Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, Frau Dr. Ursula von der Leyen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Heute ist im Bundeskabinett der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen beschlossen worden. Dies ist ein
wichtiger Schritt im Kampf gegen die Kinderpornografie
im Internet. Die neuen Regelungen enthalten Vorschläge
zu Änderungen im Telemediengesetz und im Telekommunikationsgesetz. Sie beschränken sich auf Erschwerungen des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten.
Am 25. März dieses Jahres sind im Bundeskabinett
bereits die Eckpunkte beschlossen worden. Am vergangenen Freitag, dem 17. April, hat das Bundeskriminalamt Verträge mit fünf großen privaten Internetzugangsanbietern geschlossen. Die Verträge stellen bereits jetzt
eine solide Grundlage für die Zugangserschwerungen
dar. Wir erreichen allein damit 75 Prozent des Marktes.
Die Zugangsanbieter können sich jetzt konkret auf die
technische Umsetzung vorbereiten und damit beginnen.
Ich kann Ihnen heute mitteilen, dass zwei weitere große
private Anbieter signalisiert haben, dass sie bereit sind,
die Verträge, so, wie sie vorliegen - ohne Gesetzesvorbehalt -, zu zeichnen. Mit dem aktuell vorliegenden Gesetzentwurf werden wir noch mehr private Anbieter erfassen und somit eine noch größere Marktabdeckung,
nämlich über 97 Prozent, erreichen.
In dem Gesetzentwurf ist festgelegt, dass zwingend
eine Seite mit einem Stoppzeichen erscheinen muss,
wenn eine zu sperrende Website mit kinderpornografischen Inhalten aufgerufen wird. Das ist eine präventive
Maßnahme. Durch diese Stoppseite wird ein gesellschaftliches Signal gesetzt. Sie verdeutlicht, welch einen
Inhalt der Browser gerade versucht hat zu öffnen, und in
welches Gebiet sich derjenige, der diese Seite aufrufen
wollte, begeben hätte. Über diese Seite findet man bei
Beschwerden oder Fragen auch einen Ansprechpartner.
In dem Gesetzentwurf wird die Verteilung der Aufgaben sehr klar geregelt. Die Liste der zu sperrenden
Adressen wird durch das Bundeskriminalamt täglich im
Rahmen seiner Zentralstellenfunktion ermittelt, bereitgestellt und verantwortet. Die Zugangsanbieter sind ausschließlich für die technischen Sperrmaßnahmen zuständig, nicht für die Inhalte. Sie sind nicht verpflichtet,
selbst nach kinderpornografischen Inhalten zu forschen.
Alle größeren privaten Anbieter werden verpflichtet, den
Zugang zumindest auf DNS-Basis zu sperren. Die DNSSperre ist Grundlage der Verträge. Der Gesetzentwurf
hingegen ist bewusst technikoffen formuliert. Andere effektivere Sperrtechniken wären möglich.
Wir betreten mit diesen Zugangserschwerungen in
Deutschland Neuland. Deswegen sehen wir in den Verträgen eine Evaluierung nach einem Jahr vor. Außerdem
wird die Bundesregierung zwei Jahre nach Inkrafttreten
des Gesetzes einen Bericht vorlegen. Wir setzen mit diesem Gesetz ein entschlossenes Zeichen, den weltweiten
Kampf gegen Kinderpornografie im Internet um diesen
wichtigen Baustein zu ergänzen.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Jetzt haben Sie die
Möglichkeit, zu fragen. Als Erste hat sich die Kollegin
Grietje Staffelt von Bündnis 90/Die Grünen gemeldet.
Frau Ministerin, was genau ist der Grund, warum man
mit der Unterzeichnung des Vertrages zwischen BKA
Redetext
und Providern nicht warten konnte, bis ein Gesetz in
Kraft getreten ist? Was geschieht mit den Verträgen,
wenn das Gesetz am parlamentarischen Widerstand, der
sicherlich groß sein wird, scheitern sollte? Schließlich
soll die Sperrung laut Vertrag nach spätestens sechs Monaten implementiert sein.
Am 13. Januar haben wir zum ersten Mal mit den großen Internetzugangsanbietern zusammengesessen, um die
Verhandlungen aufzunehmen. Sie alle haben mitverfolgen können, dass es in den letzten Wochen und Monaten
ausgesprochen intensive, zum Teil auch sehr harte Verhandlungen gegeben hat. Dieser Prozess war meines Erachtens wichtig und unabdingbar, damit alle Fragen auf
den Tisch kommen konnten und über alle Themen diskutiert werden konnte. Inzwischen sind alle technischen
Fragen geklärt, und über alle rechtlichen Details wurde
diskutiert. Die Vertragsentwicklung hat den Weg vorgezeichnet, wie Rechte und Pflichten des Bundeskriminalamtes und der Internetzugangsanbieter geregelt werden
können. Ein Kontrollmanagement und ein Beschwerdemanagement sind eingeführt worden. Außerdem hat eine
breite gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema stattgefunden.
Ich begrüße es sehr, dass die Internetzugangsanbieter
zu einem überwiegenden Teil durch die freiwillige Unterzeichnung der Verträge deutlich machen, dass sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden
wollen und nicht erst durch ein Gesetz dazu gezwungen
werden müssen. Wir gehen fest davon aus, dass das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird.
Seit der Vertragsunterzeichnung am Freitag der vergangenen Woche ist nun klar, was auf alle Internetzugangsanbieter zukommt. Das heißt, sie können seit
Freitag der vergangenen Woche mit der technischen
Umsetzung beginnen. Sie werden maximal sechs Monate Zeit haben, um die technischen Voraussetzungen zu
schaffen. Das Gesetz kann, sofern der Zeitplan eingehalten wird, in circa sechs Monaten in Kraft treten. Deshalb
enthält das Gesetz keine Übergangsfristen. Wenn es in
Kraft tritt, muss umgehend gesperrt werden. Das ist ein
deutliches Signal an die Internetwirtschaft in Deutschland. Nachdem wir alles diskutiert haben und die Wege
klar sind, können sich alle darauf einstellen.
Auf Ihre Frage, was geschehen würde, wenn das Gesetz nicht zustande käme, sage ich: Dann bestehen diese
Verträge selbstverständlich fort.
Vielen Dank. - Die nächste Frage hat der Kollege
Hans-Joachim Otto.
Liebe Frau Ministerin, wir sind überrascht, Sie hier zu
sehen; denn Sie sind meines Erachtens noch nicht Bundeswirtschaftsministerin. Sie werden meine Fragen
trotzdem beantworten können.
Die erste Frage. Sie hatten ursprünglich geplant - mit
sehr guten Gründen -, ein Spezialgesetz zu verabschieden. Jetzt soll eine Regelung in das Telemediengesetz
aufgenommen worden. Die Befürchtung vieler ist, dass
dies eine Öffnung für weitere Maßnahmen jenseits der
Kinderpornografie ist. Können Sie diese Bedenken zerstreuen?
Die zweite Frage. Das Bundeskriminalamt ist für die
Erstellung der täglichen Listen zuständig. Wer kontrolliert eigentlich das Bundeskriminalamt? Was passiert,
wenn das Bundeskriminalamt Fehler macht? Wer haftet
dann? Wer steht dafür ein?
Die dritte Frage. Sie haben darauf hingewiesen, dass
wir Probleme mit ausländischen Anbietern haben. Auf
die deutschen Anbieter, die eine .de-Domain haben, können wir über die DENIC zugreifen. Warum werden sie
genauso behandelt wie die ausländischen, obwohl wir an
die deutschen Anbieter herankommen können? Die deutschen Seiten können wir doch sperren, wenn sie kinderpornografisches Material enthalten. Halten Sie es für
verhältnismäßig, dass deutsche und ausländische Anbieter in diesem Bereich gleichbehandelt werden, obwohl
die Ursachen und die Erscheinungsformen völlig unterschiedlich sind?
Sehr gerne beantworte ich als Mitglied der Bundesregierung Ihre Fragen.
({0})
Sie fragten als Erstes, ob wir nicht lieber ein sogenanntes
Spezialgesetz gemacht hätten. Das ist niemals die Intention des Bundesfamilienministeriums gewesen, sondern
wir haben von Anfang an gesagt, dass im Grundsatz das
Telemediengesetz und, abgeleitet davon, bei tiefer gehenden Fragen das Telekommunikationsgesetz betroffen sind.
Ich möchte auch deutlich machen, dass die Verträge
auf einer rechtlich sicheren Basis beruhen. Die weiter
gehende Frage ist dann sicherlich, was die Verträge von
dem Gesetz unterscheidet. Es sind vor allem zwei Dinge:
Erstens. Die Verträge regeln, dass eine DNS-Sperre
eingeführt wird. Wir haben zum Beispiel vom Bundesbeauftragten für Datenschutz die ganz klare Aussage,
dass dies nicht das Fernmeldegeheimnis berühren
würde. Das Gesetz selber - wohl wissend, dass Techniken reifen und sich verändern können - ist technikoffen
formuliert; als Minimum wird eine DNS-Sperre verlangt. Deshalb ist es möglich, dass das Fernmeldegeheimnis betroffen sein könnte. Nach dem Zitiergebot
muss das Gesetz in diesem Falle Klarheit schaffen.
Zweitens. Die Verträge regeln im Unterschied zum
Gesetz, dass dann, wenn eine Stoppseite erscheint, nur
die Klicks, also die anonymisierte Anzahl der Zugriffe,
gezählt werden. Im Gesetz ist die Möglichkeit enthalten
- die Frage ist, ob und inwieweit die obersten Polizeibehörden und die Strafverfolgungsbehörden davon Gebrauch machen -, die Täter auf Dauer zu verfolgen.
Ihre zweite Frage betraf das BKA. Das BKA trägt die
volle Haftung dafür, dass die richtige Website identifiziert wird und nur Websites mit kinderpornografischen
Inhalten nach § 184 b des Strafgesetzbuches als verschlüsselte Liste an die Internetzugangsprovider weitergegeben werden. Diese Frage bezieht sich ausschließlich
auf die Arbeit des Bundeskriminalamtes.
Zu Ihrer dritten Frage: Es ist in der Tat so, dass Websites mit kinderpornografischen Inhalten auch in
Deutschland, also von deutschen Servern aus, eingestellt
werden. Hier gibt es schon lange eine gute Zusammenarbeit mit den Internetzugangsanbietern dahin gehend,
dass auf diesen Servern die Quelle dieser Seiten gelöscht
wird. Aber die Mehrzahl dieser Inhalte werden im Ausland, also irgendwo auf der Welt eingestellt.
Man muss in diesem Zusammenhang beachten, dass
nur die Hälfte aller Länder dieses Globus überhaupt Kinderpornografie ächten und irgendwelche rechtlichen
Vorschriften haben, die regeln, wie dagegen vorgegangen werden kann. Die andere Hälfte der Länder ächtet
dies eben nicht. Dort können diese abscheulichen Bilder
ohne Weiteres ins Netz eingestellt werden. Das macht
deutlich, dass es sehr schwer ist, die Täter in diesen Ländern zu verfolgen oder irgendwelche Quellen zu schließen.
Deshalb ist es richtig - neben der Täterverfolgung
und dem weltweiten Schließen von Quellen im Rahmen
internationaler Zusammenarbeit -, ein sehr deutliches
gesellschaftliches Signal zu senden, dass der ungehinderte Zugang aufgrund der Zugangssperre nicht mehr
möglich ist und damit dem Massengeschäft ein Riegel
vorgeschoben wird.
Vielen Dank. - Das Wort für die nächste Frage geht
an den Kollegen Martin Dörmann.
Frau Ministerin, ich begrüße es ausdrücklich, dass die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Ich glaube,
dass eine wirksame und rechtsstaatlich unbedenkliche
Sperre nur auf gesetzlicher Grundlage geschaffen werden
kann. Wir alle wünschen uns diese wirksame Sperre, auch
wenn wir wissen, dass wir damit sicherlich nicht alle Umgehungsmöglichkeiten ausschließen können. Aber das ist
ein wichtiges Signal; das will ich am Anfang meiner Fragen betonen.
Weil wir wissen, dass wir es letztendlich mit Problemen zu tun haben, die ihren Ursprung im Ausland haben
- Herr Kollege Otto hat es schon angedeutet -, zielen
meine Fragen darauf, was die Bundesregierung und
staatliche Stellen dafür tun, damit diese Seiten auch im
Ausland gesperrt werden. Sie sprachen gerade davon,
dass Kinderpornografie nur in der Hälfte der Länder geächtet wird. Inwieweit gibt es gegenüber Ländern, in denen Kinderpornografie nicht geächtet wird, Initiativen
der Bundesregierung, dies zu tun, sei es in internationalen Konferenzen, sei es in anderen Gremien? Verhandelt
die Bundesregierung mit den Staaten, in denen Kinderpornografie geächtet wird, um dafür Sorge zu tragen,
dass diese Seiten dort gesperrt werden, weil die Sperrung hier nur mit Zeitverzögerung möglich ist?
Mein zweiter Fragenkomplex betrifft das Bundeskriminalamt. Das Bundeskriminalamt wird ja Listen über
entsprechende Seiten im Ausland erstellen. Wie ist die
derzeitige Praxis im Hinblick auf ein Tätigwerden des
Bundeskriminalamtes, indem zum Beispiel Kontakt mit
den zuständigen Stellen im Ausland aufgenommen wird,
damit auch dort wirksam gegen Kinderpornografie vorgegangen werden kann, und zwar nicht nur bezogen auf
die Seiten, sondern auch auf die Täter? Wäre es möglicherweise sinnvoll, eine Regelung, die eine Verpflichtung zum Tätigwerden des Bundeskriminalamtes vorsieht, in dieses Gesetz mit aufzunehmen?
Ich möchte zunächst Ihre zweite Frage beantworten.
Das, was Sie gerade geschildert haben, gehört bereits
seit Jahren zur täglichen Arbeit des Bundeskriminalamtes. Es ist tagtäglich damit beschäftigt, die sehr kurzlebigen und deshalb auch immer wieder neu erscheinenden
Websites zu identifizieren und daraufhin zu analysieren,
ob es auf den veröffentlichten Bildern oder in den Filmen Hinweise darauf gibt, wo, in welchem Umfeld und
in welchem Rahmen das jeweilige Verbrechen stattgefunden hat. Ferner vergleicht das Bundeskriminalamt, ob
von anderen Websites bekannte Daten vorliegen, die einen Hinweis darauf geben, wo die Kinder vergewaltigt,
missbraucht und gequält wurden.
Das Bundeskriminalamt ist bei seiner Arbeit international sehr gut vernetzt. Im Rahmen von Europol wird
gerade eine Bilddatenbank aufgebaut, um die vielen
kurzlebigen Daten und Bilder, die relativ schnell und immer wieder neu ins Netz eingestellt werden können, daraufhin abzugleichen, ob anhand von Details herauszufinden ist, wo die dargestellte Schändung der Kinder
stattgefunden hat. Dann kann mit den Behörden Kontakt
aufgenommen werden, und die Strafverfolgungsbehörden können vor Ort tätig werden, um die Kinder zu retten und die Täter zu stellen. Das gehört zur täglichen Arbeit des Bundeskriminalamtes.
Das Bundeskriminalamt versucht seit fast zehn Jahren, den von Ihnen erwähnten weiteren Baustein, der
auch sehr viel mit Prävention zu tun hat, zu installieren.
Auf diesem Gebiet sind wir allerdings nicht Vorreiter.
Inzwischen gibt es auf europäischer Ebene neun Länder
und auf internationaler Ebene weitere Länder, die bereits
vor einigen Jahren Zugangssperren eingerichtet haben,
weil sie erkannt haben, dass sie ein unverzichtbarer Baustein sind.
In diesem Zusammenhang spielt das CIRCAMP eine
Rolle. Dabei handelt es sich um eine Vereinigung von
Ländern, in deren Rahmen jeden Tag ein Austausch von
Listen und von Informationen über Techniken des Sperrens stattfindet. Diesem Kreis können wir jetzt unverzüglich beitreten. Die Frage, warum sich Deutschland
daran nicht stärker beteiligt, stellte sich schon seit längerer Zeit. Das gilt natürlich auch für die Zusammenarbeit
im Rahmen von Europol. Ich möchte deutlich machen,
dass dies zwar nur ein Baustein, aber ein unverzichtbarer
Baustein ist, der bei uns in den letzten Jahren fehlte,
während andere diese Schritte schon gegangen sind.
International muss in der Tat oberstes Ziel bleiben,
den Ländern, die die Kinderpornografie in gar keiner
Form ächten, deutlich zu machen, dass dies nicht tolerierbar ist. Es gibt Länder, in denen nur teilweise, mit
viel weniger Nachdruck und ohne gesetzliche Vorgaben
gegen Kinderpornografie vorgegangen wird. In diesem
Zusammenhang ist vor allem die Arbeit in Gremien wie
der Weltkonferenz in Rio, die im Dezember vergangenen
Jahres stattgefunden hat, ein wichtiger Schritt. Auf nationaler Ebene haben wir bereits eine Nachfolgekonferenz
durchgeführt. In wenigen Wochen wird in Deutschland
auch eine internationale Nachfolgekonferenz stattfinden.
Internationale Verhandlungen, die auch von Deutschland
betrieben werden, sind ein permanenter Prozess.
Vielen Dank. - Die nächste Frage geht an den Kollegen Jörn Wunderlich.
Frau Ministerin, Sie verweisen ständig auf andere europäische Länder, insbesondere auf die skandinavischen.
Wie wir wissen, gibt es die Sperrlisten aus Dänemark,
Finnland, Schweden und der Schweiz. Die Echtheit dieser Listen ist noch nie in irgendeiner Form angezweifelt
worden, höchstens einmal ihre Aktualität. In diesen Listen befinden sich zum überwiegenden Teil Seiten, die
auf Servern liegen, die in Ländern betrieben werden, in
denen Kinderpornografie strafbar ist, unter anderem in
Deutschland.
Ich frage Sie: Was unternimmt die Bundesregierung,
damit diese Seiten nicht nur gesperrt, sondern auch gelöscht und die dahinterstehenden Betreiber verfolgt werden? Inwieweit braucht das BKA an dieser Stelle mehr
Unterstützung? Der Bund Deutscher Kriminalbeamter
hat bereits darauf hingewiesen, dass eine bessere technische, personelle und materielle Unterstützung gebraucht
wird, um eine effektive Verfolgung der Täter gewährleisten zu können. Warum ist in dieser Hinsicht bislang
nichts unternommen worden, um tatsächlich gegen Kinderpornografie vorzugehen? Was bezweckt die Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf?
Wie ich jetzt erfahren habe, soll es auch möglich sein,
Seiten sperren zu lassen, deren Zweck darin besteht, auf
kinderpornografische Seiten zu verweisen. Nicht nur die
DNS-Sperre, sondern auch eine Sperrung von IP-Adressen, die weitergehend ist, soll möglich sein.
Heute stand im Rheinischen Merkur, dass der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Musikindustrie,
Dieter Gorny, Ihnen zur Seite springt und sagt: Jawohl,
das ist ein richtiges Signal: Es geht um eine staatliche
Kontrolle des Internets, und dazu gehört auch der Schutz
des geistigen Eigentums. - Ich frage Sie: Ist das nicht ein
Einfallstor für eine Internetzensur? Inwieweit unterscheidet sich diese Internetzensur, was die geschilderten
Maßnahmen und technischen Möglichkeiten angeht,
noch von der chinesischen Internetzensur?
({0})
Es geht ausschließlich um Kinderpornografie im Internet.
Das Bundeskriminalamt hat auf seiner Pressekonferenz in der vergangenen Woche deutlich gemacht, dass
es die Zahl der Stellen für Mitarbeiter, die sich mit diesem Thema und mit dem Bereich der neuen Medien insgesamt befassen, um sechs bis zehn erhöhen wird.
Zu Ihrer Frage, welche Seiten gesperrt werden. Gesperrt werden ausschließlich Websites, die kinderpornografische Inhalte haben. Was unter diesen Straftatbestand fällt, ist in § 184 b StGB detailliert beschrieben.
Zu Ihrer Frage nach einer Sperrung von IP-Adressen.
Wie ich anfangs erläutert habe, beruhen die Verträge auf
einer DNS-Sperre. Das ist, wie mit Inkrafttreten des Gesetzes noch einmal bekräftigt werden würde, der Mindeststandard. Das Gesetz selber ist technikoffen formuliert. Das heißt, anderweitige Sperrungstechniken sind
nicht ausgeschlossen.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Michaela Noll.
Sehr geehrte Frau Ministerin, erst einmal möchte ich
mich ganz herzlich bedanken. Endlich ist ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, mit dem die Kinderpornografie wirklich bekämpft wird. Wenn man an ECPAT
Deutschland und an die Kindernothilfe denkt - die gestrige
Pressenotiz zeigte, dass sie diese Maßnahme begrüßen -,
sieht man, dass Sie nicht alleine dastehen.
Ich habe folgende Fragen: Gilt das Gesetz, das Sie
verabschieden wollen, für alle kommerziellen Anbieter,
oder gibt es eine Mindestanzahl von Kunden? Werden
Übergangsfristen eingeräumt? Wann kann man damit
rechnen, dass die Seiten tatsächlich gesperrt werden?
Wir haben eben gehört, dass die Sperrlisten täglich neu
erstellt werden sollen. Wird das tatsächlich zur Folge haben, dass sie täglich an die Anbieter weitergeleitet werden?
Zunächst einmal zu Ihrer Frage, wer von dem Gesetz
erfasst wird. Durch die Verträge, die letzte Woche geschlossen worden sind, werden die fünf größten kommerziellen Anbieter erfasst; sie decken 75 Prozent des
Marktes ab. Zwei weitere Anbieter haben ihre Bereitschaft bekundet, diese Verträge ohne Gesetzesvorbehalt
zu zeichnen; damit wären 94 Prozent des Marktes abgedeckt. Ein großer Anbieter hat sich zu diesem Thema
bisher nicht geäußert, würde aber durch das Gesetz gezwungen werden, die Seiten zu sperren; damit wären
über 97 Prozent des Marktes abgedeckt.
Es bleibt die Frage nach dem Rest. Es ist so, dass zum
Beispiel Behörden und Universitäten eigene Netze haben. Sie sind also autonom und nutzen nicht die Dienste
eines Anbieters, um Zugang zum Internet zu bekommen.
Ich möchte aber sehr deutlich sagen: Gerade die Behörden haben klare interne Regelungen, was innerhalb ihrer
Netze abgerufen werden kann und was nicht abgerufen
werden darf. Sie kontrollieren dies durch Stichproben.
Wer innerhalb dieser - wenn ich es einmal so ausdrücken
darf - Intranets die Regeln verletzt, muss mit empfindlichen Strafen rechnen.
Es bleibt - dies betrifft nur einen Promillebereich des
Marktes - eine Gruppe ganz kleiner Anbieter, nämlich
der Anbieter mit weniger als 10 000 Kunden. Diese Anbieter würden von dem Gesetz nicht erfasst werden. Wir
sehen dies auch als einen Wermutstropfen an. Dies war
aber Ergebnis eines Abwägungsprozesses zwischen Aufwand und Nutzen. Weil diese sehr vertraulichen Listen
in einem engen Rahmen kommuniziert werden müssen,
ging es auch um die Frage, wie weit man diesen Rahmen
stecken kann. Dieses Thema werden wir aber sehr genau
im Auge behalten; es ist einer der entscheidenden Gegenstände der Evaluation. Dann wird man erkennen, ob
man hier noch weiter in die Tiefe gehen muss oder nicht.
Aber ich sage deutlich, dass wir hier von einem Promillebereich sprechen.
Zu Ihrer zweiten Frage, warum das Gesetz keine
Übergangsfristen hat: Das ist einer der entscheidenden
Faktoren bei den Vertragsverhandlungen gewesen. Ohne
die harten Auseinandersetzungen bei den Vertragsverhandlungen und ohne die detaillierten Diskussionen über
das Wenn und Aber, über die zu klärenden Rechte und
Pflichten sowie darüber, was man sich alles denken
könnte, wären wir heute nicht so weit, dass wir dieses
Gesetz, das sehr viel von dem repliziert, was in den Verträgen schon enthalten ist, so formulieren könnten, wie
es geschehen ist, und eine so deutliche Ansage machen
könnten, dass es in dem Moment, in dem das Gesetz in
Kraft treten wird, keine Übergangsfristen mehr geben
wird.
Durch das Abschließen der Verträge sind die Grundbedingungen für alle Internetzugangsanbieter klar. Sie
wissen seit letzter Woche, was auf sie zukommt, und
auch diejenigen, die bis zu dem Zeitpunkt, an dem das
Gesetz greift, noch nicht so weit sind, wissen, dass es
dann für sie ebenfalls gelten wird. Wir haben, beginnend
ab dem 17. April, eine Frist von maximal sechs Monaten
eingeräumt, in der man die Techniken des Sperrens entwickeln und umsetzen kann. Die Unternehmen sagten
uns, dass sie maximal diese Zeit brauchten.
Diese Listen werden täglich vom BKA aktualisiert.
Im Schnitt sind rund 1 000 Seiten aktiv. Man muss wissen, dass diese Seiten sehr kurzlebig sind und nach Tagen oder wenigen Wochen bereits zu anderen Servern
wechseln; sie sind also sehr fluide. Die Aktualisierung
der Listen bedeutet auch, dass wir mit den europäischen
Ländern, die dies bereits jeden Tag machen, einen täglichen Wissenstransfer haben können. Diese Listen werden dann täglich in verschlüsselter Form an die Provider
übermittelt. Dies geht auf elektronischem Wege; niemand „fasst“ also diese Listen an. Die Provider werden
dann maximal sechs Stunden Zeit haben, um die Sperrung vorzunehmen.
Vielen Dank. - Die nächste Frage stellt der Kollege
Christoph Waitz.
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, wenn ich mich
richtig entsinne, haben Sie Ihre Gesetzgebungsinitiative
und Ihr Engagement gegen die Kinderpornografie immer
damit begründet, dass das besondere Ziel darin bestehen
müsse, die Zufallsnutzer, die durch E-Mails und Spams
angeregt werden, daran zu hindern, diese Seiten zu besuchen, und dass Sie mit Ihren Maßnahmen diesem besonderen Gewerbe die wirtschaftliche Basis entziehen
wollten. Dieses Argument ist in der Community der
Computerinteressierten kritisiert worden. Könnten Sie
bitte - dies ist meine erste Frage - noch einmal ausführen, wo das besondere wirtschaftliche Interesse liegt und
wie Sie es mit den jetzt beabsichtigten Maßnahmen
schaffen wollen, dieser Industrie die wirtschaftliche Basis zu entziehen?
Meine zweite Frage bezieht sich darauf, dass nach
dem von Ihnen jetzt vorgelegten Gesetzentwurf die Verpflichtung der Internetprovider besteht, die Nutzerdaten
zu speichern und zu Zwecken der Strafverfolgung weiterzuleiten. Soweit ich es gesehen habe, ist der Versuch
nach §§ 184 b und c StGB gegenwärtig noch nicht strafbar. Sehen Sie hier ein Problem der Verhältnismäßigkeit,
dass diese Daten in einem Vorfeld der Strafbarkeit schon
in dieser Form gespeichert werden?
Ich bitte Sie, mir auch hier zu erlauben, zunächst die
zweite Frage zu beantworten. Es gibt keine Verpflichtung für die Internetzugangsanbieter, die Daten zu speichern. Ich möchte es noch einmal ganz klar formulieren:
Der Versuch ist in der Tat nicht strafbar. In den Verträgen
- jetzt spreche ich von den Verträgen - ist geregelt, dass
die Zahl der anonymisierten Klicks registriert wird. Das
Gesetz lässt offen - deshalb ist ein Gesetz nötig -, ob zu
Zwecken der Täterverfolgung der Aufruf der Seiten später ausgewertet werden kann, und zwar dann, wenn sich
jemand wiederholt auf einschlägigen Seiten bewegt oder
versucht, auf solche Seiten Zugriff zu nehmen.
Das liegt aber nicht im Interesse des Bundesfamilienministeriums. Unser Interesse gilt der Prävention. Deshalb ist das in den Verträgen auch ganz klar geregelt. Ich
sage aber deutlich: Wenn alle gezwungen werden, eine
Stoppseite einzurichten, dann muss eine klare gesetzliche Grundlage dafür vorliegen, und es muss vor Erlass
dieses Gesetzes auch diskutiert werden, was mit der Datenspur, die automatisch entsteht - genauso automatisch
wird sie bei einer DNS-Sperre gelöscht, wenn nicht weiter gehandelt wird -, potenziell eigentlich passieren
kann.
Zur zweiten Frage, bei der es um das Massengeschäft
ging. Die Experten sagen - das ist nicht nur eine Expertise aus Deutschland, sondern die internationale Erfahrung -, dass grob gepeilt etwa 80 Prozent der - in Anführungsstrichen - Kunden, die kinderpornografisches
Material nachfragen, über Spammails und Teasing-Produkte in diese Szene einsteigen. Sie werden systematisch
immer tiefer in diese Szene hineingelockt, auch mit dem
Ziel, dass die Hemmschwelle sinkt. Je mehr man davon
konsumiert, desto mehr entsteht der Eindruck, dass das
selbstverständlich ist, weil man das im Internet ja jederzeit bzw. jeden Tag konsumieren kann. Deshalb sinkt
auch die Hemmschwelle.
Genau das ist der Punkt: Diesen Einstieg - es geht
also um den Anfang - wollen wir präventiv verhindern
bzw. sehr schwer machen. Natürlich wissen wir, dass es
Schwerpädokriminelle und versierte Pädokriminelle gibt
- rund 20 Prozent -, die sich in völlig anderen geschlossenen Foren bewegen. Dort ist allerdings auch die Polizei tätig. Das bekommen wir immer wieder mit, wenn
bestimmte Händlerringe gesprengt und diese Vorgänge
dann auch veröffentlicht werden.
Mit diesem Baustein, den ich nenne - das ist zwar nur
ein Baustein, aber ein unverzichtbarer -, stehen wir hinsichtlich der Prävention am Anfang. Es ist ein Baustein,
durch den auch deutlich gemacht wird, dass das kein Kavaliersdelikt und nichts Selbstverständliches ist, sondern
dass man sich hier aus gutem Grund auf dem Strafrecht
unterliegendes Gebiet begibt.
Sie haben nach dem Massengeschäft gefragt. Leider
ist es so, dass mit diesen Angeboten Millionenbeträge
verdient werden. Dies geschieht durch das Locken der
Masse auf bestimmte Websites, auf denen sie für 50 bis
90 Euro pro Monat - ich sage es sehr vorsichtig und in
Anführungsstrichen - Material bekommen kann. Das ist
also eine Nutzungsgebühr. Dieses Massengeschäft hat
einen Umfang von Millionen.
Wie immer bei organisierter Kriminalität muss das
Prinzip unter anderem sein - nicht als Einziges, aber unter anderem -, den Geldfluss bzw. das Lukrative an diesem Geschäft und den Machtanspruch über die Masse
empfindlich zu stören. Genau das ist der Ansatz hier.
Vielen Dank. - Ich kann noch eine Frage zulassen. Martina Krogmann hat das Fragerecht.
Frau Ministerin, Sie erwähnten eingangs, dass wir in
Deutschland mit diesem Gesetzentwurf Neuland betreten und dass das Gesetz ein Jahr nach Inkrafttreten evaluiert werden soll.
Nun gibt es ja bereits andere Staaten, die in diesem
Bereich ähnlich vorgehen - auch mit Sperrlisten. Können Sie sagen, wie viele Länder dies sind, und können
Sie vor allem sagen - das ist der spannendere zweite Teil
meiner Frage -, welche Erfahrungen man in diesen Ländern mit den Listen gemacht hat und ob sich dies positiv
auf die Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet
ausgewirkt hat?
Im europäischen Raum sind es neun Länder, die diese
Sperrtechniken miteinander teilen, und 13 Länder, die
sich an dem Ring CIRCAMP für den Informationsaustausch untereinander über Täterprofile, Bilddatenbanken
und täglich zu aktualisierende Websites mit pornografischem Inhalt beteiligen. Wie gesagt: Es gibt eine breite
Palette von Ländern von Italien über die Schweiz bis hin
zu den skandinavischen Ländern, deren Grundhaltungen
sehr unterschiedlich sind.
Interessant ist erstens, dass es als Selbstverständlichkeit einer gesellschaftlichen Haltung inzwischen vollständig akzeptiert ist, diesen Weg zu gehen. Zweitens
finde ich es interessant, dass die Zahl der Beschwerden
in den letzten vier Jahren darüber, dass die falsche Website gesperrt ist, im einstelligen Bereich liegt und damit
sehr überschaubar ist.
Wir haben auch nicht gehört, dass das Internet in der
Schweiz, in Schweden, in Großbritannien oder in Kanada aus diesen Gründen zusammengebrochen wäre.
Wichtiger sind meines Erachtens die ganz klare Haltung
der Gesellschaft dahin gehend, dass dies nicht toleriert
wird, und das Wissen darüber, was dort abläuft. Es ist
uns ganz wichtig, an diesen Prozessen teilzunehmen.
Vielen Dank, Frau Ministerin.
Gibt es Fragen zu anderen Themenbereichen der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist nicht der Fall. Gibt es
Fragen an die Bundesregierung, die nicht mit der Kabinettssitzung zusammenhängen? - Das ist auch nicht der
Fall. Dann beende ich die Regierungsbefragung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/12641, 16/12659 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich wie immer gemäß
Nr. 10 der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen auf.
Ich habe eine dringliche Frage der Kollegin
Dr. Dagmar Enkelmann:
Was will die Bundesregierung tun, um rasch im Sinne der
gebotenen Vorsorge die - wie am Wochenende bekannt wurde ab Herbst gefährdete Zahlungsfähigkeit der Bundesagentur
für Arbeit abzuwenden, und welche Maßnahmen plant die
Bundesregierung in diesem Zusammenhang, um angesichts
der anhaltenden Wirtschaftskrise und den damit steigenden
Aufgaben der Bundesagentur bei Kurzarbeit, Arbeitslosengeld I, bei Weiterbildung und öffentlicher Beschäftigung die
finanzielle Basis der Bundesbehörde nachhaltig zu stärken?
Diese betrifft den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung steht
der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner zur
Verfügung. Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Frau Dr. Enkelmann, nach dem vom
Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit im Februar
beschlossenen Nachtragshaushalt für das Jahr 2009 rechnet die Bundesagentur in diesem Jahr mit einem voraussichtlichen Defizit in Höhe von 10,9 Milliarden Euro.
Am Jahresende 2009 würde damit die Rücklage, die zu
Jahresbeginn rund 16,7 Milliarden Euro betrug, noch
rund 5,8 Milliarden Euro betragen. Das Defizit des Jahres 2009 kann somit durch die Entnahme aus der Rücklage vollständig ausgeglichen werden. Da jedoch die
Bundesbeteiligung an der Arbeitsförderung in Höhe von
rund 7,8 Milliarden Euro erst Ende Dezember 2009 an
die BA überwiesen wird, entsteht für den Zeitraum Ende
Oktober bis Ende Dezember voraussichtlich ein Liquiditätsengpass, der durch ein zinsloses Bundesdarlehen ausgeglichen wird.
Ihre Nachfragen, bitte.
Offenkundig gehen wir beide davon aus, dass die Ausgaben der Bundesagentur in diesem Jahr deutlich steigen.
Die Online-Ausgabe der Bild-Zeitung vermeldet zum
Beispiel heute, dass unter anderem die Ausgaben für Insolvenzgeld dramatisch gestiegen seien. Bereits im ersten Quartal sind 82 Millionen Euro mehr ausgegeben
worden als geplant. Man geht davon aus, dass der für Insolvenzgeld vorgesehene Topf bereits im August dieses
Jahres ausgeschöpft sein wird. Vermehrte Kurzarbeit und
steigende Arbeitslosigkeit führen zum Beispiel dazu,
dass die Einnahmen sinken usw. Welche Konsequenzen
ergeben sich daraus aus Sicht der Bundesregierung für
Leistungen der Bundesagentur an die Arbeitslosen? Um
es deutlich auf den Punkt zu bringen: Befürchtet auch die
Bundesregierung Kürzungen von Maßnahmen der Bundesagentur? Das wäre meine erste Frage.
Die Bundesregierung befürchtet keine Kürzungen
von Maßnahmen durch die Bundesagentur. Alle in Form
eines Rechtsanspruchs zugesagten und gesetzlich festgelegten Maßnahmen werden pünktlich und ordentlich erbracht werden. Insgesamt gibt es keinen Grund, aufgrund der Finanzlage an Leistungskürzungen zu denken.
Eine zweite Nachfrage?
Das gilt hoffentlich auch für die Zeit nach der Bundestagswahl. - Sie haben vorhin auf den Vermerk für
den Nachtragshaushalt der Bundesagentur vom Februar
dieses Jahres verwiesen. In diesem Vermerk geht die
Bundesagentur davon aus, dass die Wirtschaftsleistung
um 2,25 Prozent sinkt. Nach meiner Kenntnis will auch
die Bundesregierung ihre Wirtschaftsprognosen inzwischen deutlich nach unten korrigieren, weil auch eine
ganze Reihe von Wirtschaftsexperten davon ausgeht,
dass die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um mindestens 5 Prozent sinken wird. Welche Schlussfolgerungen
zieht die Bundesregierung daraus? Plant die Bundesregierung einen Rettungsschirm für die Arbeitslosenversicherung?
Die Bundesregierung hat überhaupt keine Veranlassung, einen Rettungsschirm für die Arbeitslosenversicherung zu planen. Wie Sie meinen ersten Bemerkungen
entnommen haben, ist die Liquidität der Bundesagentur
für das Jahr 2009 gesichert. Wenn Sie die Zahlungsströme betrachten, dann wissen Sie, dass wir davon ausgehen, dass am Jahresende 2009 noch eine deutliche Reserve vorhanden sein wird.
Laut Finanzplanung für 2010 wird zuerst diese Reserve aufgebraucht werden. Die Bundesregierung hat
aber beschlossen, der Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der Haushaltsgesetzgebung ein entsprechendes
zinsloses Darlehen zu gewähren.
Unter diesen gesamten Gesichtspunkten besteht keine
Veranlassung, an der finanziellen Sicherheit der Bundesagentur für Arbeit für 2010 zu zweifeln.
Jetzt hat noch der Kollege Volker Schneider das Wort.
Herr Staatssekretär, nach der letzten Antwort ringe
ich etwas um Fassung ob Ihres grenzenlosen Optimismus, den Sie auch schon zu dem Zeitpunkt hatten, als
wir dringend davor gewarnt hatten, die Beitragssätze abzusenken.
Aber ich komme zu meiner Frage. Sie hatten eben angesprochen, dass die Mittel im Dezember ausgezahlt
werden. Dass ist der Fall, weil Sie die Auszahlung dieser
Mittel, die aus dem Mehrwertsteuertopf stammen und
vorher monatlich gezahlt wurden, in den Dezember verlegt haben. Auch das ist für mich angesichts der absehbaren finanziellen Entwicklung bei der Bundesagentur
für Arbeit schwer nachzuvollziehen. Wird denn daran
gedacht, diese Entscheidung möglicherweise zugunsten
der Bundesagentur wieder rückgängig zu machen?
Herr Kollege Schneider, Sie haben keinen Grund, die
Solidität der Finanzpolitik der Bundesregierung hinsichtlich der Bundesagentur in Zweifel zu ziehen. Ich
habe erklärt, dass alle Leistungen pünktlich erfüllt werden. Entsprechende Rücklagen sind vorhanden. Daraus
können Sie schließen, dass auch das notwendige Finanzvolumen vorhanden ist.
Das, was für 2010 eingeplant ist, ist durch entsprechende zusätzliche Leistungen der Bundesregierung aus
dem Bundeshaushalt gesichert. Insofern verbietet sich
jede Verunsicherung in diesem Bereich.
Außerdem weise ich darauf hin, dass die Ausgaben
für die ersten drei Monate dieses Jahres geringer ausgefallen sind, als die Bundesagentur für Arbeit es selbst
vorgesehen hat.
({0})
- Frau Enkelmann, das Insolvenzgeld ist eine Leistung,
die nicht durch Beiträge, sondern durch eine Umlage finanziert wird, und steht bezüglich der Leistungsgewährung nicht in Zweifel. Insofern ist eine solche Vermengung in der Sache nicht angebracht.
({1})
Jetzt folgt noch eine Frage des Kollegen Werner
Dreibus.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, ich vermute oder
unterstelle - übrigens nicht zur Verunsicherung, sondern
zugunsten der Sicherheit der Bürger -, dass das Bundesministerium über ein einfaches statistisches Mittel wie
die Modellrechnung verfügt. Unterstellen wir einmal,
dass nicht die Annahme der Bundesagentur für Arbeit
den tatsächlichen Verlauf der Arbeitslosigkeit und die
weiteren Folgen der Krise auf dem Arbeitsmarkt widerspiegelt, sondern dass wir beispielsweise von 5 Millionen Arbeitslosen, einer deutlich gestiegenen Zahl von
Kurzarbeitern und weiteren zusätzlichen Ausgaben auch
der aktiven Arbeitsmarktpolitik auszugehen haben. Können Sie uns sagen, wie unter solchen Annahmen bei einem Rückgang des Bruttosozialprodukts um 5 Prozent
die Haushaltslage der Bundesagentur am Ende dieses
Jahres aussehen wird und welche Rückwirkungen das
auf den Bundeshaushalt hat?
Die Bundesregierung geht, wie Sie wissen, nicht von
einem Anstieg der Zahl der Arbeitslosen auf 5 Millionen
aus, Herr Abgeordneter. Grundsätzlich gibt es zwar Modellrechnungen, die aber keinen Anstieg der Arbeitslosenzahl in dieser Größenordnung beinhalten.
({0})
Vielen Dank. Damit ist die dringliche Frage beantwortet.
Wir setzen die Fragestunde in der üblichen Reihenfolge fort und beginnen mit dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hermann Kues zur Verfügung.
Wir beginnen mit der Frage 1 des Kollegen Manuel
Sarrazin:
Trifft es zu, dass die Bundesregierung, wie der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz, in der Sitzung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
des Deutschen Bundestages am 25. März 2009 berichtete,
zum derzeit verhandelten Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Rahmenrichtlinie zum Schutz vor Diskriminierung außerhalb des Berufslebens bisher keine Position hat,
und inwiefern ist es zutreffend, dass die Bundesregierung in
den entsprechenden Sitzungen des EU-Ministerrats und der
Ratsarbeitsgruppen dennoch die Position vertritt, dass die
Rechtsgrundlage für diesen Richtlinienvorschlag fehle, und
aus diesem Grund den Richtlinienvorschlag ablehnt?
Bitte schön, Herr Kues.
Vielen Dank. - Die Bundesregierung hat ihre Vorschläge in die Verhandlungen über den Entwurf einer
Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichberechtigung eingebracht und deutlich gemacht, welche
Positionen und Fragen geklärt werden müssen. Diese
wurden innerhalb der Bundesregierung vor jeder Sitzung
der zuständigen Ratsarbeitsgruppe „Sozialfragen“ sowie
vor den Tagungen des Ministerrates abgestimmt. Es hat
auch ausführliche Berichte über den Stand der Beratungen und die Positionen der Ressorts sowie umfassende
Bewertungen gegeben.
Bitte schön, eine Nachfrage.
Herr Präsident! Herr Staatssekretär, in der Europaausschusssitzung zu diesem Thema am 25. März hat
Bundesminister Scholz deutlich gemacht, dass es keine
Position der Bundesregierung zu diesem Richtlinienentwurf gebe. Gleichzeitig haben wir durch Unterrichtung,
wie Sie es eben dargelegt haben, erfahren, dass die Bundesregierung zwar die inhaltlichen Positionen vertritt,
aber die Richtlinie an sich ablehnt, weil aus Sicht der
Bundesregierung keine Rechtsgrundlage existiert, um
die Richtlinie durchzusetzen. Ich frage mich nun, was
stimmt: Hat Bundesminister Scholz mit seiner Aussage,
es gebe keine Position der Bundesregierung, unrecht,
oder vertritt die Bundesregierung Positionen im Europäischen Rat, die nicht zwischen allen Ressorts der Bundesregierung abgestimmt sind?
Wie ich eben sagte, sind die Fragen, die wir geklärt
haben möchten, zwischen allen Ressorts abgestimmt.
Bundesminister Scholz hat sich im EU-Ausschuss allgemein zum Antidiskriminierungsrecht in der EU und insbesondere in Deutschland geäußert. Das stellt meine
Aussage nicht infrage, dass Deutschland hier bislang
stets abgestimmte Stellungnahmen vorgetragen hat. Wir
haben keine abschließende Erklärung vorgegeben. Es
stellt sich im Zusammenhang mit diesem neuen Richtlinienentwurf aber die Frage, ob dies zum von der Bundesregierung für richtig gehaltenen Subsidiaritätsprinzip
- was die Nationalstaaten alleine lösen können, sollen
sie auch alleine lösen - passt. Wir haben die entsprechenden Fragen formuliert. Wir stimmen uns auch mit
anderen Ländern ab. Ende April wird es die erste Arbeitsgruppensitzung unter tschechischer Präsidentschaft
dazu geben. Dann wird weiter zu entscheiden sein.
Die Aussage von Bundesminister Scholz stellt also
keinen Gegensatz zum Fragenkatalog, den Sie kennen,
und unseren Positionen dar. Wir wollen beispielsweise
geklärt haben, ob diese Richtlinie mit anderen Regelungen vereinbar ist, wie sich die bisherigen Richtlinien, die
wir gerade umsetzen, ausgewirkt haben und welche
rechtlichen Fragen sich ergeben haben. Es gibt nun einige Bemühungen seitens der EU, hier nachzufragen.
Das alles passt absolut zur Aussage von Minister Scholz.
Eine weitere Nachfrage, bitte.
Verstehe ich es richtig, dass die Bundesregierung
nicht die Position vertritt, dass die Kommission keine
Regelungsgrundlage im EU-Vertrag findet, um diesen
Richtlinienentwurf vorzulegen, sondern dass die Bundesregierung lediglich darum gebeten hat, zu prüfen, ob
eine Rechtsgrundlage vorliegt? Ich denke, dass man eine
Rechtsgrundlage auch herleiten kann.
Man kann sagen, dass die Bundesregierung eine äußerst skeptische Haltung gegenüber dem gesamten Entwurf der Richtlinie einnimmt; das ist die einvernehmliche Auffassung. Es stellt sich unter anderem die Frage,
ob dafür eine Rechtsgrundlage im EU-Vertrag vorhanden ist; das muss geprüft werden. Wir befinden uns noch
in der Diskussion.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Wir kommen zum
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Marion Caspers-Merk zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 2 der Kollegin Gitta
Connemann:
Kann durch den Bau von Kohlekraftwerken, wie diese
jetzt in Eemshaven, Niederlande, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Insel Borkum entstehen, die Prädikatisierung
„Nordseeheilbad“ Borkum gefährdet sein?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Connemann, Sie fragen danach, ob die
Bundesregierung hierzu Erkenntnisse hat. Es ist zuerst
darzulegen, dass sich die Anerkennung von Orten als
Kurort nach den jeweils landesrechtlichen Bestimmungen richtet. Im Fall des Nordseeheilbads Borkum ist dies
die Verordnung über die staatliche Anerkennung von
Kur- und Erholungsorten vom 22. April 2005, die Sie im
Gesetzesblatt des Landes Niedersachsen nachlesen können. Dort ist dargelegt, dass eine Voraussetzung zur Anerkennung als Kurort ist, dass eine entsprechende Luftqualität vorgehalten wird, dass zur Überprüfung dieser
Luftqualität gegebenenfalls Gutachten angefordert werden können und dass dann, wenn die Kriterien nicht eingehalten werden, es zu einer Aberkennung des Prädikats
Kurort kommen kann.
In die Verfahren ist die Bundesregierung nicht eingebunden. Sie kann deswegen keine Aussagen zum Einzelfall treffen. Das ist eine rein landesrechtliche Bestimmung. Wenn man überlegt, dass dort Kuren und
Rehabilitationen vorgenommen werden sollen, dann ist
klar, dass eine der Voraussetzungen dafür ist, dass die
entsprechenden Einrichtungen vor Ort vorgehalten werden und auch die Umgebungsparameter stimmen. Die
Art und den Umfang aber legt das jeweilige Bundesland
fest.
Nachfrage? - Bitte, Frau Connemann.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Ich habe vernommen, dass sich die Anerkennung nach Landesrecht richtet. Ich werde mich entsprechend informieren. Sie haben
aber auch darauf hingewiesen, dass die Umgebungsparameter eine entscheidende Rolle spielen. Ich hatte bereits
in der Fragestunde am 25. März 2009 an das Bundesministerium für Umwelt die Frage gerichtet, ob eine allgemeine Gefährdung durch die Vermischung natürlicher
Meeresaerosolen mit Feinstäuben untersucht worden ist.
Das Bundesumweltministerium antwortete mit dem Hinweis, dass Untersuchungen nicht bekannt sind. Sind dem
Bundesgesundheitsministerium Untersuchungen bekannt,
oder sind solche an anderer Stelle durchgeführt worden?
Wenn das ein landesrechtlicher Vorgang ist und das
Land entscheidet, welche Kriterien für einen Kur- und
Erholungsort festgelegt werden, und wenn die Anerkennung bzw. Aberkennung auf Landesrecht fußt, dann ist
klar, dass wir als Bundesregierung keine Erkenntnisse
haben, welche Art von Gutachten verlangt werden, ob
überhaupt welche eingeholt wurden und ob welche vorzulegen waren. Das können wir nicht wissen, und wir
haben praktisch auch keine Zugriffsmöglichkeit auf derartige Informationen. Generell ist darauf hinzuweisen,
dass es nicht entscheidend ist, ob ein Kraftwerk dort gebaut wird, sondern dass die Art der Emissionen und die
generelle Belastung der Struktur und der Region eine
Rolle spielt. Die Bundesregierung kann nicht beurteilen,
ob der Bau, den Sie anführen, diese Qualitätskriterien erfüllt oder nicht erfüllt.
Eine zweite Nachfrage, Frau Connemann? - Bitte
schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Gestatten Sie mir dann
eine konkrete Nachfrage. Es geht bei der Frage nach einer Gefährdung durch das Zusammentreffen von natürlichen Aerosolen von Salzpartikeln mit Feinstäuben nicht
allein um diesen speziellen Fall. Vielmehr stellt sich
diese Frage auch außerhalb von Borkum und außerhalb
des Landes Niedersachsen. Denn es betrifft die allgemeine Volksgesundheit. Deshalb noch einmal meine
Frage: Ist dieses Phänomen in Gänze an irgendeiner
Stelle in Deutschland untersucht worden, und, wenn
nicht, gibt es Planungen seitens des Bundes dazu?
Für das Bundesgesundheitsministerium kann ich antworten, dass beim Bundesgesundheitsministerium hierüber keine Informationen und Gutachten vorliegen.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Die Frage 3 der Kollegin Cornelia Hirsch - Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung - soll schriftlich beantwortet werden. Sie hat
ja im Moment eine andere wichtige Aufgabe.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Dagmar
Wöhrl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Welche konkreten Schritte unternimmt die Bundesregierung, um die Forderung vom Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie, Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
an die Gasversorger, die durch die Ölpreisentwicklung gesunkenen Gasbezugspreise in vollem Umfang und schnell an die
Verbraucher weiterzugeben, durchzusetzen, und warum wurden entsprechende Maßnahmen nicht schon vor Bekanntwerden der letzte Woche veröffentlichten Gaspreisstudie ergriffen?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Vielen herzlichen Dank. - Ich beantworte die Frage
wie folgt: Die Bundesregierung strebt keine flächendeckende Preisregulierung an, sondern setzt auch im
Gasmarkt auf Wettbewerb und die Verbesserung der
Voraussetzungen für wettbewerbliche Marktstrukturen
sowie deren Erhaltung. Die Kartellbehörden werden
auch in Zukunft nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen
eingreifen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass
marktbeherrschende Gasversorger ihre Marktmacht nutzen, um missbräuchlich hohe Preise von den Verbrauchern zu verlangen.
Sie haben auch gefragt, welche Schritte die Bundesregierung schon früher unternommen hat. Wir haben im
Herbst letzten Jahres auch mit den großen Gasanbietern
Gespräche geführt. Bereits da haben wir die Gaswirtschaft angemahnt, sinkende Gasbezugskosten rasch an
die Verbraucher weiterzugeben, was in unser aller Interesse ist.
Wir haben die rechtlichen Rahmenbedingungen dahin
gehend geändert, dass auf dem Gasmarkt mehr Wettbewerb herrscht. Gott sei Dank gibt es schon heute Regionen mit mehreren Anbietern, zum Beispiel Berlin mit 18,
Köln mit 5 und München mit 10. Wir appellieren immer
wieder an die Verbraucher, die Möglichkeit zu nutzen,
den Anbieter zu wechseln. Das wird in unseren Augen
noch nicht so in Anspruch genommen, wie es sein sollte.
Vielleicht müsste in diesem Bereich ein bisschen mehr
Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden.
Unser Ziel, für mehr Wettbewerb auf dem Gasmarkt
durch mehr Anbieter zu sorgen, versuchen wir zurzeit
auch dadurch zu erreichen, dass wir die Gasnetzzugangsverordnung ändern.
Nachfrage.
Nach der Veröffentlichung unserer Gasstudie hat Minister Guttenberg in einem Spiegel-Interview Folgendes
gesagt:
Mein Haus überarbeitet derzeit die Gasnetzzugangsverordnung, um durch verbesserte Bedingungen noch mehr Anbietern Zugang zum Markt zu
verschaffen.
Das ist eine gute Sache. Der entscheidende Punkt, um
mehr Wettbewerb in den Markt zu bringen, ist, dass man
die Anzahl der Marktgebiete verringert. Momentan werden die Kosten für den Transport von Gas, zum Beispiel
von Norden nach Süden, dadurch erhöht, dass das Gas
womöglich durch verschiedene Gebiete transportiert
werden muss. Wer diese Kosten zu tragen hat, ist nicht
konkurrenzfähig. Ich wiederhole: Der entscheidende
Punkt ist, dass man die Anzahl der Marktgebiete verringert.
Sie ist schon in den letzten zwei Jahren von 19 auf 12
reduziert worden; es gibt High Gas und Low Gas. Unter
Wettbewerbsgesichtspunkten wäre es optimal, wenn wir
zwei Gebiete hätten: eines für High Gas und eines für
Low Gas. Dadurch würden wir mehr Wettbewerb in den
Markt bringen. Plant das Bundeswirtschaftsministerium
mit der angekündigten Änderung der Gasnetzzugangsverordnung, mehr Rechtssicherheit zu schaffen, damit
die Bundesnetzagentur die Anzahl der Marktgebiete verringern kann und damit die Verbraucher am Ende geringere Gaspreise bezahlen müssen?
Das Ganze ist in der Diskussion; aber wir sind noch
zu keiner abschließenden Beurteilung in diesem Bereich
gekommen.
Zweite Nachfrage, bitte.
Unsere Studie enthält einen weiteren sehr spannenden
Vorschlag der Experten für die Schaffung von mehr
Wettbewerb. Einer der entscheidenden Punkte ist, dass
diejenigen, die Gas importieren oder über die Kapazitäten von Kuppelstellen oder Ferngasleitungen verfügen,
eine Überkapazität an Gas haben, die ihre Kunden nicht
benötigen; sie bunkern dieses Gas in Speichern, verknappen das Angebot und treiben den Gaspreis damit
letzten Endes nach oben. Der Vorschlag lautet, einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Gasspeichern zu
schaffen. Wie die Bundesnetzagentur festgestellt hat, haben wir da nämlich große Defizite. Ein weiterer Vorschlag lautet: Die Gasanbieter müssen für den folgenden
Tag offenlegen, wie viel überschüssiges Gas sie haben;
der Rest wird auktioniert, damit der Wettbewerb größer
und die Konditionen für den Verbraucher besser werden.
Wie beurteilt das Bundeswirtschaftsministerium die
Vorschläge, für einen diskriminierungsfreien Zugang zu
den Gasspeichern zu sorgen und überschüssiges Gas zu
auktionieren, um für mehr Wettbewerb auf dem Markt
zu sorgen?
Sie sind auf das Gutachten eingegangen, das Sie
selbst in Auftrag gegeben haben.
({0})
- Ich äußere mich dazu nicht. - Es ist bei uns zurzeit
keine Diskussionsgrundlage.
({1})
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Die Frage 5 der
Kollegin Kotting-Uhl soll schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung der Fragen steht nach der Beantwortung der dringlichen Frage erneut der Parlamentarische Staatssekretär
Klaus Brandner zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 6 des Kollegen Volker
Schneider:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung - bitte begründen -, wonach die sogenannte Abwrackprämie nur durch Gesetzesänderung nicht als geldwerter Vorteil auf Leistungen
nach dem SGB II anrechenbar sei und dieses aufgrund der
Dauer eines solchen Gesetzgebungsverfahrens nicht vor Auslaufen der Prämie möglich sei ({0}) auch vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich vom Bundeskabinett am 8. April 2009 beschlossenen Verlängerung der Prämie bis Ende 2009?
Bitte schön, Herr Brandner.
Sehr geehrter Herr Abgeordneter Schneider, die Bundesregierung teilt die in der Bundestagsdrucksache 16/12358
zitierten Auffassungen der Koalitionsfraktionen, wonach
für die Anrechnungsfreiheit der Umweltprämie eine gesetzliche Änderung erforderlich ist.
Im Übrigen hat die Bundestagsfraktion der CDU/
CSU in der Sitzung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales vom 18. März 2009 erklärt, für eine
Gesetzesänderung brauche man allerdings länger, als die
Prämie zur Verfügung stehe. Diese Äußerung bezog sich
erkennbar auf das ursprüngliche Fördervolumen in Höhe
von 1,5 Milliarden Euro und nicht auf die vom Bundeskabinett am 8. April 2009 beschlossene Erhöhung des
Fördervolumens auf 5 Milliarden Euro.
Herr Kollege Schneider, haben Sie eine Nachfrage?
Herr Kollege Brandner, die zentrale Frage beantworten Sie erneut nicht, nämlich ob die Bundesregierung
angesichts der Tatsache, dass die Abwrackprämie verlängert worden ist, nicht von dieser Argumentation abrücken und aus meiner Sicht folgerichtig sagen müsste:
Jetzt ist genügend Zeit, diesen Missstand zu beseitigen. Ich weise übrigens am Rande darauf hin, dass die erwähnte Aussage der Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU im Ausschuss für Arbeit und Soziales exakt
am selben Tag erfolgt ist, an dem mitgeteilt wurde, dass
die Abwrackprämie verlängert wird, also zu dem Zeitpunkt, als sie gemacht wurde, erkennbar eine Ausrede
war.
Würden Sie mir bitte hier erklären, ob Sie diese Gesetzesänderung durchführen wollen oder ob das nicht beabsichtigt ist? Heute war ja in der Presse schon zu lesen,
dass Sie sich jetzt endlich an diesem Punkt erfolgreich
haben zum Jagen tragen lassen.
Ich habe hier erläutert, wie der Sachverhalt in der
Ausschusssitzung war, an der Sie teilgenommen haben.
Ob die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion von dem Ansinnen der Bundesregierung schon Kenntnis hatten, kann
ich Ihnen aus der Sicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nicht beantworten.
Ihre Frage geht ansonsten meines Erachtens von dem
fehlerhaften Verständnis aus, dass die Prämie in jedem
Fall bis Ende 2009 gezahlt wird. Dazu will ich deutlich
sagen: Das ist nicht so. Die Prämie wird nur so lange gewährt, bis das Fördervolumen ausgeschöpft ist. Sie kann
längstens bis Ende 2009 beantragt werden. Wann das
Fördervolumen ausgeschöpft sein wird, kann heute nicht
mit ausreichender Sicherheit vorhergesagt werden.
Um es deutlich zu sagen: Unterstellt, das Fördervolumen ist Ende dieses Jahres noch nicht ausgeschöpft, so
ist es bei Vorliegen der erforderlichen Mehrheiten im
Deutschen Bundestag und im Bundesrat und gegebenenfalls erforderlichen Fristverkürzungen nicht ausgeschlossen, dass eine entsprechende Gesetzesvorlage des
Deutschen Bundestages oder des Bundesrates zur Nichtanrechnung der Umweltprämie auf Leistungen nach dem
Sozialgesetzbuch II rechtzeitig vor diesem Termin beschlossen, ausgefertigt und verkündet werden kann.
Eine zweite Nachfrage.
Nichtsdestotrotz möchte ich noch einmal ganz kurz
zurück vor den Punkt der Notwendigkeit einer solchen
Gesetzesänderung und noch einmal die Frage aufwerfen,
ob es denn nun tatsächlich zwingend war, zu sagen, es
handele sich hier um einen geldwerten Vorteil. Faktisch
ist es ja so, dass derjenige, der die Abwrackprämie beantragt, diese nur im Zusammenhang mit dem Kauf eines
entsprechenden Pkw erhält. Es ist völlig unmöglich, dieses Geld zum Beispiel so einzusetzen wie den Regelsatz
für den Lebensunterhalt.
Es gab in der Vergangenheit ja schon eine Reihe von
Fragen, etwa die schriftlichen Fragen der Kollegin
Katrin Kunert oder auch Fragen im Ausschuss, auf die
Sie immer sehr ausweichend geantwortet haben, das sei
ein geldwerter Vorteil. Deshalb möchte ich an der Stelle
schon ganz genau wissen, wie dieser geldwerte Vorteil
gegebenenfalls zu realisieren wäre.
Es würde mich auch interessieren, ob sich die Einschätzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales unter dem Eindruck der Aussage des Präsidenten des
Bundessozialgerichts geändert hat, der nun eindeutig gesagt hat:
Die Abwrackprämie ist aus meiner Sicht als zweckbestimmte Einnahme zu werten, die laut Sozialgesetzbuch nicht als Einkommen zu berücksichtigen
ist.
Die Bundesregierung geht nach wie vor davon aus,
dass für eine Anrechnungsfreiheit eine gesetzliche Regelung notwendig ist. Die Bundesregierung geht davon
aus, dass die Umweltprämie, wenn sie gewährt wird,
Einkommen bedeutet.
Zu der Aussage des Präsidenten des Bundessozialgerichts, die der Bundesregierung bekannt ist, möchte ich
feststellen, dass er diese als Privatperson gemacht hat. Er
hat als Privatperson erklärt, die Umweltprämie sei seines
Erachtens nicht als Einkommen bei der Berechnung von
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach
dem Sozialgesetzbuch II zu berücksichtigen. Damit
weicht diese Rechtsauffassung von der des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ab. Unterschiedliche Rechtsansichten - das wissen Sie, Herr Schneider sind insbesondere unter Juristen nichts Außergewöhnliches.
Die öffentliche Äußerung von Herrn Masuch hat das
BMAS jedoch zum Anlass genommen, nachzufragen.
Auf diese Nachfrage teilte der Präsident des Bundessozialgerichts am 2. April 2009 mit, dass das Bundessozialgericht durch seine Urteile und Beschlüsse spreche, dass es bislang keine Entscheidung zur Anrechnung
der Umweltprämie getroffen habe und dass derzeit kein
Revisionsverfahren anhängig sei.
Vielen Dank. - Eine Zusatzfrage der Kollegin
Enkelmann. Bitte schön.
Eine ähnliche Fehlentscheidung hat die Bundesregierung schon einmal getroffen, als es nämlich um die
Eigenheimzulage ging. Auch da musste erst ein Gericht
nach einer Klage entscheiden: Es ist eine zweckbestimmte Zuwendung und insofern nicht anzurechnen. Hat das bei den Überlegungen der Bundesregierung eine
Rolle gespielt, um rechtzeitig eine richtige Entscheidung
treffen zu können?
Die Bundesregierung hat die aufgeworfenen Fragen
geprüft und ist zu dem Ihnen bekannten Urteil gekommen. Deshalb gibt es daran momentan nichts zu verändern. Wenn das Parlament eine entsprechende Klarstellung will, liegt es in den Händen des Parlaments, diese
letztlich zu erwirken.
({0})
Vielen Dank.
Die Fragen 7 und 8 der Kollegin Kunert sollen
schriftlich beantwortet werden.
Alle Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden;
das sind die Frage 9 des Kollegen Spieth, die Fragen 10
und 11 der Kollegin Dr. Tackmann, die Frage 12 der
Kollegin Höfken und die Frage 13 der Kollegin Höhn.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Jan Mücke auf:
Ist die öffentliche Aussage der Sprecherin des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
BMVBS: „Es gibt vom Bund aus unserem Ministerium ein
Angebot an Sachsen, sich zur Erhaltung des Welterbes an der
Finanzierung einer Untertunnelung zu beteiligen“ vom 5. Juli
2008 - vergleiche dpa-Meldung vom 5. Juli 2008; diese Aussage bezieht sich auf die Diskussion um den Bau der Waldschlößchenbrücke in Dresden - mit Wissen und Wollen des
zuständigen Bundesministers Wolfgang Tiefensee getroffen
worden, und, falls ja, hält das BMVBS diesen Vorschlag vor
dem Hintergrund des Urteils des Verwaltungsgerichts Dresden vom 30. Oktober 2008 ({0}) aufrecht?
Verehrter Kollege Mücke, die Aussage der Sprecherin
des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vom 5. Juli 2008 bezog sich auf das Angebot
des Bundesministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, sich an den Mehrkosten einer welterbeverträglichen Lösung - sei dies eine Brücken- oder eine Tunnellösung - zu beteiligen.
Im Übrigen verweise ich auf meine Antwort auf Ihre
mündliche Frage 43 in der Fragestunde vom 25. März
2009. Es hat sich also nichts geändert.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege Mücke? Bitte schön.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin, jetzt bin ich etwas verwirrt. Auf meine Frage in der letzten Fragestunde, ob denn Herr Bundesminister Tiefensee seinen
Kompromissvorschlag zum Bau eines Tunnels im Lichte
des Urteils des Verwaltungsgerichts Dresden aufrechterhält - das Gericht hat in seinem Urteil ausgeführt, dass
ein Tunnel rechtlich nicht zulässig ist, dass nur für eine
Brücke ein Baurecht erteilt wird und damit auch nur für
eine Brücke ein Planfeststellungsbeschluss rechtlich zulässig ist -, haben Sie mir geantwortet, er habe einen solchen Vorschlag nie gemacht. Sie haben mir außerdem
geantwortet, dass er sich nur für eine welterbeverträgliche Lösung einsetzt, aber keinesfalls für einen Tunnel.
Jetzt habe ich hier diese dpa-Meldung vom 5. Juli
2008, in der die Sprecherin des Ministeriums wie folgt
zitiert wird:
Es gibt vom Bund aus unserem Ministerium ein
Angebot an Sachsen, sich zur Erhaltung des Welterbes an der Finanzierung einer Untertunnelung zu
beteiligen.
Daraus schließe ich, dass der Minister - oder das Ministerium - doch einen Tunnel möchte.
Nach dem Gerichtsurteil, das Sie kennen - ich habe
Sie das letzte Mal danach gefragt, ob Sie es kennen -, ist
für mich die Frage, ob denn das Ministerium daran festhält, dass in Dresden ein Tunnel gebaut werden kann.
Herr Kollege Mücke, es ist ganz einfach. Ich habe Ihnen deutlich gemacht: Wir haben eine welterbeverträgliche Lösung unabhängig von der Frage des Wie angeregt.
Da ist eine Brücke genauso möglich wie ein Tunnel.
2008, vor ungefähr einem Jahr, ist die dpa-Meldung herausgegangen. Wir haben uns aber nicht festgelegt, weil
die Klärung der Frage, in welcher Weise die Querung der
Elbe erfolgt, eine Sache des Freistaates Sachsen und der
Stadt Dresden ist.
Zweite Nachfrage, bitte.
Ich verstehe Sie richtig, dass auch Sie den Tunnel
nach dem Urteil des Verwaltungsgerichtes nicht mehr für
möglich halten und dass nur noch die Alternativlösung
Nichtbau oder Bau einer irgendwie gearteten Brücke infrage kommt?
Das ist die Entscheidung des Freistaates Sachsen und
der Stadt Dresden.
Vielen Dank.
Ich rufe die Frage 15 der Kollegin Behm auf:
Wie ist der genaue Zeitplan für die Unterzeichnung des
deutsch-polnischen Staatsvertrages zur HohensaatenFriedrichsthaler Wasserstraße, HoFriWa, und zur Oder sowie
die daran anschließenden Planungsschritte bis zum Ausbau?
Bitte schön, Frau Roth.
Herr Präsident! Liebe Kollegin Behm! Ein erster Entwurf des Vertragstextes wurde den zuständigen Ressorts
zur Beteiligung übermittelt. Das Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung geht davon aus, dass
die Ressortabstimmung in der ersten Jahreshälfte 2009
abgeschlossen werden kann. Dieser Entwurf wird dann
vereinbarungsgemäß über das Auswärtige Amt zur weiteren Abstimmung an Polen weitergeleitet. Zur Dauer
des gesamten Verfahrens können zurzeit keine konkreten
Angaben gemacht werden.
Die Planungen für den Ausbau der HohensaatenFriedrichsthaler Wasserstraße sollen parallel wieder aufgenommen werden. Mit der Erlangung der Baureife
kann aber erst in fünf Jahren gerechnet werden. Es muss
zunächst einen Staatsvertrag geben; dann erst kann das
Projekt begonnen werden.
Nachfrage, Frau Behm?
Vielen Dank für die Beantwortung meiner Frage. Es
wirkt auf den Außenstehenden so, als würde ein Vertrag
geschlossen, der im Grunde genommen nur eine einzige
Ausbauvariante vorsieht. Ich würde von Ihnen gerne
wissen, welche Auswirkungen ein nationalstaatlicher
Vertrag zwischen Deutschland und Polen mit der Festlegung auf eine einzige Ausbauvariante auf das darauf folgende Planfeststellungsverfahren hätte.
Anhand des Entwurfs des Vertrages zwischen Polen
und Deutschland wird erst einmal geprüft, inwieweit und
ob überhaupt das Vorgehen vonseiten Polens akzeptiert
wird. Dann wird ein normales Planfeststellungsverfahren mit den Auflagen, die daraus resultieren, erfolgen.
Aber zunächst geht es um die Abstimmung zwischen
Polen und Deutschland, auch bezüglich der Übernahme
der Kosten. Insofern ist der Staatsvertrag, der dann auch
hier im Parlament zur Abstimmung stehen wird, die Voraussetzung für die Durchführung dieser Maßnahme gemeinsam mit Polen. In welcher Weise das geschieht,
wird dann im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens
weiter geklärt werden.
Zweite Nachfrage, bitte.
Es wirkt allerdings so, als würde bei der Festlegung
auf eine einzige Ausbauvariante das Planfeststellungsverfahren quasi vorweggenommen.
Ich würde gerne noch wissen, welche Maßnahmen
nach Meinung der Bundesregierung notwendig sind, um
den Einsatz der tiefgängigen polnischen Eisbrecher sicherzustellen, um die es bei diesen Verhandlungen ebenfalls geht, und welche alternativen Maßnahmen geprüft
worden sind, um nicht einen weiteren Ausbau der Oder
in Kauf nehmen zu müssen.
Kollegin Behm, zunächst einmal ist festzustellen,
dass wir keinen Ausbau planen. Das ist sehr wichtig. Vor
allen Dingen wollen wir im Zusammenhang mit diesen
Maßnahmen den Hochwasserschutz verbessern, weil wir
wissen, dass gerade durch das Eis das Problem des
Hochwassers beständig zunimmt. Das heißt, es geht hier
auch um Prävention, um Hochwasserschutz für die dortigen Gebiete. Wir haben geprüft, in welcher Weise wir
diese Maßnahmen durchführen können. Es geht hier also
nicht um einen Ausbau, sondern um eine Maßnahme, die
dazu führt, dass die Eisbrecher fahren können, um das
Eis wegzuschaffen und damit den Hochwasserschutz zu
gewährleisten. Es gab in diesem Gebiet schon einmal die
Situation, in der das nicht mehr möglich war, wodurch
Hochwasser entstanden ist.
Vielen Dank.
Wir kommen zur Frage 16 der Kollegin Behm:
Wie ist es zu verstehen, dass für die Ortsumgehungen
Berge und Lietzow bei Nauen, die in der Anlage der aktuellen
Fassung des Fernstraßenausbaugesetzes des Bundes vom
9. Dezember 2006 als Vordringlicher Bedarf vermerkt sind,
obwohl sie nicht Bestandteil des Bundesverkehrswegeplans
vom 2. Juli 2003 ist, bisher keine Maßnahmen zur Umsetzung
ergriffen wurden, wohingegen aber derzeit die Ertüchtigung
der Ortsdurchfahrten Berge und Lietzow in Angriff genommen wird?
Da gibt es einen Wechsel: Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick zur
Das war geplant. Aber Ulrich Kasparick wird in der
Anhörung zur Flugsicherung festgehalten, sodass ich die
Beantwortung dieser Frage übernommen habe, Herr Präsident.
Frau Behm, die 2004 erstmals in den Bedarfsplan für
die Bundesfernstraßen aufgenommenen Ortsumgehungen Berge und Lietzow im Zuge der Bundesstraße B 5
stehen in Konkurrenz zu vielen anderen vordringlich
eingestuften Projekten in Brandenburg, vor allem auch
zu den im Bau befindlichen Maßnahmen. In Abstimmung mit der Straßenbauverwaltung des Landes Brandenburg werden die Planungen für die Ortsumgehungen
Berge und Lietzow nicht zulasten anderer Projekte des
Vordringlichen Bedarfs des Bedarfsplanes für die Bundesfernstraßen forciert. Von der zuständigen Straßenbauverwaltung des Landes Brandenburg werden in den
Ortsdurchfahrten Berge und Lietzow im Zuge der B 5
nur solche Erhaltungsmaßnahmen zulasten des Bundes
durchgeführt, die aufgrund des Zustandes der Ortsdurchfahrten trotz der vorgesehenen Ortsumgehungen zwingend erforderlich sind.
Eine Nachfrage, Frau Behm?
Ja. - Ich würde gerne wissen, welche Erkenntnisse
der Bundesregierung über Mautumfahrungsverkehr auf
der B 5 zwischen den Anschlussstellen der A 10 bei
Nauen und den Anschlussstellen der A 24 zwischen
Hamburg und Berlin vorliegen und welche Maßnahmen
dagegen erwogen werden?
Da diese Frage nicht unmittelbar in Zusammenhang
mit der zuvor gestellten Frage steht, haben Sie bitte Verständnis dafür, Frau Kollegin, dass ich zunächst einmal
allgemein auf Umgehungsverkehre eingehe.
Wir haben mit den Ländern vereinbart, dass nach Einführung der Maut an vielen Zählstellen geprüft wird, wie
sich die Verkehre entwickeln, und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden, ob es zu Mautumgehungsverkehren kommt. Die Länder hatten dann, wenn sie zu der
Erkenntnis kamen, dass auf einer dieser Strecken die
Mautumfahrung eine sehr große Rolle spielt, die Möglichkeit, diese Strecken nachträglich zur Maut anzumelden. Das heißt, es gibt ein Verfahren - es muss mit Brüssel abgestimmt werden -, dass man auch für bestimmte
Teilstücke von Bundesstraßen eine Maut einführen kann,
um Mautumfahrungen unmöglich zu machen, weil dies
für denjenigen, der diese Strecken befährt, finanziell auf
das gleiche Ergebnis hinausläuft.
Brandenburg hat bisher keine Bundesstraße und auch
kein Teilstück einer Bundesstraße zu diesem Zwecke angemeldet, woraus ich zunächst einmal schließen muss,
dass der Anteil der Mautumfahrungen am Gesamtverkehr eine Prozentzahl ausmacht, wie wir ihn von einigen
anderen Straßen kennen: Das ist teilweise ein Anteil von
3 bis 5 Prozent, sodass diese Maßnahme nicht in Erwägung gezogen wurde. Ich füge allerdings hinzu: Ich
würde gern die Situation im Hinblick auf das Teilstück,
nach dem Sie gefragt haben, in unserem Hause prüfen,
um Ihnen eine präzisere Antwort geben zu können. Ich
konnte Ihnen jetzt nur das allgemeine Prozedere schildern.
Zweite Nachfrage?
Ja. - Ich habe die Nachfrage ganz bewusst deshalb
gestellt, weil ich einen Zusammenhang sehe. Nach einer
Pressemeldung des Brandenburgischen Infrastrukturministeriums vom 17. April 2007 - zugegeben, das ist nicht
gerade die aktuellste Meldung - heißt es: Nach den letzten Verkehrszählungen passieren täglich 25 000 Autos
diese genannten Ortsdurchfahrten. - Da ist es schon irritierend, dass ein Ausbau der Ortsdurchfahrten vorgenommen wird, obwohl Planungen im Hinblick auf den
Bau von Ortsumgehungen vorliegen. Können Sie mir sagen, wieso und mit welchen Geldern diese Ortsdurchfahrten ausgebaut oder ertüchtigt werden sollen?
Ich will dies in zwei Teilen beantworten. In Art. 85
und Art. 90 des Grundgesetzes ist im Zusammenhang
mit dem föderalen Aufbau unseres Bundesstaates vorgesehen, dass für die Planung von Ortsumgehungen, für
die Begleitung des Ausbaus, für den Erhalt und den Betrieb von Bundesstraßen und Bundesautobahnen die
Länder zuständig sind, sodass es in der alleinigen Entscheidung des Landes Brandenburg liegt, zu welchem
Zeitpunkt es Planungen für den Bau einer Ortsumgehung
aufnimmt.
Sie haben selber in Ihrer Frage angedeutet, dass die
Ortsumgehungen, über die wir hier sprechen - Berge
und Lietzow -, vom Parlament in den Vordringlichen
Bedarf aufgenommen worden sind.
Das heißt, erst seit 2004 gibt es einen gesetzlichen
Planungsauftrag für diese Straßen, während für viele andere Straßen in Brandenburg dieser gesetzliche Planungsauftrag schon seit längerer Zeit besteht. Es gibt
also bisher nur Vorplanungen; daher haben wir diese
Maßnahme nicht in den Investitionsrahmenplan bis 2010
aufgenommen. Das muss man wissen, um zu verstehen,
in welcher Taktzahl sozusagen Brandenburg seine Straßen plant.
Wenn Sie das Gefühl haben, dass die Verkehrsbelastungen eine schnellere Planung notwendig machen,
würde ich Ihnen raten, mit der Auftragsverwaltung oder
mit dem Landesverkehrsministerium entsprechende Gespräche aufzunehmen. Aus den Gesprächen auf der
Fachebene und aus den Baubesprechungen ist uns das
nicht bekannt; dies ist uns auch nicht von Brandenburg
genannt worden.
Die Instandhaltung von Bundesstraßen und Ersatzmaßnahmen werden mit Bundesmitteln finanziert. Dafür
geben wir den Ländern einen pauschalen Betrag, den sie
nach eigenem Ermessen einsetzen können. Das heißt, bei
kleineren Reparaturmaßnahmen müssen sie nicht die
Genehmigung des Bundes einholen, sondern es gibt einen Topf, den die Länder selbst verwalten.
Selbst wenn die Ortsumgehung morgen eingeweiht
werden würde - ich übertreibe jetzt mal ein bisschen -,
würde man so vorgehen. Wir als Bund legen großen
Wert darauf, dass die Straße, wenn wir sie in eine andere
Baulast übergeben - es könnte eine Landesstraße oder
eine kommunale Straße werden -, in einem ordnungsgemäßen Zustand ist. Sie fällt ja nicht ersatzlos weg; das ist
eine Straße, die durch die Orte führt.
({0})
- Ja.
({1})
Die Fragen 17 und 18 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter sowie die Frage 19 des Kollegen Dr. Ilja
Seifert sollen schriftlich beantwortet werden. Vielen
Dank, Herr Staatssekretär Großmann.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Michael Müller zur Verfügung. Die Fragen 20 und 21 des Kollegen Jörg Tauss sowie die Fragen
22 und 23 des Kollegen Hans-Josef Fell sollen ebenfalls
schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe Frage 24 der Kollegin Brigitte Pothmer auf:
Auf Grundlage welcher Genehmigungen sind Giftstoffe
wie beispielsweise Arsen, Blei und Quecksilber oder auch
Tierkadaver im Atommülllager Asse II eingelagert worden,
und welche Herkunft haben die eingelagerten Giftstoffe und
Kadaver jeweils?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Liebe Kollegin, Sie greifen die Presseberichterstattungen auf. Ich will erst einmal allgemein sagen, dass
sich das Wissen über die in die Schachtanlage Asse II
eingelagerten chemotoxischen Abfällen, insbesondere
Arsen, Quecksilber und Blei, aus zwei Inventarberichten
ergibt. Diese Inventarberichte liegen dem BfS vor. Sie
werden vor allem auch im Zusammenhang mit dem jetzt
notwendig gewordenen atomrechtlichen Planfeststellungsverfahren benötigt. Sie sind allerdings schon seit
dem Jahre 2007 bekannt.
Bei dem Abfallinventar in der Schachtanlage Asse II
handelt es sich den Berichten zufolge um 496 Kilogramm
Arsen, 1,1 Kilogramm Quecksilber bzw. Quecksilberverbindungen, 14 771 Kilogramm Blei und 1 049 Kilogramm Zyanide. Derartige chemotoxische Stoffe sind in
der Regel Bestandteil von radioaktiven Abfällen. Bei
den eingelagerten Arsenverbindungen handelt es sich
auch um arsenhaltige Pflanzenschutzmittel. Zudem liegen Begleitscheine vor, die eine Einlagerung von Tierkadavern belegen. Nach Auskunft des Helmholtz-Zentrums handelt es sich hierbei um Versuchstiere, vor
allem aus dem Forschungszentrum Jülich, denen radioaktive Substanzen zugeführt wurden.
Sie fragen vor allem nach den Genehmigungen. Für
die Einlagerungen schwachradioaktiver Abfälle, also für
die von mir genannten Stoffe und Mengen, lagen vier Anträge der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung, also der GSF, bzw. vier Einlagerungsgenehmigungen des Bergamtes vor. In dem Zeitraum, in dem diese
Genehmigungen erteilt wurden, erfolgte die Einlagerung
dieser arsenhaltigen Abfälle in der Kammer 4/750. Es
handelt sich um einen Antrag aus dem Jahr 1966, zwei
Anträge aus dem Jahr 1967 und einen Antrag aus dem
Jahr 1970. Durch die Genehmigungen wurde die Einlagerung radioaktiver Rückstände bewilligt. Es wurden Vorgaben hinsichtlich der Aktivität, der Dosisleistung und
der Art der Abfälle, also ob sie beispielsweise fest sind,
verpackt oder einbetoniert werden müssen, und hinsichtlich der Fassanzahl der einzulagernden Menge gemacht.
Einschränkungen im Hinblick auf chemotoxische Stoffe
sind weder den Anträgen der GSF noch den Genehmigungen des Bergamtes zu entnehmen.
In den 60er-Jahren wurden Pflanzenschutzmittel zu
Untersuchungszwecken mit radioaktiven Markern versetzt, um deren Verteilung in Pflanzen zu erforschen. Ob
es sich bei den in Asse befindlichen Arsenverbindungen
um derartige Pflanzenschutzmittel handelt, ist den uns
vorliegenden Akten leider nicht zu entnehmen.
Zum chemischen und chemotoxischen Abfallinventar
liegen nach jetzigem Auswertungsstand zwei Berichte
vor, die im Rahmen der Stilllegungsplanung zum Nachweis der Einhaltung der Schutzziele des Wasserhaushaltsgesetzes erstellt wurden. Diese Berichte wurden von
der GSF erstellt. Über die Herkunft der radioaktiven Abfälle werden in den vorliegenden Unterlagen allerdings
nur allgemeine Angaben gemacht. Als Ablieferer werden
Kernkraftwerke, Landessammelstellen, Forschungseinrichtungen wie das KfK, aber auch die Industrie und
sonstige Ablieferer, beispielsweise die Bundeswehr, genannt.
Die Herkunft der arsenhaltigen Abfälle konnte aus
den Angaben in den Berichten sowie für drei Fässer anhand einer vorliegenden Kopie der Fasskontrolle ermittelt werden. Danach sind diese drei Fässer mit Arsenverbindungen von der Landwirtschaftlichen Genossenschaft
Schöppenstedt angeliefert und 1968 in der Kammer eingelagert worden. Außerdem existiert ein Beleg über ein
weiteres Fass, in dem arsenhaltige Pflanzenschutzmittel
einzementiert sind, die von der Landwirtschaftlichen
Genossenschaft Rosenheim 1967 angeliefert wurden.
Dem Schriftwechsel zufolge, der dem BMU vorliegt,
wurde die zuständige Bergbehörde zumindest über die
Einlagerung dieses Fasses frühzeitig und genau informiert.
Zu den Tierkadavern: Begleitschreiben aus dem
Jahre 1967 entnehmen wir, dass es sich hierbei um Tiere
aus dem Forschungszentrum Jülich handelt, denen zu
Forschungszwecken bewusst radioaktive Stoffe verabreicht worden sind.
Ihre Nachfrage bitte, Frau Pothmer.
Herr Staatssekretär, ich beziehe mich auf einen Presseartikel aus der Braunschweiger Zeitung vom 17. April
2009. Daraus geht hervor, dass in der Asse auch radioaktive Abfälle der Bundeswehr eingelagert worden sind.
Verwiesen wird dabei auf die Aufstellung des früheren
Betreibers vom März 2004. Unklar ist allerdings, welcher Art diese militärischen Abfälle sind. Aus der Aufstellung geht nicht hervor, ob es sich dabei um radioaktive Leuchtmunition oder Reste alliierter Atomwaffen
handelt. Ich frage Sie: Welche Kenntnis hat die Bundesregierung von Anordnungen oder Genehmigungen, auf
deren Basis militärische Abfälle in der Asse eingelagert
worden sind, und was weiß sie über die Herkunft der militärischen Abfälle?
Ich habe die Bundeswehr bereits erwähnt. Ich will nur
darauf hinweisen, dass wir im Augenblick eine Neubewertung des eingelagerten Abfallinventars durchführen.
Diese Untersuchung wird vom BfS, also vom Bundesamt für Strahlenschutz vorgenommen. Abschließende
Aussagen, insbesondere zum chemotoxischen Inventar,
können wir derzeit nicht machen. Wir werden das aber
so schnell wie möglich nachholen.
Zweite Nachfrage, bitte.
Können Sie uns denn etwas über die rechtliche
Grundlage oder das Genehmigungsverfahren sagen?
Gab es eine Anordnung der Bundesregierung, militärische Abfälle der Bundeswehr in der Asse einzulagern?
Auch zu dieser Nachfrage werde ich Ihnen nachträglich Auskunft geben. Ich kann Ihnen jetzt nur einen
Sachstandsbericht geben, der auf dem beruht, was wir in
den Akten haben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Die Frage 25 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl
und die Frage 26 der Abgeordneten Gudrun Kopp sollen
schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 27 der Kollegin Gitta Connemann
auf:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wie beurteilt die Bundesregierung, ob die europäische
Richtlinie zur Begrenzung von Schadstoffemissionen von
Großfeuerungsanlagen in die Luft mit ihren Emissionsgrenzwerten nur für sogenannte Normalluftbereiche definiert ist
und ob diese Grenzwerte auch den besonderen Erfordernissen
von Reinluftgebieten wie der Insel Borkum, auf die sich Menschen zur Gesundung und Rehabilitation zurückziehen, gerecht werden oder nicht niedrigere Grenzwerte bei solchen
Heilbädern und Luftkurorten zugrunde gelegt werden müssten?
Wenn ich das richtig sehe, geht es um das geplante
Kohlekraftwerk in den Niederlanden und die Auswirkungen auf die Insel Borkum. Unsere Antwort ist: In der
Richtlinie über die Emissionen von Großfeuerungsanlagen werden unabhängig von besonderen lokalen Schutzanforderungen in erster Linie Mindestanforderungen zur
Begrenzung der Emissionen festgelegt. Das ist konform
mit der Richtlinie 96/61/EG der Europäischen Gemeinschaft über die sogenannte integrierte Vermeidung und
Verminderung der Umweltverschmutzung geregelt. Das
ist die IVU-Richtlinie, die seit dem Jahr 1996 gilt.
Zusätzlich gelten seit dem Jahre 2008 neue Anforderungen hinsichtlich der Luftqualität durch die Richtlinie
2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft. Beide
Richtlinien sind auf jeden Fall einzuhalten. Es gilt also
nicht nur eine der beiden Richtlinien, sondern beide
Richtlinien müssen beachtet werden. Bei der zweiten
Richtlinie geht es insbesondere darum, dass Genehmigungen von Anlagen schärfere Anforderungen als die
der sogenannten besten verfügbaren Technik enthalten
können, sofern dies die lokale Luftqualität erfordert. Das
ist natürlich immer eine Frage der individuellen Verhältnisse. Aber es gibt einen Ansatzpunkt, hier erforderlichenfalls Anforderungen zu verschärfen.
Ansonsten gibt es die Pflicht zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Darauf haben wir in den Antworten im März schon hingewiesen. Ich will noch hinzufügen, dass für die staatliche Anerkennung und Bewertung
von Heilbädern vor allem die Kurgesetze - das hat auch
die Kollegin Caspers-Merk schon ausgeführt - entscheidend sind.
Eine Nachfrage, Frau Connemann?
Ja. Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Sie haben darauf hingewiesen, dass nach den zitierten Richtlinien
Verschärfungen durchaus möglich sind, wenn die Umstände es erfordern. Ich hatte in meiner Frage sehr konkret angesprochen, dass ein Nordseeheilbad, in das Menschen zur Gesundung und Rehabilitation kommen,
unabhängig davon, nach welchem Gesetz es zugelassen
ist, gegebenenfalls anders als ein Kurort im Binnenland
zu beurteilen ist. Dies gilt vor allem in Bezug auf die besonderen Luftverhältnisse, die für Therapiezwecke vorausgesetzt werden. Habe ich Ihre Antwort richtig verstanden, dass dies aus Ihrer Sicht keinen Grund für eine
Verschärfung der Grenzwerte darstellt?
Die Schlüsselfrage ist, wie das Kohlekraftwerk ausgelegt ist. Da gilt - das darf ich noch sagen - die Richtlinie
2001/80/EG; es stellt sich im Speziellen die Frage, wie
die Schadstoffemissionen begrenzt werden. Natürlich
muss man die Bewertung im Fall von Borkum daran
festmachen, wie hoch die Emissionen des Kraftwerks
sein werden. Aber die Pflicht zur internationalen Zusammenarbeit beinhaltet auch, eine Anlage möglichst optimal im Hinblick auf die Luftqualität auszulegen. Wir
müssen vor allem dafür sorgen, dass die Auflagen an
dieses geplante Kohlekraftwerk zur Reduzierung von
Staubemissionen möglichst hoch sein werden.
Zweite Nachfrage, bitte.
Sie haben gerade gesagt, Herr Staatssekretär: Wir
müssen dafür sorgen. - Wie sorgt die Bundesregierung
dafür? Wird auch berücksichtigt, dass zum Beispiel nach
Eemshaven die Kohle mit Frachtern transportiert werden
wird, deren Emissionen nicht der EU-Kontrolle unterliegen, etwa hinsichtlich Katalysatoren oder der Verbrennung von schwerem Heizöl?
In Bezug auf die Schifffahrt sind wir dabei, neue Regelungen zu finden. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass der Anteil der Emissionen aus der Schifffahrt - das wissen nur wenige - sehr hoch ist. Es wird
sich dabei um Regelungen handeln, die in der Zukunft
sowohl für den Flugverkehr als auch für die Schifffahrt
gelten sollen. Ich sage noch einmal: Die Luftqualitätsrichtlinie der Europäischen Union erfordert eine grenzüberschreitende vertrauensvolle Zusammenarbeit. Das
muss die Bundesregierung natürlich beachten.
({0})
Vielen Dank. - Die Fragen 28 und 29 der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch sowie die Frage 30 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert - es handelt sich um Fragen aus dem
Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes - sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Zur Beantwortung steht der Staatsminister
Dr. Gernot Erler zur Verfügung.
Die Frage 31 des Abgeordneten Omid Nouripour soll
wiederum schriftlich beantwortet werden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen nun zur Frage 32 des Kollegen Hellmut
Königshaus:
Welchen genauen Wortlaut hat der bisher unveröffentlichte Teil der in Brüssel getroffenen Vereinbarung des
NATO-Rates vom 4. Oktober 2001, über die der EuroparatSonderermittler Dick Marty in öffentlicher Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses am 26. März 2009 berichtet hat
- Duldung von Operationen von US-Dienststellen zur Terrorbekämpfung auf europäischem Boden, Schutz und die
Straffreiheit der an solchen Maßnahmen beteiligten US-Bediensteten sowie die restriktive Handhabung der Informationen der jeweiligen Regierungen über durchgeführte Aktionen,
„need to know“ -, und haben der damalige Bundeskanzler, andere Mitglieder der Bundesregierung oder Staatssekretäre
- bitte namentlich auflisten - daran mitgewirkt bzw. davon
Kenntnis erhalten?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Königshaus, meine Antwort lautet wie folgt: Der NATOGeneralsekretär, Jaap de Hoop Scheffer, hat in seinem
Schreiben an den Vorsitzenden des 1. Untersuchungsausschusses, MdB Siegfried Kauder, vom 12. September
2007 ausgeführt, dass die Entscheidung des NATO-Rates vom 4. Oktober 2001 in der dem Schreiben beigefügten Presseerklärung des damaligen NATO-Generalsekretärs Lord Robertson vom 4. Oktober 2001 zutreffend
wiedergegeben wurde. Im Übrigen unterliegt die Entscheidung des NATO-Rates vom 4. Oktober 2001 der
Geheimhaltung. Die Bundesregierung kann daher zu
Einzelheiten der Entscheidung keine über das Schreiben
des NATO-Generalsekretärs hinausgehenden Angaben
machen.
Die Bundesregierung legt jedoch Wert auf die Feststellung, dass die in der Frage aufgeführten angeblichen
Maßnahmen allesamt nicht Gegenstand einer Entscheidung des NATO-Rates waren. Die Presseerklärung des
NATO-Generalsekretärs vom 4. Oktober 2001 gibt die
Entscheidung des NATO-Rates zutreffend und inhaltlich
vollständig wieder. Somit konnte es auch keine Mitwirkung bzw. Kenntnisnahme von Mitgliedern früherer
Bundesregierungen an bzw. von diesen angeblichen
Maßnahmen geben.
Ihre erste Nachfrage, bitte, Kollege Königshaus.
Herr Staatsminister, worauf führen Sie dann die Berichte zurück, die dem Ermittler Dick Marty von allerdings nicht näher bezeichneten Quellen gegeben wurden, dass es sehr wohl einen geheim gehaltenen
Zusatzteil dieser Abmachung gegeben habe? Worauf
führen Sie dann insbesondere die sehr restriktive Handhabung der Bekanntgabe des offiziellen Beschlusses,
den Sie gerade bestätigt haben, zurück?
Das waren zwei Fragen. Zu Ihrer ersten Frage kann
ich Ihnen nur sagen: Es ist für uns völlig unerfindlich,
wie der Sonderermittler Dick Marty zu seinen Erkenntnissen gekommen ist; leider hat er nicht kundgetan, auf
was er sich dabei bezieht. Ich kann Ihnen nur noch einmal versichern, dass es im NATO-Rat im Oktober 2001
keine zusätzlichen Verabredungen gegeben hat, die über
das hinausgehen, was auch in der Presseerklärung von
Lord Robertson - dabei geht es um acht verschiedene
Punkte - steht.
Was die Geheimhaltung angeht, so ist dies das bei solchen Beschlüssen übliche Verfahren. Hier handelte es
sich allerdings um eine Premiere, denn zum ersten Mal
ist der Beistandsfall ausgesprochen worden; insofern
war das ein besonderer Fall. In der Pressemitteilung werden, wie gesagt, auch die Details der Beschlusslage sehr
weit gehend wiedergegeben.
Zweite Nachfrage. - Bitte.
({0})
Herr Staatsminister, das, was in der Pressemitteilung
steht, ist zwar sehr weit gehend, gibt aber nur einen sehr
groben Rahmen wieder. Dort steht beispielsweise:
„… provide access for the United States and other Allies
to ports and airfields on the territory …“. Uns geht es um
die Renditions - das ist der Punkt, über den wir uns unterhalten - und darum, was das konkret bedeutet.
Da Sie gesagt haben, das sei die vollständige Vereinbarung, frage ich Sie: Hat es denn nie jemand für nötig
befunden, einmal bei den Amerikanern nachzufragen,
wie sie diese Vereinbarung verstehen und umsetzen, ob
sie deutsche Flughäfen wie in Ramstein beispielsweise
nutzen, um Renditions durchzuführen und Gefangene
unter unwürdigen Umständen umzuladen?
Herr Kollege Königshaus, bei dieser Thematik müssen Sie bedenken, dass wir über den 4. Oktober 2001
sprechen - wir befinden uns also nur wenige Wochen
nach den Ereignissen des 11. September 2001 - und dass
Voraussagen über die konkrete Nutzung der NATO-Angebote zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich waren.
Ich wiederhole: In der Presseerklärung, die Sie kennen
und die offen zugänglich ist, werden diese acht Punkte
nicht nur zutreffend, sondern auch inhaltlich vollständig
wiedergegeben. Genauere Ausführungen sind auch in
dem Originalbeschluss nicht enthalten.
Dann kommen wir zur Frage 33 des Kollegen
Königshaus:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Weshalb behauptet die Bundesregierung in ihrer am
8. April 2009 gezeichneten Antwort auf meine schriftliche
Frage 11 vom 1. April 2009 auf Bundestagsdrucksache
16/12601, ihr sei „weder eine NATO-Tagung Anfang Oktober
2001 in Athen noch eine anlässlich einer solchen Tagung getroffene Vereinbarung bekannt“, obgleich ausweislich einer
Erklärung des NATO-Hauptquartiers vom 4. Oktober 2001
der NATO-Rat an jenem Tag in Brüssel - nicht, wie Dick
Marty irrtümlich sagte, in Athen - tagte, dort Entscheidungen
zu genau jenen Themen getroffen wurden und es über deren
Grundzüge sogar eine Presseerklärung des Generalsekretärs
Lord George Robertson gibt, und sind das beharrliche
Schweigen des damaligen Bundesministers des Innern, Otto
Schily, über seine Kenntnisse von der Entführung und Verbringung des deutschen Staatsangehörigen Khaled el-Masri
nach Afghanistan ebenso wie das offenkundige Nichtwissen
des Auswärtigen Amts auf den Grundsatzteil „need to know“
dieser Vereinbarung zurückzuführen?
Herr Kollege Königshaus, die Bundesregierung weist
die Unterstellung zurück, Ihre schriftliche Frage Nr. 11
vom 1. April 2009 auf Bundestagsdrucksache 16/12601
unzutreffend beantwortet zu haben. Ihre Frage vom
1. April 2009 war explizit auf eine Vereinbarung bei einer NATO-Tagung in Athen Anfang Oktober 2001 gerichtet. Von einer solchen Tagung hatte und hat die Bundesregierung keine Kenntnis, was in der schriftlichen
Beantwortung der Frage vom 8. April 2009 zutreffend
zum Ausdruck gebracht wurde.
Ein Zusammenhang zwischen den NATO-Entscheidungen vom 4. Oktober 2001 und den in der Fragestellung unterstellten angeblichen Vorgängen, über die wir
eben gesprochen haben, und daraus abgeleiteten Einschätzungen besteht unter keinen ersichtlichen Umständen.
Nachfrage?
Herr Präsident, ich würde doch bitten, dass, bevor ich
meine Nachfragen verbrauchen muss, der Herr Staatsminister auch den zweiten Teil meiner Frage beantwortet, nämlich die Frage nach Herrn Schilys Verhalten.
({0})
Wie der Herr Staatsminister die Fragen beantwortet,
ist allein seine Verantwortung.
Das stimmt schon; aber er hat sie eben in diesem
Punkt nicht beantwortet.
({0})
Das ist auch seine Verantwortung.
Ich weiß, dass das passieren kann. Doch gerade von
Staatsminister Erler hätte ich nicht erwartet, dass er die
Frage nicht beantwortet.
Herr Kollege, außerhalb Ihrer Nachfrage kann ich Ihnen sagen: Ihre Frage ist damit beantwortet. Sie haben
vielleicht nicht genau zugehört: Die Grundlage Ihrer
Frage entfällt durch meinen Hinweis darauf, dass die
Vorwürfe Herrn Martys, die Sie zitiert haben, völlig unbegründet sind.
Nachfrage? - Bitte.
Herr Staatsminister, wenn es eine solche Vereinbarung nicht gab und insbesondere nicht den, wie Dick
Marty behauptet hat, Grundsatz „need to know“ - dass
nicht alle Behörden, die eigentlich informiert werden
müssten, informiert werden sollen, sondern nur die, die
es ohnehin erfahren -, wie erklären Sie sich dann, dass
der Bundesinnenminister vom US-Botschafter über einen Verschleppungsfall informiert wurde, die Bundesregierung im Übrigen darüber jedoch nicht informiert
wurde, auch diejenigen nicht, die darüber informiert sein
müssen, beispielsweise das Auswärtige Amt, der Bundeskanzler, möglicherweise auch der Chef des Kanzleramtes - weil er für die Geheimdienste zuständig ist -,
oder waren die informiert?
Herr Kollege Königshaus, Ihre Frage richtet sich darauf, ob es auf dieser Tagung des NATO-Rats im Oktober 2001 irgendwelche Nebenverabredungen oder sogar
geheime Verabredungen gegeben hat. Ich kann nur noch
einmal betonen, dass es solche Verabredungen nicht gegeben hat und dass deswegen jeder Verdacht, dass es da
irgendetwas gab, nichtig ist.
Zweite Nachfrage? - Bitte.
Herr Staatsminister, auch wenn es keine dieser Verabredungen gab, wenn es keine geheimen Verabredungen
gab, haben doch irgendwann das Kabinett, der Bundeskanzler, der Bundesminister des Auswärtigen, möglicherweise auch der Chef des Kanzleramtes davon erfahren, dass es diesen Vorgang gab, dass ein deutscher
Staatsbürger verschleppt worden ist, dass der US-Botschafter den Bundesinnenminister - der dafür gar nicht
zuständig war - darüber informiert hat, dieser aber alle
Informationen für sich behalten hat, anstatt sie pflichtgemäß weiterzugeben. Was hat die Bundesregierung nach
Kenntnis dieser Umstände eigentlich unternommen, disziplinarrechtlich oder in welcher Form auch immer?
Herr Kollege Königshaus, es tut mir leid: Es wird
nicht funktionieren und kann nicht funktionieren, dass
Sie hier Fragen stellen, die den 1. Untersuchungsausschuss beschäftigt haben. Sie können nicht erwarten,
dass hier ein Staatsminister des Auswärtigen Amtes
({0})
Ihnen aus der Problematik hilft, dass Sie in diesem Untersuchungsausschuss offenbar nicht zu den Ergebnissen
gekommen sind, die Sie sich erhofft hatten. Ich kann das
nicht nachliefern.
Die Fragen 34 und 35 des Kollegen Alexander Bonde
sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen somit zur Frage 36 des Kollegen
Dr. Hakki Keskin:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung daraus, dass
im Rahmen der umstrittenen Ergenekon-Razzien in der Türkei zahlreiche Professorinnen und Professoren, Präsidenten
einiger Hochschulen, Medienvertreter und jüngst Mitglieder
des Vereins zur Förderung des modernen Lebens - Cagdas
Yasami Destekleme Dernegi -, die vor allem für die Förderung von sozial benachteiligten Studentinnen zuständig sind,
verhaftet worden sind?
Herr Staatsminister.
Herr Kollege Professor Keskin, meine Antwort lautet
so: Der Bundesregierung sind die jüngsten Verhaftungen
im Rahmen der sogenannten Ergenekon-Verfahren am
13. April 2009 bekannt. Die Bundesregierung nimmt allerdings keine Stellung zu laufenden Gerichtsverfahren.
Eine Nachfrage, Herr Keskin?
Herr Staatsminister Dr. Erler, im Laufe dieses Verfahrens sind unzählige insbesondere laizistisch orientierte
Rektoren, Professoren und Medienvertreter verhaftet
worden. Die einschlägigen Organisationen, darunter der
Verband türkischer Richter und Staatsanwälte, warnen
vor einer Politisierung des Justizwesens und vor einer
Gefährdung des Rechtsstaats und der Demokratie in der
Türkei. Dies dürfte, glaube ich, der Bundesregierung
nicht gleichgültig sein.
Das habe ich auch in keiner Weise zum Ausdruck
bringen wollen. Ich habe nur gesagt, dass wir keine
Kommentare zu einem laufenden Gerichtsverfahren abgeben können. Aber ich kann Ihnen versichern, Herr
Kollege Keskin, dass die Bundesregierung sehr aufmerksam diese Vorfälle beobachtet, die schon an den
Anfang des letzten Jahres zurückgehen, ganz besonders
natürlich vor dem Hintergrund der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkischen Republik.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Danke, Herr Präsident. - Wie sieht die Bundesregierung die in der Türkei gegen regierungskritische Mediengruppen verhängten immens hohen Strafen? Beispielsweise
waren es bei der Dogan-Gruppe 385 Millionen Euro, nur
weil irgendetwas verspätet eingereicht worden ist. Meinen Sie nicht, dass hierbei wiederum die regierungskritischen Medien mundtot gemacht werden sollen oder die
Pressefreiheit ganz erheblich eingeschränkt werden soll?
Sollte das der Fall sein, was Sie hier sagen, Herr Kollege Keskin, dann wäre dies ein Verstoß gegen die
Grundsätze, Prioritäten und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft, und dann hätte dies für die Türkei durchaus Folgen im Hinblick auf den gesamten Beitrittsprozess. Wir setzen uns überall auf der Welt - auch in der
Türkei - für die Pressefreiheit ein und werden dies auch
weiterhin tun.
Nun kommen wir zur Frage 37 des Abgeordneten
Dr. Hakki Keskin:
Gedenkt die Bundesregierung, sich aktiv dafür einzusetzen, dass in der Türkei die Repressionen gegen Laizisten und
Kritiker der Regierung möglichst bald ein Ende finden?
Herr Kollege Professor Keskin, die Bundesregierung
setzt sich weltweit für die Durchsetzung der Meinungsfreiheit ein; insofern habe ich eben schon ein Stück der
Antwort vorweggenommen. Die Erwartungen, die sie in
diesem Bereich an die Türkei als einen Beitrittskandidaten für die EU hat, sind in den Grundsätzen, Prioritäten
und Bedingungen der Beitrittspartnerschaft mit der Türkei eindeutig festgelegt. Sie sind feste Bestandteile des
politischen Dialogs, den die Bundesregierung mit der
Türkei führt, sei es bilateral, sei es auf Ebene der EU.
Unter den Verhafteten, Herr Staatsminister, sind, wie
ich sagte, Menschen, die zwar gegen den Staat gerichtete
rechtswidrige Handlungen begangen haben sollen, die
aber in keiner Weise derartige Motive haben können.
Beispielsweise wurde die 74-jährige Frau Professor
Saylan verhaftet, die mit ihrer Organisation nichts anderes tut, als sozial benachteiligten Kindern aus Anatolien
eine Bildung zu ermöglichen oder Studenten ein Stipendium zu organisieren. Diese Repressalien dauern an.
Weil wir gar nicht wissen, wie lange dieser Prozess dauert, können wir nicht sagen: Warten wir es ab! Es sitzen
seit einem Jahr immer noch Menschen in Haft, ohne dass
sie wüssten, weshalb sie in Haft sitzen. Daher können
wir nicht so lange abwarten, bis der Prozess abgeschlossen sein wird.
Herr Kollege Keskin, es geht auch nicht darum, zu
sitzen, zu warten und nichts zu tun. Sie haben jetzt einen
Fall aus diesem Komplex herausgegriffen. Ich weiß,
dass Sie ein guter Kenner dieser Materie sind, und ich
habe auch Ihren sehr ausführlichen offenen Brief gelesen, den Sie in dieser Sache geschrieben haben und aus
dem deutlich wird, wo Ihre Sympathie in dieser auch
politischen Auseinandersetzung liegt, die in der Türkei
im Augenblick offensichtlich stattfindet.
Ich habe eben ja schon darauf hingewiesen: Die einzige Möglichkeit für uns, solche Dinge anzusprechen,
ist, dies in dem politischen Dialog mit der Türkei zu tun.
Das tun wir auch. Wir erinnern dabei immer wieder an
die Prinzipien, zu deren Einhaltung sich die Türkei verpflichtet hat und die eine wichtige Rolle in dem Beitrittsprozess spielen. Etwas anderes können wir auch gar
nicht tun.
Nachfrage, bitte.
Ich habe eine letzte Bitte bzw. Frage. Ich frage deshalb immer wieder nach, weil die Bundesrepublik
Deutschland sehr gute und freundschaftliche Beziehungen zu der Türkei hat. Gerade aufgrund dieser freundschaftlichen Beziehungen frage ich Sie: Meinen Sie
nicht, dass Sie darauf einwirken könnten, dass Leute, die
eine laizistisch-demokratische Überzeugung haben,
nicht mit Repressalien bedroht werden, weil sie regierungskritisch sind?
Ich will ja gar nicht ausschließen, dass man diese
Dinge anspricht, wobei wir natürlich aufpassen, dass wir
nicht Partei für eine Gruppierung innerhalb der Türkei
ergreifen. Unser Eindruck ist - ich glaube, diesen teilen
Sie letzten Endes ja auch -, dass es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei sehr heterogenen Gruppen
- auf der einen Seite die sogenannten anatolischen Aufsteiger und auf der anderen Seite die alten kemalistischen Eliten - handelt. Das ist ja wohl der soziologische
Hintergrund der Auseinandersetzungen.
Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es
zum Beispiel während der letzten spektakulären Verhaftungswelle umfangreiche Waffenfunde gab. Offenbar
sind bei dieser Auseinandersetzung also doch ernsthafte
Befunde zu berücksichtigen. Insofern bleibt uns nichts
anderes übrig - ich kann das nur noch einmal wiederholen -, als diese Dinge in dem politischen Dialog immer
wieder anzusprechen und zu mahnen, dass die Prinzipien, die für die Türkei gelten sollen - sie werden von
der Türkei auch akzeptiert -, auch tatsächlich angewandt
werden.
({0})
Nein, ich kann Ihnen keine weitere Nachfrage einräumen. Es sind noch viele Fragen anhängig.
Die Frage 38 des Kollegen Volker Beck soll schriftlich beantwortet werden.
Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier zur Verfügung.
Die Frage 39 des Kollegen Volker Beck soll wiederum schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 40 der Kollegin Silke Stokar von
Neuforn auf:
Plant die Bundesregierung in einem weiteren Reformabschnitt der Bundespolizei, die bahnpolizeilichen Aufgaben
an die Länder zu übertragen, und hat es bereits Gespräche mit
Polizeigewerkschaften und Personalräten zur Abgabe der
bahnpolizeilichen Aufgaben an die Länder gegeben?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Kollegin Stokar
von Neuforn, ich kann Ihre Frage sehr kurz beantworten:
Die Bundesregierung plant keinesfalls, die bahnpolizeilichen Aufgaben an die Länder zu übertragen. Es ist vielmehr so, dass die Aufgabe der Bahnpolizei eine wichtige
und bedeutende Säule im Aufgabenspektrum der Bundespolizei ist und in Zukunft auch bleiben soll.
Nachfragen?
Ja. - Herr Staatssekretär, ich danke für Ihre klaren
Worte hier. Vielleicht sind sie dabei hilfreich, eine gewisse Unruhe innerhalb der Bundespolizei, die vorhanden
sein muss, da sie mein Büro, das Büro einer grünen Abgeordneten, erreicht hat, wieder zu beseitigen. Das kann
ja vielleicht auch etwas mit mangelnder Transparenz hinsichtlich der weiteren Reformschritte zu tun haben.
Meine Anschlussfrage: Hat es Gespräche mit der
Deutschen Bahn - ich weiß, dass die Ära Mehdorn beendet ist - hinsichtlich einer Neuaufteilung der bahnpolizeilichen Aufgaben auch in Richtung Privatisierung oder
verstärkter Doppelstreifen in Bahnhöfen gegeben?
Frau Kollegin Stokar, Sie wissen wahrscheinlich, dass
es zwischen der DB AG und der Bundespolizei und dem
Bundesinnenministerium eine Sicherheitspartnerschaft
gibt. Diese Sicherheitspartnerschaft ist von der Vorgän23462
gerregierung - von Herrn Schily - geschlossen worden.
Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn ist sehr
vielfältig, weil die Deutsche Bahn beispielsweise auch
die Gebäude zur Verfügung stellt, in denen die Bundespolizei ihre bahnpolizeilichen Aufgaben auf dem Gelände der jeweiligen Bahnhöfe ausübt. Es ist selbstverständlich, dass nach Abschluss der Bundespolizeireform
auch mit der Deutschen Bahn darüber geredet worden
ist, welche Konsequenzen sich daraus für die konkrete
Unterstützung der Bundespolizei durch die Deutsche
Bahn ergeben. Dies wird in regelmäßigen Abständen getan. Ich kann Ihnen aber noch einmal versichern, dass
die Wahrnehmung der der Bundespolizei gesetzlich zugewiesenen bahnpolizeilichen Aufgaben dabei nicht zur
Disposition steht. Insofern sehe ich keinen Grund für irgendwelche Besorgnisse, die es in der vergangenen Zeit
gegeben haben mag.
Weitere Nachfrage?
Herr Staatssekretär, ich habe eine Nachfrage. Sie begannen mit dem Satz: „Frau Kollegin, Sie wissen ...“.
Ich muss Ihnen hier sagen: Ich weiß nicht, obwohl ich
mehrfach schriftlich und auch unter Bezugnahme auf das
Informationsfreiheitsgesetz darum gebeten habe, Einblick in die Verträge zwischen dem BMI und der Deutschen Bahn AG zu erhalten. Bereits Ihr Vorgänger, unser
damaliger Koalitionspartner, Bundesinnenminister Schily,
hat dies mit großer Empörung zurückgewiesen und auf
Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse verwiesen. Deswegen kann ich nach wie vor nichts wissen.
Sie haben eben gesagt, die Bahnpolizei werde nicht
zur Disposition gestellt. Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Sind Sie bereit, so transparent und offen zu sein,
dem Innenausschuss oder mir als Abgeordnete die Frage
zu beantworten, ob es Pläne gibt, Aufgaben der Bahnpolizei in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn auch
unter dem Stichwort „Privatisierung“ neu zu bewerten
und neu zu organisieren?
Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass ich natürlich nicht überblicken kann, welche Anfragen Sie an den
vorangegangenen Minister und seine Staatssekretäre gerichtet haben. Sie wissen aber auch, dass der Staatssekretär, der heute die Fragen beantwortet, im Innenausschuss
im Allgemeinen als auskunftsfreudig gilt. Deshalb bin
ich gern bereit - selbstverständlich im Rahmen der
rechtlichen und gesetzlichen Möglichkeiten -, Auskunft
zu diesen Fragen zu geben.
Vielen Dank.
Die Fragen 41 und 42 der Abgeordneten Ulla Jelpke,
die Fragen 43 und 44 der Abgeordneten Inge Höger sowie die Fragen 45 und 46 der Abgeordneten Sevim
Dağdelen sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich komme zur Frage 47 der Kollegin Karin Binder.
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus dem Umstand, dass die französische Polizei bei den Demonstrationen
am 4. April 2009 in Straßburg Tausende friedlicher Demonstranten unter stundenlangen Tränengasbeschuss genommen hat
und Schallgranaten auf sie abfeuerte?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, zu Ihrer Frage kann ich Ihnen nur sagen, dass die Bundesregierung keine Stellung zu Maßnahmen nimmt, die in der Verantwortung eines anderen
Landes oder eines Bundeslandes liegen. Frankreich ist
ein anderes Land. Deshalb bitte ich, mir nachzusehen,
dass wir uns dazu im Detail nicht äußern.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung war letztlich
Mitveranstalterin und Mitgastgeberin dieses Gipfels.
Der Gipfel war ganz bewusst eine zweiseitige Veranstaltung, nämlich von Baden-Baden über Kehl nach Straßburg. Nach meiner Erkenntnis war Bundespolizei mit
auf französischer Seite. Daraus schließe ich, dass eine
enge Zusammenarbeit zwischen französischen und deutschen Behörden und letztlich zwischen französischer
und deutscher Polizei stattgefunden haben muss. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Bundesregierung eine
Auffassung dazu haben muss, wie ihr Partner - in dem
Fall Frankreich - mit Grundrechten umgeht.
Meine erste Nachfrage lautet: Sind Sie davon in
Kenntnis gesetzt worden, wie die französische Polizei
vorzugehen gedenkt?
Frau Kollegin, man muss da sehr genau unterscheiden
- das sollte sich auch in Ihrer Frage widerspiegeln -:
Das eine ist die Tatsache, dass wir gemeinsam einen
NATO-Gipfel durchgeführt haben. Das andere ist der
Aspekt, dass jedes Land im Rahmen seiner eigenen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben für die
Sicherheit auf seinem Territorium zu sorgen hat. Dementsprechend oblag die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung auf der deutschen Seite den deutschen
Behörden, in diesem Fall den Behörden des Landes Baden-Württemberg; die Sicherheit auf französischer Seite
oblag den französischen Behörden.
Die Frage ist, inwieweit man sich dabei gegenseitig
- auch grenzüberschreitend - unterstützt. Sie wissen,
dass es rechtlich möglich ist, Einheiten der Bundespolizei sowohl den Polizeien der Bundesländer als auch
grenzüberschreitend den Polizeien anderer Mitgliedstaaten zu unterstellen. Genau dies geschieht seit vielen Jahren immer wieder und ist auch in Straßburg erfolgt. Ich
weise in diesem Zusammenhang beispielsweise darauf
hin, dass wir seit dem Jahr 2003 jährlich anlässlich des
Weltwirtschaftsforums in Davos etwa 70 Beamte mit
Wasserwerfern zur Unterstützung der Schweizer Kantonspolizei einsetzen
({0})
und der Schweizer Polizei unterstellen. Wir haben auch
im Rahmen des NATO-Doppelgipfels zwei Einsatzhundertschaften und vier technische Einheiten mit Gerät
- unter anderem auch sechs Wasserwerfer einschließlich
Besatzung - der französischen Polizei unterstellt. Ein
solcher Einsatz in Straßburg erfolgt selbstverständlich
nach französischem Recht und in der Verantwortung
Frankreichs.
Sie haben davon gesprochen, dass bestimmte Grundrechte nicht eingehalten worden sind. Das kann ich nicht
beurteilen, weil dies nach französischem Recht und vor
französischen Gerichten zu überprüfen ist. Frankreich ist
ein Mitgliedstaat der Europäischen Union. Damit spricht
viel dafür, dass Frankreich genau wie Deutschland ein
Rechtsstaat ist und die dortigen Polizeibefugnisse nach
rechtsstaatlichen Grundsätzen ausgeübt werden. Ich
habe jedenfalls keine anderen Erkenntnisse.
Ihre zweite Nachfrage.
Verstehe ich es also richtig, dass die deutsche Bundespolizei auf französischem Boden quasi auf Anweisung
der französischen Polizei gehandelt hat? War das auch
der Grund dafür, dass zum Beispiel ein deutsches Feuerwehrfahrzeug nicht zum Löschen des Brandes an der
Zollstation, der sich über Stunden hinzog, durchgelassen
wurde? Ich verstehe in diesem Zusammenhang einiges
nicht. Ich war vor Ort und konnte vieles beobachten,
über das ich nur den Kopf schütteln kann. Ich verstehe
nicht, wie die deutschen Behörden da einfach zuschauen
konnten.
Frau Kollegin, Sie werden mir recht geben, dass es
keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem
Einsatz der technischen Einheiten und der Wasserwerfer
und den Problemen gibt, die es möglicherweise mit dem
Feuerwehrfahrzeug gegeben hat. Mir ist ein solcher Zusammenhang nicht bekannt. Deshalb halte ich es auch
nicht für zulässig, dass man ihn andeutet oder insinuiert.
Die Kräfte der deutschen Bundespolizei, die der französischen Polizei unterstellt worden sind, haben ihre Aufgaben im Rahmen der französischen Einsatzleitung nach
bestem Wissen und Gewissen erfüllt. Daran habe ich
keinen Zweifel.
Im Übrigen sind in der Vergangenheit auch schon Polizeikräfte aus befreundeten EU-Mitgliedstaaten der
deutschen Polizei unterstellt worden. Ich darf daran erinnern, dass bei der Fußballweltmeisterschaft etwa
220 Beamtinnen und Beamte aus elf verschiedenen europäischen Ländern in Deutschland im Einsatz waren.
Sie haben ihre Befugnisse nach deutschem Recht - auf
der Grundlage des Bundespolizeigesetzes - und unter
der Verantwortung der deutschen Bundespolizei ausgeübt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie weit die Zusammenarbeit im europäischen Rahmen inzwischen gediehen ist.
Das ist aus der Sicht der Bundesregierung ein sehr positives Zeichen dafür, dass man sich in Europa gegenseitig
unterstützt.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Silke
Stokar von Neuforn das Wort.
Herr Staatssekretär, Sie haben hier zu Recht ausgeführt, dass es eine länderübergreifende Polizeikonzeption zum NATO-Gipfel gegeben hat. Den Innenpolitikern ist sicherlich bekannt, dass das jeweilige
Landespolizeirecht Gültigkeit hat. Da es auch in
Deutschland des Öfteren Unterstellungsverhältnisse zwischen den Bundesländern nach den jeweiligen Polizeigesetzen gibt, ist mir bekannt, dass vor einer Unterstellung
Gespräche über eine gemeinsame Einsatzkonzeption geführt werden. Ich würde es begrüßen, wenn die Bundespolizei und die Vertretung des BMI bei zukünftigen Anlässen versuchten, anderen europäischen Ländern,
insbesondere den Ländern, die über Gendarmerieeinheiten verfügen, die in Deutschland gewachsenen Deeskalationskonzepte inklusive Konfliktmanagement und Prävention gegen Gewalt näherzubringen.
Meine Frage an Sie lautet: Gibt es neben der Unterstellung nach der jeweils geltenden Rechtslage gemeinsame Gespräche über eine deeskalierende Einsatzkonzeption, und müsste es nicht Voraussetzung sein, dass es,
bevor sich die Bundespolizei italienischen - ich erinnere
nur an Genua - oder französischen Gendarmerieeinheiten unterstellt, eine Verständigung darüber gibt, wie man
mit friedlichen Demonstranten umgehen möchte?
Ich will eines zunächst klarstellen: Ich habe in meinen
Ausführungen nicht gesagt, dass es eine gemeinsame
Einsatzkonzeption gegeben hat. Vielmehr habe ich gesagt, dass es eine Zusammenarbeit gegeben hat. Eine
solche Zusammenarbeit gibt es inzwischen bei vielen internationalen Großveranstaltungen wie Weltwirtschaftsgipfeln, Weltwirtschaftsforen sowie Fußballwelt- und
Fußballeuropameisterschaften, genauso wie bei diesem
NATO-Doppelgipfel. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: Es ist richtig, dass es in Europa
durchaus unterschiedliche Einsatzkonzeptionen und
Polizeikulturen, Kulturen der Polizeiarbeit, gibt. Ich
möchte dem Eindruck entgegentreten, dass unsere Polizeikultur immer die bessere wäre und dass deswegen alle
anderen von uns zu lernen hätten. Ich glaube, wir können
in Europa einiges voneinander lernen. Ein Ziel der euro23464
päischen Innenpolitik, die der Bundesinnenminister seit
nunmehr vier Jahren verfolgt, ist, dass sich schrittweise
eine gemeinsame Polizeikultur bzw. Gemeinsamkeiten
einer Polizeikultur in Europa durch solche Zusammenarbeiten, aber auch durch gemeinsame Ausbildungs- und
Schulungsmaßnahmen für Polizeibeamte, Polizeioffiziere und Grenzpolizisten herausbilden. Es wird ein
wichtiger Aspekt bei der Erarbeitung des Stockholmer
Programms, das an die Stelle des Programms von
Tampere und des Haager Programms treten soll, sein,
dass wir uns in dieser Hinsicht entwickeln. Ich vertrete
aber nach wie vor nachdrücklich die Auffassung, dass
dies nicht bedeutet, dass bis zu einem solchen Zeitpunkt
sämtliche Zusammenarbeit mit Polizeien in den Nachbarstaaten einzustellen ist. Wir halten eine solche Zusammenarbeit für richtig, geboten und gerechtfertigt. Im
Übrigen erfolgt sie auf der Grundlage des Vertrages von
Prüm, der von diesem Hohen Haus ratifiziert und beschlossen wurde. Genau dort steht drin, dass es möglich
ist, deutsche Polizeieinheiten beispielsweise französischen, niederländischen oder belgischen Polizeien zu
unterstellen. Das tun wir mit Augenmaß und im Hinblick
auf die gemeinsame Sicherheit.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Heike
Hänsel das Wort.
Herr Staatssekretär, wenn man einen weltweiten Vergleich anstellt, dann muss man sagen, dass es viele Länder gibt, in denen sich die Bundesregierung sehr aktiv
einmischt und sich dazu äußert, wie sich die jeweiligen
Polizeien verhalten. Wir kritisieren Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Ländern der Erde. Ich denke,
in Frankreich gab es massive Übergriffe, übrigens auch
auf deutsche Staatsbürger und Staatsbürgerinnen. Es waren auch etliche Abgeordnete dieses Parlaments unter
denen, die von massivem Tränengaseinsatz und von Angriffen mit Blend- und Schockgranaten betroffen waren.
Kann ich davon ausgehen, dass Sie sagen, Frankreich
sei ein Rechtsstaat und insofern interessiere Sie das
nicht, es werde schon alles seinen richtigen Gang genommen haben, oder - wenn dem nicht so ist - was gedenken Sie zu tun, um diesen Vorfällen nachzugehen
und aufzuklären, ob das Recht von deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern auf Demonstrationsfreiheit
verletzt worden ist?
Frau Kollegin, ich habe nicht gesagt, dass man bestimmten Vorwürfen nicht nachgehen soll. Nur, man
muss immer genau unterscheiden, wer ihnen nachgeht
und wo man ihnen nachgeht. So wie Sie es mit Recht für
verwunderlich hielten, wenn beispielsweise im Bayerischen Landtag über den Einsatz der Polizei im Land Berlin diskutiert würde, bei dem möglicherweise bayerische
Touristen in der Landeshauptstadt beteiligt waren, so
würde man es mit Recht auch für befremdlich halten,
wenn beispielsweise im spanischen, portugiesischen
oder italienischen Parlament über den Einsatz der Bundespolizei in Deutschland diskutiert würde. Das, was
den Einsatz der französischen Polizei in Frankreich,
auch bei diesem NATO-Gipfel, betrifft, sind Fragen, die
von der französischen Öffentlichkeit und im französischen Parlament und in den dafür vorgesehenen Ausschüssen diskutiert werden und die gegebenenfalls durch
französische Gerichte überprüft und von diesen entschieden werden, so wie es umgekehrt in Deutschland der
Fall wäre. Ich glaube, das ist ganz normal in einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Deshalb sollten wir das
akzeptieren. Sie haben die Möglichkeit, im Rahmen der
europäischen Zusammenarbeit mit Kolleginnen und
Kollegen diese Fragen in der französischen Assemblée
nationale und im französischen Senat, also dort, wo sie
hingehören, zu thematisieren.
Eine weitere Nachfrage stellt nun der Kollege Bodo
Ramelow.
Herr Staatssekretär Altmaier, ich kann Sie informieren, dass im Thüringer Landtag die CDU einmal den Polizeieinsatz in Berlin thematisiert hat, weil es ihr gerade
opportun erschien, über Vorkommnisse am 1. Mai zu reden, um von Ereignissen in Thüringen abzulenken. Aber
ich pflichte Ihnen bei: Eigentlich gehört sich das nicht;
das ist jeweils dort zu klären, wo die Verantwortung
liegt.
Die Frage, über die wir gerade reden, betrifft aber
Folgendes: Wenn deutsche Staatsbürger im Rahmen eines Polizeieinsatzes außerhalb des deutschen Staatsgebiets, an dem deutsche Polizeibeamte beteiligt sind, in
eine solche Situation kommen, wird man doch im Deutschen Bundestag darüber reden können. Die deutschen
Polizisten unterliegen doch weiterhin dem deutschen
Dienstrecht. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass
sie disziplinarrechtlich weiterhin unserer Diensthoheit
unterliegen?
Herr Kollege Ramelow, man muss genau differenzieren. Sie haben jetzt danach gefragt, wie sich deutsche
Polizisten in Frankreich verhalten haben. Mir ist nicht
bekannt, dass von irgendeiner Stelle Vorwürfe gegen
deutsche Polizisten, die in Frankreich eingesetzt worden
sind, erhoben worden wären. Sollte dies der Fall sein,
würde ich dem selbstverständlich nachgehen.
Herr Kollege Ramelow, Sie haben nur eine Nachfrage.
Ich rufe jetzt die Frage 48 der Kollegin Karin Binder
auf:
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, dass die polizeilichen Maßnahmen, wie zum Beispiel die Art der Grenzkontrollen, die Aus- bzw. Einreiseverbote, der Beschuss der
Demonstrationsteilnehmer und -teilnehmerinnen mit Tränengas und Schallgranaten, die Blockade der AbschlusskundgeVizepräsidentin Petra Pau
bung und andere Repressionsmaßnahmen, schwerwiegende
Eingriffe in die demokratischen Grundrechte der NATO-Kritiker und -Kritikerinnen darstellen, und wie begründet sie ihre
Auffassung?
Der Herr Staatssekretär hat weiterhin das Wort.
Ich kann die Frage für die Bundesregierung wie folgt
beantworten: Erstens. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit war und ist gewährleistet.
Zweitens. Zu Maßnahmen, die in der Verantwortung
eines anderen Landes liegen, nimmt die Bundesregierung keine Stellung. Die Veranlassung sicherheitspolitischer Maßnahmen anlässlich dieses Gipfels lag in der
Verantwortung der zuständigen Behörden; das habe ich
bereits ausgeführt.
Was die Grenzkontrollen der Bundespolizei angeht
- das ist etwas, was in die Verantwortung des Bundesinnenministeriums fällt -, kann ich Ihnen sagen, dass sie
zeitlich und örtlich flexibel erfolgt sind und sich an dem
notwendigen Maß der Kontrollintensität orientiert haben. Das heißt, wir haben uns bemüht, die Menschen so
wenig wie möglich in ihrer Mobilität und Reisefreiheit
zu beeinträchtigen. Sofern im Einzelfall hinreichende Indizien vorlagen, dass sich Personen an gewalttätigen
Ausschreitungen beteiligen, hat die Bundespolizei gemäß der geltenden Rechtsvorschriften Ausreiseuntersagungen bzw. Einreiseverweigerungen verfügt. Das war
allerdings nur in Einzelfällen der Fall.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, dass
die Maßnahmen, die im Vorfeld dieses Gipfels getroffen
wurden - gerade was die Themen „Ein- und Ausreise“,
die Kontrollen und die Polizeipräsenz angeht -, eher
provozierend als deeskalierend gewirkt haben?
Vor diesem Hintergrund möchte ich noch einmal ansprechen, dass ein ordnungsgemäß angemeldeter Demonstrationszug nicht stattfinden konnte; der Zugang
zur Europabrücke nach Straßburg wurde verwehrt. Es
war Abgeordneten, die sich ein Bild vor Ort machen
wollten, definitiv nicht möglich, den Demonstranten
dazu zu verhelfen, ihr Grundrecht wahrzunehmen, das
heißt das Grundrecht wahrzunehmen, über die Brücke
nach Straßburg zu gehen, um dort mit friedlichen Demonstranten, die auf der anderen Rheinseite auf den Demozug aus Kehl warteten, auf einer dort angemeldeten
Kundgebung eine gemeinsame Aktion durchzuführen.
Ich muss einfach sagen: Mir reichen Ihre Ausführungen leider nicht.
Kollegin Binder, Sie hatten Ihre Frage schon am Anfang formuliert. Ich rege an, dem Herrn Staatssekretär
die Möglichkeit zu geben, die Frage zu beantworten.
Das will ich gerne tun, Frau Präsidentin. - Zum einen
zu der zeitlich befristeten Wiedereinführung von Grenzkontrollen: Das europäische Recht gibt uns dazu die
Möglichkeit. Es muss begründet werden; es gibt Verfahren dazu. Wir haben dies bei ähnlichen Ereignissen, etwa
dem G-8-Gipfel in Rostock und Heiligendamm, bei der
Fußballweltmeisterschaft, bei der Fußballeuropameisterschaft, in der Vergangenheit getan. Es gibt keinerlei
Hinweise darauf, dass eine solche Maßnahme die Gewaltbereitschaft von Demonstranten steigert. Ganz im
Gegenteil: Wir haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass allein die Ankündigung, dass solche
Grenzkontrollen punktuell möglicherweise wieder stattfinden - zeitlich befristet -, dazu führt, dass gewaltbereite Demonstranten abgeschreckt werden. Das ist eine
Wirkung, die beabsichtigt war und ist. Ich glaube, das
hat auch bei dem NATO-Gipfel durchaus dazu beigetragen, dass es auf der deutschen Seite der Grenze jedenfalls nicht zu schweren Ausschreitungen gekommen ist
und dass die Demonstranten, die auf der deutschen Seite
demonstriert haben, in ihrer ganz großen Mehrheit friedlich und friedliebend waren.
Was nun die Sperrung der Brücke über den Rhein angeht: Dies war eine Einsatzmaßnahme, über die unter
Würdigung der Gesamtumstände vor Ort von der zuständigen Polizei - das war die Polizei des Landes BadenWürttemberg - zu entscheiden war; darüber ist also nicht
von der Bundesebene entschieden worden. Ich kann daher dazu nicht en détail Stellung nehmen. Ich will aber
sagen, dass nach meiner Kenntnis die Überlegung, die
dazu geführt hat, die Brücke zu sperren - das war keine
Entscheidung, die einem leichtfällt; schließlich ist die
Demonstrationsfreiheit ein hohes Gut -, dadurch mit bedingt war, dass es auf der einen Seite der Brücke, auf
deutscher Seite, friedliche Demonstranten gab, und dass
es auf der anderen Seite der Brücke, auf französischer
Seite, zu schweren Ausschreitungen gekommen war, unter Beteiligung einer erheblichen Anzahl gewaltbereiter
Demonstranten.
Nun war die Absicht, zu verhindern, dass sich beide
Demonstrantengruppen vermischen, um Übergriffe und
Auswirkungen von Gewalt auf unschuldige und friedliche Demonstranten zu vermeiden. Das hat zu der Sperrung der Brücke geführt, die ich nicht kommentieren
kann, weil sie nur unter Kenntnis der genauen Situation
vor Ort, die sich zu diesem Zeitpunkt gestellt hat, zu beurteilen ist.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage. - Sie
verzichten.
Dann hat der Kollege Ramelow das Wort zu einer
Nachfrage.
Herr Staatssekretär Altmaier, mein Hinweis gerade
bestand aus einer Feststellung und einer abstrakten
Frage. Die Feststellung war: Wenn Parlamentarier des
Deutschen Bundestages in einem anderem Land durch
Polizeimaßnahmen oder durch andere Umstände in kritische Situationen kommen, ist es durchaus üblich, dass
wir hier darüber debattieren. Ich erinnere daran, dass,
nachdem Volker Beck in Russland auf schlimme Art und
Weise zusammengeschlagen worden ist, darüber hier im
Parlament debattiert worden ist. - Das war eine Feststellung.
Meine Frage bezog sich auf das Dienstrecht für die
Beamten. Ich habe keinen Vorwurf erhoben, sondern
habe Sie nach dem Dienstrecht gefragt. Meine Frage
war: Wenn deutsche Beamte einer anderen Polizeiführung unterstellt werden, unterliegen sie dann nicht dem
deutschen Dienstrecht und dem deutschen Disziplinarrecht?
Dem unterliegen sie selbstverständlich. Ich möchte
Ihnen vorschlagen, dass wir die Antwort auf die Frage,
welche dienstrechtlichen Konsequenzen sich während
des Unterstellungszeitraumes im Einzelnen ergeben,
schriftlich nachreichen, weil ich vermeiden möchte, dass
ich Ihnen sozusagen aus der hohlen Hand heraus ungenau antworte.
Im Übrigen ist es selbstverständlich das gute Recht
jedes Parlamentes, darüber zu diskutieren, wenn einzelnen seiner Mitglieder in rechtswidriger Weise Schaden
zugefügt worden ist. Das ist aber eine Feststellung, die in
den Fragen, die der Bundesregierung hier vorliegen,
nicht enthalten war.
Dann hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn das
Wort zu einer Nachfrage.
Herr Staatssekretär, ich will vorwegschicken: Ich teile
durchaus die Auffassung und halte es auch für eine
Selbstverständlichkeit, dass das Versammlungsrecht nur
friedlich und gewaltfrei wahrgenommen werden kann,
und ich verurteile die organisierten Ausschreitungen, die
auch immer ein Angriff auf die Versammlungsfreiheit
anderer sind. Ich habe das in meinem Leben oft genug
erlebt. Dennoch stellt sich für mich bei diesen europäischen Polizeieinsätzen die Frage der Bindungswirkung
zum Beispiel des Brokdorf-Urteils auf deutsche Polizeibeamte.
Ich möchte deshalb noch einmal das Thema Vorgespräche ansprechen. Es kann meiner Auffassung nach
nicht sein, dass in einem gemeinsamen Einsatz französischer und deutscher Polizisten der Einsatzleiter zu den
Franzosen sagt: Nehmt ihr mal die Schallgranaten,
nehmt ihr mal die Einsatzmittel, die aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes in Deutschland verboten sind. Das dürfen wir nicht, das könnt ihr jetzt machen. - Nach meiner Meinung muss es bei einer
gemeinsamen Einsatzbesprechung Klarheit darüber geben, dass deutsche Polizeibeamte nur an Einsätzen beteiligt werden, bei denen Mittel angewandt werden, die mit
deutschem Verfassungsrecht und damit auch mit deutschem Polizeirecht vereinbar sind.
Liebe Frau Kollegin, da Sie eine anerkannte Expertin
auf dem Gebiet Polizei und Polizeirecht sind, werden Sie
wahrscheinlich wissen, dass wir es in den letzten
60 Jahren nicht einmal in Deutschland geschafft haben,
ein einheitliches Polizeirecht für alle Bundesländer zu
schaffen. Jedes Bundesland hat ein eigenes Polizeirecht
mit zum Teil anderen Ausformungen, was Eingriffsvoraussetzungen angeht. Es gab in den 80er-Jahren einen
Musterentwurf für ein einheitliches Polizeirecht, aber
wir haben bis heute kein bundeseinheitliches Polizeirecht.
Wenn wir nicht einmal innerstaatlich ein einheitliches
Polizeirecht haben, dann muss man auch akzeptieren
und damit leben - das zu sagen ist, glaube ich, nicht vermessen -, dass es in den 27 zum Teil sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterschiedliche Polizeirechte gibt.
Das bedeutet nicht, dass wir unterschiedliche Grundrechtsstandards haben. Die wesentlichen Grundrechte sind
in allen Mitgliedstaaten gleich. Es gibt die Möglichkeit,
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
in Straßburg und vor dem Europäischen Gerichtshof in
Luxemburg bestimmte europäische Grundrechtsverbürgungen einzuklagen; das geschieht auch in vielen Fällen.
Wenn es also kein gemeinsames Polizeirecht gibt, weder für die Bundesländer noch auf europäischer Ebene,
dann verwundert es nicht, dass es auch auf der unteren
Ebene unterschiedliche Vorstellungen über Einsatzkonzeptionen gibt und dass Einsatzkonzeptionen, die wir in
Deutschland beispielsweise ganz selbstverständlich zugrunde legen, in anderen Ländern differenziert, mit Abweichungen, anders gehandhabt werden. Würde man die
Zusammenarbeit im europäischen Rahmen jeweils davon abhängig machen, dass man gemeinsame taktische
Einsatzkonzeptionen entwickelt, dann würde es in vielen
Fällen zu solchen Einsätzen nicht kommen.
Genauso ist es in der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn die Polizei des Landes Niedersachsen der badenwürttembergischen Polizei Einheiten unterstellt oder das
Umgekehrte geschieht - das kommt wahrscheinlich häufiger vor -, dann wird man vorher nicht in allen Einzelheiten über gemeinsame Einsatzkonzeptionen reden,
sondern man hat Vertrauen in die Polizei des anderen
Bundeslandes. Ich denke, dass man ein gewisses Grundmaß an Vertrauen in die Polizei von Nachbarländern wie
Frankreich oder den Niederlanden oder Belgien oder Luxemburg voraussetzen kann, auch wenn nicht alles, was
dort für sinnvoll gehalten wird, von uns als richtig erachtet wird und umgekehrt.
Wenn es im Einzelfall zu nicht rechtmäßigem Verhalten einzelner Polizistinnen oder Polizisten kommen
sollte - das kann in allen Ländern geschehen, auch in
Deutschland -, dann muss das mit allen Mitteln des DisParl. Staatssekretär Peter Altmaier
ziplinarrechts und notfalls auch mit allen Mitteln des
Strafrechts verfolgt und geahndet werden. Das geschieht
auch immer wieder. Wir haben in allen Ländern der Europäischen Union eine unabhängige Gerichtsbarkeit, die
sich dieser Aufgabe stellt.
Die letzte Nachfrage zur Frage 48 stellt nun die Kollegin Heike Hänsel.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich noch einmal zur
Sperrung der Europabrücke geäußert. Das war aber nicht
die einzige Sperrung. Es waren zahlreiche Brücken über
den Rhein mehrere Tage lang gesperrt, auch noch bis
Sonntag. Das gilt gleichfalls für etliche Autobahnausfahrten und -zufahrten. Straßburg/Kehl, die gesamte Region, war großflächig abgesperrt.
Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang fragen:
Halten Sie das für verhältnismäßig und auch angemessen
angesichts der Tatsache, dass auf Straßburger und auf
Kehler Seite Demonstrationen, Friedenskonferenzen,
Camps, umfassende Aktionen stattfinden sollten, die alle
angemeldet und genehmigt waren? Der Zugang dazu
war Tausenden von Menschen gar nicht möglich, weil
sie stundenlange Umwege fahren mussten und zum Teil
gar nicht mehr zu den Veranstaltungsorten kamen. Ich
selbst habe für die Strecke von Kehl nach Straßburg fast
eine Stunde gebraucht.
Frau Kollegin, ich kann nur wiederholen, dass zu den
einsatzleitenden Entscheidungen der Polizei in BadenWürttemberg von hier aus nicht Stellung genommen
werden kann; das wäre völlig unverantwortlich.
Im Übrigen ist mein Eindruck, dass die große Mehrzahl der vielen angemeldeten Aktionen und auch Demonstrationen, von denen Sie gesprochen haben, stattgefunden hat.
Es spricht, glaube ich, auch für die Demonstrationsfreiheit in Deutschland, dass es trotz der Behinderungen
aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen - die im
Übrigen gerade wegen der Anwesenheit von Staats- und
Regierungschefs aus so vielen NATO-Ländern zu stellen
waren, denn wir waren ja auch für die Sicherheit der ausländischen Gäste verantwortlich - gelungen ist, in diesem sehr kleinräumigen Gebiet, das sehr dicht besiedelt
ist, den Sicherheitsaspekt und den Demonstrationsaspekt, denen aufgrund der großen Anzahl von ausländischen Gästen einerseits und der sehr großen Anzahl
von - auf deutscher Seite ganz überwiegend friedliebenden - Demonstrantinnen und Demonstranten andererseits Rechnung zu tragen war, in einer schonenden
Weise zum Ausgleich zu bringen. Das ist, wie ich finde,
alles in allem sehr gut gelungen. Da gibt es auch keinen
Anlass, der baden-württembergischen Polizei oder irgendeiner anderen Stelle einen Vorwurf zu machen.
Wir kommen zur Frage 49 der Kollegin Heike
Hänsel:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Abriegelung der
Europabrücke deutsche Seite - Kehl - durch Landes- und
Bundespolizei am 4. April 2009, die einen angemeldeten Demonstrationszug über die Brücke verhinderte und es auch
mehreren Mitgliedern des Deutschen Bundestages der Fraktion Die Linke - namentlich Sevim Dağdelen, Heike Hänsel erst nach mehrmaligem Protest und halbstündiger Wartezeit
ermöglichte, die Brücke bis zur Mitte zu passieren, während
der Durchgang für andere Mitglieder des Deutschen Bundestages - namentlich Hans-Christian Ströbele, Sylvia KottingUhl - von der Polizei an gleicher Stelle schneller organisiert
wurde?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Ich glaube, ich habe diese Frage bereits in der Diskussion eben beantwortet. Wie ich es auch beurteile, dass es
mehreren MdBs der Fraktion Die Linke - namentlich Ihnen selbst und Frau Dağdelen - erst nach mehrmaligem
Protest und halbstündiger Wartezeit möglich war, die
Brücke bis zur Mitte zu passieren, und dass die Passage
für andere MdBs - namentlich Hans-Christian Ströbele
und Sylvia Kotting-Uhl - von der Polizei an gleicher
Stelle schneller organisiert wurde: Die polizeilichen Absperrungen oblagen dem einsatzführenden Land BadenWürttemberg, und der Bundesregierung lagen dazu
keine Kenntnisse vor. Aber dass der Kollege Ströbele
und die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl es offenbar geschafft haben, in einer angemessenen Zeit die Brücke zu
passieren, zeigt, dass die Kolleginnen und Kollegen in
Baden-Württemberg vor Ort sich sehr wohl darum bemüht haben, den Bundestagsabgeordneten im Rahmen
ihrer Möglichkeit die Arbeit zu erleichtern.
({0})
Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte.
Genau, Herr Staatssekretär. Aber wie mir scheint,
wurde der Durchlass entsprechend der Gesinnung ermöglicht. Ich glaube, dass wir ein solches Verhalten der
Polizei grundsätzlich - da möchte ich wirklich an das
Parlament appellieren - ablehnen müssten. Das ist mir
auch nicht zum ersten Mal passiert. Mir ist während der
G-8-Veranstaltungen an vielen Polizeiabsperrungen dasselbe passiert: Ich habe meinen Abgeordnetenausweis
vorgezeigt, in dem eindeutig steht, dass ich unterstützt
werden muss, egal von welcher Polizeibehörde, dass ich
durch Absperrungen durchgelassen und zur Not, in einer
gefährlichen Situation, mit polizeilichem Schutz durchgeführt werde, und wurde zuerst nach der Parteizugehörigkeit gefragt. Ich halte das - man kann das natürlich
amüsant finden, wenn man einer anderen Partei angehört - grundsätzlich für einen Skandal, weil sich hier die
Exekutive über die Legislative stellt. Insofern meine
Nachfrage: Wie reagieren Sie auf solche Beschwerden?
Werden Sie ihnen nachgehen, auch wenn das nicht direkt
in Ihre Hoheit fällt? Werden Sie Gespräche mit den Landesbehörden führen? Denn dieser Vorfall ist in meinen
Augen nicht zu akzeptieren und generell zu hinterfragen.
Frau Kollegin, ich habe Ihren Fragen immer noch
nicht entnehmen können, was konkret Sie den Polizeibehörden des Landes Baden-Württemberg vorwerfen oder
unterstellen. Wenn es der Vorwurf sein sollte, dass Entscheidungen nach Gesinnung getroffen werden, dann
muss ich Ihnen sagen, dass ich das schlechterdings für
nicht vorstellbar halte. Wenn Sie allerdings der Auffassung sind, dass Sie begründeten Anlass zur Klage haben,
ist der normale Weg, dass Sie sich an den Bundestagspräsidenten wenden. Sofern wir von dem Herrn Bundestagspräsidenten dazu aufgefordert würden, würden wir
uns selbstverständlich um entsprechende Auskünfte bemühen.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Mein konkreter Vorwurf ist, dass an derselben Stelle
und zur gleichen Uhrzeit - nicht versetzt - beim Durchlassen durch eine Absperrung eine unterschiedliche Behandlung von Abgeordneten stattgefunden hat, von ein
und derselben Polizeieinheit. Das halte ich für inakzeptabel. Das dürfte kein Parlamentarier und keine Parlamentarierin hier in irgendeiner Form akzeptieren. Meine
Frage lautet: Teilen Sie diese Auffassung?
Liebe Frau Kollegin, ich kann noch nicht einmal beurteilen, ob es so war, wie Sie es sagen,
({0})
weil ich persönlich nicht dabei war und die Bundesregierung über keine eigenen Erkenntnisse verfügt. Deshalb
würde ich Ihnen vorschlagen, dass Sie Ihr Anliegen auf
den dafür vorgesehenen parlamentarischen Wegen verfolgen. Dann sollte entsprechend für Aufklärung gesorgt
werden.
Damit kommen wir zur Frage 50 der Kollegin Hänsel:
Wie beurteilt die Bundesregierung das Verhalten von Landes- und Bundespolizei am 4. April 2009 gegenüber mehreren
Mitgliedern des Deutschen Bundestages der Fraktion Die
Linke - namentlich Sevim Dağdelen, Inge Höger, Ulla Jelpke,
Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel - sowie einem Mitglied des
Europäischen Parlaments der Fraktion GUE/NGL, Confederal
Group of the European United Left/Nordic Green Left - namentlich Tobias Pflüger -, auf der Mitte der Europabrücke,
trotz Verhandlungsbemühungen und Zusage für eine Freigabe
der Europabrücke für die angemeldete Demonstration diese
Zusage nicht eingehalten zu haben, die Entscheidungswege
darüber nicht transparent gemacht zu haben und die oben angegebenen Mitglieder des Deutschen Bundestages auf dem
Rückweg zur deutschen Seite - Kehl - wiederum mehrmals
aufgehalten und unnötig kontrolliert zu haben?
Das Wort hat der Herr Staatssekretär.
Sie sprechen diese Fragen jetzt mehrfach und immer
wieder an. Das ändert nichts daran, dass die Entscheidung über die Sperrung der Europabrücke vor Ort - das
habe ich jetzt schon drei- oder viermal gesagt - unter
Abwägung aller Umstände von der einsatzführenden baden-württembergischen Polizei zu treffen war. Ich habe
Ihnen die Gründe genannt, die nach meiner Kenntnis
letzten Endes zu dieser Sperrung geführt haben. Weitere
Aussagen dazu kann die Bundesregierung nicht machen,
da ihr keine eigenen Erkenntnisse vorliegen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär, genau deswegen möchte ich Ihnen meine Erkenntnisse mitteilen. Vielleicht kommen
Sie dann zu neuen Erkenntnissen. Denn als Augenzeugin
kann ich beurteilen, dass die Sperrung der Brücke im
Hinblick auf die Gefahr, die von der anderen Seite
drohte, völlig unverhältnismäßig war. Es gab auf der
Brücke ein Verhandlungsteam, das in Absprache mit der
deutschen Polizei vereinbart hatte, den Demonstrationszug über diese Brücke zu leiten. Aufgrund des Verhaltens der deutschen Polizei wurde diese Absprache dann
nicht eingehalten. Ich würde gerne von Ihnen, wenn Sie
ein Erkenntnisinteresse haben, eine neue Einschätzung
dazu bekommen.
Frau Kollegin, ich möchte darauf hinweisen - ich
habe es auch im Innenausschuss mehrfach gesagt -, dass
wir im Rahmen der Deeskalationsstrategie, die die deutschen Sicherheitsbehörden nicht zum ersten Mal, sondern bei allen ähnlichen Großereignissen verfolgen, mit
allen Veranstaltern, die Demonstrationen und Aktivitäten organisiert haben, Gespräche geführt haben, dass wir
bereit waren, die Veranstalter einzubinden, und dass wir
auf Veranstalter zugegangen sind. Das ändert aber nichts
daran, dass die Verantwortung für die Aufrechterhaltung
von Sicherheit und Ordnung auf der Brücke und bei den
Demonstrationen letztendlich nicht vom Organisationsoder Verhandlungskomitee übernommen werden konnte.
Diese Verantwortung oblag vielmehr der Polizei des
Landes Baden-Württemberg. Ausweislich der Ergebnisse, die auf deutscher Seite unbestritten sind - die Demonstrationen sind friedlich verlaufen -, bin ich der
Auffassung, dass die Polizei in Baden-Württemberg
diese Aufgabe unter schwierigen Umständen sehr gut
gelöst hat und dass alle Beteiligten dafür unsere Anerkennung verdient haben.
Kollegin Hänsel, Sie haben das Recht zu einer zweiten Nachfrage. Ich bitte darum, sich jetzt auf die Frage
zu beschränken. Wir haben die für die Fragestunde vorgesehene Zeit inzwischen erschöpft.
Wie beurteilen Sie dann die Tatsache, dass uns die
Polizei vor Ort als Grund für die Fortführung der Sperrung und Nichtöffnung der Brücke genannt hat, dass der
französische Präfekt in Straßburg ihnen gesagt habe,
dass sie die Brücke nicht öffnen sollten, und sie sich daran hielten?
Ich kann das nicht beurteilen, weil es mir nicht bekannt ist.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Die übrigen Fragen - die Fragen 51 bis 53 - werden
entsprechend unserer Geschäftsordnung schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Konsequenzen aus dem Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Berlin-Brandenburg zur
militärischen Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide vom 27.03.2009 ({0})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Das OVG hat dem Bundesverteidigungsministerium bescheinigt, jenseits des Rechtsstaates versucht zu haben, die Nutzung von 120 Quadratkilometern Kyritz-Ruppiner Heide als Bombodrom
durchzusetzen. Damit wurden die Urteile aus den drei
Musterverfahren vor dem Brandenburger Verwaltungsgericht aus dem Jahr davor bestätigt. Die Linke hat heute
dazu eine Aktuelle Stunde verlangt, weil das Parlament
unserer Meinung nach auf eine so schallende Ohrfeige
für die aktuelle Bundesregierung reagieren muss.
({0})
Aus Sicht meiner Fraktion erzwingt dieses Urteil geradezu einen sofortigen Verzicht auf das Bombodrom,
und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens. Juristisch steht die Bundesregierung mit dem
Rücken an der Wand. Es waren Verteidigungsminister
einer rot-grünen und einer schwarz-roten Regierung, die
2003 und 2005 die Inbetriebnahme des Bombodroms angeordnet haben. Durch über 20 erfolgreiche Klagen seit
1994 ist diese Inbetriebnahme bisher verhindert worden.
({1})
Die Urteilsbegründung liegt zwar noch nicht vor, aber
aus persönlichem Erleben kann ich versichern: Die
mündliche Urteilsbegründung lässt keinerlei Interpretationsspielraum. Selbst der Revision vor dem BVG wurde
keine Erfolgsaussicht bescheinigt. Fast 600 000 Euro
Steuergelder hat das Verfahren bisher allein auf der Seite
des Verteidigungsministeriums gekostet. Meine Fraktion
teilt daher das völlige Unverständnis für jeden weiteren
juristischen Schritt. Weitere Jahre Verfahrensauseinandersetzungen und offene Entscheidungen eines Planfeststellungsverfahrens - ich erinnere nur an den BBI - sind
absolut inakzeptabel. Sie verlängern nur die Blockade
der Entwicklung einer ganzen Region. Der Verzicht auf
das Bombodrom wäre dagegen das beste regionale Konjunkturprogramm.
({2})
Zweitens. Das Bombodrom ist politisch nicht durchsetzbar. Der Konflikt muss nicht juristisch, sondern politisch gelöst werden. Die Region wehrt sich mit einer
übergroßen partei- und länderübergreifenden demokratischen Mehrheit gegen das Bombodrom. Friedensbewegung, Umwelt- und Naturschutzgruppen sowie regionale
Unternehmerschaft kämpfen in einer einmaligen Allianz
Seite an Seite für ein gemeinsames Ziel.
({3})
War ursprünglich die Bürgerinitiative „Freie Heide“ der
Motor des Widerstands, beleben unterdessen auch die
Aktionsgemeinschaft „Freier Himmel“ und die Unternehmerinitiative „Pro Heide“ die Debatte. Verschiedene
politische Preise zeigen die hohe gesellschaftliche Anerkennung für dieses bürgerschaftliche Engagement. Zuletzt war es übrigens der Regine-Hildebrandt-Preis der
deutschen Sozialdemokratie. Aber was nutzt ein solcher
Preis, wenn die SPD die politische Macht nicht gebraucht, um das Ziel zu erreichen?
({4})
Die wiederholten Entscheidungen von drei Landesparlamenten - Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern
und Berlin - genauso wie der offene Brief von 260 Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker werden
ignoriert. Aber die Gründungen weiterer Initiativen zeigen: Die Bewegung nimmt nicht ab, sie wird eher noch
breiter. Der Verzicht auf das Bombodrom ist deshalb aus
Sicht der Linken ein Gebot der Demokratie.
({5})
Drittens. Das Bombodrom ist wirtschaftsschädigend.
Das schreibt auch das Bundesamt für Bauwesen und
Raumordnung in einer Studie von 2006. „Pro Heide“
sagt, dass 15 000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Dass die
Bundeswehr behauptet, Tourismus und Bombodrom
seien verträglich, ist absurd; das weiß man, wenn man
die Region kennt. Mit mehr als 1 Milliarde Euro öffentlicher und privater Fördermittel Geschaffenes würde entwertet. Man kann das auch als Teilenteignung einer ganzen Region bezeichnen.
Viertens. Das Bombodrom ist militärisch nicht notwendig, und ein Verzicht darauf ist friedenspolitisch geboten. Laut dem Bundesrechnungshof nutzt die Bundeswehr vorhandene Übungskapazitäten nur minimal. In
den 17 Jahren ohne Bombodrom war eine Lücke in der
Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr nicht erkennbar.
({6})
Die Linke fordert darüber hinaus: Weder auf dem
Bombodrom noch in der Nordhorn Range oder in Siegenburg soll das geübt werden, was anderswo zu Krieg
und Elend führt.
({7})
Wir bleiben verlässlich bei dem, was wir immer gesagt
haben, und zwar im Parlament, in rot-roten Regierungen
und bei den Protesten vor Ort: kein Bombodrom - nirgends!
({8})
Die Linke unterstützt die Forderung nach einer Entscheidung vor der Wahl. Nur das ist verlässlich. Die SPD
kann sich auch nicht mit dem Verweis auf den Koalitionspartner herausreden. Für solche Fälle gibt es das
Mittel des Gruppenantrages. Was bei den Themen
Stammzellforschung und Patientenverfügung möglich
ist, das muss auch hier möglich sein. Die Linke ist dafür,
die Grünen - jetzt in der Opposition - sind es auch.
({9})
Die SPD hat in ihrem gerade verabschiedeten Wahlprogramm geschrieben:
Wir treten dafür ein, den Rechtsstreit um die künftige Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide zu beenden und auf eine militärische Nutzung zu verzichten.
Damit stünde die rot-rot-grüne Mehrheit. Die CDUAbgeordneten aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin müssten aufgrund der Beschlüsse der
Landesparlamente zustimmen. Das würde eventuelle
Abweichler von SPD und Grünen ausgleichen.
({10})
Aus meiner Sicht ist jetzt die SPD am Zug.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Schmidt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Weder der Deutsche Bundestag noch die Gerichte können es sich so einfach machen, wie wir es gerade gehört
haben. Konsequenzen aus einem Urteil kann man, jedenfalls bei der in diesem Fall unstrittig vorhandenen sehr
komplizierten rechtlichen Materie, erst dann ziehen,
wenn die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt; denn
nur das ist seriös. Die liegt aber noch nicht vor. Daher
kommt diese Aktuelle Stunde zu früh.
({0})
Es ist in der Tat so, dass dies nicht das erste Urteil
zum Bombodrom ist. Von den 241 Verfahren, die in dieser Angelegenheit den Status einer rechtlichen Auseinandersetzung erhalten haben, sind 221 abgeschlossen.
219 sind entweder in der Hauptsache für erledigt erklärt
oder von der Bundeswehr gewonnen worden. Zwei Verfahren sind nicht gewonnen worden, eines davon auch in
zweiter Instanz nicht; darüber sprechen wir heute. Angesichts der insgesamt langen Zeit, die wir uns mit diesem
Thema schon beschäftigen, erlaubt es sich die Bundesregierung, auf die schriftliche Urteilsbegründung zu warten. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg wird, wenn sie schriftlich vorliegt, im
Einzelnen juristisch sehr sorgfältig ausgewertet werden
müssen. Erst im Anschluss daran lässt sich eine endgültige Aussage über das weitere Vorgehen treffen.
Gestatten Sie mir daher, die Gelegenheit zu nutzen,
kurz auf die Entwicklung der Diskussion über Wittstock
einzugehen. Die Erinnerung einiger, die früher mittelbar
oder unmittelbar Verantwortung für unsere Bundeswehr
getragen haben, scheint mir ein wenig lückenhaft zu
sein. Es schadet nie, sich an die Fakten, auch an die historischen, zu erinnern. Als wir in den Jahren 1992 und
1993 im Deutschen Bundestag intensive Diskussionen
über das Truppenübungsplatzkonzept der Bundeswehr
führten, war ein zentraler Aspekt, dass die mit dem
Übungsbetrieb zwangsläufig verbundenen Belastungen
regional möglichst ausgewogen zu verteilen sind. Das
war damals im Grundsatz einvernehmlich die Position
aller im Bundestag vertretenen Parteien.
({1})
Dieses Haus hat im Januar 1993 dem Truppenübungsplatzkonzept zugestimmt. Sowohl die Bundesminister
Scharping und Struck - Herr Kollege, ich vermute, das
gilt auch für die die damalige Regierung tragende Koalition - als auch der Deutsche Bundestag haben die militärische Nutzung des Truppenübungsplatzes Wittstock als
notwendig angesehen.
({2})
Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages hat mehrheitlich festgestellt, dass die Luft-BodenSchießausbildung in Deutschland künftig auf den
Übungsplätzen Nordhorn, Siegenburg und Wittstock
ausgewogen stattfinden soll. Der Kollege Kues, der
nachher das Wort ergreifen wird, der Kollege Götzer und
andere haben sich zu Wort gemeldet und die Sicht ihrer
Region dargelegt. Dies ist von den zuständigen Fachausschüssen des Deutschen Bundestages in der Folge - ich
denke, zum letzten Mal im Jahr 2005 - immer wieder
bestätigt worden.
Ich sage das nicht vorwurfsvoll. Ich will nur deutlich
machen, dass es sich bei der Entscheidung zu Wittstock
um eine nicht nur juristisch, sondern auch militärisch
sehr komplexe Angelegenheit handelt, sodass der Blick
nicht nur auf Wittstock gerichtet werden kann.
Diejenigen, die für die Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte, aber auch für die angemessene Verteilung von
Übungsbelastungen auf die Bevölkerung in ganz
Deutschland Verantwortung tragen, müssen sehr sorgfältig bewerten und entscheiden. Wir alle wissen, dass die
gegenwärtige Belastung insgesamt erfreulicherweise in
keiner Weise mit derjenigen zu vergleichen ist, die wir in
früheren Zeiten, als die sowjetischen Truppen diesen
Platz genutzt haben - damals hatte der Begriff Bombodrom eine Berechtigung -, erlebt haben. Solange die
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr mit Zustimmung der Mehrheit des Deutschen Bundestages in gefährliche Einsätze entsandt werden - das gilt auch für die
Luftwaffe -, steht für unser Haus grundsätzlich die Verantwortung für deren angemessene Ausbildung an erster
Stelle. Wir nehmen diese Verantwortung ernst. Diese
Ausbildung muss für das gesamte Auftragsspektrum
deutscher Streitkräfte auch in Deutschland möglich sein.
Nur so kann die erforderliche Flexibilität gewährleistet
werden.
Die gerichtlichen Entscheidungen von heute haben
ihre Grundlage im Jahr 2003. Es wäre unseriös, über die
Konsequenzen aus einem Urteil abschließend zu sprechen, dessen schriftliche Urteilsgründe noch nicht vorliegen. Wir werden dies dann zu bewerten und im Lichte
aller genannten Erwägungen und Überlegungen zu entscheiden haben.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Birgit
Homburger das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linken haben heute eine Aktuelle Stunde zum LuftBoden-Schießplatz in Wittstock beantragt. Ich will zunächst eine Vorbemerkung machen: Liebe Kolleginnen
und Kollegen, es geht Ihnen nicht um Wittstock. Wo
auch immer es Bürgerinitiativen gegen die Bundeswehr
gibt, sind die Linken dabei.
({0})
Sie wollen eine andere Konzeption. Sagen Sie ehrlich,
worum es Ihnen geht, und spielen Sie nicht durch irreführende Begrifflichkeiten mit Ängsten und Sorgen von
Menschen.
({1})
Ich möchte Sie an etwas erinnern: Als die Rote Armee seinerzeit diesen Übungsplatz nutzte, und zwar in
einer Art und Weise, wie es für die Bundeswehr gänzlich
undenkbar wäre,
({2})
hat die SED einzelne Protestierende, die versucht haben,
sich zu wehren, massiv unterdrückt. Auch das gehört zur
Wirklichkeit dieser Geschichte.
({3})
Ich möchte eine Bemerkung an die Grünen richten.
Da Sie nach uns sprechen werden, haben wir dann nicht
mehr die Möglichkeit, darauf zu reagieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auch Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Frage ist nicht wirklich gegeben.
({4})
Die Sache ist ganz einfach, Herr Kollege Nachtwei: Sie
hätten in Ihrer Regierungszeit, also unter Rot-Grün, die
Gelegenheit gehabt, diesen Übungsplatz aus der Konzeption herauszunehmen.
({5})
Das haben Sie nicht getan. Im Gegenteil: Sie haben diese
Konzeption unterstützt. Heute sagen Sie etwas anderes.
Das ist keine redliche Art.
({6})
Ich möchte eine grundsätzliche Bemerkung machen.
Wer die Bundeswehr für nötig hält, wer will, dass die
Bundeswehr für den Schutz der Freiheit, für unseren
Schutz, eintritt, wer die Bundeswehr in Auslandseinsätze
schickt, der muss dafür sorgen, dass sie die nötige Ausrüstung, aber auch eine fundierte Ausbildung und die nötigen Möglichkeiten zum Üben erhält. Diese Verantwortung haben alle: sowohl die Bundesregierung als auch
der Deutsche Bundestag. Die Bundeswehr ihrerseits aber
hat die Verpflichtung, ihren Übungsbedarf sauber zu begründen, die Belastungen für die Bevölkerung so niedrig
wie möglich zu halten und sich um einen Interessenausgleich zwischen Bundeswehr und Bevölkerung zu bemühen.
Hier sind wir beim aktuellen Fall Wittstock. Das Bundesverteidigungsministerium - Herr Staatssekretär, das
möchte ich Ihnen heute öffentlich in aller Deutlichkeit
sagen - hat all das nicht geschafft. Sie haben es nicht ge23472
schafft, öffentlich zu erklären, warum ausgerechnet
Wittstock gebraucht wird. Sie haben es vor Gericht nicht
geschafft, sauber die Notwendigkeit zu begründen. Was
ich noch viel schlimmer finde: Sie haben nie versucht,
einen Kompromiss auf politischem Wege zu finden. Alle
Versuche, die in diesem Parlament auch vonseiten der
FDP-Fraktion gemacht worden sind, sind von Ihnen regelmäßig niedergestimmt worden.
({7})
Ich will Ihnen deutlich sagen: Die Menschen vor Ort
haben spezifische Erfahrungen. Ihre Ängste und Befürchtungen müssen ernst genommen werden. Deswegen erwarte ich, dass man auf diese Dinge eingeht, und
zwar im Gespräch vor Ort. Das Bundesministerium der
Verteidigung macht hier nicht nur keine gute Figur. Vielmehr ist die Geschichte von Wittstock für das Bundesverteidigungsministerium ein Armutszeugnis.
({8})
Am Beispiel Wittstock werden darüber hinaus konzeptionelle Versäumnisse deutlich. Man kann nämlich
nicht nur über Wittstock reden. Untrennbar damit verbunden sind auch die Übungsplätze in Nordhorn, Niedersachsen und in Siegenburg, Bayern, sowie die dort lebenden Menschen.
({9})
Die FDP hat lange Zeit ein Gesamtkonzept gefordert.
Weil kein Gesamtkonzept vorgelegt wurde, sind wir im
Herbst 2007 massiv geworden. Mehrfach sind wir auch
im Verteidigungsausschuss initiativ geworden. Ende
September 2008 ging beim Verteidigungsausschuss endlich ein überarbeitetes Übungskonzept ein. Aber auch
damit ist es dem Bundesministerium der Verteidigung
nicht gelungen, zu überzeugen, weder was die Notwendigkeit, noch was die Nutzungskonzeption insgesamt,
noch was den dringend nötigen Interessenausgleich angeht.
Ich sage für meine Fraktion: Es kann keine singuläre
Entscheidung geben. Das wäre unfair gegenüber den
Menschen in Nordhorn und Siegenburg. Deshalb fordert
die FDP-Bundestagsfraktion die Bundesregierung auf:
Arbeiten Sie endlich auf eine tragfähige politische Lösung hin, und legen Sie ein überarbeitetes Übungskonzept für die Luftwaffe vor, das sowohl fachlich als auch
politisch Bestand hat.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Andreas Weigel für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jenseits aller emotionalen Diskussionen über den
Übungsplatz Wittstock gibt es sachliche Argumente, die
man vortragen und auf die man sich konzentrieren sollte.
Sachliche Argumente finden wir in zwei offiziellen Papieren der letzten Jahre, sowohl im Konzept für die Nutzung von Luft-Boden-Schießplätzen der Bundeswehr
vom August 2008 als auch im Bericht des Bundesrechnungshofes vom November 2007.
Ich will mit Letzterem beginnen. Der Bericht des
Bundesrechnungshofes über Wittstock ist, mit Verlaub,
vernichtend. Der Bericht widerlegt sämtliche Argumente
der Bundeswehr für die Einrichtung des Übungsplatzes.
Der Bericht legt präzise dar, dass die Bundeswehr nur
noch ein Drittel der veranschlagten Übungskapazitäten
ausnutzt und dass nur noch 26 Prozent der im Ausland
verfügbaren Kapazität genutzt werden. Der Bericht
macht deutlich, dass von der Notwendigkeit einer sogenannten gerechten Lastenverteilung zwischen Ost und
West nicht die Rede sein kann, da in Wittstock
1 700 Einsätze geplant sind und in Siegenburg im
Jahr 2005 gerade einmal acht Stunden im Jahr geübt
wurde. Dass die Kosten für dieses Projekt 270 Millionen Euro betragen sollen, sei, so der Bundesrechnungshof, angesichts dieser Bedarfsanalyse wirtschaftlich nicht begründbar.
Sämtliche Argumente, die im Hinblick auf die Bedarfsplanung für den Übungsplatz Wittstock angeführt
werden, stammen aus dem Jahr 1992, aus einer Zeit, in
der die Bundeswehr eine andere Bundeswehr als heute
war. Als es im Jahr 2008 um das Luftwaffenkonzept
ging, war das Bundesministerium der Verteidigung leider nicht in der Lage, die Argumente, die der Bundesrechnungshof ein Jahr zuvor in seinem Bericht angeführt
hatte, ausreichend zu widerlegen. Ganz im Gegenteil, es
wurde erneut auf einen Bedarf in der Größenordnung
von 2 200 Einsätzen im Jahr hingewiesen. Das ist deutlich weniger als die veranschlagte Kapazität in Höhe von
über 6 000 möglichen Einsätzen, die aus dem Jahr 2001
stammt.
Wie die im Zusammenhang mit dem Übungsbetrieb
entstehenden Lasten verteilt werden, ist nach meinem
Dafürhalten alles andere als gerecht. In Wittstock finden
1 700 Einsätze statt, in Nordhorn 1 000 und in Siegenburg 300. Ich bin mir nicht sicher, ob das Argument der
Lastenverteilung zwischen Ost und West - man könnte
auch sagen: zwischen Nord und Süd oder zwischen den
einzelnen Bundesländern - wirklich stichhaltig ist. Wir
sollten uns vielmehr mit der Frage beschäftigen: Wo sind
die richtigen Plätze für die Boden-Luft-Übungen der
Bundeswehr?
Außerdem haben wir nach wie vor im Ausland Kapazitäten, die es ermöglichen, die Übungen dort durchzuführen.
Ich sage deshalb sehr deutlich: Aus der heutigen Perspektive ist Wittstock Geschichte. Wir sollten das akzeptieren.
({0})
Der 1992 errechnete Bedarf ist nicht mehr vorhanden.
Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen: Wie sieht
ein realistischer Übungsbedarf der Bundeswehr tatsächlich aus? Heutzutage sind mehr taktische Übungen mit
gelenkter Munition notwendig. Dazu braucht es geeignete Übungsplätze. Im Übrigen: Nordhorn ist dazu nicht
in der Lage.
Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob die
ausländischen Übungsplätze, die zur Verfügung stehen,
nicht ausreichend sind. Wir müssen uns mit der Frage
beschäftigen, wie wir gemeinsam in Europa und innerhalb der NATO geeignete Möglichkeiten finden, die gemeinsamen Luftübungen, die durchzuführen sind, dort
durchzuführen, wo geeignete Plätze zur Verfügung stehen, nicht über dichtbesiedeltem Gebiet.
Als Verteidigungspolitiker will ich jedoch nicht verhehlen: Wir müssen - bei aller Emotionalität, mit der die
Debatte über dieses Thema geführt wird - die Einsatzfähigkeit unserer Luftwaffe gewährleisten. Dazu braucht
es die richtigen konzeptionellen Überlegungen. Ich
glaube daher, dass es wichtig ist, dass das Bundesministerium der Verteidigung jetzt nicht in weitere Prozesse
geht, sondern sich Gedanken macht, wie unsere Luftwaffe rechtzeitig und in absehbarer Zeit die notwendigen
Übungen durchführen kann, entweder hier in Deutschland oder in Europa oder in Nordamerika. Das ist die
Aufgabe, vor der wir stehen.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Winfried Nachtwei das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich spreche zu diesem Thema als Mitglied des Verteidigungsausschusses und als Sicherheitspolitiker, ich spreche zu diesem Thema aber auch als Abgeordneter, der
seinen Wahlkreis nicht in dieser Region hat, sondern aus
dem fernen Münster kommt, und ich spreche zu diesem
Thema als jemand, der seit 1996 so oft in dieser Region
war wie sonst nur auf dem Balkan und in Afghanistan.
Ich muss sagen, ich habe diese Region und ihre Menschen dabei sehr schätzen gelernt.
Meine Aufgabe - das ist unsere Aufgabe insgesamt ist, abzuwägen zwischen dem Übungsbedarf der Luftwaffe, wie er dem politisch gesetzten Auftrag entspricht,
und den Belangen der betroffenen Bevölkerung und
Wirtschaft. Seit inzwischen zehn Jahren beschäftige ich
mich intensiv mit der vermeintlichen Notwendigkeit dieses Übungsplatzes sowie des Übungsbetriebes der Luftwaffe im Luft-Boden-Spektrum überhaupt.
Das Ergebnis ist: Wittstock ist aus Sicht der Luftwaffe
- na klar - wünschenswert. Die entscheidende Frage ist
allerdings: Ist Wittstock militärisch unverzichtbar? Da
habe ich seit der rot-grünen Zeit, schon gegenüber Minister Struck, sehr deutlich Einwände erhoben. Auf diese
Einwände ist - diese Erfahrung habe ich über die Jahre
gemacht - ausgesprochen schludrig reagiert worden. In
der letzten Zeit hat sich das ein bisschen gebessert. Aber
es bleibt dabei: Militärisch zwingend notwendig ist
Wittstock nicht. Wie sonst wäre erklärbar, dass in den
vergangenen 17 Jahren - ohne Wittstock - nie eine Gefährdung der Einsatzfähigkeit der bundesdeutschen Luftwaffe gemeldet worden ist?
Ich habe am 27. März den Prozess beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg miterlebt. Man muss
sagen: Das Urteil ist sehr abgewogen, sehr differenziert,
keineswegs sicherheitspolitische Amtsanmaßung. Die
Kammer hat sich darauf beschränkt, etwas zu den planungsrechtlichen Verfahren zu sagen. Man hat schlichtweg festgestellt, dass eine Anforderung, die sich aus
dem inzwischen gewachsenen materiellen Planungsrecht
ergibt, nicht erfüllt worden ist: Eine Abwägung zwischen wichtigen verteidigungspolitischen Bedürfnissen
und kleineren, individuellen Bedürfnissen hat nicht stattgefunden. Das ist ein grundsätzlicher und massiver Verfahrensmangel.
({0})
Was sind die politischen Konsequenzen? Strittig war
das Vorhaben Luft-Boden-Schießplatz Wittstock von
Anfang an, schon als die damalige Koalition das Truppenübungsplatzkonzept inklusive Wittstock im Jahre
1993 hier im Bundestag beschlossen hat. Die damaligen
Oppositionsfraktionen Bündnis 90, PDS und SPD haben
übrigens in einer namentlichen Abstimmung geschlossen dagegengestimmt.
({1})
Inzwischen dauert dieser politische Streit seit 17 Jahren an. Drei Landtage und drei Landesregierungen haben
sich einmütig dagegenbekannt. Der Rechtsstreit dauert
mittlerweile 15 Jahre. Herr Staatssekretär Schmidt, unsere Zählungen, was die verlorenen Verfahren angeht,
sind höchst gegensätzlich. Wir haben von sehr kompetenten Leuten die Information bekommen, dass seit 1995
vom Bund 25 Verfahren in Folge verloren wurden. Ich
habe selbst zentrale Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht, vor dem Verwaltungsgericht Potsdam und
jetzt vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mitbekommen. Das zuletzt genannte Gericht bescherte dem Bund eine krachende Niederlage; das muss
man wirklich so sagen.
In 17 Jahren war dieser Luft-Boden-Schießplatz nicht
durchsetzbar. Es ist keine vage Prognose, sondern mit
Sicherheit anzunehmen, dass er auch in den nächsten
zehn Jahren nicht durchsetzbar sein wird. Daher hätte
ein weiteres Festhalten an diesem Vorhaben Schaden für
alle Beteiligten zur Folge:
({2})
für die Region selbst Planungsunsicherheit und Investitionsunsicherheit, wie sie bisher schon zu spüren waren,
und für die Bundeswehr ebenfalls Planungsunsicherheit
und zumindest in zwei Bundesländern einen Akzeptanzverlust, der sich gewaschen hat. In Einsatzländern würde
sich die Bundeswehr niemals das erlauben, was man sich
in Brandenburg erlauben zu können meint. Daran ist
übrigens nicht einfach die Bundeswehr schuld, sondern
das Verteidigungsministerium. Dem vor Ort befindlichen Oberstleutnant Engel kann man das als Letztem
vorwerfen. Schließlich hätten auch die Parteien der Großen Koalition ihren Schaden davon.
Meiner Auffassung nach ist es also ein Gebot realpolitischer Klugheit, jetzt das Vorhaben zu stoppen. Gesichtswahrend ist es obendrein.
({3})
Über Sie, Herr Schmidt, spreche ich jetzt den Minister
direkt an: Niemand im Verteidigungsministerium kann
vom Verteidigungsminister erwarten, dass er sich für
eine aussichtslose Sache verkämpft. Mein Appell deshalb an Minister Jung: Zeigen Sie Klugheit und Stärke
im Amt! Es wäre ein Gewinn für die demokratische Kultur unseres Landes und kein Schaden für die Sicherheit
Deutschlands, wenn Sie dem politischen und juristischen
Dauerstreit ein Ende machten.
Danke schön.
({4})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Bernd
Siebert das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns heute mit einem komplexen Sachverhalt, wie die Diskussionsbeiträge eben schon gezeigt
haben. Auf Antrag der Fraktion Die Linke diskutieren
wir heute im Rahmen dieser Aktuellen Stunde über zahlreiche Facetten des Fliegerübungsplatzes Wittstock/
Kyritz-Ruppiner Heide, den seine Gegner emotional aufgeladen - so steht es auch in dem Antrag für die heutige
Aktuelle Stunde - als „Bombodrom“ bezeichnen.
Diese Bezeichnung hat allerdings auf die Situation bis
1990 trefflich gepasst, als das Gelände vom sowjetischen Militär besetzt war, die Eigentümer enteignet waren - das war damals Enteignung - und ein Bombenabwurfplatz mit einer Fläche von 12 000 Hektar errichtet
wurde. Die UdSSR hatte dort 8 000 Soldaten stationiert,
flog 24 000 Einsätze im Jahr - auch nachts und an Sonnund Feiertagen - und nahm weder auf Fragen der Lärmbelästigung und der Umwelt noch auf die Menschen
Rücksicht. Allein schon die Tatsache, dass Sie die Bundeswehr, die sich selbst strengsten Umwelt- und Lärmbeschränkungen unterwirft, in gedanklicher Linie mit einer Besatzungsarmee nennen, zeigt, welche emotionalen
Bindungen Sie nutzen wollen. Aber wer die Bundeswehr
abschaffen will, braucht sich auch über die Ausbildung
keine soliden Gedanken zu machen.
Unsere Luftwaffenpilotinnen und -piloten benötigen
aber hinreichende Möglichkeiten zum Üben verschiedener Einsatzverfahren, um allen denkbaren Szenarien gerecht zu werden. Wir als Parlamentarier tragen die Verantwortung dafür, dass unsere Soldatinnen und Soldaten
nicht nur die beste Ausrüstung erhalten, sondern auch
die optimale Ausbildung. Dieser Verantwortung stellen
sich CDU und CSU uneingeschränkt - nicht nur in der
Vergangenheit, sondern auch in Zukunft.
In dem Konzept der Luftwaffe ist der Betrieb der drei
Übungsplätze in Nordhorn, Siegenburg und Wittstock
vorgesehen. Das wurde übrigens Anfang der 90er-Jahre
im Deutschen Bundestag beschlossen. Damit ist neben
nationalen Trainingsmöglichkeiten auch eine möglichst
gerechte Lastenverteilung in unserem Land gewährleistet. Dieser Solidaritätsaspekt ist neben den erwähnten
operativen Aspekten ebenfalls zu beachten.
Einen Großteil ihrer Ausbildung führt die Luftwaffe
im Ausland und über See durch. Allerdings muss sie
auch Gelegenheit haben, in Deutschland zu üben. Die
Bundeswehr hat seit dem 22. Dezember 1993, an dem
sie Wittstock übernahm, fast fünfzehneinhalb Jahre lang
versucht, eine Betriebserlaubnis zu erhalten. Es ist eine
schwere Hypothek für die Bewohner der Region - egal,
ob Gegner oder Sympathisanten der Bundeswehr -, mit
dieser unbefriedigenden Situation zu leben. Der Rechtsstreit währt nun bereits über eineinhalb Jahrzehnte. Das
zeigt, dass alle Parteien ihre Interessen mit großer Überzeugung vertreten. Dazu gehören die Interessen der
Streitkräfte und der Sicherheitsvorsorge für Deutschland
ebenso wie die der Anwohner und der betroffenen Wirtschaft.
Nun müssen wir ein neues Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg zur Kenntnis nehmen.
Ohne eine Bewertung der schriftlichen Begründung, die
in circa sechs Wochen zu erwarten ist, macht es meiner
Ansicht nach aber nur wenig Sinn, eine Entscheidung
über das weitere Vorgehen zu treffen. Ich denke, dass
nach fast 20-jähriger Auseinandersetzung dann die Zeit
reif für eine Entscheidung ist. Meiner Ansicht nach kann
dies nur ein Kompromiss zwischen den berechtigten Interessen aller Betroffenen sein. Dabei müssen die touristische Entwicklung und die Lebensqualität der Anwohner, aber auch die nationalen Sicherheitsinteressen, die
Qualität der Ausbildung unserer Flugzeugbesatzungen
und die Solidarität mit unseren Verbündeten in der
NATO und den Anwohnern der anderen Übungsplätze in
Deutschland berücksichtigt werden.
Wir können unsere Piloten nicht ohne eine optimale
Vorbereitung in den Einsatz schicken. Es macht andererseits jedoch nur wenig Sinn, endlose Jahre bis zur juristischen Entscheidung zu warten,
({0})
von der wir nicht wissen, lieber Winfried Nachtwei, wie
sie letztendlich ausfallen wird.
Nach der Beurteilung bzw. Bewertung der Begründung des Urteils und unabhängig davon, ob in der Zukunft weitergeklagt wird oder nicht, muss hinsichtlich
der Neuausrichtung eines Ausbildungs- und Nutzungskonzepts zumindest ein Nachdenkensprozess in Gang
gesetzt werden. Weder den Menschen vor Ort noch der
Bundeswehr selbst ist es zuzumuten, weitere lange Jahre
in Ungewissheit zu leben.
({1})
Ich bin deshalb davon überzeugt, dass sich das Bundesministerium der Verteidigung mit Nachdruck für ein
Konzept einsetzen wird, mit dem das vollständige Ausbildungsprogramm unserer Flugzeugführer langfristig
und zuverlässig gewährleistet werden kann, aber auch
die Interessen der Bevölkerung berücksichtigt werden.
Ich halte es für dringend notwendig, dass unsere Partner
in Europa mit in die Überlegungen zu diesem Konzept
einbezogen werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Schon seit 17 Jahren ist die Geschichte der
Kyritz-Ruppiner Heide eine Geschichte der verhinderten
Schließung.
Diese begann - das möchte ich sagen - unter RotGrün. Im entsprechenden Koalitionsvertrag wurde versprochen, die Schließung zu prüfen. Tatsächlich haben
aber sowohl Verteidigungsminister Struck als auch vorher Herr Scharping nichts anderes angepeilt, als dieses
Bombodrom zu betreiben, das heißt: Täuschung und
Enttäuschung in dieser Frage.
({0})
Auch die jetzige Regierung hat nichts anderes im
Blick, als dort das Bombardierungstraining vornehmlich
für deutsche und andere NATO-Soldaten durchführen zu
lassen. Das hat einen Grund im strategischen Konzept
der NATO. Dieses wurde während des Jugoslawienangriffskriegs beschlossen. Es sieht vor, dass diese Luftkriegsübungen mit einer Obergrenze von 1 700 Luftwaffeneinsätzen pro Jahr trainiert werden können.
Gegen einen solchen Übungsplatz hat die Friedensbewegung gerade jetzt an Ostern mit 12 000 Menschen demonstriert. Dazu möchte ich diesen Menschen jetzt noch
gratulieren.
({1})
Sie sind durch einen Gerichtsentscheid des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg von Ende März gestützt. Man höre, das Verteidigungsministerium spricht
davon, dass es für den Afghanistan-Einsatz notwendig
sei, Luftnahunterstützung zu üben. Deshalb hält man am
Bombodrom fest. Wollen wir doch also einmal klarstellen, dass das, was die NATO unter Partnerschaft für Frieden betreibt, nichts anderes ist als das Betreiben von tatsächlichen Kriegsübungen.
({2})
Weder in Afghanistan noch sonst wo auf der Welt gibt es
ein Bedrohungsszenario, das das Üben erforderlich
macht, Menschen mittels Luftwaffe durch Bombardements zu bedrohen oder sie gar zu töten. Deutsche Außenpolitik sei Friedenspolitik, heißt es allenthalben
schönfärberisch. Sicher ist nur eines: Die Sicherheitsfragen von heute und auch die der Zukunft können nur gelöst werden, wenn der Einsatz militärischer Mittel aufgegeben wird. Nur wenn endlich der Weg der Abrüstung
und der Demilitarisierung gegangen wird, hat der Frieden eine Chance. Deshalb sind die Fragen im Zusammenhang mit dem Bombodrom auch so politisch.
({3})
Deshalb wollen wir die definitive Schließung.
Wie gesagt, alle Pläne haben mit der NATO zu tun.
Wir wollen, dass von dem Boden dieser Region keine
Übung für eine Weltpolizeirolle der NATO ausgeht. Wir
Linken wollen dafür keinen Boden bereitstellen. Es ist
notwendig, hervorzuheben, dass das Bombodrom eine
ganz neue Bestimmung bekommen soll, nämlich eine zivile Bestimmung. Die 1 000 Menschen, die nachdrücklich gegen die militärische Nutzung vorgehen, haben
Frieden und Sicherheit in ihrem ganz konkreten Alltag
im Sinn. Sie haben aber auch im Blick, dass der Frieden
für die Menschen in der Welt nicht gewährleistet werden
kann, wenn bei ihnen zu Hause diese Übungen durchgeführt werden. Deshalb denken diese Menschen weit über
ihr regionales Interesse hinaus.
({4})
Sie haben natürlich auch im Sinn, dass dort endlich ein
naturverbundener Tourismus entstehen kann und dass
Arbeitsplätze in einer Region entstehen können, die von
überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit betroffen ist.
Wer von Ihnen will diesen Menschen ernsthaft diese Zukunftsoptionen nehmen? Wenn ein Bombodrom kommt,
ist all diese Planung passé. Sagen Sie den Menschen
bitte vor Ort, dass Sie ihre wirtschaftliche und soziale
Entwicklung nicht fördern wollen.
({5})
Jene, die das Bombodrom aber ablehnen, haben eine
friedliche Welt vor Augen. Sie haben auch die Bilder der
bombardierten Städte und Dörfer in Jugoslawien, im
Irak, im Kaukasus, in Gaza und in Afghanistan vor Augen. Sie sind mit den Opfern solidarisch und sagen deshalb Nein zur Luftwaffe vor ihrem Haus.
({6})
Ich möchte hier noch kurz erwähnen, dass bekannt ist,
dass der NATO-Gipfel in Straßburg seine Zukunftsplanungen wieder einmal hinter verschlossenen Türen
durchführen will und eine Expertengruppe einberufen
hat, die eine neue Legitimationsberechtigung für die
NATO ersinnen soll. Was soll das anderes heißen, als der
NATO neue Kriegsführungsgründe zu geben? Die demokratische Befassung mit den Zielen der NATO ist dem
Parlament, der Öffentlichkeit und den politischen Parteien vorzubehalten und nicht in geheimen Zirkeln auszubaldowern und uns dann als neue Sicherheitsstrategie
zu präsentieren.
({7})
Wir brauchen auch in diesem Wahljahr eine öffentliche Befassung mit der Frage, wie Friedenspolitik in Europa, wie Zukunftssicherung mit nichtmilitärischen Mitteln erreicht werden kann. Dafür brauchen wir keine
NATO. Dafür brauchen wir keine Truppenübungsplätze.
Insofern ist die Linke absolut solidarisch mit dem, was
die Bevölkerung dort seit Jahr und Tag fordert. Wir unterstützen das.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Jörn Thießen für die SPDFraktion.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit einer solchen Rede, wie meine Vorrednerin sie gehalten hat, erweist sie auch den Gegnerinnen und Gegnern dieses
Übungsplatzes einen Bärendienst. Es ist erschütternd,
was man sich hier anzuhören hat.
({0})
Es gibt gute Gründe dafür, dass auch in Deutschland
gut geübt wird. Es hat über Jahre unter seriösen Menschen gute Gründe gegeben, auch über den Luft-BodenSchießplatz Wittstock zu diskutieren. Dass wir Prozesse
verlieren, bedeutet nicht, dass die politischen und militärischen Gründe sofort obsolet werden, die dazu geführt
haben, dass eine ernsthafte Diskussion geführt worden
ist, wie wir auch ernsthaft über die anderen Luft-BodenÜbungsplätze diskutiert haben - Kollege Nachtwei weiß
das genauso gut wie ich -: über Siegenburg und Nordhorn, die Belastung der Bevölkerung, die Verantwortlichkeit solcher Einsätze und insbesondere darüber, dass
Soldaten und vor allen Dingen Piloten üben müssen.
Das ist nämlich eine Verpflichtung, der wir politisch
und militärisch nachkommen müssen. Dies bedeutet
Üben unter verlässlichen und realistischen Bedingungen.
Unter diesen Bedingungen wäre genau dieser Platz in
Wittstock in der Bundesrepublik Deutschland am besten
geeignet. Das ist Fakt. Darüber kann man nicht hinwegsehen.
({1})
Es geht darum, dass Menschen geschützt werden. Bei
notwendigen Einsätzen, die kein Mensch in diesem
Hause leichtfertig beschließt, sollen wir Soldaten, die in
der Luft oder am Boden eingesetzt sind, und natürlich in
erster Linie Unschuldige und Zivilistinnen und Zivilisten
schützen. Das verlangt man von uns militärisch, und
man verlangt es von uns politisch.
Ich vermute, dass diejenigen, die heute leichtfertig
bereit sind, auf den Platz in Wittstock zu verzichten, uns
morgen fragen werden, ob wir alles Nötige getan haben,
damit die Ausbildung möglichst gut, präzise und realitätsnah durchgeführt werden kann. Dann fällt die Antwort nicht leicht, auch deswegen, weil wir aufgrund der
zukünftigen Einsatzszenarien die Ausbildung verbessern
müssen und weil uns der Schutz in der Luft und am Boden besonders am Herzen liegt und politisch dringend
notwendig ist.
Das sind die Gründe, die für eine seriöse Debatte gesprochen haben und bis heute dafür sprechen. Dennoch
ist es wahr: Sehr viele Prozesse sind verloren worden.
({2})
Wir haben weniger Einsatzflugzeuge denn je, und ein
zeitnahes Ende der juristischen Verhandlungen ist - so
habe ich auch den Kollegen Siebert verstanden - kaum
abzusehen. Letzten Endes bin ich auch dafür, dass das
BMVg daraus die nötigen Konsequenzen zieht.
({3})
Deshalb regen wir an, auf den juristischen Widerspruch
gegen Wittstock zu verzichten, Herr Staatssekretär und
Herr Bundesminister. Wir regen ebenso an, darauf zu
achten, dass dies nicht automatisch bzw. gar nicht zu einer Mehrbelastung in Nordhorn und Siegenburg führt,
weil bestimmte Szenarien dort auch gar nicht geübt werden können.
({4})
Ebenso wichtig ist, dass optimale Übungsbedingungen
hergestellt werden. Sofern sie nicht schon bestehen,
müssen wir uns darum kümmern.
Als Letztes - das ist das Schwierigste - werden wir
uns auf der administrativen wie auf der politischen Seite
mit einem europäischen Übungskonzept befassen müssen. Denn am Ende bleibt es unsere Verantwortung in
diesem Hohen Hause, für den bestmöglichen Schutz von
Zivilisten und Soldaten zu sorgen. Dies wird zu meinem
eigenen Bedauern, aber realistischerweise höchstwahrscheinlich ohne den Platz in Wittstock möglich sein
müssen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über die militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner
Heide währt seit bald 20 Jahren. Es ist völlig ausgeschlossen, in fünf Minuten auch nur annähernd ausreichend alle Facetten dieser Geschichte zu beleuchten.
Trotzdem will ich einige Punkte dieser Geschichte aufführen.
Kollege Nachtwei hat schon darauf hingewiesen:
1993 hat der Deutsche Bundestag das Truppenübungsplatzkonzept zur gerechten Lastenverteilung zwischen
den drei Luft-Boden-Schießplätzen in Nordhorn, Siegenburg und Wittstock beschlossen; Sie haben auch über
das damalige Abstimmungsverhalten berichtet. 1994 hat
der SPD-Kanzlerkandidat Rudolf Scharping bei einem
Vor-Ort-Besuch in Wittstock das Wahlversprechen abgegeben, als Bundeskanzler die militärische Nutzung der
Kyritz-Ruppiner Heide aufgeben zu wollen. Bundeskanzler ist er nicht geworden, wohl aber 1998 Bundesverteidigungsminister. Als Bundesverteidigungsminister hat Rudolf Scharping die militärische Nutzung der
Kyritz-Ruppiner Heide nachhaltiger vorangetrieben als
sein Vorgänger im Amt.
Im Grundsatzurteil aus dem Jahr 2000 hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass das Gelände
grundsätzlich für militärische Zwecke genutzt werden
darf, aber als Voraussetzung ein Anhörungsverfahren mit
Folgenabschätzung festgelegt. Auf dieser Grundlage hat
die damalige rot-grüne Bundesregierung ein entsprechendes Anhörungsverfahren eingeleitet. Nachdem sich
in diesem Anhörungsverfahren 21 von 22 Beteiligten
nachhaltig gegen eine militärische Nutzung ausgesprochen hatten, hat der Verteidigungsminister - mittlerweile
Peter Struck - die Betriebsgenehmigung mit sofortiger
Vollziehung angeordnet. Diese damalige Anordnung war
der Ausgangspunkt einer Prozessflut, die mit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg am 27. März 2009 ihr vorläufiges Ende genommen
hat. Warum sage ich „vorläufiges Ende“? Ostern dieses
Jahres macht Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier den
„Scharping rückwärts“. Er erklärt, dass er nun gegen die
militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ist. Die
SPD hat die Aufgabe dieses Projektes in ihr Bundestagswahlprogramm aufgenommen, erklärt aber auch, dass
sie gegen eine Abstimmung im Bundestag ist. Gleichzeitig erwägt die Bundesregierung, in Revision zu gehen.
Nach diesem in den letzten 18 Jahren leider sehr oft
von partei- und wahltaktischem Theater überschatteten
Prozess darf sich keiner von uns hier im Hause darüber
wundern, dass die Akzeptanz bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern in Wittstock und Umgebung bei null
liegt.
({0})
Leider ist in diesem lautstarken öffentlichen Gezänk
auch die Tatsache fast vollständig in Vergessenheit geraten, dass eine leistungsfähige Luftwaffe - und die große
Mehrheit dieses Hauses will diese - Übungsmöglichkeiten braucht. Auch ist in Vergessenheit geraten, dass die
durch die Übungsplätze betroffenen Menschen in Siegenburg und Nordhorn bis heute vergebens auf die zugesagte Entlastung warten.
({1})
Auf drei Punkte zur aktuellen Situation und als Empfehlung für das weitere Vorgehen möchte ich eingehen.
Erstens. Nach meiner Meinung ist das Projekt Luft-Boden-Schießplatz Kyritz-Ruppiner Heide politisch am
Ende. Es ist völlig ausgeschlossen, dass es, selbst wenn
eventuell eine Inbetriebnahme juristisch durchsetzbar
wäre, auch nur ansatzweise eine Akzeptanz bei der betroffenen Bevölkerung in der Region geben wird.
Zweitens. Auch juristisch ist das Verfahren in einer
Sackgasse, nicht weil es keine Rechtsmittel mehr gäbe
- diese wird es wahrscheinlich noch 10 oder 20 Jahre geben -, nein, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass
weitere jahrelange Prozesse nicht der Weg zum Ziel sein
können. Wir müssen politisch entscheiden.
Drittens. Es ist nach meiner Überzeugung notwendig,
dass die Bundesregierung ein Alternativkonzept erarbeitet. Dabei sind auch mögliche naheliegende ausländische,
insbesondere europäische Standorte einzubeziehen, auf
denen zum einen die notwendige Übungsfähigkeit der
Luftwaffe sichergestellt wird und wobei zum anderen die
militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide aufgegeben und die vor fast 20 Jahren versprochene Entlastung
von Siegenburg und Nordhorn umgesetzt werden kann.
Ich respektiere, dass sich der Bundesverteidigungsminister vorbehält, vor einer Entscheidung über eine Revision die Urteilsbegründung, die hoffentlich bald vorliegen wird, gründlich zu analysieren. Für unwahrscheinlich
halte ich, dass sich meine Meinung und Überzeugung
nach intensivem Studium der Urteilsbegründung ändert.
Ich habe die Hoffnung, dass auch die Bundesregierung zu dieser Überzeugung kommt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Bahr für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was die Aktuelle Stunde eigentlich bringen soll, haben
die Rednerinnen der Fraktion, die sie beantragt hat, deutlich gemacht. Es geht ihnen nur vordergründig um die
Schließung dieses Platzes. Dahinter stehen ganz andere
Ziele.
Die Geschichte der Behandlung dieses Themas im
Bundestag zeigt deutlich, wie schwierig es ist, mit
rechtsstaatlichen und demokratischen Mitteln bestimmte
Ernst Bahr ({0})
Themen zu einem Erfolg zu führen. Dass alle Seiten ihre
Möglichkeiten haben, in der Auseinandersetzung die Instrumente zu nutzen, die Demokratie und Rechtsstaat
bieten, zeigt sich exemplarisch an diesem Beispiel.
Dass die Bundeswehr üben muss, ist völlig klar. Das
stelle ich überhaupt nicht infrage. Die Frage ist nur, ob
sie diesen Platz braucht. Deshalb möchte ich gern die
Lage aus meiner Sicht darstellen. Die Schwierigkeit der
Auseinandersetzung zeigt sich zweifellos auch in meiner
eigenen Partei und in meiner eigenen Fraktion. Ich
denke, das braucht man im Rahmen einer demokratischen und rechtsstaatlichen Auseinandersetzung auch
nicht zu leugnen.
Seit 17 Jahren finden in der Kyritz-Ruppiner Heide
keine militärischen Übungen mehr statt, und das ist auch
gut so. Zum 25. Mal entschieden Gerichte gegen die Einrichtung dieses Übungsplatzes. Das Engagement und der
Erfolg der Bürgerinitiativen zeigen, wie Demokratie
funktioniert.
({1})
Auf allen politischen Ebenen hat die SPD die Bürgerinitiativen stets dabei unterstützt, unser gemeinsames
Ziel zu erreichen. Wir haben es in den letzten Jahren geschafft, die bundesweite Bedeutung eines scheinbar regionalen Themas klarzumachen, und wir haben dafür gesorgt, dass das Thema im Bewusstsein des Parlaments
präsent bleibt.
({2})
Wir haben innerhalb der SPD-Fraktion die Meinungsbildung der Unterstützer für eine freie Heide vorangetrieben. Der Hamburger Bundesparteitag der SPD hat
sich Ende Oktober 2007 mit eindeutigen Beschlüssen für
eine friedliche Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ausgesprochen. Darin wird das Bundesverteidigungsministerium aufgefordert, ohne Zeitverzug die Pläne für die
Errichtung eines Luft-Boden-Schießplatzes aufzugeben.
Vor allem wird geltend gemacht, dass die Regionalentwicklungen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern eine zügige Entscheidung benötigen. Wirtschaftsund Tourismusentwicklung sind gerade auch in dieser
Region sehr wichtig und würden von einem Truppenübungsplatz zu stark beeinträchtigt werden.
In dem Entwurf für unser zukünftiges Regierungsprogramm haben wir die Forderung einer friedlichen Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide fest verankert, und das
ist zu Recht geschehen. Wir als SPD treten dafür ein, den
Rechtsstreit um die zukünftige Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide zu beenden und auf eine militärische Nutzung zu verzichten. Sämtliche Fakten sprechen für eine
freie Heide.
Der Bundesrechnungshof hat dem Deutschen Bundestag Ende November 2007 einen Bericht zur Auslastung
von Übungsmöglichkeiten der Bundeswehr übermittelt.
Der Bericht bekräftigt ausdrücklich die Argumentation der
Gegner eines Truppenübungsplatzes in der Kyritz-Ruppiner Heide. So beanstandet der Bundesrechnungshof,
dass die Nutzungskonzepte der Luftwaffe nicht mehr
annähernd dem Bedarf entsprechen. Die tatsächliche
Nutzung der inländischen Schießplätze ging seit der Forderung nach zusätzlichen Übungsmöglichkeiten im
Jahre 1992 bis 2004 um 86 Prozent zurück.
Ich bin davon überzeugt, dass es nicht wieder zu einer
militärischen Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide kommen wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Nun hat der Kollege Dr. Hermann Kues für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich spreche hier als Bundestagsabgeordneter für die
Grafschaft Bentheim und für das Emsland. Dort liegt
Nordhorn Range. Ich habe mich eben gefragt, was den
Menschen dort durch den Kopf geht, die diese Debatte
verfolgen.
({0})
Im Zusammenhang mit der Kyritz-Ruppiner Heide wird
von 17 Jahren gesprochen. Den Bombenabwurfplatz in
Nordhorn gibt es seit Mitte des Zweiten Weltkriegs, also
seit fast 70 Jahren. Seit dieser Zeit werden Übungsflüge
durchgeführt, weil man sagt: Wenn wir eine Luftwaffe
haben wollen, dann muss sie auch üben können, dann
braucht sie für diese Übungen einen Platz.
Ich finde, wir in Deutschland machen es uns etwas zu
einfach. Wir führen Standortdiskussionen. Wir betrachten die jeweiligen Standorte und benennen die dortigen
Probleme. Im Grunde genommen müssten wir Bundespolitiker es doch leisten, auch für den Bund und nicht
nur für unsere Heimatregion die Verantwortung zu tragen. Das ist ganz wichtig; darauf müssen wir Wert legen.
({1})
Ich erwarte im Grunde genommen, dass wir die Aussagen, die wir bezüglich Wittstock treffen, auch bezüglich Nordhorn treffen. Wir sollten den Menschen in
Nordhorn das Gleiche wie den Menschen in Wittstock
sagen.
({2})
Ich erwarte das auch von den Parteien: Ich erwarte das
von der CDU; ich erwarte es aber auch von der SPD.
Ich habe in den letzten 15 Jahren Erfahrungen gesammelt. Ich habe viele Kanzlerkandidaten kommen und
gehen sehen; die meisten sind nie Kanzler geworden.
Derjenige, der es geschafft hat - er hatte kürzlich Geburtstag -, hat, schon als er Ministerpräsident werden
wollte, in Nordhorn erklärt: Wenn ich erst Ministerpräsident bin, ist dieser Platz in null Komma nichts weg. Als
er dann Ministerpräsident war, hat er gesagt: Das kann
das Land gar nicht entscheiden; aber wenn ich Bundeskanzler bin, ist dieser Platz in null Komma nichts weg.
Ich habe viele Verteidigungsminister erlebt, die das
Gesamtkonzept, das irgendwann gemeinsam beschlossen worden ist - zu einem Zeitpunkt, zu dem ich dem
Bundestag noch gar nicht angehört habe -, vertreten haben. Ich sage ausdrücklich: Viel zu viele machen es sich
bei diesem Thema zu einfach; sie machen sich einen
schlanken Fuß. Das kann ich nicht akzeptieren.
({3})
Das ist Handeln nach dem Sankt-Florians-Prinzip. Das
kann man auch auf andere Politikbereiche anwenden.
Auch ich bin nicht begeistert, was die planungsrechtlichen Abläufe angeht, und über das, was das Verteidigungsministerium dort offenkundig über viele Jahre zuwege gebracht hat. Ich habe erlebt, dass wir über
Konzepte für Luftwaffenstandorte geredet haben. Ich
war immer dafür, dort, wo es Belastungen gibt, auch attraktive Einrichtungen zu schaffen. Für Wittstock reden
wir sogar darüber, bei Nordhorn Range war das nicht
möglich - meines Erachtens wider besseres Wissen. Es
kann nicht sein, dass man den einen sagt: „Ihr könnt
keine Belastung tragen“, und den anderen sagt: „Ihr
müsst sie auf Dauer tragen“.
Ich will etwas zu der Größenordnung sagen. Nordhorn Range umfasst 2 200 Hektar. Wittstock umfasst dagegen 12 000 Hektar. Es ist kaum vorstellbar, dass Wittstock nicht in Betrieb genommen wird - auch wenn
wichtige Argumente dafürsprechen, etwa „Tourismus“;
alle diese Argumente gelten für Nordhorn aber in gleicher Weise - und dass die Belastung Nordhorns bleibt.
Ich will ausdrücklich sagen: Die Gesamtbelastung Nordhorns ist in den vergangenen Jahren reduziert worden;
dort haben wir eine ganze Menge erreicht.
Ich bin bereit, über ein gesamteuropäisches Konzept
zu reden; das ist in Ordnung. Wir, Deutschland, müssen
uns irgendwann fragen, ob wir Belastungen immer ins
Ausland verlagern wollen, während interessante Standorte bei uns angesiedelt werden sollen. Ich finde, wir
sind nicht ganz ehrlich.
Was die Spaziergänge in der Ruppiner Heide angeht,
sage ich unmissverständlich: Die Medien sind nicht ganz
fair, weil sie diesen komplexen Sachverhalt in der Regel
nicht vollständig darstellen. Darüber berichten häufig
diejenigen, die eine Leidenschaft für die Ruppiner Heide
haben. Diese Leidenschaft habe ich auch; ich bin da
ebenfalls schon unterwegs gewesen. Es ist eine wunderschöne Gegend. Ich kann Ihnen aber sagen: Nordhorn im
Emsland ist ebenso schön. Wenn Sie dort einmal gewesen sind - ich habe eben die Größenordnung genannt -,
dann wissen Sie, was für eine Belastung die militärische
Nutzung für diese Region ist.
({4})
- Auch Sie sind da gewesen; das weiß ich. Allerdings
sind Sie - damit meine ich nicht Sie persönlich, sondern
Ihre politische Ausrichtung - überhaupt nicht glaubwürdig. Sie arbeiten aus polemischen Gründen mit Begriffen
wie Bombodrom, die etwas mit der Zeit zu tun haben,
als die Rote Armee dort tätig war. Diese Begrifflichkeit
versuchen Sie jetzt politisch zu nutzen. Das ist schäbig
und trägt nicht zu einer Lösung der Problematik bei.
({5})
Ich kann nur sagen: Wir brauchen ein Gesamtkonzept. Das Thema „Standortübungsplätze/Luft-BodenSchießplätze“ ist eine unendliche Geschichte. Ich verlange für die Grafschaft Bentheim und das Emsland das
gleiche Recht wie für andere Regionen Deutschlands;
ich nehme an, der Kollege Dieter Steinecke wird das genauso tun. Es kann nicht sein, dass man die verschiedenen Seiten gegeneinander ausspielt. Das, was mit Blick
auf Wittstock versprochen wird - von dem einen oder
anderen auch im Wahlprogramm -, kommt mir sehr bekannt vor; das hat es alles schon gegeben. Ich verlange
ein Gesamtkonzept, und ich verlange, dass die Menschen in Nordhorn und im Emsland nicht anders behandelt werden als die Menschen in Wittstock.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dieter Steinecke für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hermann Kues hat mich schon angekündigt als Abgeordneten der Grafschaft Bentheim und des südlichen
Emslandes. Insofern wird man auch meine Ausführungen unter diesem Aspekt einordnen müssen.
Ich verstehe natürlich die Sorgen und Ängste der
Menschen rund um die Kyritz-Ruppiner Heide gut. Natürlich, so möchte ich hinzufügen, verstehe ich sie sehr
gut; denn in meiner Heimat gehören Lärm und Gefahr
durch tieffliegende Militärflugzeuge, durch Schieß- und
Bombardierungsübungen zum Alltag - Hermann Kues
hat schon darauf hingewiesen -, und das nicht erst seit
gestern, sondern seit 70 Jahren.
Seit mehr als 50 Jahren wird der Übungsplatz Nordhorn Range von der Luftwaffe der Bundeswehr und von
fliegenden Einheiten unserer Verbündeten genutzt, tags
und nachts. Mehr als 75 Prozent aller derartigen Übungen und 100 Prozent aller Nachtübungen auf dem deutschen Festland entfallen auf die Nordhorn Range.
Das bedeutet eine seit Jahrzehnten andauernde Belastung und Gefährdung der Menschen in der Grafschaft
Bentheim und im südlichen Emsland. Diese Region ist
nicht gerade dünn besiedelt. In unmittelbarer Nähe von
Nordhorn Range wohnen 300 000 Menschen. Der
Übungsplatz grenzt unmittelbar an die 50 000-Einwohner-Stadt Nordhorn, das ebenso große Lingen mit seinem Atomkraftwerk liegt nur wenige Flugsekunden entfernt.
Seit Jahren und Jahrzehnten kämpfen die Bürgerinnen
und Bürger in meiner Heimat für eine Schließung der
Range, und ich kämpfe mit ihnen. Das macht uns übrigens keineswegs zu Gegnern jener Menschen, die sich
gegen die Inbetriebnahme des Übungsplatzes bei Neuruppin wenden.
({0})
Im Gegenteil: Wir unterstützen einander gegenseitig,
weil wir wollen, dass alle Menschen überall möglichst
unbehelligt leben können.
({1})
Die Bürgerinnen und Bürger im nördlichen Brandenburg
und im südlichen Mecklenburg-Vorpommern haben
vollkommen recht, wenn sie sich wehren gegen Lärm
und Gefahr.
Meine Damen und Herren, ich vertrete also keine
Politik nach dem berüchtigten und in jeder Hinsicht fragwürdigen Sankt-Florians-Prinzip. Was mich allerdings
umtreibt, ist die Frage nach Gerechtigkeit und Solidarität, weil Sankt Florian immer in zwei Richtungen wirkt.
Die Landesverteidigung und die Bündnisverpflichtungen
der Bundesrepublik bringen Lasten mit sich - darüber
wurde heute schon genug gesprochen -, und diese müssen gerecht verteilt werden; auch das ist heute schon gesagt worden. Nicht zuletzt deshalb wurden ja überhaupt
die Planungen angestellt, den Schießplatz in Brandenburg wieder in Betrieb zu nehmen.
Den Menschen rund um Nordhorn wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder gesagt: Die
Übungen bei euch müssen sein; die können wir nicht ins
Ausland verlagern. - Jetzt liegt folgende Situation vor:
Der Platz bei Wittstock geht vorerst nicht in Betrieb, und
alles, was eigentlich schon jetzt dort stattfinden sollte,
wird woanders geflogen.
Die Bürgerinnen und Bürger in meiner Heimat fühlen
sich mittlerweile, gelinde gesagt, verschaukelt. Sie kommen zu mir und sagen: Siehst du, auf einmal geht es
woanders doch. - Für uns vor Ort gibt es da eine klare
Glaubwürdigkeitslücke, und daher fordere ich an dieser
Stelle: Wenn Nordhorn Range auf längere Sicht scheinbar der einzige brauchbare Luft-Boden-Schießplatz in
Deutschland bleibt, dann müssen grundsätzlich neue
Übungskonzepte her.
Wenn die Inbetriebnahme des Platzes in Nordbrandenburg zum Schutz der Menschen unterbleiben muss,
dann muss dieser Schutz auch für die Menschen in meiner Heimat gelten, übrigens auch für die Menschen rund
um den geringer genutzten Schießplatz bei Siegenburg.
Das heißt im Klartext: Wenn in der Kyritz-Ruppiner
Heide nicht geübt werden darf, darf nirgendwo in
Deutschland geübt werden.
({2})
Wenn allerdings auch in Zukunft in Deutschland geflogen und geschossen wird, dann darf das nicht allein auf
der Nordhorn Range und bei Siegenburg geschehen.
Unser Ziel ist: Die Menschen in Deutschland müssen
so weit wie möglich vor unnötigen Belastungen und Gefährdungen geschützt werden. Am besten sollten Übungen unserer Luftwaffe und der anderen NATO-Staaten in
unbesiedelte Gebiete der nordatlantischen Bündnisgemeinschaft verlagert werden. Auch das ist heute schon
häufiger angesprochen worden.
Die bislang geltende Beschlusslage ist folgende: Solange in unserem Land in geringen Höhen geflogen, auf
unserem Boden geschossen werden muss, so lange muss
eine Lastengerechtigkeit angestrebt werden. Dazu stehe
ich uneingeschränkt. Daraus folgt für mich: Wenn ein
Standort auf Null gesetzt wird, so heißt das Null für alle;
denn nur dann ist es gerecht. Anders und vielleicht klarer
ausgedrückt: Wenn die Planungen für Wittstock eingestellt werden, dann gehören Nordhorn Range und Siegenburg dichtgemacht, dann brauchen wir ein vollständig neues Konzept.
Danke. - Dass es keinen Beifall für meinen Redebeitrag gibt, war mir klar.
({3})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Götzer
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche heute hier als Vertreter des Wahlkreises
Landshut/Kelheim, in dem der Luft-Boden-Schießplatz
Siegenburg liegt.
Der Kollege Kues hat darauf hingewiesen, dass Nordhorn bereits seit dem Zweiten Weltkrieg in Betrieb ist.
Siegenburg noch etwas länger: Siegenburg ist sozusagen
der dienstälteste Luft-Boden-Schießplatz auf deutschem
Boden. Er besteht seit den 30er-Jahren. Auch wenn, wie
ich gern einräume, die Einsatzzahlen in der Region seit
den 90er-Jahren deutlich rückläufig sind - mit der Bevölkerung freue ich mich darüber -, bleibt das natürlich
eine große Belastung für die Menschen dort.
Herr Kollege Weigel, Sie haben im Zusammenhang
mit Siegenburg von einer Übungszeit von acht Stunden
im Jahr gesprochen. Sie stützen sich dabei auf Angaben
des Bundesrechnungshofes. Ich halte diese Zahl für
schlicht abenteuerlich. Ihr ist nicht nur vom Verteidigungsministerium widersprochen worden; mir liegen
ganz andere Zahlen vor.
Im Jahr 2005 - der Bundesrechnungshof hat für dieses Jahr von jener Einsatzzeit von acht Stunden gesprochen - gab es über Siegenburg rund 200 Einsatzflüge.
Man geht von einer durchschnittlichen Übungszeit von
10 bis 20 Minuten pro Einsatz aus. Danach können Sie
selbst ausrechnen, dass man niemals nur auf acht Stunden kommt, sondern auf ein Vielfaches.
Im Übrigen möchte ich sagen: Man kann hierbei nicht
mit Zeitkriterien arbeiten. In dem Moment, in dem die
Flugzeuge sozusagen über die Köpfe der Menschen hinwegdonnern, ist die psychische, die gesundheitliche Belastung da. Das hat nichts mit Sekunden oder Minuten zu
tun. Wenn das einmal oder zweimal am Tag der Fall ist,
dann ist das heftig genug. Deswegen ist die Zahl der Einsätze hier entscheidend. Übrigens gilt diese Zahl von ungefähr 200 Einsatzflügen nicht nur für das Jahr 2005,
sondern nach meinen Informationen auch in etwa für die
Jahre davor und bis heute.
Herr Kollege Weigel, ich muss mich noch einmal an
Sie wenden. Sie haben von 270 Millionen Euro Kosten
allein für Wittstock gesprochen. Sie müssten allerdings
fairerweise dazusagen, dass der Löwenanteil dieses Betrages, nämlich 230 Millionen Euro, für die Beseitigung
von Munition und nicht für den Betrieb des Luft-BodenSchießplatzes vorgesehen ist.
({0})
Dann ergibt sich schon ein ganz anderes Bild.
Sie werden verstehen, dass ich als Vertreter des Wahlkreises Landshut/Kelheim, in dem, wie gesagt, Siegenburg liegt, ganz klar für eine gerechte Lastenverteilung
eintrete. Das hat gar nichts mit dem Sankt-Florians-Prinzip zu tun. Wer den Sankt-Florians-Spruch kennt, der
weiß, dass es darum geht, verschont zu bleiben. Wir sind
seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts nicht verschont geblieben, sondern bei uns wird geübt, und deswegen wissen wir, wovon wir reden.
Die Menschen im Raum Siegenburg sind ganz sicher
bereit, Belastungen auf sich zu nehmen, wenn sie für unsere Verteidigung, für unsere Sicherheit notwendig sind.
Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel; das hat sich in
all den Jahren, in denen ich Wahlkreisabgeordneter bin,
immer wieder bestätigt. Wenn das aber einmal nicht
mehr notwendig sein sollte, wenn wir solche Übungsplätze nicht mehr brauchen, dann - darin sind sich,
glaube ich, alle Kollegen einig - sieht das anders aus.
Solange sie aber notwendig sind - die Experten sagen
uns, dass sie nach wie vor nicht verzichtbar sind -, stehen wir dazu, dass man diese Lasten tragen muss, auch
im Raum Siegenburg. Aber es geht eben um eine gerechte Lastenverteilung. Das ist, glaube ich, nicht zu viel
verlangt.
Das gilt gerade dann, wenn man auf die Bevölkerungsdichte schaut. Sie ist in unserem Raum und im
Raum Nordhorn, Kollege Kues, sehr viel höher als etwa
in Wittstock. Es sind viel mehr Menschen betroffen als
in der Region dort. Herr Kollege Weigel, ich verstehe,
dass Sie dafür kämpfen, dass Ihr Standort nicht wieder in
Betrieb genommen wird. Aber bitte verstehen Sie auch,
dass wir sagen: Solange die Einsätze notwendig sind,
wollen wir eine gerechte Lastenverteilung. Die Menschen in unserer Region haben ein Recht darauf.
Danke.
({1})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 23. April 2009, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.