot gebracht werden. Deshalb kann - wenn es politisch gewollt ist - die Gewerbebesteuerumlage an den Bund unverzüglich abgeschafft werden. Zweitens wollen wir die Umlage an die Länder - wie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beanstandet - keineswegs „spontan“ abschaffen. Wir plädieren in unserem Antrag für eine schrittweise Abschmelzung bis Ende 2013, weil natürlich die Gewerbesteuerumlage durchaus ein wichtiger Posten im Länderhaushalt ist und auch eine gewisse Rolle im kommunalen Finanzausgleich spielt. Entsprechend muss das Abschmelzen durch Kompensationen an anderer Stelle organisiert werden. Zu Protokoll gegebene Reden Drittens kann von „Gleichgewicht des Finanzausgleichs“ schwerlich die Rede sein. Im Gegenteil, es gibt da kommunalunfreundliche Unwuchten, die unser Antrag faktisch mit beseitigen würde. So beispielsweise diese Unwucht: Auf Wunsch der Länder wurden die westdeutschen Städte und Gemeinden durch bundesgesetzliche Regelungen im Rahmen des Fonds Deutsche Einheit, ab 1991 und des Solidarpakts, ab 1995, an der Finanzierung der einigungsbedingten Belastungen der alten Länder beteiligt. Die so in zwei Schritten „erhöhte“ Umlage fließt ausschließlich den Ländern zu - immer noch, obgleich sich die Geschäftsgrundlage geändert hat. Denn nach den Beschlüssen zum Solidarpakt 2 im Sommer 2001 übernimmt der Bund die Finanzierung des Fonds Deutsche Einheit. Das heißt im Klartext, die Länder müssen ab dem Jahre 2005 keine Zahlungen mehr an den Fonds leisten. Nichtsdestotrotz sind die Gemeinden dazu verpflichtet, über die Gewerbesteuerumlage den nicht mehr existierenden Länderanteil bis 2019 mitzufinanzieren. Oder diese „Unwucht“: Mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ab 1998 wurde die Gewerbesteuerumlage um eine dritte zusätzliche Komponente zugunsten der Länder erweitert. Selbst die Kommunen in den neuen Ländern wurden einbezogen, obgleich hier eine Gewerbekapitalsteuer von vornherein nicht erhoben wurde. Das oft gebrauchte Wort von den „klebrigen Fingern“ der Länderfinanzminister ist sicher nicht ganz unberechtigt. Die Fraktion der CDU/CSU hatte gegen unseren Antrag ganz andere Bedenken: „Im Antrag der Linken soll die Gewerbesteuerumlage an den Bund ab dem 1. Juli 2009 abgeschafft werden. Der 1. Juli 2009 ist für Konjunkturmaßnahmen aber viel zu spät.“ Nun, meine Fraktion hätte gar nichts gegen eine rückwirkende Abschaffung! Und natürlich sollte und konnte unser Antrag vom Dezember 2008 nicht das Zukunftsinvestitionsgesetz vom 13. Februar 2009 vorwegnehmen. Aber die dort verankerten 10 Milliarden für kommunale Investitionen sind viel zu wenig, zumal aufgrund der Steuerausfälle, die den Kommunen infolge der Maßnahmen aus den Konjunkturpaketen I und II entstehen, nur ein Teil dieser 10 Milliarden Euro bei den Kommunen ankommt. Da wäre eine sofortige Aufstockung um 1,6 Milliarden Euro durch den Wegfall des Bundesanteils an der Gewerbesteuerumlage durchaus eine kommunalfreundliche Botschaft in diesen Krisenzeiten! Zuletzt zum Beitrag der Fraktion der FDP. Sie meint: „Sie wollen die Gewerbesteuer nicht abschaffen oder schrittweise absenken. Sie wollen bloß das Aufkommen umlenken, das dem Bund und den Ländern augenblicklich zusteht, und es den Kommunen zukommen lassen. Sie schlagen also nur eine Form von Umverteilung vor, aber keine Steuersenkung. Das ist eine Enttäuschung …“. Ja, wenn auch die FDP enttäuscht ist, Die Linke will eben nicht - wie die FDP - die Gewerbesteuer abschaffen. Fazit: Die Linke will als einzige Partei im Bundestag die Gewerbesteuerumlage abschaffen, will, dass letztlich - mit dem Länderanteil - rund 7 Milliarden Euro im Jahr in den Kommunen bleiben, wo sie besser aufgehoben sind.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit ihrem Antrag, die Gewerbesteuerumlage abzuschaffen, springt die Fraktion Die Linke zu kurz. Die Maßnahme ist allenfalls geeignet, das komplizierte Verteilungsgefüge zwischen Bund, Ländern und Gemeinden aus dem Lot zu bringen. Sie, sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen von den Linken, sind doch nicht so naiv, zu glauben, dass Bund und Länder sich nicht an anderer Stelle die Einnahmeverluste, die mit der Abschaffung der Umlage verbunden sind, von den Kommunen holen werden, beispielsweise bei den halbwegs stabilen Einnahmequellen aus der Umsatzsteuer oder der Einkommenssteuer. Den Gemeinden blieben dann die Einnahmen aus der leider immer noch konjunkturanfälligen Gewerbesteuer. Die kommunalen Spitzenverbände gehen davon aus, dass die Einnahmeverluste der Kommunen bei der Gewerbesteuer durch die Wirtschaftskrise allein in diesem Jahr mit 18 Prozent zu Buche schlagen. Wenn schon die Landeshauptstadt München bereits mit einer Haushaltssperre die Notbremse gezogen hat, dann können wir uns alle vorstellen, wie die Situation in anderen Regionen mit deutlich weniger Wirtschaftskraft aussieht. Ihr Vorschlag klingt zwar populär, er ist aber unseriös. Er ist nicht geeignet, nachhaltig und zielgenau die Investitionskraft der Kommunen zu stärken. Verteilungspolitisch würden Sie nur die Kluft zwischen armen und reichen Städten zementieren; denn die Städte und Gemeinden in strukturschwachen Regionen profitieren am wenigsten von der Gewerbesteuer und müssen auch entsprechend wenig Umlage an Bund und Länder abführen. Wir Grüne setzen uns deshalb dafür ein, die Einnahmen aus der Gewerbesteuer zu verstetigen. Die Gewerbesteuer muss nachhaltiger und gerechter ausgestaltet und in eine „kommunale Wirtschaftssteuer“ umgewandelt werden. Mit dieser Steuer soll durch die volle Einbeziehung gewinnunabhängiger Elemente, wie zum Beispiel der Fremdkapitalzinsen, die Bemessungsgrundlage der bisherigen Gewerbesteuer verbreitert werden. Auch Freiberufler sollen in die Gewerbesteuerpflicht einbezogen werden. Das vermeidet wirtschaftlich oft nicht nachvollziehbare Abgrenzungsprobleme und schafft faire Wettbewerbsbedingungen. Ein Freibetrag soll vor allem kleine und mittlere Unternehmen entlasten. Um die Städte und Gemeinden in der Krise zu unterstützen, bedarf es zielgenauer Investitionshilfen und hier - sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD - haben Sie mit Ihrem im Februar 2009 beschlossenen Konjunkturpaket auf ganzer Linie versagt. Bis heute ist nicht ein Cent an die Kommunen abgeflossen, weil erst seit wenigen Tagen die schon vor einem Vierteljahr beschlossenen Bundeshilfen an die Länder weitergereicht werden können. Die Mittel stecken viel zu lang im Gerangel zwischen Bundes- und Länderinteressen fest. Dabei wurde eine maximale Unsicherheit über die Förderbereiche, Fördersummen und die Zusätzlichkeit von Investitionen erzeugt. Hier hätten Sie viel deutlicher auf die Länder Druck ausüben müssen. Mit der Föderalismusreform eröffnen sich neue Handlungsmöglichkeiten für den Bund, um gezielter die Investitionshilfen in der Krise an die Kommunen weiterzureichen. Sie müssen jetzt beim Konjunkturpaket dringend nachsteuern, damit die Hilfen Zu Protokoll gegebene Reden auch in die Zukunftsbereiche fließen, in denen wir enormen Nachholbedarf haben. Ökologische Investitionen, vor allem in erneuerbare Energien und den öffentlichen Nahverkehr, müssen jetzt in den Förderkreis aufgenommen werden. Die Investitionen in das Bildungssystem dürfen nicht länger auf bauliche Maßnahmen beschränkt bleiben. Und leider fließen entgegen aller Beteuerungen die Hilfen nicht gezielt an die notleidenden Kommunen, die die Investitionshilfen besonders nötig hätten. Union und SPD sind offenbar auch nicht in der Lage aus der Krise auf lange Sicht zu lernen und die Weichen im Grundgesetz neu auszurichten. Wenn Sie wie geplant im Juli bei der Föderalismusreform die Kommunen außen vor lassen, dann werden die Kommunen die Lasten tragen, die sich Bund und Länder mit den neuen Verschuldungsregeln aufbürden. Die Länder werden wie gewohnt den finanziellen Sanierungsdruck auf die Städte und Gemeinden abwälzen. Die Kommunen unter Haushaltssicherung werden ohne Altschuldenhilfe noch mehr als bisher von der Hand in den Mund leben. Wichtige Hilfen für Zukunftsinvestitionen werden nicht an die Städte und Gemeinden fließen, weil Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, sich trotz Ihrer Verfassungsmehrheit nicht einigen konnten, das Kooperationsverbot zwischen Bund und Kommunen wieder aus der Verfassung zu streichen. Wir Grüne bleiben dabei: Das Gebot der Stunde ist eine Mindestfinanzausstattung der Kommunen, damit diese flächendeckend im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen, ihre Aufgaben für die Bürgerinnen und Bürger erbringen können.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12700, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11373 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Zustimmung des Hauses im Übrigen angenommen. Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten! Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. April 2009, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.