Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Vor Eintritt in unsere Tagesordnung gibt es einige Glückwünsche zu übermitteln.
Heute feiert der Kollege Uwe Beckmeyer seinen
60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere
ich dazu herzlich. Ich wünsche für das nächste und die
folgenden Jahre alles Gute.
({0})
Der Kollege Dr. Max Stadler ist bereits am Montag
dieser Woche 60 Jahre alt geworden, und der Kollege
Wilhelm Josef Sebastian beging am vergangenen
Samstag seinen 65. Geburtstag. Auch diesen beiden Jubilaren möchte ich auf diesem Wege noch einmal die guten Wünsche des ganzen Hauses übermitteln.
({1})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD:
Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:
zu den Antworten der Bundesregierung auf die
Fragen Nr. 19 und 20 auf Drucksache 16/12355
({2})
({3})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({4})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für ein kohärentes und effizientes Konzept
der deutschen humanitären Hilfe
- Drucksache 16/7523 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Hans-Michael Goldmann, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Transparente und eindeutige Produktkennzeichnung als Voraussetzung für ökologische
Konsumentenverantwortung
- Drucksache 16/11911 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Federführung strittig
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Wolfgang Wieland, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Visumsfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen
- Drucksache 16/12437 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Fraktionen FDP, DIE
LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 16/12480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({9})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 543 zu Petitionen
- Drucksache 16/12438 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 544 zu Petitionen
- Drucksache 16/12439 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 545 zu Petitionen
- Drucksache 16/12440 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 546 zu Petitionen
- Drucksache 16/12441 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 547 zu Petitionen
- Drucksache 16/12442 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 548 zu Petitionen
- Drucksache 16/12443 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 549 zu Petitionen
- Drucksache 16/12444 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 550 zu Petitionen
- Drucksache 16/12445 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 551 zu Petitionen
- Drucksache 16/12446 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 552 zu Petitionen
- Drucksache 16/12447 -
ZP 5 Wahlen zu Gremien
a) Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der
unselbständigen Stiftung „Stiftung Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“
Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD
- Drucksache 16/12417 -
b) Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums der
Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
- Wahlvorschläge der Fraktionen DIE LINKE
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
- Drucksache 16/12419 - Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und FDP
- Drucksache 16/12418 ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
- Drucksache 16/12413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({20}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
({21}), Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stärkung des europäischen Haischutzes
- Drucksachen 16/12290, 16/12458 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Holger Ortel
Dr. Kirsten Tackmann
ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vorschriften der Zahlungsdiensterichtlinie ({22})
- Drucksachen 16/11613, 16/11640 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({23})
- Drucksachen 16/12430, 16/12487 Berichterstattung:
Abgeordnete Albert Rupprecht ({24})
Martin Gerster
Frank Schäffler
Dr. Gerhard Schick
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 9 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen
- Drucksachen 16/11131, 16/11641 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({25})
- Drucksache 16/12465 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({26})
Marko Mühlstein
Michael Kauch
Hans-Josef Fell
- Bericht des Haushaltsausschusses ({27})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/12466 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Schulte-Drüggelte
Andreas Weigel
Ulrike Flach
Anna Lührmann
Dabei soll wie meist in solchen Fällen von der Frist
für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen verlangte Aktuelle Stunde findet entgegen der
ursprünglichen Ankündigung nicht statt. Der Tagesordnungspunkt 9 - hierbei geht es um den Stadtumbau Ost soll abgesetzt und an dieser Stelle der Tagesordnungspunkt 11 - Innere Führung in der Bundeswehr - aufgerufen werden. Morgen werden die Tagesordnungspunkte 33 und 34 getauscht.
Schließlich mache ich auf vier nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 183. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({28}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen ({29})
- Drucksachen 16/10532, 16/10582 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit ({30})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus ({31}) zur
Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung und zur Änderung und Anpassung
weiterer Vorschriften
- Drucksache 16/11608 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({32})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({33}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
- Drucksache 16/12256 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit ({34})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({35}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({36})
- Drucksache 16/12280 überwiesen:
Innenausschuss ({37})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit all diesen Vorschlägen einverstanden? -
Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin zum NATO-Gipfel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({38}) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul
Schäfer ({39}), Wolfgang Gehrcke, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine NATO-Erweiterung - Sicherheit und
Stabilität mit und nicht gegen Russland
- Drucksachen 16/11247, 16/11971 Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Markus Meckel
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({40})
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller
({41}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überprüfung und Korrektur der Strategie
beim Afghanistanengagement vor dem NATO-
Gipfel in Kehl/Straßburg beginnen
- Drucksache 16/12113 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller
({42}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NATO-Gipfel für eine strategische Neuaus-
richtung nutzen - Neue Schritte zur Abrüs-
tung und für gemeinsame Sicherheit einleiten
- Drucksache 16/12322 -
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
60 Jahre NATO - Deutschland muss sich in
Diskussion über die Zukunft der NATO konstruktiv einbringen
- Drucksache 16/12433 Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
nun die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({43})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir
freuen uns, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich
am Ende der nächsten Woche Gastgeber des NATO-Gipfels, des Jubiläumsgipfels zum 60-jährigen Bestehen des
Bündnisses, sein wird.
Es gibt für mich keinen Zweifel: Es wird nicht nur ein
Jubiläumsgipfel, sondern vor allem ein in die Zukunft
gerichteter Gipfel sein, ein Gipfel, auf dem die Weichen
für die zukünftige Arbeit in der transatlantischen Partnerschaft und auch mit Blick auf unser vereinigtes
Europa gestellt werden müssen. Dieser Gipfel wird auch
ein Markstein für die deutsch-französischen Beziehungen sein.
Mir liegt sehr daran, dass wir diesen Gipfel heute
richtig einordnen. Vielleicht hilft uns dazu ein Zitat aus
einem Interview, das Albaniens Ministerpräsident
Berisha am letzten Montag der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung gegeben hat. Auf die Frage, was die NATO
Albanien eigentlich bringen werde, antwortete er - ich
zitiere -:
Das Ziel der Nato ist, dass aus Feinden Freunde
werden. Da ist es doch ein großartiger Sieg, wenn
das einst härteste Kommunistenland der Welt nun
zur westlichsten Allianz zählt.
({0})
In diesen wenigen Worten wird die historische
Dimension des bevorstehenden Gipfels zum 60. Geburtstag der NATO deutlich. Diese historische Dimension sollten wir, auch wenn sie Vergangenheit ist, niemals vergessen - gerade wir in Deutschland nicht.
20 Jahre nach dem Fall der Mauer ist für uns heute ein
Leben in Frieden und Freiheit im wiedervereinigten
Deutschland und in Europa ganz selbstverständlich geworden. Aber diese Selbstverständlichkeit sollte sich
nicht allzu sehr in unser Denken und Handeln einschleichen. Denn es ist und bleibt ein Schatz, in Frieden und
Freiheit zu leben.
Für Frieden und Freiheit stand in den vergangenen
60 Jahren - gerade auch in schwierigen Zeiten - keine
Organisation so klar und so verlässlich ein wie die Nordatlantische Allianz. Ich denke, die Erinnerung an Mauer
und Stacheldraht genügt, dass wir heute über alle Parteigrenzen hinweg sagen können: Deutschland hat der
NATO und der Solidarität unserer Verbündeten viel zu
verdanken.
({1})
Trotz aller wahrlich nicht gering zu schätzenden Probleme können wir in diesem Jahr der Jubiläen feststellen: Das wiedervereinte Deutschland feiert 20 Jahre
deutsches und europäisches Glück.
Präsident Sarkozy und ich waren von Beginn an davon überzeugt: Kaum ein Ort symbolisiert Sinn und Bestimmung europäischer und atlantischer Friedenspolitik
so sehr wie der Brückenschlag über den Rhein. Gerade
dort, wo sich Deutsche und Franzosen über Jahrhunderte
hinweg als erbitterte Gegner gegenüberstanden, sind wir
heute in enger Freundschaft verbunden und dem Frieden
auf unserem Kontinent verpflichtet.
Mit Deutschland und Frankreich werden erstmals
zwei Länder einen NATO-Gipfel gemeinsam ausrichten.
Damit verbunden ist auch ganz konkret eine Reihe gemeinsamer, zukunftsgerichteter Schritte zwischen unseren Ländern in der Sicherheitspolitik.
Am Rande der Sicherheitskonferenz in München sind
Präsident Sarkozy und ich übereingekommen, dass in
Zukunft die deutsch-französische Brigade in beiden
Ländern stationiert sein wird. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte ist es eine wahrhaft bewundernswerte
Geste des französischen Präsidenten, dass deutsche Soldaten, wie er es in München sagte, nach Frankreich eingeladen sind. Herzlichen Dank dafür!
({2})
Präsident Sarkozy hat in den letzten Tagen sein Land
wieder in die integrierten Strukturen der NATO zurückgeführt. Das ist ein Schritt Frankreichs, dessen Bedeutung wir gar nicht hoch genug einschätzen können. Es ist
ein Bekenntnis zu einer NATO im 21. Jahrhundert.
Parallel dazu hat die französische Präsidentschaft im
vergangenen Jahr gemeinsam mit uns für die Stärkung
der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geworben, weil wir diese beiden Punkte - Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und das transatlantische Bündnis - in einer gemeinsamen Linie und
einer gemeinsamen Richtung sehen.
Für die Bundesregierung gehören eine starke atlantische Sicherheitspartnerschaft und eine europäische Sicherheitspolitik untrennbar zusammen. Ich sage voraus,
dass sich diese Zusammengehörigkeit in den nächsten
Jahren noch sehr viel stärker zeigen wird, vielleicht auch
zeigen muss. Wir freuen uns natürlich, dass gerade anlässlich dieses NATO-Gipfels der neu gewählte amerikanische Präsident Barack Obama erstmals als amerikanischer Präsident in Europa und Deutschland sein wird.
Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar
habe ich gesagt: Transatlantische Partnerschaft heißt,
dass wir gemeinsam analysieren, gemeinsam entscheiden und, wann immer möglich, auch gemeinsam handeln. Wir Europäer wissen einerseits um die Größe der
Herausforderungen und die Brisanz der Krisen, sei es
nun der Nahostkonflikt, sei es Afghanistan oder sei es
das Nuklearprogramm des Iran. Wir wissen andererseits
genauso um die Chancen, die in einer vertrauensvollen
und starken transatlantischen Partnerschaft stecken,
wenn sie sich in der konkreten Politik zu bewähren hat.
Was können wir nun von diesem NATO-Gipfel erwarten? Vorneweg dies: Die NATO braucht eine Anpassung
ihrer Strategie an die neuen Herausforderungen; denn
das aktuelle strategische Konzept der NATO stammt von
1999. Seither haben wir eine Fülle neuer Erfahrungen
gemacht. Stellvertretend für diese stehen der 11. September 2001 und die daraus folgende ISAF-Operation in
Afghanistan. Beim Gipfel muss deshalb die Überarbeitung des strategischen Konzepts in Auftrag gegeben
werden, um deutlich zu machen: Die NATO gibt sich
nicht nur mit dem Blick auf eine 60-jährige Erfolgsgeschichte zufrieden, sondern sie ist auch zu einer Neubestimmung des Kurses für die Zukunft bereit. Dabei muss
es im Kern darum gehen, die wesentlichen Aufgaben der
Allianz strategisch miteinander zu verbinden.
Im Zentrum des Bündnisses steht natürlich auch künftig das Bekenntnis zur Solidarität der Mitgliedstaaten.
Ein Angriff auf ein Mitglied ist ein Angriff auf das
Bündnis insgesamt; das ist die Verabredung. Diese Verabredung bleibt auch der Wesenskern der Allianz. Dieses
Bekenntnis zur Solidarität erfordert heute neue Maßnahmen, andere Schritte als früher, zum Beispiel Einsätze
außerhalb des Bündnisgebiets. Genau an diese operative
Realität muss das neue strategische Konzept anknüpfen:
Es muss sie darstellen und entfalten und die Folgerungen
daraus ziehen.
Diese neue operative Realität erfordert ein neues
Verständnis von Sicherheit und der Herstellung von
Sicherheit. Dieses neue Konzept nennen wir - ich
glaube, parteiübergreifend akzeptiert - das Grundprinzip
der vernetzten Sicherheit. Dieses Grundprinzip der
vernetzten Sicherheit muss Eingang in die strategische
Ausrichtung der Allianz finden.
Ich glaube, am Beispiel Afghanistan wird jedem klar,
dass ein Erfolg nur möglich ist, wenn die NATO mit ihren militärischen Mitteln Teil eines umfassenden und
kohärenten Ansatzes zugunsten der Stabilisierung des
Landes ist. Zu diesem Ansatz gehört die ganze Vielfalt
von zivilen Aktionen und Maßnahmen zugunsten einer
guten Entwicklung des Landes. Dieses Grundverständnis, das wir jetzt in Afghanistan entwickelt haben, wird
aber in Zukunft nicht ein Einzelfall sein, sondern muss
zum strategischen Allgemeingut der NATO, also der Allianz, werden.
({3})
Der Erfolg der NATO wird immer mehr von ihrer Fähigkeit zur Vernetzung ihrer militärischen Instrumente
mit vielfältigen Partnern abhängen, etwa mit anderen in
politischen Krisenlösungen eingebundenen Organisationen. Die NATO muss dieses Verhältnis definieren. Sie
steht nicht einfach über diesen Organisationen, sondern
ist Teil einer vernetzten Sicherheit, zum Beispiel mit den
Vereinten Nationen, mit der OSZE, mit der Europäischen Union oder mit der Afrikanischen Union genauso
wie mit zivilen Kräften der Entwicklungspolitik oder mit
Nichtregierungsorganisationen. Das hört sich einfach an,
ist aber vergleichsweise revolutionär, sowohl auf der
Seite derer, die militärische Aktionen durchführen, als
auch auf der Seite derer, die im zivilen Bereich engagiert
sind. Deshalb muss dies durchgeführt, entwickelt und
dann auch mit Leben erfüllt werden.
Ich füge hinzu: Das strategische Konzept wird auch
klar die Grenzen des Wirkungskreises der Allianz aufzeigen müssen. Ich sehe keine globale NATO. Die
Allianz ist und bleibt vornehmlich auf die kollektive Sicherheit der nordatlantischen Partner konzentriert. Sehr
wohl heißt das heute auch, dass sie Sicherheit gegebenenfalls außerhalb ihres Bündnisgebietes sichern muss.
Aber das heißt eben nicht, dass Staaten rund um den
Globus Mitglieder werden können, sondern dass dies
von Mitgliedstaaten aus dem transatlantischen Raum geleistet wird.
({4})
Meine Damen und Herren, nun ist es wie immer:
Manche warnen davor, allzu intensiv über das strategische Konzept zu diskutieren, da natürlich unterschiedliche Auffassungen der Verbündeten zutage treten könnten. Ich glaube, davor sollten wir und davor dürfen wir
keine Angst haben; denn die Allianz kann bereits an eine
starke Reformtradition anknüpfen. Bereits früher wurden viele wichtige Anregungen auch von außen aufgenommen. Diesen Weg sollten wir auch diesmal gehen.
Deshalb setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass
der Generalsekretär bei der Erarbeitung des neuen Konzepts von einer Gruppe ausgewiesener Experten unterstützt wird.
Wir brauchen den unverstellten Blick auf das strategisch Notwendige, und dabei muss von Anfang an klar
mitgedacht werden, dass die NATO auch ihre Strukturen
für die Aufgaben der Zukunft fitmachen muss. Anders
als zu den Zeiten des Kalten Krieges, als der wesentliche
Punkt die Abschreckung war, als die NATO-Kräfte
glücklicherweise nicht militärisch aktiv werden mussten,
haben wir heute Operationen zu bewältigen, in denen
militärische Aktivitäten notwendig sind. Wenn man die
Klagen des NATO-Generalsekretärs hört, wie schwierig
es ist, Ausrüstung und Ähnliches zusammenzubekommen, dann wird einem klar, dass ein solches strategisches Konzept auch sehr praktische Aufgaben erfüllen
muss.
Die Aufgaben ergeben sich in Europa und Amerika
gleichermaßen aus den neuen Herausforderungen, vor
denen wir stehen. Wir müssen heute an die Parallelität
schwieriger, oft ganze Regionen destabilisierender
Konflikte denken, an die Gefahren des transnationalen
Terrorismus, an zunehmende Proliferationsrisiken, an
die sicherheitspolitischen Auswirkungen von Umweltproblemen, an die Sicherung unserer Energieversorgung
oder an Fragen des Zugangs zu begrenzten Ressourcen.
Weder Amerika noch Europa können diese Herausforderungen alleine meistern. Kein Land auf der Welt kann
heute die Probleme alleine lösen. Das muss die Grundlage unserer Zusammenarbeit sein.
({5})
Weil diese Herausforderungen so vielfältig sind, ist es
natürlich auch Aufgabe der NATO, alles daranzusetzen,
dass möglichst viel Prävention auf der Welt betrieben
wird, damit es nicht zu dem Punkt kommt, an dem nur
noch militärische Mittel helfen können. Auch das ist ein
ganz wichtiger Ansatz.
({6})
Unsere zukünftige Sicherheit und unser Leben in
Frieden und Freiheit werden deshalb in ganz entscheidendem Maße von zweierlei abhängen: zum einen davon, wie eng wir Europäer unseren Zusammenhalt mit
den Nordamerikanern gestalten, und zum anderen davon, ob wir die großen Zukunftsthemen der globalen
Wirtschaft, der Sicherheit und der Umwelt gemeinsam
gestalten können. Vor diesem Hintergrund wird die Entscheidung, das strategische Konzept der NATO zu überarbeiten, die übergeordnete Aufgabe dieses NATO-Gipfels sein. Das strategische Konzept soll zum nächsten
NATO-Gipfel fertig sein. Es wird also keine unendliche
Aufgabe.
Neben dieser Erarbeitung des strategischen Konzepts
geht es aber auch um vier weitere Dinge, die ich hier
nennen möchte.
Erstens. Afghanistan - das wissen wir alle - ist die
wichtigste aktuelle Bewährungsprobe für die NATO.
Führen wir uns nur zwei Zahlen vor Augen: Die NATO
hat derzeit etwa 70 000 Soldaten in verschiedenen Operationen, davon sind allein rund 50 000 in Afghanistan
eingesetzt. Wir werden zu Afghanistan in der nächsten
Woche ein Treffen der Außenminister der ISAF-Truppensteller und der Vertreter weiterer in Afghanistan engagierter Organisationen in Den Haag durchführen, um
dem Thema auch beim Gipfel der Allianz breiten Raum
zu geben. Wir erwarten dabei vor allem Aufschlüsse
über die neuen strategischen Linien in der Afghanistanpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika. Für mich
bleibt unser grundsätzliches Ziel klar, an dem wir auch
den Erfolg zu messen haben: Von Afghanistan darf nicht
wieder eine terroristische Bedrohung der Sicherheit bei
uns, das heißt bei den Mitgliedstaaten der NATO, ausgehen. Das ist die Aufgabe.
({7})
Wir müssen gemeinsam mit allen anderen Partnern und
Organisationen, die dort tätig sind, und vor allem mit
den Afghanen selbst erreichen, dass das Land dauerhaft
selbst für seine Sicherheit sorgen kann.
({8})
Wir sollten uns erinnern: Afghanistan als ein in seinen
staatlichen Strukturen nicht gefestigtes Land war der
Ausgangspunkt und der Nährboden für die Attentate
vom 11. September 2001.
({9})
Weil es dort keinen funktionierenden Staat gab, war dies
möglich. Daraus ist unser Engagement für Afghanistan
entstanden; denn es hat unsere Sicherheit, die Sicherheit
der Mitgliedstaaten der NATO, bedroht.
({10})
Jetzt wissen wir, dass wir wirksame staatliche Strukturen aufbauen müssen. Wir wissen, dass dies Entschlossenheit erfordert. Aber wir haben auch erlebt, es erfordert mehr Geduld, als wir uns am Anfang vielleicht
vorgestellt haben. Ich werde mich beim Gipfel dafür einsetzen, dass die beiden wesentlichen Prinzipien unserer
Präsenz noch besser verwirklicht werden.
Zum einen muss die NATO ihr Engagement noch
stärker mit dem anderer Organisationen verschränken.
Ich unterstütze deshalb ausdrücklich - das macht die
ganze Bundesregierung - die Arbeit des UN-Repräsentanten Kai Eide für eine bessere Gesamtkoordinierung
aller zivilen Aktivitäten. Hier gibt es noch etliches zu
tun. Wir sollten die Vereinten Nationen immer wieder
darin bestärken, dass dies von entscheidender Wichtigkeit ist. Unser Prinzip bleibt richtig: Es wird keine dauerhafte Sicherheit gelingen ohne Wiederaufbau, und es
wird keinen Wiederaufbau geben ohne Sicherheit.
Zum anderen gilt es vor allen Dingen, die Eigenverantwortung der Afghanen weiter zu stärken. Das heißt
für mich vor allem, dass wir die afghanische Führung
noch stärker in die Pflicht nehmen, damit diese alles,
aber wirklich auch alles unternimmt, um ihr Land gut
und effizient zu regieren, Kriminalität zu bekämpfen und
vor allem mit aller Kraft gegen den unsäglichen Drogenhandel anzugehen. Das ist eine Erwartung, die wir an
Afghanistan haben.
({11})
Wir als Allianz werden alles tun, damit die anstehenden Wahlen in Afghanistan gut und erfolgreich ablaufen.
Ich begrüße ausdrücklich, dass die amerikanische Regierung in ihre Strategie jetzt auch Pakistan einbindet. Ich
erinnere daran, dass der Bundesaußenminister dies bereits während unserer G-8-Präsidentschaft eingeleitet
hat. Es wird jetzt allerdings sehr darauf ankommen, dass
wir die richtige Balance finden zwischen den Aspekten,
die zwischen Pakistan und Afghanistan strategisch kohärent gestaltet werden müssen, ohne zu vergessen, dass
nicht alle Probleme von Pakistan auch Probleme von Afghanistan sind. Es bleiben zwei unterschiedliche Länder.
Ich begrüße auch den amerikanischen Ansatz, sich
stärker auf eine gute Entwicklung in den Regionen Afghanistans zu konzentrieren. Dies passt gut zu unserem
im deutschen Verantwortungsbereich im Norden bereits
praktizierten Konzept, Sicherheit mit der Kräftigung lokaler und regionaler Entwicklungen zu verbinden, wie
dies auch der Verteidigungsminister bei seiner letzten
Reise noch einmal deutlich gemacht hat.
Ich will in diesem Zusammenhang eines festhalten:
Mit unseren bisherigen Leistungen in Afghanistan seit
2002 können wir Deutschen uns im Bündnis wirklich sehen lassen. Bundesregierung und Bundestag haben bereits in den vergangenen Monaten entschieden, die Truppenstärke der Bundeswehr im Rahmen unseres gültigen
Mandats im Norden weiter zu erhöhen. Beim Polizeiaufbau bleiben wir der nochmaligen Stärkung unseres Kontingents verpflichtet. Über den Sicherheitsbereich hinaus
bleiben wir, wie dies seit Jahren der Fall ist, mit bedeutenden Mitteln und wichtigen Projekten in Afghanistan
engagiert. Ich werde dies auf dem Gipfel mit allem
Nachdruck darlegen. Ich glaube, wir können uns mit unseren Leistungen sehen lassen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich allen Soldatinnen und Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern
und Diplomaten danken. Sie leisten bei ihren schwierigen und gefährlichen Aufgaben eine ausgezeichnete Arbeit. Vor denjenigen, die in Afghanistan schwere Verwundungen davongetragen oder gar ihr Leben gelassen
haben, verneigen wir uns. Ich denke, das sage ich in Ihrer aller Namen.
({12})
In den letzten Wochen wurde eine Debatte darüber
geführt, mit wem in Afghanistan zusammengearbeitet
werden kann und mit wem nicht. Meine Auffassung ist,
dass mit allen, die unzweideutig Terror, Gewalt und feigen Attentaten gegen Vertreter der internationalen Gemeinschaft abschwören, zusammengearbeitet werden
kann. Es kann und muss stärker mit denjenigen zusammengearbeitet werden, die ihr Land wieder aufbauen
wollen, die die wesentlichen rechtsstaatlichen Prinzipien
respektieren, wie auch immer sie sich nennen. Das gilt
vor allem für die regionalen Stammesfürsten. Diejenigen
aber, die den Wiederaufbau bekämpfen, die mit Gewalt
und Terror drohen und die wesentlichen Menschenrechte
mit Füßen treten, können für uns keine Partner sein. Sie
müssen wir gemeinsam mit den Afghanen konsequent
bekämpfen.
({13})
Zweitens. Ein wichtiges Thema beim Gipfel werden
die Beziehungen der Allianz zu unseren Partnern im
Osten und insbesondere zu Russland sein. Wir wollen
auf dem Gipfel mit Albanien und Kroatien wieder zwei
Länder als neue Mitglieder begrüßen. Ich bin zuversichtlich, dass uns der Grenzstreit zwischen Slowenien und
Kroatien hier keinen Strich durch die Rechnung macht.
Ich hoffe, dass in naher Zukunft auch der mazedonische
Beitritt möglich wird und nicht länger an einer Namensfrage scheitert. Ich erwähne dies ausdrücklich, weil mir
der Beitrittsprozess wichtig bleibt und ich nicht
möchte, dass wir den Blick darauf verlieren. Ich sage
ausdrücklich: Georgien und die Ukraine behalten eine
Beitrittsperspektive. Die Tatsache, dass sich immer wieder weitere Länder aus freien Stücken um die Aufnahme
in das Bündnis bemühen, zeigt die Attraktivität der Allianz.
Ich stehe weiterhin voll und ganz dazu, dass wir europäische Demokratien aufnehmen sollten, die gewillt und
die fähig sind, zu unserer gemeinsamen Sicherheit beizutragen. Gerade wir Deutschen wissen noch gut, dass
die freie Bündniswahl ein hohes Gut ist.
({14})
Wir dürfen nicht zulassen, dass andere aufgrund ihres
veralteten Denkens in Einflussräumen versuchen, dem
mit einem Veto einen Riegel vorzuschieben.
({15})
In den Beziehungen zu Russland werden wir auf
dem Gipfel auch förmlich die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit im Rahmen des NATO-Russland-Rates
beschließen. Die Außenminister der Allianz haben diesen wichtigen Schritt bereits vorbereitet. Wir setzen als
atlantische Partner darauf, dass sich Russland kooperativ
verhält. Die NATO-Partner und Russland stehen zum
großen Teil vor den gleichen sicherheitspolitischen Bedrohungen. Über diese sollten wir im NATO-RusslandRat offen und im Geiste guter Zusammenarbeit sprechen. Ich bin sehr davon überzeugt, dass wir die Chance
haben, gemeinsame Antworten zu finden, sei es zum
Schutz vor zukünftigen weitreichenden Raketen von Regimes wie dem Iran, sei es bei Fragen der Proliferation
oder der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Ich werde
diese Fragen nächste Woche noch einmal ausführlich mit
Präsident Medwedew beraten. Dabei werden wir auch
über seine Vorschläge zu einer europäischen Sicherheitsarchitektur sprechen.
Wenn es um Architektur geht, dann muss man sich,
wie es so schön heißt, natürlich zunächst um das Fundament kümmern. Das Fundament in der Sicherheitspolitik
heißt immer wieder Vertrauen. Genau dieses Vertrauen
muss gefestigt werden, auch und gerade mit Blick auf
Russland.
({16})
Wenn wir uns einmal anschauen, wie die Lage ist,
stellen wir fest: Die Defizite liegen nicht in den Regeln,
die wir für die Sicherheitspolitik in Europa haben, die
übrigens in der OSZE gemeinsam mit Russland beschlossen worden sind. Wenn es ein Defizit gibt, dann ist
es ein Defizit bei der Implementierung, das heißt bei den
gelebten Regeln und nicht bei den geschriebenen Regeln. So sind aus meiner Sicht manche Konflikte rasch
und leicht lösbar. Ich erinnere zum Beispiel an den Konflikt zwischen Moldawien und Transnistrien. Moskau
könnte hier ein Zeichen seines guten Willens setzen. Das
würde uns in vielerlei Fragen sehr voranbringen.
Ich sage ausdrücklich: Die Bundesregierung möchte
eine gute und vertrauensvolle Partnerschaft mit Russland. Dies ist im deutschen Interesse, dies ist im europäischen Interesse, und dies ist auch im atlantischen Interesse. Russland hat schon jetzt eine wichtige Rolle in der
euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur. Die OSZE und
der NATO-Russland-Rat existieren bereits als Foren. Ich
schlage vor, dass wir auch in der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßige
Konsultationen mit Russland aufbauen.
({17})
Es ist auch im deutschen Interesse, dass der Dialog
zwischen der neuen amerikanischen Administration und
Russland wieder stärker in Gang kommt. Es besteht die
Chance, dass sich jetzt eine enge und gute Partnerschaft
entwickelt. Ich sage ausdrücklich: Die NATO will Russland als guten Partner. Wir sind seit 20 Jahren keine
Gegner mehr. Die Zeit des Kalten Krieges ist unwiederbringlich vorbei.
({18})
Drittens. Ich unterstütze ausdrücklich die Initiativen
des Bundesaußenministers, das Profil der NATO in den
Bereichen Abrüstung und Rüstungskontrolle zu stärken. Wir haben bereits auf unserem letzten Gipfel in Bukarest hierzu wichtige Festlegungen getroffen. Ich hoffe,
dass wir diese bestätigen und ausbauen können. Die Perspektiven dafür sind vielleicht so gut wie lange nicht
mehr. Wir können hoffen, dass es im nuklearen Bereich
bald zu Fortschritten kommt, und zwar bei den Regelungen zur Reduzierung strategischer Atomwaffen und womöglich auch bei der Haltung der amerikanischen Regierung zum Atomteststoppabkommen.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung zur
nuklearen Teilhabe. Wir sollten gut aufpassen, dass wir
Ziel und Weg nicht vermischen. Ich bleibe bei dem Ziel
der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen. Sich diesem Ziel verantwortlich zu
nähern, heißt, die richtigen Etappen zu fixieren und vor
allen Dingen wasserdichte Prüfmechanismen zu etablieren, denen sich alle unterwerfen.
Die NATO hat ihr Nuklearpotenzial gegenüber dem
Jahr 1989 bereits um rund 95 Prozent reduziert und die
Bereitschaftsstrukturen der Nuklearwaffen gesenkt. Zugleich stellen wir aber fest, dass sich die Zahl der nuklearen Akteure und Arsenale ebenso wie die Risiken
der Proliferation weltweit erhöht haben. Deshalb ist dies
eines der großen Sicherheitsrisiken, denen wir entschieden und entschlossen entgegentreten müssen. Dies ist
eine der Aufgaben, an deren Bewältigung auch Deutschland ein elementares Interesse hat.
({19})
Die Bundesregierung hat deshalb die nukleare Teilhabe
in der Allianz im Weißbuch verankert, weil wir wissen,
dass sie uns Einfluss im Bündnis, auch in diesem höchstsensiblen Bereich, sichert.
Im konventionellen Bereich ist der Erhalt des KSESystems ein großes Anliegen der Bundesregierung. Hier
müssen die atlantischen Partner gemeinsam Russland
noch von den Vorteilen einer kooperativen Politik überzeugen. Es ist deshalb sehr wichtig, dass im Auswärtigen
Amt demnächst eine Konferenz stattfindet, die gerade
diesen KSE-Prozess wieder beleben und vorantreiben
soll. Ich finde es gut, dass der Bundesaußenminister gerade dies zu einem Thema Deutschlands macht, damit
wir den richtigen Weg forcieren können.
({20})
Viertens. Fortschritte erhoffe ich mir beim Gipfel
auch für die Zusammenarbeit zwischen der NATO
und der Europäischen Union. Das Potenzial für die
Nutzung von Synergien ist groß. Die jeweilige Politik,
auch in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, ist sozusagen aus der Taufe gehoben und
gestärkt worden. Aber die Wahrheit ist: Wir müssen eine
Vielzahl von Blockaden überwinden. Um es beim NaBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
men zu nennen: Gerade die ungelösten Konflikte zwischen Zypern und der Türkei führen immer wieder dazu,
dass in jeder praktischen Frage, in der eine enge Kooperation von NATO und europäischer Sicherheitspolitik
notwendig wäre, Schwierigkeiten auftreten.
Wir sollten entschlossen und gemeinsam darauf hinwirken, dass diese Kooperation von EU und NATO endlich Realität werden kann; sei es im Kosovo, sei es in anderen Missionen, wo wir jedes Mal Stunden und
Aberstunden damit verbringen, um irgendein Problem
praktisch lösen zu können.
({21})
Die Vielzahl der mit dem Jubiläumsgipfel der
NATO verbundenen Aufgaben ist unübersehbar. Eines
sollten wir als Politiker hierbei nicht vergessen: Dieses
Treffen in Straßburg, Kehl und Baden-Baden sollte in
der vorgesehenen Form stattfinden können. Das ist nicht
zuletzt auch denen zu verdanken, die durch ihre Arbeit
den sicheren Verlauf dieses Gipfels ermöglichen. Ich
meine die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern
und auch die französischen Kollegen. Sie arbeiten mit
großem Engagement und äußerst professionell zusammen. Wir haben ihnen schon heute Dank zu sagen.
({22})
Ich ergänze ausdrücklich: Auch all diejenigen, die
ihre Meinung gegen die Politik der NATO kundtun wollen, haben meinen Respekt, wenn sie sich beim Ausdruck ihres Protestes an die Regeln unseres freiheitlichen Rechtsstaates halten.
({23})
Ich hoffe, dass sie dabei auch daran denken, dass es ganz
entscheidend die NATO war, die über Jahrzehnte hinweg
in und für Deutschland Frieden und Freiheit garantiert
hat und damit auch Garant für das Recht auf Meinungsund Demonstrationsfreiheit war und ist, das sie heute genießen.
Wir wollen für den NATO-Gipfel gute Gastgeber
sein. Ich danke deshalb allen, die an den Vorbereitungen
teilhaben: den Bundesministern des Auswärtigen, der
Verteidigung und des Innern, der Landesregierung von
Baden-Württemberg, den Sicherheitsbehörden von Bund
und Ländern und ganz besonders den Menschen in Baden-Baden, Kehl und Straßburg, die sicherlich gute
Gastgeber sind.
Ich hoffe, dass der Gipfel unser aller Bewusstsein für
die Notwendigkeit einer Sicherheitspolitik schärfen
wird, die auch in unserer globalisierten Welt in guten
Partnerschaften gestaltet ist und Frieden und Freiheit für
uns alle schützt. Um Frieden und Freiheit wird es auch in
den kommenden Jahren und Jahrzehnten der transatlantischen Wertegemeinschaft der NATO gehen. Deutschland
wird seinen Beitrag dazu leisten.
Herzlichen Dank.
({24})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für uns war die Nordatlantische Allianz immer
mehr als ein Verteidigungsbündnis. Die NATO ist eine
Wertegemeinschaft, und sie war stets Ausdruck unserer
engen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von
Amerika. Diese transatlantische Freundschaft ist viel
mehr als ein Bündnis von Regierungen. Es ist die
Freundschaft unserer Völker, die auf gemeinsamen Werten fußt.
Der Erfolg der NATO beruht auf zwei Säulen: auf
dem Konzept der Unteilbarkeit von Sicherheit im euroatlantischen Raum und auf dem doppelten Ansatz aus
militärischer Stärke und Vertrauensbildung durch Dialog
und Kooperation. Auf beide Säulen kann die NATO weiter bauen.
60 Jahre nach der Gründung der NATO hat sich aber
das sicherheitspolitische Umfeld fundamental verändert. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass sich auch
die Bundesregierung für eine Überarbeitung des strategischen Konzeptes der NATO einsetzt.
({0})
Es gehört zum Wesenskern der NATO, dass überall im
Bündnis das gleiche Maß an Sicherheit herrscht, dass es
innerhalb der Nordatlantischen Allianz keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit gibt. Das verleiht dem Bündnis seine Stabilität.
Wir wollen, dass die NATO nach einer schwierigen
Phase in den euroatlantischen Beziehungen wieder zum
zentralen Ort der sicherheitspolitischen Debatte wird.
Wir wollen die Partnerschaft mit den USA neu beleben, innerhalb und außerhalb der NATO, in der Sicherheitspolitik, aber auch in allen anderen Fragen, die unsere Wertegemeinschaft insgesamt betreffen. Mit dem
Amtsantritt des neuen US-Präsidenten hat sich die
Chance eröffnet, die transatlantische Partnerschaft neu
zu begründen. Jetzt wäre der Moment, in dem die Drähte
zwischen Washington und Berlin heißlaufen müssten
und in dem wir die Chance nutzen sollten, die außenpolitische Revision durch die neue US-Regierung durch eigene Ideen und Vorschläge zu bereichern. Es ist nicht
klug, den Meinungsbildungsprozess in den USA nur
passiv abzuwarten. Das berühmte Fenster der Gelegenheiten ist jetzt geöffnet, und wir sollten die Gelegenheit
jetzt ergreifen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir wollen den Erfolg in
Afghanistan. Es ist richtig, Frau Bundeskanzlerin, dass
Sie dies zu einem Schwerpunkt Ihrer Regierungserklärung gemacht haben. Das ist nicht Altruismus, sondern
das liegt in unserem ureigenen Interesse. Kabul darf nie
wieder die Hauptstadt des Terrorismus in der Welt wer23126
den. In dem Augenblick, in dem wir als westliches
Bündnis Afghanistan aufgäben, wäre Kabul wieder die
Hauptstadt des Terrorismus in der Welt. Deswegen liegt
unser Engagement im eigenen, im deutschen, im europäischen Interesse.
({2})
Notwendig sind natürlich die Ausbildung der afghanischen Streitkräfte und der Polizei vor Ort sowie der Aufbau einer funktionierenden Justiz. Notwendig ist - da
sind wir alle einig - der zivile Aufbau. Wir wenden uns
dagegen, einen Widerspruch zwischen zivilem Aufbau
und militärischem Einsatz zu konstruieren. Kein Krankenhaus könnte gebaut werden, kein Brunnen würde gebohrt und keine Schule für Mädchen eröffnet werden,
wenn nicht unsere Soldatinnen und Soldaten für die Sicherheit der dort Arbeitenden sorgen würden.
({3})
Wir wollen auch zukünftig für die NATO keine Universalzuständigkeit in Sachen Sicherheit, weder materiell - da haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, recht - noch
geografisch. Die primäre Verantwortung für den Weltfrieden bleibt bei den Vereinten Nationen. Vorstellungen, die NATO könnte sich zu einer Art Ersatz-UNO der
Demokratien dieser Welt entwickeln, erteilen wir eine
klare Absage.
({4})
Aber ebenso unzweideutig stellen wir fest: All diejenigen, die die Zerschlagung der NATO immer wieder
gefordert haben, müssen heute anerkennen, dass die
NATO den Frieden auf der Welt sicherer und eben nicht
unsicherer gemacht hat.
({5})
Was die NATO ohne Zweifel braucht, ist ein stärkeres
Denken und Handeln in Kategorien der vernetzten
Sicherheit. In Afghanistan erleben wir, dass der sicherheitspolitische Fortschritt natürlich von Erfolgen im
zivilen Bereich abhängt. Dem muss die NATO im Einsatz stärker Rechnung tragen. Zudem muss die NATO in
ihrer strategischen Ausrichtung den nicht militärischen
Ursachen für Bedrohungen stärkere Bedeutung beimessen.
Wir wollen, dass der europäische Pfeiler innerhalb
der NATO gestärkt wird. Das heißt nicht zuletzt, dass
wir die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter ausbauen, um einen stärkeren europäischen
Beitrag - nicht in Konkurrenz zur NATO - einbringen zu
können. Die Rückkehr Frankreichs in die Kommandostrukturen der NATO wird diesen Prozess ohne Zweifel befördern.
({6})
Wir wollen eine NATO, die Abrüstungsinitiativen
und Rüstungskontrolle wieder stärkeres Gewicht beimisst, nuklear und konventionell. Deswegen wünschen
wir uns, Frau Bundeskanzlerin: Von dem kommenden
NATO-Gipfel sollte das Signal ausgehen, dass die
NATO die Vorschläge des amerikanischen Präsidenten
für eine drastische Reduzierung des atomaren Potenzials
insgesamt unterstützt. Neue Raketenstationierungen und
die Modernisierung der Arsenale lehnen wir ab. Wir haben in den nächsten Jahren die Chance, die Abrüstung
voranzubringen und eine Aufrüstungsspirale noch rechtzeitig zu verhindern.
({7})
Das Verhältnis zu Russland hat für die NATO weiterhin eine besondere Bedeutung. Wie leicht alte Reflexe
aufleben können, hat 2008 die Georgien-Krise gezeigt.
Weil wir einen solchen Rückfall nicht zulassen dürfen,
muss die NATO ihre Strategie gegenüber Russland überdenken. Wir begrüßen die Wiederbelebung des NATORussland-Rates, mit der auf diesem Gipfel begonnen
werden soll.
Das Gleiche gilt für die Erweiterungsstrategie der
NATO. Sie gehört eingebettet in eine Gesamtstrategie,
die auf einen Mehrwert an Stabilität und Sicherheit abzielt. Erweiterung ist für die NATO kein Selbstzweck.
Die demokratische und rechtsstaatliche Reife neuer Mitglieder ist die Grundvoraussetzung für deren Aufnahme.
({8})
Die NATO muss in jedem Einzelfall die Frage beantworten, ob einerseits eine Aufnahme für das Bündnis mehr
Sicherheit bedeutet und ob andererseits die NATO dazu
in der Lage ist, die Beistandsverpflichtung glaubhaft auf
ein neues Mitglied auszuweiten.
({9})
Wir wünschen der Bundesregierung für den NATOGipfel, der symbolträchtig in Frankreich und in Deutschland stattfindet, viel Erfolg. Denn das ist keine Frage von
Opposition und Regierung, sondern eine Frage, die
Deutschland, Europa und den Frieden in Freiheit betrifft.
Seit 60 Jahren leistet die NATO den entscheidenden
Beitrag zur Sicherheit und Freiheit ihrer Mitglieder.
Dass die NATO im Kalten Krieg die Freiheit schützen
konnte, ohne ihr Militär einsetzen zu müssen, hat sie
zum erfolgreichsten Bündnis aller Zeiten gemacht. Jetzt
müssten die strategischen Weichen für die NATO so gestellt werden, dass das Bündnis auch in Zukunft erfolgreich ist.
Bei allem Respekt vor denen, die diesen Gipfel jetzt
zum Anlass nehmen, gegen die NATO zu demonstrieren:
Es war die NATO, die dafür gesorgt hat, dass diese Demonstrations- und Meinungsfreiheit überhaupt bei uns
möglich wurde und erhalten blieb.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,
Frau Bundeskanzlerin, dies ist ein Jubiläumsgipfel, dies
ist ein Freundschaftsgipfel zusammen mit Frankreich;
aber es ist auch ein Zukunftsgipfel. Die in der Regierungserklärung dargelegte Analyse und die damit verbundenen Schlussfolgerungen werden von meiner Fraktion geteilt. Wir legen auch im Zusammenhang mit dem,
was Sie, Herr Kollege Westerwelle, dargelegt haben,
Wert auf folgende Aussage: Für Deutschland gehört die
NATO weiterhin zu den wichtigen Grundpfeilern unserer Sicherheitspolitik. Als Bundesrepublik Deutschland,
als wiedervereinigtes Land sind wir in diesem Wertebündnis ein berechenbarer und verlässlicher Partner.
({0})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben den albanischen Ministerpräsidenten erwähnt. Ja, es ist ein Vorteil der
NATO gewesen, dass aus Feinden Freunde wurden.
Aber man muss in diesem Bündnis auch Freunde bleiben
können. Jeder muss dazu seinen Beitrag leisten. Man
muss auch bereit sein, Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen und sie untereinander auszutauschen. Sie haben
darauf hingewiesen: Es kann nicht sein, dass an einem
von einem NATO-Partner ausgehenden Namensstreit die
Aufnahme eines wichtigen kleinen Landes wie Mazedonien, das sich um die Integration von Ethnien bemüht
und seinen Beitrag leisten will, scheitert.
({1})
Ich denke, dass wir - ich bin einer derjenigen gewesen, der während und nach dem Kosovo-Krieg im Auftrag der Bundesregierung humanitäre Hilfeleistungen in
Mazedonien, in Albanien und im Kosovo selbst zu koordinieren hatte - das quälende Ereignis des KosovoKrieges auch nach zehn Jahren, betrachtet man Lösungsmöglichkeiten in vergleichbaren Regionen, noch
nicht haben überwinden können. Wir müssen in diesem
Zusammenhang in den Sudan schauen. Wir müssen sehen, dass es die Auseinandersetzungen in Gaza gab und
dass es auch im Südkaukasus zu einem Krieg gekommen
ist. Es ist wichtig, dass die Institutionen der NATO, der
Europäischen Union und der OSZE zusammenwirken
und als eine Präventionseinrichtung vorgehen können.
Es bedarf der ausstrahlenden Wirkung des Bündnisses
der NATO als Wertegemeinschaft, aber auch als Präventionsgemeinschaft. Deswegen braucht sie mittlerweile auch einen zivilen Rahmen.
({2})
Wir bekräftigen sowohl unsere Solidarität und Geschlossenheit als auch unser Bekenntnis zu den gemeinsamen Visionen und Werten des Washingtoner Vertrages. Ich unterstreiche für meine Fraktion ausdrücklich,
dass der Grundsatz der Unteilbarkeit der Sicherheit aller
Bündnispartner von ausschlaggebender Bedeutung ist,
wie es auch mein Vorredner sagte. Ich glaube, dass eine
starke kollektive Verteidigung unserer Bevölkerung und
unseres Gebietes, des Bündnisgebietes, das Kernziel
bleibt und dass wir in diesem Zusammenhang die Ziele
und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen bekräftigen sollten.
({3})
In der Tat, die NATO blickt auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurück. Sie war insbesondere in Zeiten der Ost-West-Konfrontation der zentrale verteidigungspolitische Rahmen für Deutschland und seine
Partner. Allerdings war die NATO angesichts der prekären Sicherheitslage während des sogenannten Kalten
Krieges stets zu notwendigen Anpassungen und Veränderungen bereit und fähig. Der Harmel-Bericht mit seinen Pfeilern der Sicherheit und Entspannung hat der
NATO die Chance eröffnet, sich den veränderten außenpolitischen Rahmenbedingungen im Nachkriegseuropa
anzupassen. Die politischen Folgerungen des HarmelBerichtes flossen 1967 in die neue NATO-Strategie ein
und haben die NATO auch als politisches Bündnis gestärkt. Deshalb hat unser Außenminister Frank-Walter
Steinmeier recht, wenn er jetzt und für die Zukunft gewissermaßen einen neuen Harmel-Bericht als Grundlage
für eine grundsätzliche Verständigung über den künftigen Weg hinaus fordert.
60 Jahre nach Gründung des Bündnisses muss die
NATO ihre Zukunftsfähigkeit, die sie oft genug bewiesen hat, zeigen. Ich denke, dass wir durch die Erörterung
von Erweiterungsfragen und - das räume ich ein - auch
durch die Schwierigkeiten, die wir bei der Bewältigung
von Auslandseinsätzen immer wieder haben, eine ehrliche Aufgabendiskussion zu lange vertagt haben.
({4})
Heute steht die NATO vor großen Herausforderungen. Die Bundeskanzlerin hat sie in der Regierungserklärung umfassend beschrieben. Es ist in diesem Zusammenhang für meine Fraktion wichtig, noch einmal
darauf hinzuweisen, dass wir die Rückkehr der französischen Freunde in die militärische Integration der NATO
begrüßen und dass dies natürlich auch eine Stärkung der
NATO bedeutet: politisch wie auch in der Erfüllung ihrer
Aufgaben.
({5})
Die Erweiterung und die politischen sowie sicherheitspolitischen Veränderungen haben natürlich Auswirkungen auf die NATO als militärisches und politisches
Bündnis. Das betrifft sowohl ihre Organisation als auch
ihre strategische Ausrichtung. Mit der neuen amerikanischen Administration weht - das unterstreiche ich für
meine Fraktion - ein frischer Wind durch das Bündnis
und die Strategic Review. Ich teile Ihre Auffassung, Herr
Westerwelle, dass dies aktiv begleitet werden muss und
dass wir jetzt auch die Kontakte mit unseren amerikani23128
schen Freunden nicht nur nutzen, sondern sie auch intensivieren sollten, um unsere Auffassungen zu platzieren,
damit dann im Zusammenhang mit dieser Strategic
Review auch eine Antwort des Bündnisses auf diese
neue Strategie herauskommen kann und wird.
({6})
Ich glaube, dass die Unterstützung der Elder Statesmen sinnvoll ist. Kissinger, Perry, Shultz und Nunn haben der Abrüstungspolitik neuen Schwung gegeben,
den nun die USA und Russland in der Abrüstungspolitik
nutzen. Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt,
Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr haben sich einschlägig geäußert und dienen einer möglichen Renaissance einer Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik,
die die NATO als Präventionsbündnis dringend braucht.
({7})
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen - ich unterstreiche
das, was meine Vorredner gesagt haben; ich bin aber sicher, dass wir auch andere Meinungen hören werden -,
sich grundsätzlich auf Perspektiven für das nächste Jahrzehnt zu verständigen. Deswegen muss dieser Gipfel
Auftakt für eine umfassende Zukunftsdebatte der
NATO sein. Die angestrebte und öffentliche Zustimmung zum neuen Konzept erfordert - das richtet sich
auch an die Bundesregierung - eine frühzeitige Rückkoppelung mit dem Parlament und eine bewusst initiierte
und öffentlich begleitete Debatte. Jetzt haben wir die
Chance, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in diesen
Dialog einzubeziehen. Diese Chance dürfen wir nicht
verstreichen lassen. Dieser Dialog gestaltet sich dank der
Mitwirkung der Weisen, die Akzeptanzpersonen sind,
günstig. Wenn das mit der Ausstrahlungswirkung dieser
außen- und sicherheitspolitisch erfolgreichen Bundesregierung verbunden wird, dann werden wir der vorherrschenden Skepsis gegenüber einer größeren internationalen Beteiligung und einem größeren internationalen
Engagement, insbesondere im Zusammenhang mit unseren Entscheidungen zu Auslandseinsätzen, die wir zu
treffen haben, sinnvoll begegnen und öffentliches Verständnis für globale Zusammenhänge fördern können.
Die SPD-Bundestagsfraktion steht an der Seite einer
aktiven Bundesregierung. Deswegen ist das für mich
eine Zweibahnstraße: die Entwicklung der neuen NATOStrategie und das Fitmachen des Bündnisses für eine Zukunft möglichst ohne militärische Einsätze. Es geht hier
um ein Bündnis für Prävention, Sicherheit und die Werte
der Demokratie: Freiheit, Sicherheit und Wohlstand.
Ich danke.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herrn! Als die NATO nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, wusste die Staatengemeinschaft, dass Sicherheit nur gemeinsam zu erreichen sein würde. Die
NATO wurde als Verteidigungsbündnis konzipiert und
verpflichtete sich auf die Charta der Vereinten Nationen.
In dieser Charta ist festgelegt, dass auf Gewaltanwendung verzichtet wird, außer im Verteidigungsfall. In dieser Charta ist festgelegt, dass selbst die Androhung von
Gewalt kein Mittel der Politik sein soll.
In den 60er-Jahren diskutierte die NATO über die
Strategie des Gleichgewichts. Ein ehemaliger Bundeskanzler hat dazu ein lesenswertes Buch geschrieben. Als
im Zuge der Aufrüstung die Strategie des Gleichgewichts immer mehr hinterfragt wurde, verlor die NATO
an Unterstützung, auch im Westen, in der ehemaligen
Bundesrepublik Deutschland.
({0})
- Bitte schön: im ganzen Westen. - Es gab große Demonstrationen. Hunderttausende versammelten sich im
Hofgarten und wiesen darauf hin, dass unter Bezugnahme auf die Theorie des Gleichgewichts die Überrüstung nicht mehr zu rechtfertigen gewesen sei. Sie wiesen
darauf hin, dass es keinen Sinn macht, sich mehrfach
vernichten zu können und solche Drohungen aufrechtzuerhalten. Sie forderten Abrüstung.
Ich erinnere daran, weil eines im Grunde genommen
immer festzustellen war: In allen Reden wurde zwar die
Abrüstung beschworen, aber in Wirklichkeit wurden
permanent die militärischen Fähigkeiten, wie es so
schön hieß, verbessert. Auch heute noch gehört es zur
Wahrhaftigkeit, zu sagen: Die NATO, dieses Bündnis,
das diesen Werten verpflichtet sein soll, ist verantwortlich für zwei Drittel der Rüstungsausgaben der ganzen
Welt. Das stimmt mit dem, was erklärt wird, schlicht und
einfach nicht überein.
({1})
Nach dem Fall der Mauer hat die NATO ihre Struktur
entscheidend gewandelt. Sie ist nicht länger ein Bündnis,
das der Verteidigung verpflichtet ist, sondern sie ist
heute ein Interventionsbündnis, das völkerrechtswidrige Kriege und Kriege um die Öl- und Gasfelder des
Vorderen Orients führt.
({2})
Eine wahrhaftige Debatte verlangt es, dass wir heute
darüber reden. Diese NATO lehnen wir und viele andere
ab, die demnächst demonstrieren werden, um sich für
Frieden und Abrüstung einzusetzen.
({3})
Wir wollen diese NATO durch eine Verteidigungsgemeinschaft ersetzen, durch ein Bündnis kollektiver
Sicherheit, das in erster Linie dem Frieden und der Abrüstung verpflichtet ist. Wir wollen ein kollektives Verteidigungsbündnis, das den Begriff der Entspannung
wieder in den Vordergrund seiner Politik stellt, wie es
bereits im Harmel-Bericht, der schon erwähnt wurde, gefordert worden ist.
({4})
Es ist falsch, Spannungen zu verschärfen, zum Beispiel,
indem man einseitig Raketen an der Grenze zu Russland
stationiert.
({5})
Wir wollen ein Bündnis, das auf Vertrauensbildung
setzt, was ursprünglich einmal vorgesehen war. Es ist
falsch, dadurch Misstrauen hervorzurufen, dass man entgegen den Versprechungen, die man beispielsweise
Michail Gorbatschow im Zusammenhang mit der Einheit gegeben hat, Zug um Zug weitere Staaten Osteuropas in die NATO aufnimmt; denn dadurch werden alte
Einkreisungsängste in Russland wieder wach. Das ist
doch das Gegenteil von dem, was man versprochen hat.
Das muss heute zumindest einmal angesprochen werden.
({6})
Wir wollen ein Bündnis, das die Zusammenarbeit, die
Kooperation mit anderen wieder in den Vordergrund
seiner Politik rückt; denn Sicherheit ist heute nur gemeinsam zu erreichen. Das gilt im Besonderen für Russland. Wir sind nach wie vor dafür, dass Russland die
Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis angeboten
wird.
({7})
Wir wollen, dass sich das Bündnis dem Völkerrecht
verpflichtet fühlt. Für ein solches Bündnis könnten wir
eintreten. Wir müssen das Völkerrecht wieder zur
Grundlage der deutschen Außenpolitik und zur Grundlage der Bündnispolitik machen. Wir haben in den letzten Jahren das Völkerrecht zur Seite gelegt, wenn nicht
mit Füßen getreten.
({8})
Wie im Inneren eines Staates, so ist auch zwischen den
Staaten das Recht die Grundlage des Friedens. Wer das
Völkerrecht missachtet, dient dem Frieden nicht, sondern verschärft die Spannungen in der Welt und dient
letzten Endes auch nicht den Sicherheitsinteressen unseres Landes.
({9})
Das Völkerrecht wurde im Jugoslawien-Krieg missachtet. Das Völkerrecht wird im Irak-Krieg missachtet.
Das hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt und
dieser Bundesregierung einen Bruch des Völkerrechts
vorgeworfen. Warum redet man nicht darüber?
({10})
- Ich komme gleich darauf zurück. - Das Völkerrecht
wird auch in Afghanistan missachtet. Dort werden die
Genfer Konventionen nicht beachtet.
Wenn man hier sagt, die NATO führt im Vorderen
Orient Öl- und Gaskriege, stößt man auf Skepsis, teilweise auf Empörung. Um dies zu belegen, zitiere ich den
ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten
in Amerika, John F. Kerry, der seine Kandidatur mit folgendem Vorhaben verknüpfte:
Wenn ich Präsident bin, werde ich alles daransetzen, alternative Treibstoffe und die entsprechenden
Fahrzeuge der Zukunft zu entwickeln, damit dieses
Land innerhalb von zehn Jahren vom Öl des Nahen
Ostens unabhängig wird und unsere Söhne und
Töchter nicht mehr für dieses Öl kämpfen und sterben müssen.
Kann man es klarer formulieren, dass es hier um Öl- und
Gaskriege geht? Will man sich dieser Wahrheit einfach
verschließen, und will man keine Konsequenzen daraus
ziehen, meine Damen und Herren?
({11})
Ist dies das viel beschworene Wertebündnis, das hier immer wieder angesprochen wird, ein Bündnis, das auch
als gemeinsamen Wert anerkennt, sich mit militärischen
Mitteln die Rohstoffe anderer Länder zu sichern? Ist dies
die Grundlage dieses Wertebündnisses? Noch in den
80er-Jahren war klar, dass die deutsche Politik ihre Hand
niemals zu einer solchen Politik reichen würde. Leider
ist dieser Konsens der 80er-Jahre völlig verloren gegangen.
({12})
Im Mittelpunkt der Diskussion der letzten Jahre stand
ein Begriff, der für mich einer der gefährlichsten, ja,
wenn man so will, einer der schlimmsten der in der Politik in den letzten Jahren entwickelten Begriffe ist: der
Begriff der humanitären Intervention.
Mit einem Satz haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, an
die Opfer erinnert, meine beiden anderen Vorredner
nicht, und deshalb erinnere ich an dieser Stelle für meine
Fraktion an die Opfer. Im Jugoslawien-Krieg sind nach
unterschiedlichen Angaben 2 000 bis 3 000 Zivilisten
Opfer der Bombardierung geworden. In Afghanistan
sind im letzten Jahr nach internationalen Angaben über
2 000 Zivilisten ums Leben gekommen, 40 Prozent davon - entschuldigen Sie bitte, ich muss diese Zahl nennen - durch die militärischen Aktionen der NATO und
ihrer Verbündeten. Warum reden wir nicht darüber? Warum kam das in einzelnen Reden überhaupt nicht und bei
der Kanzlerin lediglich in einem Nebensatz vor? Die
Zahl der Toten im Irak geht in die Hunderttausende,
wenn nicht über die Jahre hinweg in die Millionen.
An dieser Stelle frage ich noch einmal: Was heißt humanitäre Intervention? Es heißt Dazwischengehen aus
Gründen der Menschlichkeit. Diese gesamte Strategie ist
total unglaubwürdig, weil beispielsweise jetzt in jedem
Jahr 10 Millionen Kinder an Unterernährung sterben,
wegen Seuchen und Wasserverschmutzung, weil jedes
Jahr 12 Millionen Menschen sterben, die an Krankheiten
leiden, die heilbar sind. Wenn wir wirklich humanitär intervenieren wollten, hätten wir hier an dieser Stelle die
Möglichkeit, viele Leben zu retten, ohne andere Menschen ermorden und töten zu müssen.
({13})
Deshalb ist der Begriff der humanitären Intervention,
wenn er das Militärische mit einbezieht, kein Begriff,
auf den man die Außenpolitik stützen kann. Deshalb
macht er denjenigen moralisch unglaubwürdig, der immer wieder mit zu verantworten hat, dass die großen
Menschheitsaufgaben, die mit viel geringerem Aufwand
zu lösen wären, ohne dass man andere Menschen ermordet und umbringt, nicht angegangen werden, während er
beim Militärischen sofort bereit ist, das Humanitäre in
den Vordergrund zu rücken und umfangreiche Mittel dafür aufzuwenden.
({14})
Deshalb genügt es nicht, wenn wir immer wieder an
die Soldatinnen und Soldaten erinnern, die selbstverständlich nicht selbst entschieden haben, diese Aufgabe
zu übernehmen; auch dies stelle ich hier einmal klar. Sie
sind dort, weil wir dies beschlossen, weil der Deutsche
Bundestag diesen Auftrag erteilt hat, und selbstverständlich haben sie eine schwierige Aufgabe, die Anerkennung findet. Aber wir stehen in der Verantwortung, diese
Aufgabe zu hinterfragen.
Wenn jetzt beispielsweise der amerikanische Präsident eine totale Kehrtwende macht und sagt, dieser
Krieg sei nicht zu gewinnen, und hinzufügt, wir hätten
auch eine Exitstrategie ins Auge zu fassen, dann wundere ich mich, dass darüber überhaupt nicht diskutiert
wird.
({15})
Damit zeichnet sich doch eine totale Kehrtwende ab.
Wollen Sie erst dann die Konsequenzen ziehen, wenn
die anderen sagen, nun bequemt euch bitte endlich, einmal umzudenken? Ich fordere hier für meine Fraktion
den Rückzug der Truppen aus Afghanistan. Das ist es,
was auch die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland
nach wie vor will.
Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin hier denjenigen,
die für eine andere Außenpolitik, für eine Friedenspolitik demonstrieren, Respekt gezollt hat. Sie haben recht,
wenn Sie sagen, dass sich die Demonstrantinnen und
Demonstranten an die Regeln des freiheitlichen
Rechtsstaates halten müssen. Dies möchte ich für meine
Fraktion nachdrücklich unterstützen.
({16})
Das gilt aber nicht nur für die Demonstrantinnen und
Demonstranten, sondern genauso für die Staaten, die
diese Veranstaltung organisieren
({17})
und die das Demonstrationsrecht nicht in unzulässiger
Weise einschränken dürfen.
({18})
Ich grüße von hier aus diejenigen, die für den Frieden
demonstrieren wollen. Ich appelliere an sie, die Regeln
unseres Rechtsstaates zu beachten. Ich appelliere aber
auch an die Regierenden, dafür Sorge zu tragen, dass eines der fundamentalsten Rechte, von dem jetzt so oft gesagt wurde, dass wir es der NATO verdanken, ausgeübt
werden kann, nämlich das Recht auf freie Demonstration
für Frieden und Abrüstung.
({19})
Peter Ramsauer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Lafontaine, ich glaube, mit einer solchen marktschreierischen Demagogie
({0})
werden Sie dem Ernst des Themas nicht gerecht.
({1})
Wer so schreit und hinterher lacht, hat unrecht - so lehrt
es ein Sprichwort, das ich in Kinderzeiten gelernt habe
und das von seiner Gültigkeit, lieber Herr Lafontaine,
nichts verloren hat.
({2})
Das sagt der deutsche Volksmund, und Sie sollten sich
an manches, was der deutsche Volksmund lehrt, erinnern.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung von Chancen gesprochen. Jawohl, die NATO ist
eine große Chance für Deutschland, und Deutschland
und Europa brauchen dieses Bündnis. Deutschlands Interessen lassen sich ohne die NATO nicht schützen: Frieden in Europa, Freundschaft mit unseren Nachbarn,
Sicherheit für Handel und Sicherheit für Reisen. In anderen Staaten gehören die nationalen Interessen zum parteiübergreifenden Konsens. In Deutschland ist das leider
nicht ganz so. Hier steht oft schon allein der Begriff „nationale Interessen“ im Geruch politischer Unkorrektheit.
({3})
Ich bin vollkommen anderer Ansicht. Ich glaube, das
Wahren nationaler Interessen macht unsere Außenpolitik
glaubwürdig und berechenbar. Deswegen halte ich es an
einem Tag wie heute für angebracht, von deutschen und
nationalen Interessen in der Außen- und Sicherheitspolitik zu sprechen.
({4})
Zu diesen Interessen gehört die Erfahrung, dass es
ohne die NATO in Deutschland keinen erfolgreichen
Wiederaufbau gegeben hätte, dass es kein Wirtschaftswunder gegeben hätte und dass wir kein Leben ohne
Angst hätten. Ohne die NATO - das sage ich vor allen
Dingen an die Kollegen von der linken Fraktion - hätten
die Bundesrepublik und Westeuropa Stalins Expansionsstreben und damit kommunistischer Diktatur und Misswirtschaft nicht widerstehen können. Das ist eine historische Tatsache.
({5})
Ohne die NATO hätten wir nicht das Glück der Wiedervereinigung gehabt. Auch da sage ich an die Adresse
der Linken: Ohne die NATO würden unsere Landsleute
in den neuen Bundesländern heute nicht in Freiheit und
Sicherheit leben.
({6})
Das gehört zur Wahrheit der letzten 60 Jahre.
({7})
Ohne die NATO hätten wir auch nicht die Erfolge bei
der Abrüstung, die wir zu verzeichnen haben.
Ich werde nie vergessen, dass ich dabei sein durfte,
als der damalige Wirtschaftsminister Michael Glos vor
zwei Jahren in Murmansk eine Anlage zur Verschrottung
ehemaliger sowjetischer Atom-U-Boote eingeweiht hat.
Deutlicher und augenfälliger kann tatsächliche Abrüstung nicht werden.
({8})
Damals in Murmansk war ich stolz darauf, dass die Abrüstungsverhandlungen zu diesen Ergebnissen geführt
haben, sodass wirkliche Abrüstung in Form von Verschrottung stattfinden konnte.
({9})
Herr Kollege Ramsauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?
({0})
Bitte sehr.
({0})
- Aha. Das wusste ich nicht. Jetzt weiß ich es.
Herr Ramsauer, Sie haben ein interessantes Geschichtsverständnis. Sie sagten nämlich, dass die NATO
in der DDR auf die Straße gegangen ist.
({0})
Das ist mir völlig neu.
({1})
Ich sage Ihnen: Es waren die Menschen in der DDR, die
diese massive Bewegung in Gang gesetzt haben, nicht
die NATO. Außerdem haben Sie den Begriff „Freiheit“
verwendet und gesagt, die NATO habe ermöglicht, dass
wir heute in Freiheit leben; das hat auch die Kanzlerin in
ihrer Rede mehrmals erwähnt.
({2})
In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage an Sie:
({3})
Wie weit ist es mit unserer Freiheit gekommen, wenn es
heutzutage in Frankreich und in Deutschland nicht möglich ist, so wie wir es uns vorstellen, zu demonstrieren,
({4})
weil das Demonstrationsrecht massiv eingeschränkt
wurde, sodass es nicht mehr möglich ist, sich öffentlich
zu artikulieren? Das gipfelte darin - ich glaube, dass
viele von Ihnen das gar nicht wissen -, dass in Frankreich sogar verboten wurde, die Friedensfahne, ein internationales Zeichen, aus dem Fenster zu hängen. Die Bevölkerung in Frankreich darf keine Friedensfahnen mehr
aus dem Fenster hängen.
({5})
Wir solidarisieren uns mit diesem Protest und sagen: Wir
wollen das Recht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen,
und wir hoffen, dass am 4. April dieses Jahres viele
Menschen nach Straßburg kommen.
Räumen Sie jetzt erst einmal diese ganzen Klamotten
weg. Ihnen, Frau Kollegin Hänsel, erteile ich einen Ordnungsruf,
({0})
weil Sie bereits zum wiederholten Male gegen die auch
mit den Mitgliedern Ihrer Fraktionsführung abgestimmten Mindestnormen eines vernünftigen parlamentarischen Umgangs verstoßen.
({1})
Ich mache Sie vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass
ich im Wiederholungsfall auch von meinem Recht, Sie
Präsident Dr. Norbert Lammert
von der Sitzung auszuschließen, Gebrauch machen
werde.
({2})
Diese Mätzchen haben mit Parlamentarismus überhaupt
nichts zu tun.
({3})
Herr Präsident, wenn Sie gestatten, fahre ich in meiner Rede fort.
({0})
Ich möchte mir nur eine Bemerkung erlauben - ich bitte,
diese Ausführungen mit Blick auf die Geschäftsordnung
als Antwort zu behandeln; denn dann werden sie nicht
auf meine Redezeit angerechnet -:
({1})
- Ich habe die Zwischenfrage zugelassen; das ist richtig.
Das spricht für Liberalität und Toleranz. - Liberalität
und Toleranz wären heute ohne die NATO nicht möglich.
({2})
Meine Damen und Herren von der Linken, zu dem, was
auf Ihren Transparenten steht - ich habe die Begriffe
„Frieden“, „Peace“ und „Pace“ gelesen -, kann ich nur
sagen: Die größte Friedensgarantie und Friedensmacht war in den letzten 60 Jahren die NATO. Darauf
können wir stolz sein.
({3})
Das wussten die Deutschen, wie ich den Ergebnissen
einer Umfrage entnehmen konnte, schon vor 20 Jahren.
Damals waren 86 Prozent der Deutschen für die NATO.
Nach einer Umfrage des letzten Jahres vom German
Marshall Fund halten heutzutage immerhin noch 62 Prozent der deutschen Bevölkerung die NATO für unentbehrlich. Jawohl, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat recht. Sie von der Linken haben unrecht. Wir
sind stolz auf die NATO.
({4})
Meine Damen und Herren, dank der NATO kann
Deutschland, kann Europa auch mit Russland eine
Nachbarschaft auf Augenhöhe pflegen. Der GeorgienKrieg und der Gaskonflikt haben gezeigt: Russland ist in
der Tat kein einfacher Partner und Nachbar. Es ist dennoch gut, dass der NATO-Russland-Rat seine Arbeit
wieder aufgenommen hat. Selbstverständlich müssen
wir NATO-Partner uns aber untereinander abstimmen,
bevor wir mit Russland beraten. Das gibt großen und
kleinen NATO-Partnern gleichermaßen die Gewissheit
gleicher Sicherheit. NATO und EU stehen im Verhältnis
zu Russland vor ähnlichen - um nicht zu sagen: vor gleichen - Herausforderungen. Sie sollten aus genau diesem
Grunde eine gemeinsame Russland-Strategie verfolgen.
Die NATO ist nicht nur für Europa und Deutschland
eine Chance, sondern auch für die Vereinigten Staaten
und Kanada. Die einzig verbliebene Weltmacht USA
wird mit den Problemen der Welt auch nicht alleine fertig. Jede Auseinandersetzung, selbst wenn sie mit militärischen Mitteln geführt werden muss, ist ein Wettstreit
um Rückhalt, ein Kampf um die Köpfe; wer hier verliert,
hat keinen Erfolg. Im Wettstreit um die öffentliche Meinung hat ein Bündnis natürlich die besseren Chancen als
jeder einzelne Partner für sich.
Die Entwicklung von einer bipolaren zu einer polyzentrischen Welt geht unvermeidlich und unvermindert
weiter. In diesem Kontext vervielfacht ein solches Bündnis den Einfluss, den jeder Partner für sich allein haben
könnte. Die Liste der Themen, die diesseits und jenseits
des Atlantiks unterschiedlich gesehen werden, ist lang:
internationale Gerichtsbarkeit, Klimaschutz, Proliferation und viele Abrüstungsfragen. Bei manchen Aspekten
bringt Präsident Obama Bewegung und Wandel; aber eines ist natürlich auch klar: Präsident Obama wird wie
alle seine Vorgänger im Amt des Präsidenten amerikanische Interessen immer an erster Stelle schützen. Das
müssen wir wissen.
Unser gemeinsames Interesse muss es sein, die transatlantische Partnerschaft zu festigen. Europa und Nordamerika sind sich bei der Analyse der Bedrohungen
einig: Terrorismus, religiöser Fundamentalismus, zerfallende Staaten, internationale Kriminalität. Der GeorgienKrieg hat die Möglichkeit zwischenstaatlicher Konflikte
wieder in das Blickfeld der NATO gerückt. Die Rückkehr Frankreichs in die militärischen Strukturen der
NATO erleichtert jetzt die Kooperation zwischen ESVP
und NATO. Ich glaube, das ist ein großer Schritt hin zu
einer tragfähigen euro-atlantischen Sicherheitspartnerschaft.
Die NATO war und ist nicht nur ein Sicherheits-, sondern auch ein Wertebündnis. Ich halte es für unverzichtbar, darauf hinzuweisen. Herr Kollege Westerwelle, Sie
haben Ihre Ausführungen dankenswerterweise mit diesem Aspekt begonnen, der zu sehr in Vergessenheit gerät.
Zu unseren gemeinsamen Wertvorstellungen gehört
auch das Eintreten für freien Welthandel. Gerade in einer
Zeit wie der heutigen, in der wir uns schwersten weltwirtschaftlichen Verwerfungen gegenübersehen, gehört
nicht Abschottung zu den Rezepten, sondern gerade
freier Welthandel. Auch dazu liefert die NATO einen
wertvollen Beitrag.
({5})
Wir sprechen vom transatlantischen Marktplatz, auf dem
sich jeder ohne Hemmnisse am Handel beteiligen kann.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Europa und Amerika
brauchen eine stabile NATO. Dafür muss gewährleistet
sein, dass sich die NATO nicht überdehnt, dass sie sich
in ihren Operationen nicht verzettelt und dass sie sich
ständig strategisch modernisiert.
Die NATO nicht überdehnen heißt: Die Tür zur
NATO ist zwar für neue Mitglieder offen - wir begrüßen
Albanien im Bündnis; der Beitritt Kroatiens darf, wie Sie,
Frau Bundeskanzlerin, gesagt haben, nicht scheitern -;
aber für alle Beitritte gilt, dass durch jeden Beitritt am
Ende ein Mehr an Sicherheit für die gesamte Allianz geleistet werden muss.
({6})
Die Bewerber stehen deshalb in der Pflicht, die Beitrittskriterien zu erfüllen. In meinen Augen erfüllen
Georgien und die Ukraine diese Beitrittskriterien so
schnell noch nicht, aber es gilt, dass sie weiterhin eine
Beitrittsperspektive haben.
Die NATO darf sich nicht verzetteln. Die Bundeskanzlerin hat gesagt, dass natürlich die Grenzen des Wirkungskreises der Allianz aufgezeigt werden müssen. Das
müssen wir immer klar im Auge behalten, und wir müssen vor jeder Operation sorgfältig und gewissenhaft prüfen, ob die Voraussetzungen für einen solchen Einsatz
erfüllt sind. Dazu gehört auch, dass ein solcher Einsatz
immer in ein zukunftsweisendes und erfolgversprechendes politisches Lösungskonzept eingebunden ist.
Die NATO muss sich strategisch ständig modernisieren. Dazu braucht es keiner neuen speziellen Expertenrunden, denn diese Arbeit kann innerhalb der gegebenen
Gremien der NATO geleistet werden.
Meine Damen und Herren, wenn es die NATO nicht
schon gäbe, dann müssten wir sie heute gründen. Wir
gratulieren der NATO zum 60. Geburtstag. Ich glaube,
wir können sagen: Wir gratulieren uns Deutschen zur
NATO. Wir können es nicht oft und laut genug sagen:
Wir brauchen die NATO als Deutsche, als Europäer und
als Weltbürger für eine Zukunft in Frieden, in Freiheit
und in Sicherheit.
Ich bedanke mich.
({7})
Das Wort erhält jetzt der Kollege Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, wir begrüßen es, dass Deutschland und
Frankreich diesen NATO-Gipfel gemeinsam ausrichten.
Das ist ein wirklich starkes Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft.
Gerade weil wir das begrüßen, wollen wir Ihnen aber
doch etwas Nachdenkliches mit auf den Weg geben: Womit begann eigentlich die deutsch-französische Freundschaft? - Sie begann damit, dass beiderseits der Grenzen
Menschen, wie übrigens auch der spätere Bundeskanzler
Helmut Kohl, damit angefangen haben, die Grenzzäune
abzubauen. Ich frage mich deshalb in der Tat: Ist es eigentlich ein gutes Signal, dass wir jetzt entlang dieser
Grenze zum ersten Mal seit Jahren wieder Grenzkontrollen haben und dass bestimmte Grenzübergänge tagelang
gesperrt sind? Ich frage mich auch: Ist es wirklich ein
gutes Signal, Teile der Einwohnerschaft von Kehl mehrere Tage quasi unter Hausarrest zu stellen? Ich finde,
das ist eine falsche Begleitmusik zu diesem richtigen
Event.
({0})
Die NATO soll eine neue Strategie haben. Ich
glaube, das ist nötig. Übrigens: Gerade weil man in einer
neuen Situation lebt, muss das, was hier gerade zwischen
Herrn Ramsauer und der Linksfraktion aufgeführt
wurde, nicht immer wieder aufgeführt werden.
({1})
An beide gerichtet: Wir haben nicht mehr die 80erJahre. Wir hören heute nicht mehr „bots“, wir hören
„Franz Ferdinand“. Die Blockkonfrontation ist vorbei,
und Sie bekommen das hier auch nicht gemeinsam wieder inszeniert.
({2})
Die NATO hatte eine Funktion: Sie hat unsere Sicherheit gewährleistet. Nach Ende der Blockkonfrontation
hatte sie übrigens noch eine weitere wichtige Funktion:
({3})
Die NATO hat dazu beigetragen, dass es nach dem Ende
der Blockkonfrontation nicht zu einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik gekommen ist. Diese Verdienste sollte man auch nicht durch solche fahrlässigen
Reden, Herr Ramsauer, infrage stellen.
({4})
Seitdem gibt es die Diskussion über die Sinnsuche
und die neue Aufgabenstellung. Frau Bundeskanzlerin,
ich habe versucht, sehr aufmerksam zuzuhören. Wenn
ich die NATO wäre, dann müsste ich als rüstiger 60-Jähriger in Altersteilzeit, der auf der Suche nach einer neuen
Aufgabe ist, sagen: Ich habe Ihren Worten keine wirklich
neue Aufgabenbeschreibung entnommen.
({5})
Dafür hätten Sie auch auf die Probleme eingehen müssen. Wie verhält es sich mit der Konkurrenz zwischen einer gestärkten Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der NATO? Ist es wirklich sinnvoll,
dass die NATO, wenn die EU vor Somalia im Auftrag
der Vereinten Nationen gegen Piraten kämpft, schnell
mit ein paar Schiffen hinterherfahren muss, damit keiner
merkt, dass sie bei dieser Aufgabe weder gefragt noch
notwendig ist? Das ist falsch. Es ist reine Ressourcenverschleuderung.
({6})
Von Ihnen war auch nichts zu der Frage zu hören, wie
die Zukunft der Bundeswehr innerhalb der NATO aussehen soll. Wollen wir weiterhin an einer Wehrpflicht
festhalten, die fast alle unsere NATO-Partner abgeschafft
haben, die uns in vielerlei Hinsicht daran hindert, unseren Bündnisverpflichtungen nachzukommen und von der
die Gerichte sagen, dass sie so, wie sie praktiziert wird,
an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit stehe? Das
wird demnächst vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt. Auf diese Fragen geben Sie keine Antwort.
({7})
Kommen wir zu den Fragen, auf die Sie Antworten
geben. Zur Abrüstung zum Beispiel haben Sie erklärt,
dass Sie Russland von den Vorzügen des KSE-Vertrages
überzeugen wollen. Ich habe einen ganz einfachen Ratschlag, Frau Merkel: Ratifizieren Sie doch endlich den
angepassten KSE-Vertrag! Dann haben Sie ein überzeugendes Argument, um Russland dazu zu bewegen.
({8})
Sie haben zur nuklearen Teilhabe gesagt, man dürfe
den Weg und das Ziel nicht verwechseln. Ich habe nach
Ihrer Rede den Eindruck, für Sie ist und bleibt der Weg
das Ziel, nämlich die nukleare Teilhabe. Sie wollen, wie
Sie wörtlich gesagt haben, nicht auf Ihren Einfluss im
Bündnis auf den Einsatz von Atomwaffen verzichten.
Das ist aber ein anderes Ziel als unseres, und es ist ein
anderes Ziel als das, das Persönlichkeiten wie Henry
Kissinger, Hans-Dietrich Genscher und selbst Helmut
Schmidt in ihrer Global-Zero-Erklärung niedergelegt haben, nämlich die Welt von allen Atomwaffen zu befreien. Das ist das Ziel.
({9})
Es war auch eine Ohrfeige für die Nichtverbreitungspolitik, dass Sie die Aufrüstung Indiens - obwohl Indien
außerhalb des Atomwaffensperrvertrages nuklear aufgerüstet hat - nun mit der Lieferung von Nuklearmaterial
an Indien belohnen. Sie haben in Ihrer Rede festgestellt,
dass sich die Proliferationsrisiken erhöht hätten. Nein,
Frau Merkel, die Proliferationsrisiken sind nicht durch
anonyme Mächte, die das Nichtverbreitungsregime unterwandert haben, erhöht worden, sondern durch Ihre
Politik.
({10})
Afghanistan ist ein weiteres Thema. Ich glaube übrigens nicht, dass die Zukunft der NATO an Afghanistan hängt. Afghanistan darf nicht scheitern. Ein Scheitern - darin stimme ich allen meinen Vorrednern mit
Ausnahme von Herrn Lafontaine zu - hätte insbesondere für die Afghaninnen und Afghanen katastrophale
Folgen. Ich kann das Gerede von der vernetzten Sicherheit - sei es im Dialekt der südhessischen Weinberge, sei
es in Ihrem Templiner Timbre, Frau Bundeskanzlerin nicht mehr hören. Ich möchte, dass das Konzept der vernetzten Sicherheit innerhalb der NATO, das vor zwei
Jahren beschlossen worden ist, umgesetzt wird: in Afghanistan, am Boden, jeden Tag. Das hieße, dass Sie die
Zahl der Polizistinnen und Polizisten und der Polizeiausbilder endlich aufstocken. Die Europäische Union muss
mindestens 2 000 Kräfte zur Verfügung stellen, mindestens 500 davon von deutscher Seite.
Wenn Sie die vernetzte Sicherheit ernst nehmen, dann
muss der Skandal ein Ende haben, dass derzeit mehr
Feldjäger als Bundespolizisten in der Polizeiausbildung
beschäftigt sind. Das ist ein Versagen der Bundesregierung bei der vernetzten Sicherheit.
({11})
Wenn Sie die lokalen Kräfte stärken wollen, dann
stellt sich die Frage, wie sich das mit dem Vorfall am
vergangenen Wochenende vereinbaren lässt, als in Imam
Sahib in der Provinz Kunduz das Gästehaus eines mit
uns verbündeten Bürgermeisters - möglicherweise hat
ihn auch Herr Jung bei seinem letzten Treffen mit den
Stammesältesten getroffen - von einer Geheimdienstoperation der Amerikaner betroffen war. Nach EUPOLAngaben - nicht nach NGO-Angaben - hatte diese Operation zur Folge, dass vier Personen entführt worden
sind. Der Leibwächter, der Koch, der Fahrer und ein
weiterer Angestellter des Bürgermeisters sind erschossen worden. Das alles hat im Norden Afghanistans stattgefunden, also dort, wo Deutschland Verantwortung
trägt. Es ist ohne Zustimmung und Unterrichtung
Deutschlands passiert. Wenn Sie von vernetzter Sicherheit reden, dann müssen Sie endlich dafür sorgen, dass
mit solchen Kommandoaktionen, die den Erfolg der
NATO-Operation massiv infrage stellen, in ganz Afghanistan und insbesondere dort, wo die Deutschen Verantwortung haben, endlich Schluss gemacht wird. Das ist
die Herausforderung, wenn man über vernetzte Sicherheit redet.
({12})
Ich habe den Eindruck, Frau Merkel: Sie sind auf die
neue Zeit und die neue Administration in den USA überhaupt nicht vorbereitet. In München haben Sie sich in Ihrem Beitrag zum Iran auf die Frage nach neuen Sanktionen beschränkt. Mittlerweile bietet Barack Obama einen
Dialog an. Der Iran nimmt nächste Woche an der Konferenz in Den Haag teil. In der heutigen Regierungserklärung begrüßen Sie den Besuch von Barack Obama in
Europa. Letztes Jahr, als er vor dem Brandenburger Tor
reden wollte - übrigens eine gute Rede -, waren Sie
noch gar nicht so begeistert. Sie haben angesichts der aktuellen Situation einfach nicht verstanden, umzuschalten. Das, was die neue Politik der USA ausmacht, ist ein
Angebot zum Dialog. Dazu gehört, zuzuhören. Dazu
gehört aber auch, die eigenen Probleme und die Konflikte anzusprechen. Eine wortreiche Richtungslosigkeit
- nichts anderes war Ihre heutige Regierungserklärung hilft dabei überhaupt nicht. So werden Sie nicht zum Akteur der internationalen Politik. Das muss beendet werden.
({13})
Das Wort erhält nun der Kollege Gert Weisskirchen
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Frau Bundeskanzlerin, wenn
man sich 60 Jahre NATO in einem Zeitraffer vor Augen
führt, dann wird man zu folgendem Ergebnis kommen
können: Zuerst stand Containment, die Eindämmung der
Gefahren, die insbesondere von der damaligen Sowjetunion ausgingen, im Mittelpunkt. Dann kam die Phase
der Entspannung, eingeleitet durch den Harmel-Bericht
und die Politik der sozialliberalen Koalition unter Willy
Brandt und Walter Scheel. Dann kam die Öffnung der
NATO. Lieber Kollege Lafontaine, bei all dem, was Sie
mit Blick auf ein Geschichtsgemälde beschrieben haben,
haben Sie offenbar vergessen - ich kann mich noch gut
daran erinnern -, dass Sie es waren, der gesagt hat:
Nehmt doch Russland bzw. die Sowjetunion in die
NATO auf! - Wer sich wie Sie heute hier hinstellt und
geradezu einen Schattenriss von Ängsten und Problemen
im Zusammenhang mit der NATO deklamiert, der sollte
sich bitte daran erinnern, was er selbst einst gesagt hat.
({0})
Dann werden Sie zu einem ganz anderen Ergebnis kommen.
({1})
Es handelt sich hier um einen Lernprozess. Ich gestehe freimütig zu, dass ich ihn selber mitgemacht habe.
Als die Mauer fiel, gab es in Europa Sorgen - daran
kann ich mich noch sehr gut erinnern -: Wie wird sich
Deutschland nun entwickeln? Wird Deutschland in der
EU und der NATO, dem Verteidigungsbündnis, ein konstruktiver Partner und Nachbar bleiben? Oder werden
sich möglicherweise diejenigen in Deutschland, die gegenüber der NATO und der EU kritisch eingestellt sind
- dazu gehören auch Sie -,
({2})
durchsetzen? Wird es möglich sein, Deutschland in den
Allianzen des Westens fest zu verankern, oder wird
Deutschland, wenn das nicht der Fall ist, einen Nationalisierungskurs einschlagen, der dazu führen würde, dass
Deutschland wieder zu einer Gefahr für andere werden
kann? Der Sinn der Allianzen, in die wir eingetreten sind
und die wir festigen wollen, ist doch, dass Deutschland
ein konstruktiver Nachbar ist und sich an Maßnahmen
zur Sicherung von Frieden und Freiheit beteiligt. Das ist
der zentrale Sinn jener westlichen Allianzen.
({3})
Wer das im Ernst infrage stellt, wer beispielsweise
den Lissabon-Vertrag ablehnt, wer die NATO in der
Form, wie es hier geschehen ist, angreift, lieber Kollege
Lafontaine, der wird Fragen heraufbeschwören. Unsere
polnischen und anderen Nachbarn werden fragen, was
das für ein Deutschland ist, das sich aus den westlichen
Allianzen herauszulösen versucht. Dann wird die Angst
vor Deutschland wieder groß werden. Das müssen wir
doch gemeinsam verhindern. Deswegen noch einmal:
Der konstruktive Beitrag, den die Bundesrepublik
Deutschland in jeder Phase der NATO - Eindämmung,
Entspannung, Öffnung - geleistet hat, ist ein Beitrag
zum Frieden in Europa und in der Welt. Darauf werden
wir weiterhin aufbauen.
Jetzt kommt die entscheidende Frage - die Frau Bundeskanzlerin hat sie gestellt -, nämlich was das mit Blick
auf die Zukunft heißt. Welche Form muss die NATO annehmen, in welche Richtung wird sie sich weiterentwickeln, und wie könnte die Überschrift über die nächste
Phase lauten? Ich würde vorschlagen, sich zu überlegen,
ob die NATO nicht wieder an die zweite Phase, die sie
stark gemacht hat, anknüpfen kann. Ich meine damit,
nach der Öffnung wieder zur Entspannung zurückzukehren und einen eigenständigen Beitrag dazu zu leisten.
Entspannung fängt mit Abrüstung und Rüstungskontrolle an. Wir haben doch jetzt Verbündete auf der anderen Seite des Atlantiks, die genau dieses Ziel - ich erinnere an den Präsidentschaftswahlkampf von Barack
Obama - vertreten. Obama ist einer derjenigen in den
USA, die gesagt haben: Wir wollen eine von Massenvernichtungswaffen freie Welt. - Welchen besseren Bündnispartner können wir, die Bundesrepublik Deutschland
und Europa, uns denn gemeinsam wünschen, damit diese
Vision wieder zur Überschrift über das auch militärische
Bündnis wird? Ich möchte bei all der Kritik, die wir an
der NATO üben können, darum bitten, mit zu berücksichtigen - der Kollege Trittin hat eben darauf hingewiesen -, dass die NATO nicht nur die Renationalisierung
verhindern kann, sondern dass sie auch bei der Öffnung
gegenüber Osteuropa eine, wenn man so will, Reformorientierung der Militärs in den dortigen Staaten durchgesetzt hat. Das, was damals noch viel zu stark diktatorisch ausgerichtet war, ist durch den Einfluss der NATOPartnerschaften demokratisiert und zivilisiert worden.
All das sind Schritte, die uns gemeinsam geholfen haben, unseren Kontinent besser zu machen und dafür zu
sorgen, dass von unserem Kontinent Frieden ausstrahlt.
Natürlich werden wir noch eine Reihe von Fragen beantworten müssen, die sich auf dem Wege, den wir zu
bewältigen haben, stellen. Lassen Sie mich am Schluss
einige ganz kurz nennen. Wollen wir künftig aktiver handeln, um zu Stabilität in solchen regionalen Konflikten
beizutragen, die unsere Sicherheit existenziell bedrohen?
Das ist eine ganz zentrale Frage. Ich meine, es wird da23136
Gert Weisskirchen ({4})
bei immer darauf ankommen, dass dann, wenn wir uns
an solchen Konfliktlösungen beteiligen, unverrückbar
im Mittelpunkt die Bindung unserer Handlungen an das
eigene Recht, an die Verfassung und an das Völkerrecht
stehen muss.
({5})
Deshalb ist für uns ganz zentral, dass die Beschlüsse der
UNO und des Weltsicherheitsrats die Legitimationsgrundlage für dieses Handeln sein müssen. Dass dies im
Falle des Kosovo anders war, darf nicht als Begründung
herangezogen werden, um sich künftig anders zu verhalten. Die damalige Handlung muss eine Ausnahme bleiben. Das Völkerrecht, die UNO-Charta und die Entscheidungen des Weltsicherheitsrats sind die Grundlagen
für unser eigenes Handeln. Das muss und wird auch so
bleiben. Es wird darauf ankommen, wie die Instrumente
verbessert werden können, damit Europa und die Bundesrepublik Deutschland ein Faktor des Friedens, der
Freiheit und der Solidarität bleiben bzw. wieder neu werden.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Rainer Stinner ist der nächste Redner
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
vielen der bisherigen Reden ist davon gesprochen worden, welche Bedeutung die NATO für Deutschland hat.
Dazu ist vieles Richtige und Wichtige gesagt worden.
({0})
Ich möchte die Frage umdrehen: Welche Bedeutung
hat Deutschland für die NATO, und wie wird diese Rolle
ausgeführt? Ohne jeden Zweifel sind wir der zweit- bzw.
drittgrößte und wichtigste Partner in der NATO. Füllen
wir diese Rolle auch wirklich aus? Daran sind Zweifel
angebracht.
({1})
Es gibt eine ganze Reihe von Situationen, in denen auch
wir als Parlamentarier mit Planungen der NATO konfrontiert werden, ohne das Gefühl zu bekommen, dass
Deutschland bei diesen Planungen einen wichtigen Input
gegeben hat. Ich möchte zwei Beispiele bringen:
Erstens. Gegenwärtig wird im Rahmen der NATO intensiv geplant, die Präsenz im Kosovo sehr deutlich zu
reduzieren, und zwar von 14 000 auf - in 18 Monaten 1 800 Soldaten. Das sind Planungen; ich weiß es. Unsere
Frage an die Bundesregierung, was der deutsche Beitrag,
wo die deutsche gestalterische Kraft ist, ist bisher vage,
wenn überhaupt, beantwortet worden. Es ist wichtig,
dass wir, Deutschland, als zweit- bzw. drittgrößter Truppensteller bei vielen Kontingenten unseren Einfluss in
der NATO wirklich geltend machen. Die gestalterische
Kraft Deutschlands in der NATO muss gestärkt werden.
({2})
Zweitens. Die NATO-Response-Force, die NATOEingreiftruppe, ist gescheitert - das muss man so deutlich sagen -, und zwar konzeptionell und auch von der
Ausführung her. Ich gebe zu, dass wir als Deutsche treu
und brav auf Punkt und Komma unsere Aufgaben erfüllt
haben. Jawohl, das ist richtig. Das nützt aber nichts,
wenn wir feststellen müssen, dass das Konzept der NRF
insgesamt gescheitert ist, und zwar nicht nur militärisch,
sondern vor allen Dingen politisch. Fälschlicherweise ist
auf einem NATO-Gipfel die militärische Einsatzfähigkeit der NRF konstatiert worden; aber spätestens ein halbes Jahr danach mussten wir feststellen, dass die politische Einsatzfähigkeit dieses Instruments nicht gegeben
ist. Auch hier müssen wir als Parlamentarier und als
Deutsche erwarten, dass die deutsche Bundesregierung
deutlicher sagt, wie sie ein solches Instrument der NATO
in Zukunft gestalten möchte. Dieser Input muss gegeben
werden. Hier muss Deutschland nachlegen.
Deutschland kann seinen Einfluss in der NATO natürlich nur geltend machen, wenn dem eine breite außenund sicherheitspolitische Debatte in unserem Lande
vorausgeht. Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesaußenminister, Herr Verteidigungsminister, auch hier muss ich
am Ende der Wahlperiode sagen: Deutschland hat seine
Hausaufgaben in den letzten vier Jahren nicht gemacht.
Sie hätten anlässlich der Debatte über das Weißbuch die
Chance gehabt, eine breite gesellschaftliche Debatte
über Außen- und Sicherheitspolitik zu führen. Das haben
Sie versäumt. Das Weißbuch vermodert in den Schränken; es wird kaum zur Kenntnis genommen. Auch hier
im Deutschen Bundestag wird kaum darauf rekurriert.
Frau Bundeskanzlerin, meine Herren Minister, ich
hoffe - damit möchte ich schließen -, dass die jetzige
Debatte über das wichtige neue NATO-Konzept auch
Sie, die Bundesregierung, endlich dazu bringt, die dringend notwendige grundsätzliche Debatte über Außenund Sicherheitspolitik in Deutschland anzustoßen und
breit zu führen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort erhält der Kollege Eckart von Klaeden für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
({0})
Mir fehlt die Zeit, auf alles einzugehen, was von den
Oppositionsfraktionen hier vorgetragen worden ist. Ich
will aber als vertrauensbildende Maßnahme dem Kollegen Trittin gegenüber ankündigen, dass jedenfalls ich
auf Ihren Satz, die Wehrpflicht hindere uns daran, unseren Bündnisverpflichtungen nachzukommen, in den
kommenden Wochen und Monaten zurückkommen
werde. Auch Ihre Darstellung unserer Position zum
AKSE-Vertrag halte ich für grundlegend falsch. Der Ansatz der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen ist es, in einer Zug-um-Zug-Ratifizierung dazu zu
kommen, dass Russland seinen Verpflichtungen, unter
anderem aus den Istanbul-Commitments, nachkommt.
Sie treten jetzt für eine Ratifizierung ein, ohne dass
Russland diesen Verpflichtungen nachkommt. Das halte
ich für falsch.
({1})
Die NATO ist am 4. April 1949 gegründet worden.
Sie ist eine Reaktion auf die Erfahrungen des Zweiten
Weltkriegs gewesen. Der Zweite Weltkrieg ist nicht deswegen ausgebrochen, weil man mit Hitler zu wenig verhandelt hat oder weil man auf angebliche Anliegen von
Nazideutschland nicht genug eingegangen ist - ich erinnere nur an das Münchner Abkommen von 1938 -, sondern er ist deswegen ausgebrochen - so jedenfalls die
Überzeugung der Gründer der NATO -, weil man Nazideutschland nicht entschlossen entgegengetreten ist,
weil die europäischen Staaten ihre Bündnisverpflichtungen, Polen gegenüber zum Beispiel, nicht haben erfüllen
können oder wollen und weil die Vereinigten Staaten
von Amerika sich nach dem Ersten Weltkrieg vom europäischen Kontinent zurückgezogen haben.
Daraus hat man die Konsequenz gezogen, dass die
freien Nationen Europas und die Vereinigten Staaten ein
dauerhaftes Verteidigungsbündnis eingehen müssen, das
die Präsenz der Amerikaner in Europa als Garantiemacht
für unsere Sicherheit und unsere Freiheit gewährleistet.
Diese Erkenntnis ist nach wie vor richtig. Wenn wir uns
aber das Statement des ersten NATO-Generalsekretärs
Lord Ismay ansehen, der nach dem Grund für die NATO
gefragt wurde und gesagt hat: „It is to keep the Russians
out, the Americans in and the Germans down“ - die Russen draußen zu halten, die Amerikaner drin zu halten
und die Deutschen niederzuhalten -, dann zeigt sich
doch, wie sehr sich die NATO Gott sei Dank verändert
hat. Wir können insbesondere darauf stolz sein, dass der
60. Geburtstag in Deutschland und Frankreich gefeiert
wird.
({2})
Die NATO hat sich weiterentwickelt. Die territoriale
Verteidigung, die im Kalten Krieg für uns das Wichtigste
gewesen ist, spielt für uns heute keine so große Rolle
mehr. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es Bündnisstaaten gibt, die nach wie vor auf die Art.-5-Garantie zu
Recht großen Wert legen. Das gilt zum Beispiel für die
baltischen Staaten. Das gilt aber auch für die Türkei; das
wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, dass Iran,
Irak und Syrien zu ihren Nachbarn gehören.
Zur territorialen Verteidigung sind die Dimensionen der
regionalen und der globalen Sicherheit hinzugekommen.
Eine wichtige Erkenntnis aus der aktuellen sicherheitspolitischen Diskussion ist, dass diese unterschiedlichen Ebenen unserer Sicherheitspolitik nicht gegeneinander ausgespielt werden können, sondern, im Gegenteil, einander
ergänzen. Man kann globale Sicherheit nicht auf Kosten der regionalen Sicherheit gewinnen. Man kann territoriale Sicherheit nicht gewinnen, wenn man nicht
auch die Dimensionen der regionalen und der globalen
Sicherheit berücksichtigt. Der Satz von Peter Struck,
dass Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, hat nach wie vor seine Gültigkeit.
({3})
Für die regionale Sicherheit ist erstens die Erweiterung von NATO und Europäischer Union als Rahmen
von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden in
Europa ein gutes Beispiel. Dafür, wie sehr dieser Rahmen gefährdet ist, auch auf regionaler Ebene, sind die
Balkan-Kriege und wiederum der Kosovo-Einsatz Beispiele.
Weil der Kosovo-Einsatz so häufig von der Linkspartei angesprochen wird, will ich in diesem Zusammenhang auf das jüngste Urteil des UN-Tribunals für das
ehemalige Jugoslawien verweisen, in dem Milan
Milutinovic, der Nachfolger von Slobodan Milosevic als
serbischer Präsident, freigesprochen worden ist. Das ist
nicht bemerkenswert; denn jeder Angeklagte hat vor diesem UN-Tribunal das Recht auf einen fairen Prozess,
und er bekommt ihn auch.
Interessant ist aber, was das Gericht im Rahmen der
Verurteilung der anderen Angeklagten festgestellt hat,
und zwar zum großen Teil aus serbischen Quellen. Es
führt in seiner über 1 700 Seiten langen Begründung aus:
Einheiten des serbischen Innenministeriums und serbische Truppen haben zwischen März und Mai 1999 mehr
als 700 000 Albaner über die Grenzen des Kosovo getrieben. In Kosovo wurden ganze Landstriche verwüstet.
Ein albanisches Dorf nach dem anderen ging in Flammen auf. Es wurde belegt - wiederum durch serbische
Quellen -, wie Belgrader Truppen Zivilisten ermordeten,
die sich in Kellern, Wäldern, gar in Flussläufen versteckt
hatten. Das Urteil zeigt auf, wie Menschen ertränkt wurden, indem man sie in Brunnenschächte warf. In dem
Urteil wird ebenfalls deutlich, dass ein Großteil dieser
Verbrechen auf die zusammengestellten Sondereinheiten
der serbischen Polizei zurückgeht, die am schlimmsten
wüteten. Sie waren zum Teil aus amnestierten Straftätern
zusammengestellt. Diese Einheiten kennen wir bereits
aus anderen Auseinandersetzungen, aus den Kriegen in
Bosnien-Herzegowina.
Das bringt mich zu dem Massaker von Srebrenica
1995. Die dortigen Massenexekutionen - über 8 000 Männer und Jungen und auch einige Frauen sind ermordet
worden - liefen nach einem typischen Muster ab: Zuerst
wurden die Opfer in leerstehenden Schulgebäuden und
Lagerhäusern interniert. Ihnen wurden Nahrung und Getränke verweigert. Sie wurden in Busse und Lastwagen
verfrachtet und zu den Exekutionsräumen verbracht.
Dort hat man ihnen die Augen verbunden und die Arme
auf dem Rücken gefesselt. Man hat den Gefangenen befohlen, sich aufzureihen. Dann wurden sie erschossen.
Sie fielen in die Massengräber. Diejenigen, die die Salven überlebten, wurden mit weiteren Schüssen getötet.
Während die Exekutionen stattfanden, wurde schweres
Erdräumgerät herangefahren, um die zum Teil noch lebenden Menschen mit Erde zu überdecken. Danach hat
es mehrfache Umbettungen dieser Massengräber gegeben, um die Spuren zu verwischen.
Das sind alles keine Neuigkeiten. Das alles haben wir
gewusst, als wir uns im Jahre 1999 schweren Herzens
dazu entschlossen haben, durch einen Einsatz der NATO
diesem Treiben ein Ende zu setzen, und diesem Treiben
ist ein Ende gesetzt worden. Das ist unsere Entscheidung
gewesen. Ihre Entscheidung ist es gewesen, dass Ihr
heute noch amtierender Fraktionsvorsitzender am
14. April gut erholt und wohl gebräunt Herrn Milosević
umarmt und geküsst hat.
({4})
Es ist die dritte Ebene, die globale Sicherheit, für die
die NATO auch erforderlich ist und die unseren Einsatz
im Bündnis rechtfertigt, nämlich den Einsatz in Afghanistan. Auf den einen Grund, warum dieser Einsatz für
uns wichtig ist, ist immer wieder hingewiesen worden,
nämlich dass Afghanistan Brutstätte, Vorbereitungsraum
und sicherer Hafen für Terroristen gewesen ist und dass
die Angriffe auf die Twin Towers und das Pentagon
- übrigens auch über Deutschland - in Afghanistan ihren
Ursprung genommen haben.
Der zweite Aspekt, warum Afghanistan für uns wichtig ist, missfällt Ihnen besonders. Es gibt zwei Daten, die
für das Jahr 1989 von besonderer Bedeutung sind. Das
eine ist der häufig zitierte 9. November 1989, an dem die
Mauer gefallen ist. Ein anderes wichtiges Datum - nicht
für unsere Region, aber für Afghanistan - ist der
15. Februar 1989, der Tag, an dem der letzte sowjetische
Soldat Afghanistan über die Freundschaftsbrücke nach
Usbekistan hat verlassen müssen. Zwischen beiden Daten besteht ein Zusammenhang. Da Sie aber mit diesen
beiden Ereignissen nicht einverstanden sind, wundert es
mich auch nicht, dass Sie sich so vehement dagegen
wenden, dass wir den Fehler nicht wiederholen, der Anfang der 90er-Jahre gemacht worden ist, nämlich dass
wir uns dafür einsetzen, dass Afghanistan ein so stabiles
Land werden kann, dass die Taliban nicht wieder zurück
an die Macht kommen können, sondern dass Afghanistan seinen eigenen Weg zur Demokratie auf der Grundlage universaler Prinzipien wie Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit finden kann.
({5})
Uns ist klar, dass in den nächsten Jahren der Einsatz
zur Verhinderung von Failing States - davon ist gesprochen worden -, aber auch der Einsatz zur Stabilisierung
von Failing oder Failed States, also gescheiterten bzw.
scheiternden Staaten, ein wesentlicher Teil unserer
Sicherheitsvorsorge bleiben wird. Wenn diese Erkenntnis richtig ist, dann ist das, was von der Koalition vorgeschlagen wird und von der Bundeskanzlerin hier noch
einmal betont wurde, die einzig richtige Konsequenz
daraus, nämlich der Comprehensive Approach, der
Ansatz der vernetzten Sicherheit, der besagt, dass
nicht allein mit militärischen Mitteln für Frieden gesorgt
wird, sondern diese mit dem zivilen Aufbau kombiniert
werden. Ohne militärische Sicherheit ist kein ziviler
Aufbau möglich. Aber militärische Sicherheit wird mittel- und langfristig nicht zu erreichen sein, wenn es die
Komponente des zivilen Aufbaus nicht gibt. Beides ist
untrennbar miteinander verbunden und aufeinander angewiesen.
Deswegen müssen wir auch darüber nachdenken
- das soll mein letzter Satz sein -, wie wir auf europäischer Seite die Kapazitäten für diesen vernetzten Ansatz
verbessern können. Es reicht nicht, ihn zu fordern; wir
müssen unseren Forderungen und Reden auch Taten folgen lassen. Deswegen ist die Rückkehr Frankreichs in
die militärische Integration der NATO so wichtig, weil
der ideologische Streit zwischen einer Außen- und
Sicherheitspolitik in der EU und einer Außen- und
Sicherheitspolitik in der NATO nun endgültig der Vergangenheit angehören kann. Wir müssen aber, wenn wir
unseren eigenen Prinzipien folgen wollen, auch bereit
sein, auf der zivilen Seite mehr als bisher zu tun.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Wolfgang
Gehrcke das Wort.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Eigentlich habe
ich wenig Neigung, mich mit dem seltsamen Geschichtsbild des Kollegen von Klaeden, das nicht besonders begründet war, auseinanderzusetzen.
({0})
Wenn jemand heute immer noch nicht in der Lage ist, zu
erkennen und hier auszusprechen, dass das Zusammenwirken von deutscher Rüstungsindustrie und deutschem
Großkapital und die Verachtung von demokratischen Errungenschaften letztendlich zur Nazidiktatur geführt haben, halte ich das für rückschrittlich und wenig bemerkenswert.
({1})
Ich wollte aber an Sie appellieren, ein Stückchen Anstand auch gegenüber Kollegen, die anderer Auffassung
sind, nicht zu verlieren. Mein Kollege Gysi ist nach Belgrad zu dem Gespräch mit Milosevic gefahren, um ihm
deutlich zu machen: Wenn man den Druck auf die Albaner im Kosovo aufrechterhält, wird es zum Krieg kommen. Wenn die Gräueltaten nicht gestoppt werden, wird
der Krieg die Antwort sein. - Gysi ist nicht hingefahren,
um sich mit Milosevic zu umarmen, sondern um ihm zu
sagen: Wer die UNO nicht holt, wird die NATO erhalten. - Ich finde, das verdient Respekt,
({2})
weil es eine andere Position war, als einen Krieg vom
Zaun zu brechen. Diesen Respekt sollte man bei aller unterschiedlichen Auffassung auch hier nicht verlieren.
Man kann das für falsch halten und muss diese Position
nicht teilen. Ich fand jeden Versuch, den Frieden dort zu
retten und zu bewahren, richtig. Man sollte auf jeden
Fall unterstellen, dass es in vernünftiger und lauterer Absicht geschehen ist. Wenn nicht in dieser Art und Weise
miteinander gesprochen wird, dann werden auch die
Kalter-Krieg-Reden, die hier gehalten werden, nicht
enden. Ich fand, Sie haben hier eine Kalter-Krieg-Rede
gehalten, die uns überhaupt nicht voranbringt.
({3})
Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden.
Herr Kollege Gehrcke, ich stelle bemerkenswerte
Parallelen fest. Der erste Punkt: Unsere Analysen dessen, was zum Zweiten Weltkrieg geführt hat, verlaufen
in der Tat diametral. Wir werden über die Ursachen sicherlich im Laufe des Jahres noch sprechen; es gibt ja
das eine oder andere Jubiläum, bei dem man darauf noch
wird hinweisen können. Ein Gedenktag wird sicherlich
der 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes sein, den man
aus guten Gründen als das Manifest des Antieuropa bezeichnen kann. Die Sowjetunion ist zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einer der wichtigsten Verbündeten Nazideutschlands gewesen.
({0})
Vielleicht sprechen wir dann auch über die Frage, wer
das heute noch leugnet oder in diesem Punkt die Geschichte verklärt.
({1})
Das gilt auch für den zweiten Punkt, den Sie angesprochen haben. Sie haben wenigstens nicht infrage gestellt, dass Herr Gysi Herrn Milosevic umarmt und
geküsst hat; davon gibt es auch entsprechende Filmaufnahmen.
({2})
Aber Sie hätten auch sagen können, dass Sie mit Ihren
Initiativen in Wirklichkeit versucht haben, jeden ernsthaften Verhandlungsansatz,
({3})
um den wir uns wirklich bis zuletzt bemüht haben, zu
unterlaufen. Ein guter Beleg dafür ist die Tatsache, dass
die Massaker, die Verbrechen, die von serbischer Seite
verübt worden sind, von Ihnen und Ihnen nahe stehenden Presseorganen nach wie vor verschwiegen, verniedlicht oder heruntergespielt werden.
({4})
Genauso wie es eine Gemeinschaft der Demokraten gibt,
gibt es in dieser Frage eine Übereinstimmung der Extremisten; diese Haltung ist exakt die, die auch von NPD
und DVU vertreten wird.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Alexander Bonde das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts des Treffens der Regierungschefs sowie der
Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Staaten
nächste Woche im Badischen muss man sich entscheiden, ob man ein Klassentreffen zum 60-jährigen Jubiläum inszenieren will oder ob man die Frage aufwerfen
will: Welche Rolle hat zukünftig die NATO, und mit
welchem strategischen Ansatz reagiert das Bündnis auf
eine völlig veränderte Welt?
Die Kanzlerin hat keine Antwort auf die Frage geliefert, wohin es mit der NATO gehen soll. Sie hat vor allem erneut keine Taten angekündigt und auch nicht
signalisiert, was die deutsch-französischen Gastgeber zu
tun gedenken, um einen Anstoß in Richtung einer neuen
Strategie zu geben. Frau Merkel, sowenig Moderieren
und Reden hilft, ein Land zu regieren - wir erleben auch
in anderen Bereichen, dass Sie nicht handeln -, so wenig
wird die NATO es schaffen, ihre neue Rolle zu finden,
wenn man den anstehenden Gipfel auf Galadiners und
ein Unterhaltungsprogramm der Weltklasse reduziert,
wie es von der Bundesregierung in Baden-Baden inszeniert wird.
Auch in Sachen Afghanistan müssen Sie zeigen, ob
Ihre Ankündigungen etwas wert sind. Sie haben erneut
bekannt, wie wichtig der Aufbau ist, und haben eingefordert, das Bündnis müsse mehr tun. Ich sage Ihnen, weshalb Ihnen eine solche Argumentation ohne entsprechende Taten auf die Füße fällt. Sie setzen beim NATOGipfel 15 000 Polizisten aus den Ländern und über 6 000
Bundespolizisten ein. In anderthalb Tagen werden allein
auf deutscher Seite mehr Stunden Polizeiarbeit abgeleistet, als Deutschland 2008 für die Polizeiausbildung in
Afghanistan aufgewendet hat.
({0})
Das ist eine Glaubwürdigkeitslücke, die durch die Kluft
zwischen Reden und Handeln der Bundesregierung entsteht. Addiert man die Kosten für diesen Gipfel, so
kommt man nahe an den Betrag heran, den Deutschland
in einem Jahr für den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan ausgibt. Auch da tut sich eine Glaubwürdigkeitslücke auf. Eine schöne Sonntagsrede hier ist eben kein
Beitrag zum Wiederaufbau in Afghanistan.
({1})
Das Fatale ist, dass Sie auf einen Gipfel der Symbole
setzen. Das Bekenntnis zur deutsch-französischen
Freundschaft, das hier ausgedrückt werden soll, zeigt
sich vor Ort dadurch, dass die Grenze zum ersten Mal
seit Jahrzehnten geschlossen ist. Es zeigt sich dadurch,
dass Sie für einen zehnminütigen Fototermin auf einer
Brücke über dem Rhein die Stadt Kehl zwei Tage lang
zu einer Sicherheitszone machen und 700 Menschen unter Hausarrest stellen. Diese Symbole sind eben nicht
Ausdruck der deutsch-französischen Freundschaft,
({2})
sondern sie zeigen, wie weit Berlin vom Schwarzwald
entfernt ist und wie wenig Ahnung Sie davon haben, was
deutsch-französische Freundschaft vor Ort konkret bedeutet. Weder Abiturienten, die in Turnhallen ihr Abitur
schreiben müssen, noch zwei Tage lang gesperrte Autobahnen und Bundesstraßen von 45 Kilometer Länge
oder Menschen unter Hausarrest sind ein Symbol für
Freiheit und Sicherheit. Sie sind vielmehr Ergebnisse einer auf Prestige gerichteten Planung der Bundesregierung, die lieber Pomp an drei unterschiedlichen Orten inszeniert, anstatt die Strategiedebatte in der NATO
tatsächlich anzugehen. Das ist das eigentliche Versagen
der Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Dies ist ein Grund, sich bei den Bürgerinnen und
Bürgern zu entschuldigen, aber kein Grund, sich in Lobhudeleien zu ergehen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Der anstehende Gipfel der NATO, Herr Kollege Bonde,
ist mehr als eine Familienfeier zum 60-jährigen Jubiläum.
({0})
Der Gipfel stellt wichtige Weichen für die Zukunft des
Bündnisses, indem neue Mitglieder aufgenommen werden und Frankreich in die integrierten Kommandostrukturen zurückkehrt.
Herr Kollege Trittin, in der Rückkehr Frankreichs in
die NATO liegt eine Chance, dass der Interessenkonflikt,
der darin besteht, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Konkurrenz zur NATO zu sehen,
eine Diskussion ist, die der Vergangenheit angehört.
Auch unsere osteuropäischen Partner werden erkennen:
Die Säule der europäischen Fähigkeiten stärkt die
NATO. Ich möchte nicht von der Vision ablassen, dass
es eines Tages sehr eng verzahnte europäische Streitkräfte als einen europäischen Pfeiler innerhalb des
Bündnisses gibt.
({1})
Innerhalb der NATO wird aber natürlich aufzunehmen sein, wie sich die Welt seit 1999 verändert hat. Ich
glaube, es ist gut, dass der Außenminister einen Vorschlag für ein abgestuftes Diskussionsverfahren gemacht
hat. Wir müssen bei der Weiterentwicklung der Strategie
den Zeitdruck herausnehmen; denn unsere Partner im
Osten brauchen ein bisschen mehr Zeit. Wir brauchen
Raum für Diskussionen mit ihnen, ganz besonders nach
den Ereignissen in Georgien.
Wir müssen im Hinblick auf die Strategiedebatte
aufpassen, dass nicht alle neuen Herausforderungen, die
in der Welt sichtbar werden, quasi automatisch innerhalb
der neuen NATO-Strategie bewältigt werden. Die Kunst
wird vielmehr in der Beschränkung liegen. Dies gilt vor
allen Dingen für die Frage der Reichweite der NATO.
Die NATO hat derzeit in der Welt einzigartige Fähigkeiten. Daraus dürfen wir aber nicht ableiten, dass wir am
Ende die Einzigen sein können und sollen, die die Probleme der Welt lösen. Wir müssen mit dafür sorgen, dass
die NATO die Gründung anderer regionaler Sicherheitsbündnisse durch ihre Kraft nicht verhindert, sondern
dass diese durch die Expertise und die Fähigkeiten der
NATO im logistisch-operativen Bereich gestärkt werden.
So könnte die Richtung der NATO aussehen.
Bei all dem bleibt es aber dabei, dass Art. 5 des
NATO-Vertrages die Strahlkraft der NATO ausmacht;
dabei wird es bleiben. Dies sind die Ernsthaftigkeit und
die Glaubwürdigkeit der Abschreckung; ich verwende
diesen Begriff ganz bewusst. Am Ende wird dies dafür
sorgen, dass wir in der Lage sind, wichtige Schritte zur
Rüstungskontrolle zu machen. Dann kann mit den Partnern an den Rändern des Bündnisses gesprochen werden. Im Rahmen der Glaubwürdigkeit der Abschreckung
kann man dann auch verstehen, dass Russland ein Sicherheitspartner in Europa sein muss, der eine enge Anbindung und Kooperation braucht.
Ein einziges Mal in den letzten 60 Jahren wurde
Art. 5 als Beistandsverpflichtung und als Verpflichtung
zur Solidarität in Anspruch genommen. Im Zusammenhang mit Afghanistan ist zunächst die Frage erlaubt: Gilt
dies unbeschränkt, oder muss man nach acht Jahren
nicht auch fragen, wann andere Mechanismen den Beistandsmechanismus ersetzen? Damit meine ich nicht,
dass wir den Einsatz in Afghanistan beenden. Das ist
keine billige Erklärung, wie es die Linken heute getan
haben.
Herr Lafontaine, Ihre Rede beruhte nicht nur auf der
Unwahrheit, sondern war auch billig. Sie löste die billige
Theaterinszenierung auf Ihren hinteren Reihen aus. Unter diesen Fahnen hier werden sich in Baden-Baden eine
Menge vernünftiger Menschen versammeln. Diejenigen,
die für eine friedliche Welt auf die Straße gehen, haben
im Übrigen auch in meiner Partei Platz. Sie beleidigen
mit dieser billigen Argumentation zumindest einen Teil
der Menschen, die sich auf der Straße für eine friedliche
Welt einsetzen.
Ich begründe dies in zwei Bereichen. Sie rühren alles
zusammen. Bei diesem Zusammenrühren verschweigen
Sie glatt, dass die NATO nie im Mittleren Osten einen
Krieg geführt hat. Der Einsatz im Irak war eine amerikanische Aktion mit freiwilligen Partnern. Sie wissen sehr
wohl, dass eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung diesem Druck konsequent widerstanden hat. Der
Einsatz der NATO in Afghanistan - da nehmen Sie es
mit der Wahrheit überhaupt nicht ernst; der NATO-Einsatz umfasst nur ISAF - ist zu hundert Prozent durch zig
Resolutionen der Vereinten Nationen klar mandatiert.
Was wollen Sie eigentlich mehr? Nein, Sie wollen die
Menschen täuschen; das ist das eigentliche Problem.
({2})
Es ist gut, dass sich der NATO-Gipfel sehr intensiv
mit Afghanistan auseinandersetzt. Wir müssen aber aufpassen, dass die neue Strategie, über die zwangsläufig
gesprochen werden wird, weil es eine neue Regierung in
Amerika gibt, durchaus kritisch hinterfragt wird. Ich
wäre schon froh, wenn statt des Führens immer neuer
strategischer Debatten in Afghanistan endlich konsequent das umgesetzt würde, was wir gemeinsam mit der
Mehrheit in diesem Haus als richtig erkannt haben. Das
ist für mich der entscheidende Schritt. Dieser vernetzte
Ansatz, von dem alle reden, muss mehr sein als ein politisches Postulat; er ist operativ notwendig.
({3})
Dazu muss man in Kabul die NATO und die Vereinten
Nationen enger verzahnen. Dazu muss jeder Helfer, auch
die deutschen Helfer in Kunduz und in Faizabad, die
Bundeswehr als ein Knoten in diesem Netz verstehen
und akzeptieren. Ich fürchte, auch wir haben bis dorthin
noch einen weiten Weg zurückzulegen.
Es ist richtig, in Afghanistan statt auf die zentrale Regierung viel stärker auf die regionalen und gewachsenen
Strukturen, die Jirgas, als Teil der Zivilgesellschaft zu
setzen und deren Rat in afghanisches Regierungshandeln
einzubinden. Das ist im Übrigen die einzige Chance, das
dortige Regierungshandeln auf Dauer zu verbessern.
Auch die Korruption kann nur durch die Kontrollmechanismen der Zivilgesellschaft bekämpft werden.
({4})
Wir müssen nicht zuletzt - ich könnte noch viele Beispiele nennen - die Einladung der amerikanischen Partner ernst nehmen - das hat der amerikanische Vizepräsident in München gesagt - und ihnen auch sagen, was wir
nicht für richtig halten.
({5})
Die Inkaufnahme von viel zu vielen zivilen Opfern ist
für den Einsatz, den Auftrag und die Menschen in Afghanistan mehr als kontraproduktiv.
({6})
Die Ereignisse in der letzten Woche, als es in Kunduz einen amerikanischen Einsatz gab, sind dem Parlament zu
berichten. Wir sind froh, dass die Bundesregierung dies
für morgen Vormittag angekündigt hat. Aber auch ohne
heute die Details zu kennen, möchte ich sagen: Es kann
nicht angehen, dass im deutschen Verantwortungsbereich zwei militärische Operationen parallel arbeiten und
die deutsche Führung im Norden unter der ISAF nicht
korrekt informiert und einbezogen wird. Das sagen wir
auch den amerikanischen Partnern; das ist richtig und
notwendig.
({7})
Kollege Arnold, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Ich komme zum Ende.
Lassen Sie mich zum Schluss einen Satz anmerken.
Manche meinen, Afghanistan sei der NATO unglaublich
wichtig. Natürlich ist der Einsatz in Afghanistan im Augenblick die wichtigste Aufgabe der NATO. Wir sind
aber nicht wegen der NATO und ihrer Erfolge in Afghanistan. Wir bleiben der Menschen wegen in Afghanistan,
die auf eine gute Zukunft setzen. Immerhin 90 Prozent
wollen eine Zukunft ohne Taliban. Wir bleiben auch in
Afghanistan, weil es unseren Sicherheitsinteressen entspricht, keinen Rückzugsraum für den internationalen
Terrorismus zuzulassen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn Afghanistan zerfallen
würde
Kollege Arnold, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- und aus einem zerfallenen Afghanistan heraus versucht würde, Pakistan zu destabilisieren.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lamers für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
60 Jahre NATO, das heißt: 60 Jahre erfolgreiches Wirken und Handeln für Frieden und Sicherheit in der Welt.
Dafür steht das Bündnis heute und in Zukunft. Ich danke
Dr. Karl A. Lamers ({0})
unseren Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Geiste
weltweit ihren Dienst leisten.
({1})
Am 4. April 2009 feiert die NATO ihren 60. Geburtstag. Sie hat allen Grund, stolz darauf zu sein. Sechs Jahrzehnte sind ein erstaunliches Alter für ein Bündnis souveräner Nationalstaaten, erst recht für ein Bündnis souveräner Nationalstaaten von zwei Kontinenten. Als der
Nordatlantikvertrag am 4. April 1949 unterzeichnet wurde, sagten nicht wenige der NATO nur eine kurze Lebensdauer voraus. Diese Skeptiker haben sich geirrt.
Herr Lafontaine, die NATO lebt. Sie ist lebendiger denn
je; und das ist wirklich gut so.
({2})
Die NATO ist heute das einzige funktionierende Sicherheitsbündnis weltweit. Sie war notwendig, als sie
gegründet wurde, sie ist in den letzten sechs Jahrzehnten
immer wichtiger geworden, und sie wird auch in Zukunft für die Sicherheit und den Frieden unentbehrlich
sein.
Der anstehende Jubiläumsgipfel ist von besonderer
Bedeutung. Zwei neue Mitgliedstaaten, Albanien und
Kroatien, werden in das Bündnis aufgenommen. Nach
43 Jahren kehrt Frankreich in die integrierte Militärstruktur der NATO zurück - ein Gewinn für die Allianz,
ein Gewinn für uns alle. Zum ersten Mal seit seinem
Amtsantritt am 20. Januar wird der neue amerikanische
Präsident, Barack Obama, nach Europa reisen. Obama
steht für Aufbruch, für Dialog, für Wandel und für die
Erkenntnis, dass kein Land, nicht einmal die USA, die
sicherheitspolitischen Herausforderungen alleine meistern kann. Der Jubiläumsgipfel ist daher ein guter Zeitpunkt, um den Blick nach vorne zu richten.
Wir stehen heute vor einer ganzen Reihe neuer Herausforderungen und Gefahren, Gefahren, die nicht an
den Grenzen von Staaten haltmachen, sondern die ganze
Welt bedrohen: internationaler Terrorismus, Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Failed States
- gescheiterte Staaten -, Cyberwar, Energieknappheit,
Klimawandel und Trinkwasserknappheit. Diesen Herausforderungen muss sich die NATO stellen.
Entscheidend für die Stärke und Glaubwürdigkeit des
Bündnisses ist der gemeinsame Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ausgangspunkt war der
11. September 2001, war Afghanistan. Dort wurden die
Terroristen in Camps ausgebildet. Von Afghanistan darf
nie wieder Terror ausgehen, der uns, unsere Städte und
Gemeinden, erreicht. Deshalb ist ein Scheitern keine Option.
({3})
Wir müssen mehr tun, um diese Mission zum Erfolg
zu führen. Wir brauchen einen vernetzten Sicherheitsansatz, militärische Macht kombiniert mit zivilem Wiederaufbau, was Bundesverteidigungsminister Franz Josef
Jung immer wieder fordert und zu Recht anmahnt. Um
wirklich erfolgreich zu sein, müssen wir unsere Strategie
optimieren. Wir müssen mehr mit den Stammesältesten
vor Ort, mit den Verantwortlichen in den Provinzen reden. Wir müssen mit ihnen sprechen und ihr Vertrauen
gewinnen. Sie müssen spüren, dass wir sie, die gemäßigten Kräfte, respektieren.
Worin liegen die Herausforderungen für die NATO?
Was erwarte ich vom NATO-Gipfel?
Erstens erwarte ich eine Deklaration zur atlantischen
Sicherheit.
Zweitens brauchen wir ein klares Mandat für ein
neues strategisches Konzept. Es ist Zeit, das Bündnis an
die neuen, globalen Veränderungen anzupassen. Die Beistandsverpflichtung aus Art. 5 muss weiterhin das
Kernstück des Bündnisses sein: Jeder für den anderen. Der vernetzte Sicherheitsbegriff muss von allen NATOStaaten aufgenommen und umgesetzt werden.
Wir brauchen drittens die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, nicht
als Konkurrenz zur NATO, sondern als intelligente Form
der Kooperation mit der NATO.
Viertens, zur NATO-Erweiterung: Die Tür muss offen bleiben. Klar muss aber auch sein, dass nur die Mitgliedstaaten der NATO entscheiden, wer neues Mitglied
werden darf. Eine Mitsprache Dritter oder gar ein Vetorecht lehne ich kategorisch ab, Herr Putin.
({4})
Wir suchen eine verstärkte Zusammenarbeit mit Staaten,
die unsere Werte teilen, zum Beispiel mit Australien,
Neuseeland und Japan.
Ich denke insbesondere an das Thema Energiesicherheit. Wir müssen energiepolitisch unabhängig werden,
damit kein Druck auf uns ausgeübt werden kann. Ganz
aktuell: Putin schleudert gerade wieder seine Blitze gegen die Europäische Union, weil sie die Gaspipeline in
der Ukraine modernisieren will. Meine Damen und Herren, mag er im fernen Kreml ruhig grummeln. Aber bedrohen und erpressen können soll er uns nicht. Davor
müssen wir uns schützen.
({5})
Wir brauchen eine gemeinsame Energiepolitik von EU
und NATO.
Natürlich brauchen wir Russland, um Krisen und sicherheitspolitische Herausforderungen in der Welt bewältigen zu können. Aber bei aller Gesprächsbereitschaft müssen wir Russland immer die roten Linien
aufzeigen, die es nicht ohne Konsequenzen überschreiten darf. Von dort muss Vertrauen aufgebaut werden.
Die NATO steht vor großen Herausforderungen. Ich
bin davon überzeugt, dass wir sie gemeinsam meistern
werden - ganz im Sinne von Immanuel Kant, der einmal
gesagt hat: Friede muss gestiftet werden, er kommt nicht
von allein.
Ich danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am Ende einer solchen Debatte sollten wir
uns noch einmal vier Jahre zurückerinnern. Seinerzeit
haben wir auch eine Debatte über die NATO in Deutschland geführt, nachdem der damalige Verteidigungsminister Struck im Auftrag des Bundeskanzlers eine Rede auf
der Sicherheitskonferenz in München gehalten hatte.
Damals hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder gefordert, die NATO wieder zu einem Ort der politischen Debatte zu machen. An dieser Stelle erinnere ich - Entschuldigung, Herr Kollege Schäuble - an ein Zitat von
Ihnen:
Wir brauchen keine Debatte über die NATO. Das
Bündnis ist intakt.
Es wäre gut gewesen, wenn wir uns damals die politische Debatte über die Zukunft der NATO geleistet hätten.
({0})
Dann hätten wir nämlich in der nächsten Woche eine
gute Voraussetzung für „60 Jahre NATO“.
Es war gut, dass die Bundeskanzlerin am Ende ihrer
heutigen Rede gesagt hat, dass wir keine globale NATO
brauchen. Auch diese Debatte haben wir in Deutschland
einmal anders geführt. Es ist richtig, dass wir uns auf die
Kernelemente des Verteidigungsbündnisses beschränken. Dass die globale NATO nicht mehr zur Diskussion
steht, begrüßt meine Fraktion. - So weit meine erste Bemerkung.
({1})
Eine zweite Bemerkung richte ich an den Kollegen
Lafontaine. Man kann das eine oder andere immer wieder infrage stellen und vernebeln und auch irgendeine
historische Leistung für sich selbst reklamieren, ohne sie
erbracht zu haben. Unabhängig davon glaube ich, dass es
sinnvoll wäre, wenn auch Sie sich einer Debatte stellten,
die in den Vereinten Nationen nach einer schwierigen
Diskussion zu dem Abschluss gekommen ist, dass es
auch die Völkergemeinschaft auf der Grundlage der Erfahrungen in Jugoslawien - vor allem im Kosovo - und
insbesondere in Ruanda und anderswo, jetzt im Sudan,
für legitim hält, im Rahmen solcher Völkerrechtsverletzungen zum Instrument der humanitären Intervention
zu greifen. Das ist ganz ohne Frage keine Ultima Ratio.
Aber ich würde mich freuen, wenn Sie wenigstens zur
Kenntnis nähmen, dass die Völkergemeinschaft dies diskutiert.
({2})
Drittens bedarf es vier Bedingungen, die für eine Zukunft der NATO beachtet werden sollten: erstens eine
Konzentration und Beschränkung auf Dinge, die man
auch schafft, und nicht auf alles, was man sich wünscht;
zweitens keine Überforderung oder einen Sicherheitsverlust durch neue Mitglieder; drittens aus meiner Sicht
insbesondere den Ausbau und die Vertiefung mit anderen Institutionen und eine tatsächliche Partnerschaft mit
Russland. Deswegen begrüße ich, dass die Bundeskanzlerin hier angekündigt hat, mit Präsident Medwedew
über seinen Vorschlag einer neuen Sicherheit insbesondere von Wladiwostok bis Vancouver zu sprechen. Dies
hat natürlich seine unmittelbare Bedeutung für Europa.
Es wäre ein großer Sicherheitsgewinn, wenn wir uns an
dieser Debatte beteiligten. Wir vonseiten der Sozialdemokratie sind dazu bereit.
({3})
Die vierte Bedingung für die Gestaltung der Zukunft
der NATO ist die Frage von Abrüstung und Rüstungskontrolle. Hier gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege
Westerwelle. Dies ist aber nicht Ihre Erfindung. Vielmehr hat der Außenminister in den letzten vier Jahren alles dafür unternommen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle wieder ein Thema der NATO werden. Das ist
ein wichtiger Bestandteil. Man kann nicht davon ausgehen, dass wir die Verträge sozusagen von einer Woche
auf die andere abschließen könnten. Es ist aber auch in
Teilen der anderen Fraktionen nicht unumstritten gewesen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle in das
Schlussdokument von Bukarest gekommen sind. Das
war wichtig. Sie, Herr Außenminister, haben dies zusammen mit dem norwegischen Außenminister geschafft.
({4})
In diesem Zusammenhang erinnere ich an die
nukleare Abrüstung, die zuerst zwischen den USA und
Russland erarbeitet oder gleichsam erkämpft werden
muss. Den größten Applaus hat der damalige Präsidentschaftskandidat Obama hier in Berlin von den Deutschen
bekommen, als er sich dazu bekannte, für eine nuklearwaffenfreie Welt einzutreten. Er weiß, dass das nicht von
heute auf morgen gelingen wird. Aber das war genau der
Satz, auf den Europa gewartet hat. Deswegen sollten wir,
sollte die Bundesregierung ihn auf jeden Fall bei diesem
Vorhaben unterstützen.
({5})
Gleichzeitig sage ich: Wenn wir diese Debatte aufnehmen, müssen wir auch mit anderen Ländern, die über
Kernwaffen verfügen, darüber sprechen. Eine ehrliche
Debatte ist zum Beispiel mit Frankreich und Großbritannien erforderlich.
({6})
Sie stehen vor einer umfassenden Modernisierung ihres
Atomwaffenarsenals. Es ist zwar nicht groß; aber dadurch sind sie in die nukleare Abschreckung eingebunden. Deswegen ist es an der Zeit, dass auch diese Regierungen ihr Vorgehen überdenken.
Es wäre gut, auch über die Frage des nuklearen Ersteinsatzes zu sprechen. Das hat in dieser Debatte noch
keine Rolle gespielt. Aber wenn wir den Atomwaffensperrvertrag ernst nehmen, müssen wir in der NATO
auch über die Frage des Ersteinsatzes diskutieren.
({7})
Der vierte Punkt - hier stehen wir vor einer großen
Herausforderung - betrifft die Frage, wie wir mit der
Raketenabwehr umgehen. Ich will jetzt gar nicht auf
die mögliche US-amerikanische Raketenabwehr in
Polen und Tschechien eingehen. Wir haben in Bukarest
verabredet, dass die NATO eine Raketenabwehr aufbauen soll; wir sind zumindest auf einem guten Weg
dorthin. Ich glaube, es wäre klug, mit Russland über dieses Thema zu sprechen, weil Russland und die NATO
gleiche Interessen haben, auf diese Herausforderungen
zu reagieren.
Zum Schluss möchte ich Ihnen, Herr Außenminister,
danken. Sie haben eine Initiative unternommen, den
KSE-Vertrag zu retten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg
bei diesen Bemühungen, insbesondere auf der Konferenz im Juni dieses Jahres. Wenn Sie es für notwendig
halten, hier über den AKSE-Vertrag zu sprechen und
dem Parlament diesen Vertrag möglicherweise noch zur
Beschlussfassung zuzuleiten, dann sind wir von der
SPD-Fraktion dazu bereit, dies mitzutragen.
Ganz herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/12424. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Keine NATO-Erweiterung - Sicherheit
und Stabilität mit und nicht gegen Russland“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11971, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/11247 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12113
mit dem Titel „Überprüfung und Korrektur der Strategie
beim Afghanistanengagement vor dem NATO-Gipfel in
Kehl/Straßburg beginnen“. Wer stimmt für diesen An-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12322
mit dem Titel „NATO-Gipfel für eine strategische Neu-
ausrichtung nutzen - Neue Schritte zur Abrüstung und
für gemeinsame Sicherheit einleiten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Auch dieser Antrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 3 e. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12433 mit
dem Titel „60 Jahre NATO - Deutschland muss sich in
Diskussion über die Zukunft der NATO konstruktiv ein-
bringen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bekämpfung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen
- Drucksache 16/10734 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/12406 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Verbraucherschutz beim Telefonmarketing
verbessern - Call-Center erhalten
- Drucksachen 16/8544, 16/12406 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,
Vizepräsidentin Petra Pau
Jerzy Montag, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbot von Telefonwerbung zum Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher wirksam
durchsetzen
- Drucksachen 16/4156, 16/6059 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute ist - davon bin ich sehr überzeugt - ein guter
Tag für die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher.
({0})
Endlich schaffen wir es, den lästigen, unerlaubten Telefonanrufen wirksame Regeln entgegenzusetzen. Ich bin
ganz zuversichtlich, dass die Anzahl der unerlaubten Telefonanrufe signifikant, also deutlich, zurückgehen wird.
({1})
Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass solche Anrufe nie mehr vorkommen - das wäre Blödsinn; denn das
kann niemand versprechen -, aber ihre Zahl wird erheblich zurückgehen.
Mit unserem Gesetzentwurf setzen wir dort an, wo es
in der Praxis die meisten Probleme gab: bei Wett- und
Lotteriedienstleistungen, bei Zeitungen und Zeitschriften sowie bei Dienstleistungen im Telekommunikationssektor. Künftig gibt es bei Verträgen über Wett- und
Lotteriedienstleistungen und über die Lieferung von Zeitungen und Zeitschriften, die am Telefon geschlossen
werden, ein Widerrufsrecht. Weil am Telefon keine Belehrung möglich ist, kann ein solcher Vertrag in Zukunft
innerhalb eines Monats widerrufen werden.
Auf alle Fälle können sich die Verbraucherinnen und
Verbraucher merken, dass es in Deutschland in den genannten Bereichen keine Ausnahme von der 14-tägigen
Widerrufsfrist mehr gibt; das ist eine Zahl, die man im
Kopf haben sollte. Man sollte wissen: Innerhalb von
14 Tagen kann man grundsätzlich jeden Vertrag, der am
Telefon oder über das Internet geschlossen wurde, ohne
jegliche Angabe von Gründen widerrufen.
({2})
Aufgrund der Vielzahl der Anrufe zur Umstellung bei
der Telekommunikation wollen wir darüber hinaus eine
Regelung in das BGB einfügen, die besagt, dass man bei
allen Anbieterwechseln, die eine Umstellung im Hintergrund voraussetzen, im Vorhinein eine schriftliche
Kündigung vorlegen muss, dass man bereit ist, den Anbieter zu wechseln.
Wie sich gerade herausgestellt hat, war es vernünftig,
dass wir den Geltungsbereich dieser Regelung nicht auf
die Telekommunikation beschränkt haben. In den letzten
Tagen und Wochen haben mir Verbraucherverbände gesagt, dass in letzter Zeit häufig Anrufe von Stromanbietern zu verzeichnen seien, in denen die Verbraucher um
einen Anbieterwechsel gebeten würden. Mit anderen
Worten: Es ist vernünftig, die generelle Regelung in das
BGB aufzunehmen: Immer dann, wenn im Hintergrund
umgeschaltet wird und der Verbraucher nichts davon
merkt, muss für den Anbieterwechsel eine schriftliche
Kündigung vorgelegt werden. Diese Regelung gilt für
alle Dauerschuldverhältnisse, etwa bei Telefon, Strom,
Gas und Wasser.
Wir flankieren diese Regelungen durch eine Verpflichtung zur ausdrücklichen Einwilligung des Verbrauchers in Anrufe. Wer dagegen verstößt, muss bis zu
50 000 Euro Bußgeld zahlen. Außerdem dürfen Rufnummern künftig nicht mehr unterdrückt werden.
({3})
All diese Maßnahmen schützen den seriösen Kaufmann und den seriösen Geschäftsverkehr. Denn klar ist:
Wir wollen die Möglichkeit, am Telefon Geschäfte abzuschließen, nicht verunmöglichen; das ist nicht unser Ziel.
({4})
Wir wollen, dass sinnvolle Möglichkeiten dieses Mediums im Interesse der Verbraucher, gerade der älteren
Verbraucher, erhalten bleiben. Beispielsweise sollen sie
auch weiterhin bei Bofrost anrufen und Tiefkühlkost bestellen können.
({5})
- Keine Schleichwerbung, okay. Ja, das gilt auch für
Pizza.
({6})
- Ja, das gilt auch für den Eismann. - Das alles hat bisher funktioniert, und das soll auch weiterhin funktionieren.
Ich bin sehr froh, dass sich dieses Hohe Haus nicht
dazu hat verleiten lassen, auf den Vorschlag des einen
oder anderen Verbraucherschutzministers, eine Bestätigungslösung einzuführen, einzugehen.
Dazu möchte ich noch ein paar Takte sagen; denn ich
hoffe, dass der Bundesrat unserem Gesetzentwurf, so
wie wir ihn heute verabschieden, zustimmt. Ich meine,
dass eine Bestätigungslösung, die darauf hinausläuft,
dass jeder Vertrag, der in einem rechtswidrigen Anruf
geschlossen wird, schriftlich bestätigt werden muss, den
Verbrauchern Steine statt Brot gibt.
Erstens. Eine solche Regelung würde zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen. Man würde sich
darüber streiten, ob der Unternehmer oder der Kunde angerufen hat. Wenn klar wäre, dass der Unternehmer angerufen hat, dann müsste auf der nächsten Streitebene
geklärt werden, ob es jemals eine Einwilligung des Kunden in diese Anrufe gegeben hat, sodass dieser rechtmäßig war. Man muss nicht glauben, dass die Unternehmen
auf eine solche Regelung nicht reagieren würden; im
Zweifel würden sie alle Gespräche aufzeichnen. Viele
Verbraucher würden sich vielleicht nicht mehr so genau
daran erinnern, ob sie in Anrufe eingewilligt haben oder
nicht. Im Übrigen muss man sagen, dass nicht alle Verbraucher weiße Schafe und die Unternehmer schwarze
Schafe sind: Es gibt natürlich auch zahlreiche Verbraucher, die gegebenenfalls ein Ding daraus machen würden.
({7})
Zweitens. Wir glauben - das haben wir immer gesagt -,
unseriöse Unternehmen würden bei einer solchen Regelung versuchen, die Verbraucher durch weitere Anrufe
dazu zu bringen, zu unterschreiben: „Wir haben Ihnen
das doch zugeschickt, unterschreiben Sie doch bitte!“
Das wäre schlecht; denn es würde genau das provozieren, was wir vermeiden wollen, nämlich unerlaubte Telefonanrufe.
Drittens. Das europarechtlich gebotene Nacheinander
von Bestätigung und Widerrufsmöglichkeit würde die
Vertragsabwicklung enorm erschweren. Man hätte dann
erst die Bestätigung und dann die Widerrufsmöglichkeit.
Das wäre ein Problem.
Im Übrigen gäbe es - Herr Kollege Montag, Sie sind
immer für die Dogmatik zugänglich - erhebliche Wertungswidersprüche im bürgerlichen Recht. Im Moment
ist es nach unserer Rechtsordnung so, dass bei arglistiger
Täuschung oder gar Drohung ein Vertrag zunächst wirksam und nur anfechtbar ist. Bei unlauterer Telefonwerbung hingegen wäre der Vertrag zunächst unwirksam
und könnte nur in Textform bestätigt werden.
({8})
All das würde Probleme an anderen Ecken schaffen.
Mit der 14-tägigen Widerrufsfrist für alles haben wir Regelungen, die gelernt sind und sich in allen Fällen bewährt haben. Die Monita bei der Telefonwerbung gab es
nur in jenen Geschäftsgebieten, in denen es diese Widerrufsfrist nicht gab. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das
Gesetz funktionieren wird. Gleichwohl wird die Bundesregierung selbstverständlich entsprechend dem Votum
des Hauses nach drei Jahren das Gesetz überprüfen und
es evaluieren, um zu schauen, ob es tatsächlich so funktioniert, wie wir jetzt annehmen, oder ob wir Änderungen vornehmen müssen.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die ausführliche,
lang andauernde und konstruktive Beratung zu diesem
Thema. Ich bedanke mich insbesondere bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses, die das
ganze Verfahren sehr sachkundig und ausdauernd begleitet haben.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist gut, dass wir mit der heutigen Beratung
Lücken in unserem Recht schließen, um die Stellung des
Verbrauchers zu stärken. Es ist nicht nur eine subjektive
Wahrnehmung, dass diese unerlaubten Anrufe eine Belästigung darstellen; auch die Umfragen belegen dies.
Eine Forsa-Umfrage von 2007 belegt, dass 71 Prozent
der über 65-Jährigen Cold Calls, unerlaubte Werbeanrufe, erhalten haben. Insgesamt hat weit mehr als die
Hälfte der Befragten solche Anrufe erhalten.
Das zeigt: Hier besteht Handlungsbedarf. Es war
notwendig, genau zu überlegen, welchen Weg man geht,
um die Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher
zu verbessern. Wir, die FDP-Fraktion, haben dazu einen
Antrag in den Bundestag eingebracht. Wir unterstützen
den Gesetzentwurf der Bundesregierung, der wirklich in
vielen Punkten mit unseren Vorstellungen übereinstimmt. Deshalb werden wir hier heute bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf mit Ja stimmen.
({0})
Nach dem Wettbewerbsrecht sind Werbeanrufe natürlich schon länger unerlaubt, aber das gilt eben nicht im
Verhältnis zum Verbraucher. Das hat man vielen Bürgerinnen und Bürgern natürlich nicht erklären können. Sie
sagen: Ihr redet von unerlaubten Werbeanrufen, aber wir
sind nicht in der Situation, angemessen reagieren zu
können. Das können unter anderem die Konkurrenten
und Verbände. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich,
dass wir im geltenden Rechtssystem bei der Stärkung der
Stellung der Verbraucher bleiben und das Widerrufsrecht ausbauen; denn wenn es einen Teil Bestätigungsregelung und einen Teil Widerrufsregelung gäbe, dann
wäre das nicht unbedingt dazu angetan, für den VerbrauSabine Leutheusser-Schnarrenberger
cher deutlicher zu machen, wie die Rechtslage gerade
aussieht. Dafür müsste er dann am besten immer die Gesetze zur Hand nehmen. Ich denke also, es ist gut und
richtig, das Widerrufsrecht, wonach die Verträge innerhalb einer bestimmten Frist storniert werden können,
auszubauen und damit dem Verbraucher gerade in den
Bereichen, in denen es bis heute eben nicht galt, eine
stärkere Stellung zu geben.
({1})
Natürlich muss man die unterschiedlichen Interessen
bei jedem Gesetzgebungsverfahren in Einklang bringen.
Es ist natürlich auch ein berechtigtes Interesse von Unternehmen, werben zu dürfen. Dem wollen wir Schranken setzen. Das ist passiert, es erfolgt mit diesem Gesetzentwurf.
Wir als Liberale setzen aber auch auf den Verbraucher, der seine Rechte wahrnehmen kann, wenn er besser informiert und aufgeklärt ist. Wir müssen eben mehr
tun, um sie über diese Rechte zu informieren, sodass sie
sie auch innerhalb vorgegebener Widerrufsfristen ausüben können. Ich glaube, dass das sehr wohl gelingen
kann. Deshalb sind wir dafür, dass dieser Weg, der in
dem Gesetzentwurf und auch in unserem Antrag schon
vorgestellt wurde, beschritten wird.
Bei Dauerverträgen gibt es eine ganz klar andere
Situation. Dabei wird versucht, den Betroffenen Änderungen unterzuschieben. Wir haben uns in der Anhörung
intensiv mit diesen Sachverhalten befasst. Deshalb ist es
richtig, für die Kündigung des alten Vertrages nach einer
ungewollten Änderung des Vertrages, die untergeschoben wurde und bei der man als Verbraucher nicht wahrnimmt, auf was man sich jetzt eingelassen hat, was es
mehr kostet und was die Inhalte des Vertrages sind, die
Schriftform vorzusehen. Ich denke, das ist richtig und
eine ausgewogene, gute Regelung.
Ich glaube, es entspricht der Praxis und ist richtig,
dass wir die Mehrwertdienste, also die Telefonauskünfte, aus dieser Regelung herausgenommen haben;
denn wenn der Verbraucher vor jeder Auskunft erst
durch einen Ansagedienst auf Band über sein Widerrufsrecht belehrt worden wäre, dann wäre er der Erste gewesen, der verschreckt worden wäre. Ich denke, auch das
haben wir in der Anhörung hervorragend erörtert. Deshalb ist es gut, dass wir diese Änderungen im laufenden
Gesetzgebungsverfahren noch vorgenommen haben.
Das Rufnummernunterdrückungsverbot ist richtig.
Man muss den Anrufer in einem ersten Schritt identifizieren können. Dass der Verbraucher im Hinblick auf die
Frage, wer anruft, durch eine einheitliche Vorwahl vielleicht noch mehr gestärkt werden würde - er würde dann
vielleicht gar nicht erst abheben -, ist ein weiterer Punkt,
den wir genannt haben.
Die Linie in dem Gesetzentwurf stimmt aber. Wir
denken, es ist gut, dass wir diese Lücken im Recht jetzt
schließen. Wie gesagt: Wir als FDP unterstützen den Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Ministerin Zypries! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Erstes möchte ich mich sehr für die kollektive Vernunft der FDP bei der Beratung über diesen Gesetzentwurf und dafür bedanken, dass sie uns dabei zur Seite
steht und dem guten Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zustimmt. Ich bedanke mich auch für die wirklich
kooperative und solidarische Zusammenarbeit; denn ich
bin sehr froh, dass wir diesen Gesetzentwurf heute hier
verabschieden.
Wir haben eine gewisse Strecke hinter uns. Frau
Ministerin Zypries, Sie erinnern sich sicherlich noch daran: Es hat am Anfang etwas gedauert, bis ich Sie davon
überzeugen konnte, dass wir Regelungsbedarf haben.
Wenn Gesetze nicht mehr passen, dann müssen wir sie
anpassen. Das ist völlig klar. Denn die Gesetze sind für
die Menschen da, nicht umgekehrt.
Es spielt sicherlich auch eine Rolle, dass wir Politiker
nicht den ganzen Tag zu Hause sind, wo unser Festnetzanschluss ist. Wir sind auch oft abends nicht zu Hause
und bekommen deshalb nicht mit, welche Plage sich in
unserem Land ausgebreitet hat: unerlaubte, belästigende
Telefonwerbung. Wenn ich mit Besuchergruppen oder
bei einer größeren Veranstaltung zuhause über das
Thema belästigende Telefonwerbung und die Konsequenzen daraus - nämlich dass Menschen in Verträge
hineingerutscht sind oder dazu gedrängt wurden, obwohl
sie das nicht wollten bzw. auch keinen Abschluss getätigt haben - gesprochen habe, bin ich immer auf Zustimmung gestoßen. Vor allem haben wir Politikerinnen und
Politiker durch solche Gespräche erfahren, welche Beispiele es gibt.
Das Beispiel einer älteren Dame aus meinem Wahlkreis schlägt dem Fass den Boden aus. Sie ist 76 Jahre
alt. Weil der eine oder andere Kollege gerade zusammenzuckt: Das ist so alt sicherlich nicht.
({0})
- Ich habe nicht in unsere Reihen geschaut.
({1})
Diese etwas reifere Dame, die selbst keinen Internetanschluss besitzt, hat einen Vertrag mit einer Laufzeit
von eineinhalb Jahren für eine sogenannte Flatrate für
das Internet abgeschlossen. Obwohl die Dame selbstverständlich nie einen solchen Abschluss tätigen wollte, erhielt sie ständig Anrufe. Sie hat mitgezählt und aufgeschrieben, dass abends nach 20 Uhr mit zehn bis
15 Anrufen zu rechnen war. Das ist ein starkes Stück.
Daran ändert auch das UWG nichts. Denn es ist schon
nach heutiger Gesetzeslage verboten, Verbraucherinnen und Verbraucher ohne deren Zustimmung anzuru23148
fen. Das ist schon heute illegal. Aber was hilft das
schönste Gesetz, wenn es letztlich seine Wirkung verfehlt?
In der Gesetzesberatung haben wir mit sehr vielen betroffenen Gruppen gesprochen. Uns wurde sehr oft mitgeteilt, dass es kein Problem gebe und dass es sich nur
um einige wenige schwarze Schafe handele.
({2})
Das mag auch sein. Ich möchte eines vorab sagen: Nicht
jedes Callcenter ist auf unlauterem Weg unterwegs. Aber
für den Verbraucher zählt letztlich, wie viele Anrufe er
bekommt. Auch 20 schwarze Schafe sind für den einzelnen Verbraucher mehr als genug.
Deshalb ist das Maßnahmenbündel, das wir erarbeitet
haben, meiner Meinung nach ein richtiger Schritt hin zu
mehr Rechtssicherheit für die Verbraucherinnen und
Verbraucher, wenngleich ich auch zu bedenken gebe,
dass wir mit diesem Gesetz keine hundertprozentige
Sicherheit bekommen werden. Es wird auch weiter damit zu rechnen sein, dass es solche unlauteren Firmen
gibt, die versuchen, gerade ältere Menschen wie auch
jüngere Menschen und, was mich sehr erschüttert hat,
vor allen Dingen auch Mitglieder von Selbsthilfegruppen anzurufen.
Ich habe gerade von einer Seniorenorganisation erfahren, dass sich einige Callcenter Listen von AlzheimerSelbsthilfegruppen besorgt und die darauf aufgeführten
Personen ganz gezielt angerufen haben. Das ist, mit Verlaub, eine Sauerei, wenn ich das so sagen darf. Das geht
nicht.
({3})
Was werden wir jetzt machen? Die Telefonnummer
darf nicht mehr unterdrückt werden. Die Opposition
wird sicherlich wieder danach fragen, welche Folgen es
hat, wenn die Telefonnummer dennoch unterdrückt wird.
Das wird es sicherlich auch weiter geben, aber es ist jetzt
mit bis zu 10 000 Euro Bußgeld bewehrt.
Klar ist auch, dass jemand, der etwas verkaufen will,
irgendwann seine Identität preisgeben muss, weil er sein
Geld bekommen will und der Käufer wissen muss, an
wen das Geld geht. Wenn jemand in einen Geschäftsvertrag eintreten will, dann muss er sich zu erkennen geben.
Gibt er sich nicht mit der Rufnummer zu erkennen, dann
ist für die Verbraucherinnen und Verbraucher klar, dass
es nicht mit rechten Dingen zugeht.
Notwendig ist auch, Frau Ministerin - ich denke, das
sollte vonseiten Ihres Hauses mit dem Verbraucherschutzministerium und Frau Aigner gekoppelt werden -,
eine flankierende Kampagne. Denn viele Verbraucherinnen und Verbraucher kennen die aktuelle Rechtslage
nicht. Viele sind immer noch viel zu höflich und legen
bei solchen Anrufen nicht auf bzw. schreiben nicht mit.
Deshalb wünsche ich mir, dass wir eine Aufklärungskampagne starten, die unsere Maßnahmen begleitet.
Wir haben auch darüber diskutiert, ob die Nummer
desjenigen, der der Auftraggeber für ein Callcenter ist,
oder die des Anrufers - also das Callcenter selbst - angegeben werden soll. Mir ist klar, dass die Firmen gerne
ihre Nummer als Absender hätten. Aber wir haben auch
erlebt, dass sich die Firmen, die wegen unlauterer Praxis
angesprochen wurden, gerne hinter das Callcenter zurückziehen und sagen: Die Anweisung haben wir nie gegeben. - Wenn sich aber der Callcentermitarbeiter zu erkennen geben muss, wird sich das Callcenter in Zukunft
überlegen, ob es bestimmte Aufträge annimmt oder
nicht.
Wie sieht es denn mit einem unlauter zustande gekommenen Vertrag aus? Ich persönlich finde es irritierend, dass ein Vertrag, der dadurch zustande gekommen
ist, dass jemand unlauter, also ohne gesetzliche Grundlage, angerufen hat, legal ist, wenn er in Anspruch genommen wird. Hier bleibt die Logik ein bisschen auf der
Strecke. Auch ich habe nicht den Stein der Weisen gefunden. Letztlich werden jedenfalls die Unternehmen
belohnt, die sehen, dass es sich doch noch lohnt, unlauter
anzurufen.
({4})
- Genau das ist der Punkt, Herr Montag. Darüber haben
wir bereits gesprochen. - Ich sympathisiere sehr mit dem
Vorschlag, den Herr Hauk und Herr Uhlenberg im Bundesrat eingebracht haben. Nun geht es aber darum, eine
Lösung zu finden. Aus meiner Sicht als verantwortungsvolle Politikerin bringt es wenig, nun zu sagen: Jetzt lassen wir just aus diesem Grund das Gesetz platzen. Es
hilft wenig, wenn wir die grüne Taube auf dem Dach haben.
({5})
Mir ist lieber, dass das, was im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen ist, für unsere Verbraucherinnen und
Verbraucher umgesetzt wird.
Heute ist ein guter Tag für unsere Verbraucherinnen
und Verbraucher. Ich bin dankbar und froh, dass es der
Koalition gelungen ist, die Regierung ein bisschen vor
sich herzutreiben. Ich weiß, dass die Ministerin das nicht
gerne hört. Aber das entspricht unserem Selbstverständnis. Deshalb sind wir heute dort angekommen, wo wir
sind.
({6})
- Frau Höfken, ich bedanke mich sehr für diesen Einwurf.
Die Grünen kritisieren immer. Sie waren aber auch
einmal in der Regierungsverantwortung und haben die
Verbraucherministerin gestellt.
({7})
Sie war aber eine Ankündigungsministerin. Liebe Frau
Höfken, Sie hätten in Ihrer Regierungszeit längst ein Gesetz, wie Sie es sich nun wünschen, durchsetzen können.
Aber damals gab es noch nicht einmal Vorlagen, über die
wir hätten beraten können. Mir sind Politiker und Regierungen lieber, die etwas konkret umsetzen - ich sehe,
dass die Kollegen der SPD etwas die Stirn in Falten werfen, weil sie selber damals dabei waren ({8})
und letztlich denen helfen, die über den Tisch gezogen
werden und nicht auf gleicher Augenhöhe mit denen
sind, die ihnen etwas anbieten.
({9})
- „Das müssen wir mal sagen“, sagt auch Kollege Gehb.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist
wichtig und eine Warnung an die Unternehmen, die
glauben, sie seien nun mit einem blauen Auge davongekommen. Wir möchten das sogenannte Slamming unterbinden. Da Anglizismen immer ein Problem darstellen,
erkläre ich das: Wir möchten das Unterschieben bzw. das
Wechseln eines Dauervertrages bzw. eines Dauerschuldverhältnisses zum Beispiel bei Strom und Gas
oder Telefonverträgen - so wird der Verbraucher bei der
Telekom abgemeldet und dann bei einem anderen Unternehmen angemeldet, ohne dass er das weiß - verhindern.
Deshalb sieht das Gesetz eine Textform vor.
Frau Ministerin, ich bin sehr froh, dass festgehalten
ist, das Gesetz nach drei Jahren daraufhin zu überprüfen,
ob es Lücken gibt, und es gegebenenfalls anzupassen.
Ich bin froh, dass wir diese Regierung haben und die Zusammenarbeit zwischen Wirtschafts- und Rechtspolitikern sowie den Verbraucherpolitikern so gut ist. Die
Bürgerinnen und Bürger werden das zu schätzen wissen,
auch wenn sich die Grünen und die Linken jetzt beschweren.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Karin Binder für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Zypries, Sie
haben vorhin eine Bemerkung gemacht, die ungefähr so
lautete: Die Verbraucher können sich oft nicht mehr daran erinnern, ob und was sie am Telefon vereinbart haben.
({0})
- Ja, eben. - Genau daran wird deutlich, warum unlautere Werbeanrufe nur mit einer schriftlichen Bestätigung
zu einem wirksamen Vertrag führen dürfen.
({1})
Die Botschaft des heutigen Tages geht an die Telefonmarketingbranche, insbesondere an die unseriösen Unternehmen in dieser Branche. Diese lautet: Machen Sie
ruhig weiter so!
({2})
Rufen Sie die Leute weiter an, wann immer Sie wollen. - Denn der Anteil der Menschen, die so rechtskundig sind, dass sie genau wissen, wie sie mit einem solchen unlauteren Werbeanruf umgehen können, vor allem
mit einem daraus entstehenden Vertragsverhältnis, ist relativ gering. Deshalb werden diese Firmen nach wie vor
ihren Profit herausschlagen und mit Leuten Geschäfte
machen, die sich das eigentlich nicht leisten können.
Es ist zwar eigentlich verboten, jemanden ohne seine
vorherige ausdrückliche Einwilligung anzurufen und
ihm ein Werbe- oder Verkaufsgespräch aufzudrücken,
aber wenn sich jemand dann doch zu einem mündlichen
Vertragsabschluss überreden lässt, dann ist dieser unlauter zustande gekommene Vertrag wirksam. Diese
Absurdität verstehen wohl nur Juristen. Mit Logik hat
das für mich nichts zu tun.
({3})
Diesen Zustand hätte man sehr wohl ändern können.
Man hätte Verbraucherinnen und Verbraucher weitaus
besser vor telefonisch untergeschobenen Verträgen
schützen können. Man hätte die Privatsphäre der Menschen weitaus besser gegen die unzähligen unerlaubten
Anrufe schützen können und müssen. Aber genau das tut
die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht.
({4})
Was müssen die Menschen von einer Regierung halten, die Jahre für eine Gesetzesinitiative gegen unerlaubte Telefonwerbung braucht, die sich dann aber sehr
arrogant über die Vorschläge und sachdienlichen Hinweise hinwegsetzt?
({5})
Verbraucherverbände, Bundesrat, zahlreiche Bundesländer, die Verbraucherministerkonferenz und die Oppositionsfraktionen
({6})
werden einfach ignoriert. Deren Vorschläge und Forderungen tropfen einfach ab. Das hat nach meiner Auffassung Kohl’sche Qualitäten. Dieses Verhalten ist ein
Musterbeispiel ministerieller Starrköpfigkeit und Beratungsresistenz.
({7})
Ich halte es für einen Riesenfehler, dass sich die Koalition der sogenannten Bestätigungslösung so vehement
verweigert. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten die Regierung heute allerdings doch noch auf den
richtigen Kurs bringen. Stimmen Sie einfach unserem
Änderungsantrag zu!
({8})
Wir wollen, dass ein Vertrag erst dann zustande
kommt, wenn die Verbraucherin oder der Verbraucher
einer telefonisch gemachten Zusage innerhalb von zwei
Wochen eine schriftliche Bestätigung folgen lässt. Erst
dann wird der Vertrag wirksam. Das kommt dann zum
Tragen, wenn jemand ohne vorherige Einwilligung angerufen wurde, was eigentlich gar nicht zulässig ist. Bei
dem von Bundesjustizministerin Zypries immer wieder
gerne und häufig zitierten
({9})
- genau -, aber unsachgemäßen Beispiel vom Pizzaservice handelt es sich um eine aktive Bestellung. Das hat
überhaupt nichts mit diesen unlauteren Werbeanrufen zu
tun. Das Beispiel ist einfach fehl am Platz.
({10})
Zumindest ich habe bisher noch von keinem Pizzaservice gehört, dass er seine Kunden anruft und fragt: „Habt
ihr zufällig gerade Hunger? Dann kommen wir vorbei.“
Das ist wirklich Unsinn.
({11})
Verbraucherschutz heißt für mich, dass nicht nur ein
beschränkter Personenkreis mit ausgeprägten Rechtskenntnissen und Kampfgeist vor Betrug geschützt wird.
Im Gegenteil: Es kann nicht angehen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher genötigt werden, gegen untergeschobene Verträge selbst aktiv zu werden, um die daraus
resultierenden Verpflichtungen wieder loszuwerden.
Eine schriftliche Vertragsbestätigung innerhalb von zwei
Wochen wäre die einfachste und praktikabelste Lösung
im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({12})
Das wäre nicht zuletzt deshalb am besten, weil es auch
für die Anbieter nicht mehr so lukrativ wäre, unlauter zu
arbeiten. Dann würde sich das Problem des ständigen
Eindringens in die Privatsphäre der Menschen relativ
rasch erledigen.
({13})
Ein weiterer wesentlicher Punkt in unserem Änderungsantrag ist die Höhe des Bußgeldes. Die Linke fordert eine deutliche Anhebung. Wir wissen doch, dass die
Gerichte höchst selten die Höchstgrenzen der angedrohten Bußgelder ausschöpfen. Aus dem Justizministerium
heißt es zwar: „Na ja, die Strafen summieren sich; da
käme schon ein erkleckliches Sümmchen zusammen“;
aber der Verbraucherzentrale-Bundesverband machte da
ganz andere Erfahrungen und berichtet in diesem Zusammenhang von einem Beispiel aus Köln. Vor zwei
Jahren hat dort das Oberlandesgericht gegen eine große
Telekommunikationsfirma lediglich ein Ordnungsgeld
von 40 000 Euro verhängt. Diese 40 000 Euro sind
knapp ein Sechstel dessen, was an Ordnungsgeld möglich wäre; es entspricht dem, was durch den Abschluss
von 100 bis 200 Telefonverträgen pro Jahr eingenommen wird. Doch wie viel Tausend Verträge schließt diese
Firma unerlaubt? Das, was hier beschrieben wird, trifft
nicht nur auf diese Telekommunikationsfirma zu, sondern auch auf viele andere Unternehmen.
({14})
Sie erledigen ein solches Ordnungsgeldverfahren wirklich mit links; sie zahlen das Bußgeld ganz locker aus
der Portokasse.
({15})
Wir halten es für dringend geboten, den Bußgeldrahmen für die unerlaubte Telefonwerbung deutlich anzuheben, und zwar auf 250 000 Euro; denn dann tut es wenigstens ein bisschen weh. So könnte verhindert werden,
dass weiterer Schaden entsteht.
({16})
Ich komme zum Schluss. Wir wollen, dass die Menschen vor dem unbefugten Eindringen in ihre Privatsphäre geschützt werden. Wir wollen, dass sie vor Überrumpelung geschützt werden. Wir wollen, dass sie vor
Abzocke geschützt werden, und wir wollen, dass sie vor
neuen Schuldenfallen geschützt werden, die wir in der
Situation, in die wir gerade hineinschlittern, ganz bestimmt nicht brauchen.
({17})
Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann haben wir diesen Schutz.
Danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Jerzy Montag das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Klarstellung vorneweg: Die Pizza, die die Bundesjustizministerin Zypries nach einem arbeitsreichen Tag
abends bestellt - sie sei ihr gegönnt -, hat mit dem
Thema, über das wir reden, nichts zu tun. Lassen wir das
Pizzabeispiel also endlich einmal weg!
({0})
Wovon reden wir? Reden wir wirklich von Petitessen
und Randerscheinungen eines ansonsten ehrbaren Gewerbes? Reden wir von einigen wenigen schwarzen
Schafen eines boomenden und anständigen Wirtschaftszweigs? Die Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung meldete im ersten Quartal 2006 82,7 Millionen unerlaubter, also rechtswidriger, telefonischer Werbekontakte. Das sind 900 000 pro Tag, über 300 Millionen
pro Jahr. Im Dezember 2008 bezifferten die Gesellschaft
für Konsum-, Markt- und Absatzforschung und der Verbraucherzentrale Bundesverband diese Anrufe wiederum
auf über 300 Millionen pro Jahr. Es gibt also keinen
Grund für eine Entwarnung, wie uns manche Lobbygruppen gelegentlich einflüstern wollen. Stattdessen
müssen wir feststellen: Das Gesetz gegen den unlauteren
Wettbewerb wird systematisch und massenhaft verletzt.
86 Prozent der Bevölkerung fühlen sich durch solche unerwünschten Telefonanrufe belästigt; Hunderttausende
werden belogen und betrogen. Der Gesetzgeber, also
wir, sind aufgerufen, darauf konsequent, effektiv und
verbraucherfreundlich zu reagieren.
({1})
Wir reden von unerwünschten, unerlaubten Telefonwerbeanrufen, die als Aufklärung, als Information, als
Service daherkommen und in Vertragsabschlüssen
enden. Das ist auch ihr einziger Zweck. Sie enden in
überrumpelten, übertölpelten Verbraucherinnen und Verbrauchern, die - es ist von der Kollegin Klöckner schon
berichtet worden - für Internetanschlüsse zahlen, obwohl sie keine Computer haben, die für Zeitschriften
zahlen, die sie nicht lesen wollen, und die für wertlose
Auskünfte und Belehrungen zahlen. Manchmal zahlen
sie nur für das Anhören von Gedudel in endlosen Warteschleifen, weil sie auf leere Versprechungen wie Reisen,
Lottogewinne oder Preise reagieren. Wir reden von unredlichem Geschäftsgebaren, von unlauterem Werbeverhalten, von Überrumpelungsstrategien, die generalstabsmäßig geplant und eingeübt werden. Nicht zuletzt reden
wir von Zigmillionen Euro an abgezocktem Geld.
Diese unerwünschten, belästigenden und in Überrumpelungsabsicht getätigten Werbeanrufe waren bis 2004
völlig legal. Als wir sie 2004 zu einem wettbewerbswidrigen, unlauteren Geschäftsverhalten machten, taten wir
dies gegen den erbitterten Widerstand der Union.
({2})
Deshalb ist das verbraucherpolitische Gehabe der Union
heute mehr als peinlich. Vom Verhalten der FDP, die
2004 ebenfalls gegen die Reform gestimmt hat, will ich
gar nicht erst reden.
Den Profiteuren des Cold Calling war und ist dies
ziemlich wurscht. Ihre Rechnung war und ist einfach:
praktisch sanktionslose Verstöße sind wie Kavaliersdelikte; Hauptsache, die Kasse stimmt. Was haben wir
Grünen schon 2004 vorgeschlagen, was schlagen wir
heute vor, und was ist auch bitter nötig?
Erstens. Werbeanrufe darf es nur bei vorheriger ausdrücklicher Einwilligung geben. Um jeden Streit darüber zu vermeiden, wer wen angerufen hat und ob eine
Einwilligung vorlag oder nicht, schlagen wir vor: Die
Einwilligung der Verbraucherinnen und Verbraucher
muss in Textform vorliegen. Im Streitfall trifft den Anrufer die Beweislast für das Vorliegen der Einwilligung.
Dass das mit der Einwilligung in Textform gar nicht so
schlecht ist, findet man im Gesetzentwurf bestätigt, in
dem Sie das für einzelne Bereiche durchaus so vorsehen.
Bereits diese klaren und einfachen Vorschriften würden Verbraucherinnen und Verbraucher effektiv schützen, zum Rechtsfrieden beitragen und den Betrügern
jede Lust am Betrug nehmen.
Kommt es trotz fehlender Einwilligung bei einem unlauteren, gesetzwidrigen Werbeanruf zu einem Vertragsabschluss, ist der Vertrag schwebend unwirksam - so unser zweiter Vorschlag - und bedarf einer ausdrücklichen
Bestätigung in Textform. - Ich habe Ihre Sympathie,
Frau Kollegin Klöckner, deutlich herausgehört. - Damit
hat es ausschließlich der Verbraucher, in dessen Privatsphäre eingedrungen wurde und der in seinen Rechten
verletzt ist, in der Hand, ob er den Vertrag, weil von ihm
gewünscht, erhalten will.
Frau Bundesjustizministerin Zypries, auch für denjenigen, der, wie ich, für die Dogmatik des Zivilrechts etwas übrig hat, ist hier kein Widerspruch zu sehen. Wenn
Ihnen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter berichtet
hätten, was wir bei der Anhörung im Rechtsausschuss zu
diesem Thema gehört haben, dann hätten Sie auch erfahren, dass uns wenigstens einige Sachverständige, die
sich mit diesem Thema beschäftigt haben, gesagt haben:
Zwischen einem Vertrag, der unter Täuschung, Arglist
oder Druck zustande gekommen ist, und einem Vertrag,
der so zustande gekommen ist, besteht ein Unterschied,
weil ein Schutzrecht nach § 823 BGB verletzt wird, weil
hier durch den Telefonanruf in die Privatsphäre des Einzelnen rechtswidrig eingebrochen wird.
({3})
Deswegen ist die Folge der schwebenden Unwirksamkeit und des Erfordernisses einer ausdrücklichen schriftlichen Bestätigung dogmatisch sehr wohl sauber und im
Sinne von Verbraucherfreundlichkeit geboten.
Dies wäre eine einfache, klare und unmissverständliche Regelung. Das wäre wahrer Verbraucherschutz,
nicht gegen moderne Kommunikationsformen und neue
Wege des Vertragsabschlusses gerichtet, sondern nur gegen diejenigen gerichtet, die die neuen, modernen Formen zu Lug und Trug nutzen wollen. Auch der Bundesrat geht bisher genau in diese Richtung; ich hoffe, er hält
an dieser Position fest.
Bei den Koalitionsfraktionen, die sich in dieser Frage
gegenseitig behindern, ist als Ergebnis die Widerspruchslösung herausgekommen.
({4})
Sie wird als zweitbeste Lösung bezeichnet. Dabei ist sie
nicht gerecht; denn sie hilft den Rechtsverletzern, ihre
unrechtmäßigen Gewinne zu realisieren. Wir Grünen
wollen diesen sogenannten zweitbesten Weg nicht mit23152
gehen. Wir haben bessere Vorschläge und lehnen deshalb Ihren Gesetzentwurf ab.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Montag, bei dieser Frage sollte es nicht
um Rechtsdogmatik gehen,
({0})
wie Sie eben ausgeführt haben, sondern einzig und allein
um die Frage, wie wir Missbräuche wirksam verhindern
können. Das ist das Thema. Darum kümmern wir uns.
({1})
Wir haben gehört, dass viele Unternehmen in der Vergangenheit millionenfach gegen geltendes Recht verstoßen haben; denn das derzeit geltende UWG untersagt bereits diese Art von Cold Calls. Die Angerufenen fühlen
sich in der Tat erheblich belästigt. Jedem Betroffenen
kann man nur raten: Legen Sie in einem solchen Fall
auf! Das ist der beste und wirksamste Schutz, den Sie
haben können.
Darüber hinaus haben wir in dem neuen Gesetzentwurf eine wirksame Bekämpfung unerlaubter und belästigender Werbeanrufe vorgesehen. Die Verbraucherinnen
und Verbraucher bekommen wirksame Rechte. Was
lange währt, wird endlich gut. Die Kollegin Klöckner hat
zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass mit diesem
Gesetzentwurf die kollektive Vernunft gesiegt hat; auch
in der CDU, auch bei der FDP.
({2})
Nur bei der Frage, wer es eigentlich erfunden hat,
habe ich das ein bisschen anders in Erinnerung.
({3})
Ich kann mich daran erinnern, dass wir diejenigen waren, die sich viele Jahre sehr intensiv um dieses Thema
gekümmert haben. Aber in diesem Fall sollte der Ausspruch von Helmut Kohl gelten: Wichtig ist, was hinten
rauskommt.
({4})
Es wurde bereits mehrfach angesprochen: Der Kern
dieses Gesetzes ist ein umfassendes Widerrufsrecht.
Dieses Rechtsmittel ist den Verbraucherinnen und Verbrauchern bekannt. Sie können es einsetzen. Es ist ein
wirksames Instrument, um zu verhindern, dass Verträge
am Telefon untergeschoben werden. Eine grundsätzliche
schriftliche Bestätigung würde nach unserer Einschätzung eher zu mehr als zu weniger Anrufen führen. Die
Unternehmen würden versuchen, diese schriftliche Bestätigung durch Anrufe von den Verbraucherinnen und
Verbrauchern einzufordern.
Auf eines möchte ich deutlich hinweisen: Wir werden
sehr genau analysieren, wie dieses Gesetz wirkt. Wir gehen davon aus, dass es wirksam ist, aber wir werden das
nach drei Jahren genau analysieren. Dieses Gesetz sorgt
dafür, dass sich Anbieter und Nachfrager endlich auf
Augenhöhe begegnen.
Bei Verstößen sieht das Gesetz ein Bußgeld von bis
zu 50 000 Euro vor. Liebe Frau Kollegin Binder, eine
tatsächlich verhängte Geldbuße durch Gerichte kann im
Einzelfall aber deutlich höher sein als diese 50 000 Euro.
Insofern ist das ein Sanktionsinstrument, das den Unternehmen im Zweifelsfall wirklich wehtut. Das ist kein
Punkt, der hier kritisch angemerkt werden sollte.
Dass Rufnummern nicht mehr unterdrückt werden
dürfen, haben wir gehört. Das ist der richtige Weg, damit
diejenigen, die angerufen werden, wissen, wer sie anruft.
So können sie sich im Zweifelsfalle sofort an diejenigen
wenden, die angerufen haben. Sie landen nicht erst bei
auftraggebenden Unternehmen, die nicht wissen, dass
angerufen worden ist. Ich glaube, wir haben eine sehr
gute, eine richtige Lösung gefunden.
Für den Fall eines telefonisch angebahnten Anbieterwechsels ist zukünftig die Textform mit Unterschrift für
die Kündigung des alten Vertrages notwendig. Damit
wird es diese Art des Unterschiebens von Verträgen in
Zukunft nicht mehr geben.
Durch das Widerrufsrecht erfassen wir im Übrigen
auch Abofallen im Internet. Das ist ein wichtiger Aspekt
des Missbrauchs, den wir aufgegriffen haben. Auch das
wird mit diesem Gesetzentwurf in Zukunft beseitigt.
Hiermit werden deutliche, einheitliche und nachvollziehbare Regelungen eingeführt, mit dem Ergebnis, dass
die Flut der unerwünschten und belästigenden Telefonanrufe in Zukunft drastisch reduziert sein wird. Dies ist
ein guter Tag für den Verbraucherschutz.
Vielen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege HansMichael Goldmann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ja, es ist ein guter Tag für den Verbraucherschutz. Deswegen heißt unser Antrag völlig zu Recht:
„Verbraucherschutz beim Telefonmarketing verbessern“.
Die Rechtsausführungen, die hier gemacht worden
sind, sind hilfreich. Sie sind allerdings aus meiner Sicht
an einigen Stellen, geschätzter Kollege Montag, ein
Spiegelbild dessen, was wir im Verbraucherschutz verhindern müssen. Wir müssen Botschaften haben, die der
Verbraucher versteht.
({0})
Ob es sich hier um schriftliche Bestätigung, Sofortanerkennung oder Widerrufsrechte handelt, ist in der Sache
zu diskutieren, muss aber als Botschaft des Gesetzes bei
dem Verbraucher in Klarheit ankommen.
({1})
Das, was Sie dargestellt haben, Herr Montag, versteht
aus meiner Sicht nur ein Fachjurist, aber nicht der Verbraucher.
({2})
- Das ist ein wichtiger Punkt. Dieser Gesetzentwurf wird
federführend im Rechtsausschuss beraten. In der Auswirkung ist es aber für die Rechtsanwälte nicht so interessant, höchstens für ein Abstauben an der einen oder
anderen Stelle; es ist jedoch hochinteressant für diejenigen, die davon betroffen sind.
({3})
Deswegen muss man einen klugen Kompromiss finden,
Herr Kollege. Dieser kluge Kompromiss ist in diesem
Gesetzentwurf gefunden worden. Ich persönlich bin der
Meinung, dass die Widerrufsrechte bei den Verbrauchern
verankert sind. Aber ich finde es wichtig, dass man eine
gute Mischung zwischen der schriftlichen Bestätigung
und dem Recht auf Widerruf erreicht. Das ist in diesem
Gesetzentwurf nach meiner Auffassung gut gelöst.
Das ist auch keine neue Erkenntnis, liebe Kollegin
Klöckner, sondern das ist eine Vernunftsposition, die die
FDP in dieser Frage schon lange vertritt
({4})
und die auch im Ausschuss von uns immer wieder angesprochen worden ist.
Ich will aber noch einen anderen Bereich ansprechen,
der mir wichtig ist und den wir ebenfalls in unsere Überlegungen einbeziehen. Wir dürfen bei den Verbraucherrechten keine nationalen Gesetze mehr machen, sondern
wir müssen dafür sorgen, dass die Gesetze auf europäischer Ebene harmonisiert sind. Wir werden kommende
Woche wieder mit der Verbraucherkommissarin Gespräche führen. Ich bin gegen eine Vollharmonisierung auf
niedrigem europäischem Niveau. Aber ich bin durchaus
dafür, dass wir die Bausteine, die bei uns gut geregelt
sind, auf europäischer Ebene retten. Wir haben lange um
Verbraucherrechte gekämpft. Es ist nötig, europäische
Rechte zu schaffen, die für die Verbraucher Schutzrechte
bedeuten; darauf sollten wir hinarbeiten.
Mit dem Gesetz, das heute auf den Weg gebracht
wird, gehen wir in die richtige Richtung. Wir müssen
uns allerdings auch darüber im Klaren sein, dass es gerade in diesem Bereich keinen Sinn hat, ein nationales
Gesetz zu verabschieden, das der europäischen Gesetzgebung möglicherweise entgegensteht oder darüber hinausgeht. Deswegen ist der nächste Zielpunkt unserer
Arbeit zum Schutz der Verbraucher, einen Einklang auf
europäischer Ebene herzustellen. Dieser Gesetzentwurf
ist eine gute Grundlage dafür. Deshalb stimmen wir
gerne zu.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Das ist heute die vierte Rede, die ich
im Deutschen Bundestag zum Thema unerlaubte Telefonwerbung halten darf, und es ist die für mich schönste
Rede, weil wir heute endlich einen guten Gesetzentwurf
verabschieden werden.
({0})
Wir haben länger als ein Jahr über das Thema gesprochen. Am Anfang war - Frau Klöckner hat es schon angesprochen - in der Tat ein wenig Überzeugungsarbeit
zu leisten. Darum geht es aber heute nicht. Wir brauchen
uns auch keine Dinge aus der Vergangenheit vorhalten
zu lassen. Entscheidend ist, dass wir für die Zukunft etwas Vernünftiges erreichen, dass - wenn ich das ein wenig kalauerhaft sagen darf - die Große Koalition und die
FDP gemeinsam mit heißen Herzen gegen kalte Anrufe
vorgehen.
({1})
Ich glaube, das sollte das Signal der heutigen Debatte
sein.
Man muss in der Tat aufpassen: Man kann sicherlich
über Detailfragen - ich komme gleich darauf zu sprechen - diskutieren und an einigen Dingen herummäkeln.
Das ist Oppositionsarbeit, wie sie von den Grünen verstanden wird. Aber die Botschaft des heutigen Tages
muss klar sein: Es gibt für den Verbraucher substanzielle
Verbesserungen. Neben den Änderungen im Bundesgesetzblatt ist der Umstand vielleicht wichtiger, dass wir
den Verbrauchern im Umgang mit diesen ungeheuerlichen Anrufen mehr Selbstvertrauen geben.
Die Bürger in diesem Lande brauchen - das hat Herr
Goldmann eben schon richtig gesagt - eine klare Botschaft. Aus diesem Grunde möchte ich als vorletzter
Redner in dieser Debatte zusammenfassen, warum wir
gehandelt haben und wie wir handeln.
Die jetzige Praxis vieler unerlaubter Werbeanrufe
durch schwarze Schafe der Branche - das trifft sicherlich
nicht auf die gesamte Branche zu; es gibt auch viele
„weiße Schafe“ - ist ein Ärgernis für die Menschen in
Deutschland.
({2})
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben die ForsaUmfrage erwähnt, die immer wieder zitiert wird. Fast
neun von zehn Deutschen fühlen sich durch Werbeanrufe belästigt. Es handelt sich um ein Massenphänomen
und um kein Einzelphänomen. Es gibt sicherlich erheblichere Eingriffe in die Privatsphäre der Menschen. Aber
es gibt wohl nur wenige, die in solch massenhafter
Weise und so ungeniert auftreten.
Es ist zugleich ein Ärgernis für den Rechtsstaat. Denn
dieses Verbot steht seit einigen Jahren im UWG, im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Trotzdem wird
- in den letzten Jahren noch mit zunehmender Tendenz dieses Verbot ignoriert. Der Gesetzgeber kann daher
nicht untätig bleiben und muss den unseriösen Unternehmen der Branche die passende Antwort geben.
({3})
So viel zum Warum.
Wie gehen wir vor? Wir haben fünf zentrale Maßnahmen ergriffen. Diese will ich - auch das gehört zu der
klaren Botschaft an die Verbraucher - im Folgenden erwähnen.
Zum Ersten muss eine ausdrückliche Einwilligung
vorliegen. Es reicht nicht mehr aus, dass ein Callcenter
meint, es liege schon eine Einwilligung vor oder man
könne aus einem bestimmten Verhalten auf eine Einwilligung schließen. Dass eine ausdrückliche Einwilligung
gegeben sein muss, gibt deutlich mehr Rechtssicherheit.
Zum Zweiten verlangen wir, dass die anrufenden
Callcenter - um es bildlich zu sagen - ihr Visier hochklappen, dass also die Rufnummer angezeigt wird. Das
hat mehrere Effekte. Zum einen kann man Verdacht
schöpfen, wenn keine Nummer angezeigt wird. Zum anderen kann man als Verbraucher, wenn eine Nummer angezeigt wird, zurückverfolgen, wer eine Rechtsverletzung begangen hat.
Wer einen Anruf mit anonymer Nummer angenommen hat, bei dem es sich nach ein paar Sekunden herausstellt, dass es sich um einen Werbeanruf handelt, der
muss nicht erst in seinem Gedächtnis kramen, ob er eine
entsprechende Einwilligung gegeben hat, sodass der Anruf vielleicht doch legal ist. Denn wenn sich bei einem
Anruf mit anonymer Telefonnummer herausstellt, dass
es sich um den Anruf eines Werbenden handelt, sollte
man sofort auflegen. Das ist nicht unhöflich, sondern
eine ganz normale Verhaltensweise, die hoffentlich in
ganz Deutschland Schule machen wird.
({4})
- Genau: Und die Nichtanzeige wird zusätzlich noch mit
einem Bußgeld belegt.
Zum Dritten haben wir in den Gesetzentwurf hineingeschrieben, dass ein Bußgeld in Höhe von 50 000 Euro
für den Fall, dass die Regeln verletzt werden, verhängt
werden kann. Das ist ein durchaus stattlicher Betrag. Ich
betone: Dieser Betrag kann auch mehrfach aufgrund
mehrerer Einzelfälle von einem Unternehmen gefordert
werden. Wenn sich ein Unternehmen beharrlich und auf
lange Sicht diesen Rechtsregeln verweigert, kann dieser
Betrag deutlich größer sein als 50 000 Euro und im
sechs- bis siebenstelligen Bereich liegen.
Zum Vierten haben wir - Frau Zypries hat es erwähnt für die Bereiche dauerhafter Lieferungen - dazu zählen
etwa Telefonverträge und Stromverträge - eine besondere Regelung vorgesehen, weil hier eine besondere
Konstellation vorliegt. In diesen Fällen soll nämlich von
einem Anbieter zum anderen gewechselt werden. Darin
liegen zwei Gefahren. Die erste Gefahr ist, dass ich den
Wechsel gar nicht bemerke, weil ich zum Beispiel beim
Strom nicht erkennen kann, ob er vom alten Anbieter
stammt oder von dem, der mir einen Vertrag untergeschoben hat. Das Gleiche gilt auch für andere Bereiche
wie dem Telefonbereich. Hier muss eine klare Warnfunktion gegeben sein. Die zweite Gefahr ist, dass diejenigen, die aufgrund der Rechnung den Wechsel bemerken und sich vielleicht erfolgreich dagegen wehren,
zwar aus dem untergeschobenen Vertrag herauskommen,
aber am Ende ohne Telefon- und Stromanbieter dastehen, weil der alte Vertrag nicht mehr gilt. Das wäre dann,
wie ich schon einmal gesagt habe, vielleicht ein ganz
wirksamer Schutz gegen unerlaubte Telefonanrufe, aber
nicht der, den wir wollen. Wir wollen, dass die Leute telefonieren können, aber mit den Gesprächspartnern, die
sie anrufen möchten oder von denen sie angerufen werden wollen. Deswegen ist eine Bestätigungsregelung
vorgesehen. Sie ist eine spezielle Lösung für ein spezielles Problem, also passgenau.
Zum Fünften gehen wir mit diesem Gesetzentwurf
ganz effektiv gegen Abofallen im Internet, aber auch im
Telefonbereich vor. Da werden bisher Lücken im Widerrufsrecht ausgenutzt. Wir wollen das Widerrufsrecht
stärken. Wir wollen, dass man nachher nicht durch ein
Lockangebot zwölf Monate oder noch länger kostenpflichtig gebunden wird.
Diese fünf Maßnahmen sind effektiv; sie sind klar
und wirksam. Natürlich kann man sich zu fast jeder dieser Maßnahme Varianten bzw. Alternativen vorstellen.
Aber im Einzelnen ist während der Beratungen und auch
während unserer Berichterstattergespräche deutlich geworden: Bei all diesen Alternativen und Varianten, die
zum Teil der Bundesrat ins Gespräch gebracht hat, überwiegen die Nachteile deutlich den Nutzen.
Ich will drei Punkte herausgreifen. Ein Vorschlag war
zum Ersten, nicht die Rufnummeranzeige des Callcenters, sondern die des Auftraggebers, der dahintersteht,
vorzusehen. Man kann sich schon jetzt ausmalen, wie
der arme Verbraucher zwischen Unternehmer, Auftraggeber und Callcenter hin und her verwiesen wird
({5})
und dann immer noch nicht weiß, wer sein echter Ansprechpartner ist. Das haben wir aus diesem Grunde zu
Recht nicht vorgesehen.
({6})
Man hätte natürlich zum Zweiten ein höheres Bußgeld verhängen können. Der Bundesrat hat von
250 000 Euro gesprochen. Wenn wir ein Bußgeld von
250 000 Euro vorgesehen hätten, hätte eine Oppositionsfraktion dieses Hauses bestimmt 500 000 oder 1 Million
Euro gefordert. Über andere Beträge kann man zwar
nachdenken; aber man muss immer in der Systematik
unserer Rechtsordnung - diese ist durch politische Entscheidungen zustande gekommen - bleiben. Zum Beispiel werden in § 119 des Ordnungswidrigkeitengesetzes
grob anstößige und belästigende Handlungen als Ordnungswidrigkeit geahndet. Da ist ein Bußgeld von maximal 10 000 Euro vorgesehen. Es passt also einfach nicht
in das System, Beträge zu wählen, die deutlich über die
jetzige Systematik hinausgehen. 50 000 Euro sind fühlbar; dies ist ein stattlicher Betrag, der zudem mehrfach
anfallen kann.
Zum Dritten kann man natürlich darüber diskutieren,
ob wir nicht unser ganzes BGB-System ändern und sagen wollen: Im Prinzip, zumindest in besonderen Konstellationen, darf es nur noch schriftliche Verträge bzw.
Verträge geben, die schriftlich bestätigt werden. Ich halte
das für deutlich übertrieben. Wir würden Gefahr laufen,
im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Regeln
über die Aufstellung von Verträgen festlegen zu müssen.
Das hieße, dass wir das, was wir erreicht haben, also die
gesamten Regeln über den Vertragsschluss in das BGB
zurückzuholen - das war ein mühsamer Prozess -, wieder aufgeben und die Rechtsordnung fragmentieren würden. Wir würden die Unsicherheit, ob ein Anruf erlaubt
oder unerlaubt war, in alle möglichen Zivilprozesse über
die Gültigkeit des Vertrages verlagern. Viele Anwälte
hätten dann wahrscheinlich einen Textbaustein für ein
solches Argument in der gerichtlichen Auseinandersetzung. Wir würden - diesen Satz darf ich aufgreifen - den
Verbrauchern Steine statt Brot geben; das ist meine feste
Überzeugung.
Diese drei Punkte sind also keine gelungenen Beispiele für wirkliche Alternativen oder Varianten.
Wir haben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, so
glaube ich, den richtigen Weg eingeschlagen.
({7})
Wir schaffen wichtige und wirksame Verbesserungen,
die passgenau - ich habe es in einigen Beispielen ausgeführt - auf das Problem zugeschnitten sind. Es wird
nicht übertrieben reagiert, sondern sehr angemessen und
wirksam.
Wir werden auch - das ist für diejenigen sehr wichtig,
die Skepsis an den Tag legen - eine Evaluierung vornehmen. Wir werden überprüfen, wie sich das Gesetz
auswirkt. Ich sage ja immer: Die Sprache, die wir im
Bundestag pflegen, ist oft etwas schief. Wir sollten Gesetzentwürfe nicht sozusagen auf Nimmerwiedersehen
verabschieden, sondern müssen sie im Auge behalten,
auch nachdem wir sie im Deutschen Bundestag beschlossen haben.
Wir werden das tun. Wir haben uns aber - ich habe es
gesagt - gegen unpraktikable Maximalforderungen gewehrt. Wir wollen uns nicht für solche Maximalforderungen auf die Schulter klopfen, sondern denjenigen, die
eine Rechtsverletzung begehen, auf die Finger klopfen.
Heute ist ein guter und schöner Tag; denn wir haben jetzt
ein Jahr über dieses Thema geredet und können heute
handeln, indem wir diesen Gesetzentwurf beschließen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dirk Manzewski für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
zahlreiche Freunde der Rechts- und Verbraucherpolitik!
({0})
Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen Telefonwerbung überhaupt verboten ist. Frau Klöckner,
seien Sie mir nicht böse, aber ich muss es sagen, weil Sie
mich gerade gereizt haben:
({1})
Dass das so ist, ist Rot-Grün zu verdanken - damals gegen den erheblichen Widerstand der Union.
({2})
Damals fielen Worte wie: Die können doch einfach auflegen. - Ein Kollege sprach von Regierungsterror, und
eine mir ansonsten sehr sympathische Kollegin sprach
von einer Bevormundung der Bürger.
({3})
Wir müssen uns allerdings eingestehen - deswegen ist
es richtig, dass wir uns an dieses Thema noch einmal
herangewagt haben -, dass die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten wie der Unterlassungsanspruch, der
Gewinnabschöpfungsanspruch oder auch der Schadensersatzanspruch offenbar nicht ausreichen, die belästigenden Telefonanrufe in den Griff zu bekommen; denn sie
haben mittlerweile ein nicht mehr hinzunehmendes Ausmaß angenommen.
Hier setzt der Gesetzentwurf der Bundesregierung an,
indem er eben das bestehende Sanktionsrecht weiter
verschärft. Wichtig ist, dass jeder einzelne Verstoß gegen das bestehende Verbot der unerlaubten Telefonwerbung künftig mit einer selbstständigen Geldbuße geahndet wird. Eine solche Geldbuße gab es bislang nicht. Bei
Werbeanrufen darf die Rufnummer nicht mehr unterdrückt werden, um die Identität zu verschleiern. Ein Problem in der Vergangenheit war, dass trotz bestehenden
Verbotes der Anrufer nicht festgestellt und deshalb nicht
sanktioniert werden konnte. Diese Rufnummernunterdrückung wird nunmehr verboten und künftig ebenfalls
mit einer Geldbuße sanktioniert.
Gut finde ich übrigens, dass wir den ursprünglichen
Gesetzentwurf insoweit geändert haben, als nun definitiv
allein die Telefonnummer des Anrufers und nicht alternativ die von dessen vermeintlichen Auftraggeber im
Display zu erscheinen hat. Den Betroffenen ist es meiner Auffassung nach nicht zuzumuten, mit dem vermeintlichen Auftraggeber nun den Streit darüber auszutragen, ob denn nun tatsächlich eine entsprechende
Beauftragung eines Callcenters vorlag oder nicht. Ich
möchte die Callcenter auch nicht aus der Verantwortung
entlassen, dies mit ihrem Auftraggeber vorab abzuklären; denn es sind letztendlich die Callcenter, die diese
belästigenden Anrufe tätigen.
Ehrlicherweise muss ich eingestehen, dass diese Regeln natürlich Umgehungspotenzial beinhalten; das ist
auch von Ihnen, Frau Kollegin, gesagt worden. Rufnummern können, insbesondere wenn die Anrufe über den
Computer erfolgen, manipuliert werden. Selbst die Identitätsfeststellung hilft nicht weiter, wenn die Anrufe aus
dem Ausland erfolgen. Aber - auch das ist zu Recht gesagt worden - nicht alle Anrufe sind unseriös. Zumindest gegenüber dem seriösen Teil der Branche werden
diese neuen Regularien weiterhelfen.
Durch das Gesetz werden auch die Widerrufsmöglichkeiten ausgeweitet. Anders als bislang können künftig nämlich auch Verträge über die sogenannten Geschäfte des täglichen Lebens, also über die Lieferung
von Zeitungen, Zeitschriften, Illustrierten, aber auch
über den Verkauf von Lotterie- und Wettdienstleistungen, widerrufen werden. Bislang gab es hier kein Widerrufsrecht. Wir schließen damit eine große Lücke und
werden den Verbraucherinnen und Verbrauchern damit
weiterhelfen.
Wir werden auch den Schutz vor untergeschobenen
Verträgen verbessern. In der Vergangenheit ist es sehr
häufig vorgekommen, dass Verbraucher erst durch zugesandte vermeintliche Auftragsbestätigungen darauf aufmerksam wurden, dass ihre telefonische Einwilligung
zur Zusendung von Informationsmaterial von der anderen Seite ganz frech als Vertragsannahme, zum Beispiel
zum Wechsel ihres Telefonanbieters, ausgelegt worden
ist und die Widerrufsmöglichkeiten, die sie hatten, durch
die unbemerkte Nutzung des neuen Netzes bereits entfallen waren. Wir werden eine Änderung dadurch erreichen, dass das Widerrufsrecht zukünftig eben nicht mehr
durch die erstmalige Inanspruchnahme einer Dienstleistung erlischt und - das halte ich für noch wichtiger - die
Kündigung eines solchen Dauerschuldverhältnisses bzw.
die Vollmacht hierzu nunmehr zwingend der Schriftform
bedarf.
Erlauben Sie mir, an dieser Stelle noch einmal zu erwähnen, dass ich mir persönlich trotz aller Verbesserungen durch diesen Gesetzentwurf durchaus noch mehr
hätte vorstellen können. Ich habe in den vorangegangenen Debatten schon deutlich gemacht, dass auch ich
Sympathien für die große Bestätigungslösung habe, die
auch vom Bundesrat und einigen Vorrednern hier heute
vorgetragen worden ist. Der Charme dieser großen Bestätigungslösung wäre gewesen, dass der Anreiz, diese
unerlaubten Telefonanrufe zu tätigen, ohne einen Vertragsschluss am Ende verloren gehen würde. Die beste
Möglichkeit, diese Telefonanrufe zu verhindern, wäre
also ein schriftliches Bestätigungserfordernis gewesen.
Die Ministerin hat aber mit ihren Bedenken nicht unrecht; denn so unproblematisch wäre diese Lösung natürlich auch nicht gewesen; das muss man ganz deutlich
sagen. Die große Bestätigungslösung - ich habe mich
gewundert, dass diese Lösung von den Befürwortern
ohne Wenn und Aber so einfach vorgetragen wurde hätte mit Sicherheit Rechtsunsicherheit zur Folge gehabt; da hat die Ministerin völlig recht. Sie hätte am Anfang mehr Bürokratie geschaffen. Es wäre auch nicht
auszuschließen gewesen, dass wir hierdurch erheblich in
den Bereich des Fernabsatzes eingreifen und möglicherweise Hindernisse aufbauen würden, die weder dem Interesse der Wirtschaft noch dem der Verbraucher gerecht
werden.
Insoweit halte ich es für vertretbar, dass wir zunächst
den weniger einschneidenden Weg gehen und die Wirkung des Gesetzes nach drei Jahren evaluieren, um festzustellen, ob die im Gesetz enthaltenen Möglichkeiten
ausreichend sind, um Verbraucherinnen und Verbraucher
tatsächlich und wirksam vor unerlaubter Telefonwerbung zu schützen. Danach können wir entscheiden, ob
wir doch den einschneidenderen Weg der Bestätigung
gehen.
Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Der
vorliegende Gesetzentwurf stellt im Vergleich zur derzeitigen Rechtslage eindeutig - ich betone das - eine
Verbesserung für die Verbraucherinnen und Verbraucher
in unserem Land dar. Ich nenne noch einmal die Stärkung des Sanktionsrechts, die Ausweiterung des Widerrufsrechts und den verbesserten Schutz vor untergeschobenen Verträgen. Ich kann zwar nachvollziehen, dass
sich der eine oder andere mehr gewünscht hat und sich
deswegen der Stimme enthält. Wie man angesichts dieser Verbesserungen den Gesetzentwurf, der eindeutig
Verbesserungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher mit sich bringt, aber ablehnen kann, kann ich beim
besten Willen nicht nachvollziehen, Kollege Montag.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämp-
fung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung
des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsfor-
men. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12406,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 16/10734 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/12426?
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ände-
rungsantrag ist abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/12455. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 4 b: Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Verbraucherschutz beim Telefonmarke-
ting verbessern - Call-Center erhalten“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12406, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/8544 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke, der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-
Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen mit dem Titel „Verbot von Telefonwerbung zum Schutz
der Verbraucherinnen und Verbraucher wirksam durchset-
zen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/6059, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4156 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 j sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf:
36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 6. November 2008 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Erbschaftsteuern bei Erbfällen, in denen der
Erblasser nach dem 31. Dezember 2007 und
vor dem 1. August 2008 verstorben ist
- Drucksache 16/12236 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und
der elektronischen Akte im Grundbuchverfahren sowie zur Änderung weiterer grundbuch-,
register- und kostenrechtlicher Vorschriften
({1})
- Drucksache 16/12319 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2006/783/JI des
Rates vom 6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen ({3})
- Drucksache 16/12320 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes über die Entschädigung für
Strafverfolgungsmaßnahmen
- Drucksache 16/12321 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Bundeszentralregistergesetzes
- Drucksache 16/12427 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten
- Drucksache 16/12428 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Mücke, Horst Friedrich ({8}), Patrick
Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Konjunktur jetzt stärken - Überlange Planungszeiten verhindern
- Drucksache 16/11750 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({10}), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flüchtlinge entsprechend den Vorgaben der
Qualifikationsrichtlinie schützen
- Drucksache 16/12323 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Irmingard Schewe-
Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleiche Bezahlung, gleiche Behandlung und
Mindestlohn für Leiharbeitnehmerinnen und
-arbeitnehmer
- Drucksache 16/12435 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
j) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Umweltgutachten 2008 des Sachverständigenrates für Umweltfragen
Umweltschutz im Zeichen des Klimawandels
- Drucksache 16/9990 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für ein kohärentes und effizientes Konzept
der deutschen humanitären Hilfe
- Drucksache 16/7523 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Hans-Michael Goldmann, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Transparente und eindeutige Produktkennzeichnung als Voraussetzung für ökologische
Konsumentenverantwortung
- Drucksache 16/11911 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Wolfgang Wieland, Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Visumsfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen
- Drucksache 16/12437 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Fraktionen FDP, DIE
LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 16/12480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen. Dies betrifft die Tagesordnungspunkte 36 a bis
36 j sowie die Zusatzpunkte 3 a, 3 c und 3 d. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die
Federführung strittig ist. Es geht um den Zusatzpunkt 3 b. Interfraktionell wird die Überweisung des
Antrags der Fraktion der FDP betreffend die „Transparente und eindeutige Produktkennzeichnung als Voraussetzung für ökologische Konsumentenverantwortung“,
Vizepräsidentin Petra Pau
Drucksache 16/11911, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen von
CDU/CSU und SPD wünschen die Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion
der FDP wünscht die Federführung beim Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der FDP abstimmen, also über die Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, also
über die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 37 a
bis 37 i sowie den Zusatzpunkten 4 a bis 4 j. Es handelt
sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 37 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des notariellen Disziplinarrechts
- Drucksache 16/12062 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({17})
- Drucksache 16/12460 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Dr. Carl-Christian Dressel
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12460, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12062 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetzes
- Drucksache 16/12063 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({18})
- Drucksache 16/12461 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12461, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12063 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 8. Oktober 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Indien über Sozialversicherung
- Drucksache 16/12065 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({19})
- Drucksache 16/12352 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12352,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/12065 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Aner23160
Vizepräsidentin Petra Pau
kennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit
auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung
und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern
- Drucksache 16/12068 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20})
- Drucksache 16/12462 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12462, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12068 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung ({21})
Nr. 593/2008
- Drucksache 16/12104 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({22})
- Drucksache 16/12463 Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Raab
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12463, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12104 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Gefahrgutbeförderungsgesetzes
- Drucksache 16/12118 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({23})
- Drucksache 16/12451 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12451, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12118 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung der Freihäfen Emden und Kiel
- Drucksache 16/12228 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({24})
- Drucksache 16/12454 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12454, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12228 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 h:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Zweiten Protokoll vom
26. März 1999 zur Haager Konvention vom
14. Mai 1954 zum Schutz von Kulturgut bei
bewaffneten Konflikten
- Drucksache 16/12234 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({25})
- Drucksache 16/12452
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Harald Leibrecht
Dr. Uschi Eid
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12452, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12234
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 i:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Bosnien und Herzegowina andererseits
- Drucksache 16/12235 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- Drucksache 16/12453 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Uta Zapf
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({1})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12453, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/12235 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 543 zu Petitionen
- Drucksache 16/12438 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 543 ist damit angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 544 zu Petitionen
- Drucksache 16/12439 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 544 ist damit einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 545 zu Petitionen
- Drucksache 16/12440 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 545 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 546 zu Petitionen
- Drucksache 16/12441 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 546 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 547 zu Petitionen
- Drucksache 16/12442 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 547 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 548 zu Petitionen
- Drucksache 16/12443 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 548 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 549 zu Petitionen
- Drucksache 16/12444 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 549 ist gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der
anderen Fraktionen angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 550 zu Petitionen
- Drucksache 16/12445 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 550 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 551 zu Petitionen
- Drucksache 16/12446 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 551 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 552 zu Petitionen
- Drucksache 16/12447 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht 552 ist angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:
Wahlen zu Gremien
a) Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der
unselbständigen Stiftung „Stiftung Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“
Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD
- Drucksache 16/12417 -
b) Wahl von Mitgliedern des Kuratoriums der
Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
- Wahlvorschläge der Fraktionen DIE LINKE
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
- Drucksache 16/12419 - Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und FDP
- Drucksache 16/12418 Zusatzpunkt 5 a. Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
16/12417 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Zusatzpunkt 5 b. Hierzu liegen ein gemeinsamer
Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und
FDP sowie ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Wir
stimmen zuerst über den Wahlvorschlag der Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/12419 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist abgelehnt.
Wir stimmen nun über den Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache
16/12418 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Bosbach für die Unionsfraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt im Deutschen Bundestag eine Fülle von strittigen
Themen. Das ist nicht weiter schlimm; das gehört zum
Wesen einer lebendigen Demokratie. Es muss aber auch
politische Themen geben, bei denen fraktions- und parteiübergreifend Einigkeit besteht. Für die CDU/CSUBundestagsfraktion sage ich - als Vertreter ohne Vertretungsmacht sage ich das auch für alle anderen Fraktionen -: Wir wollen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie entschlossen bekämpfen, wo immer wir das
können - nicht nur, aber auch im Internet.
({0})
Kinderpornografie ist ein abscheuliches Geschäft, mit
dem man Millionen verdienen kann, und zwar mit dem
Leid von Jugendlichen und Kindern, ja sogar von
Kleinstkindern; ein Drittel aller Opfer ist unter drei Jahre
alt.
Wir freuen uns, dass wir eine Ministerin haben, die
dieses Problem nicht nur wortreich beschreibt und beklagt, die nicht nach der Methode „Ich habe für jede Lösung ein Problem“ arbeitet, sondern für jedes Problem
eine Lösung sucht. Frau Ministerin von der Leyen, wir
sind Ihnen für Ihre Initiative von Herzen dankbar.
({1})
Die Entwicklung ist besorgniserregend; Besitz und
Verbreitung von Kinderpornografie spiegeln sich in der
Polizeilichen Kriminalstatistik wie folgt wider: 1995 gab
es 414 Fälle mit 1 350 Tatverdächtigen; 2006 gab es
7 300 Fälle mit 5 700 Verdächtigen; 2007 gab es
11 350 Fälle mit knapp 10 000 Tatverdächtigen.
Das Internet ist nicht nur eine fantastische technische
Errungenschaft und Einrichtung. Es wird leider immer
häufiger auch als Werkzeug zur Begehung von Straftaten
benutzt. Bei der Kinderpornografie im Internet gab es
von 2006 auf 2007 einen Aufwuchs von 111 Prozent.
Wir schätzen, dass es von 2006 auf 2007 im Internet
50 000 bis 60 000 Seiten mit kinder- und jugendpornografischem Inhalt gab. Manche Videos werden bis zu
50 000-mal pro Monat angeklickt. Das zeigt die gewaltige Dimension des Problems.
Es soll keiner sagen, er habe diese Bilder ja nur angeklickt und der Kindesmissbrauch sei ja schon vorher geschehen; denn sonst gäbe es diese Präsentation im Internet nicht. Diese Argumentation ist pervers; denn jeder,
der ein solches Bild anklickt bzw. eine solche Präsentation herunterlädt, stiftet andere an, erneut Kinder für diesen Zweck zu missbrauchen.
({2})
Es gibt Länder, die mit dem Sperren solcher Seiten im
Internet bereits Erfahrungen gesammelt haben. Teilweise
geschah dies auf vertraglicher Basis, teilweise auf gesetzlicher Basis. Betrachten wir die Erfahrungen des
Landes Norwegen und rechnen wir die Zahlen Norwegens auf die Verhältnisse in Deutschland um: Durch die
Sperrung dieser Seiten könnten wir zwischen 300 000
und 400 000 Aufrufe pro Tag verhindern.
Wir wollen ein zweistufiges Verfahren, und zwar zunächst und sofort eine vertragliche Vereinbarung mit den
Providern. Es ist bedauerlich, dass sich die Bundesministerin der Justiz nicht in der Lage sieht, ein solches
vertragliches Verfahren mitzutragen.
({3})
Das ist aber nicht weiter dramatisch; denn wir wollen ja
auch ein Gesetzgebungsverfahren in Gang setzen. Die
Gesetzgebungszuständigkeit liegt hier beim Bundesminister für Wirtschaft. Dort ist sie in guten Händen.
({4})
Wer jetzt sagt, dass die Sperrung kinderpornografischer Seiten an die Bemühungen der chinesischen Regierung erinnert, Zensur auszuüben, der hat nichts begriffen.
({5})
In China geht es darum, regierungskritische Äußerungen
zu verbieten, sodass sich das Ausland nicht über die Verhältnisse in diesem Land informieren kann. Das ist etwas
völlig anderes als die Sperrung kinderpornografischer
Seiten, die ohnehin verboten sind. Hier geht es nur darum, dass wir mittels Technik verhindern, dass Straftaten
begangen werden können - nicht mehr und nicht weniger. Es ist ja nicht so, als sei das alles straflos. Das war
schon immer strafbar.
Wir können diesen Markt wahrscheinlich auch nicht
austrocknen. Mit ihrer Aussage in der heutigen Ausgabe,
die Maßnahmen seien nur begrenzt wirksam, hat die
Süddeutsche Zeitung recht. Aber das ist doch ein völlig
schräges Argument gegen die Initiative. Mir ist eine
Maßnahme, mit der eine begrenzte Wirkung erzielt wird,
lieber als ein Unterlassen, das eine unbegrenzte Wirkungslosigkeit zur Folge hat.
({6})
Es geht nicht nur, aber zunächst darum, dass wir mit
den Providern Verträge abschließen. Das soll in den
nächsten Tagen geschehen. Deswegen sollte man noch
einmal die benennen, die bereit sind, eine solche Unterzeichnung zu leisten: Bis zur Stunde sind das Telekom,
Vodafone/Arcor, Telefónica und O2. Daneben gibt es
noch zwei Provider, die auf dem Wege sind und sich ein
bisschen beeilen sollten: Das sind Kabel Deutschland
und Hansenet/Alice.
({7})
Die FDP hat gestern beklagt, dass Ministerin von der
Leyen Provider benannt hat, die nicht bereit sind, auf
freiwilliger Basis mit dem Bundeskriminalamt zu kooperieren.
({8})
Die FDP hat gesagt: Die Nennung ist problematisch;
denn das könnte die Provider ja in Verlegenheit bringen.
({9})
Herr Kollege Bosbach.
Ich bin gleich fertig.
Ja, bitte.
Für diese Argumentation habe ich sogar Verständnis.
Deswegen tue ich das hier noch einmal.
Nein, Herr Kollege Bosbach.
Bis zur Stunde sind United Internet/1&1, Freenet AG
und Versatel nicht dazu bereit. Wir sollten sie dringend
darum bitten, sich einer Vereinbarung nicht zu verschließen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Christoph Waitz von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Man merkt schon, welcher Pfeffer in dieser
Diskussion ist.
Ich habe gestern an der Fragestunde teilgenommen
und die Präsentation von Frau von der Leyen gehört. Ich
muss Ihnen ehrlich sagen: Ich empfinde es schlichtweg
als einen extrem schlechten Politikstil, wenn man versucht, Sachverhalte, die man hier im Parlament nicht
nachvollziehen kann, weil man an den entsprechenden
Verhandlungen nicht teilgenommen hat, in dieser Art
und Weise öffentlich zu machen und bestimmte Unternehmen, deren Position und Argumente man schlichtweg nicht kennt, in dieser Art und Weise an den Pranger
zu stellen. Das verstehe ich nicht.
({0})
Mir läuft die Zeit davon. Ich hoffe, ich bekomme das
in den Griff.
Es ist schwer, in Worte zu fassen, was Kindern weltweit angetan wird, um kinderpornografische Inhalte zu
produzieren. Frau von der Leyen macht das immer sehr
plastisch deutlich, und sie hat recht.
({1})
Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum sich Menschen diese Bilder und Inhalte ansehen. Klar ist aber,
dass wir nicht tatenlos zusehen können.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Kampf
gegen Kinderpornografie voll und ganz. Wir können
nicht hinnehmen, dass Jungen und Mädchen weltweit in
dieser Form Schaden zugefügt wird.
({2})
Unser Rechtsstaat hat eine besondere Schutzverpflichtung gerade gegenüber Kindern und Jugendlichen. Dieser Verpflichtung müssen und werden wir nachkommen.
Trotz aller Freiheiten, die das Internet den Menschen
täglich weltweit bietet, ist das Internet kein rechtsfreier
Raum. Die steigende Anzahl kinderpornografischer Inhalte im Internet macht deutlich, dass wir dringend etwas unternehmen müssen, um diese Inhalte einzudämmen.
Natürlich geben wir uns nicht der Illusion hin, dass
Kinderpornografie im Internet völlig zu verhindern
wäre. Die technischen Voraussetzungen dafür sind
schlicht und ergreifend nicht gegeben. Wer nach diesen
Inhalten sucht, der wird sie unter Umgehung der jetzt
vorgesehenen Sperren auch weiterhin finden. Professor
Sieber vom Max-Planck-Institut für ausländisches und
internationales Strafrecht macht in seinem Gutachten zu
Sperrverfügungen im Internet nicht nur deutlich, dass
diese Sperren auch an DNS-Servern einen Eingriff in
Art. 10 Grundgesetz, also sozusagen in die Kommunikationsfreiheit, darstellen, sondern er beschreibt in ihm
auch, wie leicht diese Sperren umgangen werden können. Dazu genügt unter Umständen schon der Einsatz einer internationalen Suchmaschine. Die detaillierte Beschreibung, wie man DNS-Sperren umgehen kann,
findet sich schon seit vielen Jahren auf der Internetseite
des Chaos Computer Clubs.
Trotzdem muss der Staat tun, was in seiner Macht
steht, um Kinderpornografie zurückzudrängen. Nicht
mehr und nicht weniger erwarten wir von unserem
Rechtsstaat.
({3})
Wie die Analyse internationaler Filterlisten ergeben
hat, befinden sich die Server, auf denen kinderpornografische Inhalte abgelegt sind, zumeist im Ausland. Betroffen sind insbesondere - das habe ich schon gestern in der
Fragestunde erwähnt - Nordamerika, Australien und
Westeuropa. In diesen Staaten und Regionen steht Kinderpornografie unter Strafe. Eine Schutzlücke ist aus
strafrechtlicher Sicht weder in Deutschland noch in den
anderen erwähnten Staaten vorhanden. Aus Sicht der
FDP-Fraktion ist es entscheidend, durch die Verbesserung der internationalen Strafverfolgung und eine verbesserte Kooperation der Strafverfolgungsbehörden dafür zu sorgen, dass kinderpornografische Inhalte
möglichst weitgehend aus dem Internet verschwinden.
Es geht also nicht nur darum, sie zu sperren, sondern
man sollte sie schlichtweg verschwinden lassen.
({4})
Die Wahl des amerikanischen Präsidenten begründet
meines Erachtens die berechtigte Hoffnung, jetzt bei der
internationalen Harmonisierung des Internetstrafrechts
ein weiteres Stück voranzukommen.
Den Strafverfolgungsbehörden stellen sich im In- und
Ausland die gleichen Herausforderungen. Wenn ich die
Stellungnahme des Bundes Deutscher Kriminalbeamter
richtig verstanden habe, dann brauchen wir in Deutschland zur Bewältigung dieser Aufgaben mehr und besser
qualifizierte Ermittler. Darüber hinaus ist der internationale Druck auf diejenigen Staaten notwendig, die Kinderpornografie nach wie vor unzureichend und schleppend verfolgen.
Wir können es nicht bei mehr oder weniger symbolischen Sperrermächtigungen oder Sperrverfügungen belassen. Wir müssen das eigentliche Problem angehen.
Das sind meines Erachtens die Produzenten und Vermarkter kinderpornografischer Inhalte. An dieser Stelle
muss der Verfolgungsdruck weiter erhöht werden.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, je größer ein Eingriff in die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger ist,
desto stärker gilt die Verpflichtung, diesen Eingriff gesetzlich zu regeln. Dabei gilt immer der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit. Sosehr ich die Bereitschaft vieler
Internetprovider begrüße - Herr Bosbach hat die Namen
im Einzelnen genannt -, auf der Basis einer vertraglichen Regelung DNS-Sperren für Internetseiten mit kinderpornografischen Inhalten umzusetzen, der Vertrag
zwischen dem Bundeskriminalamt und den Providern
bedarf unserer Meinung nach einer spezialgesetzlichen
Regelung zur Unterfütterung. Maßnahmen auf der Basis
des im Bundeskabinett beschlossenen Eckpunktepapiers
halten wir für nicht ausreichend rechtlich abgesichert. So
habe ich auch unsere Justizministerin Zypries verstanden. Die beträchtlichen technischen, einfachgesetzlichen
und verfassungsrechtlichen Fragen verbieten einen mit
einem Eckpunktepapier versehenen Schnellschuss.
Da die technische Umsetzung möglicher DNS-Sperren mindestens mehrere Monate in Anspruch nimmt,
sollten wir die Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode
gemeinsam dazu nutzen, die nötigen gesetzlichen
Grundlagen zu schaffen. Eine gesetzliche Regelung darf
aber nicht zum Einfallstor für die Durchregulierung des
Internets werden. Fragen des Urheberrechts oder der allgemeinen Haftung von Internetprovidern dürfen nicht
mit der Sperrung von kinderpornografischen Seiten verquickt werden. Eine Regelung der DNS-Sperrermächtigung im Telemediengesetz, wie Sie es vorhaben, wäre
das Trojanische Pferd,
({6})
über das alle weiteren Themen um mögliche Lizenz- und
Rechteverletzungen künftig auf die Provider abgewälzt
werden könnten.
Recht herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Zur Erinnerung, worüber wir heute reden: Wir reden
heute über die Schwächsten in der Gesellschaft: die Kinder - Kinder, die Opfer von sexueller Gewalt und Ausbeutung werden. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes wird Kinderpornografie immer brutaler und kommt
häufiger vor. Selbst vor Babys macht Kinderpornografie
keinen Halt. Wir stellen auch fest: Die Verbreitung im
Internet nimmt rasant zu. Das können und wollen wir
nicht hinnehmen. Gegen diese abscheulichen Verbrechen müssen wir auf allen Ebenen wirksam vorgehen.
({0})
Es ist ja nicht so, dass wir in der Vergangenheit nichts
gemacht hätten.
({1})
Es ist schon viel getan worden; das dürfen wir nicht vergessen. Im Kampf gegen Kinderpornografie haben wir
unter anderem das Strafgesetzbuch mehrfach verschärft
und einen eigenen Straftatbestand Kinderpornografie geschaffen. Beim Bundeskriminalamt gibt es eine Spezialeinheit, die Zentralstelle „Kinderpornografie“. Die
Zusammenarbeit mit internationalen Behörden wurde intensiviert. Das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter durchforsten gezielt das Internet auf kinderpornografische Inhalte. Kinderpornografische Internetseiten
werden auf deutschen Servern schon heute gesperrt. All
diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass allein 2006
1 481 Personen wegen der Straftat Kinderpornografie
verurteilt worden sind. Angesichts ihrer Personalausstattung leisten die Behörden - ich schaue in Richtung Innenministerium - Enormes. Das sei an dieser Stelle auch
einmal erwähnt.
({2})
Der Handel mit Kinderpornografie im Internet breitet
sich, wie gesagt, immens aus. Deshalb müssen wir weiter tätig werden und alles uns Mögliche tun. Herr
Bosbach, es geht also nicht um eine Auseinandersetzung
zwischen Ministerien. Vielmehr geht es um die Frage:
Wie sieht es mit ausländischen Websites aus? Lassen
sich diese Seiten genauso gut sperren wie die kinderpornografischen Seiten auf deutschen Servern? Wir wissen:
Hier ist ein kommerzieller Markt entstanden, der Millionenumsätze verspricht. Ein Massengeschäft mit 300 000
bis 400 000 Klicks pro Tag! Es muss uns gelingen, diesen kommerziellen Markt durch Zugangssperren, wie sie
bereits in Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark,
Großbritannien und Italien angewendet werden, zu stören. Technische Zugangssperren könnten - so sagt der
Präsident des BKA - den Handel eindämmen. Allein in
Norwegen wurden 15 000 Versuche, auf kinderpornografische Angebote zuzugreifen, abgewehrt. Für uns
Kinder- und Familienpolitikerinnen und -politiker ist
klar: Jede Maßnahme, die hilft, den Zugang zu Kinderpornografieseiten zu stören, zu behindern oder gar zu
verhindern, ist richtig.
({3})
Herr Bosbach, Sie haben recht: Es bleibt die Frage,
warum die Internetbetreiber in Deutschland zögern,
wenn es um eine freiwillige vertragliche Vereinbarung
geht. Sicherlich ist ihnen auch die deutsche Rechtslage
bekannt. Sie wollen sich nicht in einem rechtsfreien
Raum bewegen. Deshalb hat der Präsident des Bundeskriminalamtes bereits im August des letzten Jahres in einem Interview eine gesetzliche Verpflichtung für die Internetbetreiber gefordert.
({4})
Ich glaube, es ist nicht der richtige Weg, jetzt zwei
Ministerien gegeneinander auszuspielen, Herr Bosbach.
({5})
Frau von der Leyen, wenn wir uns schon vor einem halben Jahr auf den Weg gemacht und auch mit dem Justizministerium und nicht nur mit dem Innenministerium
oder dem Wirtschaftsministerium die Zusammenarbeit
gesucht hätten, dann würden wir heute nicht über Eckpunkte, sondern über einen Gesetzentwurf diskutieren.
Ich glaube, ein Gesetz wäre die richtige Maßnahme.
({6})
Darum kündige ich für die SPD-Fraktion heute einen
eigenen Gesetzentwurf gegen Kinderpornografie im Internet an, der zeitnah nach den Osterferien eingebracht
werden wird, damit wir schnell handeln können; denn
wir wollen beides: Wir wollen, dass sich die Internetbetreiber auf den Weg machen, die technischen Möglichkeiten für eine Zugangssperre zu schaffen - dafür brauchen sie Zeit -, und wir wollen die Zeit nutzen, eine
sichere gesetzliche Grundlage zu schaffen. Das ist der
richtige Weg.
({7})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, uns ist klar, dass
die Bekämpfung der Verbreitung sexueller Gewalt im Internet nur ein Baustein in einer Gesamtstrategie zum
Schutz unserer Kinder sein kann. Wir brauchen eine Gesamtstrategie, zu der unter anderem eine effektive Strafverfolgung im In- und Ausland, Opferschutz, aber auch
Aufklärung und Prävention gehören.
({8})
Es gibt nicht nur bei den Internetbetreibern Handlungsbedarf. Es gibt auch Handlungsbedarf bei den Mobilfunkunternehmen, den Suchmaschinen und anderen relevanten Akteuren im Bereich der neuen Medien, nicht
zuletzt bei den Lehrern, Erziehern, Pädagogen sowie den
Eltern. Wir, die Gesellschaft, müssen Stellung nehmen,
wir müssen Kinderpornografie ächten. Mit der immer
wieder anzutreffenden Bagatellisierung muss Schluss
sein.
Schönen Dank.
({9})
Jetzt hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir von Kinderpornografie, sexuellem Missbrauch
oder sexueller Ausbeutung von Kindern sprechen, dann
reden wir von schrecklichen Verbrechen an Kindern, die
tiefe Narben an Körper und Seele hinterlassen und mitunter auch zum Tod führen. Gegen Kinderpornografie in
den neuen Medien - sprich: Internet - muss entschieden
vorgegangen werden. Auf dem Weltkongress gegen die
sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen in
Rio de Janeiro im November letzten Jahres haben wir als
Vertreter der Kinderkommission mit den Regierungsdelegationen zusammengesessen und besprochen, dass
international zusammengearbeitet werden muss, auf
nationaler Ebene aber die rechtlichen Voraussetzungen
geschaffen werden müssen, um effektiv gegen sexuellen
Missbrauch vorgehen zu können. Das, was machbar ist,
sollte unverzüglich umgesetzt werden.
Nun ist natürlich die Frage, was in Deutschland national umsetzbar ist. Was ist in Bezug auf Kinderpornografie überhaupt in den letzten Jahren geschehen? So gut
wie nichts. Hinsichtlich mit den Internetprovidern abzuschließender Verträge - das ist das Kernstück der
heutigen Debatte - wurden von verschiedener Seite
verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, auch aus dem
Justizministerium kamen entsprechende Bedenken. In
den gestern im Kabinett verabschiedeten Eckpunkten hat
sich die Regierung nun darauf verständigt,
zügig ein Gesetzgebungsverfahren zu initiieren, in
dem ein verbindlicher rechtlicher Rahmen für die
Erschwerung des Zugangs
geschaffen wird. In diesem erforderlichen Gesetz sollen
auch die verfassungsrechtlichen Fragen einer Klärung
zugeführt werden. Also gibt es doch zu Recht verfassungsrechtliche Bedenken?
Wie nun gestern auf der nationalen Folgekonferenz
gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern zu erfahren war, betrifft die mit einigen Providern vertraglich
vereinbarte Sperrung von Internetseiten Sperrungen auf
DNS-Ebene. Laut Sachverständigen ist diese Sperre jedoch ein untaugliches Mittel. Zum einen soll diese
Sperre leicht zu umgehen sein, zum anderen sollen Kinderpornos nicht frei im Netz verfügbar sein, sondern vor
allem über sogenannte Nutzergruppen getauscht werden.
Durch das Sperren werden die Seiten nicht aus dem Internet entfernt; die Kinderschänder sind dort weiter aktiv. Die Seiten müssen da heraus.
({0})
Den Opfern wird damit in keiner Weise geholfen. Die
Polizei braucht mehr Personal und eine bessere technische Ausstattung, um an die Täter heranzukommen. Es
reicht nicht aus, die Straße zu sperren, in der der Täter
wohnt. Diese Kritik des Vorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter teilen wir.
Frau von der Leyen, was ist denn in den Jahren Ihrer
Regierung passiert? Was ist aus den Initiativen der
15. Wahlperiode geworden? Was ist mit dem Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von
Kindern und Kinderpornografie, der am 20. Januar 2004
in Kraft getreten ist? Was ist mit den Ergebnissen der
Arbeitsgruppe zur Kooperation im Kinderschutz im Ostseeraum?
Es werden ja immer wieder die Vergleiche mit dem
Access Blocking in Skandinavien herangezogen. Diese
Vergleiche hinken laut Aussagen der Sachverständigen.
Zwar gibt es Zahlen über die geblockten Seitenaufrufe,
es gibt aber überhaupt keine Zahlen darüber - deshalb
kann man auch keine Rückschlüsse ziehen -, ob ein geblockter Nutzer sich anschließend anders den Weg zu
der Website verschafft hat. Im Übrigen muss man auch
sagen, dass die neulich öffentlich gewordenen geheimen
Sperrlisten aus Dänemark zu 90 Prozent keine Seiten mit
Kinderpornografie betrafen; deswegen muss man die
entsprechenden Zahlen eventuell ein bisschen korrigieren. Am gestrigen Tage konnte ich auf der nationalen
Folgekonferenz zu Rio mit Vertretern von UNICEF reden. Sie haben mir bestätigt, dass das, was in Skandinavien geschieht, zwar schön klingt, aber kaum Wirkung
entfaltet, schon gar nicht im Kampf gegen Kinderpornografie.
Wann ist denn mit einem Gesetzentwurf zu rechnen,
in dem dem Ansinnen Rechnung getragen wird und in
dem wirksame Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch
von Kindern aufgezeigt werden? Insoweit ist es schon
klasse, dass in der EU-Kommission gestern zwei Vorschläge auf den Tisch kamen, welche gegen Menschenhandel und sexuellen Missbrauch Handlungsvorschläge
aufzeigen. Diese werden gegenwärtig im EU-Ministerrat
diskutiert; danach werden sie in nationales Recht umgesetzt - ich hoffe, schnell. Dann bleibt auch nicht das üble
Geschmäckle von Zensur und Internetüberwachung, für
das die Union ständig selber sorgt. In der gestrigen Pressemeldung von den Unionskollegen Börnsen und
Dr. Krings wird nämlich klargestellt, dass es nicht um
Kinderpornografie allein geht. Erst die Kinderpornografie, dann Rassismus, dann Gewaltverherrlichung - und
dann? Terroristische Propaganda? Vielleicht Verstöße
gegen Urheberrechtsgesetze? Und dann?
({1})
- Das finde ich auch. Was die CDU da plant, ist unverschämt.
Es ist an der Zeit, endlich wirkungsvoll aktiv zu werden und die Strafverfolgungsbehörden entsprechend auszustatten, statt verpuffende Maßnahmen ohne Hilfe für
die Opfer als Riesenerfolg zu feiern und zugleich Herrn
Schäuble Tür und Tor zu öffnen. Wir sollten an die Opfer denken und nicht an die nächsten Wahlen.
({2})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula
von der Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Mädchen im Grundschulalter wird mit einem Besenstiel
missbraucht. Ein Säugling hängt gefesselt von der Decke
und wird vergewaltigt. So schildert die Staatsanwältin
Hantel-Maschke öffentlich, was sie bei ihrer Anklagevorbereitung im Bereich „Kinderpornografie im Internet“ hundertfach auf Bildern und auf Filmen sieht. Sie
sagt: Einige der Kinder überleben das nicht; wenn ein
Säugling vergewaltigt wird, ist innen alles kaputt. Das ist
das Grauen, über das wir hier sprechen.
In Deutschland kann man das anklicken. Das ist zwar
strafbar, aber es geschieht Tag für Tag hunderttausendfach. Deshalb möchte ich hier im Hohen Hause nicht nur
im Namen der Bundesregierung, sondern gerne im Namen aller sagen, dass wir der Kinderpornografie im Netz
entschlossen den Kampf ansagen.
({0})
Der Handel mit diesen Bildern ist ein Millionengeschäft. Es ist ein gut organisierter, krimineller Markt.
Die BITKOM sagt, es ist wahrscheinlich einer der größten kriminellen Märkte im Internet. Die Opfer werden
immer jünger; die Bilder werden immer brutaler. Jedes
zweite betroffene Kind ist im Vorschulalter. Das ist unerträglich. Es ist richtig, dass wir eine Gesamtstrategie
brauchen. Das oberste Ziel ist, weltweit die Täter zu stellen und weltweit die Quellen zu schließen. Das ist eine
Sisyphosarbeit, die jeden Tag von den obersten Polizeibehörden geleistet wird. 90 Prozent der dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen werden für das Stellen der
Täter, für den Schutz der Opfer und für das Schließen
der Quellen eingesetzt. Dies muss in diesem Raum einmal deutlich gesagt werden.
Aber wir können mehr tun, und darum geht es doch
heute. Es geht nicht darum, ob eine einzelne Strategie
allumfassend ist, sondern darum, ob wir noch mehr tun
können. Wir werden den völlig ungehinderten Zugang
zu diesen widerlichen Bildern in Deutschland sperren.
({1})
Was mich in den letzten fünf Monaten dieser Diskussion so maßlos geärgert hat, ist, dass man bis zu diesem
Punkt eine breite Zustimmung erfährt. Dann werden die
Türen geschlossen, und dann kommt das große Aber. Es
wird gesagt, was alles aus welchen Gründen nicht geht,
anstatt eine Diskussion darüber zu entfalten, wie wir etwas schaffen können, wie etwas geht.
({2})
Das erste Argument lautet: technisch unmöglich. Wir
haben es heute wieder in verschiedenen Varianten gehört. Aber wenn dieselben Telefongesellschaften, die
auch hier in Deutschland sind, dies in Schweden, in
Finnland, in Norwegen, in Dänemark, in Großbritannien,
in der Schweiz und sogar in Italien umsetzen können,
dann ist die Behauptung, das sei technisch unmöglich,
ein krachendes Unfähigkeitszeugnis für Deutschland.
Das sollten wir uns nicht ausstellen.
({3})
Das zweite Argument lautet: rechtlich unmöglich. Ja, es ist nicht trivial. Aber wir sollten doch nicht den
Eindruck erwecken, dass unser Rechtsgefüge eine solche
Schändung von Kindern und den Anblick dieser Schändung in irgendeiner Form schützen würde, dass wir
machtlos wären, wenn es darum geht, rechtlich dagegen
vorzugehen.
({4})
Zum Thema Verträge will ich deutlich betonen: Gestern hat der Verfassungsminister im Kabinett eindeutig
gesagt, dass die Verträge, die wir mit den Providern anstreben, verfassungsrechtlich in Ordnung sind.
({5})
Keiner hat widersprochen. - Auch dies sollte damit geklärt sein.
({6})
Das dritte Argument lautet: Das bringt doch nichts;
die Sperren kann man umgehen. - Ja, das ist richtig.
({7})
Wenn man sehr versiert ist, kann man diese Sperren umgehen.
({8})
Noch einmal: Das ist ein Millionengeschäft. Es geht folgendermaßen: Das Anfixen geschieht über Spammails.
Die permanente Beschäftigung mit solchen Inhalten
führt dann zum Abbau von Hemmschwellen und löst den
Hunger nach mehr aus. Die Nachfrage steigt. Das heizt
den Markt an, wie wir alle hier im Raum wissen. Es ist
eben so, dass 80 Prozent der User über das Internet, über
diesen allgemeinen Weg, dort hineinfinden. Natürlich
sind die 20 Prozent Schwerpädokriminellen in speziellen
Foren, in speziellen Chatrooms, in speziellen Gruppen.
Wer so argumentiert, könnte auch sagen: Es lohnt sich
nicht, an einer Tür ein Schloss anzubringen, weil diese
Tür aufgebrochen werden kann. Das ist kein Argument
dafür, Präventionsmaßnahmen von Anfang an im Keim
zu ersticken.
({9})
Wir kapitulieren nicht vor diesem Verbrechen. Deshalb haben wir gestern im Kabinett Eckpunkte für ein
Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet beschlossen. Diese Eckpunkte sind ein Teil der Verabredung, die wir am 13. Januar 2009 mit den sieben
größten Providern und den drei Dachverbänden
BITKOM, eco und FSM getroffen haben. Wir werden in
einem ersten Schritt jetzt die Verträge zwischen dem
Bundeskriminalamt und den einzelnen Internetanbietern,
die das wollen, schließen. In einem zweiten Schritt
- überlappend - kommt das Gesetz. Die Zugangsanbieter haben von der Bundesregierung dieses deutliche
Signal in Form eines Eckpunktepapiers gefordert. Jetzt
ist es da.
Herr Wunderlich, die EU-Kommission hat in der Tat
gestern die Initiative Deutschlands begrüßt und noch
einmal bekräftigt, dass wir diesen Kampf international
führen müssen. Aber Sie haben vergessen, noch etwas zu
sagen. Die EU-Kommission hat nämlich insbesondere
begrüßt, dass wir in Deutschland endlich die Sperrung
entsprechender Internetseiten anstreben. Das ist der
Kern der Aussage der EU-Kommission gewesen.
({10})
Ich will nicht verschweigen, dass wir im Vorfeld der
Vertragsverhandlungen zermürbend lange dafür gebraucht haben, um viele Fragen bezüglich der Eckpunkte
zu klären.
({11})
Vielleicht ist der Diskussionsprozess aber auch richtig
und gut gewesen. Da hat so mancher schwere Brocken
auf unserem Weg gelegen. Ich sage deutlich: Das Gesetz
kommt; darauf kann sich jeder Zauderer und jeder Bedenkenträger verlassen.
({12})
Im Telemediengesetz wird unser fester politischer Wille
umgesetzt. Was sofort möglich ist, nämlich mit der vertraglichen Lösung, wird jetzt umgesetzt, wird jetzt Wirklichkeit.
Ich danke an dieser Stelle sehr all den Internetzugangsanbietern, die sich klar positioniert haben. Wir
brauchen im Kampf gegen die Kinderpornografie im Internet alle in der Gesellschaft. Wir brauchen alle gesellschaftlichen Gruppen. Alle müssen sich positionieren.
Keiner kann sich mehr im Nebel des Nichtwissens verstecken.
({13})
Andere europäische Länder führen diese Diskussion
genauso wie wir schon seit Jahren. Manche haben entsprechende Schritte inzwischen getan. Wir haben die
Zahlen aus Norwegen gehört. In Schweden werden bei
9 Millionen Einwohnern rund 50 000 Klicks am Tag geblockt. All jenen, die den Untergang des Internets voraussagen, denen sei noch einmal gesagt: Schweden,
Finnland, Dänemark, Norwegen, England, die Schweiz,
Italien, Neuseeland und Kanada sind alles freie Länder
mit einem gut funktionierenden Internet. In Dänemark
gab es seit 2005 exakt fünf Beschwerden. Aber alle diese
Länder eint die strikte Haltung: Das Internet ist kein
rechtsfreier Raum, und die Würde und die Unverletzlichkeit eines Kindes ist ein höheres Gut als die Massenkommunikation. Das sollte unser gemeinsames Motto
sein.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Teilnehmerin der seit gestern in Berlin
tagenden zweitägigen Konferenz gegen sexuellen
Missbrauch an Kindern. Eines steht fest: Wir stehen in
Deutschland vor neuen Herausforderungen. Kinderprostitution, Kinderhandel und Kinderpornografie bilden
einen riesigen Markt mit Millionen Opfern. Laut
UNICEF werden jährlich 12 Milliarden Euro durch sexuelle Ausbeutung von Kindern weltweit umgesetzt. Da
dürfen wir nicht wegschauen.
({0})
Die neuen Medien spielen dabei zwar eine große
Rolle, aber wir können und dürfen unsere Antworten
nicht auf ein einziges Thema reduzieren. Wir können
nicht behaupten, dass das der Haupt- und damit einzige
Ansatzpunkt bei der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs ist.
({1})
Ein Heilversprechen ist das bei diesem komplexen
Thema auch nicht.
Die rechtlichen, die technischen Fragen, Frau von der
Leyen, müssen von uns gestellt werden. Was wäre denn,
wenn wir sie nicht stellten? Was wäre denn, wenn wir
auf die heiklen Punkte nicht hinwiesen? Was glauben
Sie, wie schnell wir ausgelacht werden würden, wenn
wir eine Regelung träfen, die nicht durchgreift?
({2})
Wir müssen diese Fragen schon allein deshalb stellen,
weil wir Antworten brauchen. Was machen wir mit
Filesharing? Was machen wir mit Peer-to-Peer-Gruppen? Wie setzen wir uns als Gesetzgeber durch, und
zwar konsequent
({3})
und nicht nur in der Symbolik und in Signalen? Das ist
doch die Kernfrage!
({4})
Ich möchte sogar noch weitergehen und einige Bedenken formulieren. Mit den Internetsperren alleine werden wir den Handel mit kinderpornografischem Material
nicht zum Erliegen bringen. Mit diesen Sperren alleine
werden wir kein Kind davor bewahren, missbraucht zu
werden. Mit diesen Sperren helfen wir keinem einzigen
traumatisierten Kind, den Weg ins Leben zurückzufinden. Mit diesen Sperren werden wir keinen einzigen Täter fassen.
({5})
Frau Ministerin, ich frage Sie: Wir hatten in der rotgrünen Regierung diesbezüglich einen sehr guten
Aktionsplan ausgearbeitet. Warum haben Sie diesen
Aktionsplan nicht weiter verfolgt?
({6})
Warum ist in den letzten drei Jahren nichts passiert? Warum gibt es keine Projektmittel, und mehr noch, warum
sind die zuständigen Mitarbeiter im Ministerium inzwischen mehr oder weniger ins Archiv versetzt worden?
Sie sind zuständig! Handeln Sie! Geben Sie Antworten
darauf! Wo ist der Aktionsplan?
({7})
Ich frage Sie, Frau Ministerin: Wie kommt es, dass
100 Teilnehmer einer Konferenz der Meinung sind:
Wenn in Deutschland etwas passiert, dann beruht es auf
der Handlungsfähigkeit der Nichtregierungsorganisationen und der Ehrenamtlichen? Wo sind Ihre Programme?
Wo sind Ihre Antworten? Wo ist Ihr nationaler Aktionsplan? Warum haben Sie das Engagement von damals gestoppt?
({8})
Ja, Internet erleichtert es den Tätern, Pornografie zu
verbreiten. Ja, Internet verspricht Anonymität. Aber gerade die Ermittlungen in diesem Bereich waren in den
letzten Jahren sehr erfolgreich. Hier müssen wir ansetzen und die Polizei und die Ermittlungsbehörden stärken. Unser Ziel muss sein, die Täter zu ergreifen, und
deshalb dürfen sie nicht vorgewarnt sein. Wir müssen erreichen, dass so etwas gar nicht erst stattfindet.
Es gibt auch gute Gründe, diese Internetseiten trotzdem zu sperren. Der beste Grund sind die Kinder.
({9})
- Was heißt hier: „Jetzt sind wir beim Thema“? Genau
das ist Ihr Problem: Sie wollen nur etwas herausposaunen. Aber wollen Sie auch wirklich etwas ändern? Wollen Sie etwas bewegen, oder wollen Sie hier nur eine
Show abziehen?
({10})
Müssen wir nicht wirklich handeln, oder geht es hier nur
um Parteiprogrammatik? Wir sind der Bundestag, wir
sind verantwortlich, wir müssen handeln! Es reicht nicht,
leere Versprechungen zu machen.
({11})
Ich sage ganz deutlich: Es wird nicht reichen, irgendwelche Verträge zu schließen. 75 Prozent der Provider,
sagen Sie, würden damit erreicht. Es müssen aber
100 Prozent sein.
({12})
Das wäre entschlossenes Handeln. Deshalb brauchen wir
ein Gesetz, und dafür werden Sie uns auch als Bündnispartner finden, Frau Ministerin, aber nicht für scheinheilige Angebote, die man nicht erfüllen kann. Machen Sie
uns eine Vorlage! Die hätten Sie längst machen können.
Warum haben Sie das nicht getan? Diese Frage müssen
Sie sich gefallen lassen.
({13})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Brigitte
Zypries.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Frau Kollegin Deligöz, Ihr letzter Ansatz war leider
falsch. Wenn wir es schaffen könnten, mit einem Gesetz
100 Prozent der Kinderpornografie im Internet zu verhindern, dann wäre ich weiß Gott glücklich. Aber auch
mit einem Gesetz werden wir das nicht schaffen. Das
muss man einfach wissen.
Wovon reden wir denn? Dass Kinderpornografie ein
fürchterliches Verbrechen ist, darüber sind wir uns alle
einig, und es ist oft genug gesagt worden. Deshalb wiederhole ich es nicht noch einmal. Aber auch wenn es um
die Bekämpfung von fürchterlichen Verbrechen geht,
kann doch der Rechtsstaat nicht vor der Tür bleiben.
({0})
Wir können nicht einfach so tun, als bräuchten wir da
keine Regeln, als wäre die Tatsache der Fürchterlichkeit
des Verbrechens alleine Grund genug, alles zu rechtfertigen, was man meint, tun zu müssen. Das geht nicht.
Wir bekämpfen Kinderpornografie seit vielen Jahren.
Eine der Maßnahmen, die seit vielen Jahren existiert und
für die allen Providern in Deutschland Dank gebührt, ist,
dass von allen Seiten, die in Deutschland gehostet werden, rechtswidrige Inhalte immer sofort heruntergenommen werden. Das gilt nicht nur für Kinderpornografie,
sondern zum Beispiel auch für Rechtsextremismus. Man
muss nur mitteilen, dass jemand rechtswidrige Inhalte
deponiert hat, dann werden diese vom Provider entfernt.
Das läuft seit vielen Jahren so.
({1})
- Nein, lieber Herr Bosbach, das können wir eben nicht.
Wir reden nicht über Server, die in Deutschland gehostet
werden,
({2})
sondern über solche, die im Ausland gehostet werden.
Da besteht nun einmal - leider oder auch zum Glück die Schwierigkeit, dass wir dort keine Vorschriften machen können.
({3})
- Deswegen wollen Sie sperren; das ist eine Überlegung,
die durchaus richtig ist. Sie wollen die Möglichkeit sperren, dass ein Internetuser in Deutschland einen bestimmten Weg auf der Datenautobahn zu einem Server zum
Beispiel in Australien geht. Das können Sie aber nur,
wenn Sie sehen, wohin er geht. Das heißt, Sie müssen
den Internetverkehr filtern. Das ist ein Eingriff in die
Grundrechte, und deshalb brauchen wir ein Gesetz.
Darum bin ich froh, dass wir gestern im Kabinett die
Eckpunkte für einen Gesetzentwurf beschlossen haben,
den wir hier gemeinsam verabschieden werden.
({4})
Das ist so verabredet, und das ist wichtig und richtig. Es
ist nichts dagegen zu sagen, dass man versucht, das, was
man für falsch hält, mit allen Mitteln zu bekämpfen. Es
zeichnet dieses Hohe Haus aus, dass immer sehr intensiv
darüber diskutiert wird, welche Weiterungen und Folgerungen das hat und was wir real bewirken können. Darüber muss man sich immer im Klaren sein. Deswegen
ist es wichtig und richtig, dass, wie beispielsweise von
der FDP, gesagt wird, wo die Probleme mit den Internetprovidern liegen, wo Haftungsprobleme gesehen werden. Davor kann man die Augen nicht verschließen.
({5})
Das heißt aber nicht, dass wir die Kinderpornografie
nicht bekämpfen wollten. Selbstverständlich wollen wir
das. Aber man muss das auf einer klaren, realistischen,
durchdachten Basis machen. Um nichts anderes geht es.
Darüber können wir dann sicherlich sehr schnell Einigkeit erzielen.
({6})
Wir haben, meine Damen und Herren, in den letzten
Jahren eine Menge unternommen. Wir haben nicht nur
die freiwillige Vereinbarung mit den Providern getroffen, dass von deutschen Servern alles, was rechtswidrig
ist, heruntergenommen wird, sondern wir haben auch die
Gesetze verändert. Wir haben das Herstellen, das Verbreiten und den Besitz von Kinderpornografie lückenlos
unter Strafe gestellt. Es gibt nirgendwo mehr eine Gesetzeslücke. Schon der Versuch, sich im Internet kinderpornografisches Material herunterzuladen, ist eine Straftat.
In diesem Bereich gibt es immer wieder großartige Ermittlungserfolge. Ich erwähne in diesem Zusammenhang
nur die Operation „Himmel“ der Behörden in SachsenAnhalt, die zur Feststellung von 12 000 Verdächtigen in
Deutschland geführt hat. Es funktioniert also. Diese
Leute kann man verfolgen, und man kann ihrer habhaft
werden.
Ich bin der festen Überzeugung - darüber müssen wir
aber noch innerhalb der Regierung sprechen -, dass die
Leute, die versuchen, sich von ausländischen Servern
Material herunterzuladen, und die ermittelt werden, natürlich auch strafrechtlich verfolgt werden müssen.
({7})
Wir können nicht sagen „Stopp! Tu das nie wieder!“,
sondern da müssen wir klare Kante zeigen. Entweder wir
haben ein Gesetz, das den Versuch unter Strafe stellt - in
diesem Fall muss es auch vollzogen werden -, oder wir
müssen das Gesetz ändern. Beides auf einmal können
wir nicht machen. Davor würde ich warnen; denn damit
würden wir uns als Gesetzgeber lächerlich machen.
Die Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit auf
den Weg gebracht haben, zeigen Wirkung. Wir haben
viel erreicht. Die Zahl von fast 15 000 Verurteilungen im
Jahre 2006 wurde schon genannt.
Wir haben auch international eine Menge erreicht. Interpol führt seit Jahren einen bewundernswerten und
sehr erfolgreichen Kampf gegen die Hersteller dieser Fotos. Da macht der Generalsekretär von Interpol, Noble,
eine ausgesprochen gute Arbeit, die man nur loben kann.
Während unserer Ratspräsidentschaft saßen Staatsanwälte aus Deutschland, Experten aus allen EU-Staaten
und Herr Noble an einem Tisch und haben ganz klar gesagt: Nationale Lösungen machen keinen Sinn. Wir müssen sehen, dass wir auf internationaler Ebene gemeinsam
und geschlossen vorgehen. Das Netz ist international,
also müssen auch die Handlungen international sein.
({8})
Es ist uns wichtig, mit dem Gesetz die rechtlichen Regelungen dafür zu treffen, dass wir ein Access-Blocking
machen können. Ich würde noch weitergehen und nicht
nur die DNS, also die allgemeinen Domänennamen, berücksichtigen. Wir müssen auch auf die Ebene darunter
gehen, sonst erreichen wir viel zu wenig. Es ist möglich,
auf dieser Ebene das Surfverhalten zu verfolgen. Dann
können wir sagen: Wer immer versucht, auf die Seite
dieses oder jenes Anbieters zu gehen oder auf diese oder
jene Inhalte zuzugreifen, wird erstens gestoppt - Ihr Vorschlag - und zweitens strafrechtlich verfolgt.
({9})
Denn in Deutschland sind diese Handlungen strafbar.
Dann sind wir auf einem guten Weg.
Ich freue mich, dass der Kollege zu Guttenberg gestern angekündigt hat, sich an einem Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen. Es gab schon einmal Versuche, die
allerdings nicht so erfolgreich waren. Es wäre super,
wenn es jetzt schneller gehen würde.
Die SPD-Fraktion wird im Übrigen einen Gesetzentwurf nach der Osterpause vorlegen, wie wir heute von
Frau Humme gehört haben. Es spricht also alles dafür,
dass wir bis spätestens Anfang Mai eine Anhörung im
Deutschen Bundestag durchführen können. Wir können
dann gemeinsam mit den Sachverständigen die bis dahin
vorliegenden Entwürfe durchsehen und zu vernünftigen
Ergebnissen kommen. Ich denke, unser gemeinsames
Ziel ist es, möglichst viel zu erreichen. Es geht nicht um
plakative Maßnahmen, sondern es geht darum, bei der
Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet einen
Schritt weiter zu gehen.
({10})
Dem Dank von Frau von der Leyen an die Provider
schließe ich mich an. Ich finde es gut, dass die Provider
bereit sind, etwas zu machen. Wir wissen von ihnen,
dass es drei bis sechs Monate dauert, bis sie die technischen Voraussetzungen geschaffen haben, um das machen zu können, was wir von ihnen wollen, nämlich das
Access-Blocking zu realisieren. Auch das bestärkt mich
in meiner Annahme, dass wir im Sommer - ich werde
mich sehr stark dafür einsetzen - ein entsprechendes Gesetz haben. Bis dahin haben die Internetprovider die
technischen Voraussetzungen geschaffen, um die Regelungen dieses Gesetzes umsetzen zu können.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wer immer zu dem Thema spricht, muss sich
zunächst vergewissern, worüber er spricht und wie die
Tat aussieht, über die wir reden. Deswegen bin ich Frau
von der Leyen dankbar, dass auch sie mit der Tatschilderung begonnen hat, damit wir mit folgender Frage daran
anknüpfen können: Was ist die richtige rechtliche Antwort des Staates auf diese Tat? Im Internet sehen wir entsetzliche, unbeschreibliche Bilder einer ganz abscheulichen Tat.
({0})
Was tut der Staat? Er sagt: So ist es heute im weltweiten
Netz. Das muss der Staat wohl hinnehmen.
({1})
Da darf man nicht sperren. - Dieser liberale Umgang mit
solch entsetzlichen Taten befremdet mich, meine Damen
und Herren von der FDP.
({2})
Ich glaube, der Staat muss handeln. Wenn er handeln
muss, dann gibt es in Deutschland zwei Wege: durch
eine Vereinbarung jetzt und sofort oder durch ein Gesetz
einige Monate später.
({3})
- Wir machen beides, richtig.
({4})
Wir wollen jetzt und sofort in Deutschland mit einer entsprechenden Vereinbarung Erfahrungen sammeln.
Frau Zypries, ich möchte nicht, dass Sie jetzt beifällig
nicken. Ich möchte, dass Sie sich an Ihren Brief von vor
zwei Wochen erinnern,
({5})
in dem Sie schreiben - ich habe den Brief hier -, dass
Sie diesen Weg für falsch, für rechtswidrig, ja für verfassungswidrig halten.
({6})
Meine Damen und Herren, bitte erinnern Sie sich an
die Väter des Grundgesetzes.
({7})
Stellen Sie sich einmal vor, die Väter
({8})
des Grundgesetzes hätten diese Taten im Fernsehen bei
der Abfassung des Art. 5 des Grundgesetzes gesehen
und hätten dann gesagt: Wir wollen, dass dies unter
Kunstfreiheit fällt.
({9})
Stellen Sie sich einmal vor, die Väter des Grundgesetzes
hätten diese abscheulichen Bilder gesehen und hätten gesagt: Wir wollen, dass Provider so etwas frei machen
können. Das fällt unter die Berufsfreiheit.
({10})
Stellen Sie sich vor, die Väter des Grundgesetzes
({11})
hätten, als sie Art. 10 des Grundgesetzes, das Fernmeldegeheimnis, abgefasst haben, gesagt: Wer solche Bilder
anschaut, den dürfen wir nicht stören. Das ist das Fernmeldegeheimnis.
({12})
Ist das Ihre Grundrechtsinterpretation? Ist das der Umgang mit dem weltweiten Netz angesichts unserer
Grundrechtsartikel?
Ich halte es für ein Zerrbild der Grundrechtsinterpretation, wenn wir diese Artikel in dieser Weise heranziehen.
({13})
Sie wurden in diesem Zusammenhang - Herr Montag,
das können Sie nicht wissen - von der Ministerin der
Justiz so herangezogen; ich fantasiere nicht.
Ich meine, wir sollten uns bei drei Menschen bedanken: erstens bei Herrn Ziercke, dem Präsidenten des
Bundeskriminalamtes. Er hat im Herbst 2007 anlässlich
der Herbsttagung gesagt: Das ist ein Schwerpunkt meiner Arbeit. Bei der Kinderpornografie im Internet muss
der Staat eingreifen, und zwar sofort.
({14})
- Herr Ziercke, vielen Dank.
Nach dieser Tat des Herrn Ziercke, die begrüßenswert
ist, gab es zweitens eine quälende Diskussion bei uns Innenpolitikern aller Seiten über den Umgang mit Reichsbedenkenträgern, die sagten, das sei technisch und rechtlich nicht möglich. Dann wurden die entsprechenden
Artikel aufgezählt. Es geschah nichts. Deswegen bedanke ich mich bei Frau von der Leyen. Eineinhalb Jahre
Untätigkeit aufgrund der Behandlung von Bedenken
wurden durch Frau von der Leyen unterbrochen, indem
sie gesagt hat: Das ist mein politischer Wille.
({15})
Erst das hat Bewegung in die Sache gebracht. Minister
Schäuble hat ihr dabei die juristische Unterstützung gegeben, die sie braucht,
({16})
indem er entgegen der Justizministerin gesagt hat: Der
Vertragsweg ist verfassungsgemäß; der Vertragsweg ist
möglich. - Und diesen gehen wir.
({17})
Daneben werden wir einen Gesetzentwurf auf den
Weg bringen. Deswegen drittens vielen Dank an den
Kollegen zu Guttenberg,
({18})
der bereits gestern Abend, wenn ich richtig informiert
bin, einen Rohentwurf zur Diskussion vorgelegt hat. Er
ist federführend zuständig. Wir werden am Schluss sehen, wer sich in Bedenken ergeht und wer im Kampf gegen die Kinderpornografie mitstimmt.
({19})
Wir werden dann das Parlament in solche und solche
aufteilen: in solche, die nur Bedenken haben, und in solche, die den Kampf mit uns zusammen aufnehmen.
({20})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Gradistanac
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
sexueller Ausbeutung und Gewalt ist seit über 30 Jahren
Thema der Frauenbewegung und seit nunmehr 20 Jahren
ein Schwerpunkt meiner politischen Arbeit, davon
11 Jahre im Deutschen Bundestag.
Frau Ministerin, Sie haben sich des Themas wohl erst
in Vorbereitung des Weltkongresses in Rio gewidmet.
Sie haben vor einigen Tagen in Vorbereitung auf diese
internationale Konferenz gesagt - das steht auf der
Homepage der Bundesregierung -:
Da ist mir zum ersten Mal klargeworden, was eigentlich Kinderpornographie ist. Ich habe das Ausmaß des Grauens vorher nicht gekannt.
({0})
Dafür fehlt mir schlichtweg die Fantasie, dass Sie als
mehrfache Mutter und Ärztin, als ehemalige Landesministerin und seit mehr als drei Jahren nunmehr als
Bundesministerin für Familie und Jugend solche Kompetenzlücken aufweisen.
({1})
Jetzt wird mir auch klar, warum Sie erstens beim dritten Weltkongress gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen Ende November 2008 in Rio
nicht anwesend waren,
({2})
warum es zweitens uns überhaupt nur durch sehr viel
Überzeugungsarbeit und viel Druck seitens der Kinderkommission gelungen ist, eine Regierungsdelegation
durchzusetzen, und warum drittens von Ihrem Ministerium drei Jahre lang nichts an Initiativen ausgegangen
ist.
Wir fangen hier aber nicht bei null an. Beim zweiten
Weltkongress 2001 in Yokohama führte die damalige
SPD-Ministerin Christine Bergmann unsere Delegation
an und hat ihren internationalen Einfluss genutzt.
({3})
Anschließend hat die rot-grüne Bundesregierung im Jahr
2003 unter der SPD-Ministerin Renate Schmidt den ersten nationalen „Aktionsplan zum Schutz von Kindern
und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung“ aufgelegt und umgesetzt.
({4})
Wir haben unter anderem das Strafrecht verschärft
und den Opferschutz verbessert. Zu den Schwerpunkten
des Aktionsplans zählen auch die Bekämpfung von Sextourismus und die Bekämpfung der Kinderpornografie.
Hier gehört Deutschland zu den Nachfrageländern. In
Vorbereitung des dritten Weltkongresses haben ich und
andere gefordert, dass wir Prioritäten in Richtung der
Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet setzen.
Dies spiegelt sich im Abschlussdokument und in unserer
Zusatzerklärung wider.
Fakt ist, dass wir in diesem Teilbereich der Internetkriminalität eine Steigerung zu verzeichnen haben, die
sich auch auf Handys erstreckt. Wir brauchen wirksamere Maßnahmen zur Identifizierung der Opfer und der
Täter. Vor allem die Versorgung der Opfer durch kompetente Fachkräfte muss sichergestellt werden.
({5})
Neben der Verbrechensverfolgung muss auch die Sperrung von Internetseiten bei Access-Providern ermöglicht
werden. Um die Täter zu verfolgen - das hat schon die
Justizministerin in ihren Ausführungen klar gemacht -,
brauchen wir vor allem den Ausbau der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.
Ich erwarte von der Bundesregierung umgehend einen zweiten Aktionsplan. Der Bereich der neuen Medien
ist ein Baustein bei der Weiterentwicklung der Gesamtstrategie. Neben Vorgaben für die Internetwirtschaft - da
erwarte ich das Engagement der Regierung und von Ihnen, Frau Ministerin - erwarten wir auch verbindliche
Vorgaben für die Tourismuswirtschaft und die Finanzwirtschaft. Wir müssen den Kauf von Kinderpornografie
per Kreditkarte stoppen.
({6})
Wir kommen voran, um den Zugang zu Kinderpornografie im Internet zu erschweren. Wichtig ist aber, nicht
nur Verträge mit einzelnen Providern abzuschließen.
Nein, die gesamte Internetwirtschaft muss wissen, wo
wir die Grenzen ziehen. Hierfür brauchen wir eine klare,
nachhaltige und rechtssichere Grundlage. Deshalb erwarten wir ein eigenes Gesetz, Frau Ministerin.
Ich begrüße es, dass die Bundesregierung mit der
Festlegung der Eckpunkte ihre Entschlossenheit bekräftigt hat und zügig ein Gesetzgebungsverfahren initiieren
wird. Die SPD-Fraktion wird dieses Verfahren, bei dem
die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten sein
werden, begleiten. Ich begrüße ausdrücklich die Klarstellung, dass eine Ausweitung auf andere Zwecke nicht
beabsichtigt ist.
Frau Ministerin von der Leyen, es ist gut, dass Sie das
Problem erkannt und sich unsere Forderungen zu eigen
gemacht haben. In diesem Zusammenhang danke ich besonders Frau Justizministerin Brigitte Zypries.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Norwegen 2004, Schweden 2005, Schweiz 2006.
Warum betone ich das? Das sind Länder, die AccessBlocking bereits eingeführt haben. Und Deutschland?
Wo stehen wir? Seit Jahren diskutieren wir über eine
freiwillige Selbstverpflichtung. Bis heute ist aber nichts
geschehen. Viele Länder waren bereits vor uns aktiv.
Deutschland ist noch nicht mit im Boot. Deshalb ist dieser Schritt wichtig. Deshalb bin ich froh, dass unsere Ministerin so hartnäckig ist.
({0})
Ein Wort zur Kinderpornografieszene. Der Kollege
Bosbach hat bereits gesagt, dass wir immer mehr Konsumenten, Bilder und Videos haben. Wir haben immer jüngere Opfer; zum Teil sind es sogar Säuglinge. Das bringt
den Tätern immer mehr Geld. Vor allen Dingen haben
wir aber auch immer größere Verfahren. Allein bei der
Operation „Himmel“ waren es 12 000 Beschuldigte.
Vielleicht kennen Sie den Spruch „Wer ein Ziel verfolgt, sucht Wege; wer blockieren will, sucht Gründe.“
Was wir von den Bedenkenträgern heute wieder gehört
haben, ist für die Kinder mehr als unangenehm.
({1})
Zweifel an der Wirksamkeit, Zweifel an der Umsetzbarkeit, die Sorge vor vermeintlichen Schadensersatzansprüchen oder Angst vor der Einführung einer
vermeintlichen Zensur sind schlechte Argumente. Entschuldigen Sie, aber mir wäre es lieber, wenn Sie dieses
Engagement für den Schutz der betroffenen Kinder aufbringen würden.
({2})
Wir wollen eine konkrete Verfolgung der Täter. Das
Strafrecht allein wird es nicht richten. Neben AccessBlocking brauchen wir eine bessere Opferidentifizierung. Wir brauchen eine bessere Technik zur Löschung
der Bilder im Internet. Wir brauchen mehr Personal für
die Ermittlung. Liebe Kollegin Ekin Deligöz, das, was
Sie gesagt haben, ist ja alles richtig. Das eine zu tun,
heißt doch aber nicht, das andere zu lassen. Deswegen
kann ich diese Kritik nicht nachvollziehen.
({3})
Vielleicht sollten einige Kollegen einmal die Pressemeldungen durchsehen. Europa hat uns für das, was wir
auf den Weg gebracht haben, viel Beifall gespendet.
Auch die EU-Kommission hat ein entsprechendes Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht.
({4})
Sie erwartet eine EU-weite Einführung von Sperrlisten.
Da ist es gut, wenn Deutschland mit gutem Beispiel vorangeht. Access-Blocking ist meiner Ansicht nach das geeignete Instrument, um diesen kommerziellen Markt
auszutrocknen.
({5})
Eine Delegation war - das war eben schon Thema in Brasilien. Dort haben wir unseren Staatenbericht vorgelegt. Die anderen Staaten waren von dem, was wir erreicht haben, begeistert.
({6})
Wir haben gesagt: Wir werden den Aktionsplan fortschreiben. Ja, diese Nation nimmt ihre Verantwortung
wahr.
({7})
Was haben Sie denn im Laufe von zehn Jahren gemacht?
Sie haben alles verschlafen. Entschuldigung. Deutschland und die EU-Kommission drücken aufs Tempo. Das
ist schon lange überfällig.
Warum Access-Blocking? Es ist eine gute Präventionsmaßnahme, auch wenn von dem einen oder anderen
gesagt wird, es sei nicht das geeignete Mittel. Es geht
darum, Zufallskontakte zu unterbinden. In diesem Zusammenhang habe ich zwei kleine, kritische Anmerkungen, eine zur Rede des Kollegen Wunderlich und eine
zur Rede der Kollegin Deligöz. Es ist gefragt worden, ob
es in Norwegen, das die gleiche DNS-Sperre eingeführt
hat, nicht Täter gibt, die das notwendige Spezialwissen
haben, um die Sperre zu umgehen. Interpol hat Norwegen danach gefragt. Die Norweger haben gesagt: Nein,
unserer Einschätzung nach machen die Täter das nicht.
Die 20 Prozent, die sich in den sogenannten Peer-toPeer-Groups aufhalten, werden wir vielleicht nicht erreichen. Aber wir erreichen 80 Prozent des Marktes. Ich
finde, damit hätten wir im Vergleich zu heute schon viel
erreicht.
({8})
Werden nur illegale Inhalte gesperrt? Manche Leute
befürchten ja, wir würden nicht nur das sperren. Ich erlaube mir die Antwort der Länder gegenüber Interpol auf
die Frage, was die Länder gemacht haben, die diese
Sperre eingeführt haben, wiederzugeben. Sie haben ausdrücklich gesagt: Es wird nichts anderes gesperrt. Wer
die Eckpunkte gelesen hat, die im Gesetzentwurf stehen,
weiß, dass dort wortwörtlich steht: Es ist sichergestellt,
dass keine legalen Angebote auf die Liste gelangen.
Also, bitte schön, Bedenkenträger, dies kommt nicht
zum Tragen!
Manche sagen, die Erfolgsquote der DNS liege nur
bei 70 Prozent. Was spricht gegen das Mittel? Sperrlisten sind meiner Meinung nach besser als Nichtstun. Dies
geht auch an Sie, Herr Kollege Waitz, weil Sie sagten,
die Hoffnung sterbe zuletzt, Amerika sei auf einem guten Weg.
({9})
In Norwegen werden täglich 18 000 Seiten geblockt.
Wenn wir dazu übergehen könnten, auf Deutschland
hochgerechnet 400 000 Zugriffe zu unterbinden, dann
könnte Deutschland mit einer solchen Zahl in die erste
Reihe treten.
({10})
Ich habe kein Problem damit, dass die Ministerin gestern die fünf Provider genannt hat; denn viele Mobilbetreiber haben sich ja schon 2008 freiwillig bereiterklärt,
den Vertrag zu unterschreiben. Für diejenigen, die jetzt
noch sagen, dass sie die Gegenargumente der Provider
nicht kennen, gilt: Sie sind alle über die Presse bekannt
geworden. Meiner Meinung nach sind diese Bedenken
längst ausgeräumt.
Das Internet vergisst nichts. Bei der nächsten Nachfolgekonferenz möchte ich, sofern ich wieder dabei sein
sollte, sagen können: Deutschland 2009, wir waren dabei. Deutschland stand an der Spitze der Bewegung für
eine EU-weite Einführung von Sperrlisten.
Für die Endverbraucher, die hier oben auf der Tribüne
sitzen, gilt: Fragen Sie Ihren Provider, ob er unterschrieben hat!
Danke schön.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Hier haben wir es mit dem etwas merkwürdigen
Eindruck zu tun, es gebe diejenigen, die sperren wollen,
und diejenigen, die nicht sperren wollen. Für die SPDFraktion betone ich: Diese Unterscheidung akzeptieren
wir nicht. Jeder hier im Hause ist dafür, den Zugang zu
kinderpornografischen Seiten zu sperren.
({0})
Seit Ende der 90er-Jahre haben wir von der SPDFraktion in der Bundesregierung und im Parlament bereits viel für den stärkeren Schutz von Kindern getan.
Auf die einzelnen Punkte wurde hingewiesen: Wir haben
den Aktionsplan gehabt und Provider dazu bewegt, Seiten herunterzunehmen, die in Deutschland gehostet werden. Aber wir haben noch nicht alle erforderlichen Maßnahmen umsetzen können, was auch daran liegt, dass
dieses Thema 2005 noch nicht in der gesamten Bundesregierung angekommen war; wir hätten seit 2005 den
Aktionsplan fortsetzen und eine gesetzliche Grundlage
haben können. Bislang haben wir sie leider noch nicht.
({1})
In diesem Zusammenhang wundere mich auch darüber, warum es so kompliziert sein soll - dies verfolgt
mich schon seit 20 Jahren -, die Kinderrechtskonvention
zu unterzeichnen. Damit würde man die Kinderrechte
wirklich einmal in den Mittelpunkt stellen.
({2})
Ja, wir alle sind gefordert, gegen die Herstellung, die
Verbreitung und den Verkauf bzw. Kauf von Kinderpornografie mit allen Mitteln und mit aller Deutlichkeit vorzugehen. Ja, es kann und muss noch mehr getan werden,
weil diese Gewalt gegen Klein- und Kleinstkinder und
die Nachfrage danach einfach nicht hinnehmbar sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was müssen es eigentlich für kranke Gehirne sein, die die Nachfrage nach sol23176
chen Bildern immer wieder anheizen und dabei nicht vor
Kindern unter zehn Jahren Halt machen? Mir ist unbegreiflich, dass wir immer wieder über die steigende
Nachfrage diskutieren müssen.
({3})
Ja, es muss deutlich gesagt werden, dass wir als rotgrüne Koalition 2002 mit Gesetzesänderungen erreicht
haben, dass Straftaten noch stärker verfolgt werden. Die
Verfolgung hat bisher schon dazu geführt, dass mehr solcher Straftaten registriert werden, wodurch auch die Statistik steigt. Es muss uns klar sein, dass durch die bereits
ergriffenen Maßnahmen Dinge öffentlich werden. Dies
ist auch gut so. An dieser Stelle spreche ich meinen
Dank denjenigen aus, die sich diese Bilder ständig angucken müssen, um die Strafverfolgung durchzuführen. Sie
haben wirklich keinen beneidenswerten Job. Herzlichen
Dank dafür!
({4})
Wir dürfen nicht dulden, dass weiterhin kinderpornografische Seiten aufgerufen werden; wir wollen die
Sperre. Aber wir wollen zu einer Regelung kommen, die
den Zugang im Internet durch zielgenaue Technik und
eine gesetzliche Abgrenzung präziser verhindert. Das ist
wichtig.
Wir wollen nicht, dass etwas gemacht wird, das technisch größtenteils wirkungslos ist und vor Gerichten keinen Bestand hat. Ich habe alles Mögliche darüber gelesen, wer betroffen sein könnte. Deswegen bin ich sehr
dafür - die SPD-Fraktion hat es angekündigt -, ein ordentliches Gesetz zu verabschieden zu genau dem
Zweck, den Zugang zu Kinderpornografie zu verhindern, und zwar ein Spezialgesetz mit einem entsprechenden Titel - das ist das Richtige - und kein allgemeines
Gesetz, auf dessen Grundlage noch andere Internetseiten
gesperrt werden könnten.
({5})
Eine Anhörung des Unterausschusses Neue Medien
hat gezeigt: Einhellig halten die Experten die ursprünglichen Vorschläge des Familienministeriums für wirkungslos und rechtlich fragwürdig. Ich bin froh, dass
jetzt alle an einem Strang ziehen und die gesetzliche
Grundlage schaffen wollen. Im Übrigen war auch der
Präsident des BKA anwesend und hat eine gesetzliche
Grundlage gefordert. Deswegen finde ich es gut, dass
wir das jetzt auf den Weg bringen.
({6})
Wir müssen hierbei mit Sorgfalt vorgehen. Wir müssen
wirklich die treffen, die wir treffen wollen, und wir müssen die Täter ächten. Das ist ein wichtiger Punkt.
Der Verweis auf andere Länder, die bereits ähnliche
Sperrungen eingeführt haben, nützt nur bedingt; denn
auch da hören wir immer wieder von Protesten. Es ist
nicht wahr, dass es keine Proteste gibt. Absolut legale
Seiten werden ebenfalls gesperrt. Wir brauchen eine Lösung, die dies verhindert. Ich möchte nicht in die Situation kommen, die es in China gibt, wo selbst harmlose
Seiten wie die Seite der Deutschen Welle über Fußballergebnisse gesperrt werden.
({7})
Das kann leicht passieren, wenn wir Allgemeinvereinbarungen schließen und kein spezifisches Gesetz machen.
Übereinstimmend haben die Experten gesagt, dass
- technisch gesehen - die Seiten bisher nur sehr ineffektiv gesperrt werden. Wir wollen, dass es spezifischer und
versiert gemacht wird, sodass der Zugang wirklich gestört wird.
Wir wollen auch die strafrechtliche Verfolgung. Ich
glaube, das ist ganz wichtig. Wir brauchen diese drastische Bekämpfung. Ich denke, dieses ernste Thema eignet sich nicht für politisches Hickhack.
({8})
Ich wünsche mir, dass wir hier gemeinsam zügig zu Regelungen kommen, die Hand und Fuß haben, ausschließlich für diesen Fall gelten und nicht Tor und Tür für alles
andere öffnen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Griefahn,
ich wäre froh, wenn der Appell, den Sie am Schluss ausgesprochen haben, auch für die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion gelten würde, dass es bei diesem
Thema kein parteipolitisches Hickhack gibt, sondern
dass gemeinsam konstruktiv um Lösungen gerungen
wird.
({0})
Denn die heutige Debatte hat deutlich gezeigt - da tun
Sie, Frau von der Leyen, mir fast ein bisschen leid -, mit
welchen Bedenkenträgern Sie sich über Monate rumschlagen mussten. Ich konnte im Vorfeld nicht glauben,
dass bei diesem Thema so viele Bedenkenträger nicht
nur draußen, sondern auch in diesem Hause unter uns
sind. Das war teilweise sehr beschämend.
({1})
Frau Gradistanac, es war einfach peinlich und unmöglich, diejenige anzugreifen, nämlich die Bundesministerin von der Leyen, die sich seit Monaten als Einzige gegen die Neinsager, gegen die Abersager, gegen alle
Bedenkenträger durchgesetzt hat. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie vor acht Jahren beim Kongress in
Yokohama waren. Danach gab es ein paar Jahre eine rotgrüne Bundesregierung, und auch jetzt ist die SPD weiter an der Regierung beteiligt. Sie haben acht Jahre lang
zugeschaut und greifen jetzt die Ministerin an; das ist
doch kein politischer Stil, das ist unmöglich.
({2})
Warum stehen wir heute überhaupt hier? Zum einen
natürlich dank unserer Ministerin - ich bin ihr wirklich
dafür dankbar -, zum anderen aufgrund abscheulicher
Verbrechen. Ich kann mich nicht erinnern, in meinen sieben Jahren Bundestagszugehörigkeit jemals so ekelhafte,
widerwärtige Schilderungen gehört zu haben, wie sie die
Ministerin zu Beginn ihrer Rede in den Vordergrund gestellt hat. Auch das ist wichtig; denn unter Kinderpornografie kann man sich erst einmal nichts vorstellen. Es ist
für alle Zuhörer hier, aber auch draußen an den Bildschirmen ganz wichtig gewesen, dass sie das angesprochen
hat. Wenn man sich das allein bildlich vorstellt, muss
man kein einziges dieser Fotos gesehen haben, um zu
wissen, dass man das ganz dringend bekämpfen muss.
({3})
Es geht um die Vergewaltigung und Schändung wehrloser Kinder. 43 Prozent der betroffenen Kinder sind
jünger als sechs Jahre, über 10 Prozent von ihnen jünger
als zwei Jahre. Hier besteht also dringender Handlungsbedarf. Wir müssen denjenigen, die von diesem Millionengeschäft profitieren, den Markt rauben.
Wir haben es mit zwei Gruppen schwerkranker Menschen zu tun: zum einen mit Pädophilen, für die das Anschauen derartiger Bilder zur Sucht geworden ist, zum
anderen mit denjenigen, die keine Skrupel haben, mit
solchen Bildern, also durch Straftaten, Millionen zu
scheffeln.
Ich bin unserer Ministerin wirklich dankbar - ich
möchte den Dank von Wolfgang Bosbach aufgreifen -,
dass sie dieses Thema auf die Agenda gesetzt hat. Sie
ließ sich auch von denen, die ihr das Leben schwer machen wollten, nicht beirren oder abschrecken, sondern
hat ihr Ziel stetig weiterverfolgt. Frau von der Leyen,
dass wir heute so weit sind, haben wir Ihnen zu verdanken.
({4})
Bei diesem Thema geht es natürlich nicht nur um die
rein politische Aufgabe, die gesetzliche Grundlage dafür
zu schaffen - dieser Verantwortung müssen wir uns bewusst sein -, sondern auch um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, also um eine Aufgabe unserer Zivilgesellschaft. Deswegen möchte ich an dieser Stelle auch dem
Verein „Innocence in Danger“ danken, namentlich seiner
Präsidentin Stephanie von und zu Guttenberg,
({5})
die sich seit Jahren ehrenamtlich engagiert, sich für Prävention stark macht und versucht, traumatisierte Kinder
wieder ins Leben zurückzuholen.
({6})
Dieser Verein hat internationale Studien erstellt, um
diesen Missstand zu bekämpfen, weil das eine gemeinsame - ({7})
- Frau Künast, ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, warum
Sie bei diesem Thema so herumgeifern. Das kann ich
nicht nachvollziehen.
({8})
An dieser Stelle möchte ich, wie es auch meine Kollegin Noll getan hat, an alle Provider appellieren, mit dem
Gesetzgeber zusammenzuarbeiten. Bei diesem Thema
hat es jeder Einzelne von uns in der Hand, nur mit denen
zusammenzuarbeiten, die das politische Ziel, diesem
Grauen im Internet ein Ende zu machen, unterstützen.
Vielen Dank.
({9})
Als letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde hat die
Kollegin Kerstin Griese von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte an den Beginn der Debatte, als der Kollege
Bosbach sagte, dass wir uns bei diesem Thema alle einig
sind, anknüpfen. Ich finde, bei diesem Thema müssen
wir uns auch alle einig sein.
({0})
Wenn ich mir vor Augen führe, was in dem einen oder
anderen Redebeitrag gesagt wurde, bin ich allerdings,
ehrlich gesagt, ein bisschen fassungslos.
({1})
Ich will ganz ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir
uns im Familienausschuss seit vielen Jahren sehr intensiv um den Schutz von Kindern und Jugendlichen kümmern. Dort sind wir uns auch einig. Ich halte es für nicht
angemessen, sich in dieser Debatte gegeneinander aus23178
zuspielen. Für meine Fraktion sage ich ganz deutlich:
Wir wollen das eine tun und das andere nicht lassen. Wir
wollen alles tun, was man tun kann, um die Kinderpornografie zu bekämpfen.
({2})
Zu Beginn meiner Rede danke ich der Familienministerin, der Justizministerin, dem Innenminister und dem
Wirtschaftsminister. Ich hoffe, dass Sie uns so schnell
wie möglich einen Gesetzentwurf vorlegen. Auch an
dieser Stelle möchte ich niemanden gegen den anderen
ausspielen; denn gerade bei diesem Thema gehört sich
das nicht.
({3})
Wir müssen zusammenarbeiten und zügig weitere
Schritte einleiten.
Ich will deutlich betonen: Der Schutz von Kindern
und Jugendlichen vor diesem furchtbaren Verbrechen ist
ein zentrales Anliegen. Wir wissen, dass die betroffenen
Kinder durch jeden Klick im Internet wieder zu Opfern
werden. Wir wissen auch - das ist heute schon mehrfach
gesagt worden -: Die Verbreitung von Kinderpornografie hat zugenommen, die Opfer werden immer jünger,
und mit der Kinderpornografie wird immer mehr Geld
verdient. Deshalb brauchen wir ein Gesamtkonzept: zur
Prävention, zum Schutz der Opfer, zur Strafverfolgung
und zur gesellschaftlichen Ächtung der Täter. Eigentlich
sollte von dieser Debatte ein Signal in diese Richtung
ausgehen.
({4})
Es geht, wie gesagt, darum, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen.
Erstens. Wir müssen alles tun, um Straftaten zu verhindern. Wir müssen diejenigen finden, die Kinder missbrauchen. Wir müssen außerdem alles tun, damit diese
furchtbaren Straftaten gar nicht erst geschehen. Denn
wer als Kind missbraucht worden ist, leidet das ganze
Leben unter dem Missbrauch. Unsere Gesetzeslage ist
eindeutig: Kindesmissbrauch ist strafbar und verboten.
({5})
Zweitens. Wir müssen die Opfer schützen. Wir müssen die Kinder stark machen, damit sie in der Welt zurechtkommen und lernen, Nein zu sagen. Sie müssen
aber auch wissen, an welche Stellen sie sich wenden
können, wenn sie Hilfe brauchen. Wir brauchen Schulpsychologen sowie Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter. Wir brauchen eine Stärkung der Kinderrechte. Auch
dafür wünsche ich mir ein gemeinschaftliches Engagement in diesem Haus.
({6})
Drittens. Wir müssen die Täter bestrafen. Wenn man
so tut, als geschähe dies nicht, ist das der Debatte nicht
angemessen. Zum Glück werden die Täter bestraft. Seit
2003 gibt es einen eigenen Straftatbestand im Strafgesetzbuch, der die Verbreitung, den Erwerb und den Besitz von Kinderpornografie unter Strafe stellt. Allein
2006 wurden auf dieser Grundlage über 1 400 Personen
verurteilt. In den Jahren 2006 bis 2008 kam es zu drei
großen Verfahren mit Tausenden Beschuldigten. Das
zeigt, wie groß und schlimm das Problem ist; es zeigt
aber auch, dass unsere Strafverfolgungsbehörden an seiner Bekämpfung arbeiten. Deshalb danke auch ich denjenigen - Kollegin Griefahn hat das schon getan -, die
die fürchterliche Arbeit auf sich nehmen, diese Internetseiten anzusehen, um die Täter aufzuspüren. Ich glaube,
das ist eine ganz schwierige Arbeit; sie muss gemacht
werden, damit wir der Täter habhaft werden. Vielen
Dank dafür.
({7})
Viertens. Wir müssen die Kinderpornografie im Internet und darüber hinaus eindämmen. Um es noch einmal
zu sagen: Wenn auf deutschen Servern Kinderpornografie liegt, werden diese sofort abgeschaltet; denn es ist
strafbar. Das geschieht schon jetzt; es wäre schlimm,
wenn das nicht so wäre. Solche Server werden also nicht
nur gesperrt, sondern abgeschaltet. Heute sprechen wir
über ausländische Server, deren Inhalte über die deutschen Provider hierhin geleitet werden, sodass man auf
sie zugreifen kann. Ich akzeptiere nicht - das sage ich
ausdrücklich -, wenn der Eindruck erweckt wird, es
gäbe hier eine Spaltung; wir sind uns alle sehr einig, dass
solche Inhalte blockiert werden müssen. Das, was in
Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, den Niederlanden, Großbritannien, Belgien, der Schweiz und anderen Ländern getan wird, wird auch bei uns stattfinden.
({8})
Wir brauchen dafür europaweite und weltweite Lösungen; denn nur dann kommen wir weiter. Ich finde es
gut, dass die EU-Kommission alle Mitgliedsländer aufgefordert hat, Kinderpornografieseiten im Internet zu
sperren. Ich finde es gut, dass der Weltkongress in Rio
deutlich gemacht hat, was noch zu tun ist - es ist noch
viel zu tun -, um die sexuelle Ausbeutung von Kindern
und Jugendlichen zu bekämpfen.
Im Zuge der Diskussion um Kinder- und Jugendschutz, die wir im Familienausschuss oft führen, höre ich
oft das Argument, all das bringe nichts. Heute habe ich
in der Zeitung gelesen, dass der Vorstandsvorsitzende
des Verbandes der deutschen Internetwirtschaft schon
jetzt weiß, dass eine Sperre nichts bringt, weil man sie
umgehen kann und weil dann andernorts veröffentlicht
wird. Ich finde das nicht hilfreich. Wir müssen vonseiten
der Politik deutlich machen, welche Regeln und Normen
wir in diesem Land setzen; dann müssen wir alles juristisch und technisch Mögliche daran setzen, ihre Einhaltung zu gewährleisten.
Allen, die schon jetzt sagen, das helfe sowieso nichts,
sage ich: Wir werden alles tun - in allen Facetten -, um
Kinderpornografie zu bekämpfen. Es geht um eine gesellschaftliche Ächtung. Hier geht es um ein Verbrechen,
das tagtäglich in Büros stattfindet und so etwas wie eine
weiße Kriminalität ist. Das muss benannt werden, damit
die Menschen, die das machen, wissen, dass sie ein Verbrechen begehen, sodass die Opfer geschützt werden
und so etwas nicht mehr passiert.
({9})
Es ist gut, dass es einen freiwilligen Vertrag mit
75 Prozent der Internetanbieter gibt. Ich sage ausdrücklich: Von dieser Debatte muss ein Signal an die Anbieter
ausgehen, die bisher noch nicht mitmachen wollen - Freenet, United Internet und Versatel -, sich dieser Vereinbarung anzuschließen. Außerdem muss ein Gesetz her. Eine
freiwillige Vereinbarung ist gut; aber ein Gesetz ist besser,
um wirklich alle zu erreichen. Ein solches Gesetz muss
schnell verabschiedet werden.
({10})
Wir werden uns diesem Verbrechen entschlossen entgegenstellen. Es ist das Schlimmste, wovon wir in diesem Land erfahren, das Schlimmste, das Kindern passieren kann. Deswegen sollten wir aus dem Deutschen
Bundestag gemeinsam die klare Botschaft - wir sollten
uns nicht gegeneinander ausspielen lassen - an die Anbieter von Kinderpornografie und an diejenigen, die sich
Kinderpornografie strafbarerweise ansehen, richten: Wir
werden das nicht dulden; wir werden alles tun, um dieses
Verbrechen zu bekämpfen.
Vielen Dank.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anbau von gentechnisch verändertem Mais
stoppen
- Drucksache 16/11919 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Renate Künast vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht
uns heute und hier darum, den Verkauf und die Aussaat
von MON-810-Saatgut, also von Saatgut einer gentechnisch veränderten Maissorte, in Deutschland zu stoppen.
({0})
Es geht uns an dieser Stelle um eine ernsthafte Debatte, die - das will ich gleich sagen - möglichst nicht so
aussieht wie die in der letzten Woche, als CDU/CSU und
FDP die Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz
für ihre Aussagen im Ausschuss angepöbelt haben, Herr
Bleser.
({1})
- Herr Bleser, es gibt, wie immer der Auftritt von Gästen
auch ist, noch lange kein Recht, selber herumzupöbeln.
({2})
Ich habe zum Beispiel gehört, dass Ihr Auftritt manchmal auch bemerkenswert ist.
Ich will an dieser Stelle eine Debatte über den Mais
führen und wissen, wer eigentlich mit gespaltener Zunge
redet und wer jetzt wirklich für oder gegen MON 810 ist.
({3})
Wenn ich mir die Redenliste anschaue, dann stelle ich
fest, dass sich schon wieder keine Rednerin und kein
Redner von der CSU traut, hier das Wort zu ergreifen.
({4})
Vielleicht ändert sich das ja noch im Laufe der Debatte.
Ansonsten schließen wir daraus, dass Sie von der CSU
mit Blick auf die Europawahl in Bayern anders sprechen, als Sie es wirklich meinen. Ich glaube, das ist die
einzig mögliche These.
({5})
In Bayern sagen Sie Nein, in Berlin reden Sie entweder gar nicht oder Sie sagen Vielleicht. Der andere Teil
der Union sagt dann Ja, und in Brüssel wird entweder
auch noch einmal Ja gesagt oder dafür gesorgt, dass Mitarbeiter vor Abstimmungen in den Ausschüssen - zum
Beispiel über den Bt-11-Mais - die Ausschusssitzungen
verlassen, damit sie nicht zeigen, was Deutschland in
dieser Sache eigentlich meint. Ich meine, Sie müssten
jetzt endlich einmal Farbe bekennen, und zu dem, was
Teile dieses Hauses reden, muss es endlich auch Taten
geben.
({6})
Es stellt sich natürlich eine Frage an die Landwirtschaftsministerin Frau Aigner.
({7})
- Wo sie ist? Das ist eine gute Zwischenfrage. Ich habe
schon fast erwartet, dass sie jetzt nicht hier ist. - Da sie
selber sagt, sie sei kritisch, und da sie auf Messen ein
Verbot ankündigt, stelle ich ihr die Frage: Warum trauen
Sie sich erstens nicht selbst hierher, und warum verhindern Sie zweitens, dass es heute eine Abstimmung in
dieser Sache gibt, bevor die Bauern aussäen? - Mit Ihrem Verhalten lassen Sie die Bauern allein.
({8})
Ich glaube, dass manches, was dort geredet wird, einfach ein Ablenkungsmanöver ist. Wenn Seehofer als Ministerpräsident es nämlich ernst meinen würde, dann
würde er hier stehen und sagen, dass es sein größter politischer Fehler war, dass er als Gesundheitsminister 1998
in Brüssel MON 810 in der EU mit zugelassen hat.
Wenn er ehrlich wäre, dann würde er sagen, dass es der
größte Fehler seiner Amtszeit als Agrarminister war,
2005 MON-810-Saatgut in Deutschland zugelassen zu
haben, von dem wir jetzt nicht wissen, wie wir es wieder
loswerden.
({9})
Ich will auf einen Punkt eingehen, der immer genannt
wird - er wird bestimmt auch in dieser Debatte angesprochen werden -, nämlich, dass die Befürworter sagen, dass die wissenschaftlichen Risiken nicht nachgewiesen sind. Wir müssen hier genau hinschauen. Mich
und uns Grüne treibt schon noch so etwas wie ein Vorsorgeprinzip. Es geht um die Frage, wie wir mit den Verbrauchern umgehen. Wenn wir uns nicht sicher sind,
dann muss das Vorsorgeprinzip gelten, das besagt: Wir
lassen nichts zu, bei dem wir noch begründete Zweifel
daran haben, dass es gefährlich sein könnte.
({10})
- Ich habe keine Zweifel an der Wissenschaft. Ich weiß
nur eines: Die WTO erlaubt weltweit den Anbau von
Genpflanzen. Sie erlaubt auch, weltweit die Wälder zu
roden, um danach was auch immer - meinetwegen auch
Gensoja - anzubauen. Das ist nicht mein Verständnis
von einer gerechten Welt.
({11})
Wir sollten auch einmal unseren Kenntnisstand prüfen
bzw. nach dem Stand der Forschung fragen. Bei herbizidresistenten Genpflanzen wird die Wirkung der verstärkt
eingesetzten Herbizide auf die Umwelt in der Forschung
kaum untersucht. Auch die Auswirkungen des Anbaus
von Bt-Pflanzen auf Bodenorganismen werden nicht erforscht. Dabei sind die Bodenorganismen so ziemlich das
Wertvollste, das es in den Böden bzw. auf dem Acker gibt.
In die Zukunft blickend würde ich sagen, dass angesichts des Welthungers, unserer Ernährungslage und der
nachwachsenden Rohstoffe nicht länger die Erdölquellen, sondern gute Böden das Objekt der Begierde sein
werden, das es zu schützen und zu bewahren gilt. Wir
haben den Anspruch, das zu tun.
({12})
Lassen Sie uns den Blick auf andere Staaten richten,
in denen der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen
schon sehr weit verbreitet ist. Nehmen wir zum Beispiel
Kanada und Indien. In Kanada - vor allem im Westen wird mittlerweile dreifach herbizidresistenter Raps angebaut. Es gibt Raps, der auf andere artverwandte Pflanzen
auskreuzt. Im Westen Kanadas baut niemand mehr konventionellen - also nicht gentechnisch veränderten Raps an, vom Ökolandbau ganz zu schweigen. Sie haben
alle die Segel gestrichen. Im Westen Kanadas geht man
mit der Giftspritze durch die Städte, weil die Grünflächen mittlerweile aufgrund des Gentechnikeinsatzes mit
Super-Unkräutern verunreinigt sind. Das ist die Wahrheit.
({13})
Es wäre schön - das sage ich gerade in Richtung FDP,
den letzten, die glauben, dass die Märkte dieser Welt alles alleine regeln werden -, wenn das aus einem Fantasieroman stammen würde. Es wird aber leider von kanadischen Bauern erzählt, die festgestellt haben, dass sie
selber dort keine Landwirtschaft mehr betreiben können.
Das andere Beispiel betrifft die gentechnisch veränderte Baumwolle in Indien. Mittlerweile verdienen die
Bauern mit konventionell angebauter Baumwolle mehr
und steigen deshalb wieder aus.
Ich komme zum Schluss. Wir haben an dieser Stelle
ein Problem, nämlich die Tatsache, dass Zulassungsbehörden und deren Mitarbeiter mit der Wirtschaft verwoben sind. An Frau Aigner gerichtet sage ich in diesem
Zusammenhang eines ganz klar: Wenn sie, was sie immer wieder andeutet, zu MON 810 eine Entscheidung
treffen will, dann sollte sie das jetzt tun, bevor die Bauern aussäen. Dabei sollte sie sich nicht von Herrn
Bartsch und Herrn Schiemann aus den nachgeordneten
Behörden beraten lassen. Das sind diejenigen, die gerade
mit Monsanto, Syngenta und anderen Fachartikel darüber veröffentlichen, wie man möglichst billig ein Monitoring durchführen kann, um danach zu entscheiden,
ob das Monitoring gut war. Das ist eine Art von Filz, die
nicht entscheidungserheblich sein darf.
({14})
Wir stellen MON 810 infrage und fordern, es zu verbieten. Unserer Vorstellung von einer guten Landwirtschaft entspricht, dass die Bauern und die Verbraucher
noch Wahlfreiheit haben und dass Monsanto nicht zu
dem wird, was Microsoft für Computer ist, nämlich ein
Unternehmen, das die Patente auf alle wichtigen Lebensmittel hält, die zur Ernährung der Bevölkerung dieser
Welt nötig sind, und die Bauern zu Abhängigen macht.
Die Verbraucher und Bauern sollen frei entscheiden können. Niemand darf das Patent auf die wesentlichen Getreidearten dieser Welt haben.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Bleser von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal will ich Frau Ministerin Aigner entschuldigen.
Sie nimmt an der Agrarministerkonferenz in Magdeburg
teil.
({0})
Das ist in Ordnung; sie muss daran teilnehmen.
Ich bin sehr dankbar, Frau Künast, dass Sie vor mir
gesprochen haben. Denn Sie waren es doch, die mit einer
Stimmenthaltung in Brüssel die Freisetzungsrichtlinie
der Europäischen Union für gentechnisch veränderte
Pflanzen erst ermöglicht hat. Das war in Ihrer Amtszeit.
({1})
Sie haben dann auch den Entwurf eines ersten Gentechnikgesetzes im Bundestag eingebracht. Das Gesetz
ist mit rot-grüner Zustimmung beschlossen worden.
({2})
Wir haben es vor zwei Jahren verschärft und verbessert,
weil Sie nicht in der Lage waren, eine gute fachliche
Praxis zu definieren.
({3})
Erst wir haben Wahlfreiheit und Koexistenz in Deutschland ermöglicht. Sie haben die Rechtsgrundlagen geschaffen und sind hier die erste Kämpferin gegen diese
Technologie. Das ist scheinheilig und nicht wahrhaftig,
Frau Künast.
({4})
Herr Kollege Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höhn?
Gerne.
Herr Kollege Bleser, 1998 hat es in Brüssel eine erste
Entscheidung zur rechtlichen Zulassung von MON 810
gegeben. Damals war der Bundesgesundheitsminister
dafür zuständig. Können Sie bestätigen, dass der damalige Gesundheitsminister Seehofer und nicht Renate
Künast hieß und dass die Entscheidung für MON 810
sowohl 1998 in Brüssel als auch 2005 von Herrn
Seehofer, der dann Landwirtschaftsminister war, und
nicht von Renate Künast getroffen wurde?
Die Frage ist schon so oft gestellt worden, dass es
langweilig ist, sie zu beantworten.
({0})
Das Erste bestätige ich gerne. Damals war Herr Seehofer
Gesundheitsminister; das ist so weit richtig. Das andere
ist falsch. Sie wissen genau - ich habe vorhin versucht,
das zu erklären -: Die rechtlichen Grundlagen für den
Anbau sind von Frau Künast in Brüssel und Deutschland
gelegt worden. Dabei bleibe ich.
({1})
Frau Künast, ich möchte noch mit etwas aufräumen,
weil das sehr an moralische Dimensionen heranreicht.
Sie sagen, der ökologische Landbau sei in der Lage, die
Menschheit zu ernähren. Sie wissen genau, dass ein Drittel der Menschheit ohne den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Dünger schon heute verhungern
müsste.
({2})
Sie müssten dann entscheiden, wen es trifft. Es sind
nicht die Reicheren, sondern die Ärmeren, die darunter
leiden müssten. Das müssen Sie sich auch einmal vorhalten lassen, wenn Sie hier solche Thesen vertreten.
({3})
Wir befassen uns heute in diesem Haus zum 40. Mal
seit Januar 2008 mit diesem Thema. Immer wieder die
gleiche Leier! Ich frage Sie: Warum machen Sie das?
Warum setzen Sie dieses Thema von Sitzungswoche zu
Sitzungswoche auf die Tagesordnung? Gibt es noch Detailfragen zu klären? Nein. Gibt es gesetzlichen Änderungsbedarf? Nein. Selbst Sie sehen keinen. Es geht Ihnen also lediglich darum, eine Kampagne durchzuführen
und mit der Verunsicherung der Menschen politische
Ziele zu erreichen. Das ist Ihr Ziel und sonst gar nichts.
({4})
Wenn es nur darum ginge, ob MON 810 auf ein paar
Hektar in Deutschland angebaut werden soll oder nicht,
würde ich sagen: Schwamm drüber! Das ist in ökonomischer Hinsicht von keiner Bedeutung. Warum sagen wir
trotzdem, dass diese Technologie wichtig ist und dass
hier nach Recht und Gesetz und nach keinem anderen
Kriterium genehmigt werden muss? Wir tun das, weil
wir zutiefst von der Zukunft und dem Nutzen dieser
Technologie überzeugt sind und weil wir wissen, dass
man damit Pflanzenschutz- und Düngemittel einsparen
kann, dass man damit die Zahl der qualitätsbestimmenden Inhaltsstoffe erhöhen kann und dass wir damit auch
einen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers leisten können, und zwar ohne Urwälder zu roden, was Sie ja auch
nicht wollen.
({5})
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Chancen dieser Technik die Risiken überwiegen. Ich will aber nicht
verkennen, dass es Ängste und eine Zurückhaltung in
der Bevölkerung gegenüber dieser Technologie gibt.
({6})
Deswegen gibt es ein strenges Zulassungsverfahren, das
von verlässlichen und demokratisch geschaffenen wissenschaftlichen Einrichtungen immer wieder überprüft
wird. Deswegen haben wir auch das Gentechnikgesetz
verschärft.
Welche Argumente haben Sie vorzubringen, die gegen diese Technologie und den Anbau der Maissorte
MON 810 sprechen?
({7})
Vorgestern wurde ein Gutachten der Technischen Universität München in Bayern veröffentlicht. In einem
Langzeitversuch wurden 36 Kühe in einem Dauerfütterungsversuch auf MON 810 getestet. Dieses Gutachten
liegt Ihnen vor. Es ist übrigens von der SPD-Fraktion im
Bayerischen Landtag beantragt
({8})
und vom bayerischen Agrarministerium in Auftrag gegeben worden, das in diesen Fragen völlig unverdächtig ist.
In diesem Gutachten steht, dass 38 000 Datensätze
mit modernsten Analysegeräten untersucht worden sind.
Es wurde im Gutachten wörtlich festgehalten: Bei Kühen, die mit MON 810 gefüttert wurden, gab es keine
Auswirkungen auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Vergleich zu konventionell gefütterten Tieren.
Auch die Milch zeigte keine Veränderungen gegenüber
Milch von konventionell gefütterten Kühen. - Ich will
die Süddeutsche Zeitung zitieren, in der Herr Patrick
Illinger schreibt:
Rückstände des Genfutters konnten beispielsweise
in der Kuhmilch trotz einer Nachweisgrenze von einigen Billionstel Gramm pro Milliliter nicht gefunden werden, berichtet der Physiologe Heinrich
Meyer.
Es konnten also mit modernsten Analysemethoden keine
Veränderungen gegenüber herkömmlicher Milch festgestellt werden. In der Welt schreibt Herr Miersch:
Das gentechnisch hinzugefügte Protein erwies sich
sogar als besonders leicht verdaulich.
({9})
Meine Damen und Herren von den Grünen, ignorieren
Sie solche wissenschaftlichen Aussagen? Das ist doch
keine professionelle Politik.
({10})
Das, was Sie hier betreiben, ist doch Symbolpolitik und
Verunglimpfung von Wissenschaftlern. Das tun Sie
schon die ganzen Jahre. Sie verunglimpfen mit Ihren
Anschuldigungen Leute, die seriös vorgehen. Das haben
Sie übrigens auch vorhin wieder getan, indem Sie die
Seriosität von Wissenschaftlern infrage gestellt haben.
Frau Künast, das ist nicht in Ordnung.
({11})
Herr Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Künast?
Bitte schön.
Bitte, Frau Künast.
({0})
- Jeder blamiert sich auch mit seinem Zwischenruf so
gut, wie er kann. Herzlichen Glückwunsch dazu! Das ist
Ihrer weiteren parlamentarischen Karriere bestimmt zuträglich. - Sie haben uns gerade aufgefordert, das Gutachten aus Weihenstephan zu berücksichtigen. Das will
ich gerne tun. Es ist druckfrisch.
Ich kann es Ihnen gerne geben.
Nachdem ich den ersten Blick darauf geworfen habe,
frage ich mich schon, warum bei den einzelnen Durchgängen neun Kühe aus den Versuchsreihen gefallen sind.
Auch das werden wir klären. Wir werden schauen, wie
der Auftrag lautete. Nach meinem Kenntnisstand ist die
Frage nach den Auswirkungen auf die Natur nicht gestellt worden, wenn auch dieses Ergebnis hinsichtlich
der Milch herausgekommen ist. Auch wurde nicht die
Frage der Auswirkung des Maisanbaus auf den Honig
gestellt.
({0})
Die Imker sind ja auch Betriebe; sie stellen Honig her.
Nicht nur das - ihre Bienen tragen auch zur Bestäubung
bei. Wie wir alle wissen, ist die Bestäubung ein zwangsläufiger Bestandteil des natürlichen Kreislaufs.
Wenn ich verspreche, mir dieses Gutachten genau anzusehen, versprechen Sie, Herr Bleser, dann, sich das österreichische Gutachten genau anzusehen, welches ergeben hat, dass die Fruchtbarkeit von Mäusen, die mit
gentechnisch verändertem Futter gefüttert wurden,
sinkt? Sie müssen beide Seiten und alle wissenschaftlichen Gutachten berücksichtigen. Das ist keine Einbahnstraße, Herr Bleser.
({1})
Frau Künast, Ihr Name hat in der Landwirtschaft nach
wie vor einen gewissen Klang, und Sie haben Ihren Ruf
heute noch einmal gefestigt.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Dieses österreichische Gutachten hält einer seriösen wissenschaftlichen - ({1})
- Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, sonst hätte ich Ihnen berichtet, auf welchen Namen mein Sohn unsere
schlechteste Kuh getauft hat.
({2})
Dieses österreichische Gutachten ist von seriösen, dafür
zuständigen Behörden widerlegt worden. Die EFSA wie
auch das BfR haben genau dieses Gutachten als nicht
relevant bezeichnet. Alle die von Ihnen zitierten Pseudogutachten sind von den dafür zuständigen Einrichtungen
immer wieder widerlegt worden. Das ignorieren Sie.
Sie, Frau Künast, haben heute den Antrag gestellt,
MON 810 zu verbieten. Die Begründung für diesen Antrag liefern Sie im ersten Satz. Ich zitiere:
Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung in
Deutschland spricht sich seit Jahren in Umfragen
immer wieder gegen den Einsatz der Agro-Gentechnik bei der Lebensmittelproduktion aus.
Sie machen also Politik aufgrund von Umfragen.
({3})
Frau Künast, der Schlag soll mich treffen, wenn ich einmal auf dieses Niveau absinke,
({4})
wenn ich also nicht mehr bereit bin, auf wissenschaftlicher Basis nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Sie entscheiden aufgrund einer Umfrage, die
Sie selber in Auftrag gegeben haben,
({5})
und zwar bei einer grünen Tarnorganisation namens
Campact. Diese Organisation verunglimpft seit zwei
Jahren gezielt Politiker und Wissenschaftler, indem sie
versucht, deren Glaubwürdigkeit zu beeinflussen.
({6})
Welche Arroganz drückt sich in Ihrem Verhalten aus,
wenn Sie ignorieren, dass weltweit 13,3 Millionen Bauern diese Technologie nutzen, und das auf 125 Millionen
Hektar? Diese Ackerfläche ist elfmal größer als die Fläche Deutschlands. Nach Ihrer Ansicht sind all diese Bauern dumm, falsch ausgerichtet; was sie machen, ist eine
gesundheitliche Gefahr für Leib und Leben und umweltschädlich. Welche Arroganz drückt sich in Ihrer Einstellung gegenüber diesen Menschen aus?
({7})
Herr Kollege Bleser, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich sage Ihnen eines: Sie werden den Anbau von gentechnisch verändertem Mais in bestimmten Regionen
nicht verhindern; das ist rechtlich gar nicht möglich.
({0})
In wenigen Jahren wird die Praxis Sie widerlegt haben.
Der Geschichte Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.
({1})
Ich will Ihnen nicht sagen, wen ich damit meine.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wissen alle: Frau Künast ist Spezialistin für umfrageorientierte Politik, Herr Seehofer macht es ihr nach, und
alle beide werden damit langfristig scheitern.
({0})
- Westerwelle verfolgt eine vertrauenswürdige und verlässliche Linie.
({1})
Deswegen sind die Umfrageergebnisse für die FDP wunderschön. Wir hoffen, dass sie bis zum Wahltag anhalten.
({2})
- Ich glaube, ich habe das Wort.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich
glaube, diesen Satz kennt hier jeder. Wir alle wissen:
Hans-Dietrich Genscher ist in der Frage der deutschen
Einheit nicht zu spät gekommen. Wir haben die Einheit
verwirklicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der
CDU, ich will gern zugestehen: Auch Helmut Kohl hatte
ein wenig Anteil daran.
({3})
Aber wir als Liberale sind der Auffassung: Der Mann
der Einheit, das ist Hans-Dietrich Genscher.
({4})
Man fragt sehr selten, wer eigentlich bestraft wird,
wenn politische Entscheidungen zu spät fallen, wenn sie
falsch sind. Ich will Ihnen die Antwort geben: Das ganze
Land wird bestraft. Nehmen Sie das Beispiel Insulinproduktion: 13,5 Jahre wurde verhindert - die Grünen hatten einen Anteil daran -, dass Insulin mit gentechnischen
Methoden hier in Deutschland produziert wurde.
({5})
Wer hat dafür gezahlt? Dafür haben die Menschen in
Deutschland gezahlt: durch den Abbau von Arbeitsplätzen, durch den Verlust von Investitionen, durch den Verlust der Weltführerschaft in der Pharmazie. Opfer dieser
politischen Fehlentscheidungen waren die Menschen im
Land; sie wurden für die Politik dieses Landes bestraft.
Genau das droht bei der Grünen Gentechnik, und das
wollen wir als FDP hier verhindern.
({6})
Mein Kollege Peter Bleser hat auf den bayerischen
Fütterungsversuch hingewiesen; das brauche ich nicht zu
wiederholen. Kollegin Künast, sicherlich wissen auch
Sie, dass es in Bayern ein Monitoring des Anbaus von
Bt-Mais gegeben hat. Dieses Monitoring hat deutlich gemacht, dass der Anbau von Bt-Mais wesentlich naturverträglicher ist als die Bekämpfung des Maiszünslers mit
chemischem Pflanzenschutz. Dies zeigt, dass es gerade
in den Gebieten, in denen es Maiszünsler gibt, sinnvoll
ist, diese Maissorten anzubauen. Wenn wir daran denken, dass es im Oderbruch Befallsraten von 60 bis
80 Prozent gibt, dann erkennen wir, dass wir diese Sorten auch in Deutschland brauchen, dass es also anders
ist, als Frau Aigner es dargestellt hat.
({7})
Frau Kollegin Künast, im Prinzip können Sie doch
einfach einmal selbst nachlesen, was zum österreichischen Mehrgenerationenversuch geschrieben worden ist.
Wenn Sie das tun, stellen Sie fest, dass die Futterrationen
eben nicht gleichwertig waren und dass das GVO-Futter
wahrscheinlich aufgrund falscher Lagerung mit Schimmelpilzen, mit Mikroben verunreinigt war und dass es
kein gleichwertiges Futter war. Deswegen kann man aus
diesen Ergebnissen schlicht und ergreifend gar nichts
folgern.
MON 810 wird schon über zehn Jahre angebaut. Vergleichbar mit Ihrer Verbotsforderung wäre es, wenn man
1955 gefordert hätte, den VW-Käfer in Deutschland zu
verbieten.
({8})
Wirklich eine tolle Maßnahme! Damit kommen wir richtig voran!
Sie haben das Thema Bienen angesprochen. Auch das
ist sehr spannend. Ich bin froh darüber, dass die Bundesregierung auf eine Frage von mir geantwortet hat:
Auf Grundlage der Praxisversuche kann eine toxische Wirkung von Bt-Mais auf gesunde Honigbienenvölker mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.
Die Bundesregierung hat mir im Ausschuss weiter gesagt: Honig enthält im Prinzip 0,5 Prozent Pollen. Ob da
ein bisschen was vom Bt-Mais dabei ist, ist völlig egal.
Das Premiumprodukt Honig ist dadurch in keiner Weise
beeinträchtigt.
({9})
- Es ist nicht illegal. - Sich auf nicht bestätigte Urteile
zu berufen, ist einfach nur dumm. Damit kommen wir
nicht weiter.
({10})
Die Forderung nach dem Verbot ist ideologisch begründet. Ideologisch begründete Forderungen bedeuten
politische Willkür. Wir als FDP lehnen dies ab. Die Geschichte der weltanschaulich und politisch begründeten
Verbote zeigt: Solche Verbote sind ein Irrweg. Denken
Sie an Galileo Galilei! Die Erde dreht sich um sich selbst
und um die Sonne, wie wir alle heute wissen. Die Grünen haben schon das Verbot der PET-Flasche, des PALFernsehens, des Handys, des PCs gefordert. Auch die Insulinproduktion mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen wollten sie verbieten. Das alles hat sich
nicht durchgesetzt.
({11})
- Dioxin gibt es nach wie vor. Verbieten kann man es
nicht. Aber es war sinnvoll, dass insbesondere die
schwarz-gelbe Regierung für einen Rückgang der Dioxinemissionen gesorgt hat. Das ist gut für unsere Wirtschaft.
({12})
Wir in der FDP lehnen ideologisch begründete Verbote als Angriffe auf die Freiheit und auf den Rechtsstaat
ab. Wir sehen in der biotechnologischen Züchtung große
Chancen. Wir haben sie realisiert in den Bereichen Arzneimittel, Vitamine, Enzyme und Aminosäuren. Das ist
eine Erfolgsstory.
Wir wollen, dass über die Zulassung von biotechnologisch gezüchteten Pflanzensorten auf wissenschaftlicher
Basis entschieden wird. Eine europäische Zulassung
muss EU-weit gelten - genauso wie die TÜV-Plakette
deutschlandweit gilt. Wir sind dagegen, dass Hamburg
und Schleswig-Holstein entscheiden können, dass bayerische Autos bei ihnen nicht mehr fahren dürfen. Ebenso
sind wir dagegen, dass in den Landesparlamenten entschieden werden kann, welche Pflanzensorten in dem jeweiligen Land angebaut werden.
Wir wollen Investitionen in biotechnologische Züchtung, und zwar zur Sicherung der Welternährung; mein
Kollege Bleser hat dies ausgeführt. Frau Kollegin
Künast, schauen Sie doch einmal ein bisschen genauer
nach Indien! Sehen Sie sich die IFPRI-Studie an!
Wenn Sie das tun, dann werden Sie feststellen, dass
die Bt-Baumwolle sehr wohl dazu beigetragen hat, die
Ernährungssicherheit auf dem Lande zu gewährleisten.
Dies wollen wir fortsetzen.
({13})
Ihre Einladung an bestimmte Rednerinnen und Redner, die nichts weiter betreiben als Diffamierung, die
sich gegen jegliche wissenschaftliche Erkenntnisse stellen, hilft den Menschen in Indien nicht. Denken Sie an
die Menschen in Indien und nicht bloß an Ihre Wählerstimmen im Land!
({14})
- Ja, ich habe mit den betroffenen Bauern gesprochen.
({15})
- Ich bin im vergangenen Jahr mit Minister Gabriel nach
Indien gereist und habe selbstverständlich solche Gespräche geführt. Natürlich ist mir da genau das gesagt
worden, was auch in der IFPRI-Studie ausführlich berichtet worden ist.
({16})
- Es mag sein, dass die Delegation das nicht getan hat.
Aber ich bin ein freier Mensch in einem freien Land. Ich
darf auf einer Reise des Umweltministers auch das Gespräch mit Gesprächspartnern suchen, die Ihnen nicht in
den Kram passen, Herr Kelber. Hören Sie damit auf!
Was Sie machen, ist einfach unverschämt!
({17})
Wir wollen Investitionen in biotechnologische Züchtung. Dazu gehören für uns der Goldene Reis und der
überflutungsresistente Reis.
Wir sind uns bewusst, dass die Bevölkerung eine gewisse Skepsis gegenüber der neuen Züchtungsmethode
hat. Skepsis ist also vorhanden. Es gibt aber keinerlei
Grund, Angst zu erzeugen. Grüne, CSU und SPD arbeiten dabei Hand in Hand. Die Bundeskanzlerin schaut zu.
Es ist unverantwortlich, wie die Bundeskanzlerin die Interessen Deutschlands verspielt, um in der südlichen
Sandburg Ruhe zu bewahren. Wer Angst erzeugt, macht
Menschen unfrei. Wir als Liberale fühlen uns dem freien
Menschen verpflichtet und wollen ihn nicht bevormunden, sondern mit den Informationen ausstatten, die er
braucht, um sich entscheiden zu können.
Bei dem Weg, den Seehofer und Söder in Bayern gegangen sind, würde sich Franz Josef Strauß im Grabe
umdrehen.
({18})
Es gab einmal das Motto: Laptop und Lederhose. Der
Laptop ist unter Herrn Seehofer total unter die Räder geraten. An die Adresse der Bundeslandwirtschaftsministerin sage ich: Sie hat den Eid geschworen, dem deutschen Volk zu dienen. Von Gehorsam gegenüber dem
CSU-Vorsitzenden steht darin nichts.
({19})
Sie sind für die Hexenjagd gegenüber Landwirten, die
Bt-Mais anbauen, verantwortlich. Sie sind verantwortlich für die Verhinderung von Forschung, für die Zerstörung beispielsweise in Üplingen in Sachsen-Anhalt. Sie
sind dafür verantwortlich, dass einem Landwirt, der sein
Feld für Freisetzungsversuche zur Verfügung stellen
wollte, die Tötung seiner Tiere angedroht worden ist.
Das ist die Politik von CSU, SPD und Grünen. Dies lehnen wir ab.
({20})
Ich bin in meiner Jugend sehr von dem Stück Biedermann und die Brandstifter beeindruckt gewesen. Ich
weiß nicht, ob Sie es kennen. Für mich sind Söder und
Seehofer die Biedermänner, die der Brandstiftung zusehen und dabei - das will ich Ihnen sagen - mit verbrennen werden.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Es hat sich bis jetzt in Deutschland nicht ausgezahlt,
sein Mäntlein politisch nach dem Wind zu hängen; denn
wir sind eine Wertegemeinschaft. In Deutschland zählen
Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit.
Wir lehnen den Antrag der Grünen ab.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Schmitt möchte eine Kurzintervention
machen. Bitte schön.
Liebe Kollegin Happach-Kasan, wir waren zusammen mit Bundesminister Gabriel in Brasilien. Ich erinnere mich an viele Gespräche, die wir beide geführt
haben, zum Beispiel mit Vertretern der sogenannten
Kleinbauern, die sich gegenüber der Gentechnologie
sehr skeptisch geäußert haben. Die Gespräche mit NGOs
haben ergeben, dass auf Kleinbauern ein enormer Druck
ausgeübt wird, ihre Flächen aufzugeben, weil die neue
Gentechnologie nur mit großflächigen Anbaumethoden
funktioniert. Auch die Vertreter der Kirchen haben im
Prinzip die Technologie abgelehnt, weil sie nicht zur Lösung der Probleme vor Ort führt. Das sind meine Erinnerungen an die Reise ins Amazonas-Gebiet. Ich denke,
Sie werden sich auch daran erinnern.
({0})
Zur Erwiderung Frau Happach-Kasan.
Lieber Kollege, ich habe sehr gute Erinnerungen an
unsere gemeinsame Reise nach Brasilien, die ich als angenehm empfunden habe. Ich habe es auch als angenehm empfunden, mit Bundesminister Gabriel zu reisen,
weil ich meine, dass er dort ein sehr wichtiges Programm verfolgt hat. Im Mittelpunkt dieses Programms
stand allerdings nicht die Gentechnik - ({0})
- Frau Künast, Sie könnten einfach den Mund halten. Sie
sind im Augenblick schlicht und ergreifend nicht gefragt.
({1})
Im Mittelpunkt der Reise stand insbesondere der
Schutz der Urwälder. Wir haben beeindruckende Siedlungen im Bereich des Amazonas-Gebietes besichtigt.
Wir haben von den Brasilianern gehört, dass es ihr großes Anliegen ist, den Zuckerrohranbau auszubauen und
Zuckerrohr zur Ethanolproduktion zu nutzen, um dieses
Ethanol auch auf den deutschen Markt zu bringen.
Bundesminister Gabriel hatte sich insbesondere dafür
eingesetzt, dass wir keine Einfuhrverbote für solches Zuckerrohrethanol erlassen sollten, weil das genau die Politik sei, die die EU gegenüber solchen Einfuhren früher
verfolgt habe. Ich kann mich nicht erinnern, dass Gentechnik ein großes Thema gewesen ist.
({2})
- Nein, das ist nicht mein Problem. Herr Kelber, hören
Sie zu, es ist kein großes Thema gewesen. Es ist einmal
am Rande angesprochen worden.
Ich will Ihnen auch sagen, dass ich nicht nur in Brasilien, sondern mit Kollegin Höfken auch in Argentinien
gewesen bin.
({3})
Dort haben uns die Bauern etwas anderes erzählt. Sie haben uns nämlich gesagt, dass sie das gerne möchten. Im
Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Bt-Maisanbauten illegal erfolgt sind, weil die Brasilianer gemerkt haben, wie erfolgreich er in Argentinien gewesen ist. Erinnern wir uns daran: Wenn eine Fläche von 120 Millionen
Hektar von 13 Millionen Landwirten bestellt wird, dann
können das nicht alles Großbauern, sondern müssen das
auch Kleinbauern sein, werter Herr Kollege.
Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass unsere gemeinsamen Reiseerfahrungen sehr gute Erfahrungen
sind. Aber sie tragen nicht dazu bei, zu klären, ob in Brasilien der Anbau von Bt-Mais bzw. gv-Soja sinnvoll ist
oder nicht. Das sollen diese Länder bitte selber entscheiden und nicht wir hier in Deutschland.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg
von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen!
Als jemand, der sonst in der Gesundheitspolitik und in
der Entwicklungspolitik zu Hause ist, bin ich erstaunt
über den Ton, in dem hier über Probleme, die die Menschen in Deutschland und in der ganzen Welt bewegen,
diskutiert wird.
({0})
Ich denke, dass das schwer zu verstehen ist. Ich weiß,
dass das Thema strittig ist. Aber wir kommen bei diesem
Thema nur weiter, wenn wir uns ein wenig systematischer und detaillierter mit den möglichen Lösungen auseinandersetzen.
In der Entwicklungspolitik gibt es zurzeit ein sehr
wichtiges Thema: dass die Agrarindustrie sich überall in
der Welt Flächen kauft. Wir haben gesehen, dass in Madagaskar ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche von
einer einzigen Firma aufgekauft wurde, die dort eine
Monokultur plant. Ich habe mit einer Delegation aus
Kongo-Brazzaville gesprochen, die mir berichtet hat,
dass entlang der Eisenbahnlinien - das sind viele Hundert Kilometer - ein 20 Kilometer breiter Streifen aufgekauft worden ist, auf dem der Wald gelichtet und Ölpflanzen angebaut werden sollen. Auch die Paraguayer
haben von ihren Konflikten berichtet. Sie haben große
Sorge, weil sehr viele Menschen von ihren Ländereien
vertrieben werden, die als Kleinbauern ihre Existenz
durch Subsistenzwirtschaft gesichert haben und jetzt in
die Slums der Städte vertrieben werden. Deshalb müssen
wir anschließend mit unseren Entwicklungshilfeprogrammen dafür sorgen, dass sie nicht verhungern und
menschenwürdig leben können. Das sind die Folgen einer Agrarindustrie, die weltweit eine große Rolle spielt.
Es ist nicht so, dass die Menschen durch das Vorgehen der Agrarindustrie mehr zu essen haben. In der Entwicklungspolitik sehen wir vielmehr das Gegenteil: Die
Agrarindustrie verjagt Menschen, die vorher zu essen
hatten, und sorgt dafür, dass wir hier jeden Tag billiges
Fleisch auf dem Teller haben.
({1})
Das ist der Motor dieser ganzen Misere.
In meinem Wahlkreis gibt es eine Wurstfabrik, die
sehr fleißig und produktiv ist. Dort arbeiten Frauen bei
4 Grad an einer Wurstabfüllmaschine im Gruppenakkord; das heißt, sie passen auf, dass jede von ihnen
Leistung bringt. Wenn eine Frau nicht so gute Leistung
bringt, verdirbt sie den Schnitt der Gruppe. Das ist schon
psychologisch ein riesiges Problem. Diese Frauen arbeiten für etwa 1 000 Euro im Monat, und sie müssen bis zu
50 Kilometer zur Arbeit fahren, und das, damit die
Würstchen dieser Fabrik bei Lidl oder Aldi billiger angeboten werden können als die von der Konkurrenz. Damit
die Frauen sich diese Würstchen überhaupt leisten können, müssen sie so billig sein. Das ist ein horrender
Kreislauf, in dem wir da stecken, der eine Katastrophe
für die Landwirtschaft und die Menschen bedeutet, nicht
nur in den Entwicklungsländern, sondern auch hier bei
uns.
({2})
Grundsätzlich ist es doch so, dass wir, um gut leben
zu können, nicht nur billige Nahrung haben möchten,
sondern darüber hinausgehende Wünsche haben. Wir
wollen in einer Landschaft leben, in der wir uns gerne
bewegen.
({3})
Wir wollen nicht in bestimmten Jahreszeiten durch
große, dreieinhalb bis vier Meter hohe Maiswände fahren und die Landschaft gar nicht mehr sehen, obwohl das
Land ganz flach ist. Wir wollen mobil sein in der Landschaft und einander besuchen können.
({4})
Wenn Sie sich anschauen, was in den Städten aus der
Mobilität geworden ist, wenn Sie sich das Blech anschauen, das auf den Straßen steht, weshalb die Kinder
nicht mehr allein auf die Straße gehen können,
({5})
dann sehen Sie, dass auch dort etwas verkehrt läuft. Wir
alle wissen, dass wir eine Energiewende brauchen. Aber
das gilt nicht nur für den Spritverbrauch, es gilt auch für
unsere Ernährungsgewohnheiten. Daran geht kein Weg
vorbei. So wie wir jetzt handeln, machen wir die Welt
kaputt.
({6})
Auch wenn wir hocheffizient so weitermachen, ist das
keine positive Lösung. Denn unsere Wirtschaft entwickelt sich sehr schnell und im Wettbewerb, aber leider in
die falsche Richtung. Hier besteht die Möglichkeit, etwas zu ändern.
Ich will Ihnen ein Erlebnis schildern, das ich gleich zu
Anfang meiner parlamentarischen Laufbahn hatte und
das mich damals ziemlich umgehauen hat. Ich bin auf
einer parlamentarischen Konferenz im Süden Englands
gewesen, einer trilateralen Konferenz, bei der - auf Initiative von Helmut Kohl, Mitterrand und Major - französische, englische und deutsche Parlamentarier
versammelt waren. Wir hatten uns gemeinsam landwirtschaftliche Betriebe angeschaut. Ich war ja die ersten
Jahre im Landwirtschaftsausschuss. Anschließend haben
wir sehr gut gegessen. Wir waren eingeladen, saßen an
einer Tafel mit Silber, es gab rosa Vorhänge; wunderschön war das.
Rechts neben mir saß ein englischer Kollege, mit dem
ich mich über die Probleme der dortigen Landwirtschaft
- das war noch vor der BSE-Krise - unterhalten habe.
Mein Nachbar links neben mir sprach französisch. Ich
dachte zunächst, er sei von der französischen Delegation. Als ich ihn fragte, woher er käme, antwortete er:
aus Brüssel. Dass jemand aus Brüssel bei einer trilateralen Konferenz anwesend war, erschien mir unpassend.
Also habe ich ihn gefragt, wen er vertreten würde. Er
antwortete: die Firma Monsanto. Auf meine anschließende Frage, was er dann hier mache, antwortete er, dass
seine Firma die ganze Veranstaltung finanziert.
({7})
- Da haben Sie recht. Mein Appetit war in der Tat weg.
({8})
Die Firma Monsanto ist vielfach überall auf der Welt
zur Zahlung von Strafen in Höhe von Millionen Dollar
verurteilt worden, weil sie Politiker bestochen hat. Sie
hat Praktiken überall auf der Welt etabliert, die bewirken, dass Menschen Hunger leiden. Ich habe kein Vertrauen in diese Firma wie auch in andere große industrielle Agrarfirmen, die natürlich die Ansprüche ihrer
Aktionäre befriedigen müssen und die erst an zweiter
Stelle - vielleicht aus Marketinggründen - die Ökologie
berücksichtigen.
Ich wünsche mir, dass wir unseren Weg finden. Ich
wünsche mir, dass wir eine Verbindung herstellen zwischen unseren Verbrauchsgewohnheiten und dem, was
durch sie in der Welt verursacht wird. Wenn wir diesen
Zusammenhang nicht sehen, dann springen wir zu kurz.
Mit meiner Fraktion bin ich dagegen, dass wir in diesem Jahr - bis zum April müssen wir darüber entscheiden - den Mais der Firma Monsanto in Deutschland ansäen lassen.
({9})
Ich möchte, dass wir den Anbau verbieten, wie es in Rumänien, Frankreich, Österreich, Ungarn, Griechenland,
Polen und Luxemburg der Fall ist.
Wenn Sie sich die Karte ansehen, auf der dargestellt
ist, wo der Mais dieses Jahr angebaut werden soll, dann
können Sie erkennen, dass das nur in den östlichen Bundesländern der Fall ist.
({10})
Ich habe für den Europarat einen Bericht zur Grünen
Gentechnik erstellt. Gentechnisch veränderte Pflanzen
werden mit Ausnahme von Spanien vorwiegend im Osten Europas angebaut. Wir haben uns also in Osteuropa
vor Ort angeschaut, warum dies so ist, und festgestellt,
dass die Menschen in diesen Ländern überhaupt nicht
wissen, was in ihrem Land angebaut wird. Sie haben
deshalb auch kein Problembewusstsein. Die großen
Konzerne bestechen Politiker und schaffen dort Tatsachen. Auf diese Weise wird die Grüne Gentechnologie
dort eingeführt, was bewirkt, dass gentechnisch veränderte Pflanzen überhaupt nicht mehr wegzukriegen sind.
Sie sind überall. Es gibt außerdem noch Gentransfers in
die Natur, die zu Verunreinigungen führen.
({11})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Happach-Kasan?
Ja, klar.
Bitte sehr.
Herr Kollege Wodarg, Sie kommen wie ich aus
Schleswig-Holstein und wissen, dass wir dort mittelständische Pflanzenzüchter haben, die dem Bundesverband
Deutscher Pflanzenzüchter angehören, in dem mehr als
100 mittelständische Unternehmen zusammengeschlossen sind. Diese Pflanzenzüchter haben natürlich eine
positive Haltung zur Grünen Gentechnik. Sie befürworten diese Technologie und hätten gerne Regelungen, die
es gestatten, dass sie sich mit gentechnologischer Züchtung beschäftigen. Wie stehen Sie dazu?
Frau Happach-Kasan, ich habe gerade meinen Bericht
für den Europarat erwähnt. Darin habe ich dieses Thema
- Sie können sich meinen Bericht einmal ansehen; ich
habe daran jahrelang gearbeitet - sehr differenziert behandelt.
Grüne Gentechnik umfasst nicht nur Bt-Toxin produzierende Pflanzen; es gibt sehr viele Technologien, um
die herkömmliche Züchtung von Pflanzen zu verbessern.
Sie können mit gentechnischen Methoden analytische
Untersuchungen durchführen und auf molekularer Ebene
sehen, welche Vorgänge sich in den Pflanzen abspielen.
Dieses Wissen können die Züchter nutzen durch entsprechende Selektionen. Man kann also mit der Forschung,
die auf diesen Technologien basiert, sehr viel nützliches
Wissen schaffen. Was wir heute besprechen, ist nur ein
kleiner Bereich. Die Grüne Gentechnologie umfasst daneben sehr viele nützliche Methoden.
Das Monopolisieren von Saatgut und das In-die-WeltSetzen von Pflanzen, die ein Gift produzieren, von dem
wir nicht wissen, wie es sich auf die Ökokreisläufe langfristig auswirkt, ist etwas anderes. Ich spreche hier gegen
die Freisetzung dieser Pflanzen.
({0})
Mit meiner Fraktion wünsche ich mir, dass die Landwirtschaftsministerin eine klare Entscheidung fällt, und
zwar, bevor der Mais ausgesät wird. Ich fände es
schlimm, wenn hier vollendete Tatsachen geschaffen
würden. Die Bevölkerung will einen solchen Anbau
nicht; da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Ansonsten
sähe die Karte, die ich Ihnen hier gezeigt habe, nicht so
aus, wie sie sich hier darstellt. Von einem Anbau ist vor
allem die Bevölkerung in Osteuropa betroffen, die nicht
so gut Bescheid weiß.
({1})
- Nein. Aber die Bevölkerungsdichte ist dort sehr gering. Die Landwirtschaft kann dort nicht mehr überleben. - Sie glauben das nicht? Fahren Sie doch einmal
durch Brandenburg! Sehen Sie sich einmal die riesigen
Felder an! Wo sind denn da die Landwirte? Ich habe einen Landwirt aus Schleswig-Holstein gekannt, der
40 Hektar hatte. Nach der Wende ist er in den Osten gefahren und hat dort für das Geld, das er für den Verkauf
seiner 40 Hektar bekommen hat, 4 000 Hektar gekauft.
Das ist kein Einzelfall.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Vaatz? - Herr Kollege Vaatz, bitte sehr.
Herr Kollege Wodarg, ich habe vorhin zur Kenntnis
genommen, dass Sie den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Osteuropa und speziell in Ostdeutschland - Sie haben gerade eine Karte von Ostdeutschland
in die Luft gehalten - im Wesentlichen auf den verminderten Informationsgrad und das mangelnde Risikobewusststein der Bevölkerung dort zurückführen.
Meine Frage ist folgende: Können Sie sich vorstellen,
dass die Menschen in Ostdeutschland kein vermindertes
Risikobewusstsein, sondern ein völlig anderes Risikobewusstsein haben, da sie nämlich die minimalen Risiken,
die aus dem Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen erwachsen, als nahezu lächerlich betrachten und den
daraus zu erwartenden Nutzen gerne für sich in Anspruch nehmen wollen? Dies hat einen einfachen Grund:
Im Gegensatz zu manchem aus dem Westen wissen sie,
dass gentechnisch veränderte Pflanzen wie jede andere
Pflanze, wenn sie vom Menschen genossen wird, im Magen-Darm-Trakt abgebaut werden und überhaupt keine
Schädigungen des Menschen verursachen können
({0})
und dass Sie mit den Vorstellungen, die Sie ständig pflegen, nämlich dass von gentechnisch veränderten Pflanzen Gefahr ausgehe, und damit, dass Sie diese Pflanzen
als Genmais bezeichnen, obwohl Sie ganz genau wissen,
dass jeder Mais aus Genen besteht,
({1})
Gespenster an die Wand malen, die keine reale Begründung haben und nur dazu dienen sollen, die Menschen
einzuschüchtern und von Ihren ideologischen Vorstellungen zu überzeugen.
({2})
Die Verve, mit der Sie das vorgetragen haben, steht in
großem Gegensatz zum Inhalt Ihres Einwurfs. Ich bin
Arzt und Umweltmediziner. Ich habe nicht darüber gesprochen, dass Menschen gesundheitlich gefährdet werden. Das weiß ich nicht; das mögen Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Es gibt noch gar nicht ausreichend viele
epidemiologische Untersuchungen darüber, die lange genug durchgeführt worden wären, um hier eine Aussage
zu ermöglichen. Dass es den Kühen, die in Bayern mit
gentechnisch verändertem Mais gefüttert worden sind,
gut geht, freut mich.
Ich habe davon gesprochen, was in der Landschaft
passiert. Wenn Sie einmal zur Kenntnis nehmen, welche
Bedenken der zuständige Minister von Brandenburg - er
ist von den Menschen in Brandenburg gewählt worden in Bezug auf die Entwicklung, die sein Land besonders
heftig trifft, hat, dann wissen Sie, dass auch die Menschen in Ostdeutschland große Angst vor diesem Anbau
haben und ihn für nicht gut halten.
({0})
Ansonsten würden sie diesen Minister nicht gewählt haben.
({1})
Das Land Rumänien hat sich entschlossen, gentechnisch veränderten Mais nicht anbauen zu wollen.
({2})
Das finde ich bemerkenswert. Das Land Rumänien ist
Mitglied im Europarat und hat sich an der entsprechenden Debatte beteiligt. Ich habe diese Debatte damals im
Europarat in Gang gesetzt, um in der Parlamentarischen
Versammlung ein Bewusstsein für dieses Problem zu
schaffen. Das war vielen überhaupt nicht gegenwärtig.
Man wäre in Rumänien bei einer anderen Entscheidung
in der Situation gewesen, dass die dort produzierten Lebensmittel plötzlich der Kennzeichnungspflicht in ganz
Europa unterlägen. Die Betroffenen wären in die Falle
gelaufen und hätten ihre Produkte nicht mehr vermarkten können, wenn es zu Gentransfers gekommen wäre.
Das ist nicht fair. Die Strategie der beteiligten Unternehmen ist unverantwortlich, und deshalb möchte ich, dass
wir den Anbau von gentechnisch verändertem Mais verbieten.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva BullingSchröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben jetzt Ende März. In gut vier Wochen werden
die Äcker wieder mit Mais bestellt. Leider ist auf einigen
auch die Aussaat des Genmais MON 810 geplant. Um
genau zu sein, waren im Februar 3 700 Hektar Anbaufläche beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit gemeldet. Zum Glück werden es wohl
weniger Flächen sein, die mit dem Genmais verunstaltet
werden. Das kann zwei Ursachen haben.
Erstens erkennen jedes Jahr einige Landwirte mehr,
dass sie mit der Entscheidung, Genmais anzubauen, völlig unnötig die gentechnikfreie Landwirtschaft und Imkerei gefährden. Debatten, Proteste, Streit mit Nachbarn
und Imkern sind meistens die logische Folge. Viele ziehen sich dann von ihrem Vorhaben zurück, und das ist
auch gut so.
Zweitens kann auch die Politik dieses Treiben stoppen, vor allem Bundeslandwirtschaftministerin Ilse
Aigner; das wurde hier schon angesprochen. Es liegt in
ihrer Hand, den Anbau von MON 810 in diesem Jahr zu
untersagen. Es ist kein Geheimnis, dass sich der CSUVorsitzende und Ministerpräsident von Bayern gestern
für ein gentechnikfreies Bayern ausgesprochen hat. Wir
wollen das bundesweit. Folgen Sie also bitte Ihrem Parteivorsitzenden!
Andere Länder haben das schon vorgemacht. Österreich will den Genmais nicht. In Frankreich sagt selbst
Sarkozy „Non“ zum Genmais. In Griechenland setzt
man lieber auf traditionelle Oliven statt auf Laborpflanzen aus den Küchen von Monsanto. Warum also unsere
Äcker mit einer Pflanze bestellen, welche von so vielen
abgelehnt wird? Ich kann das nicht verstehen. Das ist des
Volkes Wille, und wir sind vom Volk gewählt. Die meisten Bäuerinnen und Bauern wollen den Genmais
MON 810 nicht, Umweltschützerinnen und Umweltschützer sowieso nicht. Als umweltpolitische Sprecherin
meiner Fraktion frage ich mich daher: Was macht der
Genmais? Wen tötet der Genmais? Wie sicher ist der
Genmais?
Der gentechnisch veränderte Mais MON 810 ist ein
Dauerproduzent von Gift. Anstatt Gift gegen seinen Widersacher, einen kleinen Schmetterling namens Maiszünsler bzw. dessen Raupen, dann zu verwenden, wenn
die Gefahr am größten ist, wird bei MON 810 schon vorsorglich Gift produziert.
({0})
Das ist in etwa so, als wenn ich jeden Morgen anstatt eines Kaffees erst einmal ein Antibiotikum einnähme.
({1})
Ich weiß ja nicht, ob nicht im Laufe des Tages ein hinterlistiger Keim auftaucht, welcher mich gegebenenfalls
krank macht.
Die Freunde der Agrogentechnik in den Reihen der
CDU und FDP werden sicherlich denken - Sie haben ja
auch schon gelacht -: Das Gift - es geht hier um ein Toxin, welches das Bodenbakterium Bacillus thuringiensis
produzieren kann - wird auch im Ökolandbau eingesetzt, kann so schlimm also gar nicht sein. - Da muss ich
aber sagen: Das ist nicht das Gleiche. Erstens spritzt der
Biobauer nur dann,
({2})
wenn der Schadensdruck so groß ist, dass es dringend
geboten ist. Zweitens handelt es sich bei dem, was die
Ökobauern spritzen, um ein Protoxin, welches erst im
Körper des Schädlings aktiv wird. Bei Genmais hingegen ist es allzeit bereit und jederzeit toxisch. Drittens
wird das Bt-Toxin nach wenigen Tagen abgebaut; beim
Genmais bleibt es aber die ganze Vegetationsperiode erhalten. Man könnte also sagen: ein giftiger Sommer dieses Jahr.
({3})
Als Umweltschützerin frage ich mich: Welche Auswirkung hat die ständige Präsenz eines Giftes auf die
Umwelt? Wie wirkt sich das Gift auf Tiere aus, die eigentlich gar nicht bekämpft werden sollen? Man bezeichnet diese Kollateralschäden als Nicht-Zielorganismen. Das Bundesamt für Naturschutz hat dazu schon
einige Publikationen herausgegeben. Diverse Schmetterlinge müssen die Flügel strecken, wenn in der Nähe
Genmais steht. Auch den Honigbienen bekommt der
Genmais nicht gut, wie eine Studie der Universität Jena
herausgefunden hat, welche aber leider nicht fortgeführt
worden ist - warum auch immer.
({4})
In den USA wurde vor kurzem entdeckt, dass man auch
die Wirkung auf Wasserlebewesen näher untersuchen
sollte. Die Blackbox Boden ist sowieso immer noch ein
völlig unzureichend untersuchter Lebensraum.
({5})
Wie lange kann sich Bt-Toxin hier anreichern? Solchen
Fragen müsste in einem sachlichen Zulassungsverfahren
nachgegangen werden.
({6})
- Ja, in Bayern. - Schaue ich mir allerdings die Bedingungen an, unter denen transgene Pflanzen in der EU zugelassen werden, dann bleiben für uns und die breite
Masse der Bevölkerung noch viele Fragen offen.
Wir brauchen einen richtigen Crashtest, quasi den
Elchtest für Genpflanzen. So etwas gibt es aber nicht.
Warum?
({7})
Weil keine der Genpflanzen diese Tests bestehen würde.
Es gäbe keine Agrogentechnik mehr, und die vielen
schönen Milliarden der Konzerne wären in den Sand gesetzt: BASF, Monsanto und Co. müssten nach neuen Feldern Ausschau halten, um die Profitmaximierung weiter
voranzutreiben.
Die Linke sagt ganz klar: Wir wollen keine gentechnisch veränderten Pflanzen,
({8})
weder den Genmais MON 810 noch transgenes Soja aus
Brasilien und schon gar nicht die blaue Blume von Frau
Happach-Kasan, die sie letzte Woche hier zur Schau gestellt hat.
({9})
Liebe Kollegin, Ihnen sage ich: Diese Debatte sollte
ernsthaft geführt werden. Transgene Pflanzen wie Kuscheltiere ans Podium zu tragen, dient unserer Ansicht
nach nicht der Ernsthaftigkeit.
Wir stimmen dem Antrag der Grünen uneingeschränkt zu. Ich nenne für die Bevölkerung einmal die
Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause: Die SPD und die
CSU haben sich wiederholt dazu positioniert. Damit sind
theoretisch 222 SPD-Abgeordnete, 53 Linke, 51 Grüne
und 46 CSU-Abgeordnete für ein sofortiges Anbauverbot von MON 810. Das sind 372 Abgeordnete bzw.
61 Prozent. Das wäre die Mehrheit, die aber leider nicht
zum Tragen kommt. Ich finde das schade. Es wäre auch
möglich, dass Sie einen eigenen Antrag einbringen. Werden Sie klüger! Das wäre ein wichtiger Schritt für die
gentechnikfreie Landwirtschaft und Imkerei.
Ich habe Ihnen genau zugehört: Wenn jetzt schon
Herr Honecker und Herr Gorbatschow im Zusammenhang mit der Grünen Gentechnik bemüht werden, dann
sind wir weit gekommen.
Noch eine Bemerkung zum Schluss: Bei der bayerischen Studie wurde nur zu 41 Prozent GVO-Futter verwendet und nicht zu 100 Prozent. Mehr verträgt eine
Kuh nicht.
({10})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Mehr verträgt eine Kuh nicht! Haben Sie das gehört?
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Johannes Röring das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Frage, ob, in welcher Form und unter welchen Rahmenbedingungen wir in Deutschland die Grüne Gentechnik
nutzen wollen, muss stets vor folgendem Hintergrund
diskutiert werden: Verantwortung. Diese Verantwortung,
Frau Künast und Frau Bulling-Schröter, nehmen Sie
- das habe ich gespürt - nicht wahr.
({0})
Aus der Industrie und der Medizin ist Gentechnik trotz
ähnlicher Debatten in der Vergangenheit heute nicht
mehr wegzudenken. Ich erinnere nur daran - das wurde
vorhin angesprochen -, dass ein hessischer Umweltminister namens Fischer unter anderem die Produktion von
gentechnisch verändertem Insulin jahrelang verhindert
hat, obwohl das für die Menschen wichtig war. Jetzt machen das eben andere, und wir kaufen es aus dem Ausland.
({1})
Wir reden aktuell über Grüne Gentechnik. Hier haben
wir zuallererst Verantwortung gegenüber dem Verbraucher. Es muss garantiert werden, dass sichere, gesunde
und qualitativ hochwertige Lebensmittel für ihn und
seine Kinder zur Verfügung gestellt werden. Wir müssen
die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen, und
wir müssen ausschließen, dass durch Gentechnik Schäden für Mensch und Umwelt entstehen können.
Wir haben aber auch Verantwortung gegenüber möglichen Anwendern. Die Koalition hat ein modernes Gentechnikgesetz verabschiedet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höfken?
Ja, bitte.
Ich muss sagen, diese Debatte ist zum Teil schwer zu
ertragen.
({0})
Ich frage mich, was die Kollegen links von mir eigentlich antreibt, um so sektenhaft zu formulieren.
Was ich Sie fragen möchte, da Sie von Verantwortung
reden: Halten Sie es ernsthaft für verantwortungsvoll, in
geschlossenen Systemen gentechnisch zu produzieren,
ohne dass es eine entsprechende Gesetzesgrundlage
gibt? Wollen Sie tatsächlich sagen, dass all unsere Gesetze für die Produktion in geschlossenen Systemen unsinnig seien? War es nicht verantwortungsvoll, dass der
damalige Umweltminister Fischer gefordert hat, dass es
erst Gesetze geben muss, nach denen das abläuft, bevor
man mit der Produktion beginnt? Ist es Ihre Auffassung,
dass man sich von diesem Teil der Gentechnikgesetze
schleunigst verabschiedet, und nennen Sie dies Verantwortung?
Liebe Kollegin Höfken, die Realität hat uns da sehr
schnell eingeholt. Die Dinge sind produziert worden,
und wir haben klare Gesetze in Deutschland. Wir müssen ganz einfach feststellen, dass Sie damals diese Angst
in unverantwortlicher Weise geschürt haben, sodass wir
diese Technik in Deutschland trotz unserer Topwissenschaftler und unserer Topgrundlagenforschung nicht zur
Anwendung bringen konnten; das haben andere gemacht. Das ist Ihr Beitrag zur Verantwortung.
({0})
Ich fahre fort. Wir brauchen Rechtssicherheit für die
Anwender, die diese Technologie nach den gesetzlichen
Vorgaben anwenden dürfen. Verantwortung haben wir
auch in besonderem Maße gegenüber der Forschung, damit sie ohne ideologische Scheuklappen - dies hat übrigens Ihr Fraktionsvorsitzender gestern beim Verband der
Chemischen Industrie deutlich gesagt - an die wissenschaftlichen Fragen herangeht.
({1})
Wir müssen die Risiken aufmerksam analysieren;
denn wir tragen auch Verantwortung für die Bevölkerung weltweit. Hier können wir mit unserem Stand der
Wissenschaft dazu beitragen, Lösungen zu erarbeiten,
die vielen Menschen in der Welt zugutekommen. An dieser Stelle lobe ich besonders die Anstrengungen des
Bundeslandwirtschaftsministeriums und des Bundesforschungsministeriums, die in den nächsten fünf Jahren
Projekte in der Bioenergie-, Agrar- und Ernährungsforschung an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Zusammenarbeit mit Partnern
in der Wirtschaft mit bis zu 200 Millionen Euro unterstützen. Dabei wird die Grüne Gentechnik eine große
Rolle spielen.
({2})
Wir haben auch Verantwortung dafür, die Bandbreite
der Chancen der Gentechnik weiter zu erforschen. Es
gibt vielversprechende Erfolge. Indien ist bereits angesprochen worden. Das Märchen von den Landwirten, die
sich umbringen, weil sie in den Klauen der Gentechnikindustrie sind, muss endlich ausgeräumt werden.
({3})
Wir haben im letzten Herbst mit Bauern aus Indien gesprochen, die genau das Gegenteil gesagt haben. Diese
Bauern, unter ihnen auch Kleinbauern, äußerten, die Lösung über die Bt-Baumwolle, bei der der Wurzelbohrer
auf bezahlbare Weise bekämpft wird - im Übrigen nicht
nur mit der Sorte einer Firma; es gibt mittlerweile zehn
bis 20 Sorten und Konstrukte mit starkem Wettbewerb -,
führe dazu, dass die Suizidrate, die erschreckend hoch
war, endlich wieder zurückgehe. Es ist genau das Gegenteil gewesen, und Sie behaupten immer noch das Gleiche.
({4})
- Herr Kelber, ich habe es authentisch geschildert, wie
es Kollegen aus Indien berichtet haben. Was sie mir geschildert haben, war sehr glaubhaft.
({5})
Gentechnik kann also nicht nur Fluch, sondern auch
Segen sein. Wir haben auch Verantwortung für eine sich
schnell verändernde Welt, für Menschen, die nicht wie
wir hier in Deutschland und Europa im Überfluss leben
und täglich genügend Nahrung haben. Daher werden wir
genau beobachten müssen, ob die Gentechnik auch hier
Lösungen bieten kann.
Ich betone immer wieder - ich habe dies an dieser
Stelle schon des Öfteren gemacht -, dass wir mit der Tatsache umzugehen haben, dass sich weltweit die Ackerfläche pro Erdbewohner halbieren wird. Frau Künast,
wenn Sie dann auch noch Bioenergie und andere Rohstoffe erzeugen wollen, muss die Anbauintensität noch
weiter erhöht werden. All dies negieren Sie.
Es ist unabdingbar, die Leistungsfähigkeit der Pflanzen zu erhöhen. Es gibt viele Ansätze. Die weltweite
Verbreitung von MON 810 erstreckt sich auf fast
30 Millionen Hektar Anbaufläche. Im Übrigen gab es
keine Schadensmeldung, obwohl dieser Mais seit weit
über zehn Jahren angebaut wird. Die Forderung, den Anbau jetzt zu stoppen, kann ich nicht verstehen.
Ich bin darüber erschrocken, wie Sie, Frau Künast,
über meine Kollegen in der Welt gesprochen haben, die
Sie für zu dumm halten, mit modernen Techniken umzugehen.
({6})
Ich habe Landwirte in aller Welt kennengelernt, die im
Sinne der Landwirtschaft nachhaltig über Generationen
produzieren und die sehr wohl verantwortungsvoll mit
moderner Technik umgehen können. Über das Märchen
von der Abhängigkeit von Kleinbauern von dieser modernen Technologie kann ich nur lachen. Wir haben die
Freiheit, auch andere Pflanzen anzubauen.
({7})
- Meine lieben Damen und Herren, ich merke, dass Sie
alle Experten sind. Vertrauen Sie einmal einem Landwirt, der jedes Jahr Pflanzen anbaut!
({8})
Wir bauen diese Maispflanzen an; das sind Hybridpflanzen, die man nicht nachbauen kann. Ich fühle mich in
keiner Weise abhängig, solange es genug Konkurrenz
gibt. Mit Ihrer ablehnenden Haltung fördern Sie die Monopolisierung; im Moment dominiert in diesem Bereich
eine Firma. Wir müssen für wesentlich mehr Wettbewerb sorgen.
({9})
Wir dürfen uns den Chancen der Gentechnik nicht
verschließen; denn nur verantwortungsvolle, nachhaltige
und zielgerichtete Politik und nicht einseitige Ideologie
darf hier unser Maßstab sein. Ich muss sagen, dass ich
bei Ihrem Antrag nichts von Verantwortung spüre. Ich
lehne ihn daher ab.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Bei dem Thema Grüne Gentechnik ist zuminUlrich Kelber
dest ein bisschen Leben in der Debatte. In der Tat sind
aber einige Redebeiträge und auch die Reihenfolge der
Rednerinnen und Redner ziemlich vorhersehbar.
Ich möchte auf zwei Bereiche eingehen. Frau Kollegin Happach-Kasan, FDP, und Kollege Röring, CDU,
haben die Situation in Indien angesprochen. Ich glaube,
es bringt den Menschen, die uns zuhören oder diese Debatte nachlesen - es wird ja alles protokolliert -, nicht
viel, nachzuprüfen, wann wer mit wem auf wessen Einladung und wo vor Ort in Indien war. Ich bin nicht ganz
so häufig unterwegs, wie man meiner Webseite entnehmen kann; aber auch ich kann eine Indienreise nachweisen.
Als Informatiker habe ich eines gelernt, nämlich Aussagenlogik. Wenn die Erfahrungen mit Baumwolle in Indien so hervorragend waren, warum hat sich die indische
Regierung dann entschieden, beim nächsten Produkt,
nämlich bei Soja, auf Gentechnikfreiheit im gesamten
Land per Gesetz zu bestehen? Das ist die erste Nachfrage.
Zweite Nachfrage: Wenn das Produkt so überlegen ist
und die Bauern die Mehrkosten - es war oft Verschuldung, die zu den Suiziden geführt hat - durch den Erlös
locker ausgleichen, warum muss die anbietende Firma
Monsanto dann jeden Konkurrenten, jeden Saatzuchtbetrieb, der herkömmliche Baumwolle vor Ort anbietet,
hektisch aufkaufen und dessen Produkte vom Markt nehmen, damit die Bauern in der Region keine Alternative
mehr haben?
({0})
Das wäre doch nicht notwendig, wenn es so wäre, wie
Sie es beschrieben haben.
Frau Happach-Kasan, diejenigen, mit denen Sie geredet haben und von denen Sie erzählen, sind in der Regel
Menschen, die mit dem Einsatz von Grüner Gentechnik
ihr Geld verdienen. Da gilt in der Tat das gute alte Zitat
von Guido Westerwelle: Wenn man einen Teich trockenlegen will, darf man nicht die Frösche fragen.
Herr Kollege Kelber, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan?
Selbstverständlich.
Kollege Kelber, ich freue mich, dass Sie anerkennen,
dass die Debatte etwas lebhafter und deshalb auch ein
bisschen spannend ist. Ich freue mich auch, dass Sie
ebenfalls in Indien waren, weil die Eindrücke, die man
dort gewinnt, für eine solche Debatte prägend sind. Ich
gehe einmal davon aus, dass wir da durchaus übereinstimmen.
Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir in der Bewertung übereinstimmen, dass Baumwolle und Soja zwei
verschiedene Pflanzen mit deutlich unterschiedlichen
Standortbedingungen und deutlich unterschiedlichen
Anbauvoraussetzungen sind und auch deutlich unterschiedliche Kenntnisse für deren Anbau vonnöten sind.
Ich glaube, auch da sind wir einer Meinung.
Ich habe die IFPRI-Studie angesprochen; sie ist im
Oktober veröffentlicht worden. Das Institut hat seinen
Sitz in Washington. Professor von Braun ist Leiter dieses
Institutes. Er dürfte Ihnen bekannt sein, weil er schon in
Bonn gearbeitet hat, und er ist mir bekannt, weil er zuvor
in Kiel gearbeitet hat.
({0})
- Herr Kollege Herzog, ich komme selbstverständlich zu
meiner Frage. Da brauchen Sie gar keine Sorgen zu haben. - Die Ergebnisse dieser Studie machen deutlich,
dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln durch den
Anbau von Bt-Baumwolle gemindert werden konnte.
Dies ist zumindest aus umweltpolitischer Sicht eine
sinnvolle Entwicklung.
Jetzt will ich auf das Thema Baumwolle zurückkommen.
({1})
Haben Sie diese Studie eigentlich genau gelesen? Haben
auch Sie zur Kenntnis genommen, dass Baumwolle die
Pflanze ist, für die in Indien die höchsten Pflanzenschutzmittelaufwendungen getätigt werden, und sind
auch Sie zu dem Schluss gekommen, dass die Entscheidung der indischen Regierung, weiterhin in Bt-Baumwolle zu investieren, insofern durchaus sinnvoll sein
könnte?
Das hat man in Indien getan. Es gibt zwei Konstrukte,
die von Monsanto stammen: ein Konstrukt, das in Indien
entwickelt worden ist, und ein Konstrukt, das in China
entwickelt worden ist. Das heißt, es entsteht immer mehr
Vielfalt; dieses Thema hat Herr Kollege Röring
angesprochen. Vor diesem Hintergrund bin ich der
Auffassung, dass die Frage, wie man mit gv-Soja umgeht, nichts mit den Erfahrungen, die man in Indien mit
Bt-Baumwolle gemacht hat und die insgesamt gesehen
gut sind, zu tun hat. Würden Sie diese Einschätzung teilen?
Frau Happach-Kasan, meine wunderschöne Heimatstadt Bonn hat 320 000 Einwohner. Die Zahl der Menschen, die dort jemals gewesen ist, geht wahrscheinlich
in die Millionen. Auf Ihre Frage, ob ich Herrn Professor
von Braun persönlich kenne, muss ich Ihnen sagen: Ich
kenne nicht alle Menschen, die schon einmal in Bonn
waren, persönlich.
({0})
Ich bemühe mich zwar, möglichst viele Hausbesuche
und Aktivitäten vor Ort durchzuführen; aber das habe
ich noch nicht ganz geschafft.
({1})
Ich kenne diese Studie nicht.
({2})
Ich lasse sie mir aber gerne zuschicken und lese sie. Sie
wissen so gut wie ich, dass es Hunderte von Studien gibt.
Wahrscheinlich könnte ich Ihnen sofort locker zehn bis
zwanzig Studien nennen oder von den Mitarbeitern meines Büros heraussuchen lassen, die Sie nicht gelesen haben. Das ist aber nicht das spannende Spiel.
Beim Thema Soja sagen Sie, gentechnisch verändertes Soja sei so überlegen, dass man es anbauen muss.
Wenn ich daraufhin sage, dass sich die indische Regierung aufgrund der Erfahrungen mit gentechnisch veränderter Baumwolle dazu veranlasst sah, die angeblichen
Vorteile des nächsten Produkts nicht zu nutzen,
({3})
sondern darauf zu verzichten, dann handelt es sich, was
die Aussagenlogik angeht, um den Schluss, dass es im
Hinblick auf die Baumwolle Gründe für diese Entscheidung gegeben haben muss.
({4})
Einen Grund haben Sie übrigens genannt. In der Tat
ist Baumwolle eine Pflanze, deren Anbau in der Regel
einen sehr hohen Pestizideinsatz zur Folge hat. Interessanterweise hat sich der Pestizideinsatz in den Regionen,
in denen Bt-Baumwolle angebaut wird, keineswegs
Richtung null bewegt.
({5})
Vielmehr berichten die Bauern, übrigens auch Bauern
aus anderen Weltregionen wie Südafrika, dass der Umfang des Pestizideinsatzes innerhalb kürzester Zeit wieder den alten Stand erreicht hat.
({6})
Das Saatgut, das zum Einsatz kommt, ist also teurer, und
die Kosten für den Pestizideinsatz sind gleich hoch. Das
war auch der Grund für die Verschuldung der Bauern.
Sie mussten die Kosten für beides tragen, ohne bessere
Ernten zu haben.
({7})
Das ist der entscheidende Punkt.
Wie immer hat mir auch heute die Rede meines werten Koalitionskollegen Peter Bleser gefallen. Zur Erinnerung: Peter Bleser ist der agrarpolitische Sprecher der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er hat, wie man nachlesen kann, eine fulminante Pro-Gentechnik-Rede gehalten. Ich habe beobachtet, dass ihm sämtliche anwesenden Abgeordneten der CSU frenetisch Beifall geklatscht
haben.
({8})
Es ist wichtig, zwischen den Pressemitteilungen von
Herrn Söder, Herrn Seehofer und neuerdings teilweise
auch Frau Aigner und dem Verhalten der CSU-Abgeordneten im Deutschen Bundestag zu unterscheiden.
({9})
Das ist das Problem, das ich bei Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner hinter verschlossenen Türen immer wieder habe.
Ich habe mich über die Studie aus Bayern und über
ihr Ergebnis gefreut. Ich gehöre übrigens zu den Menschen, die sich relativ sicher sind, dass sie, wenn sie ihr
Leben lang Bt-Mais essen würden, vermutlich nicht daran erkranken würden.
({10})
Ich finde es gut, dass sich die SPD-Fraktion damals dafür eingesetzt hat, diese Langzeitfütterungsstudie in Auftrag zu geben.
({11})
In diesem Zusammenhang habe ich mich an die Anzeige erinnert, die Peter Ramsauer - er ist übrigens der
Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag - im Landtagswahlkampf geschaltet hat.
({12})
In dieser Anzeige hieß es sinngemäß, die CSU sei immer
gegen diese Langzeitfütterungsstudie gewesen, und die
SPD habe mit ihrem Verhalten gezeigt, dass sie in Wirklichkeit für Gentechnik sei. Diese Anzeige ist vier Tage
vor der Landtagswahl in der Heimatzeitung von Herrn
Ramsauer erschienen. So viel zum Thema „Ehrlichkeit
in der Argumentation“.
({13})
Fragen der Gefährdung der Gesundheit durch gentechnisch veränderten Mais sind in diesem Zusammenhang gar nicht entscheidend. Wenn Sie die Position der
SPD nachlesen, stellen Sie fest, dass dieses Thema überhaupt nicht angesprochen ist. Vielmehr geht es um Fragen der Artenvielfalt, der Abhängigkeit und der Wahlfreiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher. Das sind
die entscheidenden Fragen.
({14})
Wir wissen, dass die Konzentration auf wenige Sorten
einerseits die Art und Weise, wie wir Landwirtschaft betreiben, gefährdet und die Vielfalt des Angebots an LeUlrich Kelber
bensmitteln reduziert und andererseits für die Ernährung
gefährlich ist.
Ein gutes Beispiel dafür ist Reis. Ich gehe bewusst auf
mehrere Sorten ein. Es gibt auf der Welt über 60 000 natürliche und auf Grundlage der Kulturvielfalt von Landwirten herangezogene Reissorten. Würden wir auf gentechnisch veränderte Reissorten umsteigen, gäbe es am
Ende drei, vier oder fünf Sorten.
In den 70er-Jahren gab es einen starken Pilzeinfall in
alle Reissorten dieser Welt, teilweise mit bis zu 90 Prozent
Ernteausfall. Eine Resistenz gegen Pilze ist eine Multigeneigenschaft, die man mit Gentechnik auch in den
nächsten 30 Jahren vermutlich nicht erreichen wird, sondern nur durch Züchtung. Es hat sich unter 60 000 untersuchten Reissorten eine einzige als resistent erwiesen.
Was wäre passiert, wenn diese eine Sorte entweder verdrängt oder vorher vernichtet worden wäre? Übrigens,
das Tal, in dem diese Reissorte damals entdeckt wurde,
ist heute eine Talsperre; diese Reissorte ist nicht mehr
existent.
({15})
Das ist die Frage der Artenvielfalt. Sie wissen, wie
stark der Widerstand der Landwirte gegen die grüne
Gentechnik ist. Frau Happach-Kasan, ich bin nicht bereit, gegen ihren erklärten Willen die Bevölkerung zu
zwingen, diese Produkte direkt oder indirekt zu kaufen,
oder die Landwirte zu zwingen, diese Sorten anzubauen.
({16})
- Sie wehren sich aber gegen eine klare Kennzeichnung.
({17})
Sie wehren sich gegen eine klar nachvollziehbare
Koexistenz. Somit wollen Sie die Leute zwingen, diese
Produkte zu sich zu nehmen.
({18})
Jede Generation wird für sich neu entscheiden müssen, ob sie technologische Möglichkeiten, die die Grüne
Gentechnik ihnen bietet, akzeptieren will oder nicht, ob
diese Möglichkeiten Vorteile bringen oder aber gesellschaftliche Nachteile überwiegen.
({19})
Wenn ich heute für meine Generation entscheide, wäge
ich die Nachteile und Vorteile für die Gesellschaft ab.
({20})
Nachteile: Die Artenvielfalt wird reduziert, die Abhängigkeit gesteigert, die Koexistenz erschwert; die Kosten
für gentechnikfreie Landwirtschaft steigen wegen der
Vielzahl der Sicherheitsmaßnahmen und der Überprüfungen. Nutzen dagegen: keiner. Bestimmte Sorten sind
resistent gegen ein bestimmtes Pestizid, Nutzen für die
Gesellschaft: null. Ergo: Es muss ein Verbot des Anbaus
dieser Pflanzen geben.
({21})
Deshalb erwarte ich von Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner - selbstverständlich hat sie heute
beim EU-Agrarrat zu sein; sie ist hier durch einen Staatssekretär vertreten -, dass sie wie angekündigt eine Prüfung vornimmt - rechtzeitig, bevor die Landwirte dieses
Saatgut kaufen - und die Aussaat in Deutschland untersagt. Das ist ihre Aufgabe; daran wird man ihre Aussagen der letzten Wochen und Monate messen können.
Frau Aigner wird im Agrarrat auch darüber abstimmen müssen, ob die Europäische Kommission, die sich
gerade eine blutige Nase geholt hat, Griechenland und
Frankreich zwingen kann, ihre Anbauverbote aufzugeben. Ich bin Bundesumweltminister Sigmar Gabriel
dankbar, dass er klare Kante gezeigt hat: Es waren
Deutschlands Stimmen, die geholfen haben, dass Österreich und Ungarn in ihren Ländern gentechnisch veränderte Pflanzen anbauen dürfen, dass die Europäische
Kommission unsere Nachbarn nicht zwingen durfte, etwas gegen ihren Willen zu tun.
({22})
Ich hoffe, Frau Aigner hat denselben Mut und stimmt im
Agrarrat genauso ab.
Heute liegt uns ein Antrag vor, den die SPD in allen
Punkten unterstützen kann. Das verwundert nicht: Er
enthält nur Punkte aus dem Antrag, den wir unserem
Koalitionspartner in den Jahren 2006, 2008 und - vor
wenigen Tagen - 2009 vorgelegt haben.
({23})
Frau Präsidentin, da ich das letzte Mal für meine Wortwahl gerügt wurde, weise ich darauf hin, dass ich jetzt
nur meinen Koalitionspartner zitiere; er sagte, das sei
ihm scheißegal. Das ist die Wortwahl an dieser Stelle.
({24})
Wir, die SPD-Fraktion, dürfen diesen Antrag nicht
einbringen. Wir dürfen laut Koalitionsvertrag - das ist
typisch für einen Koalitionsvertrag; Frau Höfken, Frau
Höhn und Frau Künast wissen, was Koalitionsverträge
sind - einem Antrag der Opposition nicht zustimmen.
Deswegen werden wir das heute nicht tun. Wir werden
weiter für den gleichen Inhalt kämpfen. Wir werden darauf drängen, dass wenigstens einer der Abgeordneten
von der CSU, die in jeder Pressemitteilung sagt, sie teile
diese Position der SPD, zu dieser Meinung steht und sie
hier vorträgt. Die CSU sollte nicht versuchen, über die
Zeitungen der Bevölkerung ein Bild zu vermitteln, das
von der Meinung, die sie in Wirklichkeit vertritt, abweicht.
Was gibt es jetzt zu tun?
Erstens. Wir müssen für verbindlich gentechnikfreie
Regionen in Europa sorgen. Die Menschen sollen entscheiden können, was passiert, um auch die Kosten der
gentechnikfreien Landwirtschaft niedrig zu halten. Es
kann nicht sein, dass derjenige, der gentechnikfrei anbauen will, Mehrkosten hat, weil ein anderer eine gentechnisch veränderte Pflanze anbaut, die keinen gesellschaftlichen Nutzen bringt.
({25})
Deswegen muss es verbindlich gentechnikfrei sein. Das
kann zum Beispiel durch eine Änderung des europäischen Rechts geschehen. Dann erwarte ich aber, dass wir
das mit den Stimmen der CSU-Bundestagsabgeordneten
im Bundestag beschließen oder dass die bayerische Landesregierung irgendwann einmal eine Bundesratsinitiative einbringt. Das wäre vielleicht wichtiger, als eine
Pressenotiz nach der anderen zu schreiben, in der steht,
was man angeblich vorhat. Tun Sie das doch einfach einmal, anstatt nur davon zu reden.
Zweitens. Wir brauchen gentechnikfreies Saatgut.
Wir müssen sicherstellen, dass diejenigen, die gentechnikfrei anbauen können, auch gentechnikfreies Saatgut
bekommen, was nicht schon verunreinigt ist.
({26})
Wir brauchen eine Demokratisierung der Zulassung,
weil es neben der reinen Überprüfung, ob eine unmittelbare Gefährdung für bestimmte Tierarten oder andere
Pflanzenarten vorliegt, eben auch die Überprüfung der
Langzeitfolgen für den Boden, wie Frau Kollegin
Künast gesagt hat, und auch der ökonomischen, sozialen
und kulturellen Zusammenhänge eines Landes - Stichworte: Verdrängungswettbewerb und Monopolisierung gibt.
Drittens und letztens brauchen wir eine technologieoffene Forschung. Das sage ich in Richtung des Forschungsministeriums, das hier zumindest lange Zeit vertreten war. Technologieoffene Forschung kann nicht
heißen, dass im Haushalt von Frau Schavan 90 Prozent
der Mittel für die Lösung bestimmter Probleme in der
Züchtung in die Grüne Gentechnik und keine 10 Prozent
in alternative Technologien gehen. Probleme identifizieren und allen Technologien zur Lösung des Problems
gleiche Chancen einräumen, dann könnten wir über einen fairen Umgang mit Grüner Gentechnik reden.
Das ist die eigentliche Politik, die jetzt gemacht werden sollte. In dieser Koalition ist sie nicht möglich. Ich
hoffe auf eine andere Option für eine Mehrheit, um eine
vernünftige Gentechnikpolitik machen zu können.
({27})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Franz-Josef Holzenkamp für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal können Sie davon ausgehen,
dass es Einigkeit unter den CDU/CSU-Agrariern gibt.
({0})
Herr Kelber, Sie haben gerade die Kennzeichnung angesprochen. Sie wissen, dass wir, die Union, beim Gentechnikgesetz weitergehen wollten, als Sie gegangen
sind. Das ist Wahrheit und Klarheit.
({1})
Auch wenn wir uns jetzt etwa zum vierzigsten Mal
mit diesem Thema befassen, nenne ich Ihnen zu Beginn
einige Schlagzeilen: „Wir sollen uns nicht in die Natur
einmischen“, „Dieser Prozess verändert die Eigenschaften des Lebensmittels“, „Gefährliche und unbekannte
Substanzen können gebildet werden“,
({2})
„Dieser Prozess kann nicht sachgerecht durchgeführt
werden, und unvorhergesehene Vorfälle können passieren“,
({3})
„Es besteht keinerlei Bedarf dafür“.
({4})
Kennen Sie diese Aussagen? Kommen sie Ihnen bekannt
vor?
({5})
Hat das vielleicht mit der Atomenergie oder anderen aktuellen Dingen zu tun? Nein, dies waren vor etwa
hundert Jahren die Argumente gegen die Milchpasteurisierung.
({6})
Um nicht falsch verstanden zu werden: Wir alle kennen die Befürchtungen und Ängste hinsichtlich der Gentechnik. Unsere Fraktion nimmt sie sehr ernst. Es macht
aber schon nachdenklich, dass bei den Befragungen
ebenfalls herauskommt, dass die Verbraucher zu einem
sehr großen Teil der Meinung sind, dass in Lebensmitteln, zum Beispiel in Tomaten, keine Gene enthalten
sind. Ich will damit sagen - hierin sind wir alle, so
glaube ich, einer Meinung -:
({7})
Es besteht ein erheblicher Aufklärungsbedarf.
({8})
Ich finde, Aufgabe der Politik muss es sein, Unterstützung und Informationen zu bieten, um diese Wissenslücke zu schließen, und zwar wissenschaftsbasiert und
nicht durch eine reine Emotionalisierung dieser Themen
bzw. durch eine reine Symboldebatte.
({9})
Oberstes Gebot bei der Grünen Gentechnik ist für uns
die Sicherheit für Mensch, Tier und Umwelt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Ja, selbstverständlich.
({0})
Sie ist vergleichsweise kurz.
Sie haben ja gerade indirekt deutlich gemacht, dass
Menschen Angst vor gentechnisch veränderten Produkten haben, weil sie glauben, dass nur in diesen Gene vorhanden sind. Darf ich im Umkehrschluss davon ausgehen, dass Sie als CDU-Abgeordneter deswegen für die
Atomtechnologie sind, weil Sie die Funktionsweise eines Nuklearreaktors vollständig verstanden haben?
({0})
- Erklären Sie es einfach einmal kurz.
Das ist wieder eine Scheinfrage. Ich habe es nicht anders erwartet. Sie hat mit dem Thema der heutigen Debatte nichts zu tun.
({0})
Ich habe nur deutlich gemacht - das unterstreiche ich
für meine Fraktion ausdrücklich -, dass wir mit den
Ängsten der Menschen sehr gewissenhaft umgehen. Wir
polemisieren aber nicht, sondern wir informieren, und
zwar einzig und allein auf sachlicher Basis. Das ist der
Unterschied zwischen uns und Ihnen.
({1})
Es gibt Aufklärungsbedarf, dem wir nachkommen
wollen und müssen, statt die Dinge einfach pauschal zu
verteufeln. Wir wissen - das ist schon angeklungen -,
dass die Grüne Gentechnik breit genutzt wird. Sie wird
weltweit auf über 120 Millionen Hektar eingesetzt. Trotz
zahlloser wissenschaftlicher Studien - auch das will ich
noch einmal unterstreichen - konnte keinerlei Schädigung für Mensch, Tier und Natur festgestellt werden.
Ich finde es bedauerlich, dass die Wissenschaftler, die
sich teilweise positiv zum Nutzen der Grünen Gentechnik äußern, von Teilen der Politik in ihrer wissenschaftlichen Integrität diffamiert werden.
({2})
Wo bleiben Ihre Offenheit und Ihre viel gepriesene Toleranz?
({3})
Wenn Teile der Politik wissenschaftliche Erkenntnisse
als Humbug abtun und die Grüne Gentechnik pauschal
und kompromisslos verteufeln, wie soll dann eine transparente, wissenschaftsbasierte Verbraucheraufklärung
funktionieren? Wir alle wissen, dass sie so nicht funktionieren kann, und Sie, meine Damen und Herren insbesondere von den Grünen, verhindern es.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, die sogenannten BtPflanzen seien „besonders bedenklich hinsichtlich ihrer
schädlichen Wirkungen für Insekten und andere Organismen“. Wenn sie so gefährlich sind, wie Sie meinen,
dann wundert es mich, warum der Einsatz von Bt-Bakterien als Spritzmittel im ökologischen Landbau nicht infrage gestellt oder debattiert wird. Auch darauf ist schon
hingewiesen worden.
({4})
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich will das
nicht bewerten, sondern nur feststellen - das gilt generell -, dass pflanzeneigene Resistenzen, das heißt eigene
Abwehrkräfte, die höchste Form der Ökologie sind.
({5})
Fakt ist doch, dass die Pflanzenzüchtung seit Jahrtausenden nichts anderes tut, als die Eigenschaften von
Pflanzen und Tieren zu verändern, und zwar zugunsten
der Menschen, und dabei Gene neu zu mischen. Das machen wir seit etwa 10 000 Jahren. Insofern ist eine differenzierte Betrachtung notwendig.
Ich weiß aber auch, dass die Grüne Gentechnik selbstverständlich kein Allheilmittel ist. Wir müssen sehr
sorgsam mit diesen Themen umgehen. Aber die Grüne
Gentechnik kann helfen, vielen Herausforderungen - sie
sind schon benannt worden - gerecht zu werden. Ich
möchte dazu die Nobelpreisträgerin Christiane NüssleinVolhard zitieren, die sicherlich nicht in Verdacht gerät,
von irgendeiner Seite beeinflusst zu sein:
In Deutschland ist noch nicht hinreichend akzeptiert, dass die Anwendung der Gentechnik in der
Pflanzenzüchtung ein noch unausgeschöpftes Potenzial für den ökologischen Landbau, für verbesserten Umweltschutz, die Erhaltung der Artenvielfalt und für die Gesundheit bietet.
Das sagen Externe. Damit sollten wir uns sachlich auseinandersetzen.
Wir müssen uns entscheiden, ob wir diesen Weg in
unserem Land mitgehen und mit davon profitieren wol23198
len oder ob wir andere über uns hinweg entscheiden lassen.
({6})
Wer den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen
verbieten möchte, muss deutlich sagen, dass wir dann in
absehbarer Zeit zu diesem Thema in Deutschland auch
keine Forschung mehr haben werden.
({7})
Er muss auch sagen, dass wir uns zukünftig in hohem
Maße von anderen Ländern abhängig machen,
({8})
dass unsere Vorstellungen in Bewertungsfragen international weniger relevant sein werden
({9})
und - in diesem Punkt sind wir uns, glaube ich, alle einig - dass die Monopolisierung gefördert wird. Genau
das wollen wir alle doch gerade nicht.
({10})
Sie beklagen zu Recht die Monopolisierung. Aber
glauben Sie wirklich, dass Sie sie durch Anbauverbote
verhindern? Sie fördern sie doch regelrecht. Das kann
ich überhaupt nicht verstehen.
Wir sind derzeit auf dem besten Weg, hervorragend
ausgebildete Forscher, hochentwickelte Saatgutunternehmen und innovative Agrartechnologien auf Nimmerwiedersehen zu exportieren - Insulin, es ist schon genannt, lässt grüßen -, anstatt unsere mittelständischen
Zuchtunternehmen zu schützen und zu unterstützen. Das
kann nicht im Interesse unseres Landes liegen. Ideen
sind immer die Lebensgrundlage unseres Landes gewesen. Dann kann so etwas keine Zukunft haben. Hätte es
in der Vergangenheit nicht Forscher wie Mendel, von
Liebig oder Thaer gegeben, würden wir heute wahrscheinlich nicht über Gentechnik reden, sondern über
den Hunger in der Welt und darüber, wie wir ihn besser
bekämpfen können.
Lassen Sie uns den Glaubenskrieg beenden! Kehren
wir zu einer differenzierten Sachlichkeit und Betrachtung zurück! Alles andere ist fahrlässig und gefährlich
für unser Land. Deshalb kann man Ihren Antrag nur ablehnen.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/11919. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sa-
che. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen
Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
sowie mitberatend an den Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit und den Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union. Die Abstim-
mung über den Antrag auf Ausschussüberweisung geht
nach ständiger Übung des Hauses vor. Ich frage deshalb:
Wer ist für die Überweisung? - Wer ist dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Überweisung ist so beschlossen. Damit
stimmen wir über den Antrag in der Sache heute nicht
ab.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz
Meyer ({0}), Eckhardt Rehberg, Wolfgang
Börnsen ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel,
Garrelt Duin, Ludwig Stiegler, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD
In der Maritimen Wirtschaft Kurs halten
- Drucksache 16/12431 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung und Zukunftsperspektiven der maritimen Wirtschaft in Deutschland
- Drucksache 16/11835 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat für
die Bundesregierung das Wort die Parlamentarische
Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn es einen weltwirtschaftlichen Abschwung
gibt, macht er natürlich auch vor einer Exportnation wie
Deutschland nicht halt, genauso wenig wie vor der maritimen Wirtschaft, denn 90 Prozent des Welthandels werden über die Seehäfen abgewickelt. Dementsprechend
sind inzwischen viele Häfen von der Krise betroffen. Es
gibt Kurzarbeit und erste Entlassungen. Die Charterraten sind eingebrochen. Allein im letzten Jahr wurden
29 Schiffbauaufträge storniert. In diesem Jahr sind es
bisher 11. 19 Aufträge stehen auf einer sehr wackligen
Basis. Wir müssen zudem sehen, dass es erhebliche Tonnageüberkapazitäten gibt. Hinzu kommt die zögerliche
Haltung der Banken gerade in den Bereichen der BauParl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl
zeitfinanzierung und der Bauendfinanzierung. Die
Schiffsfonds privater Anleger sind als Finanzierungsquelle inzwischen fast ausgelaufen.
Kurzum: Ich hätte mir für die für die Branche so
wichtige Sechste Nationale Maritime Konferenz, die am
Sonntag in Rostock beginnt, ein wirtschaftlich freundlicheres Umfeld gewünscht. Aber ich glaube, zu Recht sagen zu können: Wir haben in vielen Bereichen schnell
und entschlossen gehandelt: auf der einen Seite durch
den Bankenschirm, mit dem wir die Funktionsfähigkeit
des Finanzsystems gesichert haben, und auf der anderen
Seite durch die von uns auf den Weg gebrachten zwei
Maßnahmenpakete, die mit Kreditprogrammen und
Bürgschaftsmöglichkeiten auch der maritimen Branche
helfen. Wir haben das Investitionsprogramm aufgestockt, von dem die See-Hinterland-Anbindung profitieren kann und vieles andere mehr.
({0})
Für uns ist es wichtig, dass wir die Liquiditätsengpässe, die momentan bestehen, überbrücken und den Unternehmen, die gesund sind, helfen, an das andere Ende
des Ufers zu kommen. Wir haben es Gott sei Dank geschafft, dass im KfW-Sonderprogramm der Schiffbaubereich explizit genannt worden ist.
({1})
Das Programm wird gut angenommen. Ich habe gestern
die Zahlen abgerufen. Es sind inzwischen Kreditanträge
in einem Volumen von 200 Millionen Euro im Bereich
der Bauzeitfinanzierung bewilligt worden. Ich glaube,
das ist eine beachtliche Zahl. Hinsichtlich der Bauendfinanzierung beträgt die Zahl 5,1 Millionen Euro. Es sind
noch sehr viele Anträge - ein Volumen von 181 Millionen Euro - in Bearbeitung. Wir müssen schauen, dass
wir noch schneller vorankommen.
Wir haben CIRR flexibler aufgestellt. Bis jetzt war es
nur möglich, CIRR zu beantragen, bevor man einen
Schiffbauauftrag vergeben hat. Zukünftig versuchen wir,
das flexibler zu handhaben und auch dann noch CIRR zu
bewilligen, wenn der Schiffbauauftrag schon erteilt worden ist. Wir haben die Deckung bei den Hermesbürgschaften von 80 Millionen Euro auf 300 Millionen Euro
erhöht. Wie man sieht, sind wir aktiv geworden. Daneben gab es viele runde Tische mit den Beteiligten, ob das
die Banken, die Reeder oder die Werften gewesen sind,
die immer von den Sozialpartnern begleitet wurden.
Man muss sich aber über eines klar sein: Der Staat kann
nur unterstützend helfen.
({2})
Richten müssen es die maritimen Akteure selbst.
({3})
Wir selbst können uns nicht an einer Werft beteiligen.
Das spreche ich ganz klar und deutlich hier aus. Wir
können auch nicht als Reeder von Containerschiffen tätig werden. Auch wird es keine Abwrackprämie für
Schiffe geben. Auch das spreche ich hier explizit an,
weil ich gerade in letzter Zeit darauf von der Branche angesprochen worden bin. Wir haben eine Krise, und die
Krise ist tiefgreifend, aber - davon bin ich wirklich überzeugt - sie wird nicht von Dauer sein. Auf das Ende der
Krise müssen wir vorbereitet sein. Wir sind momentan in
einem Tal, aber wir werden wieder herauskommen. Die
maritime Branche ist eine Zukunftsbranche.
({4})
Das müssen wir wissen, und das müssen wir uns vor Augen halten. Die Globalisierung hört nicht von heute auf
morgen auf. Die Globalisierung wird weiter voranschreiten, die Menschen werden weiter Güter, Nahrung und
Rohstoffe brauchen. Der internationale Handel wird wieder zunehmen. Natürlich wird die Seefahrt zukünftig dabei eine ganz wichtige Rolle spielen. Wir brauchen also
weiterhin unsere leistungsfähigen Häfen, die wir haben,
wir brauchen weiterhin unsere Werften, die hochinnovativ sind.
Am Sonntag findet die Sechste Nationale Maritime
Konferenz statt. Es wird dort keine Small Talks geben,
und es wird dieses Mal nicht einfach werden. Wir werden mit der Krisenbewältigung zu tun haben. Das kann
man nicht einfach zur Seite schieben, aber es wird auch
andere Themen geben. Es wird um Forschung und Entwicklung gehen, es wird um Innovation gehen, und es
wird um Nachwuchssicherung gehen. Ich erwarte mir
Handlungsempfehlungen von allen Akteuren. Wir werden wieder wie auch bei der letzten maritimen Konferenz ein Pflichtenheft auflegen, das wir genauso wie das
Pflichtenheft abarbeiten werden, das wir zur Fünften Nationalen Maritimen Konferenz aufgelegt haben. Ich mache mir keinen Sorgen, dass wir das schwere Fahrwasser
durchschiffen werden. Wir sind gut aufgestellt. Wir haben unsere Stärken. Wir dürfen nicht nur von den momentanen Problemen reden. Wir müssen auch darstellen,
wo unsere Stärken liegen.
({5})
Unsere Stärken sind die leistungsfähigen Häfen. Allein
im letzten Jahr betrug der Umsatz über 320 Millionen
Tonnen. Das muss man sich einmal vorstellen. Wir haben eine unwahrscheinlich große Handelsflotte. Die
deutschen Reeder haben 3 300 Schiffe.
({6})
Es sind große Leistungen erbracht worden. Wir haben
sehr leistungsfähige Werften, die hochinnovativ sind,
mit Spitzentechnologie arbeiten und die sich rechtzeitig
darauf eingestellt haben, nicht auf Massengutfrachter zu
setzen, sondern die sich spezialisiert haben. Außerdem
haben wir sehr leistungsfähige Schiffbauzulieferbetriebe mit über 75 000 Mitarbeitern. Was die Exportquote angeht, liegen wir damit an erster Stelle.
Ich möchte noch etwas anderes erwähnen, worauf ich
persönlich sehr stolz bin: Unsere Meerestechnologie
- manchmal habe ich das Gefühl, dass sie noch ein
Schattendasein fristet - ist eine Zukunftsbranche. Jeder,
der mich kennt, weiß, dass das für mich ein sehr wichtiges Thema ist. Unser Energiebedarf und unser Rohstoffbedarf werden steigen, und die landseitigen Ressourcen
werden knapper. Das heißt, wir werden Energie und
Rohstoffe zukünftig ökologisch vertretbar aus dem Meer
gewinnen müssen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.
Es geht um Exploration, Gewinnung unterseeischer Ressourcen und Abtransport der Rohstoffe. Dafür brauchen
wir die richtige Technologie. Wenn ich mir unsere Forschungs- und Wissenschaftsinstitute in diesem Bereich,
gerade die in den Küstenländern, anschaue, dann stelle
ich fest: Wir sind unwahrscheinlich gut aufgestellt. Bisher stellen wir unser Licht wirklich unter den Scheffel.
Ich würde sogar sagen: Wir sind in diesem Bereich so
gut aufgestellt, dass wir die Besten auf der ganzen Welt
sind und dass wir auf unsere zukünftigen Aufgaben hervorragend vorbereitet sind.
({7})
- Lieber Kollege, wir haben allein in den letzten Jahren
20 Millionen Euro zur Förderung dieses Bereichs bereitgestellt. Wenn Sie sich mit diesem Bereich auskennen,
dann wissen Sie, was SUGAR ist: Wir fördern in
6 000 Metern Tiefe, um Erdgas zu gewinnen und um
CO2 im Meer zu binden. Ich glaube, wir sind auf diesem
Forschungsfeld wirklich spitze. Die Entwicklung dort ist
zwar noch nicht beendet, aber sehr weit vorangeschritten.
({8})
Zum Ende meiner Rede möchte ich eine Hoffnung äußern. Wir haben uns in den letzten Jahren sehr viel Mühe
hinsichtlich der Nachwuchssicherung in diesem Bereich
gegeben; das war auch ein wichtiges Thema der letzten
maritimen Konferenz. Alle haben daran gearbeitet; die
Sozialpartner haben kräftig mitgeholfen; die Länder haben ihre Ausbildungskapazitäten erweitert. Auch von
unserer Seite ist sehr viel getan worden; die Verbände
haben ebenfalls sehr viel getan, zum Beispiel sehr viel
Geld in die Hand genommen. Wir sind auf einem guten
Weg: Die Anzahl der Nautiker und die der Schiffsbetriebstechniker steigen. An der Steigerung der Anzahl
der Ingenieure müssen wir noch arbeiten. Die Abbrecherquote von 30 Prozent in diesem Bereich ist leider
immer noch zu hoch.
Ich kann an die vielen jungen Menschen nur appellieren: Meerestechnologie ist eine Zukunftsbranche. Sie
sollten sich von dem momentanen Tief und auch von den
Kassandrarufen in fast allen Zeitungen nicht irremachen
lassen. Ich wiederhole: Es ist eine zukunftsfähige Branche. Ich kann wirklich mit ruhigem Gewissen sagen:
Bauen Sie Ihre Zukunft darauf auf! Wenn Sie sich dafür
entscheiden, haben Sie eine gute Entscheidung getroffen.
({9})
Es gilt, Strukturen zukunftsfähig weiterzuentwickeln,
technologische Entwicklungen und Innovationen voranzutreiben und in die Zukunft zu investieren; das ist gerade im technologischen Bereich ganz wichtig. Wenn bewerkstelligt wird, dass jeder in diesem Bereich seine
Hausaufgaben macht, dann ist mir nicht bange, sondern
ich glaube, dass wir aus diesem Prozess gestärkt herauskommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege
Hans-Michael Goldmann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn Sie eine Besuchergruppe wären, würde
ich sagen: Moin!
({0})
Dann wüsste sie in etwa, woher man kommt.
({1})
Um zu untermauern, warum man natürlich eine besondere Beziehung zur maritimen Wirtschaft hat, wenn
man aus dieser Region kommt: Papenburg baut ziemlich
gute Schiffe.
({2})
- Frau Dr. Dückert, auch Sie waren schon einmal da und
haben ein Lob ausgesprochen. Ich bin immer froh, wenn
Grüne etwas loben.
Wir sind in besonderer Weise daran interessiert, dass
dieser Bereich Kurs hält. Ich kann das, was Sie gesagt
haben, im Wesentlichen nur unterstützen: Es ist ein toller
Bereich; es macht unheimlich viel Spaß, für diesen Bereich zu arbeiten. Im Moment hat er - wie viele andere
Bereiche - Schwierigkeiten. Aber man muss natürlich
auch sagen: Dieser Bereich war in einem Hoch. Das war
besonders positiv und besonders bemerkenswert.
Ich habe eine besondere Beziehung zum Wahlkreis
Leer. Vielleicht kennen Sie Leer. Es ist relativ einfach,
sich diesen Namen zu merken: Das, was auf dem Nummernschild der Autos steht, klingt genauso wie der
Name der Stadt. Aber viele wissen nicht, dass Leer der
zweitgrößte Reedereistandort der Bundesrepublik
Deutschland ist. Wie kommt das? In Leer gibt es eine
Seefahrtsschule, aus der viele tüchtige Leute hervorgegangen sind,
({3})
die das gemacht haben, was man in dieser Zeit machen
musste: modernsten Schiffbau realisieren, und dies mit
guten finanziellen Rahmenbedingungen, die in Deutschland herrschen, die Tonnagesteuer nutzen, Ausbildung
betreiben, Spezialschiffe auf den Markt bringen. Reeder
aus dieser Region sind von der Krise nicht derart betroffen wie andere, weil sie in Bezug auf ihre Schiffe eine
gute Mischung haben.
Derjenige, der im Moment Containerschiffe hat, ist
schlecht dran. Mehr als 1 000 davon liegen in Singapur
fest, wie ich gehört habe; auch oben an der Küste liegt
jede Menge davon. Aber wenn man das Richtige macht,
dann kann man erfolgreich sein; in diesem Bereich, der
in klassischer Weise nachhaltig geprägt ist, nämlich ökonomisch, ökologisch und sozial, kann man damit sehr erfolgreich sein.
({4})
Es war eine gute Idee, die damals unser Kollege
Robbe hatte, als er in Verbindung mit dem damaligen
Bundeskanzler Schröder die maritime Konferenz aus
dem Boden gestampft hat - die erste fand in Emden statt und den maritimen Koordinator erfunden hat. - Frau
Wöhrl, wir hatten schon einmal einen, der seine Rede bei
einem nautischen Essen in Emden mit einem „Glück
auf“ abschloss; er kam aus einer etwas anderen Branche.
Obwohl Sie aus Nürnberg kommen, haben Sie sich wirklich sehr gut und sehr schnell eingearbeitet. Es macht
einfach Spaß, Sie auf vielen Veranstaltungen zu hören;
das machen Sie gut.
({5})
Wir werden auch in Rostock wieder die Weichenstellungen vornehmen, die notwendig sind, um aus den momentanen Schwierigkeiten herauszukommen.
Das gilt auch für viele Elemente des heute hier vorliegenden Antrags. Die Zukunftsstrategie bei Leadership,
die Investitionsförderung im Schiffbau, die Investitionen
in die Wasserstraßen, die Senkung der Lohnnebenkosten, die Ausbildungsplatzförderung in der Seeschifffahrt
und der Kampf gegen die Piraterie, all das sind Dinge,
die wir nur unterstützen können.
Ich bin auch froh darüber, dass wir im Offshore-Bereich eine raumordnerische Lösung gefunden haben, die
dazu führt, dass das Gesamtpotenzial auf den Weg gebracht werden kann. Das gilt nicht nur für Cuxhaven,
sondern auch für Emden und andere Standorte an der
Küste. Jetzt müssen wir noch dafür sorgen, dass wir den
Strom anschließend auf vernünftige Weise an Land bekommen. Dazu muss man kluge Wege gehen und großzügig sein, selbst wenn es manchmal teuer ist; denn wir
bekommen diese Trassen nur platziert, wenn wir dabei
auch die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Meines
Erachtens sind wir hierbei insgesamt auf einem sehr guten Weg.
Aber es gibt in diesem Antrag ebenso Schattenseiten,
die vielleicht nur aus einer gewissen Unüberlegtheit resultieren. Ich spreche eine Angelegenheit an, die Sie in
Ihrem Antrag zum Ausdruck bringen, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Koalitionsfraktionen: Das sind die
Fristen für die Rückflaggung. Erstens ist nicht ganz richtig, was Sie darin sagen. Es geht um 500 Schiffe, und
zwar bis 2010, aber sei es drum; darüber wollen wir
einmal hinwegsehen. Aber in dieser Zeit, in der diese
Branche unter einem enormen Druck steht, das Ziel zu
postulieren, nicht nur 500, sondern 600 Schiffe rückzuflaggen, ist schlicht verkehrt. Das bringt nichts; vielmehr
muss man hier auf Folgendes hinweisen: Wir haben eine
besondere Situation. Die Reeder haben ihre Aufgaben
erfüllt, 500 Schiffe sind da. Wir haben die Möglichkeit,
damit das deutsche Register zu stärken, die Ausbildungsplatz- und die Beschäftigungssituation zu verbessern, aber damit ist es dann auch gut.
Einen anderen Punkt, der uns immer wieder am Herzen liegt, sprechen Sie nicht an. Ich verstehe nicht, warum das Haus - in diesem Falle, kurz gesagt, das Verkehrsministerium - so unflexibel ist. Es geht mir um die
Übertragung von Aufgaben an Private. In meinen Augen
ist es einfach haushalterischer Blödsinn - so will ich einmal vorsichtig sagen - und fachlich nicht geboten, dafür
zu sorgen, dass dies sozusagen bundeseigene Schiffe
sind. Solche Spezialschiffe können durchaus auch Reeder bauen und sie dann dem Bund zur Verfügung stellen,
um damit hoheitliche Aufgaben wahrzunehmen.
({6})
Hinzu kommt, dass auf diesen Schiffen nicht nur hoheitliche Aufgaben wahrgenommen werden; vielmehr
kann man das sehr intelligent miteinander vernetzen, gerade in der jetzigen Zeit, da die Reeder danach suchen, in
welchem Spezialschiffbau sie Aufträge akquirieren können, die den Werften dann auch helfen.
Darüber haben wir auch schon einmal gesprochen,
Frau Wöhrl: Zukünftig geht es bei aller Vorsicht entscheidend darum, dass die deutschen Werften Spezialschiffbau betreiben. Die Zeit des Containerschiffbaus ist
vorbei, ob man dies nun beklagt oder nicht, und wir
müssen unsere Werften dahin gehend konditionieren,
dass sie vom Personal und von der technischen Ausstattung her in der Lage sind, diesen Spezialschiffbau zu
realisieren. Darum müssen wir uns gemeinsam kümmern.
({7})
Lassen Sie uns mit ThyssenKrupp Marine Systems
beginnen und beobachten, wie die Standortfrage geklärt
wird. Sie dürfen das nicht nur ihren speziellen Vorstellungen unterordnen und entscheiden, für die Bundeswehr in Kiel zu bauen, Emden zu schließen und in Hamburg Passagierschiffe und Megajachten zu bauen. So
geht es nicht. Man muss klar feststellen: Für diesen Verbund hat es damals politische Weichenstellungen gegeben. Dabei müssen auch Werften nach alter Art wie die
Nordseewerke eine Chance haben; denn sie sind im Spezialschiffbau erprobt. Man muss in diesem Bereich Weichenstellungen vornehmen.
({8})
Wir müssen auf die Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation
drängen. Es ist prima, dass Sie, Frau Wöhrl, die Problematik der Ingenieurslücke angesprochen haben; denn
wir haben in diesem Bereich ein riesiges Problem, und
wir müssen an einem Strang ziehen. Beziehen Sie das
jetzt nicht zu sehr auf örtliche Begebenheiten, aber es ist
schon ein dolles Ding, was in der Seefahrtsschule in
Leer passiert ist. Über Jahre hat die Seefahrtsschule versucht, sich neue Standbeine zu erarbeiten. Sie ist dabei
politisch ungenügend begleitet worden. Das ist zwar in
der Tat ein Thema der niedersächsischen Ebene,
({9})
aber ich finde, dass wir in Gesamtverantwortung dafür
sorgen müssen, dass die Entwicklungen in diesem Bereich vorangetrieben werden.
Lassen Sie mich einen weiteren Bereich ansprechen,
in dem wir an einem Strang ziehen sollten: Der eine oder
andere von Ihnen kennt sicherlich den berühmten ISPSCode. Die Überlegung war, den ISPS-Code auf den gesamten Bereich der maritimen Wirtschaft, also auch auf
die Binnenschifffahrt, zu übertragen. Das ist Schwachsinn. Auch wenn die Amerikaner nach den Erfahrungen,
die sie gemacht haben, extreme Angst vor terroristischen
Anschlägen haben, was ich verstehen kann, ist ein ISPSCode, der jeden Container - das sind Millionen und
Abermillionen - scannt, nicht realistisch. Man muss den
Amerikanern deutlich machen, dass das mit uns nicht zu
realisieren ist. Dieser Ansatz setzt an der falschen Stelle
an. Das Verhältnis von Aufwand und Wirksamkeit muss
erhalten bleiben.
Mein letzter Punkt ist die Stromversorgung von Land.
Das ist ein ganz heißes Thema. Wenn die Bild-Zeitung
auf der ersten Seite schreibt, dass jemand, der an einer
Schleuse am Nordostseekanal wohnt, meint, er bekomme Krebs, weil Schiffe herumtuckern, dann ist das
von der Sache her nicht geboten; das ist keine Frage.
Aber wir müssen uns damit beschäftigen. Wenn
30 Prozent der Staubemissionen an den Küsten durch
Schiffsverkehr entstehen, dann haben wir ein Problem.
Aber wir haben auch eine Chance; denn im CO2-Bereich
sind die Schiffe absolute Spitze. Was andere Bereiche
- Schwefel und Stickstoff - betrifft, müssen wir im Umweltbereich Anstrengungen unternehmen.
({10})
- Ja, das ist richtig, aber es ist nicht sehr viel passiert,
lieber Kollege Steenblock. Wir sind in Hamburg gerade
dabei, das Ganze für die großen Passagierschiffe hinzubekommen. Wir können alle gemeinsam helfen. Im Bereich der maritimen Wirtschaft kann uns nichts Schlimmeres passieren, als dass sich etwas gegen den
ökologischen Verkehrsträger Schiff aufbaut, was wir
dann nicht mehr lösen können, weil es zu viel Widerstand gegen gute Lösungen gibt. Deswegen sollten wir
in dieser Frage so viele Gemeinsamkeiten wie möglich
erreichen.
In dem Antrag stehen gute und schlechte Dinge. Wir
werden uns bei der Abstimmung enthalten
({11})
und weiterhin die maritime Arbeit positiv begleiten. Wir
sehen uns alle in Rostock wieder. Bis dann.
({12})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Margrit Wetzel
von der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Goldmann, mit der Enthaltung können wir
leben.
({0})
Ich finde, wir bekommen das auch so hin.
Die maritimen Konferenzen sind eindeutig eine Erfolgsgeschichte. Wir wollen auch in Zeiten der Wirtschaftskrise, dass das maritime Bündnis und alle maritimen Vereinbarungen weiter zu einem Erfolg beitragen.
Wir müssen den Stand halten. Deshalb ist die Kernbotschaft unseres Antrages, den wir sehr bewusst noch vor
der maritimen Konferenz platziert haben, klar: Wir wollen, dass die Strategie - erfolgreiche maritime Vereinbarungen, erfolgreicher Standort Küste - erfolgreich fortgesetzt wird.
({1})
Dass das nicht einfach ist, wissen wir. Den Schiffbau
hat es als Erstes sehr hart getroffen; das kann man nicht
wegdiskutieren. Die Aufträge brechen weg. Aber wir
wissen ebenso, dass die Prozess- und Produktinnovationen unsere Werften in die Lage versetzen, die Nase weltweit vorn zu haben. Das ist wichtig. Deshalb, Frau
Wöhrl, ist es Ihre Aufgabe, bei der Europäischen Union
hartnäckig dafür zu werben, dass die Innovationsförderung nicht von Aufträgen abhängig gemacht wird.
Auch wir als Parlament haben uns positioniert. Wir
wollen den Werften helfen, indem wir für die Zeit von
2009 bis 2011 auf die Rückzahlung der Innovationsförderung verzichten. Herzlichen Dank an die Kollegen
Volker Kröning und Eckhardt Rehberg, denen es maßgeblich zu verdanken ist, dass wir das so festschreiben
konnten!
({2})
Frau Wöhrl, der Arbeitskräftepool steht vor einer Nagelprobe.
({3})
Eigentlich gehen wir seit Jahren davon aus, dass er sich
in einer Krise wie dieser bewähren würde. So weit ist es
aber immer noch nicht. Wir müssen die Nachwuchssicherung großschreiben und vor allen Dingen dafür sorDr. Margrit Wetzel
gen, dass die Krisenzeit für Qualifizierung genutzt wird;
denn wir alle wissen aus den letzten Jahren, dass wir zu
wenig Fachkräfte haben. Qualifizierung in dieser Zeit ist
wichtig, um die Fachkräfte halten zu können.
({4})
Wenn wir das nicht machen, stehen wir wieder hintan.
Die maritimen Technologien sind schon erwähnt worden. Sie haben im Grunde eine glänzende Zukunft. Das
ist eine Aussicht, die uns alle beflügeln muss. Die deutschen Unternehmen und die Institutionen haben die nötige Systemkompetenz, um sich diesen Markt der Zukunft zu erschließen. Sie werden das erfolgreich tun,
nicht nur bei der Offshore-Windkraft, sondern auch bei
der Polartechnik, der Öl- und Gasgewinnung, der ökologischen Gewinnung mineralischer Rohstoffe und vor allem mit Blick auf das gewaltige Potenzial an Energie,
das das Meer birgt. Das ist alles längst noch nicht erschlossen. Da haben wir Herausforderungen zu bestehen. Dabei müssen wir immer bedenken, dass wir eine
ökologische Verpflichtung haben, sicherlich auch zum
Nutzen der Wirtschaft - das ist ganz klar -, aber vor allem zum Nutzen der Menschen und des Klimas.
In den Häfen macht uns große Sorge, dass dort Beschäftigungslosigkeit droht. Darum müssen wir uns
kümmern. Auf der anderen Seite - da geht ein Dank an
Frau Roth; das nationale Hafenkonzept hat garantiert
eine gute Zukunft - bitten wir darum, die Masterpläne
Güterverkehr und Logistik auf EU-, Bundes- und Landesebene zu verknüpfen, damit die Häfen auch für die
Zukunft gut aufgestellt sind. Es wird garantiert eine positive Zukunft sein,
({5})
denn der Welthandel wird wieder zunehmen; das ist
überhaupt keine Frage.
Dann zum Thema Schifffahrt, das Sie eben schon angesprochen haben, Herr Goldmann. Es ist richtig: Die
Aufträge und die Raten brechen weg. Aber wir alle haben in den vergangenen Jahren verfolgt, welche hervorragenden Umsätze die Reeder gemacht haben. Ein verantwortungsvoller Unternehmer legt Polster an und sorgt
in guten Zeiten für schlechte Zeiten vor. So einfach ist
das.
({6})
Ich gehe davon aus, dass die Reeder entsprechende Polster angelegt haben.
Wir haben ganz bewusst gefordert, ein verbessertes
Rückflaggungsverhalten der Reeder auch in Zeiten der
Krise festzuschreiben. Wir stärken damit ganz bewusst
der Staatssekretärin und unseren Vertretern im entsprechenden Workshop den Rücken. Wir wollen als Parlament deutlich machen, dass wir die 600 internationalen
Handelsschiffe in den Jahren 2009 und 2010 erwarten,
im Übrigen nicht erst in den Monaten November und
Dezember 2010; auch das muss einmal betont werden.
({7})
Wir wollen vor allem, dass neue Ziele vereinbart werden. Wir wollen eine Poolbildung bei Einschiffsreedereien. Auch denen stünde eine Rückflaggungsquote gut
zu Gesicht.
({8})
Wir wollen nicht, dass die, die richtig was machen, weniger rückflaggen. Aber die Einschiffsreedereien müssen
ebenfalls gebeten werden, die deutsche Flagge zu unterstützen.
({9})
Wir wollen vor allen Dingen, dass das Verhältnis der
deutschen Flagge zur Drittstaatenflagge deutlich verbessert wird. Das schreiben wir in unserem Antrag fest, und
das ist wichtig.
Ein weiterer Punkt unseres Antrages ist die Ausbildung. Ich will jetzt nicht alles wiederholen, was im Antrag steht. Wir wissen, wie intensiv die Ausbildungsbemühungen in der Vergangenheit waren, aber sie müssen
fortgesetzt werden.
Vor allen Dingen haben wir den sehr positiven Bereich des Klima- und Umweltschutzes aufgenommen,
der bei den Reedern zum Teil ein bisschen umstritten ist;
denn verbesserte Treibstoffe sind natürlich auch teurer.
Aber die Beschlüsse der IMO zur Reduzierung von
Schwefel-, Stickoxiden und CO2 halten wir für absolut
richtungweisend.
({10})
Allerdings sind wir der Meinung, dass die Schwefelemissionsüberwachungsgebiete für die Nord- und Ostsee
zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Weil sie aber den
Klimaschutz fördern, wollen wir, dass sie auf die anderen europäischen Binnenmeere entsprechend ausgeweitet werden. Daran werden wir noch stark arbeiten müssen.
({11})
Es ist richtig, dass die Bundesregierung und die Reeder eine Studie in Auftrag gegeben haben, in der der
Preis und die Verfügbarkeit der sauberen Treibstoffe untersucht werden sollen. Aber Treibstoffe sind eben nicht
alles. Herr Goldmann, Sie hatten schon die Landstromversorgung erwähnt. Wir halten die Landstromversorgung durchaus für positiv. Aber wir sehen auch sehr
deutlich, dass da noch einige Fragen zu klären sind.
Da ist zunächst einmal die Frage: Für welche Häfen
und für welche Schiffe? Denn diese Art der Versorgung
ist nicht für alle Schiffe und für alle Häfen verfügbar.
Das wissen wir sehr genau. Die nächste Frage lautet:
Wie sieht die Gesamtumweltbilanz aus? Wir wollen sicherlich keine Landstromversorgung mit einem Kohlekraftwerk nebenan. Ich hoffe, darin sind wir uns einig.
Internationale Standards müssen geklärt werden. Das
gilt für die Stromspannung genauso wie für die bordsei23204
tigen Anschlüsse. Außerdem gehört zur Daueraufgabe,
dafür zu sorgen, dass die EU die Befreiung des Landstroms von der Stromsteuer genehmigt.
({12})
- Natürlich ist das eine Aufgabe. Ich dachte, Sie sind
darüber informiert, Herr Goldmann.
({13})
Es geht weiterhin um technische Innovationen beim
Schiffsbau und auch beim Schiffsbetrieb. Wichtig ist,
dass wir technologieoffene Lösungen entwickeln. In der
Seeschifffahrt darf es keine umweltpolitischen Sonderrollen zum Beispiel für Entwicklungsländer geben. Ansonsten würden Standortverlagerungen drohen. Damit
würde sich ein kontraproduktiver Effekt ergeben.
({14})
Beim Schiffsbetrieb setzen wir auch auf die Fachkompetenz gut ausgebildeter und gut qualifizierter
Crews. Energieeffizientes Fahren, Ausschöpfung aller
Möglichkeiten zur Emissionsminderung, das Erreichen
eines optimalen Verhältnisses von Geschwindigkeit und
Treibstoffverbrauch, eine umsichtige Routenplanung
oder SkySails, also die Ausnutzung der natürlichen Kraft
des Windes: All das sollten wir ausnutzen.
Beim Emissionshandel sind wir uns ebenfalls einig:
Die Seeschifffahrt soll in den Emissionshandel eingebunden werden. Aber auch da darf es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommen. Ich finde es sehr gut, dass
die IMO neben dem Emissionshandel auch ein Kompensationsmodell diskutiert. Wenn den Belastungen Einnahmen in gleicher Höhe gegenüberstehen - das gilt auch in
Entwicklungsländern, wo die größten Effekte erzielt
werden -, dann sollten wir für die Lösungen offen sein,
die den größten Nutzen für die Ökologie bringen.
({15})
Die globale Wirksamkeit geht unseres Erachtens sowohl
auf der Einnahmenseite als auch auf der Ausgabenseite
vor.
Meine Bitte ist, unseren Antrag zu unterstützen. Die
FDP ist damit nicht gemeint,
({16})
aber die Grünen und die Linken, die sich bisher noch
nicht positioniert haben.
Mein Wunsch ist, dass die maritime Konferenz dazu
führt, dass wir weiterhin zukunftsweisende Beschlüsse
fassen, die den Standort Deutschland wirklich voranbringen und deutlich machen, dass es sich - auch in der
Krise - um eine Erfolgsgeschichte handelt. Dafür müssen wir einen klaren Kurs halten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Lutz Heilmann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine gute Nachricht vermeldeten gestern die
Lübecker Nachrichten: Auch wenn die Umschlagszahlen im vierten Quartal 2008 um 20 Prozent eingebrochen
sind, gibt es im Lübecker Hafen erst einmal keine Kurzarbeit.
Ganz anders sieht es bei der HDW-Werft in Kiel aus,
die Kurzarbeit angemeldet hat. Das wurde notwendig,
weil die Auftraggeber keine Finanzierungszusage von
den Banken erhalten haben. Die Kieler Werft Lindenau
meldete bereits Insolvenz an. Bei den Werften von ThyssenKrupp in Emden und Kiel wurde vor kurzem der Bau
von vier Containerschiffen gestoppt. Der Grund waren
wiederum fehlende Finanzierungszusagen von Banken.
Die Wadan-Werften in Wismar und Rostock warten
schon seit Monaten auf die versprochenen Aufträge ihrer
neuen russischen Eigner. Seit September 2008 haben
drei weitere norddeutsche Schiffbaubetriebe Insolvenz
angemeldet: die Schichau Seebeckwerft in Bremerhaven, die Cassenswerft in Emden und die SMG-Werft in
Rostock.
Reeder in Wedel erhalten keine Kredite, um den Bau
von Schiffen zu Ende zu führen, und gehen sprichwörtlich mit der Dose betteln. Das war letzte Woche Freitag
im Schleswig-Holstein-Magazin zu sehen. Der Vorsitzende des Schiffbauverbandes sagte gegenüber dem
Norddeutschen Rundfunk: Serienschiffbau wird es in
Deutschland mit Sicherheit nicht mehr geben.
In den Häfen Hamburgs und Rostocks gibt es Kurzarbeit. Die Hamburger Hafen- und Lagergesellschaft rechnet mit einem schwierigen Jahr 2009.
Dies ist die Realität der letzten Wochen in weiten Teilen der maritimen Wirtschaft. Ich bin froh, dass auch von
der Frau Staatssekretärin und meinen übrigen Vorrednern anerkannt wurde, dass wir eine Krise haben;
denn Ihr Antrag lässt diese Erkenntnis vermissen. In Ihrem Antrag blenden Sie diese Realität aus.
({0})
In Ihrem Antrag findet sich gerade einmal in zwei Sätzen
das Wort „Krise“, ansonsten nicht.
({1})
Im Bericht der Bundesregierung ist von einer zyklischen
Wachstumsdelle die Rede. Von Krise will die Bundesregierung in diesem Bericht nichts wissen. Es ist eine Verhöhnung der betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter in
den Werften, wenn Sie in Ihrem Bericht schreiben - ich
zitiere -:
Die Bundesregierung hat auf die Herausforderungen der Finanzmarktkrise und ihre Auswirkungen
auf die Gütermärkte schnell und entschlossen reagiert. Mit dem Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung wurde die Grundlage zur Stabilisierung des
Bankensektors und zur Kreditversorgung der Wirtschaft geschaffen.
Wo ist die HSH Nordbank, deren Kerngeschäft doch
die Schiffsfinanzierung ist? Können Sie mir sagen, wie
es sein kann, dass sich eine Bank, in die Sie gerade Milliarden versenkt haben, weigert, Werften und Reedern
Finanzierungen zu gewähren? Sie vernebeln, Sie reden
klein und lassen die Menschen im Regen stehen.
Erlauben Sie mir jetzt, ein paar Gedanken zu Ihrem
Antrag zu äußern. Zum Abschnitt Schiffbau. Sie sprechen von Maßnahmen zur Schließung der Ingenieurlücke und zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses.
Das kann ich unterschreiben. Berufe im Schiffbau werden stark nachgefragt, wie diese Woche auch die Lübecker Nachrichten wieder meldeten. Das alles sind zwar
schön geschriebene Sätze. Aber was ist, wenn es keine
Werften mehr gibt, in denen die Fachkräfte arbeiten können?
Sie wollen prüfen, ob Schiffbauaufträge der Bundesministerien bzw. der Bundesbehörden zeitlich vorgezogen werden können. Auch hier könnte ich guten Gewissens zustimmen, wenn es sich dabei natürlich um zivile
und nicht um militärische Schiffsneubauten handelt.
Zum Abschnitt Hafenwirtschaft und Logistik. Die
Koalition begrüßt den Entwurf eines nationalen Hafenkonzepts. Endlich, kann ich nur sagen: Jahrelang haben
Sie uns vertröstet. Es gab immer wieder Ausreden. Aber
schauen wir uns den Entwurf einfach einmal an: Was
stellen wir fest? Nichts ist zu lesen von einer Kooperation der deutschen Seehäfen an der Nordrange, nichts
von einer eindeutigen Bevorzugung der Bahn bei der
Hinterlandanbindung. Die Beseitigung von sogenannten
Infrastrukturhemmnissen wird zum Oberziel erklärt.
({2})
Umwelt- und Klimaschutz verkommen zu Lippenbekenntnissen.
({3})
Lassen Sie mich gleich zum Kapitel Klima- und Umweltschutz kommen. Sie wollen Bemühungen unterstützen, Schiffsemissionen durch eine landseitige Stromversorgung in Häfen zu reduzieren. Frau Kollegin Wetzel,
Sie haben das angesprochen; wir haben auf unserer
Reise durch Schweden und Dänemark im letzten Jahr
recht viel darüber diskutiert. Aber es reicht nicht, sozusagen einen Einheitsstecker für diese ganze Sache zu suchen. Es muss mehr her, zum Beispiel - Sie haben es angesprochen - die Befreiung von der Stromsteuer. Ich
habe mehrmals nachgefragt: Das Finanzministerium hat
mir immer wieder gesagt, ein entsprechender Antrag sei
eingereicht. Es liege jetzt an der Europäischen Kommission. Ich bitte Sie: Tun Sie als Regierung etwas dafür!
Ihr Umweltminister hat letztendlich ganz gut dafür gekämpft, dass die für Pkws zulässigen CO2-Werte hochgesetzt wurden und der Klimaschutz im Pkw-Verkehr ad
absurdum geführt wurde. Ich bitte Sie also darum.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nächste Woche findet in Rostock die Sechste Nationale Maritime Konferenz statt. Eine Menge Reden und Workshops stehen auf
dem Programm. Sogar ein Workshop zum Umweltschutz
ist vorgesehen. Bedauerlicherweise darf der Parlamentarische Staatssekretär des Umweltministers seine Gedanken und Anregungen erst am Ende der Konferenz kundtun. Ich hätte es, wenn wir schon von nachhaltiger
Entwicklung und nachhaltiger Politik sprechen, als gut
empfunden, wenn der Umweltstaatssekretär die Möglichkeit gehabt hätte, am Anfang der Konferenz über
Klimaschutz usw. in der maritimen Wirtschaft zu sprechen,
({4})
damit seine Anregungen dann in die Workshops einfließen können. Ich halte es nicht für richtig, dass er am
Ende der Veranstaltung als eine Art Feigenblatt auch
noch ein paar Worte sagen darf.
Ich vermisse konkrete Workshops dazu - ich war erstaunt, dass auch die Bundesregierung anerkennt, dass
wir eine Krise haben; ich habe schon darauf hingewiesen -,
wie wir aus der Krise herauskommen wollen. Schaue ich
mir die Tagesordnung an, so stelle ich fest, dass es dazu
nichts gibt. Soll das wieder in den Anfangsreden hübsch
dargestellt werden, und dann wird es so gemacht, wie
Sie sich das vorstellen? Das ist nicht der richtige Weg.
Auch hier zeigt sich klipp und klar, dass Sie die Krise
völlig ausblenden, nach dem Motto: Was nicht sein darf,
kann auch nicht sein.
Zum Schluss möchte ich festhalten: Die Regierung
wird ihrer Verantwortung nicht gerecht. Der uns vorliegende Antrag blendet die Realität der Krise aus. Gleiches gilt für den vorgelegten Bericht. Sie vernebeln, Sie
reden klein, und Sie lassen die Menschen im Regen stehen. Die Linke fordert einen Schutzschirm für die Menschen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Rainder Steenblock für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat ihren Jahreswirtschaftsbericht
2008 mit dem Motto „Kurs halten!“ versehen. Was aus
diesem Motto am Ende - am Ende des Jahres 2008 und
dann Anfang des Jahres 2009 - wurde, haben wir alle erlebt. Es war notwendig, das Steuer dramatisch herumzureißen, weil Kurs halten manchmal auch bedeuten kann,
dass man massiv aufläuft und dass große Unfälle geschehen können.
Bei dem, was wir heute haben, wurde nicht nur das
Motto des letzten Jahreswirtschaftsberichts abgekupfert,
sondern es wurde damit auch eine völlig ahistorische Bewertung der maritimen Wirtschaft in Deutschland verbunden. „Kurs halten!“ ist nicht das Motto. Wenn man
sich den Antrag, den Sie gestern eingebracht haben, und
die Mutter dieses Antrags einmal anschaut, dann stellt
man fest, dass das der Antrag ist, den die rot-grüne
Koalition im Jahre 2005 eingebracht hat.
({0})
- Gucken Sie sich das einmal an, liebe Kollegin. Dieser
Antrag ist fast wörtlich von dem Antrag abgeschrieben,
den Rot-Grün damals eingebracht hat.
({1})
Ich will jetzt gar keine Textexegese machen, aber es ist
nicht nur in den Überschriften, sondern auch in der Sache das Gleiche.
({2})
Da ist nicht einmal im Ansatz irgendetwas Neues drin.
Der Kollege Heilmann hat an dieser Stelle recht: Dieser Antrag bezieht sich in überhaupt keiner Weise auf die
Situation, in der sich die maritime Wirtschaft im Augenblick befindet. In dem Antrag werden Sachen referiert,
die zum Teil völlig richtig sind, die schon immer richtig
waren und die in Zukunft auch richtig sein werden, die
mit der Situation heute aber überhaupt nichts, aber auch
gar nichts, zu tun haben. Aber die Staatssekretärin stellt
sich hier hin und sagt: Das ist ganz toll, wir haben ein
Kreditvolumen von 200 Millionen Euro für den Schiffbau in Deutschland. Ich weiß nicht, ob sie schon jemals
gehört hat, was es kostet, ein Schiff zu bauen, und um
welches Volumen es da geht. Die HSH Nordbank ist einer der großen Schiffbaufinanzierer der Welt; sie hat ein
Schiffbaukreditvolumen von 100 Milliarden Euro. Wir
haben mit der Bank eine Reihe von Schwierigkeiten. Da
geht es aber um ganz andere Größenordnungen. Mit
200 Millionen Euro lässt sich jemand aus Saudi-Arabien
vielleicht eine Jacht bauen, aber damit lässt sich nicht
die internationale Schiffswirtschaft ankurbeln. Diese
Bundesregierung ist hinsichtlich der Kriterien, um die es
eigentlich geht, jenseits von Gut und Böse.
({3})
Ich will das an einem Beispiel noch einmal deutlich
machen. Frau Wöhrl hat ja das Stichwort Abwrackprämie genannt. Worum geht es? Unser Antrag war damals,
Frau Wetzel, mit dem Stichwort „Innovationskraft stärken!“ überschrieben. Ich glaube, wir sind uns alle einig,
dass das richtig ist. Bei dem Stichwort Abwrackprämie
möchte ich zu bedenken geben, dass wir - anders als bei
dem, was die Bundesregierung mit den Autos macht beim Schiffsabwracken ein echtes globales ökologisches
und soziales Problem haben. Denn zwei Drittel der
Schiffe, die weltweit abgewrackt werden, werden in Indien und in Bangladesch unter menschenunwürdigen
und unter ökologisch desaströsen Bedingungen abgewrackt. Das ist eine ganz große Sauerei, die dem internationalen Recht und dem EU-Recht widerspricht. Denn
die Schiffe, die abgewrackt werden, laufen aus den deutschen Häfen unter der Bedingung aus, dass sie als Abfall
deklariert werden und in der EU entsorgt werden müssen.
({4})
Diese Schiffe werden dann aber erst in internationalen
Gewässern als Abfall deklariert. Dann steuern sie Indien
und Bangladesch an, und da werden die Menschen mit
dem Abwracken dieser Schiffe gequält. Das ist unwürdig.
In so einer Situation gilt es, das Potenzial unserer
deutschen Werften zu nutzen und innovative Strategien
für das Abwracken von Schiffen zu entwickeln. Wir haben zig Ölplattformen und Gasförderstrukturen in der
Nordsee, deren Nutzung bald ausläuft und die entsorgt
werden müssen. Einige erinnern sich vielleicht noch an
das Greenpeace-Shell-Spektakel, das wir einmal hatten.
Das ist ein riesiges ökologisches Problem. Hier wären
wir - in dem Sinne, die Krise einmal als Chance zu nutzen - gut aufgestellt, die Arbeitsplätze in Deutschland
innovativ zu nutzen, um ökologische Probleme sozial
und auf einem hohen technischen Standard zu lösen. Es
wäre Aufgabe der Bundesregierung, sich über so etwas
Gedanken zu machen.
({5})
Die Flaggenfrage ist schon angesprochen worden. Die
deutschen Reeder haben international eine machtvolle
Stellung. Wir sind die „Größten“ auf der Welt, was die
bereederten Schiffe angeht. Unter deutscher Flagge fährt
allerdings nur eine Minderheit. Deshalb ist das, was Frau
Wetzel gesagt hat, richtig: Wir müssen uns ehrgeizige
Ziele setzen. Die Subventionen, die den deutschen
Reedern gegeben werden, um ihnen einen Vorteil zu verschaffen, müssen sich in von Deutschland bereederten
Schiffen niederschlagen. Es müssen Arbeitsplätze auf
Schiffen unter deutscher Flagge geschaffen werden, auf
denen die ökologischen und sozialen Standards eingehalten werden. Das ist eine soziale Politik. Eine solche
Politik wird von uns immer unterstützt.
({6})
Es ist überhaupt gar keine Frage - da bin ich voll dabei -, dass wir unsere Forschungsstandorte stärken müssen. Wir haben weltweit führende Forschungsstandorte:
IFM-GEOMAR in Kiel und AWI in Bremerhaven. Wir
haben dort eine hervorragende technische Ausrüstung.
Diese Institute sind weltweit Klasse. Wir müssen das
auch bei der Ressourcenförderung nutzen. Ich finde, das
ist eine wichtige Aufgabe. Wir Grüne sagen: Ja, man
muss darüber reden. Wir wollen aber auch über die KriRainder Steenblock
terien und die Bedingungen diskutieren. Gashydrate sind
nicht automatisch die beste Antwort auf die Energiekrise. Das Gefahrenpotenzial ist nämlich sehr groß.
Trotzdem muss man sich diesen Fragen nähern.
Lassen Sie mich ein Letztes dazu sagen, wie man
diese Krise als Chance nutzen kann. Wir haben schon
vor der Krise bei den Frachtraten eine fallende Tendenz
gehabt. Man hat schon vor der Krise mit Schiffen kaum
noch Geld verdient, eben weil es strukturelle Probleme
in diesem Bereich gibt. Deshalb ist es natürlich wichtig,
unsere Häfen auszubauen. Wir müssen die Verkehre vernünftig organisieren.
({7})
Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Wir führen seit Jahren eine Debatte über die Hinterlandanbindung der Häfen. Wir kommen aber überhaupt nicht voran. Wir müssen die Waren nicht nur in die Häfen schaffen, sondern
sie auch aus den Häfen rausschaffen. Jeder, der weiß,
was in den Häfen passiert, weiß auch, dass das Problem
darin besteht, die Waren aus den Häfen herauszubekommen.
({8})
Wir haben Hamburg als Eisenbahnhafen. Das ist sehr
gut. Aber wir brauchen für Hamburg und Bremerhaven
eine vernünftige Anbindung an die Eisenbahn. Der Ausbau der Knotenpunkte - das wissen alle, die sich mit der
Materie ein bisschen beschäftigen - ist das zentrale
Thema. Wir brauchen keine neuen Autobahnen, sondern
müssen die Hinterlandanbindung der Häfen über die
Schieneninfrastruktur ausbauen.
({9})
- Herr Goldmann, ich weiß das wohl. Ich wurde in Leer
geboren. Von daher müssen Sie mich nicht katholisch
machen. Ich kenne mich an der Küste relativ gut aus,
nicht nur in Leer, nicht nur Ostfriesland, sondern auch in
Hamburg und Schleswig-Holstein. Ich habe dort überall
schon gewohnt. Für jemanden aus Papenburg ist das
vielleicht ein weiter Weg.
({10})
Es ist nun einmal so, dass wir eine andere Verkehrsinfrastruktur brauchen.
({11})
Dafür muss Geld ausgegeben werden. Die Leute dürfen
nicht länger vertröstet werden. So sieht Gestaltung der
Zukunft aus. Dann kann man die Krise als Chance nutzen. Das unterstützen wir.
Danke.
({12}): Das Problem
ist nicht, wie sie reinkommen, sondern das
Problem ist, wie sie rauskommen!)
Nächster Redner ist der Kollege Clemens Bollen für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Papenburg und Leer liegen gar nicht so weit auseinander, lieber Rainder Steenblock. Ich komme aus der Region Leer, Papenburg. Insofern kenne ich die Wege.
Ich freue mich, dass bei der Frage der maritimen
Wirtschaft ein so großer Konsens besteht.
({0})
Da ich die Gesamtentwicklung in der Werftindustrie
über Jahre hinweg aus verschiedenen Perspektiven verfolgen durfte, weiß ich, dass das ein ganz wichtiger
Schritt ist. Ich erinnere mich noch an die Zeiten, in denen die Werftindustrie, die heute eine hochmoderne Industrie ist, in denen der gesamte maritime Bereich als
Altbereich bezeichnet wurde.
({1})
Deshalb bin ich froh darüber, dass wir diesen Konsens
gefunden haben.
Die Maritime Konferenz ist nicht irgendeine Konferenz. Sie setzt Maßstäbe für die weitere Entwicklung.
({2})
Sicherlich kann man über Details reden. Herr
Heilmann, ich freue mich, dass wir darüber diskutieren,
zu welchem Tagesordnungspunkt ein Staatssekretär redet. Über die Einrichtung eines Workshops können wir
gerne reden. Ich glaube aber, dass die Kernprobleme
größer sind. Deshalb ist unser Antrag, der auch mit „In
stürmischer See Kurs halten“ überschrieben werden
könnte, sehr wohl berechtigt. Hier wurde eben die Zahl
1 000 genannt. Sicher ist auf jeden Fall, dass mehr als
500 Schiffe aufliegen. Dies zeigt die gegenwärtige dramatische Situation, die uns allen Sorgen macht.
Dennoch sind die Perspektiven der maritimen Wirtschaft, wie hier bereits deutlich wurde, durchaus gut.
Kurzfristig müssen wir natürlich den Herausforderungen
begegnen. Mit unserem Antrag versuchen wir beides:
das langfristige Wachstum zu ermöglichen, aber auch
kurzfristige Antworten zu geben. Wir haben im Hinblick
auf die Kurzarbeit zeitnah die richtigen Entscheidungen
getroffen, um die Arbeitsplätze bei Unterbeschäftigung
zu erhalten.
Beschäftigung, Wertschöpfung und Ausbildung müssen bei diesem industriellen Kern für die Zukunft gesi23208
chert werden. Allein in der Werftindustrie sind einschließlich der Zulieferer über 100 000 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer beschäftigt. Das ist eine enorme Zahl.
Viele denken hier nur an die Werften und an die Küste.
Man muss aber auch die Auswirkungen auf das Binnenland sehen, etwa auf die Verlängerung von Schleusen am
Neckar oder die Motorenproduktion in Süddeutschland.
Die Werftindustrie findet eben nicht nur an der Küste
statt; das gilt auch für viele andere Teile der maritimen
Industrie. Dies muss immer wieder deutlich gemacht
werden.
({3})
Was staatliche Investitionen anbelangt, wird von mir
der Versuch unterstützt, in dieser Krise Bauaufträge vorzuziehen. Die Sicherung der Innovationsfähigkeit ist ein
zentraler Punkt. Eben ist Papenburg angesprochen worden. Lieber Michael Goldmann, wir kennen uns dort aus.
Die Meyer Werft baut modernste Kreuzfahrtschiffe, die
weltweit nachgefragt werden. Dieser industrielle Kern
für die gesamte Küste - dies gilt auch für andere Werften macht die globale Spitzenposition deutlich. Die damit
verbundenen weiteren Technologien sind für die Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Deshalb müssen auch
die Innovationen, wie in unserem Antrag gefordert wird,
unbürokratisch gefördert werden. Dies sage ich auch mit
Blick auf Staatssekretärin Wöhrl. Es gibt ja auch Beispiele dafür, dass es noch Probleme bei der Innovationsförderung gibt. Dazu gehört auch, dass im Schiffbau
Tests unabhängig von konkreten Bauaufträgen durchgeführt werden können; dies ist für das Entstehen von
Know-how ganz wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Seeschifffahrt steht ebenfalls vor großen Herausforderungen. Dies wurde eben deutlich, als von den Einbrüchen
am Weltmarkt die Rede war. Es wurde der Reedereistandort Leer genannt. Aber auch Haren an der Ems ist
nicht zu vergessen, Hamburg als großer Reedereistandort natürlich auch nicht.
({4})
- Den wichtigen Standort Haren an der Ems wollte ich
doch einmal genannt haben; ihn haben Sie vergessen.
An diesen Beispielen wird deutlich, welche Bedeutung der Logistik zukommt. Auch hierzu noch eine Zahl:
Über 2,7 Millionen Menschen sind in der Logistikkette
beschäftigt. Gerade eine umweltfreundliche Transportmöglichkeit wie die Schifffahrt muss weiterhin unterstützt werden.
({5})
Deshalb sind auch die im Maritimen Bündnis für Ausbildung und Beschäftigung entstandenen Vorschläge umzusetzen. Ich mahne in diesem Zusammenhang noch einmal den Beschäftigungspool an, über den wir seit vielen
Jahren reden. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem
dieses Vorhaben umgesetzt werden muss. Es wäre fatal,
wenn in der Krise die Fachkräfte verloren gingen, die
dann, wenn die Konjunktur wieder anspringt, nicht mehr
zur Verfügung stünden. So etwas ist schon häufig passiert; das darf nicht wieder passieren.
({6})
Dies gilt natürlich auch für die Ausbildung der Seeleute.
Etwas stärker muss noch betont werden, dass es unter
den Bedingungen der Wirtschaftskrise sozial gerecht zugehen muss. Es darf nicht zu einem Wettlauf kommen,
wer die sozialen Standards zuerst drückt. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben an dieser Krise überhaupt keine Schuld. Sie liefern Qualität und hohe Leistung im maritimen Sektor.
({7})
Deshalb ist es auch Zielsetzung unseres Antrags, die
Rahmenbedingungen weiterhin zu verbessern, damit
auch künftig in diesem Bereich Wertschöpfung hergestellt werden kann. Dies gilt ebenso für die Stärkung der
Häfen. Gerade in unserer Region ist die Verschlickung
ein Problem, das wir im Hinblick auf die Häfen an der
Unterems zeitnah lösen müssen, damit auch diese Häfen
weiter gestärkt werden.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Noch kurz zum Stichwort Offshorewindenergie: Hier
handelt es sich um eine Zukunftstechnologie, für die
jetzt alle Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen.
Zukunftsweisende Technologien fördern, konkrete
Stärkung der maritimen Wirtschaft in der Krise bereitstellen, die Anliegen der Unternehmen und Beschäftigten ausgewogen im Blick haben, das sind die Ziele unseres Antrages. Ich freue mich, dass wir da so großen
Konsens haben.
({0})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Eckhardt Rehberg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete!
({0})
- Das besprechen wir beide nach Mitternacht.
Natürlich hätte man sich für die Maritime Konferenz
am Sonntag und Montag in Rostock - ich bin sehr froh,
dass sie in Rostock stattfindet - etwas schöneres Wetter
im wirtschaftlichen Bereich wünschen können. Ich
glaube, dass die Bundesregierung die Realitäten nicht
ausblendet und dass wir das in dem Antrag und insbesondere, Kollege Heilmann, auch beim Handeln in den
letzten Wochen und Monaten nicht getan haben.
({1})
Das, was Sie hier gerade geboten haben, war mehr als
peinlich.
Ich könnte Horrorszenarien beschreiben ohne Ende.
Aber schauen wir uns einmal von den vier Werften, die
leider Insolvenz anmelden mussten, zwei an. Schichau
Seebeck Shipyard in Bremerhaven ist im Augenblick dabei, sich in den Bereichen Offshore und Reparaturleistungen zu diversifizieren. Das ist doch ein vernünftiger
Schritt.
({2})
Die Lindenau-Werft hat den größten Doppelhüllentanker
der Welt noch auf Kiel. Er wird fertig gebaut; dies geschieht übrigens mit Unterstützung des Bundes, der
KfW. Die Werft ist im Augenblick dabei, einen Auftrag
zum Bau eines Fruchtsafttankers zu akquirieren; das ist
ein Hightechtanker. Das heißt, wir werden immer Bewegung haben. Aber wir müssen konstatieren, dass Weiterentwicklung hier möglich, wichtig und richtig ist.
Ein Weiteres: Natürlich ist es mir lieber, wenn Werfteigner eine Telefonnummer in Deutschland haben und
deutsch verstehen. Es ist natürlich schwieriger, wenn es
zu 70 Prozent russische Eigentümer sind.
An dieser Stelle möchte ich, da ich in den Prozess eingebunden war, auf Folgendes hinweisen: Innerhalb von
Tagen hat die Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern, weil der KfW-Schirm noch nicht aufgespannt war,
60 Millionen Euro Darlehen als Zwischenfinanzierung
ausgereicht, damit eine RoPax-Fähre für Stena fertiggebaut werden konnte. Dieses Darlehen ist mittlerweile
durch den Bund abgelöst worden.
Hier zu sagen, wir seien für die Krise nicht gewappnet
und reagierten in der Krise nicht richtig, ist eine Verhöhnung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({3})
Wir haben uns sehr wohl dafür eingesetzt.
Ich will noch eine Lanze für die deutschen Werften
brechen. Manche - ich nehme als Beispiel die Volkswerft in Stralsund - waren zu 100 Prozent eine Tochter
der größten Reederei der Welt, A. P. Moeller-Maersk.
Sie haben natürlich Containerschiffe bauen lassen. Diese
Werft hat es innerhalb von zwölf Monaten geschafft, von
einem Altauftragsbestand von 80 Prozent Containerschiffen zu einem Neuauftragsbestand von nur noch
20 Prozent Containerschiffen zu kommen. Das heißt,
80 Prozent der Aufträge betreffen nun Spezialschiffe.
Das bedeutet Zukunft; das ist der richtige Weg.
({4})
Herr Kollege Steenblock, wer ist die Mutter dieses
Antrages? Die Mutter dieses Antrages ist der Antrag der
Koalitionsfraktionen von Februar 2007. Das ist eine
Weiterentwicklung.
({5})
Wenn ich einmal die Anforderungen durchgehe, die
wir uns als Politik gestellt haben, sehe ich: Wir haben die
Einführung von CIRR durchgesetzt;
({6})
heute wird CIRR sogar nachträglich für das vorangegangene Jahr gezahlt. Wir haben die FuE-Mittel bis zum
Jahr 2001 verdoppelt. Wir verzichten auf die bedingte
Rückzahlbarkeit von Zuschüssen für die Innovationsförderung an kleine und mittlere Unternehmen. Wir haben
jetzt eine dreijährige Aussetzung beschlossen. Das heißt,
wir setzen genau an dem Punkt an, wo es wichtig ist, und
zwar nicht nur bei den Werften, sondern auch bei Forschung, Entwicklung und Innovation.
({7})
Hier setzt der Bund, hier setzen wir gemeinsam als Bundestag die Rahmenbedingungen. Das ist richtig und entscheidend, um den Werften und dem Schiffbau zu helfen, damit sie eine gute Zukunft haben.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt, jedenfalls
nach meiner Kenntnis, keine vergleichbare Veranstaltung in Deutschland, bei der es um eine solch große
Branche geht. Seit der ersten Konferenz vor zehn Jahren
hat sich herauskristallisiert, dass die maritime Wirtschaft
eine für ganz Deutschland systemrelevante Industrie und
ein für ganz Deutschland systemrelevanter Wirtschaftszweig ist.
({9})
Es gehört zur Aufgabe dieser Konferenz, diese Botschaft
zu transportieren. Es gibt keinen anderen Bereich, in
dem Sozialpartner und Politik auf solch kollegiale Art
und Weise zusammenarbeiten. Unsere Erfolge sind beachtlich.
Kollege Heilmann, natürlich haben wir uns auch mit
Blick auf die Krise weitere Aufgaben gestellt. Ich will
nur einige kurz erwähnen: Wir haben schon im Voraus
dafür gesorgt, dass der Schiffbau aus der Zinsschranke
ausgenommen wird. Wäre der Schiffbau von der Zins23210
schranke betroffen, dann hätten die Werften - so sage ich
voraus - erhebliche Probleme.
({10})
Ich bin dem Finanzminister sehr dankbar, dass er sich
mit diesem Thema insgesamt befassen wird.
Wir wollen sicherstellen, dass die Landesbürgschaften der Küstenländer nicht von der EU zurückgenommen
werden; hier gibt es einen Prüfauftrag. Wir wollen außerdem dafür sorgen, dass die Entwicklungshilfe
- Stichwort Indonesien - an Aufträge für deutsche Werften gekoppelt werden kann. Auch das ist eine Aufgabe
der Politik.
({11})
Ich gehe sogar noch weiter. Auch der Marineschiffbau im Ausland bringt den deutschen Werften an Nordund Ostsee Arbeit. Hier sind uns andere Länder ein
Stück weit voraus. An dieser Stelle spielt selbstverständlich auch das Vorziehen öffentlicher Aufträge eine Rolle.
({12})
Herr Kollege Goldmann, meiner Meinung nach stehen die Reeder in der Pflicht. Die Politik hat mit großer
Mühe den Lohnsteuereinbehalt durchgesetzt; Stichwort
Tonnagesteuer. Das war keine einfache Aufgabe.
({13})
Bei den bisherigen Maritimen Konferenzen gab es immer ein Geben und Nehmen. Man kann nicht immer nur
vom Stamme Nimm sein,
({14})
sondern man muss das, was man zugesagt hat, auch einhalten.
({15})
Lassen Sie mich an dieser Stelle an den Patriotismus
erinnern, den eine große Reederei in Rostock seit Jahren
an den Tag legt. Ich meine die Reederei Aida, die ihre
Kreuzfahrtschiffe in Papenburg bauen lässt; drei Aufträge stehen übrigens noch in den Büchern. Da auch dies
ein wichtiges Zukunftsfeld ist, haben wir in unserem Antrag formuliert, dass die Herstellung von Wettbewerbsgleichheit in Europa auch mit Blick auf deutsche Seearbeitsplätze von Bedeutung ist.
Dadurch, dass der italienische Staat Sozialbeiträge
und Steuern komplett übernimmt, verliert diese Reederei
pro Jahr und Schiff - ich möchte den Betrag einmal nennen - rund 5 Millionen Euro. Wenn wir also wollen, dass
noch mehr Schiffe unter deutscher Flagge fahren, dann
besteht unsere Aufgabe darin, „to level playing field“.
Wir müssen gemeinsam dafür sorgen - diese Reederei ist
dazu bereit -, dass in Deutschland die gleichen Bedingungen wie in Italien herrschen. Das Ziel, das Flaggschiff von Kreuzfahrern wieder unter deutscher Flagge
fahren zu lassen, ist diese Anstrengung wert.
({16})
Ich weiß, dass das Geld kostet; aber wir können nur diesen Weg gehen. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Kollege
Goldmann: Die Reeder dürfen nicht nur vom Stamme
Nimm sein.
({17})
Auch Geben gehört dazu, jedenfalls nach meiner Auffassung.
({18})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zum Schluss noch einige Anmerkungen zum Hafenverkehr und zu den Hinterlandanbindungen machen.
Auch in diesem Bereich hat der Bund in den letzten Monaten das getan, was getan werden musste. Allerdings
muss ich darauf hinweisen - das tue ich auch im Namen
meiner Kollegen aus den nordwestdeutschen Küstenländern -, dass an dieser Stelle die Landesregierungen
ebenfalls in der Pflicht sind.
({19})
Sie müssen baureife Projekte vorhalten.
({20})
Es ist egal, welche politische Farbe eine Landesregierung hat: Eine vernünftige Planung kann man nicht in
einem halben Jahr abschließen. Das dauert teilweise
deutlich länger. Ich appelliere an alle norddeutschen
Landesregierungen, baureife Projekte vorzuhalten,
sprich Planfeststellungsverfahren durchzuführen. Ansonsten bringen uns alle Anstrengungen nicht weiter.
Nun möchte ich noch gerne das Thema Küstenwache
anreißen.
({21})
Das Pallas-Unglück ist mittlerweile zehn Jahre her. Bis
heute wurde in diesem Bereich allerdings nur relativ wenig getan. Ich kann nur an uns alle appellieren, alle ideologischen Scheuklappen fallen zu lassen.
({22})
Wir brauchen eine einheitliche Bundesküstenwache, und
zwar auf einer sauberen Rechtsgrundlage.
({23})
Wir haben im Augenblick eine Menge Probleme im
Bereich der maritimen Wirtschaft. Es ist aber falsch,
Horrorszenarien zu entwerfen. Ich kann mich gut an die
Situation in Mecklenburg-Vorpommern in den 90er-Jahren erinnern: 1992 Werftenprivatisierung, 1996 VulkanKrise. Wir haben es jetzt geschafft, die StudierendenzahEckhardt Rehberg
len an der Fakultät für Maschinenbau und Schiffstechnik
der Uni Rostock gegenüber 1999 zu verdoppeln; das hat
zehn Jahre gedauert. Wir sollten eine Zukunftsbranche,
eine Hightechbranche nicht schlechtreden. Auch die
Flugzeugindustrie hat Probleme; sie wird aber nicht
schlechtgeredet.
({24})
Wir sollten zu unserer maritimen Wirtschaft stehen, zu
den Werften, zum Schiffbau, zur Seeverkehr- und Hafenwirtschaft, zur maritimen Technologie insgesamt.
Wenn man einen Strich darunter macht, erkennt man:
Die maritime Wirtschaft erreicht ein Umsatzvolumen
von 54 Milliarden Euro. Insgesamt arbeiten fast 400 000
Menschen in diesem Bereich. Damit handelt es sich um
eine wichtige Branche für Ost, West, Nord und Süd.
Ich darf Sie herzlich nach Rostock einladen und Sie
dort willkommen heißen.
Danke.
({25})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Christian Kleiminger für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst sagen: Ich freue mich
sehr, dass mit der Sechsten Nationalen Maritimen Konferenz am kommenden Wochenende eines der wichtigsten maritimen Ereignisse unseres Landes in meinem
Wahlkreis Rostock stattfindet. Wir alle in der Region,
besonders die zahlreichen Beschäftigten in unserer heimischen maritimen Industrie, sind gespannt auf die Diskussionen und die Ergebnisse; denn die maritime Wirtschaft ist in der Tat eines unserer wichtigsten
Standbeine. Sie bietet viele Chancen auf gute Arbeit
- das wird im Antrag der Koalition aufgegriffen und angesprochen - in den Bereichen Schiffbau und Logistik,
Offshorewindenergie und alternative Meerestechnologie, Wissenschaft, Forschung und ökologische Innovationen.
Wir sehen in unserer norddeutschen Region eine
wichtige Drehscheibe im Ostseeraum, die es nachhaltig
auszubauen und zu stärken gilt. Natürlich hinterlässt die
Wirtschafts- und Finanzkrise aber ihre Spuren. Deshalb
setzen die Menschen in Rostock, die Betriebsräte, mit
denen ich spreche, gerade jetzt auf das maritime Bündnis. Sie fordern gerade jetzt das ein, wofür Kanzler
Gerhard Schröder immer klar gestanden hat: Zugeständnisse an die Eigentümerseite etwa bei der Tonnagesteuer
werden immer klar und deutlich an die Bedingung der
Sicherung von Arbeit und Beschäftigung in der Seewirtschaft geknüpft.
({0})
Es kann nicht sein, dass sich jetzt in der Krise einzelne Arbeitgeber aus der Verantwortung stehlen und
den Eindruck erwecken, sich beispielsweise aus der
Ausbildung junger Menschen zurückziehen zu wollen.
Ich sage klar und deutlich: Man kann hier sicherlich
nicht alle Arbeitgeber über einen Kamm scheren; die Betriebsräte vor Ort berichten auch von guten Beispielen.
Es gibt aber auch ein paar schwarze Schafe unter den
maritimen Arbeitgebern, über die man auch am kommenden Wochenende reden muss. Hierbei geht es um die
Themen Rückflaggung, Ausbildung und Beschäftigung
in Deutschland. Die Zahl der Ausbildungsplätze in der
Seeschifffahrt ist über einige Jahre gestiegen; aber inzwischen stagniert die Zahl. Hier müssen wir aufpassen
und wieder an die Verantwortung der Unternehmen erinnern.
Trotz der Krise muss in Deutschland am Schiffbau
festgehalten werden, gerade auch an der Ostseeküste.
Deshalb ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung
auch die Wadan-Standorte in Wismar und Rostock-Warnemünde unter den Schutzschirm gestellt hat.
Ich begrüße es außerordentlich, dass sich die Koalition in dem vorliegenden Antrag für eine Stärkung des
Fährverkehrs - also für die Verlagerung von der Straße
auf die Schiffe - ausspricht und dass sie darin die Forderung aufgreift, die seewärtigen Zufahrten und die Hafenhinterlandanbindungen unter Beachtung ökologischer
Kriterien bedarfsgerecht auszubauen und zu verbessern.
In diesem Zusammenhang ist auch die Verlängerung
der TEN-Achse von Rostock über die Ostsee bis hin
nach Kopenhagen ein notwendiger Schritt. Er hätte auch
für mein Bundesland erhebliche Bedeutung, nicht zuletzt
als eine Art Ausgleichsmaßnahme für das Projekt einer
Festen Fehmarnbelt-Querung, das ich übrigens - diese
persönliche Anmerkung sei mir am Schluss an dieser
Stelle erlaubt - mehr denn je für ökologischen und ökonomischen Unsinn halte.
({1})
Sie sehen, dass es viel Diskussionsstoff gibt, und ich
sage: Herzlich willkommen in Rostock!
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 6 a. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD auf Drucksache 16/12431 mit dem Titel „In
der Maritimen Wirtschaft Kurs halten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
und Enthaltungen der Fraktion der FDP und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 b. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11835 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung des Bilanzrechts ({0})
- Drucksache 16/10067 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 16/12407 Berichterstattung:
Abgeordnete Friedrich Merz
Mechthild Dyckmans
Jerzy Montag
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Frau Bundesministerin Brigitte Zypries für die Bundesregierung das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen sowie insbesondere lieber Kollege Benneter!
({0})
- Weil er geklatscht hat.
({1})
- Sehr schön.
Das Gesetz, das wir heute beschließen, ist die größte
Reform des Bilanzrechts seit mehr als 20 Jahren. Es ist
aber nicht nur eine große Reform - solche Reformen
sind wir hier in letzter Zeit vom Rechtsausschuss ja gewöhnt -, sondern es ist vor allen Dingen auch eine gute
Reform; solche Reformen sind wir vom Rechtsausschuss
allerdings auch gewöhnt.
({2})
Wir erreichen mit dieser Reform dreierlei:
Erstens. Wir verschärfen die Regeln für die Offenlegung von Risiken. Damit stärken wir die Aussagekraft
von Bilanzen und das Vertrauen in diese Zahlen. Das ist
gerade in diesen Tagen ein wichtiges Signal. Damit zeigen wir vor allen Dingen auch, dass wir an verschiedenen Stellen dabei sind, Lehren aus der Finanzkrise zu
ziehen - unter anderem eben auch mit dieser Reform des
Bilanzrechts.
({3})
Zweitens. Wir bauen Bürokratie ab und erleichtern
damit die Bilanzierung. Mit diesem Bürokratieabbau
wollen wir vor allen Dingen die kleinen und die mittelständischen Unternehmen entlasten. Mehr als
500 000 Unternehmen in Deutschland sind von diesen
Erleichterungen in Bezug auf die Bürokratie betroffen.
All diese werden künftig einfacher bilanzieren können,
weil wir die Schwellenwerte anheben.
({4})
- Nachdem alle Fraktionen mitbekommen haben, dass es
um Bürokratieabbau geht, können wir ihn auch beziffern, Herr Kollege Benneter: Nach Berechnungen des
Statistischen Bundesamtes gibt es ein Einsparvolumen
von 2,5 Milliarden Euro für die deutsche Wirtschaft.
Schon das allein ist ein großer Erfolg dieses Gesetzes.
({5})
Drittens stärkt die Reform das deutsche Recht im internationalen Wettbewerb. Unser bewährtes HGB-Bilanzrecht braucht nämlich die Konkurrenz mit den internationalen Standards der Rechnungslegung nicht zu
scheuen.
({6})
Es bleibt nicht nur eine vollwertige Alternative zu den
internationalen Regelwerken, sondern hat auch den entscheidenden Vorteil, dass es die Nachteile dieser Regelwerke vermeidet. Auch das ist ein gutes Ergebnis.
({7})
Die großen, börsennotierten Unternehmen orientieren
sich heute an den internationalen Standards der Rechnungslegung. Für die kleinen und mittelständischen Unternehmen - also für das Gros der deutschen Kapitalgesellschaften - sind diese Regelungen aber viel zu
kompliziert und deshalb nicht brauchbar. Sie können
sich weiterhin nach dem deutschen HGB-Bilanzrecht
richten, das ihnen ein kostengünstiges und bewährtes
Regelwerk an die Hand gibt.
Die Handelsbilanz wird aber in Zukunft durch unsere
Reform aussagekräftiger. Ich will dazu nur zwei Beispiele nennen. Zum einen ermöglichen wir mit dieser
Reform, künftig selbstgeschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des Anlagevermögens in der Bilanz zu
aktivieren. Das betrifft zum Beispiel Patente. Diese Vermögenswerte sind dann kein totes Kapital mehr, sondern
man kann beziffern, wie sie kapitalisiert werden könnBundesministerin Brigitte Zypries
ten, und es entsprechend in der Bilanz ausweisen. Zum
anderen werden wir künftig die Rückstellungen für anstehende Verpflichtungen realistischer bewerten.
Zur Verbesserung der Aussagekraft gehört auch, dass
die wirtschaftlichen Risiken bei sogenannten Zweckgesellschaften künftig besser aufgedeckt werden müssen.
Gerade im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise
war ein relevanter Punkt, dass man nicht richtig einschätzen konnte, womit bei den Zweckgesellschaften
noch zu rechnen war. Das war in der Bilanz ganz hinten
im Anhang im Kleingedruckten versteckt, das keiner
mehr richtig gelesen hat. Das muss geändert werden.
Deswegen haben wir entschieden, dass die Zweckgesellschaften künftig in die Bilanz selbst aufgenommen werden müssen. Das ist gerade im Lichte der Finanzmarktkrise ein wichtiger Schritt, bei dem das Haus noch über
den Regierungsentwurf hinausgegangen ist.
Eine weitere Änderung gegenüber dem Regierungsentwurf betrifft die Fair-Value-Bewertung von Finanzinstrumenten. Nach den Beratungen im Deutschen Bundestag wird diese Zeitwertbewertung für normale
Handelsunternehmen gestrichen. Sie bleibt also auf die
Kreditinstitute beschränkt.
({8})
Dafür ist sie nach wie vor sinnvoll. Wir wollen aber
keine Schönwetterbilanzierung und haben deshalb einen
Sicherheitsabschlag vorgesehen.
Als weitere Konsequenz aus der Finanzmarktkrise
werden Kreditinstitute verpflichtet, einen Teil ihres Handelsgewinns künftig in ein bilanzielles Sicherheitspolster
einzubringen. Dazu führen wir einen Sonderposten ein,
der für die Ausschüttung gesperrt ist. Diese Rücklage
wird gebildet, wenn man Gewinne macht, damit sie in
Zeiten, in denen es dem Unternehmen schlecht geht, kapitalisiert werden kann. Diesen Zusammenhang kennen
wir alle: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. - Das
soll künftig auch für die Gesellschaften gelten.
Wir haben gerade über diesen Punkt mit den Berichterstatterinnen und Berichterstattern intensiv beraten.
Uns allen war dabei sehr wichtig, dass wir die Attraktivität der deutschen Kreditinstitute nicht beeinträchtigen.
Ich glaube, wir haben eine gute Lösung gefunden, die
die Kreditinstitute nicht überfordert, aber gleichzeitig
deutlich macht, dass wir aus dem, was wir zurzeit erleben, Lehren ziehen.
Ich bin den Berichterstatterinnen und Berichterstattern für die konstruktive Zusammenarbeit in diesem und
in allen anderen Punkten sehr dankbar. Auch für das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz gilt die Struck’sche
Formel: Kein Gesetzentwurf kommt so aus dem Bundestag heraus, wie er hineingegangen ist. Es waren immer
sehr konstruktive Beratungen, für die ich mich bedanken
möchte. Ich möchte mich auch bei Herrn Dr. Ernst aus
meinem Hause bedanken, der dieses Vorhaben vorbereitet und immer intensiv und sachkundig begleitet hat.
Vielen Dank dafür!
({9})
Die neuen Bilanzierungsregeln müssen ab 2010 angewandt werden. Wer möchte, kann sie schon für das Jahr
2009 nutzen. Wir sind deshalb so eilig und haben den
Bundesrat um Fristverkürzung gebeten, weil die Erleichterungen für die kleinen und mittelständischen Unternehmen sogar noch rückwirkend für das Bilanzjahr 2008
gelten sollen. Das scheinen wir zu erreichen. Soweit ich
höre, ist der Bundesrat mit einer Fristverkürzung einverstanden, sodass das Gesetz rechtzeitig in Kraft treten
kann.
Ich danke Ihnen noch einmal für die konstruktiven
Beratungen und hoffe, dass alles, was wir uns von diesem Gesetz versprechen, tatsächlich realisiert wird.
({10})
Die Kollegin Mechthild Dyckmans hat jetzt das Wort
für die Fraktion der FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vorweg möchte ich mich ganz herzlich bei den
Berichterstattern aller Fraktionen und den Mitarbeitern
aus dem BMJ für die vertrauensvolle und gewinnbringende Arbeit bedanken. Diese Arbeit wurde der herausragenden Bedeutung dieses Gesetzesvorhabens gerecht.
Gerade weil verschiedene Änderungswünsche - auch
der FDP-Bundestagsfraktion - berücksichtigt wurden,
wird meine Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({0})
Die FDP-Bundestagsfraktion spricht sich seit langem
für ein modernes Handelsrecht aus. Ich selbst habe ziemlich bald, nachdem ich in den Deutschen Bundestag gewählt worden war, die Frage an das Justizministerium
gestellt, wie es mit dem BilMoG weitergeht. Es hat
lange gedauert, aber endlich liegt ein Gesetzentwurf
vor. Ziel des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes ist,
die bewährte HGB-Bilanz zu einer dauerhaften und im
Verhältnis zu den internationalen Rechnungslegungsstandards vollwertigen, aber kostengünstigen und einfacheren Alternative weiterzuentwickeln. Dabei sollen
die Eckpunkte des HGB-Bilanzrechts und das bisherige
System beibehalten werden. Die HGB-Bilanz bleibt also
grundsätzlich Grundlage der Ausschüttungsbemessung
und der steuerlichen Gewinnermittlung. Es geht mit anderen Worten darum, das deutsche Bilanzrecht zu einem
Vorbild für Europa weiterzuentwickeln. Dieses Ziel ist
richtig und wichtig und wird von der FDP voll unterstützt.
({1})
Darüber hinaus sollen Unternehmen - die Frau Bundesministerin hat es schon gesagt - von unnötigen Kosten entlastet werden. Der Druck, der auf vielen Unternehmen liegt, neben den deutschen Bilanzregeln auch
die internationalen Rechnungslegungsstandards anzu23214
wenden, ist enorm. Die internationalen Standards sind
für den deutschen Mittelstand aber der falsche Weg.
Auch die geplanten internationalen Standards für kleine
und mittelständische Unternehmen sind nicht zielführend, weil sie viel zu kompliziert sind. Besonders hervorzuheben sind für die FDP-Bundestagsfraktion die Regelungen im BilMoG, die zu einer Deregulierung und
einer Kostensenkung bei mittelständischen Unternehmen führen. Die Frau Justizministerin hat schon gesagt,
dass es hier erhebliche Einsparungen für die Unternehmen geben wird. Es wird also zu tatsächlichen Entlastungen des Mittelstandes kommen. Das begrüßen wir
sehr.
({2})
Das BilMoG hat insbesondere im Umfeld der Finanzmarktkrise eine Bedeutung erlangt, die weit über das Interesse der reinen Fachöffentlichkeit hinausgeht. Zu nennen sind hier zwei Stichworte: zum einen die
Zweckgesellschaften und zum anderen die Fair-ValueBewertungen. Die Verhandlungen über diese beiden
Punkte erwiesen sich als äußerst schwierig. Hier war die
Sachverständigenanhörung sehr hilfreich. Selten waren
wir so auf fachlichen Rat angewiesen. Deshalb herzlichen Dank an alle Sachverständigen!
({3})
Beim Rückblick auf die Entstehung der Finanzmarktkrise rückte ein Problem sehr schnell in den Mittelpunkt.
Den findigen Bankern und Juristen war es gelungen,
Risiken aus der Bilanz des Mutterunternehmens herauszunehmen und diese Risiken in sogenannte Zweckgesellschaften auszulagern. Damit erfolgte nicht nur eine
Bereinigung der eigenen Bilanz, sondern diese Zweckgesellschaften waren oftmals auch der deutschen Bankenaufsicht entzogen. Die im Regierungsentwurf zunächst
vorgesehene Erweiterung des Konsolidierungskreises
und damit die Pflicht der Einbeziehung von Zweckgesellschaften ging uns nicht weit genug. Wir konnten
im Rahmen der Berichterstattergespräche wesentliche
Änderungen durchsetzen. Diese werden zwar nicht dazu
führen, dass es in Zukunft unmöglich sein wird, Risiken
zu verlagern - es wird immer Findige geben, die neue
Ideen haben -, aber die Verlagerung von Risiken wird
künftig so weit wie möglich erschwert.
Eine weitere wichtige Änderung, die wir mit Blick
auf die Finanzmarktkrise vorgenommen haben, betrifft
die Fair-Value-Bewertung von Finanzinstrumenten. Für
einfache Handelsunternehmen bleibt es bei dem Vorsichtsprinzip des deutschen Handelsgesetzbuchs. Das
heißt, es gibt keine Bewertung nach dem beizulegenden
Zeitwert. Aber auch für den Bereich der Banken kam es
zu erheblichen Einschränkungen. Einen vollständigen
Verzicht auf die Fair-Value-Bewertung zu fordern, war
weder möglich noch sinnvoll; denn zum einen entspricht
sie schon heute den internationalen Standards, zum anderen hätten wir unseren Banken im internationalen Wettbewerb sehr geschadet, wenn wir das gemacht hätten.
Wir haben allerdings zwei Sicherungsstufen eingebaut,
nämlich den Risikoabschlag und die Ausschüttungssperre, die die Frau Justizministerin schon erwähnt hatte.
Das ist ein gutes Gesetz, aber eines ist uns nicht
gelungen: Wir haben kein von der Rechtssprache her
verständliches Gesetz gemacht. Bei einigen Paragrafen
und den darin vorgesehenen Verweisungen wird sich der
Anwender erst eine Übersichtsskizze machen müssen,
damit er überhaupt weiß, was gemeint ist. Aber wenn am
1. April 2009 der Redaktionsstab Rechtssprache im Bundesjustizministerium seine Arbeit aufnimmt - ich hoffe,
dass das nicht nur ein Aprilscherz ist, Frau Bundesjustizministerin -, dann wird das, so hoffe ich, besser werden.
Schönen Dank.
({4})
Die Kollegin Antje Tillmann spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal bedauern wir, dass Demokratie so langwierig
ist. Beim BilMoG war es ganz gut, dass wir seit 2007
diskutiert haben, weil wir die Erfahrungen aus der
Finanzmarktkrise heute mit in die Diskussion über dieses Gesetz aufnehmen konnten und weil es seitdem um
die internationalen Rechnungslegungsstandards für mittelständische Unternehmen sehr ruhig geworden ist.
Kein Mensch redet mehr davon, dass auch kleine und
mittlere Unternehmen diese Rechnungslegungsstandards
anwenden. Der Wertansatz des HGB ist deutlich in den
Vordergrund gerückt. Das ist gut so, und das führt dazu,
dass wir heute ein Gesetz verabschieden werden, das gerade kleinen und mittelständischen Unternehmen sehr
gute Hilfen bietet, zum Bürokratieabbau beiträgt und
trotzdem dazu führt, dass Chancen und Risiken in der
Bilanz ausgewiesen werden.
Wir haben seit Beginn dieser Debatte viele Paragrafen
des Gesetzes immer wieder durcheinandergewirbelt. Ich
möchte mich bei Ihnen, Herr Dr. Ernst, bedanken, dass Sie
das immer mitgemacht haben, dass Sie uns die Vor- und
Nachteile jedes neuen Gedankens, den wir formuliert haben, aufgezeigt und dass Sie Formulierungsvorschläge
gemacht haben.
Das Gesetz, das heute vorliegt, ist ein gutes Gesetz.
Es bleibt bei den Deregulierungsmaßnahmen, die schon
im ursprünglichen Referentenentwurf vorgesehen waren.
Wir werden 500 000 Einzelkaufleute um knapp 1 Milliarde Euro pro Jahr entlasten, weil für die Buchführungsund Bilanzierungspflichten andere Kriterien gelten als
bisher. Wir werden 7 400 Kapitalgesellschaften von Bürokratiekosten in Höhe von 300 Millionen Euro entlasten,
weil wir die Größenklassen neu ordnen. Mehr Unternehmen als bisher kommen in den Genuss der Erleichterungen, die für kleine und mittelgroße Kapitalgesellschaften
gelten, nämlich dass sie zum Beispiel den Jahresabschluss
nicht von einem Abschlussprüfer prüfen lassen müssen.
Die erstmalige Anwendung dieser begünstigenden
Vorschrift haben wir praxisgerecht gestaltet. Es kann
durchaus sein, dass wir diese Erleichterungen am Ende des
Gesetzgebungsverfahrens sogar schon für das Bilanzjahr
2008 durchsetzen werden, sodass die Unternehmen in
der jetzigen wirtschaftlichen Krise zusätzliche finanzielle
Mittel zur Verfügung haben.
Wir verbessern aber auch die Aussagekraft der Bilanz
erheblich, um sie damit auch international wettbewerbsfähig zu machen. Es wird künftig möglich sein, Patente,
Know-how, Ideen von Start-up-, IT- oder Medienunternehmen in der Bilanz auszuweisen. Diese Entwicklungen
sind das Potenzial dieser jungen Unternehmen, und sie
können in der Bilanz gezeigt werden, was natürlich erleichtert, sich am Markt kostengünstig Kapital zu beschaffen. Im
Interesse des Gläubigerschutzes ist es aber richtig, dieses
Bilanzierungswahlrecht bei den immateriellen Wirtschaftsgütern mit einer Ausschüttungssperre zu verbinden. Hier
sind wir dem alten Grundsatz des Handelsgesetzbuches
treu geblieben. Das Vorsichtsprinzip ist ein wesentlicher
Maßstab.
Die Aussagekraft der Bilanz wird auch dadurch erhöht,
dass wir die Rückstellungen künftig praxisnäher bewerten.
Die Art, wie Rückstellungen bilanzrechtlich behandelt
wurden, war immer öffentlicher Kritik ausgesetzt, weil in
der Bilanz nie der tatsächliche Wert ausgewiesen werden
konnte. Künftig werden Rückstellungen mit realistischeren Werten und dabei zu erwartenden Preis- und Kostensteigerungen bewertet, umgekehrt aber marktgerecht
abgezinst. Um die Auswirkungen der Bewertung bei
Pensionsverpflichtungen auf die Unternehmen abzumildern, lassen wir eine Übergangszeit von 15 Jahren zu, in
denen diese Bewertung vorgenommen werden kann. Dadurch werden die Unternehmen in der jetzigen Krise
nicht unnötig finanziell belastet.
Mir als Steuerpolitikerin ist klar, dass mit dieser realistischen Bewertung in der Handelsbilanz der Druck steigen
wird, auch in der Steuerbilanz realistische Werte anzusetzen. Das wird auf der Tagesordnung des Finanzausschusses bleiben müssen. Heute werden wir aber das HGB reformieren, und darauf sollten wir uns konzentrieren.
Anders als im Regierungsentwurf vorgesehen, haben
wir uns hinsichtlich der Frage „Zeitwertbewertung bei
Unternehmen, die keine Kreditinstitute sind“, entschieden.
Der sogenannte Fair Value ist in der Finanzmarktkrise
zum Angstfaktor geworden. Ich gebe gerne zu, dass auch
wir ein bisschen vorsichtiger geworden sind, als wir es
zu Beginn der Krise gewesen wären. Wir haben uns entschieden, im allgemeinen Teil des HGB, also in dem
Teil, der auch für Nichtbankinstitute anzuwenden ist, auf
eine Fair-Value-Bewertung zu verzichten, auch wenn wir
uns dann die Frage gefallen lassen müssen, warum dasselbe Wertpapier in einem Industrieunternehmen künftig
anders bewertet werden soll als in einer Bank. Wir sind
sicher, so die Finanzmarktkrise durch Bewertungsveränderungen nicht noch zu verschlimmern.
Bei Kreditinstituten haben wir uns anders entschieden.
Kreditinstitute haben Finanzinstrumente schon bisher
mit dem beizulegenden Wert bewertet. Es wäre ein Wettbewerbsnachteil für deutsche Institute entstanden, wenn
wir das rückgängig gemacht hätten. Wir werden zwei
Sicherheitsposten einführen. Der eine, der Risikoabschlag - er ist schon im Gesetz verankert -, wird ergänzt
durch den Sonderposten „Fonds für allgemeine Bankrisiken“, auf dem in jedem Geschäftsjahr mindestens
10 Prozent der Nettoerträge des Handelsbestands aus
Finanzinstituten - bis zu einer Summe von 50 Prozent
der Erträge - zu sammeln sind, sodass diese Institute wesentlich besser ausgestattet in die nächste Krise gehen
können.
Wir haben uns auch entschieden, bei Finanzinstituten
das Umwidmungsverbot fallen zu lassen. Wenn Banken
sich entscheiden, Finanzinstrumente nicht mehr zum
Handel vorzusehen, wird es künftig möglich sein, dass
diese Instrumente vom Handelsbestand in das Anlagevermögen umgewidmet werden und damit wesentlich
weniger scharfen Bewertungsfortschritten unterliegen.
Das ist in dieser Krise in der Europäischen Union kurzfristig bei den IFRS geschehen. Wir werden im Gesetz
verankern, dass diese Möglichkeit in schwierigen Situationen besteht, etwa wenn der Markt zusammenbricht.
Viele andere im Gesetz verankerte Maßnahmen gründen
sich auf EU-rechtliche Vorgaben. Wir haben Richtlinien
umgesetzt, zum Beispiel hinsichtlich des Unternehmensführungsberichtes und zur Errichtung von Prüfungsausschüssen. Diese Themen waren offensichtlich so unstreitig,
dass sie in der Debatte keine große Rolle mehr gespielt
haben. Wir werden das eins zu eins umsetzen, um im
Gesetz keine zusätzlichen Belastungen für Unternehmen
zu forcieren.
Ich glaube, dass wir mit der heute zu verabschiedenden
HGB-Reform eine gute Grundlage gelegt haben, international wettbewerbsfähige Bilanzrichtlinien zu schaffen
und unseren kleinen und mittelständischen Unternehmen
den Druck zu nehmen, IFRS anzuwenden. Wir sollten
diese Schritte jetzt zügig umsetzen und damit den Unternehmen die Möglichkeit bieten, ihr Vermögen, ihr Kapital
in der Bilanz offen auszuweisen, positiv auszuweisen
und damit im Wettbewerb standzuhalten.
Ich danke Ihnen.
({0})
Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Für die Modernisierung des Bilanzrechts erwies sich die
Finanzkrise als Segen. Vor zwei Jahren begonnen, sollte
sie zur Entbürokratisierung der Rechnungslegung, zur
Anpassung an die internationale Rechnungslegung und
zur Öffnung der guten, alten HGB-Bilanz dienen.
Die Bilanzierung nach dem Handelsgesetzbuch mit
ihrem Vorsichtsprinzip galt als überholt. Zwar birgt die
HGB-Bilanz ebenfalls Probleme, zum Beispiel die
Möglichkeit zur Ansammlung stiller Reserven, die oft
unversteuert bleiben, aber trotzdem hat sie viel für sich.
Im Kern sollte sie entsorgt werden, weil sie ein Hemmnis bei der Profitmaximierung insbesondere bei Banken
darstellt. Noch vor einem Jahr konnten die Banken dank
des Fair-Value-Ansatzes bei der Bewertung der Finanzinstrumente in ihrem Handelsbestand mit ihren Bilanzen
glänzen. Die Marktwerte überboten stets die Anschaffungspreise. Dadurch entstanden ganz massiv nicht
realisierte Gewinne, Buchgewinne, die sich bei steigenden Marktpreisen noch weiter erhöhten. Bankmanager,
Analysten und Anleger wollten erreichte Gewinnhöhen
immer weiter überbieten. Dadurch waren sie zu immer
riskanteren Geschäften bereit. Der Übermut, die Gier
und ihre Bonuszahlungen trieben sie an.
Doch was bis dahin ein Segen für die Geldbörsen von
Bankmanagern und Aktionären war, erwies sich zwischenzeitlich als Fluch. Durch die Finanzkrise und die Bewertung nach dem Fair Value entstand bei den Banken ein
immenser Abschreibungsbedarf. In den Bilanzen befand
sich plötzlich wertloser Schrott, der die Kreditvergabe der
Banken an die Wirtschaft gefährdete und gefährdet.
Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass
wir alle einen Gang zurückgeschaltet haben und auch Sie
sich wieder auf den sicherheitsorientierten Ansatz des
Handelsbilanzrechts besonnen haben.
({0})
Deshalb begrüßen wir auch wichtige Änderungen, die
im Gesetzgebungsprozess vorgenommen wurden. Dazu
zählt erstens, dass bei Nichtbanken auch zukünftig Finanzinstrumente nur mit ihren Anschaffungskosten bilanziert
werden sollen. Zweitens gehört dazu, dass es bezüglich
der Aktivierung von selbsterstellten immateriellen Wirtschaftsgütern - ebenfalls den IAS entlehnt - bei einem
Wahlrecht bleiben soll. Drittens zählen dazu der Risikoabschlag für Finanzinstrumente des Handelsbestandes bei
Banken sowie die ausschüttungsgesperrte Zwangsrücklage, die diese nach der Neufassung des § 340 e HGB
künftig bilden müssen. Zwar wird mit der letztgenannten
Änderung die Zwangsrücklage Kernkapital der Banken
- dies kann das Anliegen einer besseren Risikovorsorge
konterkarieren -, allerdings schiebt die dazu verankerte
Regelung immerhin einen Riegel vor, indem nicht realisierte Gewinne nicht in Gänze ausgeschüttet werden
können und die Banken über diesen Teil ihres Eigenkapitals keine Verfügungsmacht haben. Nach Abwägen
des Für und Widers können auch wir damit leben.
Dies sind aus unserer Sicht positive Ansätze. Wichtig
ist aber auch, für Transparenz in den Bilanzen der Banken
und Unternehmen zu sorgen sowie deren Risikostrukturen
offenzulegen, um nicht erneut böse Überraschungen wie
bei IKB und HRE zu erleben.
Insbesondere unter dem Aspekt der Transparenz geht
uns die Reform des Bilanzrechts nicht weit genug. Sie
haben, ebenfalls unter dem Schock der Finanzkrise, die
Bilanzierung von sogenannten Zweckgesellschaften im
HGB eingeführt. Zweckgesellschaften dienen dem Initiator dazu, bestimmte Unternehmensrisiken zu übernehmen,
zum Beispiel Verbindlichkeiten oder Forderungen; obwohl
er über komplizierte Verträge finanziell haftet, stehen
diese Risiken nicht in seiner Bilanz. Die wirtschaftliche
Situation stellt sich somit positiver dar, als sie es tatsächlich ist. Genau diese Intransparenz macht den Charme
von Zweckgesellschaften aus. Ins Gerede gekommen
sind diese Zweckgesellschaften insbesondere im Zusammenhang mit dem Handel von forderungsbesicherten
Wertpapieren, den sogenannten ABS, durch die Banken.
Banken lagerten so im großen Stil ihre Forderungen an
Zweckgesellschaften aus und blendeten damit das Ausfallrisiko aus ihrer eigenen Bilanz aus.
Zwar müssen Zweckgesellschaften nach den internationalen Rechnungslegungsvorschriften - IAS - seit
2003 bei ihren Initiatoren konsolidiert werden, wenn
diese die Mehrheit der Risiken und Chancen tragen.
Trotzdem bestätigen Praktiker, dass vor allem durch sogenannte Silokonstruktionen genau diese Vorschrift umgangen wurde. Das große, böse Erwachen kam mit dem
Crash. Der Gestaltungswut der Banken und ihrer Berater
wollen wir einen Riegel vorschieben. Deshalb unterbreiten wir Ihnen heute nochmals einen Änderungsantrag
zum § 290 HGB.
Vor wenigen Tagen versprach Frau Merkel den Banken, ihnen mehr Spielraum bei der Bilanzierung einzuräumen. Aber damit kehrt die Krise an ihren Ausgangspunkt zurück, die durch überbewertete Aktiva bei den
Banken ausgelöst wurde. Es war ein atemberaubendes
Tempo, mit dem im Herbst vergangenen Jahres bei den
Bilanzierungsregeln für Banken vom Prinzip des Fair
Value abgewichen wurde. Die Deutsche Bank konnte
durch diesen Schritt allein im dritten Quartal ihr Vorsteuerergebnis um gut 900 Millionen Euro verbessern. Wenn
man aber die Geister, die man rief, wieder loswerden
will, warum hat man sie erst gerufen?
Zweifellos können mit bilanzrechtlichen Vorschriften
Finanzkrisen weder verhindert noch verursacht werden.
Aber Bilanzierungsregeln können Krisen verstärken. Die
zukünftige Debatte über Bilanzierungsregeln darf deshalb auch nicht davon bestimmt sein, Banken zu versprechen, ihre Bilanzen nach Bedarf gestalten zu können. Nicht die Bedürfnisse von Couponschneidern oder
Bankmanagern müssen die Debatte bestimmen. Vielmehr geht es darum, Bilanzen wieder auf den Gläubigerschutz - Lieferanten und Kreditgeber - auszurichten.
In diesem Zusammenhang stehen für uns in der
nächsten Zeit drei Schwerpunkte im Mittelpunkt. Erstens. Bilanzen müssen vollständig sein, sie müssen alle
Chancen und Risiken der Unternehmen abbilden. Zweitens. Die Rechnungslegung sollte wieder verstärkt eine
Kontrollfunktion bezüglich der wirtschaftlichen Situation der Unternehmen ausüben. Drittens. Die Bewertungsprinzipien müssen einfach, transparent und gestaltungsneutral sein.
Aus diesem Grund werden wir dem Gesetzentwurf
nicht zustimmen können, obwohl er einige richtige Aspekte enthält. Wir werden sicherlich weiterhin gemeinsam in der Diskussion bleiben.
Ich danke Ihnen.
({1})
Jetzt spricht Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bilanzrechtsmodernisierung ist ein erkennbar trockenes Thema. Gleichwohl ist es ein sehr wichtiges. Die
deutsche handelsrechtliche Rechnungslegung als Grundlage für die steuerliche Gewinnermittlung und die Gewinnausschüttung, errichtet nach den Grundsätzen einer
ordnungsgemäßen Buchführung, steht erkennbar unter
Druck.
Auf der einen Seite gibt es Rechnungslegungsregelungen aus den USA - US-GAAP -, auf der anderen
Seite gibt es die IFRS-Regelungen der Europäischen
Union, die wir 2004 auch für kapitalmarktorientierte Unternehmen in Deutschland zur Pflicht gemacht haben.
Durch diese beiden Regelungen stehen alle international
tätigen Unternehmen in Deutschland - bis hin zum Einzelhandelskaufmann - mehr oder weniger unter dem
Druck, neben der HGB-Bilanz auch noch freiwillig einen dieser beiden oder gar beide Abschlüsse zu machen.
Die weltweite Finanzkrise - wie von den Vorrednerinnen und Vorrednern bereits angesprochen - hat eines offengelegt: Insbesondere die internationalen Rechnungslegungsstandards haben es ermöglicht, dass Risiken aus
den Bilanzen ausgelagert worden sind. Ich verweise an
dieser Stelle nur auf ausgelagerte Risiken im Zusammenhang mit der Hypo Real Estate und der DEPFA, der
HRE-Tochter in Irland. Wir werden uns mit diesen Problemen sogar in einem Untersuchungsausschuss beschäftigen müssen.
In dieser Situation ist es ein schwieriges Unterfangen,
eine grundlegende Reform des Handelsgesetzbuches zustande zu bringen. Nach unserer Auffassung ist dies im
Grundsatz gelungen, insbesondere deswegen, weil im
parlamentarischen Verfahren viele Vorschläge vonseiten
der Opposition, auch von uns Grünen, eingeflossen sind.
({0})
Dies ist auch der Grund, weswegen wir dieses Gesetz
nicht ablehnen. Ich habe nicht die Zeit, Ihnen alle Vorzüge vorzuführen.
({1})
Das bleibt den Kolleginnen und Kollegen der Koalition
überlassen. Am besten hätte das sicherlich Kollege Merz
gekonnt. Leider wird er dazu heute nicht reden.
({2})
Aber nun zu der Kritik. Die Bundesregierung wollte
eigentlich ursprünglich bei allen Handelsunternehmen
die Bewertung von Aktien, Wertpapieren und anderen
Finanzinstrumenten vom bisherigen Prinzip der Anschaffungskosten auf das volatile Prinzip des Marktpreises - euphemistisch und die Tatsachen verschleiernd
„True and Fair Value“ genannt - umstellen. Damit wird
bei Marktpreisen über den Anschaffungskosten eine
Luftbuchung in die Bilanz gebracht. Nicht realisierte
und vielleicht auch nie zu realisierende Werte werden
wie real existierende Habenposten bewertet. So aufgehübschte Bilanzen entfernen sich radikal von der ordnungsgemäßen Buchführung des HGB. In der heutigen
Situation der Finanzmärkte und in der heutigen Debatte
über eine Wirtschaftskrise wirken sie wie Öl, das man
ins Feuer gießt. Solchen Neuerungen stimmen wir Grünen auf keinen Fall zu.
({3})
Die Koalition ist hier auch zurückgerudert und hat die
Fair-Value-Bewertung für Handelsunternehmen wieder
zurückgenommen. Dort aber, wo sie am gefährlichsten
ist, bei den mit Finanzinstrumenten handelnden Banken,
ist sie im Gesetz geblieben. Das ist ein Fehler, meine Damen und Herren. Das weiß die Koalition auch, weshalb
sie zwei - allerdings nicht ausreichende - Bremsen gegen das Spiel mit Buchgeld in der Bilanz der Banken
eingebaut hat. Vom virtuellen Marktwert soll ein Sicherheitsabschlag abgezogen werden. Also kommt Fair
Value minus X in die Bilanz. Nur leider ist die Höhe dieses X gesetzlich nicht fixiert.
({4})
Das ist ein Manko. Von den realen Gewinnen beim Handel mit Finanzinstrumenten müssen die Banken 10 Prozent in einen Fonds für allgemeine Bankrisiken einzahlen und dort auch gesondert ausweisen. Dies wirkt zwar
wie eine Ausschüttungssperre, die dazu dient, dass sich
die Aktionäre die virtuell gebuchten Gewinne nicht real
auszahlen lassen und damit das Unternehmen nicht ausräumen können. Der Webfehler bei diesem System ist jedoch, dass dieses Geld - als Sicherheit für die FairValue-Bilanzierung gedacht - gleichzeitig dem Kernkapital der Banken zugeführt wird und damit der Risikoabsicherung künftiger Kreditausreichungen dient.
Eine Sicherheit für zwei sich addierende Risiken, das
ist eine Mogelpackung an Sicherheit. Damit haben Sie es
uns, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
letztendlich unmöglich gemacht, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen.
({5})
Die Verantwortung für zukünftige Bilanzakrobatik der
Banken, aufgehübschte Bilanzen und verflüchtigte
Sicherheiten tragen Sie allein.
({6})
Jetzt spricht Klaus Uwe Benneter für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!
Der vorliegende Gesetzentwurf ist gut. Das Gesetz heißt
Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz. Sie sehen an dem
Titel, dass wir versuchen, in einem Wort vieles von dem
unterzubringen, was der Gesetzentwurf beinhaltet. Es
müsste eigentlich noch „Bilanzrechtskostengünstigkeitsgesetz“ oder „Bilanzrechtsvereinfachungsgesetz“ heißen; aber das haben wir in den Titel dann doch nicht
mehr aufgenommen.
In allererster Linie ist dieses Gesetz, das wir heute
verabschieden, ein gutes Gesetz für den deutschen Mittelstand. Es ist auch ein gutes Gesetz für die deutsche
Bankenlandschaft, Herr Kollege Montag. Die Kreditinstitute sind zwar nicht begeistert, dass wir ihnen mehr
Transparenz und Risikovorsorge vorschreiben. Das war
aber dringend notwendig. Denn aus der Finanzkrise haben wir gelernt: Mehr Transparenz und mehr Vorsorge
ist besser für die Banken und für uns alle.
Aus der Vielzahl der Einzelregelungen, die ich nicht
alle vortragen kann - das hätte auch Herr Kollege Merz
nicht geschafft -,
({0})
will ich drei Punkte, die mir wichtig erscheinen, hervorheben, um zu verdeutlichen, dass es ein gutes Gesetz ist.
Erstens: Entlastung. Dieses Gesetz ist ein Bürokratieabbaugesetz. Das war immer Ihr Anliegen; hier wurde es
durchgesetzt. Bisher waren alle Kaufleute zur handelsrechtlichen Buchführung und zur Aufstellung einer
HGB-Bilanz verpflichtet. Das wird jetzt geändert. Wir
befreien kleine Einzelkaufleute mit einem Jahresüberschuss bis 50 000 Euro und Umsätzen bis 500 000 Euro
von der handelsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzierungspflicht. Diese Kaufleute können künftig ihre
Buchführung auf eine einfache Einnahmenüberschussrechnung umstellen. Das ist vertretbar und für die betroffenen Unternehmen eine ganz enorme Arbeitserleichterung, die auch mit erheblichen Kosteneinsparungen
verbunden ist. Deswegen ist es wichtig, dass dieses Gesetz so schnell wie möglich in Kraft tritt. Denn die Übergangsvorschrift sieht vor, dass man diese Regelung
bereits für das Jahr 2008, also für das vergangene Geschäftsjahr, anwenden kann.
Zum Bürokratieabbau gehört auch die Anhebung der
Schwellenwerte um ungefähr 20 Prozent. Sie wissen,
wir unterscheiden zwischen kleinen, mittleren und
großen Unternehmungen und Kapitalgesellschaften. Je
größer die Gesellschaft ist, desto höher sind die Anforderungen an Rechnungslegung, Transparenz und Prüfungspflichten. Ein kleines Unternehmen muss beispielsweise seine Gewinn- und Verlustrechnung nicht
offenlegen und seinen Jahresabschluss nicht prüfen lassen. Als kleines Unternehmen galt bisher ein Unternehmen mit einer Bilanzsumme von bis zu 4 Millionen
Euro. Dieser Wert - das gilt auch für die Umsatzsumme wird erhöht werden. Neben den Einzelkaufleuten werden also auch viele kleine Unternehmungen eine große
Kostenersparnis erfahren.
Zweitens - ganz wichtig -: Zweckgesellschaften.
Hier müssen wir eine Lehre aus der Finanzmarktkrise
ziehen. Seitens Frau Dr. Höll ist hier schon zu Recht darauf hingewiesen worden, dass an dieser Stelle manipuliert wurde, indem Risiken aus der Bilanz ausgelagert
wurden. Das wird künftig nicht mehr möglich sein. Der
sogenannte Schrott wird in den Bilanzen ersichtlich sein
und kann auf diese Weise nicht mehr wegradiert werden.
Sie alle haben schon darauf hingewiesen, dass wir gegenüber dem ursprünglichen Regierungsentwurf in den
parlamentarischen Beratungen vieles durchgesetzt haben. Wir haben erreicht, dass Unternehmen künftig
einen Konzernabschluss erstellen und einen Konzernlagebericht aufstellen müssen, wenn sie auf Tochterunternehmen mittelbar oder unmittelbar einen beherrschenden Einfluss ausüben können. Ein beherrschender
Einfluss besteht nun nach den neuen Regelungen auch
dann, wenn die Mutter bei wirtschaftlicher Betrachtung
die Mehrheit der Chancen und Risiken der Tochter trägt.
Auf eine formale Mindestbeteiligung wie bisher kommt
es nicht mehr an.
Drittens: Zeitwertbewertung bei Finanzinstrumenten
gibt es künftig nur im Bankenbereich. Das hat der Kollege Montag hier moniert. Er hat gemeint, damit würden
wir weiterhin zulassen, dass die Zeitwertbewertung Mitverursacher oder gar Brandbeschleuniger im Zusammenhang mit einer Finanzmarktkrise sein könnte. Ich denke,
dem ist nicht so. Außerhalb des Bankenbereichs gehen
wir auf das bewährte Vorsichtsprinzip zurück. Alle Unternehmen, selbst wenn sie mit Wertpapieren und Finanzinstrumenten handeln, können weiterhin nach dem
Anschaffungskostenprinzip bilanzieren. Nur bei Kreditinstituten ist es anders. Warum? Weil das international
üblich ist
({1})
und weil die Zeitwertbewertung - das sollte man
wissen - bei uns schon längst gang und gäbe ist, und
zwar mit Zustimmung der Bankenaufsicht, obwohl sie
bisher nicht im Gesetz stand. Das heißt, wir regeln einen
Zustand, der sich bei uns faktisch längst so abspielt. Wir
haben jetzt auch Bremsen eingebaut, und zwar sowohl
den Risikoabschlag als auch den Sonderfonds, und beteiligen insofern auch die Aktionäre am Risiko.
Wie gesagt, dies alles ist uns in den Beratungen gelungen. Das war im Regierungsentwurf ursprünglich so
nicht vorgesehen. Deshalb sollte an dieser Stelle ein Lob
des ganzen Hauses für Herrn Dr. Ernst zum Ausdruck
kommen,
({2})
der unter der bewährten Führung der Bundesjustizministerin sehr gute Arbeit leisten konnte.
Entbürokratisierung und Entlastung, Konzernabschlüsse mit allen Zweckgesellschaften und Risikovorsorge beim Handel mit Finanzinstrumenten - das sind im
Wesentlichen die mir wichtigen Stichworte. Wir verabschieden heute ein kostengünstiges und vorsichtiges Bilanzrecht. Es ist einfacher und kostengünstiger als all
das, was bisher im Bereich der internationalen RechKlaus Uwe Benneter
nungslegungsstandards für die mittelständischen Unternehmen entwickelt wurde. Das zeigt: Unser HGB ist ein
Leuchtturm im Dickicht der internationalen Bilanzierungsvorschriften und ein sehr gutes Vorbild. Im Bündnis für das deutsche Recht können wir es international
nur zur Nachahmung empfehlen.
({3})
Der Kollege Dr. Jürgen Gehb hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedauere alle Zuhörer auf den Besucherrängen, die ausgerechnet bei dieser Debatte anwesend sein müssen. Es ist
schon für uns selber schwer, alles zu verstehen: IFRS,
IAS, US-GAAP, Fair Value, Fair Value minus X. Das ist
eine Debatte, da lacht das Herz der Zuschauerinnen und
Zuschauer sowie der Zuhörerinnen und Zuhörer.
Aber es nützt ja nichts: Die Rechtspolitik wird viel zu
häufig auf Mord und Totschlag, Sexualdelikte und Sicherungsverwahrung zurückgestutzt. Dabei bestehen die
Rechtspolitik und die Juristerei aus einem bunten Strauß,
einem tollen Bouquet von Materien! Dazu gehören natürlich auch das Wirtschaftsrecht und das Bilanzrecht.
Wir haben erst vor kurzem das MoMiG verabschiedet.
Auch das ist eine Typik im Wirtschaftsrecht: MoMiG,
UMAG, KapMuG, BilMoG.
({0})
Schon die Abkürzungen zergehen einem auf der Zunge.
Meine Damen und Herren, das BilMoG ist jetzt der
zweite Meilenstein auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts. Ich sehe, Frau Dyckmans nickt. Nicht so zufrieden war sie damals beim MoMiG, also bei der GmbHReform. Dabei sieht man einmal, welch tolle Entwicklung die genommen hat.
Ich habe vor etwa einem halben Jahr in meiner Rede
zum Haushaltsplan der Justiz, zum Einzelplan 07, an
dieser Stelle prophezeit, dass wir in dieser Legislaturperiode auch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz verabschieden. Heute tun wir dies. Das ist nicht nur die Bewahrheitung einer Prophezeiung von mir, sondern stellt
unter Beweis, dass diese Große Koalition zum einen
handlungswillig und zum anderen handlungsfähig ist
und nicht nach dem römischen Grundsatz vorgeht: Ut
desint vires, tamen est laudanda voluntas - Wo auch die
Kräfte versagen, ist nur der Wille zu loben. Nein, wir haben es nicht nur beim Willen bewenden lassen.
({1})
- Habe ich doch schon gemacht, auch schon für die
Oberrealschüler: Wenn es auch an den Kräften mangelt,
so ist dennoch der Wille zu loben. - Wir sind also handlungswillig und handlungsfähig, zumindest auf dem Gebiet der Rechtspolitik allen Unkenrufen zum Trotz, dass
diese Koalition nichts mehr hinbekomme. Das ist
schlichtweg falsch, meine Damen und Herren von der
Opposition.
({2})
Der Bundespräsident hat vorgestern in seiner viel beachteten vierten Berliner Rede ausgeführt, dass die Bevölkerung einen Anspruch darauf hat, dass die Regierung und natürlich auch die Parlamentarier - denn bei
uns ist es noch immer so, dass die Parlamentarier die Gesetze verabschieden; manche Zeitungen schreiben ja, die
Bundesregierung habe dieses und jenes Gesetz verabschiedet - handeln und Lösungen anbieten, die nachhaltig sind. Mit diesem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz
bieten wir eine Lösung, die heute, morgen und übermorgen Bestand haben wird, meine Damen und Herren.
Nun singen wir bei Wahlveranstaltungen oder bei anderen Veranstaltungen immer das Hohelied auf den Mittelstand. Alle reden vom Mittelstand, aber es wird nichts
dafür gemacht! Doch im Zentrum dieses Gesetzes steht
endlich einmal der kleine und mittlere Unternehmer.
({3})
Das sind nicht nur große Worte; er steht wirklich im
Zentrum. Wieso? Es ist heute schon gesagt worden, dass
die nicht kapitalmarktorientierten Unternehmer in Zukunft eine begrenzte Pflicht zur Buchführung, zur Inventierung und zur Bilanzierung haben. Ich will einmal die
Zahlen nennen.
({4})
Auch Herr Benneter hat eben die Summen genannt: ab
500 000 Euro Umsatzerlös und ab 50 000 Euro Gewinnerlös. Aber der Ersparniseffekt für den Mittelstand liegt
bei über 1 Milliarde Euro. Das muss man sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen! Wenn wir auch noch die
Fälle hinzunehmen, in denen es durch die Schwellenwertabsenkung zu weiteren Einsparungen kommt, sind
es round about 1,3 Milliarden Euro. Meine Damen und
Herren, das ist eine ordentliche Hausnummer. Ich finde,
da zeigt sich endlich einmal, dass man nicht nur leere
Versprechungen macht, sondern dass bei den Leuten
auch etwas ankommt. Die Enttäuschung wäre groß,
wenn wir dauernd Begehrlichkeiten weckten und die
Lippen spitzten, aber nicht pfeifen.
({5})
Heute ist ja ein Tag der Danksagung. Alle sagen: Das
ist ein schöner Tag für die Rechtspolitik! Jetzt werden
auch schon die Beamten des Ministeriums gelobt. Herr
Ernst ist heute viel gelobt worden - wahrscheinlich auch
zu Recht. Gelegentlich denke ich, dass die Beamten das
in Erfüllung ihrer beamtenrechtlichen Pflicht machen,
({6})
aber vielleicht haben sie es ja auch überobligatorisch gemacht.
({7})
Aber damit es nicht heißt, ich sei ein Stoffel, möchte
ich natürlich auch allen danken, und zwar in erster Linie
den Berichterstattern, die mit viel Sachverstand und
Kompetenz diese schwierige Materie durchdrungen haben:
({8})
die Antje Tillmann und sogar der Montag haben eben ein
bisschen dazu beigetragen.
({9})
Aber eines will ich sagen, pars pro toto, auch wenn ich
das sonst nicht mache. Einer ist mehrfach genannt worden; es wurde bedauert, dass er nicht geredet hat. Ich
meine einen Mann, der seit Jahren mit seiner finanzpolitischen, wirtschaftspolitischen und rechtspolitischen
Brillanz die Säle gefüllt hat, der auch an dieser Gesetzesmaterie Hand und Geist angelegt hat
({10})
und der diesem Gesetz im wahrsten Sinne des Wortes
gut getan hat - wie er in seiner zukünftigen Tätigkeit
wahrscheinlich dem ganzen Land gut tun wird. Ich
nenne meinen Kollegen, den Parlamentarier Friedrich
Merz, an dieser Stelle ganz besonders.
({11})
Meine Damen und Herren, jetzt gehen schon die letzten Zuschauer, wie Herr Montag gesagt hat.
({12})
- Ja, jetzt kommen frische; die können das ja gar nicht
wissen. Damit aber damit kein Ursachenzusammenhang
hergestellt wird, sage ich mit Blick auf die Uhr - vielleicht bekomme ich einen Bonus für die nächste Rede und weil wir gerade beim Danksagen sind, Ihnen allen,
meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und dafür, mir so gelauscht zu haben.
({13})
Herr Gehb, ein Bonus für die nächste Rede wird nicht
gewährt, aber Sie bekommen einen Bonus für das Publi-
kum. Das ist so eine Art Publikumsjoker, den wir in Zu-
kunft hier verteilen werden.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Modernisierung des Bilanzrechts. Der
Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12407, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10067 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Es geht um
den Änderungsantrag auf Drucksache 16/12425. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung durch die ein-
bringende Fraktion und bei Gegenstimmen im übrigen
Haus abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung durch die CDU/CSU, SPD und FDP, ohne Ge-
genstimmen und bei Enthaltung der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf
stimmen möchte, möge sich erheben. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-
vor angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Elektromobilität - Für einen bezahlbaren und
klimaverträglichen Individualverkehr
- Drucksache 16/10877 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für. Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Elektromobilität durch Änderung von immissionsschutz- und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern
- Drucksache 16/12097 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umfassende Förderstrategie für Elektromobilität mit grünem Strom entwickeln
- Drucksache 16/11915
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten
soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner in unserer Debatte ist Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es freut mich sehr, dass wir heute endlich im Deutschen
Bundestag über das Thema Elektromobilität sprechen.
Die FDP-Fraktion hat als erste Fraktion einen Antrag
hierzu eingebracht. Mittlerweile haben wir einen zweiten Antrag vorgelegt, weil uns das Thema zum einen
sehr am Herzen liegt und zum anderen sehr begeistert.
Das hat viele Gründe: Das ist das erste Mal, dass die
Autofahrer einen wirklich nennenswerten Beitrag zum
Klimaschutz leisten können. Neu ist auch, dass sie diesen Beitrag zum Klimaschutz leisten können, ohne abkassiert zu werden. Zum ersten Mal versucht man nicht,
die Autofahrer an der Tankstelle oder auf anderem Weg
abzuzocken. Man kann frei entscheiden und trotzdem etwas Gutes für die Umwelt tun. Deswegen ist die Elektromobilität aus unserer Sicht ein ganz wichtiges Zukunftsthema.
({0})
Zum ersten Mal hat man die Möglichkeit, die Umwelt- und die Verkehrspolitik zu versöhnen. Das ist für
die FDP entscheidend, weil wir Mobilität nicht verhindern, sondern ermöglichen wollen. Wir wollen Mobilität
auf ökologischem und klimafreundlichem Weg ermöglichen. Das könnte uns auf diese Art und Weise gelingen;
({1})
im Übrigen ohne den Menschen den Spaß zu verderben.
Ich glaube, das ist das, was uns von dem einen oder anderen in diesem Raum unterscheidet.
({2})
Wir stellen die technischen Innovationen vornan. Wir
sagen: Die deutsche Automobilindustrie hat hier die
Chance, zukunftsfähige Konzepte zu verwirklichen, und
dadurch würden unsere Exportchancen deutlich steigen.
Deshalb haben wir diese Anträge eingebracht.
Die Grünen haben ebenfalls einen Antrag zu dieser
Thematik eingebracht. Im ersten Moment klingen sie
ähnlich. Wenn man sie durchschaut, stellt man aber fest,
dass der Duktus ein bisschen anders ist. Bei den Grünen
geht es um Tempolimit, um kleinere Autos und darum,
dass man, wenn möglich, ein bisschen seltener Auto
fährt, dass man die individuelle Mobilität ein bisschen
einschränkt, dass man häufiger mit dem Rad, der Bahn
oder dem Bus fahren könnte. Mobilität zum Abgewöhnen - so könnte man das vielleicht zusammenfassen.
({3})
Wir glauben, dass diese Art der Miesmacherei dem
Thema nicht gerecht wird, weil man dadurch Leute auseinanderbringt, die man jetzt endlich einmal zusammenbringen könnte.
In dem Antrag der Grünen steht zum Beispiel: „Elektromobilität löst nicht alle Verkehrsprobleme.“ Das ist
keine große Neuigkeit; das ist auch uns bekannt. Elektromobilität kann aber einen Beitrag leisten, ebenso wie
die Fotovoltaik, die das Energieproblem nicht alleine lösen kann, die aber ebenfalls einen wichtigen Beitrag leistet. Und das zählt schließlich auch. Deswegen sollten wir
das nicht schlechtreden, sondern Bemühungen auf diesem Gebiet unterstützen.
({4})
Im Antrag der Grünen kann man auch lesen, dass es
noch lange dauern wird, bis sich die Elektromobilität
durchsetzen wird. Wir hoffen, dass das schnell geht.
Deswegen bitten wir darum, dass Sie diesen Prozess mit
anschieben und nicht das Haar in der Suppe suchen. Helfen Sie mit, dass es weitergeht.
Der Antrag der Grünen ist überschrieben mit „Umfassende Förderstrategie für Elektromobilität mit grünem
Strom entwickeln“. Die Grünen schreiben: „Die KfzSteuer für Elektrofahrzeuge wird am CO2-Ausstoß der
Stromerzeugung orientiert.“ Das ist der zentrale Unterschied zu dem, was wir gerne hätten. Das klingt im ersten Moment zwar ganz vernünftig, bedeutet aber für die
Kunden, die ihr Auto über die Steckdose aufladen, dass
sie einmal für den Strom ohnehin die Zertifikate und die
Emissionsrechte bezahlen. Zusätzlich soll eine KfzSteuer etabliert werden. Das bedeutet, dass man doppelt
zur Kasse gebeten wird, obwohl man das Klima nicht
zusätzlich schädigt; und das aus reiner Ideologie heraus.
Das ist vollkommen wahnsinnig.
({5})
Dies ist vollkommen sinnlos, weil man damit denjenigen doppelt bestraft, der sich klimafreundlich und klimaneutral verhält. Dies erschließt sich mir überhaupt nicht.
Unser Ansatz ist ein ganz anderer: Wir wollen die KfzSteuer abschaffen und auf die Mineralölsteuer umlegen.
Dann hätten die Elektromobile tatsächlich einen Vorteil,
weil für sie diese Steuer nicht mehr gezahlt werden muss
und sie kein Öl verbrauchen.
({6})
Dadurch könnte man diese Form der Mobilität anschieben: nicht dadurch, dass man sie bestraft, sondern dadurch, dass man sie fördert.
Wir wollen es klimaverträglich machen. Das ist ein
wichtiger Punkt. Die 80 Gramm pro Kilometer, von denen Sie geschrieben haben, kann man mit Elektroautos
fast schon erreichen; beim jetzigen Energiemix ist man
bei circa 90 Gramm pro Kilometer. Auch unser Ziel ist
es, dies deutlich zu senken, indem man die erneuerbaren
Energien fördert. Damit kämen wir auf 60 Gramm pro
Kilometer. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern das ist
machbar.
Es geht aber nicht nur um die erneuerbaren Energien,
sondern beispielsweise auch um eine Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken. Auch dadurch wird der CO2Ausstoß reduziert, ebenso dadurch, dass man alte Kohlekraftwerke durch effizientere ersetzt und CCS nicht verteufelt, sondern als zusätzliche Option ermöglicht, sodass man in diesem Bereich CO2-neutral arbeiten kann.
Dies brächte uns nach vorn. In diesem Bereich müssen
wir aber noch viel Aufklärungsarbeit leisten.
({7})
Der entscheidende Punkt sind nicht die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken oder die Steuerkonzepte
der Grünen, sondern - an dieser Stelle sind wir dann
doch wieder zusammen - die Tatsache, dass man hiermit
die erneuerbaren Energien fördern kann. Der große
Nachteil der erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne
ist, dass sie nicht grundlastfähig sind. Verwendet man sie
nach ihrer Einspeisung zur Ermöglichung emissionsfreier Mobilität, können im Gegenzug die Autobatterien
auch dafür sorgen, dass Netzschwankungen ausgeglichen werden. Gäben die Batterien der Fahrzeuge, wenn
sie nachts in der Garage stehen, wieder Strom ab, könnte
dies Schwankungen ausgleichen, die dadurch entstehen,
dass weniger Wind- oder Sonnenenergie eingespeist
wird. Dadurch könnte man etwas mehr Grundlastfähigkeit erreichen und auf diese Weise die erneuerbaren
Energien ganz weit nach vorne bringen. Dies wäre praktisch ein Turbo für die erneuerbaren Energien, was wir
als FDP ganz großartig finden.
({8})
Gestern hat der Haushaltsausschuss die von der Bundesregierung vorgesehenen Mittel zur Förderung der
Elektromobilität freigegeben. Es waren 500 Millionen
Euro und damit weniger als ein Fünftel dessen, was in
die Erforschung der Batterietechnik gesteckt werden
muss. Dies ist ein riesiger Nachteil, weil die Speicherfähigkeit das Entscheidende ist, um die Elektromobilität
voranzubringen und wettbewerbsfähig zu machen. Man
muss also die Batterietechnik so weit entwickeln, dass
größere Radien für Elektromobile möglich werden.
Wenn die Große Koalition hierfür maximal ein Fünftel
der erforderlichen Mittel ausgeben will, dann merkt
man, dass die Problematik den Herrschaften überhaupt
nicht klar ist. Ich hoffe, dass hier noch ein Umdenken
stattfindet. Wenn wir in Investitionen von gestern wie
Abwrackprämien investieren, anstatt uns um Elektromobilität zu kümmern, dann hat dies nichts mit nachhaltiger
Mobilität, aber viel mit Politik von gestern zu tun.
Herzlichen Dank.
({9})
Der Kollege Dr. Andreas Scheuer spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Meierhofer, über Ihren Schlusssatz habe
ich mich schon ein wenig gewundert. Sie haben den Bogen von der Elektromobilität über die Abwrackprämie
bis hin zur Großen Koalition gespannt, um die gute
Maßnahme der Abwrackprämie zu kritisieren. Sie werden als Umweltpolitiker akzeptieren,
({0})
dass neue Fahrzeuge den Fahrzeugbestand in Deutschland auffrischen.
({1})
Dies bedeutet, dass die Abwrackprämie auch zu einer
Schonung des Klimas beiträgt.
Das heutige Thema ist die Elektromobilität. Das Elektroauto wurde 1899 erfunden. Auf der Weltausstellung
im Jahre 1900 wurde der Lohner-Porsche vorgestellt.
Dies zeigt, wie lange wir gebraucht haben, bis wir das
Thema Elektromobilität hier im Deutschen Bundestag
diskutieren. Ich hoffe, dass die Entwicklungsstadien in
den kommenden Jahren nicht mehr so lange dauern, wie
seit der Erfindung des Elektroautos bis heute vergangen
sind.
Mobilität wird zunehmend zur sozialen Frage des
21. Jahrhunderts. Bei Pilotprojekten zur Einführung der
Elektromobilität müssen wir uns entscheiden, ob wir uns
erst einmal auf die Ballungszentren konzentrieren oder
ob wir uns zugleich darüber unterhalten wollen, wie die
Elektromobilität im ländlichen Raum aussehen kann. Da
wird der ÖPNV sicherlich eine Vorbildfunktion haben.
Dort können wir - auch im Hinblick auf Motorentechnik vieles in Bewegung bringen.
Ich greife fünf Punkte heraus. Erstens ist bei der Elektromobilität entscheidend, wie wir die Infrastruktur gestalten. Herr Kollege Meierhofer, es gibt bereits Unternehmen, die keine staatlichen Subventionen brauchen,
sondern diese Chance nutzen und eine Infrastruktur für
Elektromobilität in Deutschland aufbauen wollen. In
Israel, in Kalifornien und in Dänemark laufen bereits
Pilotprojekte; dort steht man kurz vor der Einführung.
Wir sollten uns daran beteiligen. Die Bundesregierung
macht sehr viel dafür. Sie stellt 500 Millionen Euro für
den Bereich der alternativen Antriebstechniken mit dem
Schwerpunkt Elektromobilität zur Verfügung; das ist ein
Wort.
Die Unternehmen, die sich hier engagieren und die
jetzt Gespräche führen wollen, planen zum Beispiel,
dass die Verbraucher mit dem Elektroauto ins Parkhaus
eines Supermarktes fahren können und dort das Auto
zum Aufladen an eine Steckdose anschließen können,
von der genau erkannt wird, um welches Auto es sich
handelt und welchen Vertrag der Besitzer mit dem
Stromanbieter hat. Außerdem soll es möglich sein, am
Arbeitsplatz in die Tiefgarage zu fahren und das Elektroauto dort zum Aufladen anzuschließen. Wenn man billigeren Strom beziehen möchte, soll ein Pendler morgens
zur Arbeit und abends mit dem Elektroauto nach Hause
fahren können und zum Aufladen Nachtstrom nutzen
können. Diese Projekte sind im Rahmen der Entwicklung einer Infrastruktur topaktuell und laufen jetzt an.
Ich glaube, das hat die Bundesregierung mit dem Konjunkturpaket hervorragend unterstützt. Wir wollen an
dieser Stelle weiterkommen.
Damit kommen wir zum zweiten Punkt: Energiesicherheit und Versorgungssicherheit. Mein Vorredner,
Kollege Meierhofer, hat es angesprochen. Wir müssen,
Herr Kollege Hettlich von den Grünen, offen darüber
diskutieren, wie wir zu Kernkraftwerken stehen, wenn es
bei uns vielleicht irgendwann 2 Millionen, 5 Millionen
oder 10 Millionen Elektroautos gibt. Wie erreichen wir
dann Energiesicherheit? Der Strom wird dann wohl nicht
nur aus regenerativen Energiequellen kommen.
({2})
Der dritte entscheidende Punkt betrifft die Weiterentwicklung der Batterie. Die weitere Erforschung der
nächsten Generation der Batterien unterstützt das Forschungsministerium mit sage und schreibe 60 Millionen
Euro. Die Wirtschaft hat sich verpflichtet, mit 360 Millionen Euro einzusteigen. Hier müssen Antworten auf
die Fragen gefunden werden, wie wir Batteriesicherheit
garantieren und die Lebensdauer von Batterien und damit natürlich auch die Radien für die Fahrten mit Elektroautos vergrößern können.
Der vierte entscheidende Punkt ist der Wirkungsgrad
des Elektroantriebes.
Der fünfte Punkt ist der Preis. Dieser wird im Antrag
der Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion und
auch im Antrag der Grünen erwähnt. Die Preise müssen
für die Verbraucher attraktiv sein. Ich habe mir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sehr genau angeschaut,
Kollege Hettlich. Wir sollten uns jetzt nicht mit Forderungen nach Steuerermäßigungen überbieten, keinen
Subventionsmarathon beginnen und kein drittes, viertes
und fünftes Konjunkturpaket anschließen.
({3})
Vielmehr sollten wir jetzt erst einmal die Diskussion darüber führen, wie wir Elektromobilität in Deutschland
ganzheitlich und unter Berücksichtigung der fünf
Punkte, die ich vorher genannt habe, einführen.
Alternative Antriebstechniken sind schon serienreif,
aber dies bringt uns nichts, wenn deren Einführung an
der mangelnden Infrastruktur scheitert. Dazu kommt die
Diskussion über den Preis. Natürlich kann das Auto relativ günstig sein. Aber wenn die entsprechende Infrastruktur, um das Auto aufzuladen, fehlt, dann bringen
mir das kostengünstigste Auto und vor allem auch ein
Steueranreiz, wie ihn die Kolleginnen und Kollegen der
Grünen fordern, nichts.
({4})
Ich denke, der „Nationale Entwicklungsplan Elektromobilität“ der Bundesregierung ist der richtige Schritt.
Auch die Koordinierungsplattform unter den Ministerien
ist äußerst wichtig, um bei der Entwicklung einer umweltschonenden Antriebstechnik Zeit zu gewinnen. Der
VDA zum Beispiel hat ein größeres Positionspapier vorgelegt; manche Universitäten haben Gutachten erstellt.
Der Pool an Ausarbeitungen ist vorhanden. Wir sollten
jetzt in die Diskussion einsteigen. Ich denke, die Kolleginnen und Kollegen der Grünen haben ein Sammelsurium von Themen zusammengestellt. Über den einen
oder anderen Punkt können wir uns sicherlich noch unterhalten. Selbstverständlich wird sich die Koalition in
diesen Beratungsmarathon einbringen. Die FDP hat zwei
Anträge zu diesem Thema eingebracht. Ich denke, wir
sollten ohne Scheuklappen diskutieren.
Lieber Kollege Hettlich, die Grünen haben in ihrem
Antrag einen Zuschuss für Elektroroller in Höhe von
1 000 Euro gefordert. Ich rate euch: Schaut euch die
Preise von Elektrorollern einmal genau an. Momentan
gibt es ein Produkt, das nur 1 500 Euro kostet.
({5})
Wenn sich der Staat bei einem Preis von 1 500 Euro mit
1 000 Euro beteiligt, dann ist das nicht mehr verhältnismäßig.
Ein anderer Aspekt, der mich am Antrag der Grünen
stört, ist die Werbung für die japanischen Autohersteller.
Ich denke, die deutsche Automobilindustrie hat genug
Modelle in der Pipeline, um marktfähig zu sein. Natürlich gehört zur Realität, dass momentan aufgrund der
Automobilkrise bei der Grundlagenforschung gespart
wird. An dieser Stelle muss vielleicht auch der Staat ein
bisschen nachsteuern.
Schauen Sie sich einmal die Modelle an, die auf der
Motorshow in Detroit vorgestellt wurden,
({6})
beispielsweise die A-Klasse von Mercedes; auch BWM,
Audi, VW und alle anderen großen Automobilhersteller
waren dort mit serienreifen Produkten vertreten. Ich
denke, die diesjährige IAA wird ein weiterer Baustein
auf dem Weg hin zu mehr Elektromobilität sein. Die
neuen Entwicklungen, die dort vorgestellt werden, sollten wir uns genau ansehen.
Zum Schluss noch eine kurze Bemerkung zu Ihnen,
Herr Kollege Meierhofer. Ich habe viel Sympathie für
Ihren kurzen, aber sehr guten Vorschlag zur Einführung
von Wechselkennzeichen für Elektroautos.
({7})
In Österreich wurden mit Wechselkennzeichen bei herkömmlichen Fahrzeugen bereits sehr gute Erfahrungen
gemacht.
({8})
Warum sollten wir nicht den Anreiz setzen, auch für
Elektroautos Wechselkennzeichen einzuführen? Das
Auto, das auf Sprit angewiesen ist, steht vielleicht in der
Garage, sodass jemand, der in einem Ballungsraum lebt,
für überschaubare Strecken eventuell das Elektroauto
nutzt. Das ist ein praxisorientierter Hinweis, den die Koalition gerne aufgreift.
({9})
Natürlich muss ich mich noch mit den Kolleginnen und
Kollegen von der SPD beratschlagen, ob wir uns in diesem Punkt einigen können. Wenn sich die Politik ohne
Scheuklappen mit diesem Thema befasst, wird es uns
gelingen, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Herr Kollege Hettlich, welche Fraktion ihren Antrag
zuerst eingebracht und welche Fraktion den längsten Antrag verfasst hat, ist nicht entscheidend. Es kommt darauf an, wer die gemachten Vorschläge letztlich am besten zusammenfasst und im Deutschen Bundestag eine
Mehrheit organisiert. Wem das gelingt, werden wir am
Ende der Debatte feststellen. Ich freue mich auf die Diskussionen, die wir, wie gesagt, ohne Ressentiments und
ohne Scheuklappen führen sollten.
Herzlichen Dank.
({10})
Dorothée Menzner erteile ich jetzt für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Probleme, die dazu geführt haben, dass wir überhaupt über Elektromobilität diskutieren, sind bekannt:
Lärm und Feinstaub in den Städten, CO2-Emissionen,
deren Umfang deutlich gesenkt werden muss, und die
Endlichkeit fossiler Energieträger. Vor dem Hintergrund,
dass im Antrag der FDP suggeriert wird, mithilfe der
Elektromobilität könnten wir ganz schnell Lösungen erzielen, wage ich zu behaupten: Das ist ein bisschen optimistisch.
In diesem Monat wurde eine Studie des WWF veröffentlicht, in der die Auswirkungen von Elektroautos auf
den Kraftwerkspark und die CO2-Emissionen in
Deutschland ausführlich untersucht worden sind. Im Fazit der Studie heißt es - ich zitiere -:
Der realistischerweise erwartbare Beitrag der Elektromobilität zur Erreichung der Klimaschutzziele
bis 2020 ist gering.
Kurzfristig kann uns die Elektromobilität also nicht helfen. Nichtsdestotrotz sind wir natürlich gerne bereit,
über die Möglichkeiten der Elektromobilität, aber auch
über Hybridfahrzeuge und andere Vorschläge zu diskutieren. Wir Linke knüpfen die Förderung der Elektromobilität an eine Reihe wichtiger Kriterien.
Erstes Kriterium. Es macht, auch im Hinblick auf die
Reduzierung der CO2-Emissionen, nur Sinn, auf Elektromobilität umzusteigen bzw. sie weiterhin zu fördern,
wenn wir wirklich erneuerbare Energien nutzen. Ich wiederhole jetzt nicht all das, was wir in den bisherigen Debatten über dieses Thema gesagt haben. Sie alle kennen
das Märchen, durch die Nutzung von Atomstrom könne
der Umfang der CO2-Emissionen verringert werden. Wir
haben immer wieder bewiesen, dass das nicht der Fall
ist. Da die FDP in ihrem Antrag ehrlicherweise formuliert, dass dieses Argument ihrer Meinung nach einen
Grund für eine Laufzeitverlängerung darstellt, sage ich
Ihnen: Das lehnen wir entschieden ab.
({0})
Zweitens. Die Anreize für und der Druck auf die Automobilindustrie, weiterhin verbrauchsarme Fahrzeuge
mit Verbrennungsmotoren zu entwickeln und ihre Flotten dahin gehend zu modernisieren, müssen erhalten
bleiben. Die Diskussion über verbrauchsarme Fahrzeuge
und ihre Entwicklung darf nicht abbrechen.
Drittens. Wir werden die Probleme nicht durch Elektromobilität lösen können, wenn wir nicht zugleich den
ökologisch und ökonomisch sinnvolleren öffentlichen
Personennahverkehr ausbauen.
({1})
Dort, wo öffentlicher Nahverkehr möglich ist, ist er immer sehr viel sinnvoller als Individualverkehr. Der öffentliche Nahverkehr muss bedarfsgerecht gestaltet und
sinnvoll getaktet werden; er muss für die Menschen zugänglich sein. Damit lässt sich viel mehr CO2, Lärm und
Feinstaub reduzieren als mit allen Elektroautos.
({2})
Kollege Scheuer hat es eben angesprochen: Es nützt
nichts, allein die Fahrzeuge in den Blick zu nehmen; wir
müssen auch an die Infrastruktur denken. Herr Scheuer,
Sie haben dabei nicht bedacht, dass wir auch das Lastund Lademanagement sehr genau in den Blick nehmen
müssen. Wir müssen schauen, wie sich Elektromobilität
in den Spitzenzeiten auswirkt, was sie für unsere Stromnetze bedeutet. Auch darüber haben wir in der Vergangenheit diskutiert. Wir haben immer wieder vorgebracht,
dass die Privatisierung der Stromnetze nicht der goldene
Weg war. Hier müsste eine ganze Menge passieren. Es
kann auch nicht zukunftsweisend sein, wenn wir zwar
die Abhängigkeit von Ölmultis überwinden, dafür aber
zukünftig in eine verstärkte Abhängigkeit von Stromkonzernen geraten.
Für uns ist es wichtig, dass Mobilität umwelt- und
ressourcenschonend, bedarfsgerecht und sozial ausgewogen gestaltet wird.
({3})
Für uns kommt es nicht infrage, hier über Nobelmobilität, sozusagen über das elektrische Zweitauto für eine
Familie, zu diskutieren, aber die Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich überhaupt mit Mobilität zu versorDorothée Menzner
gen, weiterhin mit einem alten, spritfressenden Auto
durch die Gegend gondeln zu lassen, sie vor verschlossenen Bahnhöfen stehen zu lassen, ihnen keine Busverbindungen mehr zu bieten und sie dann auch noch die erhöhte Zeche dafür zahlen zu lassen.
Darüber müssen wir gemeinsam diskutieren, wenn es
um neue Formen der Mobilität geht. Elektromobilität
kann eine dieser Formen sein. Es wird aber immer darauf ankommen, Mobilität sozial gerecht zu gestalten
und nicht Ökologie gegen Ökonomie und soziale Gerechtigkeit zu stellen.
Ich danke.
({4})
Jetzt spricht für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestern
hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestag
die Bundesregierung in die Lage versetzt, ein großes
Paket auf den Weg zu bringen, das zwischen vier Bundesministerien verabredet worden ist. Das Bundesministerium
für Verkehr, das Bundesumweltministerium, das Bundeswirtschaftsministerium und das Bundesforschungsministerium haben verabredet: Wir wollen Deutschland zum
Leitmarkt für Elektromobilität machen.
({0})
Wir wollen in einem globalen Wettbewerb die Führungsrolle übernehmen.
Die Vereinigten Staaten investieren in den nächsten
zehn Jahren 150 Milliarden US-Dollar in erneuerbare
Energien. Japan investiert in den nächsten zwei Jahren
etwa 2,5 Milliarden US-Dollar. Deutschland ist seit gestern in der Lage, allein im Bereich der Elektromobilität
ein Programm in einem Umfang von über 2 Milliarden
Euro zu starten; der öffentliche Anteil, den der Haushaltsausschuss gestern bewilligt hat, beträgt 500 Millionen Euro.
Damit können wir gemeinsam mit der Industrie eine
Hebelwirkung erzielen, die uns mitten in der Krise hilft,
einer der wichtigsten Branchen in Deutschland frischen
Wind unter die Segel zu geben und Mobilität zu organisieren, die vom Erdöl unabhängig sein wird. Hinzu
kommt das, was wir seit vergangenem Jahr in Deutschland im Rahmen der Wasserstoffstrategie auf den Weg
gebracht haben. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung in die Lage versetzt, weitere 500 Millionen
Euro einzusetzen, um diese Technologie nach vorn zu
bringen. Verabredet ist, dass sich die Industrie im selben
Volumen beteiligt.
Damit haben wir ein Investitionspaket, das weit über
3 Milliarden Euro umfasst, damit wir in einer konzertierten Aktion zwischen Forschung, Bundeswirtschaftsministerium, Umweltministerium und Verkehrsressort
die Sache wirklich anpacken und umsetzen können. Der
Zeitpunkt ist genau richtig. Wir müssen die Krise nutzen, um stärker aus ihr herauszukommen, als wir in sie
hineingegangen sind. Wir wollen als stärkste Ökonomie
in Europa dabei die Musik machen und nicht den anderen hinterherlaufen.
({1})
Gestern sind die Mittel freigegeben worden. Heute ist
der Aufruf ins Land gegangen: Man kann sich jetzt bewerben, eine Modellregion für Elektromobilität zu werden. Der Wettbewerb wird von unserem Ministerium
gestaltet. Wir stellen dafür 150 Millionen Euro zur Verfügung.
Die Idee ist, dass die Einführung der neuen Mobilität
von den Ballungsgebieten ausgehen wird. Wir haben uns
mit den Nahverkehrsgesellschaften, den Energieversorgungsunternehmen, der Automobilindustrie und den
Forschungseinrichtungen verabredet. Durch den Nationalen Energiegipfel, den wir vor einigen Tagen zwischen
vier Ministerien und der gesamten deutschen Industrie,
die dafür maßgeblich ist, verabredet haben, ist klar, dass
alle mitgehen: zum Beispiel die Energieversorger und
auch die Automobilindustrie. Alleine Daimler investiert
in den nächsten knapp 12 Monaten bis zu 2 Milliarden
Euro in die Forschung.
Die Wirtschaft hat erkannt, worum es geht. Es geht
darum, in einem globalen Wettbewerb die Standards zu
setzen. Wir glauben, dass wir mit den Möglichkeiten, die
die deutsche Industrie hat, gut aufgestellt sind. Wichtig
an diesem Paket ist, dass wir die gesamte Wertschöpfungskette abdecken: von der Batterieentwicklung bis
hin zu integrierten Verkehrskonzepten in den Ballungsräumen. Wir müssen hier sehr viel über Softwareanwendung, Fahrplangestaltung und die Einbindung des öffentlichen Nahverkehrs reden. Wir wollen das für den
Bereich der individuellen Mobilität genauso wie für den
Geschäftsverkehr. Es geht dabei also um die Mobilität
der Wirtschaft genauso wie um die Mobilität im individuellen Bereich.
Ich komme zum Schluss. Herzlichen Dank dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages und dem Parlament, dass Sie die Regierung in die Lage versetzen,
jetzt mit einem solch konzertierten Paket anzutreten.
Sehr erstaunt hat uns allerdings, wie sich die FDP gestern im Haushaltsausschuss verhalten hat. Sie hat dieses
Paket nämlich abgelehnt.
({2})
Peter Hettlich spricht jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Elektromobilität wird in diesen harten
Zeiten offensichtlich die Heilsaufgabe zugewiesen, einerseits unser Klima und dazu auch noch unsere Automobilindustrie zu retten und uns andererseits unabhängig von Erdölimporten zu machen und gleichzeitig auch
noch für dauerhaft niedrige Treibstoffkosten zu sorgen.
Ich glaube, damit haben wir uns etwas vorgenommen,
was durch die Elektromobilität nicht geleistet werden
kann und wird; denn sie ist nicht die eierlegende Wollmilchsau.
({0})
- Warten Sie einmal ab.
Es ist ein fundamentaler Irrtum, wenn die Automobilindustrie und auch einige Politiker glauben, dass es
reicht, einfach den Verbrennungsmotor und den Benzintank auszubauen und dafür einen Elektromotor und
Batterien einzubauen.
({1})
- Nein, das reicht eben nicht; denn es ist auch ein Umdenken hinsichtlich der Technologie und auf vielen Ebenen erforderlich. Das heißt konkret: Wir brauchen nicht
nur technischen Lösungen an den Fahrzeugen, sondern
wir brauchen auch Lösungen um die Fahrzeuge herum
bzw. bezogen auf unsere Infrastruktur.
Auch wenn die CO2-Emissionen, die geringe Geräuschentwicklung - übrigens nur bei niedrigen Geschwindigkeiten - und die hohe Energieeffizienz der Motoren natürlich eindeutig für Elektromobilität sprechen, so lösen
wir damit ganz und gar nicht die Probleme, die ich auch
als Baupolitiker immer wieder anspreche, nämlich die
zerfaserten Siedlungsstrukturen, die mangelnde Tragfähigkeit unserer Infrastruktur und besonders den Flächenverbrauch.
Ob Ihnen das gefällt oder nicht: Durch die Elektromobilität wird von uns ein anderes Mobilitätsverhalten verlangt und sind neue Mobilitätsketten erforderlich; denn
auf längere Sicht werden die Reichweiten gering sein.
Das liegt an der Speichertechnologie. Wir werden sie
eben mit anderen Verkehrsträgern sehr viel enger vernetzen müssen. Aus meiner Sicht wird beispielsweise das
Elektrocarsharing in Zukunft eine viel stärkere Rolle
spielen als im Augenblick das normale Carsharing.
Deswegen unterstützen wir als Grüne alle Bemühungen um eine verbesserte Mobilitätskultur und -qualität;
denn eines sage ich Ihnen auch: Ein „Weiter so wie bisher!“ kann es in der Verkehrspolitik, ob mit oder ohne
Elektromobilität, nicht geben.
({2})
Wir als Grüne haben schon 2007 in unserem Energiekonzept bis zum Jahre 2020 mit 1 Million Elektrofahrzeugen gerechnet. Wir haben aber auch darauf hingewiesen, dass der Weg bis dahin steinig und lang ist und dass
der Beitrag, der mit der Elektromobilität zum Klimaschutz geleistet wird, zunächst einmal gering ist. Das ist
auch klar, da man entsprechende Steigerungsraten erst
einmal initiieren muss.
Damit sich das ändert, verweise ich auf ein erfolgreiches Konzept: Wir haben bei den erneuerbaren Energien
mit dem 100 000-Dächer-Solarstrom-Programm und
dem EEG gezeigt, dass man diese Einführungsschwelle
mit einer strategischen Förderung überwinden kann. Wir
befinden uns heute im Stadium der Marktreife und können sagen: Der Erfolg spricht Bände. Im Bereich der erneuerbaren Energien sind allein im letzten Jahr mehr Arbeitsplätze geschaffen worden, als Opel zum heutigen
Zeitpunkt insgesamt an Mitarbeitern hat.
Wir sehen also, dass Marktanreizprogramme Sinn
machen. Deswegen ist es auch konsequent, dass wir sagen: Wir wollen für Plug-in-Hybridfahrzeuge und für
batterieelektrische Fahrzeuge bis zu 5 000 Euro Unterstützung gewähren, damit eine Markteinführung dieser
Fahrzeuge ermöglicht wird.
Für mich ist auch die Frage der Stromdeckung sehr
wichtig. Wenn ich davon ausgehe, dass die Zahl von
3 Terawattstunden für 1 Million Fahrzeuge stimmt - sie
ist sehr reichlich bemessen -, dann entspricht das
0,3 Prozent des aktuellen deutschen Stromverbrauchs.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ihr müsst
mir einmal vorrechnen, warum ihr dann über die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke debattiert. Das ist
völlig absurd.
({3})
Es lohnt sich also immer. Bei 10 Millionen Fahrzeugen wären das gerade mal schlappe 3 Prozent. Bis 2020
decken wir das mit links aus erneuerbaren Energien ab.
({4})
Die entscheidende Frage im Zusammenhang mit der
Elektromobilität wird die Reichweite sein. Damit kommen wir zur Automobiltechnologie. Lieber Andi
Scheuer, du solltest dich mal mit der Technologie von
Loremo befassen - das war schließlich ursprünglich ein
bayerisches Produkt -: Gewichtsreduzierung, Aerodynamik und die Reduzierung des Bordstromverbrauchs, ob
bei einem Verbrennungsmotor oder mit Elektroenergie.
Genau das ist die Zukunft. Das gilt übrigens auch für
Fahrzeuge mit konventioneller Antriebstechnik. Dahin
müssen wir kommen. Das bringt einen Vorteil.
Ich möchte noch kurz auf neue Technologien wie die
Radnabenmotoren eingehen. Dadurch wird auch eine
Leistungsreduzierung bei Motoren möglich. Um einen
100-Kilowatt-Verbrennungsmotor zu ersetzen, verbraucht man nicht viermal 25 Kilowatt mit einem Radnabenmotor. Es ist eine deutliche Verringerung möglich,
weil eine höhere Effizienz erreicht wird.
({5})
Last but not least brauchen wir eine bessere Batterietechnologie. In diesem Zusammenhang füge ich hinzu,
lieber Ulrich Kasparick, dass 89 Millionen Euro aus dem
Programm ein bisschen wenig sind. Die Amerikaner
investieren 1,5 Milliarden Dollar in die Förderung der
Batterietechnologie. Wenn wir nicht aufpassen, dann
werden wir möglicherweise in diesem Bereich den Anschluss verlieren.
Wie gesagt, die Elektromobilität bietet uns Chancen;
sie birgt aber auch Risiken. Wir Grünen sprechen das
auch in unserem Antrag an vielen Stellen an. Aber wir
gehen diesen Weg mit. Wir wollen der deutschen Automobilbranche durchaus eine Zukunft ermöglichen, aber
wir gehen dabei nicht kritiklos vor. Insofern denke ich,
dass wir in den nächsten Wochen noch spannende Diskussionen zu diesem Thema führen werden.
Danke schön.
({6})
Rita Schwarzelühr-Sutter hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin froh, dass mein Kollege Peter Hettlich
zum Schluss noch die Kurve gekriegt hat. Im Titel des
Antrags der Grünen geht es zwar um eine Förderstrategie für Elektromobilität, aber während der Rede konnte
man teilweise glauben, dass ihr gar nicht für Elektromobilität seid, die doch eine große Chance bietet.
({0})
Die Frage, mit der wir uns heute beschäftigen, lautet:
Wie sieht die Mobilität in der Zukunft aus? Wie können
wir auch in Zukunft bezahlbare und für jeden zugängliche Mobilität anbieten, die den Anforderungen an den
Klimaschutz gerecht wird? Mit anderen Worten: Wir
müssen Mobilität zukunftsfähig machen.
Der starke Trend zur Urbanisierung und das schnelle
Wachstum der Städte werden dazu führen, dass sich in
den Städten der Zukunft auch die Mobilität der Zukunft
entscheidet. Diese Potenziale wollen wir nutzen und Innovationen fördern, die Mobilität sauberer, leiser, besser
und bezahlbar machen. Elektromobilität bietet hierzu einen hervorragenden Lösungsansatz. Denn insbesondere
die Metropolen der Welt brauchen neue postfossile Verkehrskonzepte.
Elektromobilität kann einen wesentlichen Beitrag zur
Verringerung der CO2-Emissionen im Verkehrssektor
leisten. In der Energiebilanz sind elektrische Antriebe im
Vergleich zum Verbrennungsmotor bereits beim heutigen Kraftwerksmix effizienter und können damit zu einer Verringerung des CO2-Ausstoßes beitragen.
In der Stadt der Zukunft, in der viele Elektrofahrzeuge unterwegs sind, kann auch an einer Hauptstraße
das Fenster geöffnet werden und man kann in Ruhe die
saubere Luft genießen. Emissionen von Schadstoffen
und Klimagasen werden radikal reduziert. Das wird zu
einer völlig neuen Lebensqualität in den Ballungszentren
führen.
Nicht zuletzt entscheidet sich aufgrund der Akzeptanz
der Elektromobilität, wie es weitergeht. Dabei spielen
auch emotionale Faktoren eine Rolle.
Damit dies alles Wirklichkeit wird, müssen die deutsche Automobilindustrie, die Wissenschaft und die Energieversorgungswirtschaft die Akzeptanz von Elektrofahrzeugen erreichen und geeignete Modelle entwickeln.
Denn schon heute ist der Wettlauf um neue Technologien weltweit in vollem Gange. Alle deutschen Automobilhersteller arbeiten in Kooperation mit Energieversorgern an der Entwicklung von Elektrofahrzeugen,
Batterien und Infrastruktur.
Ich begrüße es außerordentlich, dass die Bundesregierung die Potenziale der Elektromobilität erkannt hat. Ich
denke, es ist durchaus etwas Besonderes, wenn sich vier
Ressorts auch parteiübergreifend einigen können, an einem Strang ziehen und die Elektromobilität nach vorne
bringen.
({1})
Mit 500 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket II
werden Forschung und Entwicklung im Bereich Elektromobilität gefördert; das ist ein wirklich großer Schritt.
Dass die Haushälter jetzt die Mittel freigegeben haben,
ist ein Punkt. Der andere ist: Es ist mit einer Hebelwirkung zu rechnen, weil sich die Wirtschaft zur Hälfte beteiligen wird.
Deutschland muss weiter seine starke Stellung auf
dem Leitmarkt Mobilität sichern. Schon heute stellen
Produkte und Dienstleistungen, die einen Beitrag zur
nachhaltigen Mobilität leisten, einen Weltmarkt mit einem Volumen von 180 Milliarden Euro dar. Bis 2020
wird sich dieses Volumen voraussichtlich verdoppeln.
Ich denke, das ist eine gute Chance, unseren Wirtschaftsstandort zu sichern und unseren Unternehmen eine Zukunftsperspektive aus der Konjunkturkrise heraus zu
bieten.
Danke.
({2})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/10877, 16/12097 und 16/11915 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd
Siebert, Ulrich Adam, Michael Brand, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rainer Arnold,
Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Konzept der Inneren Führung stärken und
weiterentwickeln
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innere Führung stärken und weiterentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Alexander Bonde, Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundeswehr - Innere Führung konsequent
umsetzen
- Drucksachen 16/8378, 16/8376, 16/8370,
16/12071 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl A. Lamers ({2})
Dr. Rainer Stinner
Winfried Nachtwei
Verabredet ist, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Innere Führung ist zu einem Markenzeichen
der Bundeswehr geworden. Der Staatsbürger in Uniform
ist das prägende Leitbild unserer Armee. Ich darf folgenden Satz, den mein damaliger Generalinspekteur Ulrich
de Maizière zu Recht geprägt hat, hinzufügen: „Innere
Führung ist der innere Kompass für unsere Soldatinnen
und Soldaten, ausgerichtet an den Werten unseres
Grundgesetzes.“ Die Innere Führung ist allerdings auch
ein dynamischer Prozess. Sie muss sich deshalb laufend
mit den sicherheitspolitischen und gesellschaftspolitischen Veränderungen auseinandersetzen und sich entsprechend weiterentwickeln. Ich bin dem Deutschen
Bundestag sehr dankbar, dass er gerade heute diese Debatte führt, um zu einer Fortentwicklung und Stärkung
der Inneren Führung der Bundeswehr beizutragen. Die
Regierung hat mithilfe des Parlaments Folgendes veranlasst:
Erstens haben wir in dieser Legislaturperiode viel im
Hinblick auf die Innere Führung erreicht. Wir haben die
Zentrale Dienstvorschrift neu erlassen, damit die Innere
Führung an die Einsatzrealität der Bundeswehr als einer
Armee im Einsatz für den Frieden angepasst wird.
Zweitens haben wir die politische Bildung weiterentwickelt. Das heißt konkret: Sie bietet nun einen geeigneten Rahmen, um unseren Soldatinnen und Soldaten die
Legitimität der Einsätze der Bundeswehr besser zu vermitteln.
Drittens haben wir, ausgehend vom Leitbild des
Staatsbürgers in Uniform, die Vorschrift zum lebenskundlichen Unterricht, die fast 50 Jahre alt war, neu konzipiert. Gerade dieser wendet sich nun als berufsethische
Unterrichtung an alle Soldatinnen und Soldaten. Ich bin
sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche und auch der Militärseelsorge für die Unterstützung,
aber auch für den Beitrag, den sie zur lebenskundlichen
Unterrichtung unserer Soldatinnen und Soldaten leisten,
sehr dankbar.
({0})
Mit der Überarbeitung der drei Zentralen Dienstvorschriften haben wir die Innere Führung umfassend weiterentwickelt. Wir haben auch der konzeptionellen Vorgabe unseres Weißbuches entsprochen, indem wir die
herausragende Bedeutung der Inneren Führung für den
Transformationsprozess der Bundeswehr unterstrichen
haben.
Die Innere Führung bewährt sich in der Praxis. Ich
kann immer wieder bei meinen Truppenbesuchen, sei es
im Inland, sei es im Ausland, feststellen, dass die Innere
Führung von unseren Soldatinnen und Soldaten unmittelbar gelebt wird. Dies wird besonders im Auslandseinsatz deutlich. Der Erfolg im Auslandseinsatz hängt auch
von der Einstellung unserer Soldatinnen und Soldaten
ab, von ihrem Auftreten und von ihrem Miteinander mit
der einheimischen Bevölkerung vor Ort. Eine wichtige
Rolle spielt auch das Führungsverhalten der Vorgesetzten. Egal wohin ich komme, welcher Auslandseinsatz
auch immer es sei, ich höre immer nur Positives von der
Bevölkerung und den politisch Verantwortlichen über
das Auftreten unserer Soldatinnen und Soldaten. Auch
das hat mit unserer Einstellung zur Inneren Führung zu
tun. Ich bin unseren Soldatinnen und Soldaten sehr
dankbar, dass sie die Prinzipien der Inneren Führung
auch und gerade im Auslandseinsatz leben.
({1})
Ich füge hinzu: Wir haben im Zusammenhang mit der
neuen Dienstvorschrift den Punkt „Familie und Dienst“
ergänzt. Auch in dieser Hinsicht steht die Bundeswehr
vor neuen Herausforderungen. Wir haben mittlerweile
16 000 Soldatinnen, was eine Bereicherung für die Bundeswehr darstellt. Es ist richtig, dass wir die Möglichkeiten, Elternzeit und Teilzeit wahrzunehmen, erweitert haben. So haben wir mittlerweile eine flächendeckende
Organisation von Familienbetreuungszentren und Eltern-Kind-Zimmern an 37 Standorten in der Bundesrepublik Deutschland eingerichtet. Wir haben konkrete
Maßnahmen für die weitere Verbesserung der Kinderbetreuung eingeleitet. Dies sind sehr konkrete Punkte. Damit sind wir dem Anspruch, Familie und Dienst bzw.
soldatischen Auftrag miteinander zu vereinbaren, unmittelbar gerecht geworden.
Zur Inneren Führung gehören auch die Beteiligung
unserer Soldatinnen und Soldaten, aber ebenso Themen
wie die sanitätsdienstliche Versorgung und die Erhöhung
der Attraktivität der Bundeswehr. Ich freue mich sehr
darüber - das gehört meines Erachtens ebenfalls zu diesem Feld -, dass es gestern möglich war, einen Soldaten,
der im Mai des Jahres 2007 im Einsatz in Kunduz erheblich verwundet worden ist, nachdem er durch eine hervorragende Rettungskette und Sanitätsversorgung wiederhergestellt war, auf der Grundlage des EinsatzWeiterverwendungsgesetzes als Berufssoldaten zu übernehmen. Dies ist, wie ich finde, ein wichtiges Zeichen,
dass wir unserer Verantwortung und der Fürsorgepflicht
gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten gerecht
werden.
({2})
Die Bundeswehr steht mitten in der Gesellschaft. Sie
hat ein hohes Ansehen. Die Bundeswehr findet unter
87 Prozent unserer Bevölkerung Zustimmung. Es ist
aber auch wahr, dass wir noch mehr Unterstützung unserer Auslandseinsätze durch die Bevölkerung und mehr
Kommunikation in den gesellschaftlichen Gruppen brauchen. Ich glaube - das spüre ich immer wieder -, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten, die im Interesse unserer Sicherheit ein Risiko für Leib und Leben eingehen,
die Unterstützung unserer Bevölkerung verdienen; denn
letztlich tun sie ihren Dienst im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.
Mittlerweile ist die Innere Führung zum Exportschlager geworden. 20 Nationen haben ein Interesse daran,
diese Grundprinzipien in ihre Armee einzubeziehen. Ich
möchte mich gerade beim Unterausschuss „Weiterentwicklung der Inneren Führung“, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, herzlich dafür bedanken, dass wir
gemeinsam die Grundsätze der Inneren Führung der gesellschaftlichen Entwicklung immer weiter anpassen.
Dies ist der beste Weg, die Bundeswehr modern, leistungsfähig und damit auch attraktiv zu halten - im Interesse unserer Sicherheit, im Interesse von Frieden, Recht
und Freiheit unseres Vaterlandes.
({3})
Die Kollegin Birgit Homburger hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute das Ergebnis der Arbeit des Unterausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“.
Der Abschlussbericht dieses Unterausschusses mit den
Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Inneren Führung ist bereits am 21. Juni 2007 vorgelegt worden. Es
sind also knapp zwei Jahre ins Land gegangen, bis wir
uns heute hier im Plenum damit beschäftigen. Nichtsdestotrotz ist es richtig, sich damit zu beschäftigen. Herr
Minister, Sie haben es gerade schon deutlich gemacht
- ich möchte das für die Fraktion der FDP unterstreichen -: Die Innere Führung ist ein Markenzeichen der
Bundeswehr. Sie prägt das Bild der Bundeswehr hier in
Deutschland und ganz besonders im Ausland; das zeigt
sich bei den Auslandseinsätzen. Wenn man mit Vertretern anderer Länder spricht, stellt man fest: Die Innere
Führung ist etwas, worum wir vielerorts beneidet werden.
({0})
Es ist richtig, der Inneren Führung Aufmerksamkeit
zu schenken und darüber auch im Parlament zu diskutieren. Herr Minister, Sie haben gesagt: Manches wurde getan. - In der Tat ist das eine oder andere in dieser Legislaturperiode getan worden. Ich möchte aber schon sehr
deutlich sagen: Es bleibt noch vieles zu tun.
Eines der zentralen Ergebnisse des Unterausschusses
des Verteidigungsausschusses „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ ist, dass deutlich gemacht wurde - und
zwar quer durch alle Fraktionen -, dass wir eine Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr brauchen. Die
Bundesregierung hatte mit der Verabschiedung des
Dienstrechtsneuordnungsgesetzes im November 2008
eine, wie ich finde, auf absehbare Zeit einzigartige
Chance, die Attraktivität des Dienstes zu steigern. Diese
Chance wurde aus meiner Sicht vertan.
({1})
Es wurden punktuell kleinere Verbesserungen erreicht;
aber leider ist auch die eine oder andere Verschlechterung zu beklagen.
Ich möchte ein Beispiel ansprechen, das heute auch
der Wehrbeauftragte bei der Vorstellung seines Berichtes
in der Öffentlichkeit thematisiert hat: Es geht um die Gebietsärzte und Rettungsmediziner, die der Bundeswehr
in den letzten Jahren in großer Anzahl „von der Fahne
gegangen sind“. Ursache für diese Ärzteflucht sind zum
einen deutlich attraktivere Arbeitsbedingungen auf dem
zivilen Arbeitsmarkt, und das will unter den Bedingungen von Ulla Schmidt schon etwas heißen.
({2})
Ursache dafür sind zum anderen die Rahmenbedingungen des Dienstes, die sich innerhalb der letzten Jahre
durchaus verschlechtert haben. Das hat der Wehrbeauftragte zu Recht angesprochen. Ich möchte hinzufügen:
Es gibt einen ähnlichen Exodus bei den Transportpiloten
der Luftwaffe.
Wie reagiert die Bundesregierung beim Dienstrechtsneuordnungsgesetz? Sie nimmt durch die Streichung
eines entsprechenden Passus in § 125 des Beamtenrechtsrahmengesetzes und durch die Einführung eines
sogenannten Zustimmungsvorbehalts des Bundesministeriums der Verteidigung schlicht allen Zeit- und Berufssoldaten die Möglichkeit, in ein Beamtenverhältnis zu
wechseln. Herr Minister, das sind Zwangsmaßnahmen
statt Attraktivitätssteigerung. Wir sind überzeugt davon,
dass das nicht der richtige Weg ist.
Die bis 2014 befristete monatliche Zulage in Höhe
von 600 Euro für Fachärzte, Rettungsmediziner und
Flugzeugkommandanten der Luftwaffe, die im Dienstrechtsneuordnungsgesetz verankert wurde, erscheint als
eine etwas hilflose Reaktion und, wie wir mittlerweile
wissen, durchaus auch als kontraproduktiv im Binnen23230
verhältnis zwischen den Soldatinnen und Soldaten.
Diese Zusage kann natürlich auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesregierung grundlegende Probleme der Attraktivität des Dienstes nicht in den Griff
bekommt. Deshalb muss mehr getan werden, als Stillhalteprämien zu bezahlen und darauf zu hoffen, dass sich
die Situation irgendwie ohne weiteres Zutun bessert.
({3})
Wir brauchen also ein Gesamtprogramm zur Attraktivitätssteigerung. Das bedeutet aus unserer Sicht, dass
wir endlich eine eigene Besoldungsgruppe S benötigen.
Angesichts des Zustandes der Kasernen, in denen
Dienst getan wird, brauchen wir darüber hinaus auch an
dieser Stelle eine Verbesserung der Situation. Zwar haben wir jetzt durch das Konjunkturpaket II die eine oder
andere Investition zu erwarten; nichtsdestotrotz bleibt
hier einiges zu tun.
Uns ist immer wieder vorgetragen worden, dass die
Rahmenbedingungen des Soldatenberufs von zentraler
Bedeutung sind, wenn sich in den nächsten Jahren junge
Menschen für einen Dienst in der Bundeswehr entscheiden sollen. Dazu gehören Aspekte wie die Versetzungshäufigkeit, aber eben auch die von Ihnen angesprochene
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dies ist ein aus
meiner Sicht ganz zentraler Punkt, an dem sich in der
Vergangenheit zu wenig getan hat, Herr Minister.
Bei Truppenbesuchen, aber im Übrigen auch vom
Deutschen BundeswehrVerband wird immer wieder vorgetragen, dass der Aspekt der Familienfreundlichkeit
sehr wichtig ist. Hierzu steht im Abschlussbericht des
Unterausschusses „Innere Führung“ in den Handlungsempfehlungen - ich zitiere -:
Gerade hier muss die Bundeswehr mit eigenen Einrichtungen etwas tun, wenn die Kommunen aufgrund ihrer Finanzausstattung sich nicht in der Lage
sehen, gerade an großen Standorten mehr Betreuungsstätten zu bieten.
Das zieht sich durch sämtliche Stellungnahmen, Herr
Minister, auch durch die Ihre am heutigen Abend im Plenum des Deutschen Bundestags. Es ist jedoch festzustellen, dass wir über Pilotprojekte bisher nicht hinausgekommen sind. Das ist kein Wunder, denn Geld zur
Realisierung dieser Maßnahmen ist im Haushalt nicht
verankert worden, obwohl es im letzten Jahr im Rahmen
der Haushaltsberatungen versprochen worden ist.
Vor diesem Hintergrund sagen wir vonseiten der
FDP-Bundestagsfraktion ganz deutlich, Herr Minister:
Wir dürfen, Sie dürfen hier nicht bei Bekundungen stehen bleiben; vielmehr muss hier schlicht und ergreifend
gehandelt werden. Wenn Sie auch auf Dauer die Attraktivität des Soldatenberufs erhalten wollen, dann muss an
den Stellen, an denen wir dringenden Bedarf haben, die
Attraktivität der Truppe gesteigert werden. Dazu gehören eben auch solche „weichen“ Faktoren, über die wir
ansonsten nur selten reden.
Vielen Dank.
({4})
Gerd Höfer spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine
allgemeine Vorbemerkung machen. Erstens. Es ist ein
ungewöhnlicher Vorgang, wenn Dinge, die von einem
Unterausschuss eines Ausschusses zur Weiterentwicklung der Inneren Führung vorgelegt worden sind, teilweise heute schon in der Praxis umgesetzt wurden. Dafür habe ich dem Bundesministerium der Verteidigung
und dem Bundesminister zu danken.
Zweitens. Trotz der Kritik von der Kollegin
Homburger bedauere ich außerordentlich, dass wir nicht
zu einem gemeinsamen Antrag durch Integration oder
Einbeziehung der Anträge der Grünen und der FDP gekommen sind. Wir waren dicht daran, aber in letzter
Minute ist es gescheitert.
Ich zitiere aus der neuen Zentralen Dienstvorschrift
- ZDv - 10/1 „Innere Führung“ - die Soldatinnen und
Soldaten auf der Tribüne, die Kameradinnen und Kameraden werden verstehen, was das ist -:
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr erfüllen ihren Auftrag, wenn sie aus innerer Überzeugung für Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie
als die leitenden Werte unseres Staates aktiv eintreten.
Hier wird ein hohes moralisches Rüstzeug für die Soldatinnen und Soldaten formuliert; denn einerseits geht es
um die Bindung der Soldatinnen und Soldaten an das
Grundgesetz, andererseits um die Bindung an den Auftrag.
All dies zusammen ist eine militärische Führungsphilosophie für die Vorgesetzten, aber auch ein Leitbild
für den Staatsbürger in Uniform. Diese Vorschrift ist
sehr anspruchsvoll. Ich habe im Unterausschuss „Innere
Führung“ gesagt, normalerweise könne man so etwas in
einer Vorschrift nicht regeln, weil eine innere Überzeugung nicht befohlen werden und eine Befolgung dieser
Grundsätze nicht kontrolliert werden kann. Aber dennoch sollte man auf dieses Leitbild hinarbeiten. Das ist
die vornehmste Arbeit der Vorgesetzten in diesem Bereich.
Was die Bindung an das Grundgesetz betrifft, so wünsche ich mir, dass die politische Bildung einen etwas
stärkeren Stellenwert im Dienstalltag der Bundeswehr
bekommt, damit man die Bindung an Menschenrechte,
Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit,
Gleichheit, Solidarität und Demokratie zumindest lehrt.
Ob und wie stark sie dann internalisiert wird, hängt vom
Einzelnen ab. Auf diesen Bereich, Herr Minister, sollte
das Augenmerk gerichtet werden.
Die Bindung an den Auftrag ist bei der Bundeswehr
ein Teil der soldatischen Tradition; denn in der Bundeswehr gilt die Auftragstaktik, die im Gegensatz zur Befehlstaktik dem Soldaten eine Eigenverantwortung bei
der Erfüllung des Auftrags einräumt. Er hat somit die
Möglichkeit, die Erfüllung dieses Auftrags nach seinem
Können, Ermessen und Wissen selbst zu gestalten.
Allerdings gibt es auch Gefährdungspotenziale, die
ich nennen will, weil alles das, was sich verbessert hat
und verbessert werden wird - das ist ja auch schon aufgeführt worden -, von Frau Kollegin Wegener dargestellt wird. Gefährdungspotenziale liegen unter anderem
darin - das hat mit der Institution des Wehrbeauftragten
nichts zu tun; er kann nichts dafür; es ist gut, dass es ihn
gibt -, dass die Masse der Eingaben - 2008 waren es
5 474 - überwiegend von Zeit- und Berufssoldaten gemacht werden, am wenigsten von den Wehrpflichtigen.
Bei diesen Eingaben ist festzustellen, dass die Masse derer, die Eingaben eingereicht haben, ihren Disziplinarvorgesetzten umgehen. Das wäre, wenn das weiter fortschreiten würde, eine Umgehung der Prinzipien der
Inneren Führung.
Das liegt unter anderem an Folgendem: Wenn der
Wehrbeauftragte Eingaben hat, wendet er sich an das
Ministerium. Im Ministerium geht es die „Hühnerleiter“
herunter, und man kontaktiert den Disziplinarvorgesetzten desjenigen, der betroffen ist; der erste ist der Kompaniechef, der zweite der Bataillonskommandeur. Dann
geht es die Hühnerleiter wieder hoch, und es wird eine
Entscheidung getroffen.
Dabei sind zwei Aspekte zu beachten. Ich möchte die
Kameradinnen und Kameraden ermuntern, die Disziplinarvorgesetzten mehr in die Pflicht zu nehmen, bei ihnen
vorbeizuschauen und im gemeinsamen Gespräch die
Dinge, die sie beschweren, zu lösen. Dafür ist er da;
denn er hat eine umfängliche Fürsorgepflicht. Wenn also
die Disziplinarvorgesetzten umgangen werden, dann ist
das kein Zeichen für gelebte Innere Führung.
Ein zweites Gefährdungspotenzial - das werden Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen im Parlament, nicht
gerne hören - hat mit der Frage zu tun, ob das Prinzip
der Auftragstaktik in der Bundeswehr stringent und dauerhaft durchgehalten werden kann; denn die Summe der
Anfragen aus dem Parlament und der Berichtsanforderungen durch den Verteidigungsausschuss führt dazu,
dass es die Hühnerleiter wieder heruntergeht und derjenige, der in irgendeiner Form im Einsatz gehandelt hat,
indirekt dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig wird, indem er diese Anfragen und Eingaben beantworten muss.
Das verunsichert viele der Kommandeure und Verantwortlichen vor Ort, weil sie sich fragen: Wie weit geht
eigentlich mein Ermessensspielraum? Diesen sollten sie
im Sinne des Prinzips der Auftragstaktik im Rahmen der
Inneren Führung haben. Weiter fragen sie sich: Inwieweit sollen wir uns praktisch für alles rechtfertigen, was
gewesen ist? In Stößen kommen die Anträge und Eingaben aus dem Verteidigungsausschuss und dem Parlament. Das führt teilweise dazu, dass die Führer vor Ort
nicht frei sind in ihrer Entscheidung und sich erst rückversichern, was sie zu tun bzw. zu lassen haben. Ich habe
gesagt, das ist ein Gefährdungspotenzial. Ich habe nicht
behauptet, dass es immer und überall so ist. Aber wir
sollten aufpassen, dass wir mit unserem parlamentarischen Eifer - so will ich es einmal nennen - nicht überregulieren und nicht eine zusätzliche Bürokratie schaffen, die die Führer vor Ort vor allem im Einsatz
erheblich belastet.
Ich bitte Sie, das mit zu bedenken, und danke für die
Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Linke hat der Kollege Dr. Hakki Keskin das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht heute um die Innere Führung der Bundeswehr,
und dies aus gutem Grund. Die Antragsteller meinen,
dass die Grundsätze, die das Handeln der Soldatinnen
und Soldaten bestimmen, an neue Realitäten angepasst
werden müssen.
Im Kern geht es um die Frage, wie das bisherige Leitbild des Staatsbürgers in Uniform unter den gesellschaftlichen Veränderungen beibehalten werden kann. Mit gesellschaftlichen Veränderungen sind in erster Linie die
zunehmenden Auslandseinsätze der Bundeswehr gemeint. Die Soldatinnen und Soldaten müssen auch unter
Kampfbedingungen und in einer fremden gesellschaftlichen Umgebung ein politisch und moralisch zu verantwortendes Handeln unter Beweis stellen. Die Innere
Führung verfolgt also das Ziel, die Bundeswehr in die
rechtsstaatliche Ordnung einzubinden und in die Gesellschaft zu integrieren. Damit sollen die Verselbstständigung einer militärischen Eigenkultur und die Entstehung
eines soldatischen Sonderethos ausgeschlossen werden.
Diesem Konzept können wir natürlich zustimmen.
Das Problem ist jedoch seine praktische Anwendung,
wie wir dies beispielhaft gerade gesehen haben. In den
jährlichen Berichten des Wehrbeauftragten werden die
Defizite immer wieder aufs Neue aufgelistet, ohne dass
sich daran bislang etwas Grundsätzliches geändert hätte.
Vorfälle wie die körperlichen Misshandlungen von Soldaten in der Coesfelder Kaserne sind zwar nicht die Regel, aber leider auch keine Einzelfälle. Es muss klar sein,
dass bei der Menschenwürde keine Kompromisse gemacht werden dürfen. Die Gehorsamspflicht von Soldatinnen und Soldaten endet dort, wo erkennbar rechtswidrige Handlungen befohlen werden. Zugleich müssen die
Soldatinnen und Soldaten besser vor Verletzungen ihrer
Menschenwürde geschützt werden. Daher brauchen sie
mehr Anlaufstellen mit Vertrauenspersonen, an die sie
sich mit ihren Problemen wenden können.
Die Linke fordert zum wiederholten Male, die Rechte
des Wehrbeauftragten zu stärken. Seine Arbeit hat sich
bewährt. Unserer Ansicht nach sollte er das Recht haben,
eigenständig und ohne konkreten Anlass Berichte vom
Verteidigungsministerium über einzelne Reformvorhaben anzufordern. Selbstverständlich sollte er auch unan23232
gemeldet Truppenbesuche in den Einsatzgebieten im
Ausland durchführen.
Eines der Hauptprobleme bildet die Überfrachtung
der Bundeswehr mit Sonderaufgaben. Mittlerweile prägen riskante Auslandseinsätze in innenpolitischen Friedenszeiten den Bundeswehralltag. Der Ausnahmefall ist
somit zum Regelfall geworden. Genau aus diesem
Grunde wollen die Antragsteller die Grundsätze der Inneren Führung umstrukturieren. Insbesondere im Koalitionsantrag sticht dieser Aspekt deutlich hervor.
Die Linke lehnt als einzige Fraktion im Bundestag die
Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland ab.
({0})
Der Kernauftrag der Bundeswehr liegt nach unserer
Meinung, lieber Kollege, in der Landesverteidigung. Damit sind die Staatsgrenzen der Bundesrepublik Deutschland gemeint. Wir können nicht mit Initiativen einverstanden sein, die den Zweck haben, die Bundeswehr zu
einer permanenten Einsatzbereitschaft sogar im Ausland
zu befähigen. Die Sicherheit für Deutschland wird damit
gewiss nicht größer, sondern immer stärker gefährdet.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Innere Führung und das Leitbild vom Staatsbürger
in Uniform sind eine zentrale Lehre aus der verheerenden Aggressionsgeschichte der Wehrmacht. Diese Lehre
ist eine wichtige Errungenschaft zur Einbindung von
Streitkräften in die bundesdeutsche Demokratie und ein
Gütesiegel der Bundeswehr.
({0})
Die Wertschätzung der Inneren Führung ist bei allen
Fraktionen dieses Hauses insgesamt hoch. Darüber - das
sage ich nicht einfach nur daher - besteht Konsens.
Auch wenn wir nachher über die Anträge unterschiedlich abstimmen, so muss man bei genauem Hinsehen
doch sagen, dass es sehr viele Überschneidungen gibt.
Auch wenn unser Antrag und der Antrag der FDP abgelehnt werden, werden wir zu weiteren vernünftigen Beratungen kommen.
({1})
Nun zu Aspekten, bei denen kein Konsens besteht,
weil sie Probleme im Alltag der Soldaten beleuchten.
Zu einem mündigen Soldaten und einer mündigen
Soldatin gehört selbstverständlich die Soldatenbeteiligung. Wie sieht es aber damit aus? Der Herr Wehrbeauftragte hat heute seinen Jahresbericht vorgelegt. Ich
schaue mir immer zunächst das entsprechende Kapitel
an. Es ist schon notorisch, dass immer wieder festgestellt
werden muss: Es mangelt an dieser Stelle sehr. Diesmal
muss der Wehrbeauftragte sogar die Schlussfolgerung
ziehen, dass die Soldatenbeteiligung, dieses wesentliche
Element, offensichtlich nicht ernst genommen wird.
Dies ist nicht hinzunehmen.
({2})
Wir hören immer wieder von Soldaten, dass sie bei
Politikerbesuchen in den Einsatzgebieten des Öfteren
dazu vergattert werden, nicht außer der Reihe an die
Politiker heranzutreten und mit ihnen Gespräche zu führen. Das ist eine Art Maulkorb. Der Wehrbeauftragte
stellt des Weiteren fest, dass die Zahl der anonymen Eingaben aus Angst vor Benachteiligung eindeutig zugenommen hat. Dies ist mit den Vorgaben der Inneren Führung nicht vereinbar.
({3})
Ein weiterer Aspekt, mit dem wir Verteidigungspolitiker uns immer mehr beschäftigen müssen und der auch
vom Wehrbeauftragten heute sehr deutlich genannt worden ist, ist die Tatsache, dass in den Streitkräften das
Vertrauen in die höhere militärische und politische Führung offenkundig bröckelt. Wir wissen, dass dies verschiedene Facetten hat. Als Erstes muss man feststellen,
dass die Spitzen der Politik und wahrscheinlich auch zu
einem Teil wir es nicht schaffen, den Auftrag der Bundeswehr in den Einsatzgebieten überzeugend darzustellen. Wir müssen plausibel machen, dass die Einsätze
aussichtsreich sind. Dass dies noch nicht der Fall ist, ist
ein erhebliches Defizit, an dessen Beseitigung intensiv
gearbeitet werden muss.
({4})
Die Innere Führung ist nicht nur eine Sache der Bundeswehr, ihrer Soldatinnen und Soldaten und der politischen Führung, sondern auch eine Sache der Gesellschaft. Das ist bisher fast gar nicht angesprochen
worden.
({5})
Von vom Balkan und aus Afghanistan zurückkehrenden
Soldaten hört man fast durch die Bank, dass sie mit ihren
Erfahrungen und Leistungen überwiegend auf Desinteresse stoßen. Der Begriff des Bundespräsidenten
„freundliches Desinteresse“ trifft inzwischen nicht mehr
zu; er ist inzwischen beschönigend. In Wirklichkeit gibt
es mittlerweile eher die Reaktion, die kalte Schulter zu
zeigen, ausgedrückt zum Beispiel in der Frage, an einen
Soldaten gerichtet, der in Afghanistan Schlimmes erlebt
und sich fantastisch eingesetzt hat: Warum machst du
das denn für A 10? Du bist doch im Grunde selbst
schuld.
Solche Haltungen breiten sich inzwischen aus. Soldaten, die seelisch verwundet aus dem Einsatz zurückkomWinfried Nachtwei
men - es sind ja viel mehr, als wir wissen -, stoßen in
der Regel auf wenig Verständnis. Die Erfahrungswelten
von Soldaten im Einsatz, ihren Familien und der Zivilgesellschaft driften immer mehr auseinander. Dies ist de
facto ein Entfremdungs- und Desintegrationsprozess.
Das ist menschlich belastend und politisch hochriskant.
Dem muss entgegengewirkt werden. Dem kann aber
nicht einfach durch symbolische Handlungen entgegengewirkt werden.
Folgendes ist dafür notwendig: Es muss zum einen
ehrlich mit der Realität der Einsätze umgegangen werden.
({6})
Es muss eine verlässliche Fürsorge für die Soldaten geben, und zwar auch für diejenigen, die ausgeschieden
sind und die sehr oft völlig vergessen werden: für die Veteranen. Das ist ein zunehmendes Problem. Ganz entscheidend ist zum anderen, dass ein wirklicher Dialog
inklusive einer Streitkultur zwischen der Zivilgesellschaft, der Bundeswehr und der Politik zustande kommt.
Darum steht es zurzeit schlecht.
Herr Kollege Nachtwei!
Ich komme zum Ende.
Nein, Sie müssen schon am Ende sein.
Die Chancen sind gut; aber sie müssen von allen ganz
anders genutzt werden, weil eine kooperative Friedenspolitik auf das Zusammenwirken von Zivilexperten,
Diplomaten, Polizisten und Soldaten angewiesen ist.
Danke schön.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Anita Schäfer, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Innere Führung in der Bundeswehr steht für die Einbindung der Soldatinnen und Soldaten in das freiheitliche und demokratische Wertesystem der Bundesrepublik
Deutschland. Wir haben uns im Unterausschuss zur Inneren Führung ausführlich mit diesem Thema befasst.
Wir haben uns die Frage gestellt: Wie muss dieses bewährte Modell an Veränderungen in Gesellschaft und
Politik angepasst werden, an Veränderungen, die direkte
Auswirkungen auf die Bundeswehr haben, beispielsweise durch die Erlangung der vollen staatlichen Souveränität Deutschlands nach der Wiedervereinigung, mit
der die Übernahme größerer internationaler Verantwortung verbunden war? Wichtig war für uns auch, über die
Öffnung aller Bereiche des Dienstes bei der Bundeswehr
für Frauen zu diskutieren und praktikable Lösungen zu
finden.
Im Abschlussbericht des Unterausschusses „Innere
Führung“ wurde dies umfassend dokumentiert. Die Ergebnisse sind in die Gestaltung der neuen Zentralen
Dienstvorschrift „Innere Führung“ eingeflossen. Nun
muss sich diese erneuerte Richtschnur im Alltag der
Truppe beweisen.
Auch der Wehrbeauftragte hat heute in seinem Jahresbericht wieder auf die besondere Bedeutung der Inneren
Führung hingewiesen. Dabei wird an einigen Stellen
deutlich, wo es bei der Umsetzung im täglichen Dienstbereich hapert. Hier gilt es, ständig weiter an Verbesserungen zu arbeiten.
Mir sind bei all diesen Fragen einige Dinge besonders
wichtig: Innere Führung besteht nicht nur aus dem Papier der ZDv 10/1. Es reicht nicht, wenn diese ordnungsgemäß vereinnahmt im Regal der Vorschriftenstelle
steht. Auch allein ihre Lektüre führt noch nicht zu dem
Ziel, den Soldaten zu einem verantwortungsbewusst
handelnden Staatsbürger in Uniform zu machen. Sicherheit über ethische Grundsätze, tapferes Dienen, interkulturelle Kompetenz, wohl verstandenes Traditionsbewusstsein - all dies lässt sich nicht einfach durch Lesen
lernen. Ich nenne auch die politische Bildung und den lebenskundlichen Unterricht in der Bundeswehr.
Vor allem aber geht es um das gelebte Miteinander in
der Truppe und besonders um die Vorbildfunktion des
Vorgesetzten - angefangen beim Gruppenführer in der
Grundausbildung, der jedes Quartal mit neuen Wehrpflichtigen umgeht. Innere Führung ist ein lebendiger
Prozess, der sich auch zwischen den Neuauflagen der
Dienstvorschrift ständig weiterentwickelt. Wir müssen
dabei übrigens auch darauf achten, dass Innere Führung
mit zeitgemäßen Mitteln und Begriffen vermittelt wird.
Vor allem aber sind es die Soldaten selbst, die die
Grundlagen der Inneren Führung unter immer wieder
neuen Umständen anwenden müssen: ob in ihrer Vermittlung als Vorgesetzte oder im Handeln auf ihrer
Grundlage gegenüber Dritten, im täglichen Dienst am
Heimatstandort genauso wie im Einsatz.
Dafür müssen wir ihnen aber auch die praktische
Möglichkeit geben, beispielsweise im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Dieser Bereich ist als
neues Gestaltungsfeld der Inneren Führung aufgenommen worden. Dafür ist es nun auch notwendig, die
erforderlichen Teilzeitstellen und die entsprechende Personalstruktur zur Verfügung zu stellen. Der BundeswehrVerband hat kürzlich noch einmal auf die Situation
im Sanitätsdienst hingewiesen. Hier sind derzeit
800 Stellen wegen familienbedingter Abwesenheit vakant.
Keine Frage: Die sanitätsdienstliche Versorgung unserer Soldaten ist hervorragend. Es gilt aber dafür zu sorgen, dass das auch langfristig so bleibt, und zwar im
Ausland ebenso wie im Inland. Erste Verbesserungen ha23234
Anita Schäfer ({0})
ben wir gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium
bereits erreicht. Wir werden auf diesem Weg weiter vorangehen. Dazu gehören die ausreichende personelle
Unterfütterung flexibler Besetzungsmöglichkeiten und
generell attraktive Dienstbedingungen. Das gilt nicht nur
für den Sanitätsdienst, sondern auch für alle anderen
Truppengattungen.
Wir werden uns auch weiter für die Verbesserung der
Möglichkeiten zur Kinderbetreuung einsetzen. Hier haben wir mit dem Verteidigungsministerium bereits ein
ganzes Paket an Maßnahmen geschnürt. Die Umsetzung
dieser Maßnahmen steckt zwar noch in der Anfangsphase; von einem flächendeckenden Angebot sind wir
noch weit entfernt. Aber wir von der Union werden darauf achten, dass die notwendigen Mittel bereitgestellt
werden und dass qualifiziertes Personal schnellstmöglich die wichtigen Aufgaben übernimmt. Denn es ist unerlässlich, dass diese Möglichkeiten auch tatsächlich in
der Breite der Truppe ankommen und genutzt werden
können. Dazu gehören beispielsweise auch Eltern-KindArbeitszimmer für jeden Standort, und zwar mit der notwendigen Ausstattung; der Raum allein nutzt nichts. Zudem möchte ich noch einmal die Arbeit der Familienbetreuungszentren hervorheben. Hier sollten wir alles
dafür tun, dass ihre Effektivität durch die intelligente
Vernetzung mit ehrenamtlichem Engagement weiter gesteigert wird.
Die Bundeswehr hat sich mit der Gesellschaft und mit
der internationalen Rolle der Bundesrepublik gewandelt
und wird sich auch weiter wandeln. Gleichzeitig muss
sie ein festes Gerüst aus Werten und Tradition bewahren,
um ihren Soldaten Orientierung zu geben. Das ist die
Herausforderung, vor der die Innere Führung immer gestanden hat und weiter stehen wird. Das ist kein automatischer Prozess. Vielmehr erfordert dies immer wiederkehrende Überprüfungen und sorgfältige Justierung.
Dieser Verantwortung müssen Parlament und Regierung
stets aufs Neue gerecht werden.
Wegen der besonderen Bedeutung des Themas hätte
ich es begrüßt, wenn wir uns als Ergebnis unserer Beratungen auf einen gemeinsamen Antrag verständigt hätten, zumal wir in vielen Bereichen nahe beieinander lagen. Umso mehr bedauere ich, die Anträge von FDP und
Grünen heute ablehnen zu müssen.
Unsere Zusammenarbeit im Unterausschuss „Innere
Führung“ war sehr konstruktiv. Im Namen des Vorsitzenden, Herrn Dr. Karl Lamers, möchte ich den Kolleginnen und Kollegen dafür noch einmal ganz herzlich
danken. Auch Sie, Herr Minister Dr. Jung, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses möchte ich
an dieser Stelle in den Dank einschließen.
Der Weiterentwicklung der Inneren Führung sollten
wir weiterhin gemeinsam große Aufmerksamkeit widmen, damit sie das Erfolgsmodell bleibt, das die Bundeswehr zu einer fest in der Demokratie verankerten Armee
gemacht hat.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin
Hedi Wegener.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Als letzte Rednerin stelle ich fest: Es ist vieles gesagt, aber noch nicht alles.
Ich fange mit dem Antrag der Koalition an. Darin haben wir in weiser Voraussicht festgelegt:
Die Grundsätze der Inneren Führung sind eine Erfolgsgeschichte. Sie sind integraler Bestandteil der
Bundeswehr und zugleich ihr charakteristisches,
unverwechselbares Markenzeichen.
Weiter heißt es:
Die Gestaltungsfelder der Inneren Führung müssen
dynamisch auf die gesellschaftlichen, militärischen
und technologischen Entwicklungen, die veränderten Einsatzszenarien der Bundeswehr und die strategischen Veränderungen und Herausforderungen
reagieren. Sie müssen immer wieder an der Wirklichkeit überprüft und … angepasst werden.
Um genau diese Entwicklungen geht es. Neben den
Umwälzungen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes
haben sich eben auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert. Zwei Entwicklungen spreche ich
an: Zum einen ist dies die Integration von Frauen in die
Bundeswehr, eine der größten Herausforderungen in den
letzten Jahren. Zum anderen ist für junge Familien - nicht
nur für Soldatinnen, sondern auch für Soldaten - die Vereinbarkeit von Familie und Dienst eine ganz zentrale
Frage der Lebensplanung geworden. Immerhin sind zurzeit streitkräfteweit 8,6 Prozent aller Berufs- und Zeitsoldaten Frauen. 16 300 Frauen tun ihren Dienst in der Bundeswehr. Im Sanitätsdienst haben wir eine Quote von
41,2 Prozent und bei den übrigen Laufbahnen von
5,4 Prozent. Das ist eigentlich reichlich wenig. Festgeschrieben hatten wir 50 Prozent und 15 Prozent. Wir sind
also noch weit von unserem Ziel entfernt, und die Zahl
der Bewerberinnen und Bewerber ist inzwischen rückläufig. Woran mag das liegen?
Wir haben in der letzten Woche eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr mit dem
munteren Titel „Truppenbild mit Dame“ zur Verfügung
gestellt bekommen. Darin werden einige Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Familie und Dienst sowie
bei der Teilzeitarbeit beschrieben. Teilzeitarbeit steht bei
den meistgenannten Problemen der Frauen in der Bundeswehr an zweiter Stelle. Bei den Männern steht das
Problem der Vereinbarkeit immerhin auf Platz drei.
Meine Herren und Damen, wir wollen in Zukunft den
Anteil der Frauen in der Bundeswehr vergrößern. Frauen
wirken integrativ und steigern die Attraktivität der Bundeswehr. Die Attraktivität der Bundeswehr müssen allerdings auch wir steigern. Deshalb fordern wir in unserem
Antrag, dafür Sorge zu tragen, dass zeitgemäße Konzepte zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst entwiHedi Wegener
ckelt werden. Die Zentrale Dienstvorschrift 10/1, die
heute Abend schon mehrfach genannt worden ist, führt
dazu aus:
Die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie
und Dienst ist eine wesentliche Führungsaufgabe.
Angemessene Rücksichtnahme auf familiäre und
partnerschaftliche Belange der Soldatinnen und
Soldaten bei der Umsetzung dienstlicher Erfordernisse ist eine dienstliche Pflicht aller Vorgesetzten
und der Personalführung.
Im Jahr 2008 haben von den 175 000 Soldaten knapp
60 000 ein oder mehr Kinder. Von den circa 15 000 Soldatinnen, die befragt worden sind, sind es knapp 2 400.
Im Übrigen sind auch das nicht besonders viele. Immerhin nutzen heute circa 800 Soldaten die Elternzeit, und
an 37 Standorten - der Herr Minister hat es gesagt - gibt
es Eltern-Kind-Zimmer. Herr Minister Jung, als flächendeckend würde ich das aber nicht bezeichnen.
In einer Broschüre der Bundeswehr heißt es:
Die Attraktivität des Dienstes und damit der Erfolg
der Personalgewinnung und -bindung ist maßgeblich von der Vereinbarkeit von Familie und Dienst
in den Streitkräften abhängig.
Auch der Bericht des Wehrbeauftragten macht deutlich,
dass es hier dringenden Verbesserungsbedarf gibt. Gerade heute Morgen hat der Wehrbeauftragte seinen Jahresbericht 2008 vorgestellt, über den wir noch diskutieren werden. Von ihm haben wir gehört, dass sich die
Zahl der Eingaben zu diesem Thema verdreifacht hat.
Herr Keskin, in einem Punkt haben Sie in jedem Falle
nicht recht. Sie haben gefordert, dass der Wehrbeauftragte ohne Anmeldung zu den Soldaten geht. Dies tut er
jetzt schon. Er sagt es vorher natürlich nicht immer den
Abgeordneten, weil diese dann, wenn sie besonders mediengeil sind, noch vor dem Besuch des Wehrbeauftragten zur Presse gehen. Dies funktioniert natürlich nicht.
Ich halte es für gut, dass er auch heute schon in die
Standorte geht, ohne sich anzumelden. Über dieses
Thema werden wir aber noch sprechen.
Herr Robbe macht auf ein weiteres Problem aufmerksam: dass wir uns in Zukunft in stärkerem Maß der
Pflege und Betreuung der Familienangehörigen im Ausland widmen müssen. Dies ist bei uns im Ausschuss ein
ständiges Thema.
Meine Herren und Damen, generell kann zwar gesagt
werden, dass die Integration der Frauen in die Streitkräfte
funktioniert. Es sollte uns aber zu denken geben, dass immer noch ein Drittel der Männer glaubt, dass die Bundeswehr mit Frauen an Kampfkraft verliere, und ein Viertel
glaubt, die eigene Einheit wäre ohne Frauen besser. Der
Bericht des Wehrbeauftragten zitiert ein typisches Beispiel für die in Männerköpfen scheinbar herrschende
Denkweise. So äußerte sich ein Bataillonskommandeur
zur Anwesenheit einer Soldatin: Das ist ja gut, dann haben wir jemanden, der den Tisch abräumt. - Im normalen
Leben würde frau sagen: „Blödmann, mach doch deinen
Kram alleine“. Bei der Bundeswehr geht das aber leider
nicht, erst recht nicht bei Vorgesetzten. Hier ist also noch
einiges zu tun.
Ich weiß aber, dass dieses Thema beim Generalinspekteur in guten Händen ist. - Ich vermute, Herr Generalinspekteur, dass Sie sich bei solchen Vorkommnissen auch manchmal die Haare raufen.
Meine Herren und Damen, in einer Broschüre der
Bundeswehr heißt es:
Die Attraktivität des Dienstes und damit der Erfolg
der Personalgewinnung und -bindung ist maßgeblich von der Vereinbarkeit von Familie und Dienst
in den Streitkräften abhängig.
Daran wollen wir uns halten. Wir wollen weiterhin daran
arbeiten, dass die Attraktivität der Bundeswehr steigt
und es mehr Frauen in der Bundeswehr gibt. Letzteres
richte ich besonders an die jungen Damen, die auf der
Tribüne sitzen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 16/12071. Unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss
die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 16/8378 mit dem Titel „Konzept der Inneren Führung stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU
und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/8376 mit dem Titel „Innere
Führung stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/8370 mit dem Titel „Bundeswehr - Innere Führung
konsequent umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Kostenpflichtige Service-Telefonnummer der
Arbeitsagentur in eine gebührenfreie Rufnummer umwandeln
- Drucksachen 16/9097, 16/11802 Berichterstattung:
Abgeordnete Katja Mast
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katja Mast, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Menschen in Arbeit vermitteln und ihnen neue
Chancen auf Teilhabe geben - das waren unsere Ziele
bei der Umwandlung der alten Arbeitsämter zu modernen, kundenorientierten Agenturen für Arbeit. Wir haben die früheren Arbeitsämter umgekrempelt und die
Mitarbeiter von Papierkram entlastet; denn klar ist: Je
mehr Zeit für die persönliche Beratung zur Verfügung
steht, umso schneller findet der oder die Arbeitsuchende
wieder einen Job.
Doch damit nicht genug: Um unser Ziel, mehr Zeit für
persönliche Gespräche zu schaffen, zu erreichen, mussten weitere Schritte gegangen werden. Deshalb wurden
für Standardanfragen Servicetelefonnummern eingerichtet. Die telefonische Beratung hat sich in den letzten
zehn Jahren stark verbessert. Während Ende der 90erJahre nur 30 Prozent der Kundenanfragen ihr tatsächliches Ziel erreichten, haben wir heute eine durchschnittliche Erreichbarkeit von über 80 Prozent. Der Antrag,
über den wir heute beraten, geht darauf ein.
Lassen Sie mich aber noch kurz zur aktuellen Lage
kommen. Gerade in der Wirtschaftskrise brauchen wir
mehr Zeit für die Vermittlung und deshalb mehr Vermittler für Arbeitsuchende. Aus diesem Grund haben wir im
Rahmen unserer Konjunkturprogramme I und II dafür
gesorgt, dass sich zusätzlich 5 000 Vermittlerinnen und
Vermittler intensiv um die Vermittlung kümmern können.
({0})
Allein im Jahr 2007 gingen 50 Millionen Anrufe bei
den Telefoncentern der Arbeitsagenturen, der Familienkassen und zahlreicher Arbeitsgemeinschaften ein. Dies
zeigt: Unsere Strategie stimmt. Der Beratungsservice am
Telefon wird von den Kunden angenommen. Als Bundestagsabgeordnete aus einem Flächenwahlkreis ist mir
klar, woran das liegt. Beispielsweise braucht ein Bewohner aus Sternenfels bis zur Familienkasse in Nagold
zweieinhalb Stunden. Heute ruft er einfach an. Per Telefon geht das schnell, direkt und unbürokratisch.
({1})
Das ist der Grund, weshalb die Menschen froh sind, dass
es Servicehotlines gibt: Sie können anrufen, kommen
gut durch und werden beraten.
Die durchweg hohe Kundenzufriedenheit - das ergibt
die Evaluation der Servicetelefone durch die Bundesagentur für Arbeit - und die große Nachfrage zeigen, dass
wir auf einem guten Weg sind. Aber wir wissen, dass wir
noch ein Stück des Weges vor uns haben; denn wir wollen uns damit nicht zufriedengeben. Wir wollen die weltbeste Arbeitsvermittlung. Dazu gehören die Kundenservicehotlines.
({2})
Heute diskutieren wir über die Frage: Muss ich für
diesen zusätzlichen Telefonservice Gebühren zahlen? In
diesem Fall handelt es sich wohlgemerkt nicht um Gebühren an die Bundesagentur für Arbeit - dies könnte
man, wenn man will, dem Antrag entnehmen -, sondern
um Gebühren an die Deutsche Telekom, und zwar zum
normalen Ortstarif. Aktuell betragen die von den Anrufern aus dem Festnetz zu tragenden Gebühren 3,9 Cent
pro angefangener Minute. Auf das Jahr gerechnet entstehen durchschnittlich Kosten von 1 bis 2 Euro, insbesondere auch deshalb, weil man sich von der Bundesagentur
für Arbeit zurückrufen lassen kann und die Dauer der
Telefonate deshalb relativ kurz ist.
({3})
Die SPD-Bundestagsfraktion steht zur Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit. Der Verwaltungsrat
ist aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern sowie
Vertretern des Bundesministeriums und der Landesarbeitsministerien zusammengesetzt. Dieser Verwaltungsrat genießt unser Vertrauen; dies bedeutet gleichzeitig Verantwortung.
Bei der Modernisierung der Arbeitsvermittlung haben
wir deshalb eine Dreiteilung der Verantwortlichkeiten
eingeführt: Die Politik setzt die Rahmenbedingungen,
das Bundesarbeitsministerium gewährleistet, dass Gesetze und sonstiges Recht beachtet werden, und ein starker Verwaltungsrat als Selbstverwaltungsorgan der Bundes-agentur für Arbeit sorgt für die Zweckmäßigkeit und
Durchführung der Arbeitsvermittlung selbst und ist auch
Kümmerer im Hinblick auf den Servicegedanken bei der
Arbeitsvermittlung.
({4})
Die Sozialdemokraten sehen in einer gebührenfreien
Servicetelefonnummer ein berechtigtes Anliegen einer
modernen Dienstleistungseinrichtung, die aus Beitragsund Steuermitteln finanziert wird.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, finden, dass es
aber nicht Aufgabe des Parlaments ist, sich in jede organisatorische Detailfrage der Bundesagentur für Arbeit
einzumischen. Wir sind der festen Überzeugung, dass
diese operativen Fragen bei den Mitgliedern des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit in guten Händen
sind, daher auch dort zu klären sind und hoffentlich bald
in unserem Sinne einer kostenfreien Servicehotline entschieden werden.
({5})
Weil wir aber der Auffassung sind, dass dies eine Frage
der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit ist,
lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.
Jetzt bleiben mir noch zwei Minuten und 30 Sekunden Redezeit. Ich schenke sie meinen Kolleginnen und
Kollegen als Lebenszeit und schließe damit meinen Redebeitrag.
({6})
Der Kollege Heinz-Peter Haustein, FDP-Fraktion, hat
seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
Ich erteile dem Kollegen Paul Lehrieder, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und
Herren Kollegen! Es passiert selten, dass die Linkspartei
die Arbeit der Regierungskoalition in einem ihrer Anträge lobt. Wenn das, wie heute, einmal der Fall ist, freut
uns das natürlich, Herr Claus, auch wenn Ihr Lob leider
etwas versteckt daherkommt.
({0})
Darüber kann man sich wirklich freuen: dass die Bundesagentur für Arbeit bürgernahe telefonische Beratung
anbietet, seit sich die Arbeitsverwaltung dank der umfassenden Reformen der Großen Koalition von einer
schwerfälligen Behörde zu einer modernen Dienstleistungsbehörde am Arbeitsmarkt gewandelt hat. Unser
Ziel war es, sie so weit wie möglich an den Bedürfnissen
der von ihr betreuten Kunden auszurichten. Auch deshalb wurde das Modell des Kundenzentrums zum Herzstück der Reform der Organisation der Arbeitsverwaltung. Um die Arbeitsabläufe möglichst reibungslos zu
gestalten, den Kunden als Menschen in den Mittelpunkt
zu stellen und ihm so kompetent und so schnell wie
möglich zu helfen, hat die Bundesagentur für Arbeit
52 Servicecenter eingerichtet. Hier nehmen etwa
3 000 Mitarbeiter für 480 Arbeitsagenturen telefonische
Anfragen entgegen.
In einem „Selbstversuch“ konnte sich mein Büro davon überzeugen, dass - jenseits der sonst für Hotlines oft
typischen minutenlangen Wareschleifen - Anrufe bereits
nach wenigen Sekunden entgegengenommen wurden.
({1})
- Ja, natürlich, Frau Reinke.
({2})
1) Anlage 2
Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich weiß, wovon ich
rede. - Die Menüstruktur der Hotline ist zudem übersichtlich und leicht verständlich. Es werden Fragen zu
Hartz IV und Kindergeld, zur Berufsberatung und zur
Ausbildungsvermittlung beantwortet. Auch bei Fragen
zum persönlichen Fall eines Betroffenen wird kompetent
weitergeholfen.
Sicherlich könnte auch hier noch das eine oder andere
verbessert werden. So könnte zum Beispiel die Möglichkeit, sich über die Servicenummer arbeitsuchend zu melden, für den Anrufer noch besser herausgestellt werden.
Bisher ist sie unter dem Menüpunkt „Andere Anliegen“
versteckt.
Am Service macht die Linkspartei ihre Kritik aber gar
nicht fest. - Herr Claus, Sie müssen schon zuhören. - Sie
hat sicher lange gesucht, bis sie endlich glaubte, mit der
Gebühr von 3,9 Cent pro Minute ein Haar in der Suppe
gefunden zu haben. Die Arbeitsagenturen würden durch
die Hotline entlastet, gäben die Einsparungen aber nicht
an die Kunden weiter, heißt es im Antrag der Linkspartei.
Sie behaupten, die Bundesagentur für Arbeit stelle damit die Qualität ihrer Beratungsdienste infrage und
bürde den Arbeitslosen erhebliche Kosten auf. Sie tun
so, als hätte die Bundesagentur für Arbeit ihre Servicenummer nur im eigenen Interesse, zur eigenen Entlastung und Rationalisierung eingerichtet
({3})
und ihre Kunden einer teuren kommerziellen Hotline
ausgeliefert, die nur die Taschen des Anbieters füllt. So
diskreditieren Sie letztlich die Absichten der Bundesagentur für Arbeit.
({4})
Sie verknüpfen Dinge, die nichts miteinander zu tun
haben.
({5})
Die Entlastung der Arbeitsagenturen durch die Servicetelefonnummer und die Kosten dafür laufen auf verschiedene Ebenen. Vielleicht ist Ihnen nicht bewusst,
dass Entlastungen nicht nur in Form von Geld, sondern
auch in Gestalt kürzerer Bearbeitungszeiten, qualitativ
besserer Beratung und letztlich von Lebensqualität weitergeben werden können. Die Servicecenter setzen sich
mit den Problemen der Bürgerinnen und Bürger direkt
auseinander und können vieles schon im Vorfeld durch
eine einfache Auskunft klären. So werden die Arbeitsvermittler vor Ort entlastet. Sie haben nun freie Kapazitäten und können sich stärker auf ihre Hauptaufgabe
konzentrieren: Arbeitslose wieder in Arbeit zu vermitteln. Ich glaube, da ziehen wir am selben Strang.
Am meisten profitieren aber die Menschen, die auf
ihre örtliche Arbeitsagentur angewiesen sind. Zu den
früheren Zuständen wird sicher niemand mehr zurück
wollen. Wenn Sie, liebe Kollegen von der Linkspartei,
einmal mit Betroffenen gesprochen hätten, hätten sie Ihnen sicherlich berichtet, wie das war: Wer nämlich noch
vor wenigen Jahren mit seinem zuständigen Arbeitsamt
verbunden werden wollte, hatte oft mit langen Warteschleifen und besetzten Leitungen zu kämpfen. Er
musste es in vielen Fällen mehrmals probieren, bis er mit
seinem Sachbearbeiter sprechen konnte. Dafür mussten
auch damals schon Telefongebühren aus eigener Tasche
gezahlt werden. Unter dem Strich kostete das sicher um
einiges mehr als die 3,9 Cent, die jetzt pro Minute zu
zahlen sind, ganz zu schweigen von den Gebühren, die
vor der Telekom-Privatisierung fällig waren.
Es kann also keine Rede davon sein, dass Arbeitslose
über die Servicenummer zusätzlich zur Kasse gebeten
werden. Die Zahlen, um die es hier geht, müssen wir ins
rechte Licht rücken: 3,9 Cent pro Minute kostet ein Anruf bei der Servicehotline der Arbeitsagentur. Ein Anruf
beim Servicecenter wird in durchschnittlich zwei bis
fünf Minuten bearbeitet, wie mir eines der Servicecenter
auf Anfrage mitteilen konnte. Damit reden wir von Kosten zwischen 7,8 und 19,5 Cent pro Anruf. Jeder wird
sich sicherlich ausrechnen können, was es kosten würde,
wenn die örtlichen Arbeitsagenturen stattdessen mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufgesucht werden müssten.
Die Kosten für Fahrscheine liegen nicht im Centbereich,
sondern in vielen Fällen bei 2 Euro. Betroffene, die nicht
in der Stadt, sondern in ländlichen Gebieten leben, werden noch um einiges tiefer in die Tasche greifen müssen,
wenn sie ihre Arbeitsagentur direkt mit dem ÖPNV oder
auch mit dem eigenen Kfz erreichen wollen. Bis zur
Höhe von 6 Euro muss die Fahrt zur Arbeitsagentur im
Übrigen von den Arbeitslosen selbst getragen werden;
das ist Ihnen sicherlich bekannt.
Ich könnte noch einiges zu diesem Thema sagen. Ich
möchte aber das gute Beispiel der Kollegin Mast aufgreifen und Ihnen die verbleibenden drei, vier Minuten
Redezeit als verbleibende Lebensarbeitszeit schenken.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Roland Claus, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zugegeben, ich habe gegen Anträge der Fraktion Die
Linke in diesem Haus schon weitaus klügere Argumente
als die soeben von den Vorrednern vorgetragenen gehört.
({0})
- Geben Sie es einmal zu Protokoll, dass wir fast ausschließlich sehr kluge und gute Anträge einbringen.
({1})
Der Vorschlag der Fraktion Die Linke lautet: Die bundesweite Servicetelefonnummer der Arbeitsagentur soll
für Anrufende kostenfrei sein.
({2})
Es geht nicht darum, dass wir die Möglichkeit der Telefonberatung infrage gestellt hätten; das haben wir
überhaupt nicht getan. Wir haben auch nichts - das
wurde uns vorhin unterstellt - in unserem Antrag versteckt, sondern das wird gleich im ersten Satz hervorgehoben. Wir wollen, dass es kostenfrei geschehen kann.
Die Linke schlägt zur Finanzierung vor, dass die Kosten
mit dem Rahmenvertrag zwischen Bundesagentur und
Telekom abgegolten werden; dafür gibt es allemal Spielraum.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag hätte
es heute in der Hand gehabt, eine kleine Verbesserung
der Lebenslage von Arbeitsuchenden zu beschließen.
({3})
Es geht immerhin um 7 Millionen Menschen, die
ALG II beziehen; durch den Fortgang der Krise werden
mehr Menschen davon betroffen sein. Bekanntlich hat
allein VW angekündigt, in diesem Jahr alle 16 500 Leiharbeiterstellen zu streichen.
In diesem Hause sind 480 Milliarden Euro zur Bankenrettung in einer historischen Schrecksekunde beschlossen worden. 4 Cent pro Gesprächsminute sollen
nicht drin sein? Ich bitte Sie! Das ist doch absurd. Warum folgen Sie unserem Antrag nicht?
({4})
Ich gebe zu: Ich konnte mir bis eben nicht vorstellen,
dass Sie den Antrag wirklich ablehnen wollen. Ich
dachte, das läuft anders, so wie wir es auch aus dem
Bundestag kennen. Ich dachte, dass Sie uns wortreich,
sozusagen im Würgegriff des Sachzwanges, erklären,
warum das alles nicht geht, dann aber wenigstens - auch
das kennen wir - einen ähnlichen Koalitionsantrag nachschieben, mit dem Sie dieses Anliegen bedienen.
({5})
Sie aber sagen dazu Nein.
Die SPD hat sich jetzt selbst verordnet, öffentlich
nicht mehr von dem Begriff Agenda 2010 zu reden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, die Schere
der Agenda 2010 haben Sie aber offenbar noch immer
im Kopf, und das ist fatal.
({6})
Nun will ich mich kurz mit den Einwänden beschäftigen:
Zum einen sagt man: Das kostet nicht viel. Was aber
ist „nicht viel“? Ich denke, wir alle als Bundestagsabgeordnete haben keine Ahnung davon, was von Arbeitslosigkeit Betroffene an Lebenslagen in diesem Lande erdulden müssen. Wir sollten uns dieses Argument nicht
zu eigen machen.
Weiter sagen Sie: Die reden da vielleicht zu lange. Ich
kann nur zurückfragen: Wollen wir die Leute zum
Schweigen bringen, oder wollen wir ihnen helfen?
({7})
Schließlich kommen Sie mit dem wirklich absurden
Argument, dass die Bundesregierung der BA nicht hineinreden könnte. Dabei weiß niemand besser als die
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wie oft gerade
dieses Bundesministerium in die BA hineinregiert. Das
ist doch nun wirklich ein alter Hut. Da lachen ja die
Hühner.
({8})
Selbst wenn Sie mit dem Kostenargument recht hätten: All das, was hier passiert, ist immer ein Akt der
Entwürdigung und Diskriminierung. In unserem Grundgesetz heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Es gibt danach aber einen zweiten Satz: „Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt“. Während der erste Satz also gewissermaßen
ein Gebot ist, ist der zweite Satz ein Staatsauftrag. Diesen Staatsauftrag negieren Sie, wenn Sie sich hier einem
so einfachen Vorschlag widersetzen.
({9})
Meine Damen und Herren, ein ganz kleines Stück dieser versagten Würde hätten wir den Betroffenen heute
zurückgeben können. Selbst dazu sind Sie nicht bereit.
Sie sind und bleiben offenbar eine Große Koalition der
sozialen Kälte. Es tut mir leid.
({10})
Die Kollegin Brigitte Pothmer hat ihre Rede zu Proto-
koll gegeben.1)
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kostenpflichtige Ser-
vice-Telefonnummer der Arbeitsagentur in eine gebüh-
renfreie Nummer umwandeln“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11802, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/9097 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei
Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke angenommen.
1) Anlage 2
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
- Drucksache 16/12413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Debatte am 22. Januar dieses Jahres zu unserem
Antrag „Angemessene und zukunftsorientierte Unterstützung der Contergangeschädigten sicherstellen“ haben wir unseren Gesetzentwurf angekündigt. Ich habe
damals gesagt, dass wir die Hände nicht in den Schoß legen werden.
Mit unserem heute vorgelegten Gesetzentwurf beweisen wir, dass wir die Probleme der contergangeschädigten Menschen angepackt haben und Lösungen vorlegen.
Die Lösungen weisen deutliche Verbesserungen für die
Betroffenen aus.
Natürlich haben die Meinungen der Betroffenen auch
unsere Beratungen bestimmt. Aber durch ihre Uneinigkeit war das leider nicht immer ganz einfach. Uns ist bewusst, dass wir es nicht allen recht machen können, aber
ich denke, wir erreichen mit diesem Gesetzentwurf ein
gutes Ergebnis.
Ich freue mich sehr - lassen Sie mich dies als ersten
Punkt nennen -, dass wir uns über die Öffnung der Ausschlussfrist einigen konnten.
({0})
Ich denke, das ist ein Meilenstein für die Betroffenen,
aber auch für uns Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Großen Koalition. Ich habe mir das im Januar
noch nicht vorstellen können, aber es ist geglückt.
({1})
Bisher konnten nur bis zum 31. Dezember 1983 gestellte Anträge anerkannt werden. Nach diesem Zeitpunkt gestellte Anträge mussten wegen Fristversäumnis
abgelehnt werden. Nun öffnen wir die Ausschlussfrist
vom 1. Juli 2009 bis zum Dezember 2010. Die Betroffenen erhalten damit die Möglichkeit, in diesem Zeitraum
von 18 Monaten einen neuen Antrag zu stellen und da23240
mit Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz zu
beantragen. So wie die bisher Leistungsberechtigten ihre
Leistungen beziehen, gilt das dann auch für die neu Anerkannten.
Nicht nur die Menschen, die bisher von der Ausschlussfrist betroffen waren, werden bei Anerkennung
ihrer Schädigungen eine finanzielle Unterstützung erhalten. Auch die bereits jetzt Leistungsberechtigten erhalten
noch ab diesem Jahr eine jährliche Sonderzahlung. Die
Firma Grünenthal hat zugesagt, 50 Millionen Euro in die
Conterganstiftung einzuzahlen. Weitere 50 Millionen
Euro werden aus dem Stiftungsvermögen der Conterganstiftung aufgebracht. Diese insgesamt 100 Millionen Euro
erhalten die Betroffenen und die nachträglich anerkannten
contergangeschädigten Menschen über einen Zeitraum
von 25 Jahren. Das sind bis zu maximal 4 000 Euro je
nach Schweregrad der Behinderung.
Wir wurden oft gefragt, warum die 100 Millionen
Euro nicht sofort ausgeschüttet werden. Wir haben auch
lange über diese Möglichkeit diskutiert. An die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen angelehnt, war zunächst an einen Auszahlungszeitraum von
35 Jahren gedacht worden. Aber auch hier sind die Forderungen der Betroffenen unterschiedlich. Einige verlangen die sofortige Auszahlung, andere wünschen sich,
dass die Sonderzahlungen gestaffelt werden. Der nun
festgelegte Zeitraum von 25 Jahren gewährleistet den
Betroffenen eine dauerhafte finanzielle Zusatzleistung,
die durch Zins und Zinseszins größer ausfällt als eine
einmalige Ausschüttung.
({2})
Damit die jährlichen Sonderzahlungen an die Menschen
vollständig ausgezahlt werden können, wird der Bund
die Verwaltungskosten der Stiftung vollständig und ohne
Minderung übernehmen.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Schritt ist es,
die Stiftung umzustrukturieren. Bisher sah der Stiftungszweck vor, einerseits monatliche Leistungen für die contergangeschädigten Menschen zu erbringen und andererseits Projekte generell für behinderte und damit nicht nur
für contergangeschädigte Menschen zu fördern. Uns war
es wichtig, dass die Stiftungsgelder ausschließlich den
contergangeschädigten Menschen zugute kommen.
({3})
Deshalb sollen auch nur noch Projekte unterstützt werden, die den Conterganopfern helfen. Demzufolge kann
der Stiftungsrat von 15 auf maximal 7 Mitglieder verkleinert werden, da die Vertreter der Wohlfahrtspflege,
der Sozialhilfeträger und der Behindertenorganisationen
nicht mehr erforderlich sind. Viele Betroffene haben den
Wunsch geäußert, mehr Mitspracherecht bei der Stiftung
zu erhalten.
({4})
- Herr Seifert, hören Sie bitte zu! - Wir sind diesem
Wunsch nachgekommen und haben festgelegt, dass nun
zwei contergangeschädigte Menschen im Stiftungsrat
vertreten sein werden.
({5})
Die Betroffenen selbst können durch Wahlen entscheiden, wer diese zwei Vertreterinnen oder Vertreter sind.
Weiter ist vorgesehen, dass auch eine contergangeschädigte Person im Stiftungsvorstand sitzen wird.
Bereits in der Anhörung im letzten Jahr hat uns eine
Stiftungsexpertin Hinweise gegeben, wie die Stiftung effizienter arbeiten kann. Deshalb werden die Zuständigkeiten zwischen dem Stiftungsrat und dem Stiftungsvorstand neu geregelt und klar getrennt. Der Stiftungsrat
soll als Kontroll- und Aufsichtsorgan fungieren und
grundsätzliche Fragen entscheiden, während der Vorstand die Entscheidungen ausführt. Wir versprechen uns
dadurch eine effizientere Arbeit der Stiftung. Diese wollen wir noch erhöhen, indem wir die Stiftungsaufgaben
in Vermögensverwaltung, Beratung und Auszahlung der
Leistungen neu aufteilen. Dadurch werden wir die Verwaltungskosten weiter reduzieren können.
Ob es in Zukunft eine Geschäftsstelle geben wird, die
für die Beratung der Betroffenen, Koordination, Projektförderung und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, wird
sich zeigen, wenn die Umstrukturierung der Stiftung
stattfindet.
Wie Sie sehen, haben wir viel erreicht. Ich möchte
noch ein weiteres Beispiel bringen, das zeigt, dass wir
die Nöte der contergangeschädigten Menschen nicht nur
sehen, sondern diese auch schnell lösen können. Uns erreichten in letzter Zeit Briefe von Betroffenen, die in der
gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versichert
sind. Ihre monatliche Unterstützungsleistung wird von
den Krankenversicherungen als beitragspflichtige Einnahme angesehen. Wir haben darauf sofort reagiert und
im Gesetzentwurf klargestellt, dass die Leistungen auch
für freiwillig Versicherte anrechnungsfrei sind.
({6})
Es ist, glaube ich, niemandem zu vermitteln, dass für ein
und dieselbe Leistung unterschiedliche Entscheidungen
getroffen werden. Damit können sich die Krankenkassen
jetzt nicht mehr herausreden.
In unserem Antrag im Januar hatten wir angekündigt,
eine mögliche Dynamisierung der monatlichen Leistungen zu prüfen. Wie Sie dem Gesetzentwurf entnehmen
können, wird künftig die monatliche finanzielle Unterstützung dynamisiert und somit an die Steigerung der gesetzlichen Renten automatisch angepasst. Ich spreche
hier bewusst von der „monatlichen finanziellen Unterstützung“. Auch dies ist eine Forderung der Betroffenen.
Sie finden den Begriff „Rente“ nicht zutreffend und wollen eine klare Abgrenzung zum Rentenbegriff.
({7})
Ich denke, mit diesem Gesetz werden wir den Betroffenen in Zukunft ein Stückchen mehr gerecht werden.
Viele Wünsche und Forderungen werden mit diesem Gesetzentwurf umgesetzt. Da im Mai eine Anhörung zu unserem Gesetzentwurf durchgeführt wird, haben die
Betroffenen noch einmal die Gelegenheit, Stellung zu
nehmen. Ich hoffe, gemeinsam mit den Betroffenen und
Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, zu
einem erfolgreichen Abschluss zu kommen.
Vielen Dank.
({8})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Debatten über die Belange contergangeschädigter Menschen sind keine einfachen Debatten. Ich finde es gleichwohl erfreulich, dass wir heute erneut darüber debattieren können und dass es uns absehbar wohl gelingt, die
Leistungen für den Kreis der Betroffenen zu verbessern.
Im letzten Jahr konnten wir mit der Zustimmung aller
Fraktionen des Hauses eine Verdoppelung der monatlichen Renten - künftig: monatliche finanzielle Unterstützung - erreichen. Heute gehen wir den ersten Schritt hin
zu einer jährlichen Einmalzahlung und einer automatisierten Dynamisierung der monatlichen Rente. Bei allen
verständlichen Frustrationen, die die Betroffenen ob der
Politik der letzten Jahrzehnte im Bereich Contergan erfahren haben, halte ich das im letzten Jahr Erreichte für
sehr bemerkenswert, wobei sich die FDP - das will ich
sehr deutlich sagen - immer dessen bewusst ist, dass alle
Leistungen den gesundheitlichen Schaden und die seelische Belastungen der Betroffenen nicht wirklich werden
ausgleichen können.
({0})
Am 22. Januar 2009 hat der Deutsche Bundestag einem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und
der FDP zur Sicherstellung einer angemessenen zukunftsorientierten Unterstützung contergangeschädigter
Menschen zugestimmt. In ihrer Rede zu diesem Antrag
hat meine Fraktionskollegin Ina Lenke Gemeinsamkeiten betont, aber auch deutlich gemacht, dass einige Forderungen der FDP über den gemeinsam mit der Koalition beschlossenen Antrag hinausgehen. Für die FDPFraktion sah sie insbesondere bei zwei Punkten keinen
Prüfbedarf mehr bzw. hielt diese für umsetzungsreif.
Diese beiden Punkte waren die Dynamisierung des Rentenanspruchs und die Streichung des Fristausschlusses.
Frau Kollegin Blumenthal, ich begrüße grundsätzlich,
dass sich die Koalition dieser Auffassung mit dem vorliegendem Gesetzentwurf weitgehend angenähert hat.
Allerdings sehen wir noch immer Änderungsbedarf:
Ich beginne - erster Punkt - mit der Dynamisierung
des Rentenanspruchs. Vor der Erhöhung der Conterganrenten zum 1. Juli 2008 erfolgte die letzte Rentenerhöhung für Conterganopfer zum 1. Juli 2004. Diese langen
Zeiträume zwischen den Anpassungen sind unbefriedigend, da die Inflation die Rentenerhöhung aushöhlt. Die
prozentuale jährliche Anpassung der gesetzlichen Rente
auf die Conterganrenten zu übertragen, ist ein aus unserer Sicht gangbarer und unbürokratischer Weg der Dynamisierung. Wir sind aber der Meinung, dass gleichzeitig
die monatliche Zahlung in geeigneten Zeiträumen, zum
Beispiel alle fünf Jahre, grundlegend überprüft werden
sollte, da mit fortschreitendem Alter der Contergangeschädigten der Hilfebedarf weiter zunehmen dürfte. Frau
Kollegin Blumenthal, hier hätte die FDP gerne eine entsprechende Klarstellung im Gesetz.
Der zweite Punkt ist der Fristausschluss. Bis zum
31. Dezember 1983 mussten Ansprüche bei der Stiftung
„Hilfswerk für behinderte Kinder“, die 2005 in
„Conterganstiftung für behinderte Menschen“ umbenannt wurde, geltend gemacht werden, um einen Anspruch auf Zahlung zu erhalten. Der Gesetzgeber ging
davon aus, dass diese Frist ausreichend ist. Wir wissen
nunmehr alle, dass diese Annahme nicht zugetroffen hat.
Ich kann nicht verstehen, dass diese alte Frist jetzt durch
eine neue Frist bis zum 31. Dezember 2010 ersetzt wird.
Die FDP hält diesen Zeitraum für zu kurz, da auch heute
noch Betroffene des Conterganskandals entdeckt werden, die schon deshalb die Frist nicht wahrnehmen können, weil sie von ihrer Betroffenheit nichts wissen. Das
gilt insbesondere dann, wenn Contergan auch innere Organe geschädigt hat. Der Sinn der durch Gesetz vom
17. Dezember 1971 errichteten Stiftung des öffentlichen
Rechts ist und war es aber, Individualleistungen für alle
Behinderten, deren Fehlbildungen durch Thalidomid,
also Contergan, hervorgerufen wurden, zu erbringen.
Wer eindeutig zu dieser Gruppe gehört - dieser Meinung
bin ich schon, und dieser Meinung ist auch meine Fraktion -, muss auch Leistungen nach diesem Gesetz unabhängig von Ausschlussfristen erhalten können. Wenn der
vorliegende Gesetzentwurf davon ausgeht, dass 60 Prozent all derjenigen, die noch Anträge auf Leistung stellen, nach dem Gesetz den Rentenhöchstsatz beziehen
werden, dann zeigt das aus meiner Sicht sehr deutlich,
dass die Fristsetzung falsch war und auch eine neue Frist
den Anforderungen wohl nicht gerecht werden wird.
({1})
Ich will ganz deutlich sagen: Egal ob es sich um
100 oder 500 Personen handelt und egal in welchem
Umfang es gegebenenfalls Nachzahlungen geben wird,
die FDP ist für die sofortige Streichung sowohl der alten
als auch der neuen Frist. Das ist für uns der einzig vernünftige Weg.
({2})
Viele der weiteren im Gesetz vorgesehenen Regelungen kann die FDP unterstützen. Wir halten es für sinnvoll, dass der Stiftungszweck sich künftig ausschließlich
auf Contergangeschädigte bezieht und damit der eigentliche Sinn der Stiftung nochmals unterstrichen wird. Es
ist auch richtig, den Verwaltungsapparat durch den Bund
zu finanzieren. Wir haben Zweifel, ob man tatsächlich
eine hauptamtliche Geschäftsführung benötigt. Sollte
diese Geschäftsführung aber tatsächlich eingerichtet
werden, plädieren wir dafür, dass auf jeden Fall ein oder
zwei Behinderte eingestellt werden, bevorzugt aus der
Gruppe der betroffenen Menschen.
Ich komme zum Schluss. Die von der Grünenthal
GmbH eingebrachte Spende von 50 Millionen Euro
ermöglicht es, eine jährliche Sonderzahlung für den besonderen Bedarf der contergangeschädigten Personen
auszuschütten. Darüber hinaus werden wir nochmals
50 Millionen Euro aus dem Stammvermögen der Stiftung unmittelbar an die leistungsberechtigten Personen
auszahlen. Der Kapitalstock der Stiftung wird bis auf einen Restbetrag von 7 Millionen Euro nach und nach aufgezehrt. Durch diese langfristige Kapitalisierung des
Stiftungsvermögens fließt dieses somit dem Kreis der
betroffenen Menschen zu, also denen, die einen Anspruch darauf haben.
Herr Kollege Kolb, Sie müssen jetzt wirklich zum
Schluss kommen.
Ja. - Insgesamt stehen den Betroffenen damit 100 Millionen Euro nebst Erträgen für die jährlichen Sonderzahlungen zur Verfügung. Die FDP hält den hier aufgezeigten und eingeschlagenen Weg für gut und wird den
Gesetzentwurf unterstützen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jahrelang beschäftigen wir uns jetzt mit den Folgen von
Contergan und den Schädigungen, die Menschen davongetragen haben, weil ihre Mütter in der Schwangerschaft
Thalidomid eingenommen haben. Rund 10 000 Kinder
wurden vor rund 50 Jahren weltweit geboren, die nicht
alle durch das Medikament Contergan, aber durch den
Wirkstoff Thalidomid geschädigt worden sind. Diese
10 000 Kinder kamen fehlgebildet zur Welt. In Deutschland gibt es noch etwa 2 700 Menschen, die durch dieses
Schlafmittel geschädigt wurden. Die meisten betroffenen
Menschen haben versucht, ihr Leben trotz starker und
stärkster Behinderung zu leben und damit klarzukommen. Ich glaube, das hätten sie auch weiterhin so gemacht, wenn nicht im Fernsehen ein Film gelaufen wäre,
der alle aufgeschreckt und auch die gezeigt hat, die nicht
so tough sind, die nicht ohne Weiteres mit allen Schwierigkeiten klarkommen. Manchmal wirken mediale Ereignisse sehr aufrüttelnd. In diesem Fall begrüße ich das
mediale Ereignis, weil es dazu beitrug, die ganze Problematik noch einmal genauer anzuschauen. Wir haben in
drei Schritten darauf reagiert.
Der erste Schritt war, dass wir die monatlichen Zahlungen verdoppelt haben. Dass die betroffenen Menschen doppelte Leistungen erhalten, hat am 1. Juli des
letzten Jahres Gesetzeskraft erhalten. Ich glaube, dass
wir dafür im ganzen Haus Unterstützung hatten. Dafür
danke ich; denn trotz aller Wahlkampfankündigungen tut
es manchmal ganz gut, vernünftig miteinander zu sprechen, wenn es darum geht, etwas für betroffene Menschen zu tun.
({0})
Der zweite Schritt war, einen Antrag zu stellen, in
dem all die Fragen behandelt werden, die die Menschen
betreffen, etwa: Wie kann man mit dem Verschleiß von
Gelenken oder der Wirbelsäule umgehen? Welche Hilfsmittel gibt es? Vor allem alte Menschen haben häufig
keine Hilfsmittel. Ein junger Mensch kann trainieren, bis
er mit den Zehen einen Stift halten kann, um zu schreiben. Wer 65 Jahre alt ist, kann das nicht mehr ohne Weiteres, ebenso wenig wie er mit den Zähnen einen Reißverschluss zuziehen kann. Wir haben relativ wenig
Erfahrung in diesem Bereich, und wir wollen, dass darüber geforscht wird, wie geholfen werden kann, zum
Beispiel durch die Entwicklung von Hilfsmitteln. Eine
weitere in diesem Antrag gestellte Frage lautete: Welche
besonderen Bedürfnisse hat diese Gruppe Menschen? Es
sind nicht viele Bedürfnisse; ihre Anzahl ist überschaubar.
Wir wollen, dass Erfahrungen europaweit ausgetauscht werden, ungeachtet der Tatsache, dass - anders
als bei Contergan - die Einnahme eines Präparates, für
dessen Herstellung es eine Lizenz gab, nicht in die Zuständigkeit des deutschen Staates fällt. Der Klarheit wegen muss man auch sagen: Für Schädigungen durch Mittel, die nicht in Deutschland hergestellt wurden, sind wir
nicht zuständig.
In diesem Zusammenhang danke ich der FDP dafür,
dass sie diesen Antrag unterstützt hat. So wird deutlich:
Wir ziehen am selben Strang, auch wenn man das eine
oder andere im Laufe des Prozesses korrigieren muss.
Ich denke, die Fraktionen werden so viel Größe haben,
sich das noch einmal anzuschauen und im Dialog vernünftige Lösungen zu finden.
Ich möchte an dieser Stelle zwei Frauen danken, die
ganz hervorragend verhandelt haben: Ich möchte
Christel Humme und Ilse Falk dafür danken, dass sie
sich mit Grünenthal zusammengesetzt haben,
({1})
ohne dass es dafür eine Rechtsgrundlage gab; ich will
das hier betonen. Wir können im Nachhinein bedauern,
dass damals Verträge geschlossen wurden. Diese Verträge sind vom Verfassungsgericht überprüft worden,
und man hat festgestellt: Juristisch lässt sich daran nichts
mehr ändern. Wir mussten also verhandeln.
Dieses Verhandlungsergebnis sind die 50 Millionen Euro, die jetzt in die Stiftung einfließen. Die ersten
50 Millionen Euro, das heißt 100 Millionen DM, waren
längst aufgebraucht. Auch der Bund hatte in diese Stiftung 100 Millionen DM eingebracht; das muss man hier
ebenfalls sagen. Wir haben die Bundesmittel seit 1980
um 220 Millionen DM aufgestockt. Das heißt, in diese
Stiftung sind viele Bundesmittel geflossen; sonst hätten
die Leistungen nicht erbracht werden können.
Marlene Rupprecht ({2})
({3})
Wir haben im Rahmen der vorherigen Gesetzgebung
und der Beratung des Antrages mit den Betroffenen gesprochen. Für diejenigen, die erst sehr spät - beispielsweise als ihre Mutter auf dem Sterbebett lag - erfahren
haben, dass ihre körperlichen Beeinträchtigungen dadurch verursacht waren, dass ihre Mütter Contergan eingenommen hatten, war mit dem Fristende in den
80er-Jahren die Tür zu. Das heißt, sie hatten keine
Chance mehr auf Entschädigung, auch wenn sie darauf
einen Anspruch hatten. Deshalb öffnen wir das Ganze
noch einmal. Wir wollen es nicht gänzlich öffnen, weil
die Zahl derer, die betroffen sind, überschaubar ist.
Diejenigen, die nun im Nachhinein vor allem im Hinblick auf Schädigungen innerer Organe untersucht werden und untersucht worden sind, bekommen ab 1. Juli
2009 die Chance, bis zum 31. Dezember 2010 noch einmal Anträge zu stellen. Wenn sie ihre Anträge in diesem
Jahr stellen, bekommen sie auch die jährliche Einmalzahlung bereits für das jetzt laufende Jahr.
Diejenigen, deren Anträge bislang aufgrund der Fristversäumnis abgelehnt wurden, werden wir anschreiben;
wir wollen also, dass sie darüber informiert werden, einen Antrag einreichen zu können. Wir wollen aber auch
über die Medien darauf hinweisen - ich nehme an, dies
wird das Ministerium machen -, dass jetzt noch einmal
die Chance besteht, seinen Antrag auf monatliche Leistungen und Einmalzahlungen zu stellen.
Frau Blumenthal, ich sage es auch hier: Selbst wenn
wir manchmal hart miteinander gerungen haben und ich
zuweilen beinahe daran verzweifelt bin, dass wir genau
dann, wenn wir meinten, die letzte Mine geräumt zu haben, die nächste entdeckt haben, haben wir sie doch immer wieder gemeinsam weggeräumt. Die letzte davon
haben wir noch am letzten Freitag miteinander aus der
Welt geschafft. Es war manchmal schwierig, aber wir
haben es geschafft, im Interesse der Betroffenen einen
vernünftigen, guten Gesetzentwurf vorzulegen.
({4})
Auf dieses gemeinsame Ringen bezieht sich meine
Bitte an die Kolleginnen und Kollegen der Opposition,
auch wenn wir jetzt Wahlkampf haben. Es gibt viele
Punkte, bei denen Sie sich gut profilieren können.
Selbstverständlich ist es auch Ihr Recht, uns vorzuführen, wenn Sie glauben, dass wir gravierende Fehler gemacht haben. Im Interesse der Menschen bitte ich aber
darum, dass wir im Gesetzgebungsverfahren - wir haben
heute die erste Lesung - ebenso, wie wir es bisher in der
Behindertenpolitik praktiziert haben, eng zusammenarbeiten und das Gespräch suchen, wenn uns noch etwas
auffällt. Ich bitte darum, sich darauf verständigen zu
können. Es wäre für die Betroffenen ein gutes und auch
für uns ein würdiges Signal nach außen, dass wir eine
Lösung gefunden haben, wenn wir am 1. Juli sagen
könnten: Das Gesetz ist verabschiedet, es tritt in Kraft,
und die betroffenen Menschen haben etwas davon.
Wir haben uns vorgenommen, dass wir diese Regelung in den nächsten 25 Jahren nicht wieder aufdröseln
und noch einmal von vorn beginnen. Vielmehr hoffen
wir, dass wir so gearbeitet haben, dass das Gesetz zumindest diese Zahl von Jahren überdauert. Ich halte etwas davon, Gesetze zu verabschieden, die nicht hingehudelt sind, wie man bei uns im Süddeutschen sagt,
sondern die fundiert und gut sind. Ich bin davon überzeugt; ansonsten würde ich heute nicht hier stehen und
es vertreten. In diesem Sinne hoffe ich auf die Unterstützung aller in diesem Hause.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Ilja Seifert, Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Heute, genau heute tritt die
UNO-Behindertenrechtskonvention für Deutschland in
Kraft. Seit heute ist der Staat verpflichtet, hat er sich
selbst verpflichtet, umfassende Teilhabe für alle Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. Mit dem, was
Sie hier vorlegen, erreichen Sie dies nicht einmal für die
kleine Gruppe der Contergangeschädigten.
Zumindest Folgendes muss ich noch einmal sagen:
Wir können hier reden, worüber wir wollen, aber der
Vergleich, der seinerzeit geschlossen wurde, steht auf
sittenwidriger Grundlage. Er wurde unter Druck erzeugt,
und insofern ist er immer noch anfechtbar. Aber unabhängig davon hat sich der Staat verpflichtet, das zu übernehmen, was eigentlich Grünenthal machen müsste. Insofern freue ich mich, dass in Ihrem jetzt vorliegenden
Gesetzentwurf gegenüber Ihrem Antrag vom Januar tatsächlich einige positive Fortschritte zu verzeichnen sind.
Sie will ich durchaus würdigen, zum Beispiel die Dynamisierung der monatlichen Entschädigung. Aber wenn
wir wirklich helfen wollten, müssten wir im ersten
Schritt mindestens 50 Prozent drauflegen; denn Deutschland liegt immer noch am Ende aller Länder, die solche
Entschädigungen zahlen. Wir sind immer noch diejenigen, die am allerwenigsten zahlen.
Weiterer Punkt. Sie wollen die Dauer der Ausschüttung, die Sie jährlich vornehmen, von 35 auf 25 Jahre reduzieren. Na toll! Viele der Betroffenen sagen ohnehin:
Gebt uns das, was uns zusteht, sofort! Darauf wollen Sie
nicht eingehen. Sie können sich aber nicht damit herausreden, dass es Streit hierüber gibt. Ermöglichen Sie doch
Wahlfreiheit, sagen Sie: Wer das Geld gleich haben will,
bekommt es gleich, wer es sich 25 Jahre lang auszahlen
lassen will, kann es sich 25 Jahre lang auszahlen lassen.
Das wäre Wahlfreiheit, das wäre Selbstbestimmung.
({0})
Nächster Punkt. Sie heben die Ausschlussfrist auf,
wenn auch nur für kurze Zeit. Sie sagen, am Tag der Antragstellungen bekommen die Leute ihre Rente, ihre Entschädigung. - Damit ignorieren Sie, dass diese Menschen
schon 50 Jahre lang mit ihrer Behinderung leben. Wenn
man schon nicht jeden Cent, der diesen Menschen rück23244
wirkend zustehen müsste, berechnen will, wäre es das
Mindeste, ihnen eine Einmalzahlung von 100 000 Euro
zukommen zu lassen. Das wäre ungefähr das, was sie in
den 50 Jahren bzw. seit es diese Stiftung gibt, nicht bekommen haben. Das wäre angemessen. Ich finde, man
sollte daran erinnern, dass wir selbst mit der Verdopplung
der Renten, die 2008 vorgenommen worden ist, hinter
dem bleiben, was alle anderen Länder gemacht haben.
Dass es eine rückwirkende Zahlung nach Ihrem Gesetzentwurf nicht geben soll, ist nicht in Ordnung.
Letzter Punkt. Sie wollen die Besetzung der Stiftungsgremien ändern. Einverstanden; aber die Linke ist
ein heftiger Verfechter des Selbstvertretungsrechts der
Betroffenen. Mindestens die Hälfte aller Plätze in diesen
Gremien müssten von Betroffenen besetzt werden. Mindestens die Hälfte heißt, da es um ungerade Zahlen geht,
die Mehrheit. Warum trauen Sie den Betroffenen nicht
zu, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände - auch
wenn diese noch so verkrüppelt sind - zu nehmen? Haben Sie den Mut dazu! Dann werden wir gemeinsam etwas erreichen.
Vielen Dank.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Zeiten wie diesen, wo die Große Koalition wichtige Entscheidungen wie die Bekämpfung der Steuerhinterziehung nicht mehr treffen zu können scheint, in
Zeiten wie diesen, wo die Regierungsfraktionen teilweise grob unverantwortlich handeln wie bei der Weigerung, das Funktionieren der Jobcenter sicherzustellen, in
Zeiten wie diesen, wo Union und SPD alles in allem ein
dunkles Gemälde des Zerfalls zeichnen, ist man für jeden hellen Pinselstrich dankbar.
({0})
Ein aufhellender Tupfer in der schwarz-roten Düsternis
({1})
ist zweifelsohne die vorliegende Neufassung des Conterganstiftungsgesetzes. Sicher, der Punkt, der die Geschädigten des Conterganskandals am meisten bewegt,
nämlich eine nach heutigen Maßstäben angemessene Entschädigung, dürfte aus ihrer Sicht nicht befriedigend gelöst sein. Die große Aufgabe einer grundsätzlichen Neubemessung der monatlichen Ausgleichszahlung bleibt
aus meiner Sicht und nach Auffassung meiner Fraktion,
Bündnis 90/Die Grünen, bestehen.
({2})
Es bleibt in der Verantwortung der Bundesrepublik
Deutschland, die Haftungsnachfolge wirksam wahrzunehmen.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt aber eine durchaus brauchbare Grundlage dar, um in der kommenden
Legislaturperiode und auch in den weiteren Beratungen
die Folgen des Conterganskandals politisch aufzuarbeiten. Insofern wäre es falsch, Frau Humme, diesen Gesetzentwurf gering zu schätzen oder als ungenügend abzuqualifizieren; das tue ich ausdrücklich nicht.
Wir begrüßen, dass der Kreis derer, die nach dem Conterganstiftungsgesetz entschädigt werden, mit diesem
Gesetzentwurf auch für solche Personen geöffnet wird,
die aufgrund der Einnahme von Contergan eine Schädigung erlitten, die nicht äußerlich sichtbar ist. Ich teile allerdings die Bedenken bezüglich der neuen Fristsetzung,
die Herr Kolb vorgetragen hat. Was wollen Sie tun, wenn
wieder Personen - die Contergangeschädigten sind ja um
die 50 Jahre alt - entdecken, dass sie Schädigungen der
inneren Organe haben, die durch die Einnahme von Contergan verursacht worden sind? Angesichts der geringen
Zahl derer, auf die das noch zutreffen dürfte, ist ein Fristverzicht im Laufe der Beratungen meiner Meinung nach
durchaus zu bedenken.
({3})
Wir begrüßen ausdrücklich, dass der vorliegende Gesetzentwurf vorsieht, dass Contergangeschädigte aus den
Erträgen des Stiftungsvermögens jetzt gezielt gefördert
werden sollen. Außerordentlich positiv hervorzuheben
ist auch die automatisierte Dynamisierung der monatlichen Leistungen sowie deren Umbenennung von
„Rente“ in „monatliche finanzielle Unterstützung“.
Die Reform des Conterganstiftungsgesetzes muss
nach unserer Auffassung allerdings die Möglichkeit einer Einmalzahlung für die Betroffenen eröffnen, die dies
ausdrücklich wünschen. Warum soll es nicht möglich
sein, wenn ein Betroffener dies wünscht, den auf ihn entfallenden Anteil des gesamten Stiftungsvermögens in
Form einer Einmalzahlung zu gewähren? Im Sinne des
Wunsch- und Wahlrechts würde das den individuellen
Wünschen - auch Sie von den Liberalen müssten das als
freiheitliche Partei gut finden - entsprechen. Die anderen, die die Auszahlung über einen längeren Zeitraum
bevorzugen, könnten diese Möglichkeit wählen; das
restliche Vermögen würde sich weiter verzinsen.
({4})
Angesichts des eingangs beschriebenen Zustands der
Großen Koalition ist das Erreichte durchaus anerkennenswert. Ich weiß aus Zeiten der rot-grünen Koalition
selbst, wie schwierig es sein kann, als Sozialpolitiker für
gesellschaftliche Minderheiten Mittel loszueisen, selbst
wenn dies, wie in diesem Fall, vollkommen berechtigt
ist. Insofern gebührt der Dank im bisherigen Prozess
ausdrücklich den Kolleginnen Antje Blumenthal und
Marlene Rupprecht. Auch wenn in der Entschädigungsfrage sicherlich weiterhin Meinungsunterschiede bestehen werden und wir weiterhin auf unserem Standpunkt
beharren werden, hoffe ich doch insgesamt auf gute und
konstruktive Beratungen in diesem Hause.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12413 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Winfried Hermann, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Besteuerung von Dienstwagen CO2-effizient
ausrichten und Privilegien abbauen
- Drucksache 16/10978 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Guten Abend! Es ist spät; man sieht es an den geleerten
Reihen.
({0})
- Für das Parlament ist es offensichtlich spät.
Wir reden heute über das Thema Dienstwagen. Welche Rolle haben die Dienstwagen überhaupt bei uns?
({1})
Wenn ich im Freundes- oder Bekanntenkreis oder heute
Mittag bei einer Besuchergruppe frage, was sie meinen,
wie viel Prozent neu zugelassener Wagen auf unseren
Straßen wohl die Dienstwagen ausmachen, dann kommen Schätzungen von 10 bis - ganz mutig - 20 Prozent.
Wenn ich dann sage, dass es 60 Prozent sind und bei den
Mittelklasse- und Oberklassewagen sogar 85 Prozent,
dann sind alle sehr erstaunt.
Damit haben die Dienstwagen eine extreme Relevanz
für den Gebrauchtwagenmarkt. Denn ein Merkmal der
Dienstwagen ist, dass sie relativ schnell wieder abgestoßen werden. Nach circa zwei Jahren sind es Auslaufmodelle; dann gibt es neuere Modelle, also muss ein neuer
Dienstwagen her.
Die zweite Rolle, die der Dienstwagen spielt - neben
der Möglichkeit des Transports, die natürlich wichtig ist,
aber nicht das Wichtigste -, ist die eines Statussymbols.
Deswegen muss es immer ein relativ neuer und relativ
großer Wagen sein. Das Image muss gut sein; je höher
der Posten
({2})
- ich glaube, bei Ihnen ist das noch eher so als bei uns -,
umso größer muss der Wagen sein. An diesen Fakten
- da können Sie, meine Kollegen, so viel polemisieren,
wie Sie wollen - kommen Sie nicht vorbei.
({3})
Ich nehme keine Schuldzuweisung vor und sage nicht,
dass es Ihre Schuld ist.
Reden wir weiterhin über die Fakten. Häufig sind
Dienstwagen ein fester Bestandteil der Mitarbeitermotivation und Teil der Bezahlung. In der Tat werden Gehaltsteile umgewidmet und für Dienstwagen verwandt.
Das wertet dieses Statussymbol noch einmal auf. An dieser Stelle muss schon die Frage erlaubt sein, ob die Allgemeinheit die Statussymbole unserer Führungskräfte
subventionieren muss.
Nach unserem Vorschlag, den wir Ihnen heute vorlegen, hätten wir auf der Basis der heutigen Dienstwagenflotte Steuermehreinnahmen von 2,7 Milliarden Euro,
wenn wir eine Abschreibung vornähmen, die sich nach
dem CO2-Ausstoß richtete. Unser Vorschlag ist - das ist
ja auch unser Ziel in der Umwelt-, Verkehrs- und Klimaschutzpolitik -, für Wagen mit einem CO2-Ausstoß bis
zu 120 Gramm pro gefahrenen Kilometer die volle Abschreibungsmöglichkeit einzuräumen. Für Wagen mit einem CO2-Ausstoß bis zu 240 Gramm pro gefahrenen
Kilometer gibt es einen Abschreibungsfaktor, der sich
aus dem Zielwert - das sind die 120 Gramm - und dem
Istwert - das ist der Wert des tatsächlich ausgestoßenen
CO2 - errechnet. Bei einem Ausstoß über 240 Gramm
pro gefahrenen Kilometer ist keine Abschreibung mehr
möglich. Das ist die Null-Bürokratie-Variante.
({4})
Das soll natürlich in vergleichbarer Weise auch für die
Kraftstoffkosten und für die private Nutzung von Dienstwagen gelten.
Aus umweltpolitischer Sicht ist das Ziel allerdings
nicht - das will ich den Herren Finanzpolitikern, die
nach mir reden, sagen -, die Steuermehreinnahmen zu
halten. Wir wollen geringer werdende Steuermehreinnahmen an dieser Stelle; denn unser Ziel ist ein geringerer CO2-Ausstoß auf unseren Straßen.
Die Regierung hat leider fatalerweise versäumt, sowohl bei der Abwrackprämie als auch bei der Neuregelung der Kfz-Besteuerung eine ökologische Komponente
einzuführen. Das widerspricht allem, was wir ständig in
Ihren Reden hören. Sie sprechen immer davon, wie notwendig es sei, einen Anstoß für ökologische Innovationen zu geben und für den Verkehr auf der Straße den
CO2-Ausstoß zu senken. Aber es werden keine Lenkungsinstrumente vorgeschlagen.
Der zentrale Hebel sind in der Tat die Dienstwagen.
Wenn die Regierung jetzt die letzte Gelegenheit ergreift
und wenigstens bei den Dienstwagen zupackt und umsteuert, dann ist tatsächlich die Möglichkeit gegeben, ein
anderes Image für Dienstwagen zu etablieren. Wenn wir
unsere Ziele erreichen wollen, dann kann das Image für
die große Zahl von Dienstwagen, die jedes Jahr neu zugelassen werden, nicht mehr sein: möglichst groß, möglichst PS-stark und möglichst hoher CO2-Ausstoß. Es
muss ein modernes, ein ökologisches und ein zukunftsfähiges Auto sein, das möglichst wenig CO2 ausstößt.
Nur mit einer solchen Imageveränderung bekommen wir
den Innovationsdruck in der Automobilindustrie endlich
hin.
({5})
Ich hatte heute Morgen das Vergnügen, an einem
Frühstück des BDI teilzunehmen und ein Gespräch mit
einem Vertreter des Verbandes der Automobilindustrie
zu führen. Er sagte mir: Ihr Umweltpolitiker wollt immer eine angebotsorientierte Politik betreiben und sagt,
was wir machen sollen - zum Beispiel die Grenzwerte
vermindern. Es muss aber auch jemand diese Wagen
kaufen. Wenn die entsprechende Nachfrage nicht vorhanden ist, dann können wir so viel produzieren, wie wir
wollen.
Hier besteht aber die Möglichkeit, Nachfrage zu
schaffen. Ich garantiere Ihnen: Wenn diese Abschreibungsmöglichkeiten hinsichtlich des CO2-Ausstoßes degressiv gestaltet werden, dann schaffen wir Nachfrage.
Das ist ein guter Grund für die Automobilindustrie, andere Wagen zu entwickeln, zu produzieren und auf den
Markt zu bringen. Diese Wagen haben ein anderes
Image. Dann haben wir endlich erreicht, wovon wir die
ganze Zeit reden, nämlich weniger CO2-Ausstoß auf unseren Straßen.
Gutes Gelingen!
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Olav Gutting, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eines muss man Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, lassen: Mutig sind Sie.
({0})
Es gehört wirklich Mut dazu, in der aktuellen Krise, von
der vor allem unsere Automobilhersteller und deren Zulieferer betroffen sind und in der Hunderttausende von
Menschen Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren,
solche Forderungen zu stellen.
({1})
Ihr Antrag ist aus meiner Sicht an wirtschaftlicher
und steuerlicher Unbedarftheit nicht zu überbieten.
({2})
Sie sprechen von einem Abbau von Privilegien und meinen dabei die AfA. Die Abschreibung zeichnet aber lediglich den Wertverlust des Firmenvermögens nach. Es
geht um den Werteverzehr während der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer. Bei den Abschreibungsregelungen handelt es sich nicht um irgendwelche steuerlichen
Privilegien. Es geht vielmehr um die zutreffende Ermittlung der jährlich absetzbaren Abnutzungskosten als Betriebsausgaben.
({3})
Jetzt lautet Ihre Forderung, das System der AfA, das
System der Absetzbarkeit von Betriebsausgaben, mit einer ökologischen Ausrichtung zu versehen.
({4})
Dies widerspricht aber den Grundprinzipien unseres
Steuerrechts und führt zu einer ganz erheblichen Verkomplizierung.
({5})
Wir brauchen derzeit aber keine Verkomplizierung, sondern eine Vereinfachung unseres Steuerrechts.
({6})
Es wäre einfach widersinnig, zwei im Anschaffungspreis
und in der Nutzungsdauer gleiche Wirtschaftsgüter nur
deshalb unterschiedlich zu behandeln, weil sie sich im
Kraftstoffverbrauch bzw. beim CO2-Ausstoß unterscheiden.
Das würde, wenn man dies konsequent umsetzt, bedeuten, dass man letztendlich sämtliche Maschinen und
sämtliche Heizungsanlagen mit einem höheren CO2Ausstoß sowie Gebäude, die vielleicht nicht ausreichend
gedämmt sind, zukünftig anders abschreiben müsste als
andere.
(Dr. Thea Dückert ({7}):
Es geht hier um eine Steuersubvention!
Das würde bedeuten, dass ein Betrieb, der einen Kühlschrank kauft, der vielleicht ein bisschen mehr Strom
verbraucht als ein anderer, diesen nicht mehr abschreiben dürfte. Entschuldigung, das ist doch absurd. Da kann
man doch überhaupt keine Grenze ziehen.
({8})
Es leuchtet keinem ein, welche Ungleichbehandlung Sie
bei abnutzbaren Wirtschaftsgütern vornehmen wollen.
Welche Verkomplizierung das darüber hinaus für das
deutsche Steuerrecht zur Folge hätte, will ich mir gar
nicht ausmalen.
Es geht bei Ihrem Hinweis auf angebliche Steuerprivilegien aus meiner Sicht letztendlich nur darum, eine
populistische Neiddebatte loszutreten. Sie sagten ja vorhin selbst, dass es etwas ganz Schlimmes ist, wenn jemand einen Dienstwagen hat.
({9})
Schauen Sie sich einmal die Zahlen an: Der ganz überwiegende Teil der Dienstwagen sind Klein- und Mittelklassewagen
({10})
und eben nicht Ihr Porsche Cayenne, den Sie immer wieder anführen. Es stimmt einfach nicht, dass die von Ihnen angesprochene 1-Prozent-Regelung bei der privaten
Nutzung von Dienstfahrzeugen ein steuerliches Privileg
ist. Es ist lediglich eine allgemein anerkannte und sachgerechte Vereinfachungsregel, die sich in der Vergangenheit bewährt hat.
Der Vorteil aus der Pkw-Gestellung durch den Arbeitgeber wird beim Arbeitslohn hinzugerechnet. Das heißt,
die Privatnutzung des Dienstfahrzeuges ist mit dem persönlichen Steuersatz zu versteuern. Dabei wird der Bruttolistenpreis des Kfz zugrunde gelegt, bei größeren Fahrzeugen also ein höherer Preis. Ihre Statussymbole
werden zu Recht von vornherein mit einem höheren
Wert angesetzt und sind folglich höher steuerlich belastet.
({11})
Sie nennen in Ihrem Antrag ein Beispiel: die Anschaffung eines Porsche Cayenne zu einem Preis von
68 000 Euro. Wenn wir diesen Preis ansetzen, dann bedeutet das nach der 1-Prozent-Regelung eine Versteuerung von monatlich 809 Euro für den Nutzer dieses
Fahrzeuges. Bei einer Abschreibung von fünf Jahren ist
das ein zu versteuerndes Einkommen von insgesamt fast
50 000 Euro. Wenn wir angesichts dieser Preisklasse von
einem Steuersatz von fast 50 Prozent ausgehen, dann erhält der Staat von dem Nutzer dieses Pkws Steuereinnahmen von über 24 000 Euro. Das ist mehr als der Steuerausfall, den Sie dem Unternehmen ankreiden. Das ist
mehr als das, was dem Staat nach Ihrem Antrag verloren
gehen soll. Die Steuereinnahmen aus der privaten Nutzung gleichen somit die Steuerminderung aus der Abschreibung bei einem Unternehmen, also aus dem jährlichen Werteverzehr, gewöhnlich wieder aus.
Sie haben vergessen, in Ihrem Antrag die anderen
Lenkungselemente, die es bereits gibt, zu erwähnen. An
der Tankstelle findet ja schon eine Lenkung statt, indem
für größere Fahrzeuge, die mehr verbrauchen, über die
Mineralölsteuer und die Ökosteuer höhere Energiesteuern und zusätzlich eine höhere Kfz-Steuer gezahlt werden muss. Das heißt, es gibt schon Lenkung im Markt,
und der Gesetzgeber hat schon erhebliche Anreize für
kleinere Kfz mit einem gewöhnlich auch geringeren
Schadstoffausstoß geschaffen.
({12})
Diese Anreize werden mit der Umstellung der KfzSteuer, die wir ja gerade beschlossen haben und die sich
nun am CO2-Ausstoß orientiert, noch deutlich erhöht. Es
gibt keine besseren Lenkungs- und Steuerungselemente
als diese beiden Komponenten: Kfz-Steuer und Energiesteuer zusammen. Das wird am Markt Wirkung zeigen.
Hingegen kann ich als Baden-Württemberger bei
dem, was Sie hier vorschlagen, nur die Hände über dem
Kopf zusammenschlagen und den Kopf schütteln. Sie
setzen bewusst die Arbeitsplätze von Zehntausenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land
aufs Spiel. Das können die Beschäftigten in der Automobilindustrie derzeit wirklich nicht brauchen. Warum lassen Sie die Leute nicht einfach die Autos kaufen, die sie
wollen? Wir haben doch bereits Lenkungselemente. Lassen Sie doch die Leute, wenn sie Lust haben, mehr Geld
auszugeben! Das können sie doch gerne machen. Wissen
Sie: Ihr Antrag passt letztlich genau zu Ihrer Linie
({13})
und zu dem Ziel, die Deindustrialisierung Deutschlands
voranzutreiben. In diese Richtung geht Ihr Antrag.
({14})
Dazu passt es auch, dass Ihre Kollegin, die Fraktionsvorsitzende Künast, schon mehrmals in der Öffentlichkeit dazu aufgerufen hat: Leute, kauft Hybridautos von
Toyota! Tolle Idee! Ich frage mich: Wozu brauchen wir
in Deutschland überhaupt noch eine Automobilindustrie?
({15})
Mit Ihren dauernden Angriffen auf die deutschen Autobauer und insbesondere auf die daran hängenden Arbeitsplätze gefährden Sie Zehntausende von Jobs bei
Daimler, Audi, BMW, Porsche und VW.
({16})
Das werden wir verhindern.
({17})
Das Gebot der Stunde heißt Vertrauen. Das Gebot der
Stunde heißt Stabilität,
({18})
auch in der Steuergesetzgebung. Es heißt aber nicht ideologisch geprägte Steuererhöhung zur weiteren Verunsicherung bei Kfz-Käufern.
({19})
Der Kollege Dr. Volker Wissing, FDP, hat seine Rede
zu Protokoll gegeben.1)
Ich rufe deshalb den Kollegen Reinhard Schultz,
SPD-Fraktion, auf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will jetzt nicht ganz so martialisch zu dem Antrag
sprechen, sondern versuchen, kollegial zu argumentieren.
Auch wir in der SPD-Fraktion haben uns insbesondere im letzten Jahr Gedanken gemacht, ob wir eine ökologische Steuerung in die Dienstwagenbesteuerung einbauen sollen. Das war zu einem Zeitpunkt, zu dem wir
nicht davon ausgehen konnten, dass wir kurzfristig zu einer Kraftfahrzeugsteuerreform kommen. Die haben wir
nun, und zwar mit einer - aus Ihrer Sicht vielleicht nicht
hinreichenden,
({0})
aber doch deutlich erkennbaren - CO2-Komponente. Ich
bin überzeugt, dass wir im Lauf der nächsten Jahre diese
CO2-Komponente ausbauen werden.
({1})
Es gab bei uns viele, die gerne jetzt schon einen etwas
progressiveren Teil da reingebracht hätten. Aber solche
Reformen verlangen natürlich nach Kompromissen innerhalb einer Koalition. Nichtsdestotrotz ist der CO2Anteil deutlich erkennbar und wird auch spürbar auf das
Käuferverhalten wirken. Das ist ein Beitrag zum Klimaschutz im Straßenverkehr. Deswegen sind aus unserer
Sicht Sonderbetrachtungen, die aus einer Zeit stammen,
zu der wir nicht glaubten, uns mit den Ländern über die
Kfz-Steuerreform einigen zu können, völlig überflüssig
geworden. Aus diesem Grund wird es von uns jetzt und
in absehbarer Zeit keine Unterstützung dafür geben.
({2})
Es gibt auch einige grundsätzliche Argumente, die dagegen sprechen. Herr Gutting hat darauf hingewiesen:
Wir vertreten - und darauf sind wir vom Bundesverfassungsgericht aus guten Gründen mehrfach hingewiesen
worden - das Nettobesteuerungsprinzip.
({3})
Tatsächlich entstehender Aufwand muss also bei der Ge-
winnermittlung vor Besteuerung berücksichtigt werden.
1) Anlage 3
Es gibt einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt: Derselbe Besteuerungsgegenstand kann nicht willkürlich oft
besteuert werden. Nach Ihrem Antrag wäre bei Dienstwagen der CO2-Anteil die Grundlage nicht nur bei der KfzBesteuerung und bei der Abschreibung, sondern - so hätten Sie es ja gerne - auch noch bei der Besteuerung desjenigen, der dieses Auto privat nutzt. Der CO2-Anteil
würde also sozusagen dreimal besteuert. Herr Gutting,
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Mineralölsteuer dadurch eine CO2-Komponente erhalten hat,
dass wir sie unter dem Stichwort Ökosteuer aus Klimaschutzgründen bewusst erhöht haben. Das wäre sozusagen die vierte Besteuerung desselben Gegenstandes. Ich
glaube, das wäre wirklich des Guten zu viel.
Frau Kotting-Uhl, ich weiß nicht, wo Sie die Zahlen,
die Sie hier genannt haben, herhaben. Die Zulassungszahlen von 2008 sind allgemein zugänglich und eindeutig. Sie sagten, 60 Prozent der Neuzulassungen seien
Dienstwagen. 2008 waren es 30,3 Prozent. Das ist eine
Abweichung, die größer ist, als ein Schätzfehler es sein
kann. Das sind Zahlen aus der amtlichen Zulassungsstatistik.
({4})
Wenn Sie sich die Zusammensetzung der Fahrzeuge
ansehen, stellen Sie fest, dass 73,9 Prozent zur Mini- und
Mittelklasse gehören oder Mini-Vans oder Vans sind.
Auch das sind keine Geschäftsführerbrummer, sondern
Nutzfahrzeuge.
({5})
Wissen Sie, woran das liegt? Solche Autos werden nicht
in erster Linie von „Bonzen“ oder vergleichbaren Gestalten gefahren. Das sage ich in Anführungszeichen wegen des Vorwurfs: Bonzenauto gleich CO2-Schleuder.
({6})
- Das ist die klare münsterländische Sprache. - Solche
Autos werden von Monteuren, Außendienstmitarbeitern,
Vertretern und Handwerkern gefahren. Viele von denen
haben nicht viel Geld, stehen entweder in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis oder sind selbstständig.
Sie nutzen diese Autos im Wesentlichen tatsächlich zu
beruflichen Zwecken.
({7})
Wissen Sie, wie viele Fahrzeuge von den im Jahr
2008 zugelassenen 960 000 Dienstfahrzeugen zur Oberklasse zählen? Ich sage es Ihnen, da Sie die Statistik offensichtlich nicht gelesen haben: 1,5 Prozent dieser
Fahrzeuge zählen zur Oberklasse.
({8})
Reinhard Schultz ({9})
Jetzt können Sie die gehobene Mittelklasse, die meines
Erachtens noch nicht in den Bereich Luxus gehört, betrachten, die 8,3 Prozent ausmacht. Ein besonderes Ärgernis sind die 7,6 Prozent Geländewagen. Diese werden
sicherlich nicht nur von Forstwirten, Bauingenieuren
und Brückenbauern gefahren. Das will ich gar nicht ausschließen. Diese Autos bilden aber im Verhältnis zu den
73,9 Prozent an kleinen und mittleren Fahrzeugen, die
mit Image und Status überhaupt nichts zu tun haben,
eine kleine Menge.
Natürlich gibt es auch den Fall, dass Mitarbeiter von
Firmen im Gesamtgefüge dessen, was sie geldlich und unentgeltlich an Vorteilen bekommen - quasi ins Gehalt eingepreist -, einen Dienstwagen gestellt bekommen - weil
sie relativ viel im Außendienst sind -, den sie auch privat
nutzen können. Derjenige zahlt einen angemessenen Anteil. Der muss steuerlich geltend gemacht werden. Im
Augenblick ist das 1 Prozent vom Listenpreis. Auch darüber müssen wir in einer Zeit, in der die Automobilpreise fallen, gelegentlich einmal nachdenken. Selbst
Neufahrzeuge sind heute weit unter Listenpreis zu bekommen. Ich finde es nicht ganz zeitgemäß, wenn bei einem Handwerker, der sich einen alten Mercedes Kombi
für 15 000 Euro kauft, ein Listenpreis von 40 000 Euro
als Besteuerungsgrundlage herangezogen wird. Das sage
ich bewusst in meiner Eigenschaft als Mittelstandspolitiker. Darüber muss man bei Gelegenheit sicher einmal
nachdenken. Das steht nicht ganz oben auf der Tagesordnung, ist aber dennoch ein wichtiger Punkt.
({10})
30 Prozent dieser Dienstwagen stellen den Großteil
der Neuzulassungen; das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Frau Kotting-Uhl, Sie haben die Schlüsselrolle zwar
beschrieben, aber leider nicht richtig. Wissen Sie, was
durch Dienstwagen entsteht? Durch den relativ schnellen
Umsatz - Dienstwagen werden schnell verkauft kommt es relativ schnell zu Innovationen. Vielleicht
kommt es nicht immer zu den Innovationen, die wir uns
wünschen. Manche Sachen sind viel zu langsam gekommen. Ich führe sehr kritische Diskussionen mit der Automobilindustrie hinsichtlich ihrer Produktpolitik, was
Umweltfreundlichkeit und CO2-Verbrauch anbelangt.
Trotzdem ist festzuhalten, dass durch den schnellen Umsatz der Dienstwagen Innovationen viel schneller in die
Breite gegeben werden, als das in der Vergangenheit der
Fall war, wo ausschließlich die Premiumfahrzeuge Innovationsträger gewesen sind. Das hat sich vollständig verändert. Das finde ich gut.
Ein Nebeneffekt ist, dass diese relativ schnell verkauften Dienstwagen - als Jahreswagen oder junge gebrauchte - dazu beitragen, dass auch Leute, die kein dickes Portemonnaie haben, relativ schnell an ein
neuwertiges Auto kommen. Das empfinde ich nicht unbedingt als Nachteil. Das kann ich nicht kritisieren.
({11})
Herr Gutting hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dies
angesichts der heutigen Situation auf dem Automobilmarkt überhaupt kein Nachteil ist. Wir fördern es ja, Jahreswagen und junge Gebrauchte über die Umweltprämie
schneller verkaufen zu lassen.
Insofern hinken Sie mit Ihrem Antrag von der Sache
und der statistischen Grundlage her sowie aus verfassungsrechtlicher Sicht - eigentlich unter jedweden Gesichtspunkten - hinter der Wirklichkeit her. Ich hätte es
verstanden, wenn Sie über Ihren Antrag, der aus dem
letzten Jahr stammt, früher diskutiert hätten. Dann hätte
dies zumindest noch den Reiz gehabt, über eine Alternative zu einer nicht vorhandenen CO2-orientierten Kraftfahrzeugsteuer zu diskutieren. Aus heutiger Sicht ist dieser Antrag meines Erachtens ein Dokument der
Vergangenheit, das an Bedeutung verloren hat. Sie sollten gar nicht erst darüber abstimmen lassen.
({12})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Barbara Höll, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Reden wir Klartext: Der Ausstoß von Treibhausgasen ist die Hauptursache für den Klimawandel. Seine
Abwendung erfordert ein gesellschaftliches Umdenken,
gerade auch in Zeiten der Krise, Herr Gutting. Nur weniger Autoverkehr ist langfristig der wirksame Ansatz, um
den Klimawandel noch zu stoppen. Dies erfordert gewaltige Veränderungen im Denken und im Handeln. Wir
brauchen die stärkere Regionalisierung der Wirtschaftsstrukturen, das Zusammenführen von Wohnen, Arbeiten
und Leben, um das Pendeln zu reduzieren, den verstärkten Einsatz von umweltgerechter und energiesparender
Technik, den Ausbau der erneuerbaren Energien usw.
Die Liste ließe sich fortführen.
Allein der Verkehrssektor verursacht insgesamt
20 Prozent der Treibhausgasemissionen. Bei Personenkraftwagen stagnieren die Emissionen seit Jahren auf hohem Niveau. Einerseits steigen die Fahrleistungen kontinuierlich an, andererseits sinken der durchschnittliche
Kraftstoffverbrauch und damit die Emissionen zu langsam. Klimaschutzaspekte werden in diesem Bereich von
der Bundesregierung nach unserer Einschätzung nur äußerst unzureichend beachtet.
Nun, in der dramatischen Wirtschaftskrise, werden
ökologische Aspekte erst recht nachrangig behandelt.
Wie so oft droht der Blick wieder einmal auf das Wohl
und Wehe des Fetischs Auto verkürzt zu werden. Dabei
geht es doch konjunkturpolitisch nicht nur ums Auto;
auch alle anderen Arbeitsplätze brauchen angesichts des
dramatischen Ausmaßes der Krise einen Schutzschirm.
Problematisch an der Abwrackprämie ist, dass gezielt
ein einzelner Wirtschaftssektor gehätschelt wird. Warum
nicht auch Abwrackprämien für alte Geschirrspüler,
Waschmaschinen und Tiefkühlgeräte, die alle Stromund Wasserschlucker sind?
Aus Klimaschutzperspektive ist die Abwrackprämie
nicht richtig, da sie niemanden davon abhält, einen Spritschlucker zu kaufen. Sie hätten wenigstens Parameter
einführen müssen und in der Krise die Chance ergreifen
können, Geld ganz gezielt dafür einzusetzen, Anreize für
Investitionen in energiesparendere Motoren zu setzen.
So ließe sich Klimaschutz verwirklichen, und gleichzeitig würden Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindustrie gesichert.
Die Grünen greifen nun mit dem sogenannten Dienstwagenprivileg einen kleinen Teilbereich heraus. Die Richtung hat Charme; wir brauchen hier ein politisches
Zeichen. Anreize zum Kauf von spritsparenden Kraftfahrzeugen sind auch aus Sicht der Linken eine sinnvolle
Maßnahme. Aber die Probleme werden sich damit leider
nicht lösen lassen. Einerseits besteht bereits heute ein großer Teil der Dienstwagen aus kleinen, preiswerten und somit spritsparenden Wagen. Es sind die Kleinwagen von
Kranken- und Altenpflegerinnen, von Pizzalieferanten
und zahlreichen anderen Außendienstmitarbeiterinnen
und -mitarbeitern. Sie sind heute schon aufgrund ihrer geringen Einnahmen schlicht und ergreifend gezwungen,
auf sparsame Kleinwagen zurückzugreifen.
Andererseits sind die großen Dienstwagen, also die
eigentlichen Spritschlucker - geben wir es zu -, oftmals
mehr Statussymbole als Transportmittel. Deren steuerliche Mehrbelastung müsste schon enorm ausfallen, um
einen Umstieg auf kleinere, weniger repräsentative Fahrzeuge zu erreichen. Daher stellt sich die Frage: Kann der
CO2-Ausstoß über steuerliche Maßnahmen dieser Art
vermindert werden? Es ist leider eine Illusion, dass Steuern bei denen, die sich „dicke“ Autos leisten können, das
Verhalten ändern. Ich glaube, dass sich kaum jemand
von seinem großen Schlitten trennt, wenn er ein paar
Euros mehr Steuern zahlen muss.
Belassen wir es deshalb nicht bei Symbolpolitik, sondern konzentrieren wir uns auf die Kernaufgaben: Verkehrsvermeidung und neue innovative Techniken.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10978 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({1}), Peter Albach, Dorothee
Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Steffen Reiche ({2}), Monika Griefahn, Siegmund Ehrmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Einheit in Vielfalt - Kulturpolitik in und für
Europa aktiv gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi
Eid, Undine Kurth ({3}), Marieluise
Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vielfalt verbindet - Europäische Kultur stärken und weiterentwickeln
- Drucksachen 16/11221, 16/10339, 16/12137 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Eisel
Steffen Reiche ({5})
Dr. Lukrezia Jochimsen
Undine Kurth ({6})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({7}) zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über das Programm „Kultur 2007“ ({8})
KOM ({9}) 469 endg.; Ratsdok. 11572/04
- Drucksachen 16/820 Nr. 72, 16/1700 Berichterstattung:
Abgeordnte Johann-Henrich Krummacher
Steffen Reiche ({10})
Dr. Lukrezia Jochimsen
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph
Waitz, Hans-Joachim Otto ({11}), Dr.
Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Europäische Kulturpolitik neu ausrichten
- Drucksache 16/11909 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Stephan Eisel, CDU/CSU-Fraktion.
({12})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bitte gestatten Sie mir, dass
ich zu Beginn dieser Debatte zunächst an den vor fast genau einem Jahr verstorbenen Kollegen Johann-Henrich
Krummacher erinnere. Denn ihm oblag in seiner Tätigkeit im Kulturausschuss seinerzeit die Berichterstattung
zu diesem Thema. Er hat die Initiative ergriffen, aus dem
Enquete-Bericht „Kultur in Deutschland“ im Rahmen
der europäischen Kulturpolitik eine erste Konsequenz zu
ziehen. Ich habe diese Berichterstattung übernommen.
Ich glaube, wir alle denken mit großer Hochachtung und
Respekt an Johann-Henrich Krummacher, der diesen
Prozess eingeleitet hat.
({0})
Europäische Kulturpolitik steht dafür, dass Europa,
dass die Europäische Union nicht einfach eine Freihandelszone ist, auch nicht nur eine politische Interessengemeinschaft, sondern eine Kultur- und Wertegemeinschaft, eine Gemeinschaft, in der die Achtung vor der
Würde des Menschen, vor der Freiheit des Einzelnen
und vor der Verantwortung für das Gemeinwohl im Mittelpunkt steht. Nur der Bezug auf diese Grundwerte
macht die politischen Entscheidungen in sich schlüssig.
Das merken wir gerade in diesen Zeiten der Krise.
Die europäische Geschichte hat gezeigt, dass diese
Grundwerte keineswegs selbstverständlich sind. Gerade
die Geschichte des letzten Jahrhunderts mit den totalitären Diktaturen, die diese Grundwerte massiv verletzt haben, hat gezeigt und ruft in Erinnerung, dass wir etwas
dafür tun müssen, dass die Achtung vor der Würde des
Menschen, der Freiheit des Einzelnen und der Verantwortung für das Gemeinwohl erhalten bleibt.
({1})
Dies ist einer der ersten und wichtigsten Punkte in unserem Antrag. Ich will das in diesem Jahr der Gedenktage und Jubiläen nicht am deutsch-französischen Beispiel, sondern am deutsch-polnischen Beispiel deutlich
machen.
({2})
Vor 70 Jahren, am 23. August 1939, haben sich zwei totalitäre Regime zusammengeschlossen und den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt geschlossen; dies geschah vor
allem auf Kosten des polnischen Volkes. Auch das ist
europäische Geschichte. Zwei Generationen später waren es das polnische Volk mit der Gründung von Solidarnosc und der polnische Papst, die die Voraussetzungen
dafür geschaffen haben, dass wir Deutsche in diesem
Jahr 20 Jahre Mauerfall feiern können.
({3})
Auch das ist europäische Geschichte. Es zeigt unsere
Verpflichtung und gibt uns die Hoffnung, dass wir diese
Werte mit dem, was wir im Rahmen der europäischen
Kulturpolitik politisch bewegen, stabilisieren und befördern können.
Die Kraft Europas und die kulturellen Leistungen Europas haben die Zerrissenheit unseres Kontinents überstanden. Die Kraft Europas ist die kulturelle Vielfalt.
Deshalb haben wir unseren Antrag mit „Einheit in Vielfalt“ überschrieben.
Wer europäische Kulturpolitik betreibt, kann dabei
nicht so verfahren wie bei der Fahrt in einem Heißluftballon - wenn man weit weg ist vom Grund und kein
Lüftchen weht -, sondern muss sich dorthin begeben, wo
Kultur gemacht wird. Kultur beinhaltet die Freiheit des
Einzelnen, seine Entfaltungskraft, die Zivilgesellschaft
vor Ort.
Die Maßnahmen, die wir in unserem Antrag genannt
haben und deren Umsetzung wir von der Bundesregierung fordern, sind ganz überwiegend Maßnahmen, bei
denen es um die Stärkung der Vielfalt geht. Europäische
Kulturpolitik ist das klassische Beispiel für die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Sie muss von unten
nach oben wachsen.
({4})
Wir fordern, mehr für den Kulturaustausch zu tun;
denn Vielfalt heißt, voneinander zu lernen. Wir wollen
Netzwerke fördern; denn durch Netzwerke wird die
Vielfalt miteinander in Verbindung gebracht. Wir schlagen vor, die Modalitäten der Beantragung von Kulturprojekten, die auf europäischer Ebene durchgeführt werden, zu vereinfachen.
({5})
Wir sind der Meinung, dass es einen Überbrückungsfonds geben muss. Er ist auch in finanzieller Hinsicht
von Bedeutung, weil bei vielen europäischen Projekten
erwartet wird, dass die Antragsteller sie vorfinanzieren.
Das ist gerade für kleine Initiativen ein Problem. Wir
wollen außerdem, dass die kulturelle Eigenart nationaler
Minderheiten - ich denke zum Beispiel an die Sorben mehr als bisher zur Geltung kommt. Dabei geht es um
die Kraft Europas, die Vielfalt unserer Geschichte und
die Vielfalt des kulturellen Alltags.
({6})
Hinzu kommt der Gesichtspunkt der Einheit. Wie wir
wissen - das müssen wir allerdings mehr als bisher realisieren -, leben nur 7,5 Prozent der Weltbevölkerung in
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. In der Welt
sind wir also nur eine kleine Gruppe. In der globalisierten Welt werden wir Europäer allerdings gemeinsam
wahrgenommen. Deshalb muss sich die Vielfalt zu einer
gemeinsamen Stimme entwickeln.
Wir schlagen vor, darüber nachzudenken, eine europäische Kulturstiftung zu gründen. Wir brauchen eine
Stimme Europas, auch im medialen Bereich, um in der
globalisierten Welt ein Instrument zur Verfügung zu haben, mit dem wir unsere Grundwerte und unsere Überzeugungen in die Welt transportieren und vertreten können.
({7})
Außerdem begrüßen wir die Initiative des Europäischen
Parlaments, in Brüssel ein Haus der europäischen Geschichte zu errichten,
({8})
um den Menschen deutlich zu machen, welch eine Erfolgsgeschichte die europäische Einigung ist.
Allerdings ist es uns hier im Parlament nicht gelungen, durch einen gemeinsamen Antrag aller demokratischen Fraktionen Einheit in Vielfalt zu demonstrieren.
({9})
- Frau Kollegin, ich sagte: aller demokratischen Fraktionen;
({10})
das habe ich mit Absicht so formuliert; insofern haben
Sie an der falschen Stelle geklatscht. - Das ist bedauerlich, weil wir damit auch ein Beispiel dafür hätten geben
können, dass es möglich ist, sich trotz aller Vielfalt zu einigen.
Ich möchte den Kollegen, die an den langwierigen
Verhandlungen beteiligt waren, herzlich danken. Ich bedanke mich insbesondere bei Frau Kollegin Eid, die das
Ziel der Vielfalt der Positionen und des Respekts vor unterschiedlichen Positionen auch in den Diskussionen
über diesen Antrag immer wieder hochgehalten hat. Ich
bedanke mich auch beim Kollegen Waitz - er ist heute
nicht hier -, für den es einfacher gewesen wäre, einen
gemeinsamen Antrag zustande zu bringen, wenn die
Kulturpolitiker in seiner eigenen Fraktion etwas mehr
Gehör gefunden hätten.
({11})
Ich danke auch dem Kollegen Reiche, der in der ihm eigenen Nachdrücklichkeit mehr auf die Koalitionseinheit
als auf die -vielfalt Wert gelegt hat.
({12})
Wichtig ist, dass wir uns, auch wenn wir heute keinen
gemeinsamen Antrag verabschieden, in der Sache einig
sind und bei der Konkretisierung dessen, was in unserem
Antrag steht, gemeinsam vorgehen. Wir müssen die
Vielfalt Europas und die Vielfalt unserer kulturellen Geschichte im Rahmen dieses Antrags umsetzen, um der
Freiheit der Menschen, der Achtung voreinander und
dem Respekt voreinander im Alltag der Kulturpolitik
Geltung zu verschaffen.
({13})
Der Kollege Christoph Waitz hat seine Rede zu Proto-
koll gegeben.1)
Ich erteile das Wort dem Kollegen Steffen Reiche für
die SPD-Fraktion.
1) Anlage 4
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jean Monnet soll gesagt haben, wenn er Europa noch
einmal neu begründen könnte, würde er mit der Kultur
beginnen. Das ist zumindest gut erfunden. Wir sollten es
jetzt im Blick behalten, wo Europa in die vermutlich
schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg, seit der Gründung der Europäischen
Union hineingeht.
Manche sprechen von einer Kultur-, ja Demokratiekrise, die dem zugrunde liegt, vielleicht aber zumindest
folgt. Um Europa trotz dieser Herausforderung zu bewahren, es so zu entwickeln, dass es gestärkt aus der
Krise herauskommt, bedarf es der europäischen Kultur nicht nur unserer Konfliktlösungskultur, sondern einer
Kultur, die uns Orientierung gibt, uns aus der Krise herauszukommen hilft, einen gemeinsamen Boden schafft,
wo in dieser Situation sicher geglaubte Fundamente
doch wegbrechen.
Hätten wir nur eine Wirtschaftsunion, wären wir
wirklich arm dran. Aber wir haben auch eine Union der
europäischen Kulturen. So wie durch die Wirtschaftsunion Wohlstand und Attraktivität Europas gesteigert
werden, so steigert auch die europäische Kultur, die Sinfonie der Kulturen Europas, den Wohlstand und die Attraktivität der Europäischen Union. Nicht nur um die im
Maastrichter Vertrag begründete europäische Bürgerschaft mit Leben zu erfüllen, benötigt Europa eine gemeinsame europäische Kultur, die im harmonischen
Konzert der verschiedenen europäischen Kulturen besteht. Wir brauchen gemeinsame kulturelle Werte; denn
sie bedeuten eine gemeinsame Werteorientierung, was
die Basis und die Struktur des gesellschaftlichen, des
ökonomischen und des politischen Systems angeht.
Diese Krise wird die gemeinsame europäische Kultur
entwickeln und stärken; zum einen, weil uns die gemeinsam gemachten Erfahrungen prägen werden, und zum
anderen, weil wir ohne ein Mehr an europäischer Kultur
nicht heil aus dieser Krise herauskommen werden. Bemerkenswert ist: Die Europäer erwarten jetzt geradezu
europäische Antworten auf die aktuellen Entwicklungen.
Die europäische Kultur entsteht und wächst in den
Städten und Gemeinden. Sie wird von den Regionen gefördert und prägt diese. Die Nationen Europas sind Kulturräume. Wie andere Nationen ist auch Deutschland
eine Kulturnation. Aber auch Europa ist ein Kulturraum.
Die Ebenen haben sich eigentlich immer gegenseitig gestärkt; sie nehmen sich nichts weg, indem sie eigene
Kompetenzen wahrnehmen und Aufgaben erfüllen, sondern bilden gemeinsam das europäische Kulturquartett.
Städte spielen die erste Geige, Regionen spielen den stabilen Grundton der Bratsche, die Nationen verstärken
das Ganze mit dem satten Ton des Cellos, und Europa
trägt wie der Kontrabass die gemeinsame Grundmelodie.
Ein Instrument nimmt die Melodie des anderen auf und
führt sie weiter. Daraus entsteht die Harmonie und Fülle
des europäischen Kulturquartetts.
Deshalb ist es gut, dass wir heute auf der Grundlage
des gemeinsam beschlossenen Kapitels „Kultur in
Europa“ im Schlussbericht der Enquete-Kommission
Steffen Reiche ({0})
„Kultur in Deutschland“ gleich über drei Anträge diskutieren. Dabei überwiegen Gemeinsamkeiten; aber die
Akzente sind an manchen Stellen verschieden gesetzt.
Wir sind ganz nah beieinander.
Noch nie hat Kultur in der Europäischen Union eine
so anerkannte Rolle gespielt wie heute. Sie wird gefördert, ist Gegenstand größter europäischer Kongresse;
Parlament, Kommission und Rat sehen die europäische
Kulturförderung zunehmend als ihre eigene Aufgabe an.
Im Rahmen des Programms „Kultur“ werden im Zeitraum von 2007 bis 2013 erhebliche Mittel zur Verfügung
gestellt.
Wir haben in den letzten zehn Jahren Bundeskulturpolitik gemeinsam erkannt: Wenn ein Akteur mehr auftritt, stärkt das die Kultur und die Länder. Im Grunde ist
das eifersüchtige Wachen darüber, wer zuständig ist, ein
Reflex von gestern. Wir müssen die deutsche Erfahrung
für Europa nutzbar machen. Den Nationen wird durch
Europa als Kulturakteur nichts genommen. Im Gegenteil: Europa fördert den europäischen Kulturdialog, hilft
uns, das Gemeinsame der verschiedenen nationalen Kulturen zu erleben. Europa hilft uns, die europäische Kultur im Dialog der Kulturen zu entwickeln.
In Berlin bin ich Potsdamer, in Bayern bin ich Brandenburger, in Frankreich bin ich Deutscher, und in
China, in Australien und in Amerika bin ich Europäer.
Ich fühle mich so, und ich werde so gesehen. Deshalb ist
es gut, dass es die offene Methode der Koordinierung
gibt.
Die Union leistet einen Beitrag zur Entfaltung der
Kulturen der Mitgliedstaaten unter … gleichzeitiger
Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.
So steht es im Vertragswerk der Union.
Der Wirtschafts- und Lebensraum und die gemeinsame Unionsbürgerschaft haben gemeinsame kulturelle
Wurzeln und mehr als je zuvor auch eine gemeinsame
kulturelle Zukunft. Wir müssen anerkennen, dass es neben unseren Kommunen und Ländern sowie dem Bund
einen weiteren Akteur in der Kulturpolitik gibt, nämlich
auf europäischer Ebene die Europäische Union.
Wir können deshalb nicht die Tatsache ignorieren,
dass die Maßnahmen der EU tief in unsere Kulturpolitik
hineinwirken. In der Konsequenz muss man dann aber
eben auch bereit sein, dieses kulturpolitische Wirken
mitzugestalten. Wegen seiner Bedeutung ähnlich der in
der Wissensgesellschaft sollte man damit ebenso ähnlich
der Methode der offenen Koordinierung folgen.
Mit Recht dürfen wir eben auch erwarten, dass das
subsidiäre Prinzip der Kulturpolitik dadurch nicht gefährdet wird. Auch durch den Bologna-Prozess wurde
das Fortschreiten der Wissenschaft nicht infrage gestellt.
Es geht auch nicht um Entdemokratisierung, da durch
die Methode der offenen Koordinierung das administrative Handeln der EU-Staaten nicht ersetzt wird.
Kultur in Europa - europäische Kultur - ist überall im
Aufwind. Die Künstler treffen sich zu gemeinsamen
Projekten, Ausstellungen werden an mehreren Orten in
Europa gemeinsam durchgeführt, europäische Verbände
organisieren, europäische Stiftungen finanzieren, und
durch europaweite Tagungen werden der Austausch und
die Planung neuer gemeinsamer Projekte ermöglicht.
Meines Erachtens finden sich bei immer mehr Vorhaben auch immer mehr Partner, die sich etwas zu sagen
haben und gemeinsam mehr als alleine schaffen. Ein
großartiges Beispiel dafür ist der europäische Film. Immer mehr Filme sind Koproduktionen, immer mehr
Filme werden von zwei oder drei und mehr europäischen
Partnern gemacht. Durch regionale und nationale Filmfördermittel werden europäische Meisterwerke ermöglicht: Filme, die in Europa spielen und von Europäern
für Europäer gedreht wurden. Plötzlich gelingt uns, was
die Nationalstaaten vergeblich forderten: Der europäische Film spielt neben dem US-amerikanischen eine stetig wachsende Rolle. In manchen Wochen dominiert er
sogar schon die Kinos in Europa.
Einige der im Antrag angesprochenen Projekte sind
mittlerweile zum Glück schon im Werden. Der Europäische Rat möchte die zwischenstaatliche Initiative für ein
europäisches Kulturerbesiegel nach dem Vorbild der
Europäischen Kulturhauptstädte in eine förmliche Initiative der Europäischen Union umwandeln. Schließlich
wird die Kommission sehr bald eine Empfehlung hinsichtlich der Kulturhauptstädte Europas 2012 und 2013
abgeben.
Wir halten die Idee, dass wir 2010 neben Pécs als
Europäische Kulturhauptstadt und dem Ruhrgebiet als
Europäische Kulturhauptstadtregion auch eine Kulturhauptstadt Europas benennen, die noch nicht in einem
EU-Mitgliedsland liegt, nämlich Istanbul, für so zukunftsweisend, dass wir sie über das Jahr 2010 hinweg
fortgesetzt wissen wollen. Es muss dafür Sorge getragen
werden, dass dieser Standpunkt auch bei der Abgabe der
Empfehlung durch die Kommission berücksichtigt wird.
Das EU-Kulturförderprogramm für 2007 bis 2013,
mit 408 Millionen Euro über die gesamte Laufzeit ausgestattet, hat nur etwas mehr als rund 7 Cent pro Bürger
und Jahr zur Verfügung. Die Forderung nach mehr Geld
liegt da auf der Hand. Deshalb sollte sich die Bundesregierung im Rat verstärkt dafür einsetzen, dass ein angemessener Anteil vom EU-Haushalt kulturellen Zwecken dient. Wir hätten uns hier eine deutlichere Bindung
auf einen Anteil von 1 Prozent gewünscht, hoffen aber
nach wie vor, dass dieser Wunsch hinsichtlich eines Anteils von 1 Prozent von anderen zukünftig als angemessen angesehen wird.
„Was ist dieses Europa?“, fragt der Dichter Paul
Valéry. Die Antworten sind so unterschiedlich wie die
Menschen, die sie geben. Aber die, die aus Afrika und
anderen Krisenregionen der Erde hierher zu uns nach
Europa kommen, reizt sicherlich auch der Wohlstand. Es
ist aber nicht nur eine ökonomische Hoffnung, sondern
auch ein kulturelles Versprechen, das Europa so faszinierend macht. Die Kultur in Europa zu entwickeln und zu
bewahren und die europäische Kultur zu stärken, sind
wir also nicht nur den Europäern, sondern auch der Welt
gegenüber schuldig.
Steffen Reiche ({1})
In dieser Verantwortung stehen wir. Deshalb finde ich
es gut, dass wir diesen Antrag gemeinsam eingebracht
haben und dass wir uns trotz zweier unterschiedlicher
Anträge im Kern so nahe sind.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kollegin Lukrezia Jochimsen für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Entdeckung der kulturellen Dimension Europas auch
und gerade als Element der europäischen Integration ist
eine existenzielle Aufgabe der Politik. Sie ist Aufgabe
und Abenteuer gleichermaßen. Denn historisch haben
sich die durchaus sehr unterschiedlichen Kulturen Europas für sich und sogar gegeneinander entwickelt, mit bewussten und nichtbewussten Einflussnahmen, Nachahmungen, Unterdrückungen und Ablehnungen.
Es ist auch deswegen keine leichte Aufgabe, weil die
Dimension Europas innerhalb der EU bisher vor allem
als Wirtschaftsverbund, Währungseinheit, politische
Struktur, Rechtskonstruktion und Sicherheitsbündnis bestimmt wurde. Das war auch im Lissabon-Vertrag der
Fall, den wir gerade deshalb ablehnen, weil wir uns als
eine proeuropäische Partei begreifen
({0})
- ja, Herr Kollege -, die eine andere, eine bessere EU
will: ohne Ausgrenzung und Armut, ohne eine wachsende soziale Spaltung. Wir wollen vor allem eine friedliche EU, die im Sinne der Charta der Vereinten Nationen Krieg ächtet.
({1})
Auch das ist für uns ein Fundament der kulturellen Dimension Europas.
Spät setzt nun die Erkenntnis ein, dass die europäische Integration ohne kulturellen Dialog nicht gelingen
kann. Wir plädieren für eine Politik, die sich auf den
Schutz und die Förderung von Kultur in ihrer Vielfalt
richtet und der Kulturpolitik einen höheren Stellenwert
gibt. Wir sehen in der Mitteilung der Kommission über
eine europäische Kulturagenda den Beginn für eine
neue, abgestimmte europäische Kulturpolitik, die Einheit und Vielfalt schützt und fördert, wie im Antrag auch
mehrfach betont wird. Wichtig ist dabei, dass die Kultur
nicht nur eine wirtschaftliche, sondern vor allem eine gesellschaftliche Produktivkraft ist.
In der Enquete-Kommission hatten wir uns parteiübergreifend auf eine Analyse der Situation und die darauf basierenden Handlungsempfehlungen geeinigt.
Meine Fraktion war zu jeder Zeit zu einer konstruktiven
Mitarbeit an einem gemeinsamen Antrag bereit. Der ist
leider nicht zustande gekommen.
Warum wir angeblich keine demokratische Fraktion
und unsere Wähler keine Demokraten sind, müssen Sie
uns eines Tages noch einmal genau erklären, lieber Herr
Kollege. Das sind Sie uns und vor allen Dingen unseren
Wählern schuldig.
({2})
Sie haben wieder mit Hinweis darauf, wir seien keine
demokratische Fraktion, die Zusammenarbeit mit uns
abgelehnt.
({3})
So ist leider ein gemeinsamer Antrag nicht zustande
gekommen, und wir haben heute über drei verschiedene
Anträge zu befinden, die so verschieden gar nicht sind.
Wir werden keinen der Anträge ablehnen. Dem der Grünen werden wir zustimmen, da er aus unserer Sicht die
weitergehenden Forderungen enthält und den Intentionen des Berichts der Enquete-Kommission am ehesten
entspricht. Den Vorschlag, einen großen europäischen
Kunstpreis auszuloben und vor allem den, einen europaweiten Feiertag zu schaffen, finden wir gut.
„Culture comes before Economy“, soll Kommissionspräsident Barroso konstatiert haben. Wenn das stimmt,
dann müsste den Millionen Kulturschaffenden in Europa
ein neuer Stellenwert eingeräumt werden. Ihre soziale
Lage ist schlecht. Ihre Arbeitsbedingungen und ihre soziale Sicherung sind schlecht. Ihre urheberrechtlichen
Belange werden missachtet. Wenn da politisch nicht gegengesteuert wird, entsteht gerade durch das Aufblühen
einer Kulturwirtschaft ein Kulturwirtschaftsproletariat.
Das dürfen wir nicht zulassen.
({4})
Leider bleiben, was diese Kernfrage betrifft, alle drei
Anträge vieles schuldig. Damit bleibt dieser Bereich
eine Aufgabe für uns alle in der Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Uschi Eid, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Guten Abend, Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Ich freue mich, dass wir noch vor Ostern Gelegenheit haben, über die europäische Kulturpolitik im
Bundestag zu debattieren. Trotz langer und intensiver
Bemühungen gelang es uns nicht, heute einen interfraktionellen Antrag zur europäischen Kulturpolitik vorzuleDr. Uschi Eid
gen. Wie Sie wissen, ist meine Fraktion mit einem Antrag in Vorleistung gegangen, in der Hoffnung, dass am
Ende des Beratungsprozesses ein interfraktioneller Antrag steht. Ein solcher war leider nicht möglich.
Alle Anträge, über die wir heute abstimmen, orientieren sich an den Empfehlungen der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ und unterscheiden sich deshalb
nur in wenigen Punkten. Aus diesem Grund wird sich
meine Fraktion bei der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses zum Antrag der Koalition
und zum Antrag der FDP enthalten.
Uns allen ist klar, dass die Europäische Union nicht
nur unter wirtschaftlichen und politischen Gesichtspunkten zu betrachten ist, sondern dass mit der EU-Erweiterung auch das Zusammenleben von Menschen mit ihren
unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Traditionen und
ihrer Geschichte eine große Herausforderung für die europäische Einigung darstellt.
({0})
Ich will nun einige Punkte nennen, die uns Grüne im
Hinblick auf die europäische Kulturpolitik besonders
wichtig sind. Zentrales Anliegen ist es, die Identifikation
der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten mit den
europäischen Werten zu unterstützen und eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit zu befördern. Deshalb
fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf,
sich vor allem für die Maßnahmen einzusetzen, die diesen staaten- und kulturübergreifenden europäischen
Charakter besonders unterstreichen,
({1})
zum Beispiel eine europäische Akademie der Künste,
die Stärkung des europäischen Films, eine mediale
Stimme Europas via Internet oder Rundfunk oder auch
die Einführung eines europäischen Feiertags am 9. Mai.
Wir wollen besonders kleinere, grenzüberschreitende
Künstler- und Kulturinitiativen in Europa stärken; denn
Europa wächst von unten her zusammen.Wir wollen die
Cultural Contact Points stärken, damit sie Künstlern und
Kulturschaffenden mehr Hilfestellung und Informationen über Projekte der EU-Förderung geben können.
Der Erinnerungsarbeit und der Aufarbeitung von Verbrechen in Kriegen und Diktaturen messen wir einen besonders hohen Stellenwert bei. Deutschland hat dabei
angesichts der furchtbaren Naziverbrechen, die ganz
Europa überzogen haben, eine besondere Verantwortung. Ein sensibler Umgang mit der Vergangenheit, die
Verantwortung für die eigene Geschichte und der kontinuierliche Dialog zwischen den europäischen Partnern
sind unerlässlich für ein friedliches Zusammenleben in
Europa.
({2})
Die jüngsten Spannungen im deutsch-polnischen Verhältnis zeigen, dass noch viele Anstrengungen nötig
sind, um das Vertrauen unserer Nachbarn zu gewinnen
und eine belastbare Basis für die europäischen Beziehungen zu schaffen. Der kulturelle Austausch und der
langfristige Dialog können viel dazu beitragen. Allerdings kann auch ein unbedachtes Wort eines Ministers in
kürzester Zeit mehr zerstören, als langfristige Dialoge
und Begegnungen bewirken können. So haben Minister
Steinbrücks Ausfälle gegenüber der Schweiz - das kann
ich Ihnen nicht ersparen - irreparable Schäden in unserem Verhältnis verursacht, die auch durch die beste kulturelle Kooperation und 100 Goethe-Institute nicht behoben werden können. Ich fordere die Bundeskanzlerin
an dieser Stelle auf, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht
wieder vorkommt.
({3})
Als Süddeutsche, die für die grenzüberschreitenden Belange zwischen der Schweiz und Baden zuständig ist,
liegt mir das ganz besonders am Herzen.
({4})
- Für uns alle da unten - die Badener, die Alemannen
und diejenigen am Bodensee - ist das ganz wichtig. Das
sieht man vielleicht da oben durch eine etwas andere
Brille.
({5})
- Ich meinte nicht Sie, Herr Präsident; ich meinte jene
Bank dort.
({6})
Des Weiteren halten wir eine stärkere Vernetzung und
Kooperation von einzelnen Kulturakteuren innerhalb der
EU sowie die Etablierung einer gemeinsamen europäischen außenkulturpolitischen Strategie für dringend erforderlich.
Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung die vorliegenden Anträge als Startsignal versteht und sich stärker
als bisher in der Europäischen Union für eine Intensivierung des Kunst- und Kulturaustauschs und der Begegnung einsetzt, um die europäische Einigung durch kulturpolitische Impulse voranzubringen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 16/12137. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
auf Drucksache 16/11221 mit dem Titel „Einheit in
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Vielfalt - Kulturpolitik in und für Europa aktiv gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD
gegen die Stimmen der FDP bei Stimmenthaltung der
Linken und der Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10339 mit dem Titel „Vielfalt
verbindet - Europäische Kultur stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der
SPD und der FDP gegen die Stimmen der beiden anderen Fraktionen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 16/1700 zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung mit dem Titel „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über
das Programm ‚Kultur 2007‘ ({0})“. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/11909 mit dem Titel „Europäische
Kulturpolitik neu ausrichten“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der
SPD gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der
Grünen und der Linken abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt kommt Arbeit
auf mich zu. Die muss ich jetzt noch bewältigen. Haben
Sie ein bisschen Geduld mit mir!
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Elke
Hoff, Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schutzsystem gegen Sprengfallen unverzüglich beschaffen
- Drucksachen 16/6999, 16/8242 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({3})
Elke Hoff
Paul Schäfer ({4})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zu
Protokoll zu geben. Es handelt sich um die Reden der
Kolleginnen und Kollegen Raidel, Reichel, Hoff, Höger
und Bonde.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Schutzsystem gegen
Sprengfallen unverzüglich beschaffen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/8242, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/6999 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der CDU/CSU, der SPD und der Linken gegen die Stim-
men der FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 15:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Pakistan stabilisieren und seine demokratische
Entwicklung vorantreiben
- Drucksache 16/12432 -
Es ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zu
geben. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Haibach, Pflug, Riemann-Hanewinckel,
Hoff, Gehrcke und Nachtwei.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Drucksache 16/12432. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen und der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Rücknahme der Klage gegen Italien vor dem
Internationalen Gerichtshof und Entschädigung für italienische und griechische NS-Opfer
- Drucksache 16/12168 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Bär,
Griefahn, Hoyer, Jelpke und Wieland.
Wir sind heute nicht hier, um die deutsche Verantwor-
tung für die Gräuel des NS-Regimes vor und während des
Zweiten Weltkrieges infrage zu stellen oder die Untaten
zu verharmlosen. Wir sind heute ebenso nicht hier, um
Sinn und Zweck von Entschädigungen für die Opfer die-
ser Verbrechen zu hinterfragen.
1) Anlage 5
2) Anlage 6
Der Antrag der Fraktion Die Linke, der heute vorliegt,
zielt darauf ab, dass die Bundesregierung ihre Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof zurückzieht und italienische sowie griechische NS-Opfer entschädigt. Der Beweggrund der Bundesregierung, Klage
einzureichen, ist nicht der, keine Verantwortung für die
Geschehnisse in Distomo und Civitella zu übernehmen,
sondern ein rechtlicher. Es geht darum, den Schutz eines
essenziellen Grundsatzes des Völkerrechts, nämlich die
Staatenimmunität, nochmals bestätigen zu lassen. Italien
hat die Staatenimmunität Deutschlands verletzt, indem es
Klagen gegen die Bundesrepublik zuließ und diesen Klagen stattgegeben hat. Die Staatenimmunität ist eines der
wichtigsten Prinzipien des Völkerrechts und muss daher
unbedingt gewahrt bleiben. Dies ist im Interesse Deutschlands und auch im Sinne der internationalen Gemeinschaft. Ohne dieses Prinzip wäre es unmöglich, nach
einem Konflikt zwischen Staaten wieder eine Friedensordnung herzustellen. Ohne dieses Prinzip wäre es
ebenso unmöglich, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und wieder in die Zukunft zu schauen.
Das Prinzip der Immunität heißt nicht, dass wir die
Vergangenheit vergessen. Es ist dafür da, gemeinsam und
konstruktiv an einer besseren Zukunft zu arbeiten und aus
vergangenen Erfahrungen zu lernen. Italien hat sich dazu
entschieden, das Prinzip der Staatenimmunität zu verletzen. Jedoch respektiert Italien die Entscheidung der Bundesregierung, Klage vor dem Internationalen Gerichtshof einzureichen, und ist der Ansicht, dass die Anhörung
auf positive Weise zur Klärung der Angelegenheit beitragen wird.
Ich bin mir sicher, dass Italien weiß, dass es hier nicht
darum geht, sich vor Entschädigungen zu drücken. Die
Aufarbeitung der Geschehnisse im Dritten Reich hat in
der deutschen Kultur zu Recht einen sehr hohen und überaus wichtigen Stellenwert. Wir tragen unserer Vergangenheit Rechnung, nicht nur durch symbolische Handlungen, wie zum Beispiel durch die Errichtung von
Gedenkstätten, sondern auch durch finanzielle Entschädigungszahlungen. Solche Zahlungen hat auch Italien erhalten. Bereits in den 60er-Jahren hat die Bundesrepublik
Deutschland umfassende und abschließende Entschädigungsvereinbarungen mit beiden Ländern getroffen. Danach hat Deutschland für die Opfer der NS-Verfolgung in
Italien insgesamt 40 Millionen Deutsche Mark an Italien
und 115 Millionen Deutsche Mark an Griechenland gezahlt. Darüber hinaus wurden weitere Entschädigungsleistungen für circa 1 000 italienische Militärinternierte
gezahlt. Auch im Rahmen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ haben 3 395 zivile italienische
Zwangsarbeiter finanzielle Zuwendungen erhalten. Italien hat infolgedessen im eigenen Namen und im Namen
seiner Staatsangehörigen auf alle Ansprüche gegen
Deutschland und seine Staatsangehörigen verzichtet, sofern sie auf Rechte und Tatbestände zurückgehen, die in
der Zeit des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Es besteht somit kein Grund für eine zusätzliche Zahlung von
Entschädigungsleistungen.
Ich möchte hierbei nochmals unterstreichen, dass unsere moralische Verantwortung natürlich unabhängig
von den Rechtsfragen besteht und wir uns dieser weder
entziehen dürfen, noch entziehen können. Es geht hier
nicht um die Leugnung der deutschen Vergangenheit, wir
wollen uns nicht vor Zahlungen drücken. Es geht hier um
die Lösung einer rechtlichen Frage, die durch das Verhalten Italiens aufgeworfen wurde. Wenn die Bundesrepublik
jetzt kein Zeichen setzt, wird die Immunität unseres Staates auch von anderen Ländern angegriffen werden.
Ebenso wird die Staatenimmunität auch für andere Länder infrage gestellt. Das dürfen wir nicht zulassen. Die
einzige Lösung ist die Klage vor dem Internationalen Gerichtshof. Wie bereits angemerkt, hat dies auch Italien
eingesehen und respektiert die Klage der Bundesrepublik.
Der Antrag, der uns heute vorliegt, hat das Anliegen
der Bundesregierung nicht erfasst und versteht den Kern
der Sache bewusst falsch. Es bleibt anzumerken, dass der
Antrag, der uns heute vorliegt, von einer Partei kommt,
die als Staatspartei der DDR 40 Jahre lang überhaupt
keine Veranlassung gesehen hat, ausländische NS-Opfer
zu entschädigen.
Die Verbrechen, die von Deutschland ausgehend von
1933 bis 1945 geschehen sind, gehören zu den dunkelsten
Kapiteln unserer Geschichte. Wir haben in Deutschland
auch heute, über 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, nach wie vor uneingeschränkt die Verantwortung, an diese Vergehen zu erinnern, der Opfer zu gedenken und alles dafür zu tun, dass die Erinnerung an sie
Mahnung für zukünftige Generationen ist.
Es ist keine Frage: Deutschland steht zu seiner Verantwortung. Aus diesem Grund wurden in der Vergangenheit
auch Opferentschädigungen gezahlt. Im Zuge des 1961
abgeschlossenen Globalabkommens waren das für italienische NS-Opfer 40 Millionen DM. Daneben erhielten
über 3 000 zivile Zwangsarbeiter Leistungen durch die
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ beziehungsweise die Jewish Claims Conference in Höhe von
circa 1,89 Millionen Euro.
In dem Friedensvertrag zwischen Deutschland und
Italien 1947 hat Italien eine Verzichtserklärung für weitere Entschädigungszahlungen abgegeben. Trotzdem sind
vor italienischen Gerichten derzeit über 50 Einzel- und
Sammelklagen gegen Deutschland anhängig, mit denen
von der Bundesrepublik Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg verlangt wird. Einige
Fälle betreffen italienische Militärinternierte, die nach
1943 von Deutschland inhaftiert wurden und in Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten. In anderen Fällen
klagen die Opfer oder die Nachfahren von Opfern deutscher Kriegsverbrechen in Italien. Gleichzeitig wird vor
italienischen Gerichten versucht, ein in Griechenland gegen Deutschland ergangenes Urteil wegen eines SS-Massakers 1944 in Distomo zu vollstrecken.
Ich glaube, bei dieser Aufzählung wird klar, dass hier
eine wahre Prozesslawine droht. Die Klagen stehen im
Konflikt mit der völkerrechtlich gewährleisteten Staatenimmunität. Das Prinzip der Staatenimmunität besagt,
dass kein Staat wegen seines hoheitlichen Handelns vor
den Gerichten eines anderen Staates verklagt oder gegen
ihn vollstreckt werden kann. Dieses Prinzip gilt selbstverZu Protokoll gegebene Reden
ständlich nicht nur für Deutschland, sondern für alle
Länder und macht überhaupt erst möglich, dass es eine
internationale friedliche Zusammenarbeit geben kann.
Nach den zahlreichen internationalen Konflikten, wovon
der Zweite Weltkrieg sicherlich der schwerste war, muss
es so ein Prinzip geben, damit man irgendwann wieder in
eine Situation der Befriedung kommt. Ohne dieses Prinzip gäbe es eine individuelle Klagewelle gegen Staaten
weltweit, was nicht nur zur totalen internationalen
Rechtsunsicherheit, sondern auch global zu einer politischen Eiszeit führen würde.
Der italienische Kassationshof sieht das anders: Er
hat in insgesamt drei Urteilen entschieden, dass sich
Deutschland in diesen Fällen der Kriegsverbrechen nicht
auf Staatenimmunität berufen könne. Wenn dieses Prinzip
recht behielte, dann müsste das in ähnlichen Fällen auch
für andere Kriege gelten.
Sie sehen, wie weitreichend die Konsequenzen wären,
wenn das grundlegende Prinzip der Staatenimmunität,
das das internationale Miteinander gewährleistet, außer
Kraft gesetzt wird. Ich zitiere jemanden, der nach eigener
Aussage das Urteil des italienischen Kassationshofes für
sehr gefährlich hält: „Wenn die Gerichte von Fall zu Fall
entscheiden, ob einem Staat Immunität zukommt, wird
das Prinzip der Staatenimmunität unberechenbar. Die
Welt braucht aber Rechtssicherheit. Sonst gerät alles aus
den Fugen.“ Dieses Zitat stammt nicht von einem Deutschen, sondern vom italienischen Außenminister Frattini.
Die italienische Regierung ist in dieser Frage der gleichen Auffassung wie die deutsche Regierung, und das
zeigt mir, dass es richtig ist, auch im Sinne der internationalen Gemeinschaft auf dem Prinzip der Staatenimmunität zu bestehen.
Ich sage noch einmal ganz klar: Damit treten wir keinen Millimeter von der Verantwortung Deutschlands zurück. Wir relativieren nicht unsere Schuld, zu der wir
nach wie vor klar stehen. Die deutsche Regierung ist sich
mit der italienischen darin einig, dass es zwei Dimensionen der Debatte gibt: zum einen die juristische und zum
anderen die politisch-moralische. Beide sind zwar miteinander verflochten, aber die Rechtsfrage lässt sich
nicht moralisch aus der Welt schaffen, und genauso wenig
kann unsere Verantwortung für eine gesellschaftliche
Auseinandersetzung mit dem Unrecht des Zweiten Weltkrieges durch einen Gerichtsbeschluss erledigt werden.
Der juristische und der politisch-moralische Prozess ergänzen sich. Keiner wäre, für sich allein, in der Lage, die
Grundlage für eine gute gemeinsame Zukunft zu legen.
Stattdessen wollen wir das gemeinsam angehen.
Deswegen haben am 18. November im letzten Jahr
Außenminister Franco Frattini und Frank-Walter
Steinmeier mit ihrem gemeinsamen Besuch der Gedenkstätte „La Risiera di San Sabba“ - des einzigen KZs Italiens - ein in der Öffentlichkeit beider Länder viel beachtetes Zeichen für die Anerkennung des Leids der Opfer
des Nazifaschismus gesetzt. Außerdem haben die Minister Historiker beider Länder zu einer gemeinsamen Konferenz in das deutsch-italienische Begegnungszentrum
der Villa Vigoni eingeladen. Die heutige Debatte findet zu
einem guten Zeitpunkt statt, denn genau morgen beginnt
diese Konferenz, bei der es um die deutsch-italienische
Kriegsvergangenheit und das Schicksal der italienischen
Militärinternierten gehen wird. Dies ist die Auftaktveranstaltung zu einer gemeinsamen Historikerkommission,
die ab morgen ihre Arbeit aufnehmen wird, aus der am
Ende auch ein Bericht hervorgeht. Sowohl Deutschland
als auch Italien haben leidvolle Erfahrungen mit totalitären Regimen. Mit der gemeinsamen historischen Aufarbeitung können wir auch eine gemeinsame Erinnerungskultur schaffen.
Wenn wir etwas in die Breite schauen, dann sehen wir
auch viele andere Beispiele dafür, dass Deutschland seiner Verantwortung für ein gutes Verhältnis mit Italien gerecht wird. In keinem anderen Land haben wir so viele
kulturelle Institutionen wie in Italien. Allein fünf wissenschaftliche Institute, vier Häuser mit Stipendien für
Künstler, sieben Goethe-Institute, die Villa Vigoni, drei
Deutsche Schulen, insgesamt über 30 deutsch-italienische Kulturinstitute - das ist so viel wie nirgendwo sonst.
Und auch Italien ist in Deutschland mit der weltweit
größten Zahl von Kulturinstituten vertreten. Ich glaube,
das allein zeigt schon sehr deutlich, wie weit wir in den
65 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs schon gekommen sind.
Ich würde mir wünschen, dass dieser gemeinsame Weg
noch weiter verstärkt wird. Derzeit wird an einer Internetplattform für deutsche und italienische Jugendliche
gearbeitet. Ich finde das sehr begrüßenswert und würde
mir wünschen, dass wir in diese Richtung noch weiter gehen und nach dem Vorbild des deutsch-französischen
oder deutsch-polnischen Jugendwerks auch ein deutschitalienisches Jugendwerk ins Leben rufen. Das ist natürlich auch immer eine Frage des Geldes, aber ich denke,
hier können wir wirklich nachhaltig in die deutsch-italienischen Beziehungen investieren und zur Verständigung beitragen.
Noch ein Wort zu dem besonderen Fall, bei dem vor
italienischen Gerichten versucht wird, ein in Griechenland gegen Deutschland ergangenes Urteil wegen eines
SS-Massakers 1944 in Distomo zu vollstrecken. Das
höchste griechische Gericht hat beschieden, dass dieses
Urteil wegen der geltenden Staatenimmunität gar nicht
vollstreckt werden kann. Deswegen versuchen die Kläger
jetzt, es in Italien vollstrecken zu lassen. Auch wenn die
Rechtslage in diesem Fall vonseiten der griechischen Gerichte unumstrittener ist, so wird doch klar, dass wir in
der politisch-moralischen Dimension der deutsch-griechischen Beziehungen noch lange nicht am Ziel sind. Ich
würde mir deshalb ein ähnliches Zeichen, wie es die Außenminister in Italien gesetzt haben, und einen ähnlichen
Anstoß wie die Historikerkommission auch in Griechenland wünschen.
Abschließend möchte ich den in meinen Augen wichtigsten Aspekt des Konfliktes unterstreichen. Anstatt dass
dieser Konflikt Deutsche und Italiener entzweit hätte, hat
uns das Problem eher zusammengeführt, und darüber bin
ich sehr froh. Der vorliegende Antrag bestätigt leider
wieder einmal meinen Eindruck, dass die Linke mehr daran interessiert ist, Symbolpolitik zu fordern, als dass sie
Zu Protokoll gegebene Reden
sich für realistische Maßnahmen einsetzt. Deswegen werden wir dem Antrag nicht zustimmen können.
Hintergrund des heute hier zu diskutierenden Antrages
sind mehr als 50 Einzel- und Sammelklagen gegen die
Bundesrepublik Deutschland, die sich auf den Zeitraum
von 1943 bis 1945 beziehen und die in Italien derzeit anhängig sind. Diese Klagen sind von ehemaligen Zwangsarbeitern, Militärinternierten und Opfern der Verbrechen
der NS-Besatzung sowie deren Angehörigen angestrengt
worden. Daneben wird vor italienischen Gerichten versucht, das in Griechenland ergangene „Distimo“-Urteil
zu vollstrecken.
Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung beginnen:
Deutschland kann und will sich der moralischen Verantwortung für das unermessliche Leid, das die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und darüber hinaus
gebracht hat, niemals entledigen. Die Erinnerung an die
NS-Kriegsverbrechen wird immer lebendig sein - als
Mahnung für uns alle, und für viele Opfer und deren Angehörige leider auch als Teil ihrer ganz persönlichen
Biografie. Dass Deutschland heute seinen Platz als
gleichberechtigter Partner in der Mitte Europas einnehmen kann, verdanken wir nicht zuletzt auch den Opfern
der NS-Gewaltherrschaft, die Deutschland nach dem
Zweiten Weltkrieg eine neue Chance gegeben haben. Das
verpflichtet Deutschland in besonderem Maße dazu, aktiv
Beiträge zu Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit und
zu der Durchsetzung der Menschenrechte zu leisten.
Der italienische Kassationsgerichtshof hat in bislang
insgesamt drei Urteilen entschieden, Deutschland könne
sich im Falle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit
nicht auf den Grundsatz der Staatenimmunität beziehen,
und damit den Weg frei gemacht für die Fortsetzung der
Verfahren sowie weitere Entschädigungsklagen. Die Bundesregierung hat sich dem entgegengestellt und inzwischen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof eingereicht.
Die Fraktion Die Linke hat dies zum Anlass genommen, die Bundesregierung dazu aufzufordern, die Klage
vor dem IGH zurückzuziehen und die Urteile der italienischen Gerichte anzuerkennen.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt die Bundesregierung in ihrer
Klage vor dem IGH und in ihrer Rechtsauffassung hinsichtlich der hier dargestellten Problematik ausdrücklich. Und ich füge hinzu, dass ich den hier vorliegenden
Antrag der Fraktion Die Linke für unverantwortlich
halte. Das gilt sowohl für die Anschuldigung, „das bisherige Verhalten der Bundesregierung [sei] eine Verhöhnung der Opfer und eine Blamage für die Bundesrepublik
Deutschland“, als auch für die Forderung, Deutschland
solle auf seine Staatenimmunität verzichten.
Die Bundesrepublik Deutschland begann bereits im
Jahre 1960 im Rahmen eines Vertrages mit Griechenland
über die abschließende Regelung der Entschädigungsfrage für begangenes NS-Unrecht mit der Zahlung von
insgesamt 115 Millionen DM. Die Zahlungen gingen direkt an die griechische Regierung, die für die Verwendung der Mittel verantwortlich war. Im Falle Italiens
wurde die Frage der Entschädigungen durch den Friedensvertrag des Jahres 1947 und ein 1961 geschlossenes
Abkommen abschließend geregelt. Vor diesem Hintergrund ist es schlichtweg unredlich, zu behaupten,
Deutschland habe sich bei der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen mehr oder weniger aus der Verantwortung
gestohlen.
Das Prinzip der Staatenimmunität ist ein Stabilitätsfaktor für die internationalen Rechtsbeziehungen und hat
sich nach meiner Überzeugung auf den Versöhnungsprozess nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges positiv und
nicht etwa negativ ausgewirkt. Es schützt nicht zuletzt
auch die Bundesrepublik Deutschland und andere Staaten vor Entschädigungsforderungen, denen sie in der
Summe niemals gerecht werden könnten.
Diese Auffassung vertreten wir übrigens nicht alleine,
sondern wir teilen sie auch mit Verantwortungsträgern in
Italien. Am 20. Juni 2008 hat sich der italienische Außenminister Frattini wie folgt geäußert: „Ich halte dieses Urteil …“, gemeint war das Urteil des Kassationsgerichtshofes vom 6. Mai, „… für gefährlich. Wenn die Gerichte
von Fall zu Fall entscheiden, ob einem Staat Immunität
zukommt, wird das Prinzip der Staatenimmunität unberechenbar. Die Welt braucht aber Rechtssicherheit. Sonst
gerät alles aus den Fugen.“
Das griechische Verfassungsgericht hat bereits am
17. September 2002 Weltkriegsklagen in Griechenland
wegen der deutschen Staatenimmunität für unzulässig
erklärt. Entsprechend verfuhr der Areopag später bei anderen Weltkriegsklagen. Auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschied, dass es keine juristische
Grundlage für Klagen gebe, die eine Haftung des deutschen Staates für in Griechenland begangene Kriegsverbrechen begründen könnten.
Wenn zu solch grundsätzlichen Fragen wie der Staatenimmunität international unterschiedliche Rechtsauffassungen bestehen, dann ist es eine Selbstverständlichkeit,
dies durch ein internationales Gericht überprüfen zu lassen. Die Klage der Bundesregierung, die sie am 23. Dezember 2008 beim Internationalen Gerichtshof eingereicht hat, trägt dem Rechung und ist nach Auffassung
meiner Fraktion auch sehr gut begründet. Die Klage impliziert in keiner Weise, Schuld oder Verantwortung relativieren zu wollen.
Wie die Bundesrepublik mit den Opfern von Wehrmachts- und SS-Verbrechen umgeht, ist ein einziges demütigendes Trauerspiel. Sie versucht, so billig wie möglich davonzukommen, und verweigert bis heute den
Menschen, die Massaker der Nazitruppen überlebt haben, bzw. ihren Angehörigen jegliche Entschädigung.
In mehreren Grundsatzentscheidungen hat der italienische Gerichtshof bestätigt, dass die überlebenden Opfer bzw. ihre Nachkommen einen Rechtsanspruch auf Entschädigung haben; dazu gehören neben italienischen
Opfern auch die Überlebenden des SS-Massakers im
Zu Protokoll gegebene Reden
griechischen Distomo. Die Bundesregierung ist jedoch
nicht bereit, diese Urteile zu akzeptieren, sondern klagt
gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof. Die
Fraktion Die Linke fordert, diese Klage zurückzuziehen
und den NS-Opfern endlich zu ihrem Recht zu verhelfen.
Die Bundesregierung hat NS-Opfer jahrzehntelang
mit dem Hinweis vertröstet, erst müsse Deutschland einen Friedensvertrag unterzeichnet haben. Dann, nach
dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und der Wiedervereinigung,
hieß es plötzlich, so viele Jahrzehnte nach Kriegsende
seien Entschädigungsansprüche nicht mehr legitim.
Auf den Versuch, sie auf so infame Weise auszutricksen, haben griechische und italienische Opferverbände
juristisch geantwortet, und sie haben Recht erhalten, was
Die Linke ausdrücklich begrüßt. Denn es gilt festzuhalten: Es hat bisher keine Entschädigung für die Opfer von
Wehrmachtsverbrechen gegeben! Die Bundesregierung
verweist immer wieder auf das sogenannte Globalabkommen aus den 1960er-Jahren, als 40 Millionen D-Mark gezahlt wurden, und vergisst dabei stets den Hinweis, dass
diese - sowieso lächerlich geringe - Summe nur für sogenannte NS-typische Verfolgung gedacht war. Verbrechen gegen die Menschheit, wie sie Wehrmacht und Waffen-SS in Italien vor allem während ihres Rückzuges ab
Herbst 1943 begangen haben, fielen nicht in diese Kategorie.
Auch die italienischen Militärinternierten, die unter
völkerrechtswidrigen Bedingungen zur Zwangsarbeit in
Deutschland gezwungen wurden, sind nie entschädigt
worden. Vielmehr wurden sie aus der ZwangsarbeiterEntschädigung explizit ausgeschlossen. Die Linke bzw.
die PDS hat diesen Ausschluss aus der Entschädigung
immer kritisiert. Zu Recht, wie italienische Gerichte nun
feststellen, denn auch die Militärinternierten haben von
ihnen grünes Licht für Entschädigungsklagen bekommen.
Das Bedauern, das die Bundesregierung regelmäßig
bekundet, wenn sie auf die deutschen Verbrechen angesprochen wird, kann ich mittlerweile nur noch als heuchlerisch bezeichnen. Sie vergießt Krokodilstränen, will
sich aber so billig wie möglich aus der Affäre ziehen. Es
reicht allenfalls für symbolische Gesten, die kaum etwas
kosten.
Als Antwort auf die Urteile der Gerichte haben sich die
deutsche und die italienische Regierung darauf geeinigt,
eine Historikerkommission einzusetzen. Das ist schön
und billig und verpflichtet zu nichts. Es ist bezeichnend,
was die zuständige Kulturabteilung der deutschen Botschaft in Rom auf die Frage meines Büros geantwortet
hat, ob denn auch Opferverbände an der Arbeit dieser
Kommission teilnehmen könnten: „Natürlich nicht“, hieß
es da. Ohne den Mitgliedern der Kommission ihren guten
Willen absprechen zu wollen: Das zeigt schlagend, dass
die Kommission von der Bundesregierung lediglich als
Feigenblatt gesehen wird, welches die Blöße ihres Versagens kaschieren soll.
Für Die Linke sind symbolische Gesten durchaus notwendig, ebenso wie historische Aufarbeitung. Doch weder Tagungen noch protokollarische Auftritte in KZ-Gedenkstätten können reale Politik ersetzen und schon gar
nicht die berechtigten Forderungen der noch lebenden
NS-Opfer aushebeln.
Ein Wort zur Staatenimmunität. Dahinter will sich die
Bundesregierung ja verstecken, weil nach ihrer Sicht der
Dinge die italienischen Bürgerinnen und Bürger nicht
das Recht haben, den deutschen Staat zu verklagen. Man
muss doch festhalten: Die deutschen Soldaten, die in Italien gewütet und Dutzende von Massakern, Tausende von
Morden begangen haben, waren doch keine durchgedrehten Einzeltäter! Die Verbrechen waren keine individuellen Exzesse, sondern sie waren von der obersten politischen und militärischen Führung des Deutschen Reiches
ausdrücklich gewollt und sogar regelrecht angeordnet;
die Rache- und Sühnebefehle des Oberkommandos der
Wehrmacht zeigen das ja mehr als deutlich. Die Massaker
waren Chefsache, die Soldaten, die sie ausgeführt haben,
sind deshalb nicht weniger verbrecherisch, aber dass der
Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches die Verantwortung dafür nun von sich weisen will, ist perfide.
Doch nicht nur politisch ist die sogenannte Staatenimmunität in diesem Fall eindeutig abzulehnen, sondern
auch juristisch - das haben sowohl der griechische
Areopag als auch der italienische Corte di Cassazione
entschieden: Für solche Verbrechen gegen die Menschheit, wie sie die Nazitruppen verübt haben, gibt es keine
Immunität.
Nebenbei sei erwähnt: Dass die italienische Regierung
sich hier auf die Seite der Bundesregierung schlägt, kann
kaum verwundern, schließlich hat auch Italien noch so
manche Leiche aus seiner faschistischen Kriegführung
während der 1930er- und 1940er-Jahre im Keller liegen
und fürchtet offenbar, seinerseits verklagt zu werden.
Eine widerliche Kumpanei!
Die Bundesregierung hat noch nie das Gespräch mit
den NS-Opfern gesucht. Sie schreckt nicht einmal davor
zurück, diese nun zu diffamieren und ihnen vorzuwerfen,
ihre Klagen stellten „eine ernsthafte Belastung der
deutsch-italienischen Beziehungen“ dar. So steht es in
der Klageankündigung, die Ende Dezember vorigen Jahres beim IGH eingereicht worden ist. Hinter solchen Worten steckt eine Kaltblütigkeit, die einen schaudern lässt.
Die gleiche Bundesregierung, die es ablehnt, rechtskräftige Urteile von EU-Mitgliedstaaten zu akzeptieren und
den Opfern des Nazirechts Entschädigung zu gewähren,
wirft ausgerechnet diesen Opfern vor, die Interessen des
deutschen Staates zu gefährden.
Die Fraktion Die Linke ist dieses Trauerspiel leid, und
damit wissen wir uns einig mit den Opfern des „Dritten
Reiches“ und den Geboten der Humanität. Die Bundesregierung hat mit den Urteilen der griechischen und der
italienischen Justiz die Quittung für ihr entschädigungspolitisches Versagen erhalten. Wir fordern sie nun auf, die
Klage vor dem Internationalen Gerichtshof zurückzuziehen und endlich die rechtskräftig gewordenen Entschädigungsansprüche zu akzeptieren. Ich bin sehr gespannt
darauf, wie die anderen Fraktionen dieses Parlamentes
auf unseren Antrag reagieren. Es geht hier auch um die
Glaubwürdigkeit der deutschen Geschichtspolitik. Lassen Sie den Opfern des Nationalsozialismus endlich Gerechtigkeit zuteil werden!
Zu Protokoll gegebene Reden
Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS haben im
Zweiten Weltkriege eine Reihe unsäglicher Massaker an
Zivilisten angerichtet. Besonders betroffen davon waren
ab 1943 Italien und Griechenland, aber auch das ehema-
lige Jugoslawien. Mit der Behauptung, gegen Partisanen
vorzugehen, wurde die Bevölkerung ganzer Dörfer kalt-
blütig zusammengetrieben und systematisch ermordet.
Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um Männer oder
Frauen, um Alte oder Kinder handelte.
Dieses Vorgehen wurde oftmals als „Kollektivstrafe“
gerechtfertigt. Allen bekannt ist etwas das Massaker an
den Ardeatinischen Höhlen bei Rom. Nachdem eine Wi-
derstandsgruppe 33 deutsche Soldaten bei einem An-
schlag getötet hatte, haben die verantwortlichen Kom-
mandeure aus Gefängnissen in Rom 335 Personen - die
bestialische Logik hieß: zehn Italiener müssen für jeden
toten Deutschen sterben - zusammengetrieben, vor die
Tore der Stadt transportiert und dort systematisch er-
schossen.
Ähnlich liegt der Fall bei der Ermordung von 228 Be-
wohnern des griechischen Ortes Distomo. Auch hier ver-
barg sich hinter der Schutzbehauptung der „Vergeltungs-
aktion“ für den Tod einiger deutscher Soldaten ein
systematischer Massenmord.
Es gibt viele weitere Fälle dieser Art und es gibt die
große Gruppe der sogenannten Militärinternierten, de-
nen der Status der Kriegsgefangenen damals verweigert
wurde und die deshalb Zwangsarbeit leisten mussten.
Italienische Gerichte haben nun bis zur höchsten In-
stanz entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland
schadensersatzpflichtig ist und dass diese Ansprüche
auch vollstreckt werden können. Auch Hinterbliebene
und Nachfahren der griechischen Opfer haben in Italien
versucht, ihre Schadensersatzansprüche vollstrecken zu
lassen.
Es steht für mich völlig außer Frage, dass es die Pflicht
der Bundesregierung ist, die Hinterbliebenen der Opfer
zu entschädigen und dafür zu sorgen, dass diese Ereig-
nisse - zum Beispiel in der deutsch-italienischen Histori-
kerkommission - restlos aufgeklärt werden und ihrer ge-
bührend gedacht wird.
Die pauschalen Zahlungen, die in den 60er-Jahren von
der Bundesrepublik geleistet wurden, waren nicht ausrei-
chend. Sie waren zudem eine Form der allgemeinen
Wiedergutmachung. Viele derer, die in der einen oder an-
deren Form Opfer des nationalsozialistischen Besat-
zungsregimes, der Wehrmacht und der Waffen-SS gewor-
den sind, haben diese Zahlungen nicht erreicht. Und auch
im Rahmen der Entschädigung der ehemaligen Zwangs-
arbeiter, die von der rot-grünen Bundesregierung mit der
Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ ermöglicht wurde, blieben diese Opfer außen
vor. Es ist also höchste Zeit, dass auch für die Opfer des
NS-Terrors in Südeuropa eine ähnliche Entschädigung
bereitgestellt wird.
Der vorliegende Antrag will aber etwas anderes. Er
fordert die Anerkennung der Urteile aus Italien und Grie-
chenland und die Rücknahme der deutschen Klage vor
dem Internationalen Gerichtshof. Das ist in dieser Form
nicht zu unterstützen. Denn mit der Anerkennung der Ur-
teile und der Rücknahme der Klage würde das Prinzip der
Staatenimmunität aufgegeben. Dieses Prinzip gehört
aber zu den Kernbeständen des internationalen Rechts.
Es kann und sollte nicht durch eine alleinige deutsche
Entscheidung ausgesetzt und infrage gestellt werden.
Das ändert aber nichts an der moralischen Pflicht,
schnellstmöglich einen Weg zu finden, die Opfer von da-
mals angemessen, unbürokratisch und schnell für ihre
Leiden zu entschädigen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12168 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 17 a und
17 b:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes
- Drucksache 16/10731 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 16/12405 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Hartfrid Wolff ({1}), Hans-Joachim
Otto ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Möglichkeiten missbräuchlicher Ortung von
Mobiltelefonen mittels privater Anbieter begegnen
- Drucksache 16/9608 Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Krogmann, Dörmann, Otto ({3}), Schui und
Dückert.1)
Wir kommen damit zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Telekommunikationsgesetzes. Der Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12405,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 16/10731 in der Ausschussfassung anzunehmen.
1) Anlage 7
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP bei
Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/12456. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die
Stimmen der FDP mit den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/9608 mit dem Titel „Möglichkeiten
missbräuchlicher Ortung von Mobiltelefonen mittels privater Anbieter begegnen“. Abweichend von der Tagesordnung soll über den Antrag heute abgestimmt werden.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
FDP und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 18:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,
Josef Philip Winkler, Rainder Steenblock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine zukunftstaugliche und menschenrechtlich fundierte Europäische Migrationspolitik
- Drucksachen 16/10341, 16/12464 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({5})
Josef Philip Winkler
Die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen sind
zu Protokoll gegeben: Kammer, Veit, Wolff ({6}), Dağdelen und Sarrazin.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/12464, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/10341 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linken
1) Anlage 8
gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der FDP
angenommen.
Tagesordnungspunkt 19:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Zivildienstgesetzes
und anderer Gesetze ({7})
- Drucksache 16/10995 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({8})
- Drucksache 16/12372 Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Sönke Rix
Elke Reinke
Kai Gehring
- Bericht des Haushaltsausschusses ({9})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/12373 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Carsten Schneider ({10})
Otto Fricke
Anna Lührmann
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP vor.
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Grübel, Rix, Lenke,
Reinke, Gehring und der Parlamentarische Staatssekretär
Kues.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Zivildienstgesetzes und anderer Gesetze. Der
Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt auf Drucksache 16/12372, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 16/10995 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
2) Anlage 9
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Abstimmung über den Entschließungsantrag der FDP
auf Drucksache 16/12457. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
FDP bei Stimmenthaltung von Grünen und Linken abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Adoptionen von minderjährigen Kindern fördern
- Drucksache 16/12293 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Granold,
Lambrecht, Lenke, Wunderlich und Deligöz.
Heute beraten wir in erster Lesung den Antrag der
FDP, der sich mit der Adoption minderjähriger Kinder
befasst. Wir begrüßen diese Debatte, denn das Thema ist
wichtig.
Die Union spricht sich grundsätzlich für eine Förderung der Adoptionen von minderjährigen Kindern aus.
Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der nach wie
vor hohen Zahl von Abtreibungen sowie der wachsenden
Zahl von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen. Es wäre für diese Kinder besser, ein neues Zuhause
bei den vielen Eltern zu finden, die sich heute leider oft
vergeblich um ein Kind bemühen. Der Gesetzgeber ist gefordert, hier im Sinne der Kinder die richtigen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir unterstützen
daher grundsätzlich die Zielsetzung des Antrages, die
Adoption von minderjährigen Kindern zu fördern.
Das deutsche Adoptionsrecht sieht eine Höchstaltersgrenze für adoptionswillige Eltern nicht vor. Die Annehmenden müssen lediglich ein bestimmtes Mindestalter erreicht haben. Dieses beträgt 21 Jahre bzw. bei
Stiefkindadoptionen 25 Jahre. Im Übrigen spielt das Alter
der Annehmenden lediglich mittelbar eine Rolle bei der
Prüfung der Eignung der Bewerber und der Frage, ob zu
erwarten ist, dass zwischen dem Annehmenden und dem
Kind eine Eltern-Kind-Beziehung entsteht. Die Frage der
Eignung der Bewerber muss also letztlich in jedem Einzelfall von den zuständigen staatlichen Stellen geprüft
und beantwortet werden.
Die Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft
der Landesjugendämter, die in der Praxis eine wichtige
Richtlinie darstellen, sehen allerdings im Alter der Bewerber einen Indikator für andere Merkmale - etwa die
Gesundheit oder Belastbarkeit. Insofern gehen die Empfehlungen davon aus, dass es dem Wohl des Kindes nicht
dient, wenn der Altersunterschied zwischen Kind und Eltern mehr als 40 Jahre beträgt.
Die FDP fordert nun, die Frage des Alters stets einzelfallbezogen - das heißt individuell - zu beurteilen. Darüber hinaus soll gesetzlich festgehalten werden, dass ein
Altersunterschied von mehr als 40 Jahren im Einzelfall
als unschädlich anzusehen ist. Aus Sicht der Union ist
dieses Anliegen grundsätzlich berechtigt. Die gesellschaftlichen Bedingungen haben sich langfristig verändert. Die Annahme, dass ein Altersunterschied von mehr
als 40 Jahren in der Regel nicht dem Wohl des Kindes
dient, kann so nicht mehr aufrechterhalten bleiben. Wir
stellen fest, dass Mütter ihre Kinder heute immer später
zur Welt bringen. Schwangerschaften bei 40-jährigen
Frauen sind heute längst keine Seltenheit mehr. Anders
als früher ist hiermit weder unter medizinischen noch unter psychologischen Gesichtspunkten ein signifikant erhöhtes Risiko verbunden. Dies gilt insbesondere auch für
die Kinder. Die Menschen werden zudem immer älter.
Sechzigjährige sind heute gesünder und vitaler als noch
vor 20 Jahren. Ein Altersunterschied von mehr als
40 Jahren kann deshalb nicht länger per se ein Grund für
die fehlende Eignung der Bewerber sein. Im Übrigen ist
es nicht gerechtfertigt, dass bestimmte Personengruppen
- ich denke hierbei insbesondere an Prominente wie
Herrn Schröder - privilegiert werden, indem bei ihnen
ein größerer Altersunterschied offenbar kein Problem
darstellt. Angesichts dieses Widerspruches dürfen wir uns
nicht wundern, dass die Akzeptanz der gängigen Adoptionspraxis mehr und mehr schwindet.
In diesem Sinne äußerte sich auch die Bundesregierung. So heißt es in der Antwort auf eine Kleine Anfrage
der FDP-Fraktion aus der letzten Legislaturperiode mit
Blick auf die Frage des Altersunterschiedes und etwaiger
Nachbesserungen: „In diesem Zusammenhang sollte die
gesellschaftliche Entwicklung und der veränderte Altersaufbau der Gesellschaft berücksichtigt werden ({0})“. Die
Union teilt insofern die Kritik an der geltenden Praxis
und den einschlägigen Empfehlungen zum Altersunterschied. Eine gesetzliche Klarstellung, dass es keine obere
Altersgrenze gibt, halten wir jedoch weder für ein geeignetes Instrument noch für erforderlich. Die Frage der
persönlichen Eignung unter Berücksichtigung des Altersunterschiedes unterliegt einer stetigen dynamischen Entwicklung und sollte deshalb nicht durch eine konkrete gesetzliche Regelung zum Altersunterschied abschließend
festgelegt werden. Stattdessen präferieren wir eine am
Kindeswohl orientierte Einzelfallprüfung. Der richtige
Weg ist daher eine Änderung der einschlägigen Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Die Union wird darauf hinwirken, dass eine
entsprechende Änderung zeitnah geprüft und gegebenenfalls umgesetzt wird.
Nach dem Willen der FDP soll darüber hinaus eine
Gesetzesänderung dahingehend vorgenommen werden,
dass bei Stiefkindadoptionen wie im geltenden Recht der
Erwachsenenadoptionen die Möglichkeit gegeben wird,
das Verwandtschaftsverhältnis zu beiden leiblichen Elternteilen bei einem einvernehmlichen Wunsch von
Mutter, Vater sowie adoptionswilligem Stiefelternteil und
einer entsprechenden notariellen Beurkundung beizube23264
halten. Schon bei der Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Jahr 2005 und der damit verbundenen
Einführung der Stiefkindadoption durch gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften hat die Union darauf hingewiesen, dass das geltende Recht der Stiefkindadoption Mängel aufweist und diese zunächst überarbeitet
werden sollten, bevor man darüber diskutiert, ob der
Kreis der Berechtigten in einem weiteren Schritt auf
gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften erweitert
wird. Wir sind damals mit unseren Bedenken leider nicht
gehört worden. Offensichtlich ging es einigen damals
wohl mehr um die Selbstverwirklichung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartner als um die Interessen der
Kinder. Die Stiefkindadoption bringt für die betroffenen
Kinder zum Teil erhebliche Nachteile. Aus diesem Grund
plädieren wir dafür, das Recht der Stiefkindadoptionen
sorgfältig zu überprüfen und dann gegebenenfalls zu novellieren. Es verbieten sich jedoch in diesem sensiblen
Bereich Schnellschüsse jeder Art.
Im Übrigen bezweifele ich, dass sich die Kolleginnen
und Kollegen von der FDP überhaupt darüber im Klaren
sind, was sie hier eigentlich fordern. Bei der Erwachsenenadoption werden gemäß § 1770 BGB bei entsprechendem Wunsch die aus der Abstammung herrührenden Verwandtschaftsverhältnisse des Angenommenen durch die
Annahme grundsätzlich nicht berührt. Im Falle des Todes
des Angenommenen sind deshalb seine leiblichen Eltern
und seine Adoptiveltern nebeneinander erbberechtigt.
Darüber hinaus - das ist das Entscheidende - bleiben in
diesem Fall die gegenseitigen Unterhaltspflichten bestehen. Die Beibehaltung des Verwandtschaftsverhältnisses
entsprechend der Erwachsenenadoption würde folglich
bedeuten, dass das betroffene Kind gegenüber dem abgebenden leiblichen Elternteil nicht nur berechtigt, sondern
zusätzlich auch erb- und unterhaltspflichtig wäre. Das
Kind wäre somit später zum Beispiel gegenüber drei Elternteilen unterhaltspflichtig. Mit dem zusätzlichen Verwandtschaftsverhältnis sind zudem weitere für das Kind
negative Rechtsfolgen verbunden. Anders als bei der Erwachsenenadoption wird das Kind hier aber nicht gefragt, ob es diese Rechtsfolge wünscht. Vor diesem Hintergrund kann ich mir nicht vorstellen, dass dies wirklich
so gewollt ist. Diese Fragen müssen zunächst einmal geklärt werden. Insofern kann dem Antrag schon aus diesem
Grund nicht zugestimmt werden.
Soweit die FDP erneut die gemeinsame Adoption
durch eingetragene Lebenspartnerschaften fordert, kann
ich hier für die Union ganz klar sagen: Dies lehnen wir
ab. Entscheidender Maßstab ist und bleibt für uns das
Kindeswohl. Wir stellen nicht in Abrede, dass sich homosexuelle Menschen genauso wie heterosexuelle Eltern
rührend um ihre eigenen, um adoptierte oder um die Kinder ihres Lebenspartners kümmern können und wollen.
Wir können jedoch nicht mit Sicherheit ausschließen,
dass eine Adoption durch gleichgeschlechtliche Partnerschaften - dies gilt sowohl für die Stiefkindadoption, aber
noch mehr für die gemeinsame Adoption - sich negativ
auf das Kindeswohl auswirkt. Diesbezüglich sind noch
keine fundierten Daten über die Auswirkungen auf die betroffenen Kinder vorhanden.
Jedes Kind braucht Mutter und Vater für eine gesunde
Entwicklung. Der Bezug zu beiden Geschlechtern ist dabei von zentraler Bedeutung. Die Union steht mit dieser
Einschätzung nicht allein. Ich möchte darauf hinweisen,
dass sich unter anderem auch die frühere Vizepräsidentin
des Deutschen Bundestages von Bündnis 90/ Die Grünen,
Antje Vollmer, in der Vergangenheit wiederholt gegen ein
Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Lebenspartner
ausgesprochen hat. Ich zitiere: „Kinder wollen einen Vater und eine Mutter.“ Es gibt berechtigte Zweifel, dass
eine gemeinsame Adoption durch gleichgeschlechtliche
Lebenspartnerschaften generell mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Solange aussagekräftige empirische Untersuchungen nicht vorliegen, sollte sich der Gesetzgeber in
dieser Frage unbedingt zurückhalten. Im Übrigen weise
ich darauf hin, dass derzeit noch ein Normenkontrollverfahren Bayerns zur Stiefkindadoption durch gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig ist. Eine Entscheidung wird für
dieses Jahr erwartet. Wir sollten zunächst die abschließende Klärung der damit verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht
abwarten. Bis dahin verbietet sich jede weitere Gesetzesänderung in diesem Bereich von selbst.
Zu den weiteren Vorschlägen der FDP ist Folgendes zu
sagen: Die summarische Prüfung der Anerkennungsfähigkeit unbegleiteter Adoptionen durch die deutschen
Auslandsvertretungen erscheint grundsätzlich sinnvoll.
Die Forderung, sich bei den Landesjugendämtern angesichts des geplanten Ausbaus der Kindertagesbetreuung für die Streichung jener Empfehlung einzusetzen, wonach die Erziehung des Kindes nicht überwiegend durch
außerhalb der Familie stehende Personen wahrgenommen werden soll, lehnen wir hingegen ab. Die persönliche Betreuung durch die Eltern entspricht generell - und
nur darum geht es bei den Empfehlungen - eher dem Kindeswohl als die Betreuung durch Fremde. Dies gilt erst
recht, wenn man berücksichtigt, dass Adoptivkinder vielfach ein schweres Schicksal haben und deshalb in der Regel eine besondere persönliche Erziehung und Fürsorge
durch die Eltern benötigen. Aber auch hier gilt: Die
Frage der Betreuungssituation ist lediglich indikatorischer Natur.
Zusammenfassend ist also festzuhalten: Für die Union
stand und steht das Kindeswohl stets an erster Stelle und
nicht die Interessen bzw. die Selbstverwirklichung der Eltern. Deshalb sind wir alle gehalten, mit diesem Thema
äußerst sensibel umzugehen. Die Adoption stellt für die
betroffenen Kinder immer einen sehr tiefen Einschnitt in
ihr Leben dar. Ihr Schutz muss daher absolute Priorität
haben.
Wir beraten heute in erster Lesung den von der Fraktion der FDP eingebrachten Antrag „Adoptionen von
minderjährigen Kindern fördern“. Der Antrag enthält
einige positive Anregungen, die vom Ansatz her überlegenswert sind. Für die Prüfung tiefgreifender Änderungen in sehr verschiedenartigen Bereichen und Problemkreisen brauchen wir jedoch noch Zeit. Es gibt viele
Zu Protokoll gegebene Reden
offene Fragen, bei denen vorrangig das Kindeswohl
- ganz im Sinne von Art. 21 c der UN-Kinderrechtskonvention - zu beachten ist. Dort heißt es unter c „Die Vertragsstaaten, die das System der Adoption anerkennen
oder zulassen, gewährleisten, dass dem Wohl des Kindes
bei der Adoption die höchste Bedeutung zugemessen
wird; die Vertragsstaaten stellen sicher, dass das Kind im
Fall einer internationalen Adoption in den Genuss der für
nationale Adoptionen geltenden Schutzvorschriften und
Normen kommt.“
Vor diesem Hintergrund, also dem der Wahrung des
Kindeswohls, sind noch viele Fragen zu klären. Daher
lehnen wir den Antrag der FDP insgesamt ab. So regt der
Antrag bezüglich Auslandsadoptionen an, bei unbegleiteten Adoptionen, das sind selbst organisierte Adoptionen,
schon vor der Einreise des Kindes nach Deutschland die
Anerkennungsfähigkeit der Auslandsadoption zu prüfen.
Das soll von den Auslandsvertretungen summarisch zu
prüfen sein.
Bei der Verhinderung von unbegleiteten Adoptionen
sehe auch ich Handlungsbedarf. Sie sind im Inland nicht
möglich, Jugendämter werden automatisch als Beratungs- und Begleitinstanz eingeschaltet. Das Haager
Adoptionsübereinkommen lässt unbegleitete Auslandsadoptionen für die Vertragsstaaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, nicht zu. Die Frage ist, wie seine
Regelungen, unter anderem das hier vorgesehene Adoptionsvermittlungsverfahren, in der Praxis durchzusetzen
sind. Im Ausland sind unbegleitete Adoptionen oftmals
möglich und werden häufig von Privatpersonen begleitet.
Unbegleitete Adoptionen können in Deutschland legal
anerkannt werden. Hier ergeben sich große Bedenken,
wie das Kindeswohl gewahrt werden kann, das den Leitgedanken in unserem Adoptionsrecht darstellt. Dabei
handelt es sich in dem FDP-Antrag um einen Vorschlag
zur Verwaltungspraxis, der derzeit schon beachtet wird.
Er reicht im Übrigen auch nicht aus, unbegleitete
Auslandsadoptionen zu verhindern. In visum- und passrechtlichen Fragen prüfen die deutschen Auslandsvertretungen schon jetzt im Vorfeld die Frage der Anerkennungsfähigkeit einer im Ausland erfolgten Adoption. Dies
geschieht unabhängig davon, ob die Auslandsadoption
unter Beteiligung einer deutschen Auslandsvermittlungsstelle erfolgt ist oder „unbegleitet“ vorgenommen worden ist. Die Erstreckung der Wirksamkeit einer ausländischen Adoption auf Deutschland ist Grundvoraussetzung
dafür, dass Kinder im Weg des Familiennachzuges nach
Deutschland einreisen dürfen. Maßgeblich für die Anerkennungsfähigkeit eines ausländischen Adoptionsdekrets
ist vor allem, dass eine dem deutschen Recht genügende
Kindeswohlprüfung vorgenommen worden ist. Fehlt es
nach summarischer Prüfung der Auslandsbehörden daran, kann die Einreise des Kindes schon jetzt untersagt
werden.
Unbegleitete Auslandsadoptionen sind außerdem
wirksamer dadurch zu verhindern, dass die Adoptionsbewerber frühzeitig dazu angehalten werden, deutsche Auslandsvermittlungsstellen in die Auslandsadoption einzubinden. Ihre Einschaltung ist für Adoptionen aus Staaten,
die wie Deutschland dem Haager Adoptionsübereinkommen von 1993 angehören, sowieso vorgeschrieben. Nur
durch eine frühzeitige Einbindung der Adoptionsvermittlungsstellen kann sichergestellt werden, dass das Kindeswohl gesichert ist, das den Leitgedanken unseres Adoptionsrechts bildet.
Bezüglich der Auslandsadoptionen regt der Entschließungsantrag außerdem an, durch ein Forschungsvorhaben zu ermitteln, ob begleitete Auslandsadoptionen dem
Kindeswohl zuträglicher sind als unbegleitete, dazu empfiehlt der Antrag eine Evaluierung der in den letzten Jahren geänderten adoptionsrechtlichen Vorschriften sowie
einen Bericht an den Deutschen Bundestag. Das
BMFSFJ plant, ein Forschungsvorhaben zum Adoptionsrecht durchzuführen, das auch die im Antrag einbezogenen Aspekte aufnimmt. Im Vorfeld hierzu wurde eine qualifizierte Literaturrecherche in Auftrag gegeben, die dem
Thema Adoption trotz Wissenszuwachs noch eine Vielzahl
von offenen Fragen zuweist. Eine interministerielle Arbeitsgruppe, unter anderem bestehend aus dem BMJ,
BMFSFJ und dem Auswärtigen Amt unter Beteiligung
der Auslandsvermittlungsstellen, hat die Arbeit aufgenommen und ist derzeit dabei, Lösungen zum Problemkreis der Auslandsadoptionen zu erarbeiten. Sie wird sich
an dem Forschungsvorhaben beteiligen.
Zudem regt der Antrag an, eine Empfehlung der Landesjugendämter aufzuheben, die besagt, dass Adoptivkinder nicht überwiegend von außerhalb der Familie stehenden Personen erzogen werden dürfen. Die Bundesebene
kann aber weder direkt noch indirekt Einfluss auf die
Landesjugendämter nehmen, da diese zur Landesverwaltung gehören.
Weitere Änderungen im familienrechtlichen Bereich
des Adoptionsrechts schlägt der Antrag dahin gehend vor,
dass bei der Bewertung des Altersunterschiedes zwischen
Adoptionsbewerbern und Adoptivkindern ein Altersunterschied von 40 Jahren im Einzelfall möglich ist. Auch
hier kann von der Bundesebene kein Einfluss auf die Landesjugendämter genommen werden. Im Übrigen prüfen
die Landesjugendämter schon jetzt das Alter der Adoptiveltern individuell. Die Empfehlungen zur Adoptionsvermittlung bestätigen dies. Auch kennt das Familienrecht
keinen Höchstaltersunterschied, den es zu ändern gäbe.
Die Vormundschaftsgerichte können auch bereits jetzt einen Altersunterschied von mehr als 40 Jahren im Einzelfall als rechtlich unbedenklich ansehen. Es gibt dort keinen Automatismus im Hinblick auf die Altersgrenzen, es
zählt nur die Gesamtbetrachtung, ob eine Adoption dem
Kindeswohl dient und zu erwarten ist, dass zwischen dem
Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis
entsteht.
Ein weiterer Vorschlag der FDP im Familienrecht bezieht sich darauf, bei Stiefkindadoptionen wie bei Erwachsenen-Adoptionen die Verwandtschaft zu den leiblichen Eltern bei Einverständnis aller beizubehalten. Dies
bedeutet einen Bruch zum geltenden Familienrecht, denn
hier gilt, dass die Adoption mit allen Konsequenzen endgültig ist. Auch lässt das Europäische Adoptionsübereinkommen von 1967, 2008 gerade revidiert und derzeit zur
Ratifizierung im BMJ, eine solche Änderung nicht zu.
Verwandtschaftsbeziehungen zum leiblichen Elternteil,
auch die unterhaltsrechtlichen und erbrechtlichen AnZu Protokoll gegebene Reden
sprüche an die leiblichen Verwandten des Kindes sind mit
der Annahme vollständig aufgehoben. Enge Ausnahmen
bestehen nur bei der Annahme von Minderjährigen durch
nahe Verwandte und bei einem verwitweten Elternteil. Ob
für weitere Ausnahmen ein Bedürfnis besteht, ist fraglich.
Mit der Stiefkindadoption erhält das Kind eine vollständige Familie, in der es sich entwickeln und entfalten kann.
Der tatsächliche Kontakt zu dem leiblichen Elternteil
muss nicht zwangsläufig durch die Adoption abbrechen.
Dazu schlägt die FDP vor, gleichgeschlechtlichen
Paaren, die in einer Lebensgemeinschaft zusammenleben, die gemeinsame Adoption zu ermöglichen. Zur Angleichung der Lebenspartnerschaft an die Ehe im Adoptionsrecht und zur Ermöglichung einer gemeinsamen
Adoption für eingetragene Lebenspartnerschaften habe
ich bereits Stellung genommen. Ein erster Schritt in diese
Richtung war die Stiefkindadoption, die seit Beginn 2005
möglich ist. Das von der rot-grünen Koalition 2004 verabschiedete Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts glich nach der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes von 2001 weiterhin die Rechte
und Pflichten in der Lebenspartnerschaft denen in der
Ehe so weit wie möglich an. Es wurde im Zuge dessen
auch ein kleines Adoptionsrecht, die Stiefkindadoption
leiblicher Kinder der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners eröffnet. So ist es durch die Stiefkindadoption
seit Beginn 2005 erstmals möglich in Deutschland, dass
zwei Mütter oder zwei Väter rechtlich als Elternpaar anerkannt werden. Die gemeinschaftliche Annahme bleibt
aber Ehepaaren vorbehalten. Aufgrund des Verbotes von
Kettenadoptionen kann ein adoptiertes Kind auch nicht
durch weitere Personen adoptiert werden. In Deutschland leben mindestens 13 000 Kinder bei homosexuellen
Paaren. Oft stammen diese Kinder aus vorangegangenen
Beziehungen, immer öfters werden Kinder aber auch via
Samenspende hineingeboren.
Das Recht eingetragener Lebenspartner, gemeinschaftlich ein Kind anzunehmen, bedeutet nach der Stiefkindadoption einen neuen Schritt. Allerdings behält auch
das Europäische Adoptionsübereinkommen von 1967 die
gemeinsame Adoption Ehegatten vor. Über die Aufhebung des Verbots wird diskutiert. Selbstverständlich haben wir uns wie immer an den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen zu orientieren. Für die Änderungen des
Adoptionsrechts müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Sicherlich kann sich gerade im
Fall von Pflege- und Adoptivkindern ein gesellschaftliches Bedürfnis für eine gemeinschaftliche Adoption dieser Kinder durch gleichgeschlechtliche Paare durchsetzen. Dass die Paare selbstbewusst zu ihrer Lebensweise
stehen, wurde von den Adoptionsvermittlungsstellen, die
Erfahrungen mit homosexuellen Paaren hatten, als positiv für die Entwicklung der Kinder beurteilt. Es bleibt
aber noch abzuwarten, wie sich die gesellschaftliche
Akzeptanz nach der Einführung der Stiefkindadoption
weiterentwickelt. Das BMJ hat dazu eine Rechtstatsachenforschung zur Situation von Kindern in Lebenspartnerschaften in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse eine
solide Tatsachengrundlage für eine Diskussion über die
Zulassung der gemeinsamen Adoption liefern soll.
Wie zu erkennen ist, handelt es sich bei der Adoption
um ein sehr komplexes Thema, und sicherlich bedarf die
Aufarbeitung vor allem im Sinne des Kindeswohls einer
gründlichen Vorbereitung und nimmt noch Zeit in Anspruch.
Im Jahr 2007 wurden 4 509 Kinder und Jugendliche
adoptiert. Etwa 55 Prozent der adoptierten Minderjährigen wurden von einem Stiefelternteil oder von Verwandten als Kind angenommen. Das ist positiv zu bewerten.
32 Prozent der adoptierten Kinder besaßen nicht die
deutsche Staatsangehörigkeit. In der Antwort des Staatssekretärs aus dem Familienministerium auf die Frage
nach unbegleiteten Adoptionen wird der Anteil auf
50 Prozent geschätzt.
Die Zahl der zur Adoption vorgemerkten Kinder blieb
mit 886 gegenüber 2006 unverändert. Demgegenüber haben 8 914 Adoptionswünsche vorgelegen, also ein Kind
auf 10 mögliche Adoptiveltern.
Bei eingetragenen Lebenspartnerschaften besteht bisher in Deutschland nur die Möglichkeit der Stiefkindadoption. Das heißt, dass ein Elternteil der leibliche Vater oder die leibliche Mutter ist. Ansonsten können nur
Einzelpersonen adoptieren.
Eine gesetzliche Altersbeschränkung bei Adoptionen
nach oben gibt es in Deutschland zwar nicht, aber die Arbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat sozusagen festgelegt, dass der Altersunterschied zwischen dem
adoptieren Kind und den Adoptiveltern nicht größer als
40 Jahre sein soll. Diese Regelung sollte überdacht werden, da es nicht nur Einzelfälle sind, wenn Mütter selbst
heutzutage auch einige Jahre über das 40. Lebensjahr hinaus ein Kind gebären.
Wenn uns auch sehr nah ist, dass Eltern ein Kind zu
adoptieren wünschen, so steht doch an erster Stelle das
Wohl des Kindes. Darüber besteht sicher hier im Hause
Einvernehmen. Eine Adoption in ein anderes Land sollte
grundsätzlich nur dann erfolgen, wenn die Adoptions-Bedürftigkeit des Kindes gegeben ist, das heißt in der Herkunftsfamilie eine Verbleib nicht möglich ist und sich im
Heimatstaat des Kindes keine geeigneten Bewerber und
Bewerberinnen finden. Adoptionen aus Nichtvertragsstaaten des Haager Übereinkommens über den Schutz
von Kindern ({0}) sind nach der Rechtslage möglich.
Jedoch wird die Anerkennung bei 4 Prozent der Adoptionen in Deutschland versagt. Wenn man auch noch weitere
Verfahren mit in die Berechnung einbezieht, dann werden
circa 10 Prozent der gerichtlichen Anerkennungsverfahren abgelehnt. Das ist für Kinder, die bereits in Deutschland sind, eine schwere und schwierige Sache.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, das Adoptionsrecht einer Prüfung zu unterziehen und erstens bei unbegleiteten Adoptionen vor Einreise der Kinder nach Deutschland eine Prüfung der
Anerkennungsfähigkeit der Adoption bei den deutschen
Auslandsvertretungen durchführen zu lassen; zweitens
nicht mehr als Voraussetzung für eine Adoption zum
Beispiel die Nichterwerbstätigkeit eines Elternteils zur
Zu Protokoll gegebene Reden
Auflage zu machen, das heißt die Streichung von Ziffer 6.4.2.12 der Empfehlungen zu Adoptionsvermittlung
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter,
drittens auch eingetragenen Lebenspartnerschaften die
gemeinsame Adoption zu ermöglichen, viertens das die
Prüfung des Alters der Adoptivmutter oder des Adoptivvaters nicht nach einer starren Altersgrenze, sondern individuell beurteilt werden soll, fünftens den Paragrafen
des BGB so zu ändern, das der Altersunterschied zum
Kind von 40 Jahren im Einzelfall nicht maßgeblich ist,
sechstens dass bei Einvernehmen von Mutter, Vater und
adoptionswilligem Stiefelternteil bei notarieller Beurkundung das Verwandtschaftsverhältnis zu beiden leiblichen
Elternteilen beibehalten werden kann, siebtens Forschungsvorhaben in die Wege zu leiten, welche Faktoren
zum Gelingen von Adoptionen beitragen, achtens Erfahrungen mit den geänderten adoptionsrechtlichen Vorschriften zu evaluieren und den Deutschen Bundestag
über die Ergebnisse der ressortübergreifenden BundLänder-Gruppe zu informieren.
Ich freue mich auf konstruktive Diskussionen im Ausschuss.
Mit dem vorliegenden Antrag werden die gegenwärtigen Zustände im Zusammenhang mit Adoptionen Minderjähriger zutreffend dargestellt. Die Bundesregierung
wird unter anderem aufgefordert, „bei unbegleiteten
Adoptionen von Kindern vor Einreise der Kinder in die
Bundesrepublik Deutschland bzw. bei Visumserteilung
eine summarische Prüfung der Anerkennungsfähigkeit
der Adoption bei den deutschen Auslandsvertretungen
durchführen zu lassen.“ Die Regierung soll sich bei den
Landesjugendämtern angesichts des geplanten Ausbaus
der Kindertagesbetreuung für eine Streichung von Ziffer 6.4.2.12 der Empfehlungen zur Adoptionsvermittlung
der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter
einsetzen, wonach die Erziehung des Kindes nicht überwiegend durch außerhalb der Familie stehende Personen
wahrgenommen werden soll.
Gleichgeschlechtlichen Paaren, welche in einer Lebenspartnerschaft zusammenleben, soll die gemeinsame
Adoption ermöglicht werden. Bei den Landesjugendämtern soll die Bundesregierung darauf hinweisen, dass es
sich bei der Prüfung des Alters des Adoptionsbewerbers
um ein Merkmal handelt, dessen Bedeutung für die Adoption in jedem Fall individuell zu beurteilen ist. Der § 1743
BGB ist dahingehend zu ändern, dass gesetzlich festgehalten wird, dass ein Altersunterschied zwischen dem zu
adoptierenden Kind und den Adoptionsbewerbern von
mehr als 40 Jahren im Einzelfall als unschädlich angesehen werden kann. Gesetzliche Änderungen sind dahin
gehend vorzulegen, dass bei Stiefkindadoptionen wie bei
Erwachsenenadoptionen ermöglicht wird, das Verwandtschaftsverhältnis zu beiden leiblichen Elternteilen
bei einvernehmlichem Wunsch von Mutter, Vater und
adoptionswilligem Stiefelternteil bei notarieller Beurkundung beizubehalten. Die Erfahrungen der letzten Jahre
mit den geänderten adoptionsrechtlichen Vorschriften
sind zu evaluieren und der Deutsche Bundestag über die
Ergebnisse der ressortübergreifenden Bund-LänderGruppe zu informieren.
Die Linke unterstützt die Forderung, auch gleichgeschlechtlichen Paaren eine gemeinsame Adoption zu ermöglichen. Auch eine grundsätzliche Erforschung zum
Gelingen von Adoptionen sowie eine adoptionsrechtliche
Evaluation sind zu befürworten. Zudem ist die beabsichtigte Beibehaltung des Verwandtschaftsverhältnisses bei
Stiefkindern richtig, um adoptierten Kindern ein Recht
auf Herkunft zu gewähren. Verständlich ist aus Sicht der
FDP auch die geforderte Streichung von Ziffer 6.4.2.12
der Empfehlungen zur Adoptionsvermittlung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Angesichts
des Kita-Ausbaus könnte die Forderung, wonach die Erziehung des Kindes nicht überwiegend durch außerhalb
der Familie stehende Personen wahrgenommen werden
soll, möglicherweise anachronistisch sein. Dabei müsste
man sich allerdings auch über den Begriff des „überwiegenden“ Aufenthalts unterhalten, der durch Ganztagskitas nach Ansicht der Linken noch nicht erfüllt wäre. Mit
einer Streichung der Vorschrift begibt man sich allerdings
in die Gefahr, dass die Erziehung des Kindes durch die
Adotpiveltern nicht mehr Voraussetzung für eine Adoption ist.
Die Einzelfallprüfungen - auch bezogen auf die 40-Jahres-Differenz - dürften sinnvoll sein. Nicht in jedem Fall
sollte dieser Altersunterschied entscheidend sein. Eine
summarische Prüfung der Anerkennungsfähigkeit der
Adoption durch die deutschen Auslandsvertretungen sehen wir aufgrund vieler negativer Erfahrungen beim Familiennachzug hingegen kritisch: Die Auslandsvertretungen sind ohnehin überlastet und die Qualität einer
solchen Vorprüfung wäre möglicherweise unzureichend.
Die sich hieraus ergebenden zeitlichen Verzögerungen
würden zudem alle Einreisen adoptierter Kinder aus dem
Ausland treffen. Angesichts der schon jetzt langen Verfahrensdauer wäre eine Verlängerung unzumutbar. Dies wird
in den Ausschussberatungen noch zu thematisieren sein,
um letztlich einen Antrag zu formulieren, welcher der zu
erhoffenden Intention des vorliegenden Antrags - dem
Kindeswohl - entspricht und der von allen Fraktionen getragen werden kann.
In der UN-Kinderrechtskonvention, die die Bundes-
republik Deutschland 1992 ratifiziert hat, findet sich ein
Artikel, von dem ich finde, er sollte zum Leitsatz der Kin-
derpolitik werden. Hier steht unter Drittens: „Bei allen
Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von
öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen
Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetz-
gebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kin-
des ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen
ist.“ Ich betone „vorrangig“. Da dies für alle Kinder
gleich welcher Herkunft gilt, ist damit aus meiner Sicht
auch schon das Wesentlichste zum Antrag der FDP gesagt.
Es kommt aus der Perspektive der Kinder immer auf den
Einzelfall an.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, auch
wenn ich Ihnen in einigen Punkten Ihres Antrages zu-
Zu Protokoll gegebene Reden
stimme, so teile ich nicht Ihre Motivation, die dahinter-
steckt. Sie argumentieren mit Ihrem Hinweis auf die rück-
läufigen Adoptionszahlen bevölkerungspolitisch. Als
Familienpolitiker sollten wir uns allerdings ausschließlich
auf die familiären Rahmenbedingungen und damit vorran-
gig auf das Kindeswohl konzentrieren. In Ihrem Antrag
vermisse ich die Erklärungen für die rückläufigen Zahlen
der Adoptionen. Sie verweisen nicht auf Probleme, die es
mit dem Adoptionsverfahren gibt, geschweige denn, dass
Ihre Forderungen entsprechende Lösungen und Antworten
sind.
Ich stimme Ihnen zu, dass sich unsere Gesellschaft ver-
ändert und auch das Adoptionsrecht kontinuierlich auf
den Prüfstand gestellt werden muss, damit es den gegen-
wärtigen und zukünftigen Gegebenheiten auch gerecht
wird. Lassen sie mich vor diesem Hintergrund noch zu eini-
gen Forderungen aus Ihrem Antrag etwas sagen.
Die Tatsache allein, dass die Menschen immer älter
werden, begründet für mich nicht, dass damit auch die
Empfehlungen der BAG-Landesjugendämter zum Alters-
unterschied zwischen Adoptivkind und seinen Adoptions-
eltern aufgeweicht werden sollten. Es handelt sich, wie
Sie selber schreiben, um Empfehlungen, die im Einzelfall
und vor allem orientiert am Kindeswohl geprüft werden.
Verraten Sie mir bitte, warum es hier einer gesetzlichen
Klarstellung bedarf?
Wie Sie wissen, haben wir Grüne uns immer für den
Ausbau der Kindertagesbetreuung stark gemacht. Ich bin
der Auffassung, dass es für die Mehrheit der Kinder ein
Gewinn ist, Angebote der frühkindlichen Bildung in
Anspruch zu nehmen. Bei jüngst adoptierten Kindern ist
es meiner Meinung nach sehr stark vom Einzelfall abhän-
gig, ob diese Kinder besser ausschließlich von ihren
Eltern betreut werden sollten oder ein Angebot der
frühkindlichen Bildung ergänzend förderlich sein kann.
Die Landesjugendämter sollen Ihre Empfehlung bei der
nächsten Überarbeitung des Papiers überdenken. Es liegt
mir aber nicht, die Bundesregierung aufzufordern, sich
pauschal gegen eine Empfehlung der BAG auszusprechen.
Die Lebensformen der Menschen sind in den letzten
Jahrzehnten immer vielfältiger geworden. Neben der
klassischen Familie mit zwei verheirateten leiblichen Eltern
haben vielfältige weitere Formen des Zusammenhalts und
Miteinanderlebens an Bedeutung gewonnen. Diese reichen
von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Ein-Eltern-
oder Patchwork-Familien, gleichgeschlechtlichen Partner-
schaften bis hin zu familiären Netzwerken, die auch Men-
schen ohne verwandtschaftliche Bindung einschließen.
Für uns Grüne ist Familie da, wo Kinder sind. Wir for-
dern schon lange die Anerkennung der Vielfalt familiärer
Lebensformen. Anders als Eheleuten ist eingetragenen
Lebenspartnerinnen oder Lebenspartnern eine gemein-
same Adoption gegenwärtig nicht möglich. Mit dem Gesetz
zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und an-
derer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts hat meine
Fraktion bereits gefordert, bestehende Benachteiligungen
endlich zu korrigieren. Ein genereller Ausschluss vom
gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit von
Lesben und Schwulen zur Kindererziehung aus ideologi-
schen Gründen pauschal infrage. Diese willkürliche Dis-
kriminierung ist nicht gerechtfertigt. Sie schadet auch
immer dort dem Kindeswohl, wo sie die Stigmatisierung
bereits bestehender Familien mit gleichgeschlechtlichen
Eltern fördert.
Sie wissen, an diesem Punkt sind wir Grüne uns aus-
nahmsweise mal mit der FDP einig. Was die anderen
Punkte anbelangt; werden wir uns mit diesen im weiteren
Verfahren noch kritisch beschäftigen müssen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12293 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend beim Rechtsausschuss beraten werden soll.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 21 a
und b:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung der zivilrechtlichen
Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föderalismusreform
- Drucksache 16/12409 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Britta Haßelmann,
Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Betreutes Wohnen für ältere Menschen - Qualitätskriterium Nutzerorientierung
- Drucksache 16/12309 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Grübel, Graf ({2}), Laurischk, Seifert, Scharfenberg und des Parlamentarischen Staatssekretärs Kues.
Durch die am 1. September 2006 in Kraft getretene Föderalismusreform sind die Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern neu aufgeteilt worden.
Die Gesetzgebungskompetenz für das Heimrecht ist im
Bereich der öffentlichen Fürsorge auf die Länder übertragen worden. Das heißt, für die ordnungsrechtlichen
Vorschriften auf dem Gebiet des Heimrechts sind allein
die Länder zuständig. Viele Bundesländer haben mittlerMarkus Grübel
weile eigene Heimgesetze erlassen. So hat unter anderem
Baden-Württemberg seit dem 1. Juli 2008 ein eigenes
Landesheimgesetz. Andere Bundesländer wie NordrheinWestfalen und Bayern haben auch eigene Landesheimgesetze erlassen.
Der Bund bleibt aber weiterhin für die zivilrechtlichen
Regelungen zuständig. Demnach stehen die in den §§ 5
bis 9 und 14 des Heimgesetzes enthaltenen Regelungen
weiterhin der Gestaltung durch den Bundesgesetzgeber
offen. Da nun die ordnungsrechtlichen und zivilrechtlichen Vorschriften nicht mehr in einem Bundesgesetz geregelt werden können, ist es notwendig, die zivilrechtlichen Vorschriften in einem gesonderten Gesetz zu regeln
und diese darüber hinaus auch weiterzuentwickeln.
Gab es anfänglich noch Meinungsverschiedenheiten
mit den Ländern bezüglich der Zuständigkeit, so ist diese
jetzt geklärt: Der Bund, federführend das zuständige
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, hat daher einen Gesetzentwurf zur Neuregelung
der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach
der Föderalismusreform erarbeitet, dessen Kernbestandteil Art. 1, nämlich der Gesetzentwurf zur Regelung von
Verbraucherverträgen über Wohnraum mit Pflege- oder
anderen Betreuungsleistungen ({0}) ist.
Diesen Gesetzentwurf stellen wir heute in erster Lesung im Plenum vor. Ich denke, dies ist ein parteipolitisch
unstreitiges Gesetz, welches wir sachorientiert im Ausschuss und im Plenum debattieren können. Ich sehe hier
keine ideologischen Aufhänger, die dazu führen könnten,
dass wir hier in parteipolitisches Gezänk verfallen.
Mit dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz
({1}) wollen wir den Schutz älterer, pflegebedürftiger
und behinderter Menschen stärken. Das nun vorgelegte
Gesetz soll vor Benachteiligung bei Verträgen, die für die
Überlassung von Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen geschlossen werden, schützen. Gerade im
Alter, bei Pflegebedürftigkeit oder bei Behinderung
möchten die Menschen so selbstbestimmt und selbstständig wie möglich leben. Zudem haben sich die starren
Grenzen zwischen ambulant betreuten und stationären
Wohnformen aufgelöst. Die Angebotsvielfalt wurde durch
die neuen Wohn- und Betreuungsformen viel größer.
Gleichzeitig sind die Inhalte der Angebote, wie zum Beispiel beim „Betreuten Wohnen“, häufig unklar. Im Koalitionsvertrag haben wir uns dafür ausgesprochen, neue
Wohn- und Betreuungskonzepte zu unterstützen und die
Widersprüche zwischen Heimrecht und den Vorschriften
des SGB XI zu beseitigen. Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf greift diese Forderungen auf.
Älteren Menschen, und nur diese leben in der Regel in
Heimen bzw. in Pflegeeinrichtungen, fehlt oft das Wissen
und die Erfahrung, um als gleichberechtigte Verhandlungs- und Vertragspartner aufzutreten. Das WBVG sichert den Verbraucherschutz für die Bewohnerinnen und
Bewohner von Pflegeeinrichtungen, es stärkt aber auch
den Schutz für diejenigen, die sich für eine neue Wohnund Betreuungsform entscheiden.
Zu den wichtigsten Vorschriften des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes gehören:
Erstens. Die Verbraucher haben einen Anspruch auf
Informationen vor dem Vertragsschluss. Die Unternehmen müssen schriftlich und leicht verständlich Auskunft
über Leistungen, Entgelte und das Ergebnis von Qualitätsprüfungen geben.
Zweitens. Die Verträge werden grundsätzlich auf unbestimmte Zeit und schriftlich abgeschlossen. Für die
Kurzzeitpflege kann eine Befristung vereinbart werden.
Drittens. Das vereinbarte Entgelt muss angemessen
sein. Erbringt das Unternehmen vertraglich festgelegte
Leistungen nicht oder nicht wie vereinbart, kann die Verbraucherin oder der Verbraucher das Entgelt entsprechend kürzen.
Viertens. Bei Änderung des Pflege- oder Betreuungsbedarfs haben die Verbraucher Anspruch auf eine entsprechende Anpassung des Vertrags. In besonderen Fällen können die Vertragsparteien vereinbaren, dass das
Unternehmen von der Anpassungspflicht befreit ist.
Fünftens. Eine Kündigung des Vertrags ist für die Unternehmen nur aus wichtigen Gründen möglich. Die Verbraucher können dagegen den Vertrag jederzeit kurzfristig kündigen.
Mit dem WBVG werden die vertragsrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes abgelöst und weiter entwickelt. Für die Anwendbarkeit des Gesetzes kommt es nicht
mehr auf die Einrichtungsform an, maßgeblich sind ausschließlich die vertraglichen Vereinbarungen. Das Gesetz gilt für Verträge, die die Überlassung von Wohnraum
mit Pflege- oder Betreuungsleistungen verbinden. Der
Anwendungsbereich des Gesetzes ist daher nicht auf
Heime beschränkt, ebenso werden auch neue Wohn- und
Betreuungsformen erfasst.
Ausgenommen sind Verträge, bei denen neben dem
Wohnraum allgemeine Betreuungsleistungen wie die Vermittlung von Pflegeleistungen, Notruf- oder hauswirtschaftliche Versorgungsdienste angeboten werden.
Im ursprünglichen Referentenentwurf, der auf einige
Kritik gestoßen war, fiel das klassische betreute Wohnen
bzw. das Wohnen mit Service in den Anwendungsbereich
des Gesetzes. Dies hätte dazu geführt, dass Wohnungsunternehmen zu Heimbetreibern geworden wären, mit der
Folge, dass dies praktisch das Aus für Seniorenwohnanlagen bedeutet hätte, die bisher nicht vom Heimgesetz
erfasst wurden. Die Präzisierung des Anwendungsbereichs wird die in Deutschland dringend notwendigen Investitionen in den Neu- und Umbau von seniorengerechten Wohnungen weiter zunehmen lassen. Bis 2020 werden
zusätzlich noch 800 000 altengerechte Wohnungen benötigt.
Ich selbst habe zum Referentenentwurf eine Veranstaltung in meinem Wahlkreis Esslingen durchgeführt und
Heimbetreiber, Heimaufsicht und Heimbeiräte eingeladen. Neben dem Anwendungsbereich wurden auch noch
einige andere Punkte kritisiert, die mittlerweile im Gesetzentwurf nachgebessert wurden. So wurden die vorvertraglichen Informationspflichten so gefasst, dass den
Leistungskomplexen nach dem SGB XI und den Rahmenbedingungen bei Anspruch auf Sozialhilfe stärker RechZu Protokoll gegebene Reden
nung getragen wird. Die Beschränkung der Nachholung
des schriftlichen Vertragsabschlusses auf zwei Wochen
wurde aufgehoben. Eine Harmonisierung mit den Vorschriften des SGB XI und SGB XII erfolgt hinsichtlich
vertraglicher Vereinbarungen über die Generalklausel
des § 15 WBVG. Das zeigt, es sind bereits Verbesserungen
gegenüber dem Referentenentwurf erreicht worden. Es
liegt jetzt an uns Fachpolitikern, im Ausschuss und aus
den Ergebnissen der Anhörung das Beste zu machen und
das Gesetz in Detailfragen noch nachzujustieren.
Wir haben es hier jedoch mit einer sehr trockenen und
zum Teil hoch komplexen Materie des Zivilrechts zu tun,
bei der sich in Detailfragen manchmal nur noch spezialisierte Rechtsanwälte auskennen. Dabei dürfen wir das
zentrale Ziel nicht aus dem Auge verlieren: mehr Verbraucherschutz für die Seniorinnen und Senioren, aber
nicht zulasten der Anbieter und vor allem nicht mehr
Bürokratie. Es darf keinen „Überschutz“ geben. Die
Heimverträge müssen verständlich und möglichst auch
nicht zu lang gefasst sein. Ich weiß, wovon ich spreche,
als Notar habe ich oft genug diese Erfahrung gemacht.
Heimverträge mit 20 oder 30 Seiten sollten tunlichst vermieden werden und nicht eine Folge des Gesetzes sein.
Das Gesetz soll zum 1. September 2009 in Kraft treten.
Eine Übergangsvorschrift stellt sicher, dass die Neuregelung erst sechs Monate nach ihrem Inkrafttreten Anwendung auf Verträge findet, die nach dem bisherigen Heimrecht abgeschlossen wurden. Für andere Altverträge wie
zum Beispiel Miet- und Dienstverträge im Bereich des betreuten Wohnens gilt das Gesetz auch zukünftig nicht. Betroffen sind circa 680 000 ältere Menschen, die in rund
10 500 Pflegeheimen leben. Daneben gelten die Regeln
auch für Menschen in ambulanten Betreuungsformen.
Insgesamt ist mit jährlich circa 300 000 Vertragsabschlüssen zu rechnen.
Die Föderalismusreform vor fast zwei Jahren hat
Nachwirkungen für den Ausschuss Familie, Senioren,
Frauen und Jugend: Die Koalitionsfraktionen bringen
heute in erster Lesung als Paralleleinbringung einen Gesetzentwurf zu Regelung von Verträgen über Wohnraum
mit Pflege- oder Betreuungsleistungen, das sogenannte
WBVG-E, in den Deutschen Bundestag ein.
Wie einige von Ihnen wissen, war ich eine entschiedene Gegnerin der Verlagerung des Heimrechts auf die
Länder. Wie ist der derzeitige Sachstand? Zwar hält sich
die Mehrheit der Bundesländer noch mit einer Entwicklung eines eigenen Heimgesetzes zurück. Das alte Heimgesetz behält dadurch in diesen Bundesländern seine
Gültigkeit, wobei wir zugeben müssen, dass es mit seiner
Beschränkung auf das Heim künftig den modernen Wohnformen zum Beispiel von pflegebedürftigen Senioren
nicht mehr wirklich gerecht wird. Zur Kenntnis nehmen
müssen wir auch, dass mittlerweile drei unionsgeführte
Bundesländer - Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen - ein eigenes Heimrecht beschlossen
haben. In diesem wurde durch eigene entsprechende Regelungen das Recht des Bundes, die zivilrechtlichen Regelungen des Heimrechts weiterhin zu gestalten, angezweifelt. Wenn wir nicht aufpassen und der Bund nicht
handelt, gibt es in Zukunft nicht nur einen Flickenteppich
bei den ordnungsrechtlichen Regelungen des Heimrechts,
sondern auch ein undurchschaubares Gestrüpp von vertragsrechtlichen Regelungen für die pflegebedürftigen
Verbraucher bzw. ihre Angehörigen.
Die Große Koalition versucht nun, das Beste aus dieser Situation zu machen. Wir sind der Auffassung, dass
die verbraucherschutzrechtlichen Regelungen im Heimrecht keine Ländersache sind und nach der Rechtssystematik allein dem Bund die Gesetzgebungskompetenz
zusteht. Wir haben jetzt mit dem WBVG einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sich sehen lassen kann.
Das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz ist ein Verbraucherschutzgesetz, das älteren Menschen und pflegeoder betreuungsbedürftigen Personen sowie behinderten
Volljährigen einen besonderen Verbraucherschutz einräumt. Durch passgenaue zivilrechtliche Regelungen erhalten diese Personengruppe - die einen besonderen
Schutzbedarf hat, weil sie besonders vulnerabel ist - und
die jeweiligen Anbieter vergleichbar einem Mietvertrag
eine deutschlandweit einheitliche vertragliche Grundlage für die Überlassung von Wohnraum und die gleichzeitige Erbringung von Pflege- oder Betreuungsleistungen.
Das Ziel unseres Gesetzes ist, die Selbstständigkeit
und die Selbstbestimmung auch bei besonderem Hilfebedarf zu sichern, den pflege- oder betreuungsbedürftigen
Menschen Wahlfreiheit bezüglich ihrer Versorgung zu
gewährleisten und so dazu beizutragen, dass diese Personengruppe selbstständig den Alltag meistern und selbstbestimmt Entscheidungen bezüglich ihrer Unterbringung
und der benötigten Leistungen treffen kann. Das wird
nicht in wirklich allen Fällen möglich sein, aber der Gesetzentwurf ist zumindest ein Beitrag zu mehr selbstständiger Teilhabe einer Personengruppe, die bei rechtlich
komplexen Entscheidungen häufig überfordert ist. Denn
diese Verträge müssen häufig in schwierigen Lebensphasen und akuter Bedarfslage unter großem Zeitdruck abgeschlossen werden. Die Verträge müssen diese Gruppe
so weit wie möglich vor Übervorteilung schützen.
Zum Aufbau des komplizierten Gesetzeswerkes: Das
Gesetz ist ein sogenanntes Artikelgesetz und enthält vor
allem natürlich das neue Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz, das die früheren zivilrechtlichen Regelungen des
Heimgesetzes, also des Heimvertragsrechtes ablöst. Darüber hinaus enthält es Folgeänderungen für die Pflegeversicherung und die Sozialhilfe sowie das Inkrafttreten
des Gesetzes zum 1. September 2009.
Bewährte zivilrechtliche Regelungen des bisherigen
Heimgesetzes werden in dem neuen Gesetz übernommen.
Neu geregelt bzw. ergänzt werden Vorschriften über vorvertragliche Informationspflichten, die wichtige Verbraucherschutzregelungen enthalten, zudem gibt es Verbesserungen beim Vertragsinhalt, der Vertragsanpassung, der
Entgelterhöhung und bei der Kündigung eines entsprechenden Vertrages. In den §§ 3 und 6 des WBVG werden
Informationspflichten vor Vertragsschluss und verbesserte Regelungen zur Vertragstransparenz aufgenomZu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
men; auch werden Regelungen zum Schutz vor benachteiligenden Vertragsklauseln getroffen.
Bereits bei der Diskussion um die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz an die Länder war uns klar, dass
ein novelliertes Heimgesetz oder ein Heimvertragsgesetz,
wie es uns jetzt vorliegt, mit dem SGB XI, also der Pflegeversicherung, harmonisiert werden muss. Und wir haben uns das nicht leicht gemacht. Besonders bezüglich
der Regelungen für den bedauerlichen Fall des Todes eines Heimbewohners gab es bei unseren internen Diskussionen noch einigen Klärungsbedarf. § 15 WBVG und
weitere Einzelregelungen zielen nun auf diese Harmonisierung mit den sozialrechtlichen Vorschriften, worüber
ich sehr froh bin. Und auch Regelungen zur Berücksichtigung ersparter Aufwendungen für Zeiten der Abwesenheit des Verbrauchers und zur Fortgeltung des Vertrags
bei Tod des Verbrauchers dienen der Harmonisierung mit
Vorschriften der Sozialen Pflegeversicherung. Und wir
wollen nicht, dass die vielen neuen Wohnformen von
Senioren, die seit einigen Jahren so vielfältig entstehen
und sich etablieren, durch die neuen Regelungen und
neue bürokratische Hürden gefährdet sind.
Daher wird die SPD bei den weiteren Beratungen
- zum Beispiel der gestern beschlossen Anhörung - darauf achten, dass diese Maßgaben bei dem neuen Wohnund Betreuungsvertragsgesetz auch gezielt berücksichtigt werden.
Das Heimrecht befindet sich in einem Umbruch. Mit
Inkrafttreten der Föderalismusreform 2006 wurde die
Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes im Heimrecht
trotz heftiger Kritik von vielen Fachleuten und Verbänden
auf die Bundesländer übertragen.
Das im Jahre 1974 in Kraft getretene Heimgesetz
wurde zum damaligen Zeitpunkt auf Anregung der Bundesländer geschaffen und als entscheidender Schritt begrüßt, die weithin zersplitterten landesrechtlichen
Zuständigkeiten für Heime grundsätzlich und bundeseinheitlich zum Schutz der Bewohner zu sichern und mit
der Heimmindestbauverordnung einen Standard für die
baulichen Voraussetzungen zu schaffen. Noch immer ist
das Heimgesetz ein Schutzgesetz. Darüber hinaus sind in
das Heimrecht auch Qualitätselemente integriert - Heimmindestbauverordnung, Heimpersonalverordnung -, die
weit über eine Gefahrenabwehr hinausgehen. Das Heimrecht hat eine besonders starke Verzahnung mit anderen
Regelungen in anderen Rechtsbereichen, unter anderem
dem SGB XI. Es hat also als Bundesgesetz ganz wesentlich dazu beigetragen, die Rahmenbedingungen für Menschen mit Hilfe-, Pflege- und Betreuungsbedarf grundsätzlich zu verbessern. Es hat im Zeitraum seines
Bestehens zahlreiche Nachbesserungen erfahren, eine
Entwicklung, die den zu schaffenden Ländergesetzen erst
noch bevorsteht. Meines Erachtens ist das eine eher ungünstige Entwicklung für die Betroffenen und wohl auch
ein Grund, warum erst wenige Bundesländer, wie zum
Beispiel Baden-Württemberg, ein eigenes Landesheimgesetz geschaffen haben.
Man kann die Rückübertragung des Heimrechts auf
die Länder als Arbeitsbeschaffungsprogramm für Juristen bezeichnen, da viele juristische Unklarheiten bleiben.
Die FDP hat 2006 bei der Grundgesetzänderung einen
Änderungsantrag - Drucksache 16/813 - in den Bundestag eingebracht, um dies noch zu verhindern. Wir und andere Fraktionen dieses Hauses haben diese Entwicklung
von Anfang an abgelehnt. Wie weitreichend die Folgen
sein werden, ist immer noch nicht absehbar. Besonders
Befürchtungen wegen der drohenden Absenkung der
Fachkraftquote, noch 50 Prozent, scheinen berechtigt, da
einzelne Bundesländer dies bereits thematisiert haben.
Solange im jeweiligen Bundesland noch kein neues Länderheimrecht verabschiedet wurde, gilt weiterhin das
Bundesheimrecht.
Das Heimrecht kann in seiner bestehenden Form nicht
vollständig in Länderkompetenz übertragen werden. Das
war auch das Ergebnis der Expertenanhörung im Deutschen Bundestag im Zuge der Föderalismuskommission.
Alle zivilrechtlichen Regelungsbereiche, wie die Regelungen zum Heimvertrag, gehören zur Bundeskompetenz.
Dies gilt auch für die Regelungen zum finanziellen Schutz
der Heimbewohner und zu deren Mitwirkung. Hier darf
es keine untereinander abweichenden Regelungen auf
Länderebene geben. Eine solche Zersplitterung liegt weder im Interesse des Bürgers noch in dem des Zusammenhalts in der Gesellschaft. Das vorliegende Gesetz regelt
also die Bereiche der §§ 5 bis 9 und § 14 des alten Heimgesetzes, deren Neuregelung gemäß der durch die Föderalismusreform veränderten Gesetzgebungszuständigkeiten erforderlich geworden ist.
Aufgrund veränderter Familienstrukturen, zunehmender Mobilität und der Vereinzelung von Menschen nimmt
die Gruppe der sogenannten modernen Pflegebedürftigen zu, die in ihrem Wohnumfeld kein stabiles Unterstützungsnetz haben. Für sie und auch für die Gruppe der
schwerstpflegebedürftigen alten und der schwerst- und
schwerstmehrfachgeschädigten behinderten Menschen
bleibt bisher häufig nur eine Unterbringung im Heim.
Dies wird dazu führen, dass die Zahl der Heimplätze in
den nächsten Jahren kontinuierlich steigen wird, wenn
nicht vehement gegengesteuert wird.
Länder wie Schweden zeigen, dass Menschen mit einem Unterstützungsbedarf auch ohne Heime zurechtkommen können. Dort gibt es vielfältige Unterstützungsangebote, die den betroffenen Bürgern ein normales Leben im
Rahmen ihrer Verhältnisse ermöglichen. Ich will nicht bestreiten, dass ich auch diesen Weg für schwierig halte.
Dennoch: Vorfahrt für ambulante Versorgung.
Den Liberalen ist es daher ein besonderes Anliegen,
dass bei der Neugestaltung der zivilrechtlichen Vorschriften größte Sorgfalt herrscht. Gerade bei der Definition
des Anwendungsbereichs des neuen Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes muss sichergestellt sein, dass
Vorkommnisse wie die behördliche Bewertung einer
Seniorenwohngemeinschaft als Heim endgültig der Vergangenheit angehören. Mich erfüllen daher Meldungen
mit Sorge, die diese Zielsetzung nur teilweise erreicht sehen, da die verwendeten Rechtsbegriffe zu unbestimmt
seien. Zwar finden sich in der Gesetzesbegründung ErZu Protokoll gegebene Reden
läuterungen der Begriffe, dies ist aber nicht ausreichend.
Ich richte daher die dringende Bitte an die Bundesregierung, mögliche Änderungsanregungen aus den Reihen
der Sachverständigen auch tatsächlich ernst zu nehmen
und umzusetzen.
Die UN-Behindertenrechtskonvention ist seit heute in
Kraft. Darüber freue ich mich, und nimmt man die vielen
Presseerklärungen von heute zur Hand, scheinen sich
noch mehr darüber zu freuen. Obwohl die Vorgaben die-
ser Konvention seit heute in Deutschland für Politik, Ver-
waltung und für die Gerichte verbindliches Recht sind,
werden die Betroffenen wohl leider noch sehr lange war-
ten müssen, bis diese Konvention in ihrem wirklichen Le-
ben greift. Die Beauftragte der Bundesregierung für die
Belange behinderter Menschen forderte heute in ihrer
Presseerklärung dazu auf, die Impulse dieser Behinder-
tenrechtskonvention ganz konkret für die Gestaltung ei-
ner inklusiven Gesellschaft zu nutzen. Allerdings hat auch
sie schon ein bisschen kapituliert. Erst „In der kommen-
den Legislaturperiode muss es einen detaillierten
Aktionsplan zur Umsetzung der Ziele der Konvention ge-
ben. Ein solcher Plan muss in enger Zusammenarbeit mit
behinderten Menschen und ihren Interessenverbänden
entstehen“, so Evers-Meyer. Obwohl die Bundesrepublik
Deutschland zu den Erstunterzeichnern gehörte und bei
dem entsprechenden Willen schon längst Bundesregie-
rung, Behindertenorganisationen und andere gesell-
schaftliche Kräfte an einem Tisch sitzen könnten, um ei-
nen Aktionsplan zu erarbeiten, wird nun auf frühestens
2010 vertröstet.
Art. 19 der Behindertenrechtskonvention verpflichtet
Bund und Länder unter anderem zu gewährleisten,
a) dass Menschen mit Behinderungen „die Möglichkeit
haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entschei-
den, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet
sind, in besonderen Wohnformen zu leben; b) Menschen
mit Behinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten haben, einschließlich der persönlichen
Assistenz, die zur Unterstützung des Lebens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Verhinderung von Isolation und Absonderung von
der Gemeinschaft notwendig ist“. Daran muss sich ab sofort jede Heimgesetzgebung messen. Insofern möchte ich
hier noch einmal für Die Linke ausdrücklich betonen,
dass die Veränderungen bei der Zuständigkeit im Heimrecht mit der 2006 in Kraft getretenen Föderalismusreform der falsche Weg waren. Die Kleinstaaterei bringt
für Heimbewohnerinnen und Bewohner keine Verbesserungen. Auch solch katastrophale Zustände, dass ein junger Mann mit Behinderungen wie Matthias Grombach
aus Sachsen-Anhalt seit Jahren gegen seinen Willen in einem Heim leben muss, gehören trotz UN-Behindertenrechtskonvention und Föderalismusreform zum Alltag.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition
wird nun der Versuch unternommen, aus den in Bundeskompetenz verbliebenen §§ 5 bis 9 und 14 des Heimgesetzes ein neues, in sich schlüssiges Gesetz zu machen. Die
restlichen Paragrafen wurden bzw. werden in den Ländern zu eigenen Heimgesetzen verarbeitet. Nimmt man
das alte Heimgesetz, wird deutlich, dass sein Auseinanderreißen die Sache für die Betroffenen kaum leichter und
verständlicher machen wird. Mit mindestens zwei
Gesetzen sowie darauf aufbauenden Verordnungen und
Rechtsprechungen werden sich die „Verbraucher“ und
„Unternehmer“ ({0}) befassen
bzw. auseinandersetzen müssen.
Gestärkt werden sollen mit dem neuen Gesetz die
Rechte der Verbraucher. Das begrüßt und unterstützt Die
Linke. Gerade die zumindest teilweise Trennung von Leistungen, die das Wohnen betreffen, von den verschiedenen
Betreuungsleistungen ist überfällig und sinnvoll. Damit
ist zumindest theoretisch möglich, Pflege- oder Versorgungsleistungen nicht vom Heimbetreiber, sondern von
externen Anbietern zu beziehen. Ich hoffe, dass mit dieser
Wahlmöglichkeit auch mehr Qualität bei den Leistungen
kommen wird.
Offen bleiben allerdings weiterhin eine Reihe von
Punkten, die von den in Heimen und ähnlichen Einrichtungen lebenden Menschen seit langem gefordert werden.
Dazu gehören das Recht auf eigene Schlüssel, das Recht
auf geschlechtergleiche Assistenz, akzeptable Regelungen zu Haustieren, uneingeschränktes Besuchsrecht,
Kontaktmöglichkeiten zum Heimbeirat oder nachteilsfreie Beschwerdemöglichkeiten für angestellte Pflegekräfte. Notwendig ist auch eine verbindliche bundesweite
Fachkräftequote. Vielleicht wird einiges davon in den
Landesgesetzen vernünftig geregelt. Vielleicht?
Offen bleibt ebenfalls die Einbeziehung bzw. Abgrenzung zu betreuten Wohnformen. Insofern unterstützen wir
den Antrag der Grünen.
Die Rechte der Bewohnerinnen und Bewohner zu stärken, wäre auch ohne Föderalismusreform möglich gewesen. Aus den in Bundeskompetenz verbliebenen sechs
Paragrafen werden im neuen Gesetz 17 Paragrafen, und
ich bezweifle, dass die neuen Heimgesetze der Länder
kürzer und auch verständlicher werden. Insofern also:
Ich bin auf die Meinung der Sachverständigen bei der Anhörung am 22. April gespannt.
An der zentralen Frage - Warum will die große Mehrheit der Menschen im Alter, bei Pflegebedarf oder der
Menschen mit Behinderungen nicht in ein Heim? - mogelt sich die Bundesregierung auch mit diesem Gesetzentwurf vorbei. Insofern bleibt der für diese Wahlperiode angekündigte Paradigmenwechsel leeres Gerede.
Nun wird zeitlich Druck gemacht, nachdem es so lange
hat auf sich warten lassen - die Neuregelung der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föderalismusreform. Einigen Bundesländern war diese
Wartezeit deutlich zu lang. Nach der beschlossenen Föderalismusreform sind sie recht zeitnah dazu übergegangen, ihre nun ordnungsrechtliche Kompetenzrolle wahrzunehmen. Herausgekommen sind dabei klangvolle
Zu Protokoll gegebene Reden
Gesetzesvorhaben wie beispielsweise das am 3. Juli 2008
durch den Bayerischen Landtag beschlossene Gesetz zur
Regelung der Pflege-, Betreuungs- und Wohnqualität im
Alter und bei Behinderung ({0}).
Und genau hier beißt sich die Katze in den Schwanz:
Für die Länder war an einem bestimmten Punkt nicht
mehr klar, für was sie zuständig sind und was vom Bund
zu regeln ist. Damit hat die Föderalismusreform das von
uns vorausgesagte und befürchtete Chaos zutage ge-
bracht. Deshalb überrascht es uns nicht, dass durch die
Länder Ausführungen vorweggenommen wurden, die
jetzt erst durch das „Neue Heimgesetz“ nach der Föde-
ralismusreform geregelt werden: doppelte, ja dreifache
Arbeit, weil die Länder ihre teilweise verabschiedeten
Regelungen nun noch einmal überdenken und anpassen
müssen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und
SPD, was nun einmal lange währt, wird schlussendlich
gut, diesen Eindruck konnte ich bei der Sichtung des Re-
ferentenentwurfs noch teilen. So gelang es dem Referen-
tenentwurf in seiner neuen Denkweise, aus Sicht des
Verbraucherschutzes innovative Wege zu gehen und kon-
sequent außer den stationären Einrichtungen auch Wohn-
gruppen und betreute Wohnformen mitzudenken. Und nun
liegt uns ein Gesetzesentwurf vor, der sich von der begrü-
ßenswerten und überraschenderweise neuen Denkweise
verabschiedet und unsinnige Trennungen vornimmt, die
meines Erachtens sachlich nicht haltbar sind.
Alle Angebote, die Wohnraum überlassen und außer-
dem Pflege- und andere Betreuungsleistungen vorhalten
oder vermitteln - und dies betrifft die klassischen Formen
des betreuten Wohnens -, sind gestrichen: nicht ein einzi-
ger Passus findet Anwendung. Der überwiegende Anteil
der Wohngruppenangebote unterliegt voll und ganz und
ohne Differenzierung der zivilrechtlichen Regelung des
Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes. Was dies für die
Weiterentwicklung des alternativen Wohnangebots be-
deutet, ist noch nicht ganz abzusehen.
Das verstehe, wer will - entweder wird ein Gesetz er-
lassen, in dem der Verbraucherschutz oberste Priorität
hat, oder wir liberalisieren den Markt und überlassen al-
les und jedem sich selbst. Wenn etwas sachlich keinen
Sinn ergibt, aber politisch trotzdem von der Koalition
durchgesetzt wird, verbirgt sich dahinter wie so oft in die-
ser Legislatur eine erfolgreiche Einflussnahme von Lob-
byverbänden, wie in diesem Falle von Anbietern des be-
treuten Wohnens. Die Koalition hat mit diesen Anbietern
besonderes Mitleid, denn sie waren und sind es bisher
nicht gewohnt, dass man ihnen rechtliche Vorschriften
macht. Sie sahen sich durch den Referentenentwurf in ih-
rer Existenz bedroht, weil man ihnen ein Mindestmaß an
Leistungstransparenz, Qualität und Verbraucherorientie-
rung abverlangte. Eine wirklich unzumutbare Forde-
rung!
Leider ist die Lobby der Nutzerinnen und Nutzer des
betreuten Wohnens nicht schlagkräftig genug, um ihre In-
teressen in dem Gesetzgebungsverfahren zum Tragen zu
bringen. Dies liegt daran, dass die meisten bei Einzug in
eine betreute Wohnform bereits zwischen 75 und 79 Jahre
alt sind und mehrfache gesundheitliche Einschränkungen
aufzeigen - und einen damit einhergehenden Hilfe- und
Unterstützungsbedarf. Eigentlich genau die Gruppe, die
eben nicht mehr die selbstbestimmten Nutzer und Nutze-
rinnen sind, für die sie gehalten werden.
Fehlende Transparenz, fehlende Mindeststandards,
fehlender Rechtsschutz und fehlende Verbraucherorien-
tierung führen dazu, dass sich viele Inanspruchnehmer
des betreuten Wohnens betrogen und in die Irre geführt
fühlen - weil sie eine Leistung oft für viel Geld eingekauft
haben, die nicht hält, was sie verspricht. Dies ist auch die
Realität des betreuten Wohnens - es gibt hier Menschen,
die in einer völlig unpassenden Wohnform landen und
vorher gar nicht wussten, auf was sie sich hier einlassen.
So zum Beispiel bemerkten Bewohner, durch den bei-
ßenden Geruch im Hause alarmiert, dass die Leiche des
73-jährigen Nachbarn in der Katholischen Betreuten Se-
niorenwohnanlage bei Hamburg bereits seit zehn Tagen
unentdeckt in einer Wohnung lag - betreutes Wohnen und
keiner da, keine Betreuungsperson, nicht einmal ein
Hausmeister.
Mit Ihrer Entscheidung, das betreute Wohnen aus dem
Gesetzentwurf zu streichen, überlassen Sie Menschen mit
einem besonderen Schutzbedarf schutzlos dem freien
Markt. Verantwortungslose Anbieter und alle, die diesen
Markt nutzen und minderwertige Ware anbieten, tummeln
sich weiterhin auf dieser Wohnwiese und kein Gesetz weit
und breit, das ihnen Einhalt gebietet. Für mich eine inhu-
mane Entscheidung, die mir nochmals vor Augen führt,
dass Ihnen Lobbyisten wichtiger sind als die Bürgerinnen
und Bürger.
Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend:
Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben CDU, CSU
und SPD im Koalitionsvertrag gemeinsam eine Novellie-
rung des Heimgesetzes vereinbart. Mit der Föderalismus-
reform 2006 hat sich der Rahmen für die beabsichtigte
Neuregelung geändert. Die Länder können jetzt den ord-
nungsrechtlichen Teil des Heimgesetzes durch eigene
heimrechtliche Vorschriften ersetzen. Der Bund ist wei-
terhin für den zivilrechtlichen Teil des Heimgesetzes zu-
ständig.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Neuregelung
der zivilrechtlichen Vorschriften des Heimgesetzes ma-
chen wir von dieser Gesetzgebungskompetenz Gebrauch
und entwickeln die vorhandenen Regelungen zu einem
modernen Verbraucherschutzgesetz weiter. Dazu werden
die den Heimvertrag betreffenden Vorschriften des Heim-
gesetzes durch ein neues Wohn- und Betreuungsvertrags-
gesetz abgelöst.
Wir wollen ältere Menschen sowie pflegebedürftige
oder behinderte volljährige Menschen vor Benachteili-
gungen bei Verträgen schützen, in denen die Überlassung
von Wohnraum mit der Erbringung von Pflege- oder
Betreuungsleistungen verknüpft ist. Wir wollen dazu
beitragen, dass der in der Charta der Rechte hilfe- und
pflegebedürftiger Menschen verankerte Anspruch auf
Zu Protokoll gegebene Reden
Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues
Selbstbestimmung auch im Zivilrecht die notwendige Ab-
sicherung erfährt.
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher geht es bei
diesen Verträgen vielfach um Entscheidungen, die trotz
ihrer weitreichenden Bedeutung schnell getroffen werden
müssen. Es geht um die Veränderung des Lebensmittel-
punkts und die Absicherung von Betreuung und Pflege.
Das notwendige Wissen und die erforderliche Erfahrung,
um die komplexen Angebote und Vertragsgestaltungen
überschauen zu können, ist jedoch häufig nicht gegeben.
Hier setzen wir mit dem Gesetz an. Wir schaffen Son-
derregelungen gegenüber dem Bürgerlichen Gesetzbuch,
die auf die besondere Situation dieser Menschen zuge-
schnitten sind: Vorvertragliche Informationspflichten
und entsprechende Transparenzanforderungen an den
Vertrag sichern die Entscheidungsfreiheit der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher. Mindestanforderungen an
die Leistungen des Unternehmers sowie die Angemessen-
heit des Entgelts schützen vor Benachteiligung bei der
Ausgestaltung der Vertragsgegenstände. Besondere An-
forderungen an Entgelterhöhung und Vertragsanpassung
bei Änderung des Pflege- oder Betreuungsbedarfs be-
rücksichtigen die langfristige Bindung der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher. Kündigungsvorschriften und das
Verbot abweichender Vereinbarungen zulasten des Ver-
brauchers sichern das erzielte Schutzniveau. Dabei be-
rücksichtigen wir an jedem Punkt die notwendige Harmo-
nisierung mit den sozialleistungsrechtlichen Regelungen
insbesondere der Sozialen Pflegeversicherung.
Anders als das bisherige Heimgesetz knüpft die Neure-
gelung nicht mehr an bestimmte Wohn- oder Einrich-
tungsformen an. Entscheidend sind allein die konkreten
Vertragsinhalte. Damit wird der Anwendungsbereich des
Gesetzes für zukünftige Entwicklungen geöffnet und ein
klarer rechtlicher Rahmen auch für neue Wohn- und Be-
treuungsformen geschaffen.
Die Entwicklung neuer Wohn- und Betreuungsformen
ist eine Bereicherung. Sie ermöglicht hilfebedürftigen
Menschen, ein für sie passendes Angebot zu finden und
ihre individuellen Wünsche und Vorstellungen zu ver-
wirklichen. Das wollen wir unterstützen. Gleichzeitig
sind die Inhalte der neu entstehenden Angebote aber viel-
fach noch unklar. Gerade hier besteht besonderer Schutz-
bedarf. Deshalb beschränkt sich das Gesetz nicht auf den
Verbraucherschutz von Menschen in Heimen oder ande-
ren stationären Pflegeeinrichtungen. Es ist bei entspre-
chender Vertragsgestaltung vielmehr auch auf das soge-
nannte betreute Wohnen und andere neue Wohn- und
Betreuungsformen anwendbar. Es trägt durch seine
Schutzvorschriften dazu bei, dass das Vertrauen der Ver-
braucherinnen und Verbraucher in diese Angebote ge-
stärkt wird.
Nicht erfasst wird das sogenannte Service-Wohnen,
bei dem neben dem Wohnraum ausschließlich allgemeine
Betreuungsleistungen wie Notrufdienste oder Leistungen
der hauswirtschaftlichen Versorgung Gegenstand der
vertraglichen Vereinbarung sind. Diese Angebote dienen
nicht in gleichem Maße der Bewältigung eines durch
Alter, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung bedingten
Hilfebedarfs.
Das Gesetz soll zum 1. September 2009 in Kraft treten.
Für vor diesem Zeitpunkt geschlossene Heimverträge ist
eine Übergangsvorschrift vorgesehen. Für andere Altver-
träge gilt das Gesetz nicht. Hier haben sich die Beteilig-
ten auf eine bestimmte Rechtslage eingestellt, die nach-
träglich nicht mehr verändert werden soll.
Mit dem Gesetz können wir noch in dieser Legislatur-
periode einen wichtigen Beitrag zum Schutz älterer, pfle-
gebedürftiger und behinderter Menschen leisten und
diese zugleich in ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung
stärken.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12409 und 16/12309 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 22 a
und b:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulla
Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
({0})
- Drucksache 16/12415 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({2}), Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verlängerung der Frist für die gesetzliche Altfallregelung
- Drucksache 16/12434 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Grindel, Veit,
Wolff ({4}), Jelpke und Winkler.
An den Beginn der Debatte gehört die Feststellung,
dass die gesetzliche Altfallregelung und die Bleiberechtsregelung der Innenministerkonferenz wesentlich erfolgreicher gewesen sind, als das von der Opposition im Vorfeld vermutet worden ist und bis zum heutigen Tag leider
behauptet wird. Insgesamt ist bis zum Stichtag 30. September 2008 rund 52 000 bisher Geduldeten eine Aufenthaltserlaubnis nach diesen beiden Regelungen erteilt
worden. Die heutige Zahl dürfte bei rund 60 000 Personen liegen, die einen abgesicherten Aufenthaltsstatus
haben. Das ist weit mehr als bei jeder anderen vergleichbaren Regelung dieser Art. Das ist eine großartige humanitäre Leistung, bei der der Staat Integrationsleistungen
der geduldeten Ausländer anerkannt hat und in einer
Situation hilft, bei der eine sofortige Abschiebung
schlechthin nicht vertretbar wäre.
Aber angesichts des Umstandes, dass hier gerade die
Linkspartei sich aufplustert, haltlose Unterstellungen
verbreitet und diesen Antrag zur Verlängerung der gesetzlichen Fristen für die Altfallregelung stellt, lohnt es
sich vielleicht, einfach einmal in die jeweiligen Bundesländer zu schauen, wer besonders intensiv von der Altfall- und Bleiberechtsregelung Gebrauch macht und wer
hier besonders restriktiv vorgeht. Und da ist schon interessant, dass wir in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen oder Hessen, also in den Ländern, in
denen Union und FDP die Verantwortung tragen, Ablehnungsquoten haben, die unter 10 Prozent liegen. Die mit
Abstand höchste Quote von Antragsablehnungen bzw.
Anträgen, die immer noch nicht bearbeitet worden sind,
haben wir ausgerechnet in Berlin mit über 50 Prozent.
Also genau da, wo die Linkspartei die politische Verantwortung trägt, wird besonders hartherzig und besonders
schleppend mit den Anträgen der geduldeten Personen
umgegangen. Da kann ich nur sagen: Halten Sie sich mal
lieber zurück, hier im Bundestag äußerlich wohlfeile Anträge zu stellen und maßlose Reden zu halten, und tun Sie
lieber dort etwas, wo Sie zum Handeln in der Lage sind.
Die Linkspartei ist in dieser Frage - wie ja auch in vielen
anderen, wo Sprüche und politisches Handeln weit auseinanderklaffen - absolut unglaubwürdig!
Dass in den Ländern sehr im Sinne der Prämierung
von gelebter Integration und eben nicht engherzig über
die Anträge entschieden wird, lässt sich an der hohen
Quote der positiv beschiedenen Anträge ablesen. Wir
wissen doch alle, dass viele Asylbewerber im Rahmen der
Verfahren - gerade bei der Erstantragstellung - nicht so
mitwirken, wie das nach den Buchstaben des Gesetzes
vorgeschrieben wäre. Und wenn man die Gesetzesformulierung sehr buchstabengetreu auslegen würde, könnte
das in vielen Fällen einer Einbeziehung in die Altfallregelung entgegenstehen. Aber die Behörden in den Ländern - und ich wiederhole, das sind in den meisten Fällen
unionsregierte Länder - richten sich ganz offenbar an
den konkreten Integrationsleistungen der Geduldeten
aus. Und das ist auch richtig so. Wenn eine Familie sich
durch eigener Hände Arbeit ernähren kann, wenn sie ihre
Kinder erfolgreich auf die Schule schicken, wenn sie sich
in unsere Gesellschaft eingegliedert haben und dem Staat
nicht auf der Tasche liegen und wenn sie schon so lange
in Deutschland leben, dass eine Rückkehr in das Heimatland kaum vertretbar wäre, dann wollen wir ihnen eine
faire Chance für ein Leben in unserem Land geben. Und
ich wiederhole mit allem Nachdruck: Diese faire Chance
kriegen sie vor allem in Ländern, die von CDU und CSU
regiert werden. Insofern haben wir wahrlich keinen
Nachholbedarf in Hinweisen, wie man humanitär mit
dem Problem umgeht, dass es wegen der außergewöhnlichen Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitmarkt
infolge der weltweiten Finanzmarktkrise jetzt vielleicht
etwas schwerer ist, eine Beschäftigung und damit die Fähigkeit nachzuweisen, den Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können.
Nur muss dazu Folgendes gesehen werden: Die augenblickliche Lage auf dem Arbeitsmarkt ist - Gott sei
Dank - immer noch so, dass wir deutlich weniger Arbeitslose haben als zu dem Zeitpunkt, als die Bleiberechts- bzw. Altfallregelung beschlossen worden ist. Insofern vertreten wir als CDU/CSU die Auffassung, dass es
im Augenblick keinen Bedarf für hektische Aktivitäten des
Gesetzgebers gibt. Wir sagen ausdrücklich zu, dass wir
die Lage auf dem Arbeitsmarkt im November sehr genau
beobachten werden. Sollte sich dann wirklich eine dramatische Änderung der Lage ergeben, die zu unüberwindlichen Hürden für die Geduldeten führen würde,
dann sind wir bereit, über eine zeitnahe Verlängerung der
Fristen im Aufenthaltsgesetz nachzudenken. Das kann
man innerhalb weniger Wochen gesetzgeberisch auf den
Weg bringen, zumal es ja auch eine irrige Vorstellung ist,
dass nun ab 2. Januar 2010 alle Geduldeten sofort abgeschoben werden würden, wenn sie bis dahin nicht in die
Altfallregelung einbezogen wären. Insofern hat der Gesetzgeber zu Beginn der nächsten Legislaturperiode einen hinreichenden zeitlichen Spielraum.
Aber ich will im Lichte der derzeitigen Arbeitsmarktlage, wo wir ja immer noch eine Vielzahl offener Stellen
auch in Berufszweigen haben, die keine hohen Qualifikationsanforderungen stellen, wenn ich etwa an die Bereiche der Pflege oder des Einzelhandels denke, betonen,
dass wir auch von den Geduldeten nicht den Druck nehmen dürfen, sich ganz engagiert um eine dauerhafte berufliche Eingliederung zu bemühen. Was die Linkspartei
und auch die Grünen hier vorschlagen, läuft im Kern auf
eine allgemeine Bleiberechtsregelung ohne Integrationsleistungen hinaus. Genau das haben wir nicht gewollt.
Wir wollten nach dem Motto „Fördern und Fordern“ mit
der von uns getroffenen Gesetzesänderung einen Anreiz
schaffen: für ganz konkrete Schritte hin zu einer beruflichen Integration und zu einer schulischen Integration der
Kinder. Das würde konterkariert, wenn wir den Anträgen
der Grünen und der Linkspartei folgen würden. Deshalb
lehnen wir sie ab.
Als sich Union und SPD vor nunmehr dreieinhalb Jahren zur Großen Koalition zusammentaten, schrieben sie
sich bekanntermaßen folgenden Prüfauftrag in den Koalitionsvertrag: „Wir werden das Zuwanderungsgesetz
anhand der Anwendungspraxis evaluieren. Dabei soll
insbesondere auch überprüft werden, ob eine befriedigende Lösung des Problems der so genannten Kettenduldungen erreicht worden ist.“
Ich erinnere daran, dass die rot-grüne Koalition mit
dem Zuwanderungsgesetz die Duldung eigentlich generell abschaffen wollte. Dies ist damals jedoch am Widerstand der CDU/CSU im Bundestag und Bundesrat gescheitert. Im Ergebnis waren Ende des Jahres 2006 rund
180 000 Ausländer - darunter etwa 50 000 Kinder - lediglich im Besitz einer Duldung, das heißt, ihre Abschiebung war nur ausgesetzt und die Betroffenen haben sozusagen auf gepackten Koffern ohne jede vernünftige
Zu Protokoll gegebene Reden
Zukunftsperspektive hier in Deutschland gelebt, und zwar
Zigtausende von ihnen schon sechs bzw. acht oder noch
mehr Jahre lang.
Um diesen Missstand zu beheben, verhandelte die
Große Koalition über eine gesetzliche Altfallregelung.
Wir alle wissen, wie kontrovers sich die Verhandlungen
gestalteten. Doch wir wissen auch, dass wir am Ende einen Kompromiss gefunden haben. Er mag in der Öffentlichkeit umstritten gewesen sein, und er mag den Berichterstattern auf beiden Seiten viele Zugeständnisse
abverlangt haben. Doch letztlich zählt nur eines: Hat er
den Menschen, die wir erreichen wollten, geholfen? Und
hier lautet die Antwort Ja. Ich habe selber gesagt, dass
die Regelung des § 104 a des Aufenthaltsgesetzes dann
ein Erfolg ist, wenn wir mit ihr und dem IMK-Beschluss
mehr als 50 000 Menschen den Weg in die Aufenthaltserlaubnis ebnen können. Die jüngste umfassende Auswertung aus dem September 2008 verdeutlicht, dass dieses
Ziel erreicht worden ist. 52 977 ehemals Geduldete haben
eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.
Nach dreieinhalb Jahren der Großen Koalition ist jedoch nicht nur die Zeit für eine Bilanz gekommen. Es
bleibt uns vielmehr auch noch ein halbes Jahr, in dem wir
als Gesetzgeber noch handeln können, vielleicht sogar
müssen. Denn es geht um die Frage, ob der eben dargestellte Erfolg auf der Kippe steht. Sie alle kennen die Zahlen: Von den 28 721 Aufenthaltserlaubnissen, die nach
der gesetzlichen Altfallregelung erteilt wurden, sind
23 334 auf Probe erteilt. Das bedeutet: Auch diese Personen müssen bis Ende 2009 ihren Lebensunterhalt verdienen können. Das ist nicht immer leicht. Hier darf ich
auf den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen verweisen,
der zu Recht die Probleme aufführt, die ehemals Geduldete bei der Arbeitssuche haben. Ich will sie nicht alle
wiederholen, aber einen herausgreifen, der mir besonders wichtig erscheint. Als wir die Frist Dezember 2009
beschlossen, konnte keiner von uns die einschneidende
Wirtschaftskrise des Jahres 2008 erahnen, die im Laufe
des Jahres 2009 ihre Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt
noch stärker als heute zeigen wird.
Mit milliardenschweren Konjunkturpaketen, die in der
Geschichte unserer Republik ohne jedes Beispiel sind,
versuchen wir, die absehbare negative Wirtschaftsentwicklung zumindest abzufedern. Mit der gleichen logischen Konsequenz sollten wir als Gesetzgeber aber auch
überall dort handeln, wo ansonsten unbeabsichtigte Konsequenzen drohen. Damit meine ich die vormals eben nur
geduldeten ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die unter den erschwerten Wirtschafts- und Arbeitsmarktbedingungen eben auch schlechtere Chancen haben, ihre Arbeitsstelle zu behalten oder eine neue zu
finden. Wenn infolgedessen nun eine große Zahl derer, die
die Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten haben,
zurück in die Duldung fielen, so wäre dies für alle Beteiligten fatal: für die SPD-Fraktion, weil sie dem Richtlinienumsetzungsgesetz trotz erheblicher Bedenken in anderen Punkten vor allem deshalb zugestimmt hat, um die
Altfallregelung zu erreichen; für die Große Koalition,
weil damit ein gemeinsam erstrittener Erfolg gefährdet
wäre; und für die Betroffenen, denen eine einmal eingeräumte Perspektive wieder genommen würde. In ihrem
Interesse müssen wir gemeinsam diskutieren, um die Frist
des § 104 a Abs. 5 AufenthG zu verlängern, das heißt ihnen noch mehr Zeit für die Arbeitssuche geben zu können.
Der Gesetzentwurf der Linken greift dies wie folgt auf:
Die Aufenthaltserlaubnisse sollen hiernach unabhängig
von der Lebensunterhaltssicherung erteilt werden. Auf
die Lebensunterhaltssicherung ganz zu verzichten, ist
aber zu weitgehend und nicht durchsetzbar. Auch bei den
Aufenthaltserlaubnissen zu anderen Zwecken, abgesehen
von einigen humanitären Titeln, wird nie ganz auf die Lebensunterhaltssicherung verzichtet. Deshalb empfehle
ich, diesen Antrag abzulehnen.
Sachgerechter ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Er fordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem
die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis auf Probe über
die in § 104 a AufenthG genannte Frist hinaus angemessen verlängert wird. Auch aus der Sicht der SPD-Fraktion wäre ein sofortiges Handeln des Gesetzgebers dringend geboten, um eine entsprechende Gesetzesnovelle
noch vor der Sommerpause zu verabschieden und
schnellstmöglich in Kraft zu setzen. Leider konnten wir
unseren Koalitionspartner hiervon - noch? - nicht überzeugen. Auch in der CDU/CSU-Fraktion sieht der eine
oder andere zwar das Problem, glaubt aber an eine rechtzeitige Lösungsmöglichkeit nach der Bundestagswahl.
Genau hier habe ich aber meine Zweifel. Eine handlungsfähige Mehrheit - welche auch immer - und eine neue
Bundesregierung werden die Sacharbeit frühestens im
November aufnehmen, und die dann noch verbleibenden
wenigen Wochen bis zum Jahresende reichen sicherlich
für ein fristgerechtes Handeln nicht mehr aus.
Hinzu kommt aber vor allem: Wenn nach geltender
Rechtslage die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis auf
Probe abläuft, haben die Betreffenden natürlich noch weniger Chancen, gegebenenfalls eine neue Arbeitsstelle zu
finden oder auch nur zu behalten. Eine ungewisse Zukunft
ist aber vor allem für die Betroffenen eine völlig unnötige
psychische Belastung. Nicht zuletzt ist eine unklare Entwicklung der Rechtslage für die Ausländerbehörden mehr
als lästig.
Ich rege daher dringend an, dass wir in einem unmittelbar nach Ostern anzuberaumenden Berichterstattergespräch mit Staatssekretär Peter Altmaier und seinen
Fachleuten im BMI gemeinsam zu einer vernünftigen und
zeitnahen Lösung kommen.
Die Reform des Bleiberechts durch die Bundesregierung im Sommer 2007 war ein längst überfälliger Schritt.
Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten Ausländern
eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, muss dieser
Tatsache durch eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rechnung getragen werden.
Doch die entscheidenden Kriterien waren und sind
„lange geduldet und gut integriert“. Aus Sicht der FDP
muss die tatsächliche Integration das entscheidende Kriterium sein, nachgewiesen durch eigenständigen Lebensunterhalt, deutsche Sprachkompetenz und Akzeptanz im
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
persönlichen sozialen Umfeld auch außerhalb der Migrantengesellschaft.
Der eigenständige Lebensunterhalt ist dabei von entscheidender Bedeutung. Das Zahlenmaterial, das Grüne
und Linke in den vorliegenden Anträgen zitieren, deutet
genau darauf hin, dass dies eine für die Integration sehr
bedeutsame Anforderung ist. Es ist berechtigt, die Frage
nach der Perspektive eines gesicherten Lebensunterhaltes zu stellen. Und es ist zutiefst inhuman, Menschen hier
eine Aufenthaltsperspektive vorzugaukeln, die hier ihren
Lebensunterhalt nicht selbst verdienen können. Wer so etwas tut, der hält Alimentierung für humane Politik. Wir
Liberalen halten es dagegen für human, Menschen Chancen für ein erfülltes Leben zu eröffnen. Dazu gehört auch,
klar zu sagen, wer im Hinblick auf den Arbeitsmarkt nach
Deutschland passt und wer nicht.
Es wird in diesem Zusammenhang einmal mehr deutlich: Arbeit ist ein bedeutender Integrationsfaktor. Der
Zusammenhang von Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsrecht muss deshalb eine besondere Aufmerksamkeit finden. Arbeit ermöglicht den Zuwanderern, finanziell auf
eigenen Beinen zu stehen und fördert dadurch das Selbstwertgefühl nicht nur des Berufstätigen, sondern auch der
Familienangehörigen. Sie ermöglicht soziale Kontakte
und schafft Akzeptanz in der Bevölkerung. Dies ist auch
im Interesse der Gesellschaft als Ganzes. Ohne gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang können Zuwanderer sich
nicht aus ihrer ökonomischen Abhängigkeit befreien. Erwerbstätigkeit ist die Grundlage für wirtschaftliche Eigenständigkeit. Deshalb ist es notwendig, dass mit der
Aufenthaltserlaubnis automatisch auch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglicht wird.
Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleiberechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen, andererseits
aber die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern,
dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern findet. Auch hier muss die Integration
die Leitlinie sein.
Gerade in diesem Zusammenhang müssen wir endlich
auch beim Problem der sogenannten Altfälle ehrlich den
Tatsachen ins Auge schauen. Dazu gehört, die Arbeitsmarktverhältnisse zu akzeptieren und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen klar zu ziehen: Wir brauchen
qualifizierte Zuwanderung. Wer dem Daueraufenthaltsrecht Letzterer in vermeintlich humanitärer Gesinnung
das Wort redet, riskiert die steigende Ablehnung der Bevölkerung gegen Zuwanderer und könnte den Boden für
gesellschaftliche Spannungen aufgrund des Vorwurfs der
Ausnutzung des Sozialsystems bereiten.
Der Antrag der Linken hat exakt die entgegengesetzte
Zielsetzung: Er verneint die Notwendigkeit einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen, die
ein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen, und akzeptiert ausdrücklich, dass er „Kosten in unbekannter Höhe
durch die Gewährung von Sozialleistungen“ verursacht.
Eine solche Rücksichtslosigkeit gegenüber unserem
Sozialsystem trägt die FDP nicht mit.
Der Antrag der Grünen ist dagegen diskussionswürdig. Zwar weckt er ebenfalls Zweifel an der aus Sicht der
FDP unverzichtbaren Forderung nach selbstverdientem
Lebensunterhalt, der ergänzenden SGB-II-Anspruch ausschließt. Allerdings weisen die Grünen zu Recht darauf
hin, dass die Bundesregierung lange Zeit geduldete Menschen durch ein Arbeitsverbot an der Integration in den
Arbeitsmarkt gehindert hat. Zudem wollen die Grünen
nicht das „Aufenthaltsrecht auf Probe“ durch das Aufenthaltsrecht nach § 23 Abs. 1 Satz 1 ersetzen, wie das die
Linkspartei tut, sondern nur die Fristsetzung, bisher
31. Dezember 2009, verlängern. Darüber lässt sich angesichts des langjährigen Arbeitsverbotes und angesichts
der wirtschaftlich angespannten Situation reden.
Das eigentliche Problem, für Migranten welcher Art
auch immer den Zutritt zum Arbeitsmarkt und damit die
Integration in Deutschland zu erleichtern, kann keine
Ausländergesetzgebung leisten, sondern nur eine konsequente Deregulierung des Arbeitsmarktes.
Wie Sie wissen, ist die Beendigung der sogenannten
Kettenduldungen eine wesentliche innenpolitische Forderung der Linksfraktion. Einen geeigneten Gesetzentwurf haben wir bereits zu Beginn dieser Wahlperiode hier
vorgelegt. Danach sollte die Erteilung eines Aufenthaltstitels allein von der bisherigen Aufenthaltsdauer abhängig sein. An dieser Forderung halten wir auch weiterhin
fest. Die Entwicklungen bei der Zahl der Geduldeten und
insbesondere der langjährig Geduldeten zeigen, dass das
Problem mit der aktuellen Altfallregelung nur kurzfristig
gelindert werden konnte. Die Zahl derjenigen, die seit
mehr als sechs Jahren lediglich geduldet werden,
stagniert seit über einem Jahr. Es ist nicht auszuschließen, dass sie auch wieder steigt. Deshalb brauchen wir
gesetzliche Regelungen, die die Entstehung von Kettenduldungen dauerhaft verhindern und bestehende Kettenduldungen beenden.
Leider konnte sich die Linksfraktion mit ihrem Vorschlag damals nicht durchsetzen. Stattdessen wurde zunächst von der Innenministerkonferenz und dann vom
Bundestag eine völlig ungenügende und hartherzige Regelung beschlossen. Im Sommer 2007 trat eine sogenannte Altfallregelung für langjährig geduldete Flüchtlinge in Deutschland in Kraft. Wir haben schon damals
scharf kritisiert, dass der Bundestag diese Bleiberechtsregelung an eine ganze Reihe von Bedingungen geknüpft
hat. Wer eine Aufenthaltserlaubnis beantragt, muss gesetzestreu gewesen sein, darf keine Verbindungen zu vermeintlichen Extremisten haben, soll immer mit der Ausländerbehörde kooperiert haben. Die schwierigste Hürde
ist aber der eigenständige Lebensunterhalt. Das geht aus
den Zahlen, die wir regelmäßig erfragen, ganz klar hervor. 80 Prozent derjenigen, die das Bleiberecht beantragt
haben, sind nur im Besitz einer sogenannten Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“. Das sind insgesamt über
28 000 Menschen. Können sie zum 31. Dezember dieses
Jahres nicht nachweisen, von eigenem Gehalt leben zu
können, droht der Rückfall in die Duldung. Und in einigen Fällen, das muss man ganz klar sagen, droht die sofortige Abschiebung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Davor hat die Linke von Beginn an gewarnt. Leider
wurden unsere Warnungen von der Realität noch überholt, denn die derzeitige Wirtschaftskrise war im Sommer
2007 noch nicht absehbar. Migrantinnen und Migranten
in Beschäftigungssektoren mit geringen Qualifikationsanforderungen werden am härtesten getroffen. Wer nur
eine gering qualifizierte Beschäftigung hat, ist von Arbeitsplatzverlust und Lohneinbußen am stärkten betroffen. Es ist naheliegend, dass gerade die ehemals Geduldeten im besonderen Maße von dieser Entwicklung
betroffen sind.
Zum Kriterium des eigenständigen Lebensunterhalts
ist mittlerweile auch ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ergangen. Dieses Urteil hat klargestellt, dass
auch jeder nur theoretisch bestehende Anspruch auf ergänzende Hilfen des Staates bedeutet, dass dieses Kriterium nicht erfüllt wird. Die Konsequenzen dieses Urteils
sind noch nicht im Einzelnen absehbar. Die erforderlichen Verdienstgrenzen liegen über dem, was die Ausländerbehörden bisher als Verdienstgrenzen festgelegt hatten, abgesehen von allen Unterschieden zwischen den
Bundesländern. Gerade für Familien mit mehreren Kindern, in denen nur ein Elternteil erwerbstätig sein kann,
wird mit diesem Urteil eine geradezu unüberwindliche
Hürde geschaffen. Auch hier muss gegengesteuert werden, um nicht ausgerechnet die Familien faktisch von der
Bleiberechtsregelung auszuschließen.
Deshalb fordern wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, bei der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse
auf den eigenständigen Lebensunterhalt zu verzichten.
Dies muss selbstverständlich auch für die auf Probe erteilten Aufenthaltserlaubnisse gelten. Die Gesetzesänderung dient in erster Linie dem Ziel, den ursprünglichen
Gesetzeszweck auch wirklich erreichen zu können, nämlich eine langfristige Aufenthaltsperspektive für die Betroffenen.
Mit diesem Status quo soll dem Bundestag in der kommenden Wahlperiode die Gelegenheit gegeben werden,
eine dauerhaft wirksame Bleiberechtsregelung zu beschließen. Aber wir können nicht mehr bis zur nächsten
Wahlperiode warten. Die Koalition hat die derzeitige Regelung so gestrickt, dass noch in diesem Jahr etwas getan
werden muss. Der nächste Bundestag wird aller Erfahrung nach nicht mehr genug Zeit haben, noch in diesem
Jahr eine Neuregelung zu beschließen. Zudem muss der
Bundesrat dem ebenfalls zustimmen. Ich kann also alle
Fraktionen nur einladen, unseren Vorschlag zügig zu beraten.
Im Rahmen des sogenannten Richtlinienumsetzungsgesetzes wurde im Sommer 2007 mit den §§ 104 a und 104 b
Aufenthaltsgesetz eine Bleiberechtsregelung für langjährig geduldete, hier lebende Menschen geschaffen. Die
Fraktionen von CDU/CSU und SPD hatten diese Regelung als „Richtungswechsel“ gefeiert: Integrationswillige Ausländerinnen und Ausländer, die lange Jahre bei
uns mit einer Duldung in Angst vor Abschiebung und Ausweisung gelebt hätten, würden nun eine realistische
Chance erhalten, eine eigenständige wirtschaftliche
Existenz in ihrer neuen Heimat aufzubauen.
Bereits frühzeitig geäußerte Befürchtungen von uns
scheinen sich nun zu bestätigen: Die gesetzliche Altfallregelung - eines der innenpolitischen Kernvorhaben der
Großen Koalition - droht leerzulaufen: Nicht nur, dass
bislang lediglich rund ein Viertel aller infrage kommenden Personen ein vorläufiges Bleiberecht erhalten haben es besteht die akute Gefahr, dass ein Großteil derjenigen,
die eine „Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ erhalten
haben, diese Ende 2009 nicht wird verlängern können
und infolgedessen wieder in die Duldung zurückfallen
wird.
Um dem vorzubeugen - und zwar rechtzeitig und nicht
erst nach der Wahl des nächsten Bundestages -, haben
wir den vorliegenden Antrag eingebracht. Er beinhaltet
zwei Forderungen: zum einen eine Fristverlängerung für
die Stellung von Anträgen nach der gesetzlichen Altfallregelung. Denn es zeichnet sich ab, dass es aus Gründen,
die nicht in der Person der Bleiberechtskandidatin oder
des Bleiberechtskandidaten liegen, für viele potenziell
Begünstigte der Altfallregelung unmöglich sein wird, innerhalb der gesetzlichen Frist, 31. Dezember 2009, die
Vorgaben der gesetzlichen Bleiberechtsregelung zu erfüllen.
Spät - nämlich erst Ende Juni 2008 - hat die Große
Koalition ihr „Bundesprogramm zur arbeitsmarktlichen
Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge mit
Zugang zum Arbeitsmarkt“ aufgelegt. Auch hierüber
werden Begünstigte der Altfallregelung die geforderte
Lebensunterhaltssicherung nicht bis Ende 2009 nachweisen können, vergleiche Bundestagsdrucksache 16/11361.
Ebenfalls bereits jetzt zeichnet sich ab, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt trotz dieser Maßnahmen für viele
Geduldete wegen struktureller Barrieren unmöglich ist.
Zum einen bestand jahrelang ein Arbeitsverbot für geduldete Menschen, sodass es sich größtenteils um ungelernte
Arbeitskräfte handelt, zum anderen sind die Jobs am unteren Ende der Lohnskala oft nicht lebensunterhaltssichernd. Dazu kommt, dass dieser Personenkreis für die
Sicherstellung des Lebensunterhaltes aufgrund der Anrechnung von Freibeträgen - Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26. August 2008 - einen wesentlich
höheren Verdienst erwirtschaften muss als vergleichbare
deutsche Arbeitnehmer.
Im Übrigen wird die aktuelle Wirtschaftskrise diesen
Personenkreis vergleichsweise heftiger treffen als andere. Im Ergebnis werden also viele der momentan mit einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe ausgestatteten
Flüchtlinge aufgrund des Stichtages 31. Dezember 2009
zum 1. Januar 2010 wieder in die Duldung zurückfallen.
Zusammen mit den neu hierherkommenden Flüchtlingen
werden Kettenduldungen also genau nicht abgeschafft,
wie es der Gesetzgeber wollte, sondern erneut festgeschrieben.
Die zweite Forderung in unserem Antrag ist eine großzügigere Auslegung der „Lebensunterhaltssicherung“
beim Übergang der „Aufenthaltserlaubnis auf Probe“
zur „normalen Aufenthaltserlaubnis“ - zum Beispiel
Zu Protokoll gegebene Reden
über die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz:
§ 104 a Abs. 5 Aufenthaltsgesetz schreibt vor, dass eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Aufenthaltsgesetz
nach dem 31. Dezember 2009 nur dann verlängert werden kann „wenn der Lebensunterhalt des Ausländers bis
zum 31. Dezember 2009 überwiegend eigenständig durch
Erwerbstätigkeit gesichert war oder wenn der Ausländer
mindestens seit dem 1. April 2009 seinen Lebensunterhalt
nicht nur vorübergehend eigenständig sichert“.
Am 26. August 2008 hat nun das Bundesverwaltungsgericht in einem Grundsatzurteil in einem Fall des Familiennachzugs ({0}) die Voraussetzungen für die Sicherung des Lebensunterhalts deutlich verschärft: Der
Lebensunterhalt ist demzufolge nur dann gesichert, wenn
das gemäß SGB II anrechenbare ({1})
Einkommen so hoch ist, dass kein ergänzender SGB-IIAnspruch mehr besteht. Regelungen zu sogenannten Absetz- und Freibeträgen sind nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auch im Aufenthaltsrecht anwendbar.
Ob diese Leistung tatsächlich in Anspruch genommen
wird oder ob man aus Gründen der - vermeintlichen Aufenthaltssicherung darauf verzichtet, ist nach dem Urteil gänzlich unerheblich. Infolge dieses Grundsatzurteils
ist nunmehr ein deutlich höheres ({2})Einkommen
erforderlich, um den Lebensunterhalt zu decken. „Aus
Sicht der Bundesregierung ergibt sich aus dem [o. g.] Urteil des BVerwG kein unmittelbarer gesetzgeberischer
Handlungsbedarf“ ({3}).
Es bestehen aber unstreitig untergesetzliche Handlungsmöglichkeiten des Bundes - namentlich auf der Ebene der
Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz.
Im Rahmen der derzeit laufenden Verhandlungen zwischen Bund und Ländern zu den Verwaltungsvorschriften
zum Aufenthaltsgesetz sollte daher unbedingt eine Klarstellung erfolgen, die Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung in Fällen des gesetzlichen Bleiberechts so
zu handhaben, dass Härtefälle vermieden werden.
Damit möglichst viele geduldete Menschen von der jetzigen Bleiberechtsregelung profitieren können, muss sie
kurzfristig nachgebessert werden. Ich hoffe sehr, dass es
gelingt, in den anstehenden Beratungen im Innenausschuss hierfür einen interfraktionellen Konsens zu erreichen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12415 und 16/12434 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli
2008 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von
Jersey über den Auskunftsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 16/12066 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli
2008 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Jersey über die Zusammenarbeit in Steuersachen
und die Vermeidung der Doppelbesteuerung
bei bestimmten Einkünften
- Drucksache 16/12067 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/12449 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({1})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Binding ({2}),
({3})
Thiele, Kolbe, Höll und Schick.
Jersey ist mit 90 000 Einwohnern die bevölkerungsreichste der Kanalinseln, 20 Kilometer vor der Küste der
Normandie gelegen und als solche letztes Relikt des mittelalterlichen englischen Festlandsbesitzes in der Normandie. Jerseys staatsrechtliche Lage ist fast so kompliziert
wie die Berlins vor der Wiedervereinigung. Es gehört
nicht zum Vereinigten Königreich und untersteht damit
nicht der Gesetzgebung des britischen Parlaments. Vielmehr ist es unmittelbarer Kronbesitz - crown dependency mit eigener Gesetzgebung, Verwaltung und insbesondere
Steuersystem.
Wirtschaftlich ist die Insel Tourismusziel und Finanzplatz. Die Hälfte des Bruttosozialprodukts stammt aus der
Finanzbranche, und dort arbeitet ein Viertel der Beschäftigten.
Was zieht die Banken auf die kleine, windige Kanalinsel? Offenbar hängt dies damit zusammen, dass Jersey
keine allgemeine Körperschaftsteuer erhebt und nur Banken und Versicherungen mit dem erträglichen Steuersatz
von 10 Prozent belastet. Der Einkommensteuersatz beträgt ebenfalls maßvolle 20 Prozent in der Spitze. Deshalb gilt Jersey bisher trotz des unwirtlichen britischen
Wetters auch als „Steueroase“. Hier böte sich dem Bundesfinanzminister eine weitere Gelegenheit, den Kanalinselindianern mit der Kavallerie oder vergleichbaren maritimen
Fortbewegungsmitteln zu drohen. Allerdings hat er dies
bisher wohlweißlich unterlassen. Es ist nicht einmal
bekannt, ob er in dieser Sache mit seinen Parteifreunden
Tony Blair oder Gordon Brown schon einmal ernsthaft
geredet hat.
Deutschland hat mit dem Abkommen mit Jersey vom
4. Juli 2008 erstmals ein Abkommen über Auskunftsaustausch für Besteuerungszwecke mit einem Gebiet unter23280
zeichnet, das in der „Steueroasenliste 2000“ der OECD
aufgeführt war. Infolge der Listung durch die OECD hat
sich die Regierung von Jersey in einer politischen Erklärung vom 22. Februar 2002 gegenüber der OECD zur
Akzeptanz der OECD-Standards zu Transparenz und
effektivem Auskunftsaustausch verpflichtet.
Zunächst hatte Jersey die Umsetzung dieser Verpflichtung davon abhängig gemacht, dass die OECD-Grundsätze
zu Transparenz und Auskunftsaustausch auch von anderen
Staaten akzeptiert werden, die zwar nicht in der „Steueroasenliste“ aufgeführt sind, die aber ebenfalls ein Umfeld
bieten, welches es nichtansässigen Personen ermöglicht, in
ihrem Heimatstaat Steuern zu hinterziehen, sogenannter
Level-Playing-Field-Vorbehalt. Auf Deutsch: Ich mache
nichts, wenn du nichts tust. Gemeint waren mit den anderen
die OECD-Mitgliedstaaten Österreich, Luxemburg und
die Schweiz und außereuropäische Finanzzentren wie
Singapur und Hongkong. Bei ihnen allen ist der LevelPlaying-Field-Vorbehalt sehr beliebt, da dann keiner mit
der Einführung der OECD-Standards beginnen muss und
sichergestellt ist, dass nichts passiert.
Erst der stärker werdende politische Druck hat Jersey
dann zur Unterzeichnung des Abkommens vom 4. Juli 2008
bewegt. Am 2. März 2009 ist dem die Isle of Man gefolgt,
und am heutigen 26. März 2009 hat auch die Kanalinsel
Guernsey unterschrieben.
Das Auskunftsabkommen entspricht im Inhalt und Aufbau weitgehend dem OECD-Musterabkommen für Auskunftsaustausch aus dem Jahre 2002. Das Abkommen
berechtigt die deutschen Finanzbehörden und Strafverfolgungsbehörden, Jersey um Auskunft in einer konkreten
Steuersache zu ersuchen, die Gegenstand einer Ermittlung
oder Untersuchung ist. Auskünfte sind in jedem Verfahrensstadium zu erteilen, das nicht nur im Strafverfahren, sondern
bereits im Steuerfestsetzungsverfahren.
Natürlich mag man es bedauern, dass Jersey sich als
faktischer Bestandteil der Europäischen Union nicht zur
Einführung der weitergehenden EU-Standards bereit
erklärt hat, aber immerhin ist die Anerkennung der
OECD-Standards ein erster richtiger Schritt.
Doppelbesteuerungsabkommen mit Jersey: Am gleichen
4. Juli 2008 wurde auch ein Mini-DBA mit Jersey unterzeichnet. Mit diesem Abkommen erkennt Deutschland
Jerseys Verpflichtung zur internationalen Zusammenarbeit
und zum Auskunftsaustausch auf der Grundlage der
OECD-Standards an. Das DBA beschränkt sich auf die
Vermeidung der Doppelbesteuerung bei Alterseinkünften,
Bezügen aus öffentlichen Kassen und Unterhaltsleistungen
für Studenten, Praktikanten und Lehrlinge.
Die praktischen Auswirkungen sind daher gering,
aber immerhin ist es gelungen, bei der Besteuerung der
Alterseinkünfte durchzusetzen, dass auch Sozialversicherungsrenten, die nach dem deutschen Recht der nachgelagerten Besteuerung unterliegen, im Quellenstaat
Deutschland zu besteuern.
Die beiden heute vorliegenden Abkommen sind ein
Beitrag zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung und zur
Eindämmung eines schädlichen Steuerwettbewerbs von
sogenannten Steueroasen. Es zeigt, dass es Steueroasen
nicht nur in der Karibik oder in Asien gibt, sondern dass
auch Kernmitgliedsländer der EU wie Großbritannien
ihre Oasen gepflegt haben. Gleiches gilt auch für Luxemburg oder Österreich, die bis heute nicht die EU-Standards bei Zinseinkünften praktizieren. Deshalb halte ich
es auch für unfair, wenn der Bundesfinanzminister immer
nur die Schweiz oder Lichtenstein ins Visier nimmt und
andere Staaten mit möglicherweise mehr Einfluss verschont.
Heute ist jedenfalls ein guter Tag für die Bekämpfung
der Steuerhinterziehung. Die Unionsfraktion begrüßt die
beiden Abkommen und wird ihnen zustimmen.
Aus der Kapitalverkehrsfreiheit, einer der vier Grundfreiheiten innerhalb der Europäischen Union und Voraussetzung für die Entstehung globaler Finanzmärkte heutiger Prägung, ergeben sich Schwierigkeiten für die
Durchsetzung länderspezifischer Besteuerungsansprüche. Würden sich alle Länder fair verhalten, gäbe es keine
Probleme. Leider ist dies nicht so. Die Steuerbehörden in
Deutschland stehen vor der Herausforderung, dass einige Staaten und Gebiete keine oder zumindest nur sehr
geringe Steuern erheben und zugleich keinen Zugang zu
Informationen ermöglichen, die für die Besteuerung in
Deutschland zwingend erforderlich sind. Dazu gehören
insbesondere Bankinformationen, Informationen über Eigentumsverhältnisse an Rechtsträgern, die der Steuerhinterziehung - oder drastischer ausgedrückt: der Steuerflucht - dienen. Dieser schädliche Steuerwettbewerb geht
zulasten der bei weitem überwiegenden Anzahl steuerehrlicher Bürgerinnen und Bürger. Um dies einzudämmen
und zurückzudrängen, sind wir auf internationale Zusammenarbeit und Unterstützung angewiesen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD, hat hier wertvolle Vorarbeiten geleistet und
Grundsätze zu Transparenz und effektivem Auskunftsaustausch entwickelt.
Der Abschluss des Abkommens zwischen Deutschland
und Jersey über den Auskunftsaustausch in Steuersachen,
die Zusammenarbeit in Steuersachen und die Vermeidung
der Doppelbesteuerung bei bestimmten Einkünften ist ein
erster wichtiger Erfolg im Kampf gegen schädlichen
Steuerwettbewerb. Jersey setzt damit die OECD-Standards zu Transparenz und Auskunftsaustausch gegenüber
der Bundesrepublik um.
Wir erhoffen uns davon eine wichtige Signalwirkung
für die Etablierung einer effektiven internationalen
Zusammenarbeit in Steuersachen, die den legitimen Besteuerungsanspruch Deutschlands durchsetzt, eine Besteuerung von im Ausland erzielten Kapitalerträgen
ermöglicht und damit eine Gleichbehandlung aller hierzulande Steuerpflichtigen begründet. Die am 2. März
2009 unterzeichneten Abkommen mit der Isle of Man sowie die für heute geplante Unterzeichnung eines Abkommens mit Guernsey zeigen die Verhandlungserfolge der
Bundesregierung und unsere Fortschritte bei der Durchsetzung von Transparenz und Kooperation. Ein schöner
Anlass, unserem Finanzminister Peer Steinbrück und den
Beamtinnen und Beamten im Ministerium zu danken.
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({0})
Das Abkommen über den Auskunftsaustausch in Steuersachen ist das erste seiner Art mit einem Gebiet, das die
OECD auf ihrer Liste aus dem Jahr 2000 als Steueroase
geführt hatte. Die Regierung von Jersey kommt damit ihrer entsprechenden Zusage gegenüber der OECD aus
dem Jahr 2002 nach. Wir legen damit die vertragliche
Grundlage für eine effiziente Zusammenarbeit zwischen
den Steuerbehörden, die mehr als eine politische, aber
rechtlich unverbindliche Absichtserklärung ist.
Denn bislang hatte Jersey die Zusage zur Umsetzung
der OECD-Standards davon abhängig gemacht, dass sich
auch alle anderen Staaten daran orientieren. Auch
solche, die - bislang und immer noch - der Steuerhinterziehung Vorschub leisten und von diesem schädlichen internationalen Steuerwettbewerb profitieren. Dieser sogenannte Level-Playing-Field-Vorbehalt war in der Praxis
der internationalen Steuerpolitik weniger ein Appell an
Fairness und Gleichbehandlung aller Finanzzentren und
„Steueroasen“, sondern ein willkommener Vorwand, um
eigene Wettbewerbsvorteile zu konservieren und wirkungsvolle Besteuerung mit grenzüberschreitenden Sachverhalten zu blockieren.
Das zwischenstaatliche Abkommen mit Jersey orientiert sich in Aufbau und Inhalt weitgehend am OECDMusterabkommen für Auskunftsaustausch aus dem Jahr
2002. Es regelt den Austausch von Bankinformationen
und Informationen über Eigentumsverhältnisse an
Rechtsträgern - etwa Stiftungen, Briefkastenfirmen oder
Trusts. Diesen Informationsaustausch benötigen die
deutschen Steuerbehörden für Ermittlungen und Untersuchungen bei einem Verdacht auf Steuerhinterziehung oder
-betrug ebenso wie für normale Besteuerungszwecke.
Deutsche Finanz- und Strafverfolgungsbehörden haben künftig im Zuge einer Ermittlung oder Untersuchung
die Möglichkeit, Jersey um Auskünfte in einer konkreten
Steuersache zu ersuchen. Dies gilt nicht erst in einem
Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung, sondern auch
im normalen Steuerfestsetzungsverfahren. Die Kanalinsel verpflichtet sich, entsprechende Informationen vorzuhalten oder alles dafür zu tun, um diese Informationen zu
beschaffen. Unsere Steuerbehörden bekommen damit ein
wirksames Werkzeug zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlage in die Hand, um Bankinformationen und Informationen über die Eigentumsverhältnisse an Gesellschaften und die Begünstigten anderer Rechtsträger zu
erhalten.
Das Abkommen über den Auskunftsaustausch steht in
einem engen Zusammenhang mit dem ebenfalls unterzeichneten Abkommen über die Zusammenarbeit in Steuersachen und die Vermeidung der Doppelbesteuerung bei
bestimmten Einkünften. Ich unterstreiche dabei, dass unsere Arbeitsrichtung dabei schon explizit in der Überschrift verdeutlicht wird, nämlich die Vermeidung der
Doppelbesteuerung und die Verhinderung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung. Das ist ein wichtiger
Schritt, der auch schon darauf hindeutet, dass wir, bezogen auf unsere internationalen Kontakte und bilateralen
Abkommen, auch Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zum Schutz des Steuersubstrats in Deutschland in
den Blick nehmen.
Konkret geht es um die Vermeidung der Doppelbesteuerung bei Alterseinkünften, bei Bezügen aus öffentlichen
Kassen sowie von Unterhaltsleistungen für Studenten,
Praktikanten oder Lehrlinge. Jersey besteuert zwar das
Einkommen natürlicher Personen mit einem Steuersatz
von 20 Prozent, eine allgemeine Körperschaftsteuer hingegen wird nicht erhoben. Lediglich Banken und Versicherungen werden mit einem Körperschaftsteuersatz in
Höhe von 10 Prozent belegt. Die Vereinbarung sieht im
Einzelnen vor, dass Altersbezüge nur von der Vertragspartei besteuert werden, in der der Empfänger seinen
Wohnsitz hat. Ruhegehälter aus öffentlichen Kassen sowie Renten aus der Sozialversicherung werden hingegen
von derjenigen Vertragspartei besteuert, aus der sie
stammen. Hält sich ein Student, Lehrling oder Praktikant
aus Deutschland auf Jersey auf, darf der Ansässigkeitsstaat, also Jersey, Unterhaltszahlungen nur dann besteuern, wenn sie aus Jersey selbst stammen; kommen die Unterhaltszahlungen hingegen aus Deutschland, werden sie
von der Besteuerung freigestellt.
In Anlehnung an die EU-Zinsrichtlinie hat sich Jersey
außerdem dazu verpflichtet, auf Zinszahlungen, die von
Banken, Stiftungen oder Trusts zugunsten von Personen
in einem Mitgliedsland der EU geleistet werden, einen
Quellensteuerabzug in Höhe von derzeit 20 Prozent vorzunehmen und 75 Prozent davon an den jeweiligen Mitgliedstaat zu überweisen.
Trotz dieser guten Entwicklung bleibt uns als langfristige Aufgabe, nicht nur mit Jersey, aber auch mit Jersey,
einen automatischen Auskunftsaustausch in Steuersachen
- im ganz normalen Festsetzungsverfahren - zu vereinbaren. Vor dem Wort „automatisch“ schrecken natürlich
noch einige Staaten zurück, aber als Motivation für ein
faires Verhältnis zwischen Steuerbürger und Staat auf der
Grundlage des Wohnsitzlandprinzips ist der automatische Auskunftsaustausch sehr gut geeignet.
Die FDP stimmt den beiden Gesetzentwürfen zu,
sowohl dem Gesetzentwurf zum Abkommen mit Jersey
über den Auskunftsaustausch in Steuersachen als auch
dem Gesetzentwurf zum Abkommen mit Jersey über die
Zusammenarbeit in Steuersachen und die Vermeidung der
Doppelbesteuerung bei bestimmten Einkünften.
Das grundlegende Abkommen mit der Kanalinsel Jersey
über den Auskunftsaustausch ist ein Signal für einen vernünftigen Umgang mit dem, was viele „Steuerparadiese“
nennen. Es ist ohne verbale Kraftmeierei gelungen, die
Insel Jersey zu einer Zusammenarbeit mit den deutschen
Finanzbehörden zu bewegen, die den Regeln des OECDStandards zu Transparenz und effektivem Auskunftsaustausch entspricht. Es sind nicht „Indianer“ und „Kavallerie“ bemüht worden oder, was einem bei dieser Insel vielleicht hätte einfallen können, „Piraten“ und „Fregatten“.
Es ist gegenüber Jersey kein Porzellan zerschlagen worden,
wie es sozialdemokratische Spitzenkräfte bei unseren
südlichen Nachbarn in der Schweiz geschafft haben.
Geräuschlos ist es lobenswerterweise auch gelungen,
am 2. März ein Abkommen mit der Isle of Man und - nach
Zu Protokoll gegebene Reden
den Planungen - am heutigen Tage ein Abkommen mit
der Kanalinsel Guernsey zu unterzeichnen.
Das Abkommen über den Auskunftsaustausch verdient
deshalb Anerkennung, weil es das legitime Interesse
Deutschlands an einer Bekämpfung des unlauteren Steuerwettbewerbs und einer Bekämpfung der Steuerhinterziehung wahrt, ohne dabei über die Stränge zu schlagen. Mit
den Beratungen zur Eindämmung des unlauteren Steuerwettbewerbs wurde auf OECD- und EU-Ebene übrigens
schon zur Zeit der Koalition von CDU/CSU und FDP in
der zweiten Hälfte der 90er-Jahre begonnen, um hier einmal Legendenbildungen vorzubeugen.
An der Notwendigkeit einer Bekämpfung der Steuerhinterziehung hat meine Fraktion nie einen Zweifel gelassen. Steuerhinterzieher schädigen die steuerehrlichen
Bürgerinnen und Bürger sowie die gesetzestreuen Unternehmen. Die Steuersätze könnten niedriger sein, wenn es
gelänge, die Steuerhinterziehung zu beseitigen oder sie
doch zumindest massiv zurückzudrängen. Die Deutsche
Steuergewerkschaft spricht von einem jährlichen Einnahmenverlust für den Staat von 30 Milliarden Euro. Allein auf
dem Gebiet des Umsatzsteuerbetrugs liegen die Steuerausfälle laut Ifo-Institut bei 17,5 Milliarden Euro.
Wenn sich das Abkommen mit Jersey über den Auskunftsaustausch an den OECD-Standards orientiert, dann
heißt das, dass ein begründeter Anlass für das Auskunftsersuchen vorliegen muss. Die erbetenen Informationen
müssen für die Besteuerung „voraussichtlich erheblich“
sein. Ein automatischer Auskunftsaustausch, gewissermaßen eine Rasterfahndung, oder unbegrenzte Spontanauskünfte sind nicht zulässig. Fishing Expeditions, die
ohne jeglichen konkreten Anlass Material über Steuerpflichtige sammeln sollen, sind nicht Gegenstand des Abkommens. Die OECD befürwortet keine „Fischzüge“ in
einem anderen Staat nach dem Motto „Ich hätte gern alle
Namen mit dem Buchstaben A.“ Dies hat der Vertreter
der OECD, Geoffrey Owens, in der „FAZ“ vom 20. Februar 2008 zu Recht gesagt. An diesen Bedingungen für
den Informationsaustausch ist bei weiteren Abkommen
dieser Art festzuhalten.
Die Notwendigkeit, Steuerhinterziehung zu bekämpfen,
rechtfertigt noch längst nicht alle Mittel. Der Referentenentwurf bzw. die Kabinettsvorlage eines Gesetzes zur
Bekämpfung schädlicher Steuerpraktiken und der Steuerhinterziehung, über das in der Koalition zurzeit nach
Kräften gestritten wird, scheinen das zu vergessen.
Eine unkooperative Haltung solcher Staaten, die den
OECD-Standard nicht erfüllen, darf nicht dazu führen,
dass steuerehrliche Bürgerinnen und Bürger sowie
Unternehmen mit wirtschaftlichen Kontakten zu diesen
Gebieten unter den Generalverdacht der Steuerhinterziehung gestellt und mit übermäßigen bürokratischen
Pflichten überzogen werden. Auf die Entscheidungen der
Regierungen in diesen Ländern haben diese Steuerpflichtigen schließlich keinen Einfluss. Ebensowenig kann es
bei diesen Ländern und Gebieten angehen, dass europäisches Recht und völkerrechtliche Vereinbarungen wie
Doppelbesteuerungsabkommen verletzt werden oder dass
Regelungen, die in das Gesetz gehören, in rechtsstaatlich
bedenklicher Weise in Rechtsverordnungen gepackt werden.
Die Bundesregierung sollte ihre Kräfte nicht auf den
zweifelhaften Entwurf eines Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetzes konzentrieren, sondern auf den Abschluss
weiterer Abkommen à la Jersey. Dieser Weg ist offensichtlich erfolgversprechend. Auf ihm sollte fortgefahren werden,
zumal weltweit von Staaten wie Australien, Großbritannien und USA schon fast 50 Abkommen mit Steueroasen,
zum Beispiel mit den Cayman-Inseln, abgeschlossen worden sind.
Die Wurzel allen Übels aber ist unser undurchschaubares Steuerrecht mit seinen hohen Steuersätzen, mit deren
weiterer Erhöhung die SPD liebäugelt. Eine echte Steuerreform, die das deutsche Steuerrecht bei den Steuerpflichtigen wieder akzeptabel machen würde, hat die Große
Koalition erst überhaupt nicht in Erwägung gezogen.
Stattdessen hat sie die größte Steuererhöhung in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt. Das Steuerreformkonzept der FDP, das in seinen
Grundzügen seit langem auf dem Tisch liegt, würde der
Steuerhinterziehung in weiten Bereichen den Boden entziehen.
Nach jahrelangem Stillstand in der politischen Diskussion um Steueroasen erleben wir derzeit geradezu eine
Konjunktur bei diesem Thema. Erinnern wir uns: Herr
Eichel schwang noch das stumpfe Schwert der Steueramnestie, um Steuersünder freundlichst ins Inland zurückzubitten. Herr Steinbrück führte eigens die Abgeltungsteuer
ein, nach dem Motto, „25 Prozent von Hundert sind besser als 0 Prozent von nichts“. Nun wird mit Folterwerkzeugen, wie zum Beispiel einseitigen Maßnahmen, gedroht.
Die Versuche scheinen zu fruchten: So hat Jersey bereits im vergangenen Jahr ein Doppelbesteuerungsabkommen und ein Abkommen über den Informationsaustausch unterzeichnet. Beide liegen uns heute zur
abschließenden Beratung vor. Die Isle of Man tut es, nach
Auskunft des BMF, heute. Zweifellos ist das endlich ein
Schritt in die richtige Richtung. Allein die Möglichkeit,
Auskünfte über steuerrelevante Sachverhalte oder Eigentumsverhältnisse von Steuerinländern bekommen zu können, ist besser, als permanent in die Geheimhaltungsschranken gewiesen zu werden. Positiv ist auch, dass das
Auskunftsersuchen mit Jersey nach OECD-Standard vereinbart wurde, Jersey den Finanzbehörden also auch
ohne Verdacht auf Steuerstraftaten Daten liefern muss.
Allerdings wird am Beispiel Jersey das Problem jahrelangen Duldens von Steueroasen offenbar: In Jersey - so
haben es die Vertreter des BMF gestern zugeben müssen existieren weder Register über Unternehmen und Stiftungen, noch Daten über Steuerpflichtige. Damit wird jedes
Auskunftsersuchen deutscher Finanzbehörden - trotz Abkommen - bis auf Weiteres ins Leere laufen. Zwar hat
Jersey zugesagt, diesen Zustand zu ändern und seine
Rechtslage anzupassen. Aber auf die Geschwindigkeit
dieses Prozesses hat die Bundesrepublik keinen Einfluss.
Vor diesem Hintergrund geht es bei beiden Abkommen
Zu Protokoll gegebene Reden
- auch das ist O-Ton des BMF-Vertreters - eher um einen
„präventiven Effekt“, um ein „Zeichen“, und um mehr
nicht. Deshalb haben wir es vorerst mit blanker Symbolik
zu tun.
An dem derzeitigen Zustand wird sich also mittelfristig
nichts ändern. Das ist schon ein Skandal, finde ich. Denn
am Fiskus vorbeigeschleust werden kann nur Kapital.
Dadurch werden Kapitaleinkommen massiv gegenüber
Arbeitseinkommen privilegiert. Dies zu dulden, heißt zu
dulden, dass gegen alle Grundsätze der Steuergerechtigkeit verstoßen wird. Dazu kommt, dass Steueroasen sich
durch die Verweigerung der Herausgabe von Informationen zu den Einkommen von Steuerpflichtigen anmaßen,
Steuerausländer ganz oder überwiegend von der Steuer
zu befreien und damit die Einnahmen und die Finanzierung öffentlicher Aufgaben anderer Staaten zu unterlaufen. Dies - ebenso wie der immense Schaden von rund
400 Milliarden Euro ausfallender Steuereinnahmen - ist
absolut nicht zu rechtfertigen.
Deshalb hat unsere Fraktion die Regierung bereits
Anfang vergangenen Jahres aufgefordert, einseitige
Maßnahmen gegen sogenannte unkooperative Staaten zu
ergreifen. Deshalb begrüßen wir auch den Referentenentwurf eines Steuerhinterziehungsgesetzes aus dem Hause
Steinbrück. Dieser sieht steuerliche Einschränkungen
vor, wenn Zahlungen an Personen oder Vereinigungen
mit Sitz oder Geschäftsleitung in einem „unkooperativen
Staat“ geleistet werden bzw. dort Geschäfte gemacht werden. Aus unserer Sicht sind derartige Maßnahmen sowohl
gegenüber den Steueroasen selbst als auch gegenüber
den Steuerflüchtigen legitim. Denn was treibt Letztere
an? Nicht etwa das komplizierte Steuerrecht oder zu hohe
Steuern hierzulande - wie CDU/CSU und verschiedene
Sachverständige in der gestrigen Anhörung glauben machen wollten. War Herr Zumwinkel also zu dumm fürs
deutsche Steuerecht? Nein. Die zuständige Staatsanwältin Frau Lichtinghagen brachte es auf den Punkt: Es ist
die blanke Gier.
Nun haben wir Zweifel, dass durch den Finanzminister
tatsächlich Änderungen angestrebt werden: Erstens
schwebt der Referentenentwurf wie ein Phantom über der
Debatte. Der Finanzminister hat ihn bis jetzt noch nicht
ins Kabinett und ins Parlament eingebracht. Mittelfristig
wird er sich damit als Drohkulisse auch überlebt haben.
Zweitens passt diese „Kavallerie“ des Herrn Steinbrück
auch nicht zu den Zusagen, die dem Regierungschef von
Luxemburg, Juncker, auf dem deutsch-französischen Gipfel vor Kurzem gemacht wurden: Dort hat Deutschland
klargemacht, dass Luxemburg, Österreich und Belgien
nicht auf der OECD-Liste der Steuerparadiese stehen
werden. Damit werden alle nationalen Maßnahmen durch
internationales Gemauschel konterkariert. Wie ernst sollen wir Sie da noch nehmen?
Alles also nur Wahlkampfgetöse? So ist es. Denn dort,
wo die Regierung tatsächlich Einfluss auf das Austrocknen von Steueroasen nehmen kann, lehnt sie das ganz bewusst ab: So wurde in der gestrigen Anhörung auch die
unselige Rolle deutscher Banken bei der Steuerhinterziehung in Steueroasen beleuchtet. So hält der Bund inzwischen 25 Prozent plus eine Aktie an der Commerzbank. In
der Konsequenz könnte die strategische Geschäftspolitik
der Bank maßgeblich beeinflusst werden. Immerhin unterhält die Commerzbank in zahlreichen Steueroasen, wie
zum Beispiel Andorra, den Cayman Islands, Liechtenstein, Luxemburg, Malta und Singapur, Niederlassungen
oder bietet den Service von Relationship Managern an.
Laut einer Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion beabsichtigt die Regierung weder, sich über die Tätigkeiten der Bank in den Steueroasen Kenntnisse zu verschaffen, noch diese Tätigkeiten im Sinne ihrer eigenen
Einnahmen einzustellen. Sie päppelt also die Bank mit
Steuergeldern auf und duldet gleichzeitig, dass eben diese
Bank aktiv bei der Steuerhinterziehung mitmischt. Dieses
Verhalten spricht für sich.
Unsere Fraktion hat klipp und klar gesagt: Wir sind für
einen automatisierten Informationsaustausch zwischen
den Staaten, für die Kontrolle des Kapitalverkehrs ins
Ausland, für die massive Ausweitung der EU-Zinsrichtlinie, für Anhebung der Zahl der Steuerfahnder und Betriebsprüfer, für einen zentralen Steuervollzug beim Bund
und für die Überarbeitung der Doppelbesteuerungsabkommen mit dem Ziel, von der Freistellungs- auf die Anrechnungsmethode zu wechseln.
Steueroasen leben von dem Kapital, das in sie fließt
und sie blühen lässt. Sie auszutrocknen, ist ganz einfach.
Drehen wir den Geldhahn endlich zu und stoppen die
Steuerflucht!
Jersey ist eine der typischen Steueroasen. Über 600 Mil-
liarden Dollar werden dort nach Auskunft der Jersey
Financial Services Commission verwaltet. Allein die
Deutsche Bank hat 79 verschiedene Tochtergesellschaf-
ten auf dieser Mini-Insel im Ärmelkanal. Präsent sind
auch Dresdner Bank und Sal. Oppenheim. Stolz wirbt die
Insel mit dem Schutz vor der Neugier ausländischer Fi-
nanzämter. Jersey, so heißt es auf der Internetseite von
Jersey Finance, schütze gemeinsam mit anderen gut re-
gulierten Jurisdiktionen das Recht auf Privatheit und Ver-
traulichkeit von Finanzinformationen - ein Euphemismus
für ein Bankgeheimnis. Und mit diesem Inselstaat hat die
Bundesregierung Abkommen über den Auskunfts-
austausch in Steuersachen und über die Zusammenarbeit
in Steuersachen und die Vermeidung von Doppelbesteue-
rung bei bestimmten Einkünften geschlossen, um die es
heute geht. Diese Abkommen sind nun auch mit Guernsey
und der Isle of Man auf dem Weg. Es geht also in der heu-
tigen Debatte auch um die Frage, ob wir mit diesem Weg
richtigliegen.
Zwei Ziele sind für uns Grüne dabei wichtig. Das erste
Ziel ist die Finanzmarktstabilität. Steueroasen sorgen für
instabile Finanzmärkte, weil Geldströme durch verschie-
dene Gesellschaften in Steuer- und Regulierungsoasen
verschleiert werden. Keine Finanzaufsicht kann gute Ar-
beit leisten, wenn wesentliche Transaktionen auf Off-
shore-Plätzen stattfinden.
Das zweite Ziel ist die Steuergerechtigkeit. Wenn Fi-
nanzströme verschleiert werden, dann ist Steuergerech-
tigkeit nicht zu erzielen, weil sich gerade die reichsten
und vermögendsten Menschen häufig der Steuerpflicht
Zu Protokoll gegebene Reden
entziehen. Gestern ist das bei der Anhörung im Finanz-
ausschuss sehr deutlich geworden. Offen werben auch
deutsche Banken von Steueroasen aus um das Geld auch
deutscher Kunden.
Wer diese zwei Ziele teilt, muss dem Steueroasen-Un-
wesen umfassend ein Ende bereiten. Kleinstverbesserun-
gen reichen nicht aus; sie können höchstens unter Beibe-
haltung des Oasenwesens partielle Verbesserungen in
einzelnen Steuerverfahren erreichen. Wir Grünen wollen
aber dem Steueroasen-Unwesen umfassend zu Leibe rü-
cken. Deshalb meinen wir: Deutschland darf sich nicht zu
früh mit kleinen Zugeständnissen aus den Oasenstaaten
zufriedengeben. Deswegen lehnen wir die vorliegenden
Abkommen als unzureichend ab.
Als ich zu Anfang der Legislaturperiode anfing, je-
weils den Tagesordnungspunkt Doppelbesteuerungsab-
kommen aufzurufen, da schien das vielen noch ein un-
wichtiges Thema. Heute stehen die Steueroasen auf der
Tagesordnung der Regierung weiter oben und damit na-
türlich auch die Abkommen, die wir mit anderen Staaten
in Bezug auf Doppelbesteuerung, Informationsaustausch
und andere steuerliche Sachverhalte schließen.
Damals schien die Befolgung der OECD-Standards
zum Informationsaustausch, die die sogenannte kleine
Auskunftsklausel vorsehen, noch ein wichtiger Fort-
schritt. Wenn man sich aber diese Auskunftsrechte ge-
nauer anschaut, dann muss man feststellen: Das reicht
bei weitem nicht aus. Die USA haben seit 2001 ein sol-
ches Abkommen mit Jersey und haben insgesamt in nur
vier Fällen Auskünfte auf der Grundlage dieses Abkom-
mens erhalten. In sieben Jahren vier Fälle? Das soll ein
relevanter Fortschritt sein und die Steueroase Jersey un-
schädlich machen? Ich glaube nicht, dass wir uns dieser
Illusion hingeben sollten. Jersey beruhigt denn auch seine
Kunden, dass man die neuen Informationsaustauschab-
kommen nicht zu fürchten brauche, sie kämen sowieso
nur in den seltensten Fällen zur Anwendung.
Der Kern des Problems ist, dass man als deutsche Fi-
nanzbehörde schon sehr viel wissen muss, um eine spezi-
fische, individualisierte Anfrage stellen zu können, wie
sie das Abkommen vorsieht; denn die verschiedenen
rechtlichen Konstruktionen verschleiern gezielt die Ei-
gentümer. Deswegen sollten wir uns nicht mit diesen mi-
nimalen Zugeständnissen zufriedengeben und auch nicht
ein Doppelbesteuerungsabkommen als Gegenstück zu
diesen unzureichenden Zugeständnissen von Jersey ab-
schließen.
Nötig ist ein automatischer Informationsaustausch für
Kapitalerträge in ganz Europa. Das muss auch mit Jersey
das Ziel sein. Die geringen Summen, die Jersey im Rah-
men der Quellenbesteuerung bislang überweist, zeigen,
dass die bisherigen Vereinbarungen, die denen mit der
Schweiz oder Liechtenstein entsprechen, völlig ungenü-
gend sind, um die Besteuerung deutscher Anlagegelder in
Jersey sicherzustellen. Jährlich sind bislang etwa
900 000 Euro überwiesen worden; das dürfte weit unter-
halb dessen liegen, was eigentlich erzielt werden müsste.
Deswegen unterstützen wir Grünen auch das Anliegen,
dass die europäische Zinssteuer-Richtlinie in drei Dimen-
sionen ausgeweitet wird: Geografisch müssen weitere
Länder einbezogen werden, es müssen neben Zinserträ-
gen alle Formen von Kapitalerträgen berücksichtigt wer-
den, und neben natürlichen Personen sollten auch juris-
tische Personen dieser Regelung unterworfen werden.
Ich will aber noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Wer es ernst meint im Kampf gegen das Oasenunwesen,
darf auch den Konflikt mit den Banken nicht scheuen.
Auch die deutschen Banken sind ziemlich aktiv in den
Steueroasen, und zwar gilt das nicht nur für die großen
Privatbanken, sondern auch für die DZ Bank aus dem ge-
nossenschaftlichen Sektor und die Landesbanken aus
dem öffentlich-rechtlichen Sektor. Meine Forderung ist
hier ganz klar: Neben dem Druck auf die Steueroasen,
den der Bundesfinanzminister ausübt, sollte er auch mal
Druck auf die deutschen Banken ausüben, die aktiv mit
dabei sind, wenn es darum geht, in Steueroasen intrans-
parente Geschäfte zu machen. Sehr bemerkenswert ist
auch, dass selbst einfache Fragen, zum Beispiel um wel-
che Art von Tochtergesellschaften es sich in Jersey han-
dele, vom Vertreter der Deutschen Bank bei der gestrigen
Anhörung nicht beantwortet wurden.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu
den Abkommen mit der Regierung von Jersey über
den Auskunftsaustausch in Steuersachen. Der Finanz-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a auf Druck-
sache 16/12449, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 16/12066 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen
der Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen an-
genommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der
Regierung von Jersey über die Zusammenarbeit in Steu-
ersachen und die Vermeidung der Doppelbesteuerung bei
bestimmten Einkünften. Der Finanzausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b auf Drucksache 16/12449, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12067
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die
Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, Ulrike
Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verankerung eines
umfassenden Schutzes vor Passivrauchen im
Arbeitsschutzgesetz
- Drucksache 16/10337 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 16/12351 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Carola
Reimann, Lothar Binding ({2}),
Dr. Margrit Spielmann und weiterer Abgeordneter
Effektiven Schutz vor Passivrauchen zügig
gesetzlich verankern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Birgitt Bender, Volker Beck ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirksamen Schutz vor Passivrauchen im öffentlichen Raum umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Bender, Dr. Harald Terpe, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundesweit einheitlichen Schutz vor Passivrauchen in Gaststätten verankern
- Drucksachen 16/2730, 16/2805, 16/10338,
16/12408 Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Eichhorn
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Connemann,
Eichhorn, Reimann, Volkmer, Parr, Bunge und Bender.
„Politik muss mit Taten und nicht nur mit Worten aufwarten.“ Mit diesen Worten beendete Frau Kollegin
Birgitt Bender am 18. Dezember 2008 ihre Rede. In der
damaligen ersten Lesung versuchte sie, die Anträge und
den Gesetzentwurf zu begründen, die von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Passivrauchen eingebracht worden sind. Sie versuchte es, aber es gelang
ihr nicht.
Denn nachdem sich ein Teil der Forderungen bereits
durch die Regelungen des Gesetzes zum Schutz vor den
Gefahren des Passivrauchens vom 27. Juli 2007 erledigt
hat, richtet sich das Augenmerk von Bündnis 90/Die Grünen nun noch auf den Bereich des Arbeitsschutzes. So soll
ein umfassendes Rauchverbot für alle Arbeitsstätten in
das Arbeitsschutzgesetz aufgenommen und im selben
Zuge § 5 Arbeitsstättenverordnung aufgehoben werden.
Nur wenn der Arbeitgeber durch technische Sicherungen
einen vollständigen Schutz anderer vor Passivrauch gewährleisten kann, sollen Ausnahmen für abgetrennte
Räume zulässig sein. Ja, Frau Kollegin Bender, es ist
richtig: Politik muss mit Taten und nicht nur mit Worten
aufwarten. Daran misst die Bevölkerung zu Recht unser
aller Handeln. Der Politik wird in Gänze der Vorwurf gemacht, nur zu häufig Sonntagsreden zu halten, dem kein
Montagshandeln folgt. Darunter leiden wir alle. Denn es
geht um die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse in
Gänze, um die es nicht gut bestellt ist.
Eine Ursache für diese Partei- und Politikverdrossenheit sind Anträge und Gesetzentwürfe wie Ihre. Um große
Worte sind Sie, meine Damen und Herren von
Bündnis 90/Die Grünen, darin nicht verlegen. Aber es
sind Worte, denen keine Taten folgen - können. Die Betonung liegt auf „können“. Denn Sie fordern eine Gesetzesänderung, für die uns als Bund die Rechtsetzungskompetenz fehlt. Das wissen Sie genau, meine Damen und
Herren von Bündnis 90/Die Grünen. Denn Ihnen ist bekannt, dass ein umfassendes Rauchverbot für alle Arbeitsstätten auch und insbesondere Gaststätten betreffen
würde. Die Gesetzgebungszuständigkeit für das Gaststättenrecht steht aber seit der Föderalismusreform im Jahre
2006 den Ländern zu. Seitdem hat der Bund nur noch eine
eingeschränkte Rechtsetzungskompetenz im Arbeitsschutz. Dem Bund ist es deshalb rechtlich nicht möglich,
dritte Personen in Arbeitsstätten vor den Gefahren des
Passivrauchens durch eine entsprechende Regelung in
der Arbeitsstättenverordnung bundesweit einheitlich zu
schützen. Dies war das Ergebnis von Rechtsprüfungen im
Rahmen der Beratungen zum Gesetz Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens. In diesem Rahmen wurde
schon damals auch geprüft, ob der Bund zu einer Streichung des § 5 Abs. 2 Arbeitsstättenordnung befugt sei,
wie sie von Ihnen, meine Damen und Herren von
Bündnis 90/Die Grünen, gefordert wird. Nach dieser Vorschrift hat der Arbeitgeber in Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr Nichtraucherschutzmaßnahmen nur insoweit zu treffen, als die Natur des Betriebes und die Art der
Beschäftigung es zulassen. Damit wird insbesondere den
Betreibern von Ein-Raum-Gaststätten erlaubt, auch weniger einschneidende Maßnahmen zum Schutz ihrer Beschäftigten zu treffen. Die verfassungsrechtlichen Prüfungen ergaben seinerzeit, dass mit einer solchen
Streichung die Regelungskompetenz der Länder verletzt
würde. Nur wenn alle Länder sich gemeinsam für ein einheitliches und umfassendes Rauchverbot in Gaststätten
entscheiden würden, käme eine Streichung dieser Vorschrift in Betracht. Bis dahin ist es Sache der Länder, in
der Frage des Nichtraucherschutzes eine Regelung zu
treffen, die auch zugunsten der Beschäftigten wirkt.
Dies ist sicherlich unbefriedigend. Denn die Gefahren
des Passivrauchens sind unbestritten. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Passivrauchen das Risiko für chronische Erkrankungen mit gegebenenfalls tödlichem
Ausgang erhöht. Deshalb hat ja auch der Deutsche Bundestag im Mai 2007 reagiert und das Gesetz zum Schutz
vor den Gefahren des Passivrauchens verabschiedet. In
diesem Rahmen wurde § 5 Abs. 1 Arbeitsstättenverordnung, der den Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz regelt,
um folgende Regelung erweitert: „Soweit erforderlich,
hat der Arbeitgeber ein allgemeines oder auf einzelne Be23286
reiche der Arbeitsstätten beschränktes Rauchverbot zu
erlassen.“
Die Länder haben demgegenüber sehr unterschiedliche Regelungen in ihren jeweiligen Nichtraucherschutzgesetzen getroffen. Noch einmal: Dies ist unbefriedigend.
Denn damit gleicht die deutsche Nichtraucherschutzlandschaft einem Flickenteppich. Was im einen Land
erlaubt ist, ist im anderen verboten. Aber genau diese Unterschiedlichkeit ist Ergebnis der föderalen Struktur und
der Verantwortung der Länder für die Gaststättengesetzgebung. Diese dürfen wir durch konkurrierendes Bundesrecht nicht unterlaufen oder uns damit in Konflikt setzen,
so wünschenswert es auch wäre, aus dem Flickenteppich
ein Ganzes zu machen. Aber der Zweck heiligt eben nicht
die Mittel.
Es gibt aber auch inhaltliche Bedenken. Denn von der
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gewünschten
Neuregelung wären nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen, sondern im Falle von Alten- und
Pflegeheimen oder Heimen für behinderte Menschen, die
ja ebenfalls Betriebe sind, auch deren Bewohner. Diese
Arbeitsstätten sind aber gleichzeitig Wohnstätten. Ich
habe bereits in der ersten Lesung darauf hingewiesen,
wiederhole es aber angesichts der Bedeutung. Die Situation der Bewohner von solchen Einrichtungen würde sich
mit einer Umsetzung des vorliegenden Gesetzesentwurfes
einschneidend ändern. Eine Umsetzung des Rauchverbots auf alle Arbeitsstätten hätte zur Folge, dass ältere,
pflegebedürftige, behinderte Menschen in ihrem Privatbereich nicht mehr rauchen dürften. Es muss hier einen
Spielraum geben, welche Schutzmaßnahme im Einzelfall
angemessen ist. Diesen geben Gesetzentwurf und Anträge
von Bündnis 90/Die Grünen nicht.
Wegen dieser rechtlichen und inhaltlichen Bedenken
lehnen wir diese ebenso ab wie den Antrag einiger Abgeordneter unter der Überschrift „Effektiver Schutz vor
Passivrauchen zügig gesetzlich verankern“. Denn der
dort geforderte Gesundheitsschutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird schon heute von der Arbeitsstättenverordnung vorgeschrieben. Nach § 5 Abs. 1
Satz 1 ist der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen
Maßnahmen zu treffen, damit die nicht rauchenden Beschäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch geschützt sind, gegebenenfalls auch durch ein Rauchverbot. Hinsichtlich der
Wahl der konkreten Maßnahmen innerhalb des Betriebes
lässt die Vorschrift aber dem Arbeitgeber und den Betriebs- und Personalräten Regelungsspielraum, der angesichts der Vielgestaltigkeit der betrieblichen Verhältnisse notwendig ist.
Deshalb werden wir den vorliegenden Gesetzesentwurf und alle weiter vorgelegten Anträge ablehnen.
Rauchen und Passivrauchen sind das größte Gesundheitsrisiko für Atemwegs-, Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen in Deutschland. Dies ist unbestritten. Das
Deutsche Krebsforschungszentrum geht davon aus, dass in
Deutschland jährlich bis zu 140 000 Menschen an den Folgen des Rauchens sterben, mindestens 3 300 allein durch
das Passivrauchen. Die durch das Rauchen verursachten
Gesundheitskosten betragen rund 17 Milliarden Euro.
Die freiwilligen Vereinbarungen mit dem Deutschen
Hotel- und Gaststättenverband haben nicht zu Verbesserungen des Nichtraucherschutzes geführt. Daher war es
folgerichtig, gesetzlich tätig zu werden. Der Bund hat in
dieser Legislaturperiode gesetzliche Regelungen in seinem
Kompetenzbereich getroffen.
Bereits im Jahr 2006 trat das Gesetz zur Änderung des
Vorläufigen Tabakgesetzes in Kraft. Das Gesetz umfasst
ein Werbe- und Sponsoringverbot in Hörfunk, Presse und
gedruckten Veröffentlichungen. Es regelt außerdem ein
Verbot des Sponsorings von Hörfunk und Veranstaltungen
durch Tabakfirmen. Daneben enthält es ein Verbot, Tabakerzeugnisse kostenlos zu verteilen.
Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zum Schutz vor den
Gefahren des Passivrauchens im Jahr 2007 hat der Bund
den Nichtraucherschutz dort geregelt, wo er zuständig ist.
Alle Einrichtungen des Bundes sowie der Verfassungsorgane des Bundes, die Verkehrsmittel des öffentlichen
Personenverkehrs und Personenbahnhöfe der öffentlichen Eisenbahnen sind seitdem rauchfrei. Das Gesetz
beinhaltet außerdem die Anhebung der Altersgrenze für
den Erwerb und Konsum von Zigaretten auf 18 Jahre. Ab
1. Januar 2009 dürfen Zigaretten an Automaten erst an
Volljährige abgegeben werden.
Damit ist die Regelungskompetenz des Bundes ausgeschöpft. Die Zuständigkeit für landeseigene Einrichtungen
und die Gastronomie liegt bei den Ländern. Diese sind bereits tätig geworden und haben Nichtraucherschutzgesetze
für die Bereiche verabschiedet, für die sie zuständig sind.
Auch wenn es im Bereich der Gaststätten noch Nachbesserungsbedarf gibt, so haben doch all die genannten
Maßnahmen dazu beigetragen, dass die Menschen in unserem Land heute besser denn je vor dem gefährlichen
Tabakrauch geschützt sind.
Die vorliegenden Anträge und der Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielen darauf ab, die gesetzlichen Regelungen zu Rauchverboten in öffentlichen
Einrichtungen und in den Gaststätten zu überarbeiten.
Das Arbeitsschutzgesetz soll nach Vorstellung von Bündnis 90/Die Grünen im Sinne eines umfassenden Gesundheitsschutzes für Arbeitnehmer überarbeitet werden.
§ 5 der Arbeitsstättenverordnung gewährleistet einen
Gesundheitsschutz für Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber hat
die Aufgabe, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen,
um die nicht rauchenden Beschäftigten wirksam vor dem
Tabakrauch zu schützen. In Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr muss der Arbeitgeber die Schutzmaßnahmen jedoch nur insoweit treffen, wie es die Natur des Betriebes
zulässt.
Die Streichung dieses Absatzes, wie die Grünen es
fordern, würde nicht in Kneipen gelten, die vom Inhaber
alleine beziehungsweise von seinen Angehörigen mit
geführt werden. Außerdem wären durch eine solche Regelung nur die Arbeitnehmer geschützt, nicht aber die
Gäste. Für sie sind nach der Föderalismusreform die
Länder über das Gaststättenrecht zuständig. Dies ist von
Zu Protokoll gegebene Reden
Vertretern des Justizministeriums, des Innenministeriums
und des Arbeitsministeriums übereinstimmend bereits am
15. Januar 2007 bei einer Anhörung des Petitionsausschusses des Bundestages festgestellt worden. Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, den Schutz vor Passivrauch über das Arbeitsschutzgesetz bundeseinheitlich zu
regeln, geht demnach an der Realität vorbei.
Eine klare Regelung ist nur über das Gaststättenrecht
möglich, dies liegt in der Hand der Länder. Hier wäre eine
einheitliche Regelung sinnvoll, um die Menschen überall in
Deutschland gleichermaßen vor den Gefahren des Tabakrauches zu schützen. Im Urteil vom 30. Juli 2008 hat das
Bundesverfassungsgericht ganz klar herausgestellt, dass
auch ein ausnahmsloses Rauchverbot in Gaststätten zum
Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens verfassungsgemäß ist. Es sei zudem gerecht, da für alle gastronomischen Einrichtungen und Kneipen dann die gleichen gesetzlichen Bestimmungen gelten würden.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesländer
daher aufgefordert, bis zum 31. Dezember 2009 ihre Gesetze zum Rauchverbot neu zu fassen und gerecht für alle
Beteiligten zu gestalten. Diese Chance muss von den Ländern ergriffen werden, um eine einheitliche Gesetzeslage
zu schaffen. Nur so kann Rechtssicherheit und Klarheit
geschaffen werden. Notwendig sind klare Regelungen.
Jede Ausnahmeregelung führt zu einer unübersichtlichen
Rechtslage und zur Benachteiligung betroffener Gruppen.
Mehrere repräsentative Umfragen des Deutschen
Krebsforschungszentrums haben ergeben, dass es bei der
Bevölkerung eine große Zustimmung für einen umfassenden
Nichtraucherschutz gibt. Weiterhin wünschen sich die
Menschen eine für alle Bundesländer einheitliche Gesetzgebung. Die Meinung der Bevölkerung muss in den Neufassungen der Gesetze Berücksichtigung finden.
Der Blick ins europäische Ausland zeigt: Nur mit einem
absoluten Rauchverbot kann letztlich das vorrangige Ziel
des Gesundheitsschutzes realisiert und gewährleistet werden. So wird die strikte italienische Regelung von 80 Prozent der Bevölkerung befürwortet und ist erfolgreich im
Sinne des Gesundheitsschutzes. Bereits fünf Monate nach
Inkrafttreten des Nichtraucherschutzgesetzes ist der Verkauf von Zigaretten um 13 Prozent zurückgegangen. Es
ist zu erwarten, dass sich dieser positive Trend auch in
Deutschland durchsetzt, wenn ausnahmslose Rauchverbote bundesweit eingeführt werden.
Der Bund kann nach Aussage verschiedener Ministerien diese Regelungen jedoch nicht treffen. Es liegt an den
Bundesländern, ihre Bürger in allen öffentlichen Räumen
zu schützen.
Unser Gruppenantrag war die Initialzündung für eine
Diskussion in Bund und Land, die jetzt nach der Föderalismuskommission I und dem Gaststättenrecht in Länderhand dazu geführt hat, dass wir verschiedenste Regelungen in Bundesländern im Bereich der Gaststätten haben.
Dies führt immer wieder zu Diskussionen. Gesundheitspolitisch ist dies keine ideale Lösung. Deswegen haben
wir ab 1. September 2007 geltende konsequente Regelungen zum Nichtraucherschutz für öffentliche Gebäude, für
die der Bund zuständig ist, auf Bundesebene erlassen, die
ohne jede Diskussion heute große allgemeine Akzeptanz
genießen.
Jetzt liegt aus der Anfangszeit der Diskussion um den
Nichtraucherschutz noch ein Antrag der Grünen vor. Diesen lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt ab, denn nach dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Sommer
2008 haben die Bundesländer noch bis zum Ende dieses
Jahres Zeit, ihre einzelnen Gesetze zum Schutz vor dem
Passivrauchen zu überarbeiten. Ich plädiere deshalb dafür, abzuwarten, ob die Länder ihre Hausaufgaben machen und in dem Prozess eine dem Nichtraucherschutz
dienliche, einheitliche Linie finden. Sollte dies allerdings
nicht gelingen, wonach es im Moment aussieht, müssen
wir prüfen, ob ein bundeseinheitliches Vorgehen doch
möglich ist. Mit einem Flickenteppich von 16 unterschiedlichen Nichtraucherschutzgesetzen ist niemandem
gedient.
Eine Bundesregelung könnte über den Arbeitsschutz
getroffen werden. Nach der intensiven Diskussion der
vergangenen Monate favorisiere ich diesen Weg jedoch
nicht mehr, da sich gezeigt hat, dass auch dieser Ansatz
Lücken aufweist. Denn die so geregelten Rauchverbote
gelten nur für Lokale mit Angestellten, reine Familienbetriebe bleiben außen vor. Wer keine Bedienungen oder
Putzfrauen angestellt hat, dem kann man dann auf dieser
Basis kein Rauchverbot vorschreiben. Deshalb halte ich
eine Variante, zu der die Verfassungsrichter in ihrem Urteil einen Hinweis gegeben haben, für sinnvoller, nämlich
eine bundeseinheitliche Regelung mit dem Gesundheitsschutz zu rechtfertigen. Dies wäre über § 74 des Grundgesetzes möglich, welcher erlaubt, Maßnahmen gegen
gemeingefährliche Krankheiten zu ergreifen.
Falls die Länder die ihnen zur Verfügung bleibende
Zeit nicht sinnvoll nutzen, muss das Problem bundeseinheitlich gesetzlich geregelt werden. Denn es geht nicht
einfach nur um eine unangenehme Belästigung der Nichtraucher, sondern um eine eindeutig nachgewiesene Gesundheitsgefahr. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass
Passivrauchen das Risiko für chronische Erkrankungen
erhöht, die tödlich enden können. Ein Blick in die wissenschaftlichen Publikationen zeigt: Wir reden hier nicht nur
von Augenbrennen, sondern von Herzerkrankungen,
Schlaganfällen und Lungenkrebs! Bei Erwachsenen führt
Passivrauchen unter anderem zu einem um 24 Prozent erhöhten Risiko für Lungenkrebs und einem um 25 Prozent
erhöhten Risiko für koronare Herzerkrankungen. Laut einer Studie des Deutschen Krebsforschungszentrums sterben in Deutschland jährlich circa 3 300 Personen, weil
sie Passivrauch ausgesetzt sind. Konsequente Rauchverbote sind das einzig probate Mittel gegen diese völlig unnötigen Todesfälle.
Inzwischen haben sich auch erste Studien mit den gesundheitlichen Auswirkungen eines Rauchverbots in öffentlichen Räumen auf die Bevölkerungsebene befasst. In
diesen Studien wurden Herzinfarktraten in der Bevölkerung auf Basis von Daten zu Krankenhauseinweisungen
und Krankenhausdiagnosen vor und nach Einführung eines Rauchverbots in öffentlichen Räumen verglichen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bisher publizierte Studien aus Italien und den USA zeigen
eine deutliche Verringerung der Herzinfarktraten von
8 bis 19 Prozent.
Passivrauchen verursacht immens negative gesundheitliche Wirkungen. Rauchverbote zeigen überaus positive Effekte. Zudem sprechen sich 75 Prozent der Bürger
für einen strikten Nichtraucherschutz aus. Deshalb sind
jetzt die Bundesländer gefordert, verantwortungsvoll zu
handeln. Wenn sie bis Ende 2009 keine zufriedenstellenden Nichtrauchergesetzgebungen vorweisen können,
werden wir prüfen, wie wir den Nichtraucherschutz bundeseinheitlich regeln können.
Mit dem Bundesnichtraucherschutzgesetz ist ein großer Schritt in Richtung rauchfreie Luft und damit für den
Gesundheitsschutz getan worden. Im Gesetz wurden Regelungen zum Nichtraucherschutz in Bundesbehörden
und öffentlichen Verkehrsmitteln getroffen.
Die Rauchfreiheit in diesen Bereichen ist eine deutliche Verbesserung. Der Bundesgesetzgeber hat klar gemacht, dass Nichtrauchen das Normale ist und es auf
rauchfreie Luft einen Rechtsanspruch gibt.
Nach der Föderalismusreform liegt das Gaststättenrecht leider in der Zuständigkeit der Länder. Ihnen oblag
es nun, für ihre Behörden und für die Gaststätten Regelungen zu treffen. Die Verabredung von Eckpunkten gab
Anlass zur Hoffnung, ein Flickenteppich unterschiedlicher Regelungen könnte vermieden werden. In den konkreten Gesetzgebungsverfahren wurde diese jedoch enttäuscht. Alle Länder haben Ausnahmen vom Rauchverbot
zugelassen, die wegen der damit verbundenen Ungleichbehandlung Anlass zu Klagen gaben.
Die Gerichte haben diesen Klagen zum Teil stattgegeben. Insbesondere das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat bestätigt, dass solche Ausnahmen - je nach
Ausgestaltung - unzulässige Ungleichbehandlungen darstellen können. Das heißt aber nicht, dass das Rauchverbot unzulässig ist, sondern es eben die Ausnahmen davon
sind.
Für mich ist deshalb der Teil der Urteilsbegründung
von größter Bedeutung, der bestätigt, dass der Staat den
Gesundheitsschutz höher ansiedeln darf als die Freiheit
der Berufsausübung und die Handlungsfreiheit der Rauchenden. Ein generelles Rauchverbot ohne Ausnahmen
wäre deshalb zulässig.
In seinem Minderheitenvotum formuliert Bundesverfassungsrichter Bryde deutlich, was in der Urteilsbegründung nur zwischen den Zeilen zum Ausdruck kommt: Es
gibt eine Kompetenz des Bundes zur Regelung genereller
Rauchverbote.
Das Bundesverfassungsgericht ist in dieser Frage der
Diskussion in den Parlamenten voraus. Unser Ziel muss
es sein, diesen Vorsprung aufzuholen.
Die Bundesländer sind aufgefordert, die Ungleichbehandlung ihrer Gastronomen aufzuheben. Wir appellieren an die Bundesländer, einen generellen Nichtraucherschutz in der Gastronomie gesetzlich zu verankern.
Sollten die Länder allerdings den Nichtraucherschutz
weiter aushöhlen, indem sie zum Beispiel den Gastwirten
in Einraumgaststätten anheimstellen, das Rauchen zu gestatten, ist der Bundestag gefordert. Im Interesse des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung müssten wir in der
nächsten Legislaturperiode eine bundeseinheitliche Regelung treffen. Mögliche Wege dazu hat das Bundesverfassungsgericht aufgezeigt.
Bereits kurz vor Weihnachten haben wir uns mit der
Frage beschäftigt, ob der Bund ein umfassendes Rauchverbot in Gaststätten über die Arbeitsstättenverordnung
beschließen sollte. Seit Dezember hat sich die Lage in
Deutschland aus liberaler Sicht verbessert - und den Gesetzesentwurf obsolet gemacht.
Im Sommer 2008 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass eine Überarbeitung der Nichtraucherschutzgesetze nötig war. Die Bundesländer wurden aufgefordert,
ihre Gesetze unter Beachtung der Eigenverantwortung
der Bürger und ihrer freiheitlichen Rechte zu überarbeiten. Die Richter haben treffend erkannt, dass ein umfassender Nichtraucherschutz auch dann gewährleistet werden kann, wenn Ausnahmen möglich sind.
Die meisten Bundesländer nutzen die Möglichkeit,
sich für ein weniger strenges Rauchverbot zu entscheiden. Ausnahmen sind ausdrücklich zugelassen. Während
sich Ende 2008 viele Länder noch in der Ausarbeitung ihrer Gesetze befanden, sind wir bereits einige Monate später einen Schritt weiter. In Bayern, NRW, Brandenburg
und Rheinland-Pfalz werden die novellierten Gesetze gerade den Parlamenten zugeleitet oder dort in den Ausschüssen diskutiert. Nach der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes müssen die Novellierungen bis zum
31. Dezember 2009 abgeschlossen sein. Wir befinden uns
voll im Zeitplan, es besteht kein Druck, über den Bund zusätzliche Regelungen zu treffen. Und wir befinden uns
nicht im rechtsfreien Raum: Für die Übergangsphase bis
Ende des Jahres haben die Richter klare Vorgaben gemacht.
Die Grünen versuchen mit ihrer Initiative, diesen Prozess zu torpedieren und an anderer Stelle eine Überregulierung zu erzwingen. Wie ich bereits am 18. Dezember
erklärte, möchte ich das Augenmerk auf die Arbeitsplätze
in der Gastronomie richten. Die meisten Bundesländer
haben sich entschieden, Ausnahmeregelungen in der
Gastronomie zuzulassen. Diese Position teilt im Übrigen
auch die Bevölkerung. Die meisten Bürgerinnen und Bürgen wollen kein Totalverbot. In seiner abweichenden
Meinung erklärt der Verfassungsrichter Johannes
Masing, dass ein vollständiges Rauchverbot nicht verhältnismäßig ist, sondern eine Bevormundung der Bürger
darstellt. Was richtig ist, bleibt richtig.
Zurück zu den Arbeitsplätzen in der Gastronomie: Seit
Oktober 2002 ist in § 5 der Arbeitsstättenverordnung
({0}) der Schutz des Arbeitnehmers vor Passivrauchen geregelt. § 5 ArbStättV statuiert kein generelles
Rauchverbot in Arbeitsräumen, sondern verpflichtet den
Arbeitgeber, nichtrauchende Beschäftigte zu schützen.
Die Arbeitgeber haben somit die Aufgabe, im Rahmen eiZu Protokoll gegebene Reden
ner Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln, ob und in welchem Umfang die Beschäftigten in ihrer Gesundheit gefährdet werden oder sein könnten. Darunter fällt auch der
Schutz vor Passivrauchen. Dem Arbeitgeber wird ein Ermessensspielraum zugebilligt, der unternehmerische Aspekte wie Kosten, das zahlenmäßige Verhältnis von Rauchern und Nichtrauchern im Betrieb sowie Fragen der
Branchenüblichkeit berücksichtigt. Fazit: Die vorliegenden Regelungen sind umfassend, eine weitere Regulierung durch den Bund ist überflüssig. Eigenverantwortung
kann gelebt werden. Staatliche Gängelung brauchen wir
nicht.
Trotzdem werden immer wieder Rufe nach einer Verschärfung der Arbeitsstättenverordnung, ArbStättV,
durch den Bund laut, obwohl die geltenden Regelungen
bereits heute im Einklang mit dem WHO-Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakkonsums stehen.
Jetzt sowohl das Arbeitsschutzgesetz sowie die Arbeitsstättenverordnung grundlegend zu ändern, um vor Passivrauchen am Arbeitsplatz zu schützen, ist weit über das
Ziel hinausgeschossen.
Auch auf europäischer Ebene gibt es immer wieder
vereinzelt Versuche, eine umfassende Regulierung beim
Rauchen zu erreichen. Nach wie vor verfügt die Europäische Union mit gutem Grund allerdings nicht über
eine allumfassende Gesetzgebungskompetenz und kann
kein generelles Rauchverbot erlassen. Auch die EU-Vertragsbestimmungen in den Bereichen Gesundheits-, Verbraucher- oder Arbeitnehmerschutz sehen ein solches
Verbot nicht vor. Es ist lediglich möglich, dass die EU
flankierende Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder in Ergänzung der bereits ergriffenen Maßnahmen der Mitgliedstaaten zum Gesundheitsschutz durchführt. Ob und wann die EU eine solche Initiative ins
Leben rufen wird, ist ungewiss, zumal auch in Brüssel und
Straßburg Wahlkampf angesagt ist. Ende Oktober 2008
hatte der Kommissar für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten Vladimir Spidla, Tschechien, einen Vorstoß
zum Rauchverbot gewagt. In gemeinsamer Sache mit der
Kommissarin für Gesundheit Androulla Vassiliou,
Zypern, soll es eine Initiative zur Einführung eines europaweiten Rauchverbots am Arbeitsplatz geben. Der Vorstoß von Kommissar Spidla kam nicht wirklich gut an. Ein
EU-weites Rauchverbot käme einer Aushebelung des
Subsidiaritätsprinzips gleich und verursachte zu Recht
heftige Reaktionen. Ende Januar 2009 hat Vladimir
Spidla sich erneut für ein Rauchverbot an allen Arbeitsplätzen ausgesprochen. Konkret liegt auch heute noch
nichts auf dem Tisch. Laut einer Antwort der Gesundheitskommissarin Vassiliou vom 3. März 2009 auf eine
Frage des österreichischen EU-Abgeordneten Andreas
Mölzer erwägt die Kommission derzeit, „einen Vorschlag
für eine Empfehlung des Rates vorzulegen, um die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, umfassende Rauchverbote gemäß ihrer Verpflichtungen aus dem FCTC zu
beschließen und einzuführen.“ Ein konkreter Entwurf ist
aber Sache der neuen Kommission, die erst Ende des Jahres ins Amt kommt. Fraglich ist nach wie vor, ob der Kommission entsprechende rechtliche Mittel überhaupt zur
Verfügung stehen: Der Erlass einer Verordnung, die unmittelbar in nationales Recht umgesetzt werden müsste,
ist europarechtlich nicht begründbar. Zudem wäre die Erarbeitung einer neuen Richtlinie sehr umstritten, da
ebenfalls keine eindeutige rechtliche Grundlage besteht.
Zum jetzigen Zeitpunkt eine erneute Regelung durchzudrücken, solange noch nicht mal die Vorgaben für die
aktuell gültigen Gesetze überarbeitet sind, ist weder sinnvoll noch effizient, gleichgültig, ob es sich um den Bund
oder die EU-Kommission handelt.
Ich hoffe, dass dieser Aktionismus nicht durch Erfolg
gekrönt wird. Die Grünen sollten sich an die Regelungen
halten, die sie in den mitregierten Ländern unterstützen:
In Bremen haben sich die Grünen zusammen mit SPD,
CDU und FDP für eine liberale Lösung eingesetzt.
Das Versagen der Bundesregierung beim Schutz vor
Passivrauchen insbesondere in Gaststätten ist ein Lehrstück mangelnden politischen Willens und/oder Könnens.
Es ist ein markantes Beispiel einer Politik, die keine Verantwortung für unbequeme Entscheidungen übernehmen
will, aber trotzdem Entscheidungen ankündigt, die sie
aber in Wirklichkeit nie treffen oder durchsetzen will.
Wie steht es derzeit mit der Gesetzgebung? Das Wort
Flickenteppich hat vermutlich selten besser gepasst als
bei den Regelungen zum Schutz vor dem Gefahrenstoff
Rauch. Statt einer einheitlichen Regelung, die es allen
Bürgerinnen und Bürgern, über kurz oder lang, deutlich
leichter machen würde, sich damit zu identifizieren oder
sie auch nur zu akzeptieren, haben wir nun 16 verschiedenen Regelungen in den Bundesländern. Und daran
trägt diese Bundesregierung großen Anteil. Eine klare,
wenn auch strikte Regelung hätte viel weniger Widerstand und Aufruhr erzeugt. An dieser Stelle wird oft zu
Recht auf die Einführung des Sicherheitsgurtes hingewiesen. Vor Einführung gab es große Skepsis und Ablehnung.
Jahre später waren diese fast völlig verschwunden. Das
Sein bestimmt eben auch das Bewusstsein. Das, was die
Bundesregierung beim Schutz vor Passivrauchen in der
Gastronomie mit zu verantworten hat, schafft aber höchstens Bewusstseinsstörungen.
Letztlich haben wir es in der Gastronomie mit drei
Gruppen von passivrauchenden Personen zu tun: mit
Gästen - Erwachsenen wie Kindern - , mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und mit Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern. Betrachten wir diese drei Gruppen, müssen wir feststellen, dass die Gäste noch am ehesten die
freie Wahl und Möglichkeit haben, dem Passivrauchen
auszuweichen. Besonders Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können dies aber nicht, ohne ihren Arbeitsplatz aufzugeben. Letzteres zu fordern wäre zynisch. Daher muss besonders ihnen der größtmögliche Schutz vor
dem gefährlichen Passivrauchen ermöglicht werden.
Dieser Schutz ist in einem von SPD-Abgeordneten
initiierten Antrag vom September 2006 gefordert worden.
In dem Antrag wird der Bundestag aufgefordert - ich zitiere -, „Einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen, welcher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft an allen Arbeitplätzen ({0}) ausnahmslos vor Passivrauchen schützt“. Die SPD-Abgeordneten haben in der
Zu Protokoll gegebene Reden
letzen Woche diesem Antrag im Gesundheitsausschuss
nicht zugestimmt. Vermutlich wird das auch die Fraktion
heute nicht tun. Ich frage mich da, ob die SPD-Abgeordneten auch von der bereits benannten Bewusstseinsstörung erfasst wurden oder ob es ihnen nur an Durchsetzungsvermögen gegenüber der CDU/CSU fehlt.
Dem Antrag der Grünen, die sich bemüht haben, über
Veränderungen im Arbeitsschutzgesetz und in der Arbeitsstättenverordnung einen Weg aufzuzeigen, wie der
Arbeitsschutz an allen Arbeitsplätzen verankert werden
kann, tritt die SPD entgegen, indem sie sich auf mögliche
verfassungsrechtliche Bedenken zurückzieht. Die CSU
meint gar, die Regelung würde nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützen, nicht die Gäste. Als ob in
der Gastronomie die Bedienung und der Gast sich nicht
in den gleichen Räumen aufhalten würden! Die CDU
meint, der Antrag wolle nur vernebeln, dass eben nicht
nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen sind,
sondern eben auch Gäste, und versucht daraus irgendwelche Gründe zur Ablehnung des Antrags zu konstruieren. Und ich sage Ihnen dazu gleich: Ja, auch in privaten
Räumen, beispielsweise in der ambulanten Pflege müssen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Passivrauchen
geschützt werden. Es kann nicht angehen, dass der
Wunsch zu rauchen des einen über den Wunsch nach Gesundheitsschutz des anderen gestellt wird. Von der FDP
ist in dieser Frage eh nichts zu erwarten. Für die Gesundheit ist für sie jeder selbst verantwortlich, daher seien Regelungen zum Gesundheitsschutz grundsätzlich unnötig.
Hier lautet die Devise: Wir warten beim Passivrauchen
gerne bis zum Sanktnimmerleinstag.
Ich halte alle diese Gründe nur für vorgeschoben und
widersprüchlich. Das eigentliche Problem ist doch, dass
weder die CDU/CSU, die SPD noch die FDP an einem
wirklichen wirksamen Schutz vor Passivrauchen bei den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Gastronomiebereich interessiert sind. Dann sollen sie aber auch klar
sagen, dass sie es richtig finden, dass zahlreiche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Arbeitsplätzen beschäftigt sind, an denen sie tagtäglich Passivrauchen und
damit erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt
sind. Ich frage mich allerdings, warum der Schutz vor
Passivrauchen dann an anderen Arbeitsplätzen durchgesetzt wurde. Oder ist nur die Gesundheitsgefährdung von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Gastronomie in Ordnung, während andere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer selbstverständlich zu schützen sind? Wenn
wenigstens die Interessen der Gastronomen dabei eine
Rolle spielen würde, aber wie heißt es in dem eigenen Antrag der SPD-Abgeordneten so schön: Es ist wissenschaftlich belegt, dass eine rauchfreie Gastronomie zu
Umsatzsteigerungen, nicht zu Umsatzminderungen geführt hat. Und die Praxis zeigt dies auch sehr gegenwärtig bei uns in den Bundesländern, wo der Schutz vor Passivrauchen in der Gastronomie einigermaßen konsequent
umgesetzt wird.
Ich denke, jedem in diesem Hause ist klar, dass der
wirksame Schutz vor Passivrauchen in der Gastronomie
auf Dauer nur Gewinne und Gewinner bringen wird. Um
diese Erkenntnis umzusetzen, braucht es nur den Willen
und den Mut, vernünftige Politik um- und durchzusetzen.
Von beidem sind die Regierung und die FDP weit entfernt.
Wir reden heute über den Schutz vor Passivrauchen.
Kein neues Thema, aber eines, das der Sache nach nicht
erledigt ist. Denn der Flickenteppich der Regelungen für
die Gaststätten, den wir bundesweit vorfinden, kann nicht
zufriedenstellen - uns Grüne jedenfalls nicht. Andere, die
einst mit großem Elan in die Debatte gingen, haben inzwi-
schen kapituliert. Oder, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, sollen wir etwa annehmen, dass es Ihnen
von vorneherein nur um verbale Entschlossenheit ging,
das Ergebnis aber zweitrangig war? Jedenfalls war es ein
trauriger Anblick, als im Gesundheitsausschuss alle an-
wesenden SPD-Mitglieder sich bei ihrem eigenen Antrag
mit der Forderung zum Nichtraucherschutz im Arbeits-
schutz enthielten. Ist das politische Entschlossenheit auf
sozialdemokratisch?
Wir Grünen haben seit 2006 mehrere konkrete Vor-
schläge in den Bundestag eingebracht, zuletzt unseren
Gesetzentwurf „Verankerung eines umfassenden Schut-
zes vor Passivrauchen im Arbeitsschutzgesetz“, der in
der Zielrichtung mit dem Gruppenantrag von Carola
Reimann und anderen übereinstimmt. Eine umfassende
Regelung im Arbeitsschutz hätte den Vorteil, dass alle Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer - auch die in der
Gastronomie - profitieren, und das wäre schon die halbe
Miete für rauchfreie Lokale. Oder sollen wir es vielleicht
gut finden, dass jetzt für die Kneipe in Mannheim andere
Regelungen gelten als in Ludwigshafen? Der Rhein trennt
zwar Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, aber die
Menschen auf beiden Seiten des Flusses verdienen den
gleichen Schutz vor Passivrauchen.
Und für die, die es vergessen oder verdrängt haben, sei
an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erinnert.
Rauchverbote in Gaststätten sind ohne Ausnahme mög-
lich! Mit dem derzeitigen Regelungsgewirr erzeugt man
doch erst den Widerstand der Bürgerinnen und Bürger,
auf den sich andere dann berufen. CDU/CSU und FDP
waren in diesen Debatten für einen konsequenten Schutz
vor Passivrauchen schon immer die absoluten Bremser
und verkauften dies als Freiheit. Dass die Freiheit auch
Grenzen hat, wo sie der Gesundheit der anderen schadet,
blieb außen vor. Aber auch das SPD-geführte Arbeitsmi-
nisterium zog kräftig mit am Bremshebel. Ich sage Ihnen:
Freiheit hat ihre Grenzen, wo sie der Gesundheit der an-
deren schadet! Aber die FDP lernt nie dazu: „Freie Fahrt
für freie Bürger“ - auch da bleiben der CO2-Ausstoß, die
Klimaschädigung oder die Verkehrstoten außen vor.
„Freier Qualm für freie Raucher“ lautet das Motto für
den Schutzzaun um die Raucherinnen und Raucher. Die
Mehrheit, die unter dem Qualm leidet, ist nicht im Blick.
Bei der FDP ist die Freiheit in schlechten Händen!
Wenn wir zum Ende dieser Legislaturperiode Bilanz
ziehen, dann haben wir erreicht, dass die öffentlichen Ge-
bäude und die öffentlichen Verkehrsmittel ebenso wie der
Bundestag größtenteils rauchfrei sind. Mich stört dabei
nicht, dass es die Möglichkeit gibt, Raucherräume einzu-
richten. Dies habe ich immer unterstützt. Dass jedoch kei-
Zu Protokoll gegebene Reden
nerlei Vorkehrungen wie Be- und Entlüftung oder leichter
Unterdruck, um die Umgebung vor dem Qualm der Rau-
cherräume zu schützen, vorgeschrieben sind, ist ein Skan-
dal. Hier hat die Bundesregierung versagt. Endlich eine
vernünftige Verordnung zu erlassen, ist die unerfüllte
Hausaufgabe, die dringend angegangen werden muss.
Wenn die Bundesregierung nichts tut, dann ist das Parla-
ment in der neuen Legislaturperiode gefragt.
Die Situation in den Gaststätten lässt sehr zu wün-
schen übrig. Der von uns als Flickenteppich unterschied-
lichster Regelungen in den Bundesländern vorhergesagte
Zustand ist leider Realität geworden und wird sich im
Laufe dieses Jahres vermutlich noch verschärfen. Hier
erleben wir gerade ein massives Rollback. Wir Grünen
werden auch in den Ländern dafür kämpfen, dass die Aus-
nahmen vom Rauchverbot nicht die Regel werden.
Sie sehen, wir werden auch in der nächsten Legislatur-
periode nicht arbeitslos und es wird weitere Debatten und
- so hoffe ich - Entscheidungen geben, die den Schutz vor
Passivrauchen weiter vorantreiben. Wir Grünen werden
nicht locker lassen.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Ge-
setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur
Verankerung eines umfassenden Schutzes vor Passivrau-
chen im Arbeitsschutzgesetz.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt auf
Drucksache 16/12351, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10337 abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen ab-
gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Druck-
sache 16/12408. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a die Ablehnung des Antrags der Abgeordne-
ten Reimann, Binding, Spielmann und weiterer Abge-
ordneter auf Drucksache 16/2730 mit dem Titel „Effekti-
ven Schutz vor Passivrauchen zügig gesetzlich verankern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/2805 mit dem Titel „Wirksamen Schutz vor
Passivrauchen im öffentlichen Raum umsetzen“ für erle-
digt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Einstimmig ist die Be-
schlussempfehlung angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/10338 mit dem Titel „Bundesweit einheitlichen
Schutz vor Passivrauchen in Gaststätten verankern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP ge-
gen die Stimmen der Grünen und der Linken angenom-
men.
Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Stefan Müller ({0}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulla
Burchardt, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi
Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Ent-
wicklung“ weiterhin aktiv umsetzen - Folge-
aktivitäten zur UNESCO-Weltkonferenz ent-
wickeln
- Drucksache 16/12450 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({1}) und der Fraktion DIE LINKE
UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ konsequent umsetzen
- Drucksache 16/12306 Folgende Redner haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Hübinger, Burchardt, Meinhardt, Schneider
({2}), Eid und Storm.
Die bisherige Umsetzung der UN-Dekade „Bildung
für nachhaltige Entwicklung“ in Deutschland wird international als beispielhaft anerkannt. Zu diesem positiven
Zwischenfazit gelangte Dr. Roland Bernecker, Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission e. V., in
der Sitzung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung am 4. März 2009. Diese Einschätzung ist sehr erfreulich und sollte von allen Fraktionen des Deutschen Bundestags entsprechend zur
Kenntnis genommen werden.
Zu dieser positiven Beurteilung trägt bei, dass sich in
Deutschland eine Vielzahl von unterschiedlichen Akteuren engagieren, schon circa 800 Projekte zur Thematik
existieren und es auf Basis des Nationalen Aktionsplans
gelungen ist, Fortschritte in allen Bereichen der Bildung
bei der Verankerung des Leitbilds der nachhaltigen Entwicklung zu erreichen.
Dass die Konferenz „World Conference on Education
for Substainable Development - Moving into the Second
Half on the UN Decade“ in der Zeit vom 31. März bis zum
2. April 2009 in Bonn stattfindet, ist sicherlich auch als
Anerkennung des deutschen Engagements zu werten. Die
Konferenz widmet sich der Bilanz der letzten fünf Jahre
und bietet somit allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern
aus den UNESCO-Mitgliedstaaten, aber auch uns Abge23292
ordneten des Deutschen Bundestages die Möglichkeit zur
Reflektion.
Neben der Bestandsaufnahme der bisherigen Umsetzung umfasst das Aufgabenspektrum der Weltkonferenz
die Erörterung von strategischen Leitlinien für die zweite
Hälfte der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. In diesem Zusammenhang wird zu klären sein,
welche neuen Akteure gewonnen werden müssen, wie
zukünftig Ressourcen für die umfangreichen weltweiten
Aktivitäten mobilisiert werden können und wie der NordSüd-Austausch intensiviert werden kann. Die Ergebnisse
der Konferenz werden in einer „Bonner Erklärung“ münden, welche - und dies unterstreicht den Stellenwert dieses Papiers - dem Exekutivrat und der Generalkonferenz
der UNESCO vorgelegt werden.
Die anstehende Weltkonferenz ist in meinen Augen
eine geeignete Plattform, die bisherige Umsetzung zu
analysieren, weiterführende Strategien für die zweite
Hälfte der Dekade zu entwickeln und den Blick auch
schon auf die Zeit nach Ablauf der UN-Dekade zu richten.
Deshalb bekräftigen wir im Rahmen unseres Antrages die
Ziele der UN-Dekade, regen darüber hinaus Maßnahmen
für die zweite Hälfe der Dekade an und fordern die Bundesregierung auf, geeignete Perspektiven zur weiteren
Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung
nach Auslaufen der UN-Dekade zu eröffnen. Daran anknüpfend rege ich an, vonseiten der Bundesregierung einen Bericht über die Ergebnisse und die daraus abzuleitenden Konsequenzen zu erstellen. Dieser kann eine gute
Grundlage bilden, um den Nationalen Aktionsplan weiterzuentwickeln und - wie schon angesprochen - Perspektiven für die Verankerung des Themas „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“ für die Zeit nach Auslaufen
der UN-Dekade aufzuzeigen.
Als Deutscher Bundestag begleiten wir die Dekade seit
2004 intensiv. Der damals verabschiedete Antrag wurde
von allen Fraktionen des Hauses einstimmig angenommen. Nicht zuletzt diese breite Zustimmung war ein
Grund dafür, weshalb die UN-Dekade in Deutschland in
so vorbildlicher Weise umgesetzt wurde. Deshalb werbe
ich dafür, dass der vorliegende Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD mit einer ebenso breiten, fraktionsübergreifenden Mehrheit verabschiedet wird.
Mitten in der Krise über Nachhaltigkeit zu reden, das
mag einigen Ignoranten dieser Tage seltsam erscheinen.
Müssen wir in Zeiten wie diesen nicht unseren eigenen
Kopf retten? Muss der Staat dieser Tage nicht erst einmal
die Fehler des Raubtierkapitalismus auswetzen - sind da
Umweltschutz, Bildung und Nachhaltigkeit nicht purer
Luxus? Genau das sind sie nicht. Wenn wir in diesen Tagen die Augen vor der Zukunft verschließen und falsche,
nicht nachhaltige Entscheidungen fällen, dann setzen wir
die eigene und die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel.
Erst vor ein paar Tagen hat es ein Bericht der Internationalen Energieagentur ganz dick unterstrichen: Wir
müssen uns jetzt wappnen für die Energiewende, für mehr
nachhaltiges Wirtschaften und regenerative Energieformen - sonst werden wir machtlos, wenn der Ölpreis in
spätestens vier Jahren explodieren wird und die Erholung
der Weltwirtschaft bedroht. Nicht umsonst haben wir weit
über 3 Milliarden Euro an Hilfen für die energetische Gebäudesanierung bereitgestellt - ein besonders gutes Beispiel für nachhaltige Entwicklung, können wir hier doch
in den kommenden 15 Jahren bis zu 50 Milliarden Euro
Heizkosten einsparen und die Belastung der Atmosphäre
mit CO2 erheblich verringern.
Nachhaltige Entwicklung, das heißt Kurswechsel, neu
denken und anders entscheiden als bisher. Es heißt raus
aus den alten Routinen in Wirtschaft, Wissenschaft und
Politik, es heißt, sich daran zu orientieren, dass der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen die Voraussetzung für eine zukunftsfähige wirtschaftliche und soziale
Entwicklung ist.
Nachhaltigkeit braucht die Einsicht, dass es keine Perspektive für eine Zukunft gibt, in der alle Menschen gut leben können, wenn die alten Routinen, zu entscheiden, beibehalten werden. Ändern müssen sich die täglichen
Entscheidungen, die Art und Weise, wie Menschen ihre
Bedürfnisse befriedigen, wie sie miteinander und mit ihrer natürlichen Umwelt umgehen. Weniger wird dann
mehr: mehr Wohlstand und mehr Lebensqualität durch
weniger Energie- und Ressourcenverbrauch, weniger
Schadstoffe, Emissionen und Abfälle. Gerade in Zeiten
der Krise ist Nachhaltigkeit das höchste Gebot - und dafür brauchen wir Bildung und die Kreativität der nachfolgenden Generationen.
Deshalb hat es sich als besonders weitsichtig erwiesen, dass die Vereinten Nationen und die UNESCO mit ihrem weltweiten Projekt „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ nicht einfach nur für ein Jahr, sondern eine
ganze Dekade lang für den entscheidenden Beitrag der
Bildung zur Nachhaltigkeit werben. Ob Aufschwung oder
Krise, in beiden Zeiten geht ohne Bildung gar nichts, will
man die Herausforderungen einer ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltigen Entwicklung konstruktiv
nutzen.
Die Mitglieder des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung begrüßen es deshalb nachdrücklich, dass Deutschland vom 31. März bis
zum 2. April dieses Jahres Gastgeber der UNESCO-Weltkonferenz zur Halbzeit der Dekade ist. Bei dieser hochkarätig besetzten Konferenz geschieht, was gerade in der
Krise jetzt ganz wichtig ist: über den Tellerrand blicken.
Wir wollen sehen, was andere Länder für die nachhaltige
Entwicklung erreicht haben und was noch gemeinsam zu
tun ansteht. Und wir wollen eigene Fortschritte vorzeigen. Das sind einige. Das Neue fällt nicht vom Himmel, es
muss gelernt werden. Nachhaltigkeit war und ist der Auftrag zum Paradigmenwechsel: raus aus der Kurzatmigkeit, auch von Wahlperioden, hin zur langfristigen Perspektive.
Was in Rio de Janeiro 1992 als erstes Herantasten begann, hat der Bundestag in den vergangenen Jahren immer wieder begleitet und angetrieben. Hier sind in den
letzten 15 Jahren die inhaltlichen Grundlagen gelegt und
die entscheidenden Weichen für eine Institutionalisierung
der Nachhaltigkeitsidee gestellt worden, an erster Stelle
durch die Arbeiten der beiden Enquete-Kommissionen
Zu Protokoll gegebene Reden
„Schutz des Menschen und der Umwelt“, die den Auftrag
von Rio auch als Auftrag für die bundespolitische Ebene
von der Leitidee bis zur Handlungsempfehlung durchbuchstabiert haben. Als wichtig für den eigenen Erkenntnisfortschritt erwiesen sich auch die Studien des Büros
für Technikfolgenabschätzung, unserer „eigenen“ wissenschaftlichen Beratungskapazität.
Genauso richtig ist aber auch: Die Weltdekade ist wie
die nachhaltige Entwicklung kein Projekt, das sich vom
Parlament beschließen und von der Regierung exekutieren lässt. Ohne das Engagement und die Beteiligung vieler Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen ist eine nachhaltige Zukunftsgestaltung
nicht zu machen.
Ein Beispiel ist das Engagement der Mitarbeiter von
„Zweitsinn“, die in Dortmund aus Müll begehrte Designermöbel machen. Heute out, morgen hip: Kleine und mittelständische Unternehmen in Kooperation mit der Technischen Universität Dortmund sorgen dafür, dass das
Abfallvolumen deutlich sinkt, indem Möbel, die sonst
weggeworfen würden, als Rohstoff für die Herstellung
neuer Möbel genutzt werden und einen „zweiten Sinn“
erhalten - wie der Sessel Pixelstar, der aus recycelten
Span-, Pressstoff- und Tischlerplatten, aufgesägten Massivholztischen und gebrauchten Schaumstoffresten aus
alten Matratzen gemacht wird. Das Ding sieht Klasse
aus - und könnte die Bestuhlung im Bundestag vielleicht
eines Tages ersetzen.
„Nachhaltigkeit gestalten“ hat etwas mit Wissen und
Können zu tun; nachhaltige Zukunftsgestaltung braucht
neue Qualifikationen im umfassenden Sinne: „sustain
abilities“! Dazu gehört neues Sach- und Fachwissen über
die komplexen Zusammenhänge zwischen Mensch, Natur
und Technik.
Aber damit aus der Vision Nachhaltigkeit auch Wirklichkeit wird, kommt es eben nicht nur auf das Wissen an.
„Sustain abilities“, das meint Fähigkeiten, dieses Wissen
auch anwenden zu können. Und das genau sind die Fähigkeiten, die hierzulande bislang auf allen Bildungsebenen
zu wenig gefördert werden: vernetztes und vorausschauendes Denken, Probleme angemessen kommunizieren zu
können, sich in die Lage anderer hineinversetzen zu können und nicht zuletzt die Fähigkeit zu lebenslangem Lernen.
Jetzt bietet sich die Chance, die Leitidee der Nachhaltigkeit dauerhaft in informellen Bildungsprozessen wie in
den klassischen Bildungsinstitutionen zu verankern - von
der Grundschule bis zur Hochschule, in die berufliche
Aus- und Weiterbildung. Gelänge das in den verbleibenden Dekade-Jahren, dann wäre das für das Bildungsangebot wie die Bildungspraxis in Deutschland ein qualitativer Meilenstein.
Ich wünsche mir, dass diese - und auch die kommende Bundesregierung die Ziele der UN-Dekade umsetzt und
ihre Verankerung in allen Bildungsbereichen noch verstärkt. Nachhaltigkeitsthemen sind nicht irgendein Zusatzmodul - und erst recht kein Spaß. Sie sind Querschnittsanliegen: für die ganze Gesellschaft.
Der Umstand, dass Deutschland vom 31. März bis
2. April Gastgeber der UNESCO-Weltkonferenz „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ist, ehrt uns. Wir können damit einen wichtigen Impuls für eine globale Strategie zur verstärkten Zusammenarbeit und Entwicklung
unter ökonomischen, ökologischen, sozialen und ethischen Aspekten liefern. Ja, gerade Wertefragen sollten
wieder verstärkt auf der Bildungsagenda stehen. Es gilt,
gemeinsam mit unseren Nachbarstaaten Antworten auf
drängende Fragen der Zukunft zu entwickeln und eine gemeinsame Basis für eine weiterführende, systematische
Politik zu schaffen.
Gerade wir Liberale haben kein Problem damit, dass
Lösungs- und Diskussionsansätze von der Situation in jedem Land abhängen. Und so verwundert es kaum, dass
die Staaten sehr unterschiedlich mit den zu lösenden Problemen umgehen. Allein auf nationaler Ebene findet sich
eine Vielzahl von Akteuren aus Verwaltungen, Wirtschaft
und Nichtregierungsorganisationen, die mit dem Ziel der
Verankerung der Bildung für nachhaltige Entwicklung
({0}) erfolgreich zusammenwirken. Der Weg der Projektauszeichnungen in Deutschland motiviert Schüler und
Schulen, Lehrer und Eltern. Dieser Weg muss weiter verfolgt werden.
In den vergangenen Wochen hat sich die AG-Bildung
der FDP-Bundestagsfraktion einige dieser Erfolg versprechenden Projekte etwas genauer angesehen. Erst
vorgestern saßen wir mit Vertreterinnen des Projekts
„leuchtpol“ zusammen. „leuchtpol“ will auf eindrucksvolle Weise Kindern im Kindergartenalter die Lust auf
Entdecken, Lernen und Verstehen wecken und zugleich
für Erzieher und Erzieherinnen professionelle Weiterbildungsseminare anbieten. So können sie Themen aus dem
Bereich Energie und Umwelt aktiv und spannend präsentieren lernen und Kinder anregend auf der Erkundung des
Themenspektrums begleiten. Die Eon AG bringt sich als
Hauptsponsor ein und fördert, frei von ideologischen
Zwängen oder Vorgaben, einen verantwortungsvollen
Umgang der Kinder mit natürlichen Ressourcen. Auch
der Einsatz der Telekom-Stiftung in der frühkindlichen
Bildung ist nicht hoch genug einzuschätzen.
Ein weiteres Projekt sind die Agenda-21-Schulen. Deren Arbeit ist wirklich hervorzuheben. Auf der Grundlage
eines Gutachtens von Professor Dr. Gerhard de Haan und
Dorothee Harenberg vom Arbeitsbereich Umweltbildung
der FU Berlin ist ein Programm aufgelegt worden, das
die „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ für allgemeinbildende Schulen zum Ziel hat. Dabei konzentrieren
sich die Ideengeber auf drei Module, „Interdisziplinäres
Wissen“, „Partizipatives Lernen“ und „Innovative Strukturen“. Das Land Niedersachsen hat hier eine Vorreiterrolle eingenommen und sich an dem Programm mit dem
Vorhaben „Entwicklung und Erprobung einer ‚Bildung
für eine nachhaltige Entwicklung‘ durch neue Formen
der Kooperation von Schulen, Umweltbildungszentren
und anderen Partnern“ maßgeblich beteiligt und kann
mittlerweile eindrucksvolle Ergebnisse präsentieren. Gerade wenn es gilt, schwächeren Schülerinnen und Schülern Perspektiven für den weiteren Werdegang zu eröffnen und berufliche Chancen zu bieten, liefert dieses
Zu Protokoll gegebene Reden
Projekt wertvolle Ansätze. Und für uns Liberale ist besonders wichtig: Es ist ein konkreter Schritt zu mehr Bildungsgerechtigkeit! Deswegen gilt: Alle Beteiligte müssen mitgenommen werden.
Heute ist ein Tag mit besonderer Symbolkraft. Die UNBehindertenrechtskonvention tritt in Deutschland in
Kraft. Gerade die damit verbundene Zielsetzung für mehr
integrative Bildungspolitik muss für uns Verpflichtung
sein. Das Motto der UNESCO „Bildung für alle“ hat
nicht allein die geografische Dimension, die Nord-SüdKooperation im Blick. Es bezieht sich auch auf die Frage,
wie behinderte und nicht behinderte Menschen besser
miteinander und besser voneinander lernen können.
Die Fraktion Die Linke hat sich selber übertroffen. Sie
zieht nun sogar die UN-Dekade dazu heran, um wieder
einmal die ewige linke Litanei von der „Überwindung des
gegliederten Schulsystems“ hinunterzuleiern. Durch
ständiges Wiederholen wird auch die falscheste Lösung
nicht richtiger.
Das Thema Bildung zur nachhaltigen Entwicklung
geht uns alle an. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe,
fordert auch die Eltern zu mehr Erziehung und sollte einen Konsens weit über die Parteigrenzen hinweg ermöglichen. Deswegen ist es für mich hochgradig bedauerlich,
dass es nicht gelungen ist, einen fraktionsübergreifenden
Antrag zu Bildung für nachhaltige Entwicklung zu verabschieden. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte ihre Bereitschaft zur Kooperation signalisiert. Doch die Koalition
aus CDU und SPD hat es vorgezogen, Oppositionsfraktionen auszuklammern und einen eigenen Weg zu
beschreiten. Schade! Das Resultat, als Kompromiss der
Regierungsfraktionen, dieser vorliegende Antrag „UNDekade ,Bildung für nachhaltige Entwicklung‘ weiterhin
aktiv umsetzen - Folgeaktivitäten zur UNESCO-Weltkonferenz entwickeln“ ist dann auch kaum dazu geeignet,
laute Begeisterung hervorzurufen. Den Geist der Innovation atmet er sicher nicht. Dennoch halten wir den hier
verfolgten Ansatz, ganz im Gegensatz zu dem Antrag von
der Linken, für vertretbar.
Gerade in der Bildungspolitik darf es keine Opposition
um der Opposition willen geben - zumindest nicht von
uns Liberalen. Wir stimmen dem Ziel zu, mit diesem Antrag die UNESCO-Weltkonferenz Bildung für nachhaltige
Entwicklung in Deutschland zu begrüßen.
Ab kommenden Dienstag lädt Deutschland als Gastgeber zur UNESCO-Weltkonferenz „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ nach Bonn. Mit dieser Konferenz fällt
der Startschuss für die zweite Halbzeit der UN-Dekade
gleichen Namens. „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, das wäre ein guter Anlass, die Nachhaltigkeit des
eigenen, des deutschen Bildungssystems auf den Prüfstand zu stellen und Verbesserungen einzufordern. Stattdessen beschränkt sich der vorliegende Antrag der Großen Koalition auf ({0})
Lobeshymnen und unverbindliche und schwammige Absichtserklärungen. Chance verpasst, kann ich Ihnen da
nur sagen.
Die Linke versteht die Forderung nach nachhaltiger
Bildung dagegen als umfassende Aufgabe - und vor diesem Hintergrund definieren wir in unserem Antrag drei
Herausforderungen: Erstens: Bildung ist nur dann nachhaltig, wenn alle gleichermaßen an Bildung teilhaben
können. Noch so löbliche Vorzeigeprojekte helfen nicht
wirklich weiter, wenn es nicht gelingt, diese Errungenschaften in die Fläche zu übertragen und den Projektcharakter zu überwinden. Zweitens braucht bessere Bildung
auch bessere Rahmenbedingungen. Mit der UN-Dekade
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ werden hehre
Ziele formuliert, die auch meine Fraktion unterstützt. Was
aber sind solche Zielsetzungen wert, solange im deutschen Bildungssystem Ganztagsschulen noch immer
nicht die Regel sind, es an Lehrerinnen und Lehrern mangelt, zu wenig Kleinkinder einen Krippen- und/oder Kitaplatz erhalten, Tausende Jugendliche ohne Ausbildungsplatz im Regen stehen gelassen werden, jede bzw. jeder
Zehnte die Schule ohne Abschluss verlässt oder die Betreuungsquote an den Hochschulen immer weiter sinkt?
Es reicht nicht, die Proklamation der Ziele zu bejubeln, es
ist Aufgabe der Politik, für bessere Rahmenbedingungen
in der Bildung zu sorgen. Nicht zuletzt wäre es notwendig,
dass Bildung endlich als gesamtstaatliche Aufgabe von
Bund und Ländern wahrgenommen und die Bildungskleinstaaterei überwunden wird.
Die dritte Herausforderung betrifft die inhaltliche
Seite der Bildung: Ziel der UN-Dekade ist es unter anderem auch mithilfe der Bildung zu einer sozialen und demokratischen Entwicklung der Gesellschaft beizutragen.
Damit dieses Ziel gelingt, muss vieles geändert werden.
Bildungsinstitutionen müssen durch umfassende Mitbestimmungsrechte aller Beteiligten grundlegend demokratisiert werden. Lernende sollen nicht mehr in Konkurrenz
zueinander lernen müssen, sondern gemeinsam und solidarisch. Es reicht nicht, Demokratie zu lehren; das eigene
Leben demokratisch mitbestimmend zu gestalten, muss
für junge Mensch ganz konkret erfahr- und praktizierbar
sein.
Die Linke setzt sich dafür ein, dass diese drei Herausforderungen umgesetzt werden. Nur dann kann die UNDekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ernsthaft
zu einem Erfolg werden. Anstelle von unverbindlichen
Absichtserklärungen, richten wir in unserem Antrag konkrete Forderungen an die Bundesregierung. Dazu gehört
insbesondere die Erhöhung der Bildungsausgaben auf
mindestens 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, und
das so schnell als irgend möglich und nicht irgendwann.
Auch strukturell liegt einiges im Argen. Ganz oben auf
der Tagesordnung muss die Abschaffung des gegliederten
Schulsystems und die Einführung von Gemeinschaftsschulen stehen, in denen alle Kinder und Jugendlichen
gemeinsam lernen und individuell gefördert werden. In
der beruflichen Bildung muss jeder und jede Jugendliche
durch eine gesetzliche Umlagefinanzierung das Recht auf
einen Ausbildungsplatz erhalten, und das Studium darf
nicht zu einem Privileg für Reiche verkommen.
Wer die Ziele der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ wirklich ernst nimmt, muss aber vor
allem mit dem größten Übel im deutschen Bildungssystem
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Schneider ({1})
aufräumen: der erschreckenden sozialen Ungleichheit.
Internationale Bildungsvergleichsstudien haben immer
wieder belegt, dass Kinder aus bildungsfernen Haushalten, mit Migrationshintergrund oder mit Behinderungen
im deutschen Bildungssystem ausgegrenzt und fallen gelassen werden. Diese Erkenntnisse dürfen nicht einfach
hingenommen werden. Es muss das oberste Ziel der Bildungspolitik sein, diese Ungerechtigkeit aufzuheben und
das Recht auf Bildung für alle durchzusetzen. Das ist für
uns Linke der Maßstab, an diesem werden wir Erfolg und
Misserfolg dieser Dekade in unserem Land messen.
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die internationale Gemeinschaft zur UNESCO-Weltkonferenz „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ nach Bonn eingeladen hat und vorher mit dem VENRO-Kongress „Global
Learning, weltwärts and beyond“ die Möglichkeit eröffnet, die internationale Sichtweise von Nichtregierungsorganisationen in die Weltkonferenz einzubringen. Es ist
gut, dass der Deutsche Bundestag diese Konferenz zum
Anlass nimmt, über den Stand der Umsetzung zur Halbzeit der UN-Dekade in Deutschland eine Zwischenbilanz
zu ziehen.
Bei der Umsetzung kommt es vor allem darauf an,
nicht nur interessante Dekade-Projekte auszuzeichnen,
sondern - und hier sind insbesondere die 16 Länder und
deren Bildungsministerien gefragt - eine Umsteuerung
im Bildungssystem, im Curriculum, in der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte und im Hochschulwesen vorzunehmen.
Der Bildungsleitgedanke der Nachhaltigkeit und neue
Anforderungen an das Lernen in einer international vernetzten Lebenswelt sind in den nationalen Bildungsberichten, die alle zwei Jahre im Auftrag der Ständigen
Konferenz der Kultusminister der Länder und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung erstellt werden, immer noch kein Thema. So wird Bildung für nachhaltige Entwicklung auch im jüngsten Bildungsbericht
nicht erwähnt, ebenso wenig im Fortschrittsbericht 2008
der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie.
Wir müssen nicht nur in Deutschland unsere Hausaufgaben erledigen, um das Leitbild einer zukunftsfähigen
Entwicklung in unserem Bildungswesen wirkungsvoll zu
verankern, sondern auch einen Beitrag dazu leisten, das
Menschrecht auf Bildung durchzusetzen und die Ziele
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ und „Bildung für
alle“ weltweit zu einem wirkungsvollen Programm zu
verbinden.
Die Schritte auf dem Weg zur Erreichung des 2. Millenniumsziels - Grundbildung für alle - sind ungenügend. Bis ins Unerträgliche wachsende Klassengrößen, unzureichende Lernbedingungen, fehlende oder
völlig unterqualifizierte Lehrerinnen und Lehrer und
keine Priorisierung bei den Mittelzuweisungen in nationalen Haushalten oder im Rahmen der internationalen
Zusammenarbeit stärken die Befürchtungen, dass dieses
Millenniumsziel nicht erreicht wird. Wobei eines auch
klar sei muss: Nicht nur die Quantität darf eine Rolle
spielen, sondern auch die Lerninhalte!
Auch der UNESCO-Weltbildungsbericht 2009 macht
überdeutlich, dass den großen Worten der Weltgemeinschaft angemessene Taten noch fehlen. Immer noch gehen
75 Millionen Kinder weltweit nicht zur Schule, in Afrika
südlich der Sahara sind es sogar fast ein Drittel aller
Kinder. 16 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung
können nicht lesen und schreiben. Zwei Drittel dieser Analphabeten sind Frauen. Die Weltgesellschaft ist hinsichtlich ihrer Bildungssysteme nicht zukunftsfähig. Dabei haben sich 164 Länder im Jahr 2000 auf dem
Weltbildungsforum in Dakar verpflichtet, sechs Bildungsziele bis zum Jahr 2015 zu erreichen: Ausbau der frühkindlichen Förderung und Erziehung, Grundschulbildung für alle Kinder weltweit, Absicherung der
Lernbedürfnisse von Jugendlichen und Erwachsenen,
Halbierung der Analphabetenrate unter Erwachsenen,
Gleichberechtigung der Geschlechter und Verbesserung
der Bildungsqualität.
Der UNESCO-Weltbildungsbericht macht die riesigen
Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern deutlich und zeigt, dass es immer noch die gleichen Gründe
sind, die dazu führen, dass die gesteckten Ziele verfehlt
werden: erstens unzureichende Einkommen, zweitens Benachteiligung von ethnischen Gruppen sowie Mädchen
und Frauen, drittens Sprachendiskriminierung und viertens Ausschluss von Behinderten.
Die nationalen Regierungen müssen höhere Investitionen in Bildung vornehmen und Anreize für Mädchen
und benachteiligte Gruppen setzen. Um nur ein Beispiel
zu nennen: Wer nimmt denn ernst, dass fast 10 Prozent
der Mädchen deshalb die Schule abbrechen, weil es in
den Schulen keine oder keine getrenntgeschlechtlichen
Toiletten gibt, die Schülerinnen aber zur Körperhygiene
während ihrer Menstruation eine private Sphäre brauchen? Mit dem Bau separater Schultoiletten durch
UNICEF konnte zum Beispiel in Bangladesch der Schulbesuch von Mädchen um 11 Prozent erhöht werden.
Selbstverständlich muss auch mehr Gewicht auf die
Qualität von Bildungsinhalten gelegt und Toleranz, gegenseitiger Respekt und demokratisches Verhalten eingeübt werden.
Die Verletzung von Kinderrechten in anderen Teilen
der Welt darf den Blick auf die Situation in Deutschland
nicht verstellen. In unserem Land existiert ein nicht zu
übersehender Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft sowie Migrationshintergrund und Bildungserfolg
und damit ein markanter Unterschied hinsichtlich der Inanspruchnahme des Bildungsangebotes. Die Studie „Ungenutzte Potenziale“ von 2009 hat in jüngster Zeit die
prekäre Situation für die ({0}) fast 20 Prozent der
deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund dargestellt: „Zugewanderte sind im Durchschnitt schlechter
gebildet, häufiger arbeitslos und nehmen weniger am öffentlichen Leben teil als die Einheimischen.“ Dies hat
meines Erachtens zwei verschiedene Ursachen. Zum einen gibt es Eltern, die es sich tatsächlich nicht leisten
können, ihren Kindern eine gute Bildung zu ermöglichen,
und zum anderen gibt es Eltern, die das Angebot nicht in
Zu Protokoll gegebene Reden
Anspruch nehmen wollen! Gegen beides muss etwas unternommen werden, da hierdurch den Kindern Chancen
genommen werden. Wichtig wäre eine hinreichende Integration von Migrantinnen und Migranten in die Gestaltung unserer Bildungsprozesse.
Eine erfolgreiche Bildungspartizipation ist ein wichtiges Element der präventiven Armutsbekämpfung. Darüber hinaus kann eine wirksame Strategie nur durch
vernetzte und nachhaltige Zusammenarbeit der unterschiedlichen Träger und Einrichtungen für Bildung und
Sozialarbeit ihre Kraft entfalten. Gleichzeitig gilt: Ohne
ausreichende Bildung ist Integration nahezu unmöglich.
Eigentlich bedürfte es keines besonderen Hinweises
darauf, dass in das Menschenrecht auf Bildung auch
Menschen mit Behinderung eingeschlossen sind. Aber
Menschen mit Behinderung gehören zu den Gruppen, die
in den Bemühungen zur Umsetzung der Bildung für nachhaltige Entwicklung, in der Millenniumserklärung und in
den Zielen des Weltbildungsforums in Dakar 2000 kaum
Berücksichtigung finden. Nach Schätzungen der UNESCO
besuchen in Entwicklungsländern weniger als 1 bis 5 Prozent der Kinder mit Behinderung eine Schule. 97 Prozent
der Erwachsenen mit Behinderung sind Analphabeten.
Der Umgang mit behinderten Menschen in unserem eigenen Bildungssystem entspricht durchaus nicht den
Grundvorstellungen von Gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit. 85 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf sind in Sonderschulen untergebracht und nur 15 Prozent werden an allgemeinbildenden
Schulen unterrichtet.
Hans Jonas hat in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ einen neuen kategorischen Imperativ geprägt:
„Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten
Fortbestand der Menschen auf Erden, handele so, dass
die Wirkungen Deiner Handlung verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
Wenn unser Bildungssystem in der Lage wäre, diesen Imperativ zu vermitteln, wären wir einen großen Schritt in
unserem Bemühen um Zukunftsfähigkeit und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft vorangekommen.
Die UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung
nähert sich ihrer Halbzeit. In Deutschland können wir auf
fünf Jahre erfolgreiche Umsetzung zurückblicken.
Zahlreiche Projekte und Initiativen aus allen Bildungsbereichen tragen zur Verankerung dieses wichtigen
Themas bei. Allein über 800 Projekte konnten bislang als
offizielle Dekade-Projekte ausgezeichnet werden. Die
Umsetzung der Dekade in Deutschland gilt international
als vorbildlich. Dies ist sicherlich ein wesentlicher Grund
dafür, warum die UNESCO die Einladung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung angenommen hat,
die Halbzeitkonferenz in Deutschland abzuhalten.
Vom 31. März bis 2. April 2009 werden insgesamt
rund 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über
150 UNESCO-Mitgliedstaaten zu dieser Konferenz in
Bonn erwartet. Hier geht es vor allem darum, sich über
das Erreichte auszutauschen und die strategischen Leitlinien für die weitere Arbeit in der zweiten Hälfte der Dekade zu beraten. Die Teilnahme von über 50 Ministerinnen und Ministern aus aller Welt unterstreicht die große
Bedeutung der UN-Dekade und der Bonner Weltkonferenz.
Warum misst die Bundesregierung dem Thema Bildung für nachhaltige Entwicklung eine so große Bedeutung bei? Was ist der besondere Beitrag der Bildung für
nachhaltige Entwicklung für die Bewältigung der großen
Herausforderungen, vor denen wir in Deutschland und
weltweit stehen?
Leitbilder einer nachhaltigen Entwicklung sind dauerhafter Wohlstand, die langfristige Verfügbarkeit von Ressourcen sowie Bedingungen, die weltweit eine soziale
Teilhabe möglichst vieler Menschen ermöglichen. Der
Bildung für nachhaltige Entwicklung kommt dabei eine
Schlüsselrolle zu.
Nachhaltige Entwicklung umfasst zahlreiche Felder
des politischen Handelns. Zuallererst geht es darum, dass
wir alle lernen müssen, mit den begrenzt vorhandenen natürlichen Ressourcen sorgfältiger umzugehen. Hierbei ist
ein Ausgleich zwischen den Ländern des Nordens und des
Südens eine grundlegende Frage der Gerechtigkeit.
Darüber hinaus macht insbesondere die gegenwärtige
weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich, dass
wir prinzipiell darüber nachdenken müssen, wie wir
unser Handeln verändern müssen, um nachhaltiges
Wachstum zu erreichen. Gerade dieser Aspekt von
Nachhaltigkeit - das nachhaltige wirtschaftliche Handeln - rückt nun verstärkt auch in das öffentliche Interesse.
Hier gibt es hervorragende Beispiele unter den
800 ausgezeichneten Dekade-Projekten. So lernen zum
Beispiel Schülerinnen und Schüler in sogenannten Schülerfirmen nachhaltiges Wirtschaften. In einem Projekt,
das sich KonsumGlobal nennt, werden von Jugendlichen
für Jugendliche Stadtführungen zum Thema nachhaltiger
Konsum und Globalisierung angeboten. Jugendliche bekommen einen Einblick in die Auswirkungen und Zusammenhänge unseres Konsumverhaltens, beispielsweise
indem sie lernen, die Weltreise einer Jeans vom Baumwollfeld bis zum Ladentisch nachzuvollziehen.
Ein Schwerpunkt der Aktivitäten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für Bildung für nachhaltige Entwicklung ist die Bereitstellung einer Plattform
für alle Beteiligten durch die Förderung der Deutschen
UNESCO-Kommission. So wurde eine „Organisationsstruktur“ mit einem Nationalkomitee, einem Runden
Tisch und thematischen Arbeitsgruppen fest etabliert und
insbesondere auch die Zusammenarbeit vielfältiger Akteure aus Politik und Zivilgesellschaft sichergestellt.
Darüber hinaus engagiert sich das BMBF für die Integration von Bildung für nachhaltige Entwicklung in verschiedenen Bildungsbereichen. Lassen sie mich exemplarisch drei Beispiele herausgreifen:
Die Neuordnung der beruflichen Ausbildung durch die
Schaffung neuer und die Modernisierung bestehender
Zu Protokoll gegebene Reden
Berufe ist eine kontinuierliche Aufgabe des BMBF. Unser
Ziel ist es, die Erlangung von Gestaltungs- und Handlungskompetenzen im Sinne der Zusammenführung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen und sozialer Verantwortung als
übergreifende berufliche Qualifikationsanforderung in
die Ausbildungsordnungen aufzunehmen.
Mit dem Rahmenprogramm „Forschung für Nachhaltigkeit“ fördert das BMBF gezielt Innovationen für eine
nachhaltige Entwicklung. Im Mittelpunkt stehen die vier
Aktionsfelder Nachhaltigkeit in Industrie und Wirtschaft,
nachhaltige Konzepte für Regionen, nachhaltige Nutzung
von Ressourcen und Strategien für gesellschaftliches
Handeln. Das Programm verbindet dabei technologischen Fortschritt mit gesellschaftlichen Prozessen und
zielgerichtetem Transfer in das Bildungssystem.
Des Weiteren fördern wir auch in diesem Kontext gezielt den wissenschaftlichen Nachwuchs. Ein Beispiel dafür ist das Fachprogramm des DAAD „Studieren und
Forschen für die Nachhaltigkeit“. Mit dieser Maßnahme
werden die internationale Fachkommunikation, Qualifizierung und Forschung zu ausgewählten Themenbereichen der Nachhaltigkeitsforschung wie beispielsweise
Land- und Forstwirtschaft, biogene Ressourcen, Wasser
unterstützt.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass von der Halbzeitkonferenz deutliche Impulse für die zweite Hälfte der UN-Dekade ausgehen werden und damit zur nachhaltigen Entwicklung auf der ganzen Welt beigetragen werden kann.
Bildung für nachhaltige Entwicklung verdient entschieden mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Zurzeit wird dieses
Thema noch zu häufig lediglich in Fachzirkeln diskutiert.
Wir müssen insbesondere durch Beispiele guter Praxis
mehr Menschen für Bildung für nachhaltige Entwicklung
interessieren. Die Weltkonferenz und die zweite Hälfte der
Dekade bieten uns die große Chance, dieses Interesse
hervorzurufen und Bildung für nachhaltige Entwicklung
fest in unserem Bildungssystem zu implementieren.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12450? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/12306. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Strommarkt durchgreifend regulieren - Energiepreissenkungen durchsetzen
- Drucksache 16/11908 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Dr. Pfeiffer, Hempelmann, Kopp, Hill, Höhn.
„Alle Jahre wieder …“ heißt es in dem uns allen bekannten Kinderlied. Das wäre schön, wenn es nur alle
Jahre vorkommen würde. Aber Anträge der Linken, Teile
der Wirtschaft in Deutschland öffentlich zu kontrollieren
oder am besten gleich zu verstaatlichen, kommen inzwischen täglich. Im Energiebereich waren es erst die Netze,
jetzt sind es die Strompreise. Morgen wollen sie wahrscheinlich auch noch den Stromverbrauch staatlich regulieren. Was sie fordern, ist nichts anders, als das Rad der
Geschichte wieder zurückzudrehen. Davor kann ich nur
warnen.
Stein ihres Anstoßes sind Preiserhöhungen von einigen
Energieversorgern in Deutschland bei gleichzeitigen
Preissenkungen auf den Brennstoffmärkten, also bei
Steinkohle und Erdgas. Daraus ziehen Sie den Schluss,
dass die Märkte nicht funktionieren, Missbrauch
herrscht, Monopolstellungen ausgenutzt werden und generell die Preise nichts mit Angebot und Nachfrage zu tun
haben. Es wäre wirklich schön, wenn die Welt so einfach
wäre! Leider ist das nicht so, und ich erkläre Ihnen auch
gerne, warum.
Wer heutzutage Strom produziert, ist darauf angewiesen, seinen Brennstoff auf dem Markt zu kaufen. Schon im
Interesse der Versorgungssicherheit unseres Landes werden diese Brennstoffe langfristig erworben. Das bedeutet,
dass der Preis für Kohle oder Erdgas zu einem Zeitpunkt
vereinbart wird, der lange vor dem tatsächlichen Verbrennen liegt. Kauft man heute Brennstoff günstig ein,
kann man seinem Kunden frühestens im nächsten oder
übernächsten Jahr einen guten Preis bieten.
Eine andere Option sind Preisanpassungsformeln.
Viele Verträge vereinbaren einen Basispreis und eine elaborierte Preisformel, die zum Beispiel die Inflation oder
erhöhte Lohnkosten beinhaltet. Und diese Formeln verweisen dann auch sehr häufig auf den Preis eines anderen
Gutes. Sehr viele langfristige Gaslieferverträge sind zum
Beispiel an den Preis für Öl gekoppelt. Folglich werden
die Veränderungen im Referenzwert dann nur zeitverzögert weitergegeben. So ist es üblich, dass sich der Gaspreis an den Ölpreis nach einem halben Jahr anpasst.
Wenn jetzt der Ölpreis sinkt, fallen die Gaspreise erst in
einigen Monaten. Als der Ölpreis aber vor einem Jahr
stieg, stiegen die Gaspreise auch erst mit einem halben
Jahr Verzögerung. Wir reden hier über normale Marktvorgänge und nicht über Abzockerei.
Da kommen wir schon zum zweiten Aspekt, nämlich
dem Vorwurf der unkontrollierten Bereicherung. Mir ist
unklar, woher der Gedanke kommt, dass es keine Kon23298
trolle der großen Stromversorgungsunternehmen gibt.
Kaum einer anderen Branche hat der Staat so viele verschiedene Kontrollinstanzen auferlegt wie dem Energiehandel. Neben der Bundesnetzagentur, und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, haben
auch die Kartellämter der Länder und des Bundes sowie
die Wettbewerbsdirektion der Europäischen Kommission
ein genaues Auge auf alle Aktivitäten der Unternehmen.
Der Antrag erwähnt selbst die Untersuchungen der Kommission. Genau hier zeigt sich doch, dass es kein Schlupfloch, keinen Persilschein für Energieversorgungsunternehmen gibt. Wenn unlauter gehandelt wird, wird
dagegen durch die zuständigen Behörden vorgegangen.
Daher brauchen wir keine Strompreisaufsichtsbehörde
mehr. Diese Behörde wurde abgeschafft, um überhaupt
den Weg für einen Energiemarkt frei machen zu können.
Die Strompreisaufsicht ist nämlich nicht die Rettung vor
einer monopolisierten Versorgungswirtschaft, sie ist ein
wesentliches Element davon. Wenn die Preise zentral
staatlich festgelegt werden, gibt es keinen Anreiz, besser
und billiger zu werden. Es gibt keinen Anreiz, sich als
neuer Versorger auf dem Markt etablieren zu wollen. Es
gibt keinen Anreiz, als Kunde zu einem anderen Versorger
zu wechseln, schließlich haben alle den gleichen Preis.
Wir wollen aber nicht mehr die behäbigen Staatsmonopolisten von einst. Wir wollen Unternehmen, die im Wettbewerb um Kunden stehen, sich gegenseitig zu mehr Effizienz treiben, sorgen aber zugleich mit unseren Regeln
dafür, dass die Sicherheit der Energieversorgung nicht
gefährdet wird. Nur so können wir auch Teil eines europäischen Marktes sein, weil genau das auch das Leitmotiv der gesamten europäischen Energiepolitik ist. Es wäre
fatal, aus dem europäischen Konzert auszuscheiden: Der
Weg ist richtig, und wir müssen ihn weitergehen.
Schließlich unterstellt der Antrag der Linken, dass der
Strommarkt „hochspekulativ“ ist, sich die Beteiligung
von Banken, Finanzdienstleistern und Hedgefonds als
sehr nachteilig erweist und der „Derivatehandel“ verboten gehört. Das ist Quatsch! Der Strommarkt ist ein Warenmarkt, das bedeutet, dass Waren hergestellt und verkauft werden; der Markt sorgt dafür, dass Hersteller und
Abnehmer - bzw. beim Strom meistens Weiterverteiler einander treffen. Weil die Elemente der Preisbildung und
die sehr stabile Abnehmerstruktur weitestgehend bekannt
sind, bietet sich der Markt für Spekulation gerade nicht
an. Die allermeisten Teilnehmer haben nämlich ein Produkt, das sie verkaufen wollen - sogar müssen -, oder
brauchen genau dieses Produkt für ihre eigenen Endkunden. Die Märkte sind also von echten physischen Interessen getrieben. Die Rolle von anderen Spielern auf dem
Markt, wie Banken, ist weiterhin stark beschränkt. Zugleich handelt es sich aber um eine wichtige Rolle. Denn
Banken bringen dem Markt die dringend benötigte Liquidität. Jeder wird wohl der These zustimmen, dass ein
Markt umso besser ist, je mehr Marktteilnehmer es gibt.
Damit steigt die Chance, zu einem beliebigen Zeitpunkt
kaufen oder verkaufen zu können. Was hilft es, einen
Markt zu haben, wenn ich keinen Handelspartner finde?
Banken helfen hier, sie ermöglichen mehr Handel. Natürlich verdienen Banken daran, das ist aber auch legitim,
weil sie einen Service für den Markt bieten. Sie ergänzen
die klassischen Marktteilnehmer, konkurrieren aber nicht
mit ihnen. Denn letztlich wird der Strom irgendwann von
einem Kraftwerk physisch produziert und von einem Verbraucher abgenommen. Banken helfen nur bei der richtigen Allokation.
Ein Missverständnis scheint schließlich auch in dem
Konzept des Derivatemarktes zu liegen. Es würde an dieser Stelle viel zu weit führen, den Begriff des Derivates
korrekt abzugrenzen. Aber anscheinend soll der Terminhandel mit Strom damit gemeint sein. Wer vom Stromhandel redet, spricht automatisch von Terminhandel. Denn
der Strom, den ein Kraftwerk produziert, muss vor der
Produktion schon verkauft sein. Er ist schließlich nicht
lagerbar. Kann ein Kraftwerksbetreiber seinen Strom
nicht verkaufen, wird er seinen Brennstoff nicht verbrennen. Es ist daher nicht nur vernünftig, sondern praktisch
notwendig, dass Strom langfristig verkauft wird. Nur so
können letztlich auch die Versorgungssicherheit und ein
stabiler Strompreis für die Endkunden garantiert werden.
Der diffamierte Derivatehandel ist also ein Instrument
des Stromhandels, das auf Grund der Nichtlagerbarkeit
absolut zwingend ist. Und das gilt auch für den echten
Derivatehandel, also rein finanzielle Produkte. Denn
auch diese Produkte dienen nicht der Spekulation sondern der Absicherung von Preisen für Hersteller und Abnehmer, sie erzeugen also wirtschaftliche Planbarkeit.
Ein letztes Missverständnis räume ich auch noch
gerne aus: Sinken die Preise etwa, weil die Banken und
Hedgefonds sich aus dem Stromhandel zurückgezogen
haben? Nein, natürlich nicht! Die Preise sinken, weil die
Nachfrage aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise sinkt.
Es wird weniger gearbeitet, da wird weniger Strom benötigt. Und das Gleiche gilt auch für die Brennstoffe, auch
hier sinkt die Nachfrage, sodass die Preise nach unten gehen.
Wahrscheinlich haben Sie nicht viel davon verstanden
oder verstehen wollen, aber ich fasse es Ihnen trotzdem
gerne nochmals zusammen:
Eine Strompreisaufsicht einzuführen, vernichtet Wettbewerb, statt ihn zu stärken. Gegen missbräuchlich überhöhte Verbraucherpreise gehen die Wettbewerbsbehörden vor.
Den Derivatehandel zu verbieten, hieße, dem Stromhandel seine dringend benötigte Langfristigkeit zu nehmen. Aber nur durch Langfristigkeit können stabile Versorgung und auch stabile Preise geschaffen werden.
Die Kontrolle des gesamten Stromhandels einer öffentlichen Einrichtung zu übergeben, ist unnötig, da der gesamte Handel bereits einer entsprechenden Kontrolle
durch staatliche Stellen unterliegt. Jede Regulierung
sollte im Übrigen immer im europäischen Kontext geschehen.
Den Stromhandelsmarkt nur für Unternehmen zu öffnen, die „unmittelbar physische Stromgeschäfte“ durchführen wollen, hieße, dem Markt dringend benötigte Liquidität zu entziehen. Die Folge wären deutlich
schwankendere Preise und gerade damit eine höhere Attraktivität für spekulative Geschäfte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Den Spotmarkt - der Strombörsen oder aller kurzfristiger Geschäfte? - vollständig den Regeln des Wertpapierhandelsgesetzes, WpHG, zu unterwerfen, bedeutete
eine erstickende Überregulierung eines Marktes. Müssten dann auch Obsthändler auf einem Großmarkt dem
WpHG unterworfen werden, wenn sie Äpfel verkaufen?
Im Übrigen gilt: Wenn Spotmarktpreise manipuliert werden sollten, haben sowohl die Börsenaufsicht als auch die
Wettbewerbsbehörden die Möglichkeit, einzugreifen, ein
Kontrollvakuum besteht also nicht.
Aber diese Fakten werden Sie nicht wahrhaben wollen,
da sie Sie nur in Ihrer Parallelwelt stören. Darum wird es
an dieser Stelle leider auch weiterhin heißen: „Alle Tage
wieder …“
Der vorliegende Antrag der Linken versucht, einen
ausschließlichen Zusammenhang zwischen den Strompreiserhöhungen am Jahresanfang und einem Marktmachtmissbrauch durch die großen Energieversorgungsunternehmen herzustellen, den es in dieser Reinform
sicher nicht gibt. Es ist zweifellos richtig, dass zahlreiche
Stromvertriebe ihre Preise Anfang 2009 erhöht haben.
Die meisten Vertriebe haben - ganz unabhängig davon,
ob sie zu einem Großkonzern gehören oder nicht - ihren
Strom für 2009 zu einem kleinen Teil bereits im Jahr 2007
und zum überwiegenden Anteil im ersten Halbjahr 2008
beschafft. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Großhandelspreise zu dem Zeitpunkt deutlich über denen von
heute lagen. Die Linken begründen dies nun ausschließlich mit einem Missbrauch der Marktmacht durch die
großen vier EVUs und vergessen, einen Zusammenhang
zwischen den hohen Öl- und Gaspreisen, den - als Folge
des weltwirtschaftlichen Wachstums - hohen CO2-Zertifikatepreisen und den Strompreisen an der EEX herzustellen.
Der Vorwurf, Eon und RWE hätten in der Vergangenheit ihre - zweifelsohne vorhandene - Marktmacht missbraucht, ist sicher durchaus richtig. Die mittlerweile
gegen Auflagen eingestellten Verfahren der EU-Kommission bestätigen dies. Seither hat sich jedoch sehr viel in
Sachen Transparenz insbesondere auf dem deutschen
Strommarkt getan. Die Transparenzinitiative wird auch
2009 mit einer gemeinsamen Internetplattform bei der
EEX weiter fortgesetzt. Was den Bereich der Strom- und
Gasnetze angeht, so konnte nach mehreren Jahren Regulierung durch die Bundesnetzagentur sowie durch gesetzgeberisches Handeln wie die Kraftwerksnetzanschlussverordnung ein diskriminierungsfreier Netzzugang
weitgehend hergestellt werden.
Die von den Linken in fast jedem Antrag zur Energiepolitik wiederholte Forderung nach einer Wiedereinführung einer Strompreisaufsicht bei den Ländern wird auch
dadurch nicht richtiger, dass man sie gebetsmühlenartig
wiederholt. Was falsch ist, bleibt falsch! Die staatliche
Preisaufsicht hat sich immer nur auf den Vertrieb bezogen. Hier hilft uns kein Rückfall in die staatliche Preisaufsicht, sondern nur mehr Wettbewerb. Im Strom-Endkundenmarkt kommt dieser Wettbewerb mittlerweile sehr
gut in Gang. Im Jahr 2007 haben rund 1,3 Millionen
Stromkunden den Versorger oder zumindest den Tarif gewechselt. Eine staatliche Preisaufsicht würde diesen gerade aufkeimenden Wettbewerb gleich wieder zunichte
machen. Die jüngsten Untersuchungen des Internetportals Verivox zeigen sogar, dass sich der Wettbewerb im
Endkundenmarkt im Strom- wie im Gasmarkt 2008 so gut
wie noch nie entwickelt hat. Im Durchschnitt kann jeder
Kunde in Deutschland zwischen 53 Strom- und acht Gasanbietern wählen und so bis zu 400 Euro im Vergleich
zum Tarif des Grundversorgers sparen.
Mit der Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen haben wir dem Bundeskartellamt mehr
Macht im Kampf gegen missbräuchlich überhöhte Endkundenpreise eingeräumt. Das ist der richtige Weg - und
er zeigt erste Erfolge, wie die ebenfalls auflagenbewehrte
Einstellung des Missbrauchsverfahrens gegen 29 Gasversorger bis Anfang Dezember 2008 gezeigt hat.
127 Millionen Euro müssen über eine zweimonatige Verschiebung der Preiserhöhung und Boni in diesem Jahr an
die Kunden zurückgegeben werden. Weitere Verfahren
gegen Gasversorger stehen nach Aussage des Bundeskartellamtes kurz vor dem Abschluss. Im Strommarkt hat das
Bundeskartellamt dagegen noch gegen keinen einzigen
Versorger ein Missbrauchsverfahren eröffnet. Auch das
ist ein Indiz dafür, dass es mit dem Wettbewerb dort so
schlecht nicht bestellt ist.
Die von den Linken geforderte staatliche Preisaufsicht
auf Länderebene konnte die Verbraucher dagegen schon
in der Vergangenheit nicht vor Preiserhöhungen schützen
und sie wird dies auch in Zukunft nicht können. Die
Energiekostenentwicklung der vergangenen Jahre stellt
für immer mehr Haushalte eine ganz erhebliche Belastung dar - auch wenn die Energiepreise jetzt konjunkturbedingt fallen. Die Menschen erwarten von der Politik,
Handlungsoptionen aufgezeigt zu bekommen. Dabei sollten wir der Bevölkerung jedoch keine unhaltbaren
Versprechungen machen. In Zeiten einer wachsenden
globalen Energienachfrage und gleichzeitig knapper
werdender Ressourcen wäre es falsch, Hoffnungen auf
dauerhaft niedrige Energiepreise zu wecken.
Nationale Politik kann auf die Preisentwicklung auf
den Weltmärkten nur sehr bedingt Einfluss nehmen. Sie
kann aber dabei mithelfen, wenn schon nicht die Preise,
so doch die Kostenbelastung für die Verbraucher im bezahlbaren Rahmen zu halten. Ganz oben auf der Tagesordnung muss deshalb stehen, gleichen Lebenskomfort
bei sinkendem Energieverbrauch zu ermöglichen. Die
Koalition hat ihre Energie- und Klimapolitik auf diese
Maxime ausgerichtet. Ein wesentlicher Pfeiler unserer
Politik ist das integrierte Energie- und Klimaprogramm,
in dem wir zahlreiche Maßnahmen aus allen Politikbereichen gebündelt haben. Kraft-Wärme-Kopplung und der
verstärkte Einsatz erneuerbarer Energien im Strom- und
Wärmesektor verringern unsere Importabhängigkeit und
mindern die Energiekostenbelastung der privaten Haushalte.
Schon seit Jahren schaffen wir darüber hinaus mit dem
CO2-Gebäudesanierungsprogramm Anreize zur energetischen Gebäudesanierung. Allein im vergangenen Jahr
wurden mehr als 100 000 zinsgünstige Kredite und ZuZu Protokoll gegebene Reden
schüsse mit einem Volumen von 6,4 Milliarden Euro für
energetische Sanierungen oder energiesparende Neubauten zugesagt. Seit 2006 konnten rund 800 000 Wohnungen
energieeffizient saniert oder neu errichtet werden.
Gleichzeitig mit der dauerhaften Entlastung der Haushalte bei ihrer Energiekostenrechnung werden damit seit
2006 jährlich bis zu 220 000 Arbeitsplätze in der mittelständischen Bauwirtschaft und im lokalen Handwerk gesichert. Im Rahmen des ersten Konjunkturprogramms hat
die Koalition die Mittel für die CO2-Gebäudesanierung
für 2009 bis 2011 um je 580 Millionen Euro auf rund
1,5 Milliarden Euro jährlich aufgestockt.
Ein weiteres Element des integrierten Energie- und
Klimaprogramms ist das ebenfalls bereits verabschiedete
Gesetz zur Liberalisierung des Zähl- und Messwesens.
Anfang 2010 haben Endkunden das Recht, sich intelligente Strom- und Gaszähler einbauen zu lassen. Damit
schaffen wir Transparenz über den tatsächlichen Energieverbrauch und eröffnen neue Möglichkeiten zur
gezielten Last- und Verbrauchssteuerung. In das Gesetz
haben wir auch die Pflicht für Energieversorgungsunternehmen aufgenommen, spätestens Ende 2010 tageszeitoder lastvariable Tarife anbieten zu müssen. Damit eröffnen sich für Verbraucher und Energieversorger neue
Möglichkeiten.
Diesen Weg gilt es fortzusetzen, beispielsweise durch
Ausweitung des Contractings auf den Mietwohnbereich.
Contracting ist die Brücke ins Zeitalter der Energiedienstleistungen, ermöglicht ein professionelles Management der Energieverbräuche und generiert - wenn es gut
ausgestaltet ist - Einsparungen von Energiekosten. Wir
wollen deshalb möglichst noch in dieser Wahlperiode
eine Regelung zur Erleichterung von Contracting im
Mietwohnbereich verabschieden.
Im Rahmen des noch für diese Legislaturperiode geplanten Energieeffizienzgesetzes wollen wir darüber hinaus einen Energieeffizienzfonds einrichten, der paritätisch aus öffentlichen und privaten Mitteln gespeist wird.
Mit Mitteln aus diesem Fonds sollen vor allem eine Energiesparberatung insbesondere finanzschwacher privater
Haushalte sowie ein anschließender Zuschuss für den
Austausch alter Haushaltselektrogeräte durch neue
Geräte mit der jeweils höchsten Energieeffizienzklasse
finanziert werden.
Sie werden verstehen, dass wir aus all diesen Gründen
den vorliegenden Antrag ablehnen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist für mich ein Beispiel, wie man aus einer Analyse des deutschen Strommarktes, der ich teilweise zustimme, dennoch vollständig
falsche Schlussfolgerungen ziehen kann. Auch die FDPBundestagsfraktion hat immer kritisiert, dass der deutsche Strommarkt in seiner wettbewerblichen Struktur immer noch erhebliche Defizite aufweist. Solange wir auf
der Erzeugerebene ein Duopol von zwei Versorgern haben, bleibt auch der Spielraum für Preiswettbewerb auf
den folgenden Absatzstufen begrenzt.
Nichtsdestotrotz finden wir in diesen Grenzen auf der
Endverbraucherstufe heute durchaus lebhaften Wettbewerb. Wer hier den richtigen Tarif wählt, kann mehr sparen als die im Antrag der Linken aufgeführten Mehrkosten von bis zu 80 Euro im Jahr, die als Preiserhöhung von
einigen Energieversorgern gefordert werden.
Für die grundlegenden Strukturen des Wettbewerbs
auf dem deutschen Strommarkt bleibt aber richtig, dass
wir hier dringend Veränderungen brauchen. Die FDPBundestagsfraktion hat daher in ihren Anträgen wiederholt eine Stärkung des Bundeskartellamtes gefordert und
eine Erweiterung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen um das Recht, bei Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung auch eine horizontale oder vertikale Entflechtung vornehmen zu können. Ob sich der
von der europäischen Kommission gegenüber Eon erzwungene Verkauf eines Teils seiner Kraftwerkskapazitäten positiv auf dem Markt auswirken wird, bleibt abzuwarten.
Bedauerlich ist, dass sich auch bei der Auflösung der
zahlreichen Verflechtungen zwischen den großen Energieversorgern und Stadtwerken noch keine durchgreifende Verbesserung zeigt. Der Verkauf der Thüga kommt
anscheinend nicht voran.
Statt an den Wurzeln des Problems, nämlich dem fehlenden Wettbewerbs bei der Stromproduktion anzusetzen,
will der Antrag der Fraktion Die Linke an den Symptomen kurieren. Die vorgeschlagene Rückkehr zu einer
Strompreisaufsicht bei den Ländern mag populär sein,
eine Lösung für das Preisproblem wird sie in keinem Fall
bringen. Die Strompreisaufsicht würde uns zurück in den
Zustand vor der Liberalisierung katapultieren. Genau
diese Aufsicht hat es nicht verhindern können, dass die
Strompreise in Deutschland zu Beginn der Liberalisierung zu den höchsten Europas zählten. Die Kontrolleure
bei den Ländern waren den kontrollierten Unternehmen
vom Wissensstand jederzeit unterlegen. Das Ganze war
nichts anderes als ineffziente Basarökonomie.
Für den Wettbewerb käme die Rückkehr zur Preisaufsicht einer Katastrophe gleich. Neue Stromanbieter und
Händler würden zusammen mit den von ihnen geschaffenen Arbeitsplätzen wieder vom Markt gefegt. Das Recht
des Verbrauchers, sich seinen Stromanbieter auszusuchen, wäre bei einem Einheitspreis Makulatur. Der gesamte Energiehandel würde gegen die Wand gefahren.
Denn steigen die Erzeugerpreise infolge von Preissteigerungen auf dem Markt für CO2-Zertifikate, so müsste der
Stromhandel im Einkauf höhere Preise zahlen, könnte
aber diese Preissteigerungen nicht mehr an die Endkunden weitergeben. Das heißt, die Stromhändler würden
hohe Verluste aufhäufen. Damit würde genau die Situation erzeugt, die in Kalifornien zum Zusammenbruch der
Stromversorgung geführt hat.
Die Forderung, den gesamten Stromhandel einschließlich außerbörslichen Geschäften einer öffentlichen Einrichtung zu übertragen, zeigt was wirklich gewollt ist,
nämlich eine De-facto-Verstaatlichung der Stromwirtschaft. Dazu passt auch die Forderung der Fraktion Die
Linke, die Energienetze in staatliches Eigentum zu überführen. Dass der Staat mit einem Anteil von fast 40 ProZu Protokoll gegebene Reden
zent an den Stromkosten der Haushalte bereits heute der
größte Preistreiber ist, bleibt leider unerwähnt.
Die FDP-Bundestagsfraktion ist dafür, dass Marktmacht
dort, wo sie von marktbeherrschenden Unternehmen ausgeübt wird, effektiv kontrolliert wird und gegen Missbrauch
durch das Kartellamt oder die EU-Kommission streng vorgegangen wird. Wichtige Handelseinrichtungen wie die
Strombörse EEX müssen mit Aufsichtssystemen gekoppelt
werden, die Preismanipulation verhindern können. Deshalb fordern wir eine Marktbeobachtungsstelle, die in der
Lage ist, die Handelsprozesse an der Börse zu überwachen und einem Manipulationsverdacht sofort nachzugehen. Die Handelsteilnehmer als solche zu beschränken,
bringt dagegen nichts. Damit wird nur Handelsliquidität
vom Markt genommen. Der Handel über zukünftige
Preise ist aufgrund der erforderlichen Prognosen immer
spekulativ, egal wer an diesem Handel beteiligt ist.
Die richtige Botschaft sollte also nicht der Ruf nach
mehr Staat sein, sondern bessere wettbewerbliche Strukturen und strikte Missbrauchsaufsicht.
Die Konjunktur bricht ein. Die Leute verlieren ihre
Jobs. Schon wird Lohnverzicht gefordert und selbst Autos
erhalten „Sozialhilfe“. Nur die Stromkonzerne machen
weiter wie bisher. Auch Anfang 2009 stiegen die Stromrechnungen wieder einmal um 10 Prozent - als gäbe es
keine Krise. Das ist für Die Linke völlig inakzeptabel. Das
ist Diebstahl per Steckdose.
Schlimmer noch: Dieser Feldzug gegen die Verbraucherinnen und Verbraucher wird maßgeblich von der
Bundesregierung betrieben. Erstens: CDU/CSU und
SPD haben die Strompreisaufsicht Mitte 2007 abgeschafft. Seit diesem Zeitpunkt verteuert sich elektrische
Energie doppelt so schnell. Denn niemand sieht dem Kartell hinter der Steckdose mehr auf die Finger. Zweitens:
Wirksame Maßnahmen der EU-Kommission gegen die
Energiekonzerne zur Eindämmung der Monopolwirtschaft werden von der Bundesregierung gezielt verhindert. Erst diese Woche hat sie einen Vorschlag Brüssels
zur Zerschlagung des Stromkartells zu Fall gebracht ganz nach dem Wunsch von Eon, RWE und Co. Drittens:
die Große Koalition sieht dem Treiben von Hedgefonds
und Banken an der Strombörse EEX tatenlos zu. Dort
werden durch den Handel mit Derivaten künstliche
Strompreise erzeugt, die weit über den nachvollziehbaren
Stromgestehungskosten liegen. Die Strombörse war bis
zur Wirtschaftskrise nichts anderes als eine Gelddruckmaschine für Spekulanten. Die Wirtschaftskrise selbst ist
der beste Beleg für die Zockerei an der EEX. Kaum geht
den Hedgefonds und Banken das Geld aus, sinkt der Handelspreis auf ein Drittel.
Beim Blick auf die Stromrechnung reiben sich nun
viele Verbraucherinnen und Verbraucher die Augen. Die
Spekulanten sind pleite und trotzdem drehen RWE und
Eon an der Preisschraube. Der Grund: Viele Stadtwerke
und Regionalversorger mit geringer Eigenversorgung
mussten sich weit im Voraus mit verfügbarem Strom vom
Markt eindecken. Sie bekommen jetzt die Energie geliefert, die sie vor einem Jahr teuer kaufen mussten. Preissenkungen sind deshalb erst ab Herbst zu erwarten. Deshalb müssen wir jetzt den Spekulanten das Handwerk
legen. Ein Verbot des hoch spekulativen Derivatehandels
durch Hedgefonds und Banken verhindert eine erneute
Preisspirale nach oben, bevor diese wieder Spielgeld haben. Das ist doch klar: Hedgefonds kaufen keinen Strom,
um ihre Büros mit elektrischer Energie zu versorgen, sondern um 30 Prozent Profit zu machen. Das Stromgeschäft
gehört zurück in die Hände der Stadtwerke, und der Monopolwirtschaft der Konzerne muss durch eine wirksame
Preisaufsicht ein Ende bereitet werden.
Die Linke fordert deshalb eine wirksame Strompreisaufsicht mit Zuständigkeit bei den Ländern einzuführen,
der gegenüber die Energieversorger die Zusammensetzung aller Tarife vorab offenlegen müssen. Gleichzeitig
soll ein Verbraucherbeirat den Stromkundinnen und
Stromkunden ein Mitspracherecht gewährleisten und in
deren Interesse die behördliche Tätigkeit zu überwachen;
den Derivatehandel sowie Hedgefonds an der Strombörse
zu verbieten und die Kontrolle des gesamten Stromhandels einschließlich außerbörslicher Geschäfte einer öffentlichen Einrichtung zu übertragen; am Stromhandelsmarkt nur Teilnehmer zuzulassen, die unmittelbar
physische Stromgeschäfte durchführen, und den Spotmarkt für den kurzfristigen Handel vollständig den Regeln des Wertpapierhandelsgesetzes zu unterwerfen, um
unzulässige Preisauftriebe für den langfristigen Terminmarkt zu unterbinden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich endlich auf
die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher zu stellen, um die Abzocke per Steckdose zu beenden.
Steigende Energiepreise sind ein soziales Problem und
ein wichtiges Thema. Wir haben darüber an dieser Stelle
schon oft diskutiert - mindestens vierzehnmal in den letzten drei Jahren. Vierzehnmal wurde die Preistreiberei der
Energiekonzerne gescholten, vierzehnmal der mangelnde
Wettbewerb auf den Strom- und Gasmärkten beklagt.
Vierzehnmal wurde auf die prekäre Situation einkommensschwacher Haushalte hingewiesen und vierzehnmal
Energiesparen als Lösung eingefordert. Und noch eines
war in allen Debatten gleich: Vierzehnmal wurde die Untätigkeit der Bundesregierung kritisiert und das geschah
jedes Mal zu Recht.
Über 80 Prozent der Stromversorgung werden von den
vier großen Energiekonzernen beherrscht, und die Bundesregierung tut nichts, um dieses Kartell aufzubrechen.
Die Übertragungsnetze gehören zu 100 Prozent den gleichen vier Konzernen, und wenn es nach der Bundesregierung geht, wird das auch immer so bleiben. Sie haben
nichts getan, um den Konzernen die Macht über die Netze
zu nehmen, und jede Initiative abgeblockt, die darauf abzielte. Sie haben tatenlos zugesehen, wie die Energiekonzerne den Verbrauchern Jahr für Jahr Milliarden für geschenkte Emissionszertifikate in Rechnung stellten, statt
diese unverdienten Profite abzuschöpfen und an die Verbraucher zurückzuerstatten. Und Sie haben auch Hinweise auf Manipulationen an der Leipziger Strombörse
nicht zum Anlass genommen, endlich durchzugreifen.
Das Ergebnis dieser Politik sind fehlender Wettbewerb,
Zu Protokoll gegebene Reden
unfaire Preise und Energiekonzerne, die schalten und
walten können, wie sie wollen.
Genauso ernüchternd sieht Ihre Bilanz beim Thema
Energieeffizienz aus. Dabei ist mehr Energieeffizienz
nicht nur ein Weg, die Energiekosten der Verbraucher zu
senken. Investitionen in mehr Energieeffizienz sind auch
das beste Konjunkturpaket: Sie schaffen Arbeitsplätze,
modernisieren unsere Wirtschaft und sparen Ressourcen.
Doch statt eine Energiesparoffensive zu starten, lähmt
sich die Bundesregierung im Streit zwischen Umweltminister und Wirtschaftsminister.
Die Umsetzung der europäischen EnergieeffizienzRichtlinie ist jetzt schon seit über zehn Monaten überfällig. Das hat der Bundesregierung schon einen blauen
Mahnbrief aus Brüssel eingebracht. Und das Energieeffizienzgesetz der Bundesregierung musste im Kabinett
schon dreimal ergebnislos vertagt werden. Notwendig
wären die Einrichtung eines Energiesparfonds, ein verpflichtendes Energieaudit für energieintensive Unternehmen und die Vorgabe verbindlicher Einsparziele für die
Energieversorger. Indem sie nichts davon beschließt, vergibt die Bundesregierung die Chance, die Verbraucherinnen und Verbraucher zu entlasten, das Klima zu schützen
und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Freuen können sich
darüber nur die Energiekonzerne, die an niedrigeren Energierechnungen kein Interesse haben.
Die Bundesregierung ist entweder nicht willens oder
nicht fähig, mehr Energieeffizienz, faire Preise und echten Wettbewerb durchzusetzen. Ich fürchte, daran wird
auch eine fünfzehnte oder sechzehnte Bundestagsdebatte
nichts ändern. Da hilft nur eine neue Bundesregierung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11908 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen
Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Ausschuss der Regionen Gemeinsame Planung
der Forschungsprogramme: bessere Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen durch
Zusammenarbeit ({1})
KOM({2}) 468 endg.; Ratsdok. 11935/08
- Drucksachen 16/10286 Nr. A.76, 16/12416 Berichterstattung:
Abgeordnete Carsten Müller ({3})
Cornelia Pieper
Krista Sager
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Carsten Müller, Röspel, Pieper, Dr. Sitte,
Sager.
In Deutschland und Europa kann unsere Zukunft nur in
der Entwicklung hin zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft liegen. Nur so können wir in Zeiten zunehmender Globalisierung im direkten Wettbewerb mit anderen
Großwirtschaftsräumen wie Asien oder Nordamerika bestehen.
Die Vernetzung der zahlreichen Spitzenforschungseinrichtungen Europas zu einem Europäischen Forschungsraum ist daher ein wichtiges Element zur besseren Nutzung unserer wissenschaftlichen Ressourcen. Nur so kann
langfristig eine Sicherung von Arbeitsplätzen und damit
die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden.
Wesentliche Elemente zur Verwirklichung eines Europäischen Forschungsraums sind dabei das EU-Forschungsrahmenprogramm und das 3-Prozent-Ziel für Forschung
und Entwicklung. Die CDU/CSU-Bundestagfraktion setzt
sich darüber hinaus dafür ein, dass wir in Deutschland
10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung erreichen.
Die Bundesregierung mit unserer Ministerin Dr.
Annette Schavan und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
unterstützen diese Bemühungen. Denn Freiheit und Mobilität sind immer Grundlage für herausragende Wissenschaft und Forschung. Nur mit Exzellenz und Innovation
haben wir den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Herausforderungen der Zukunft etwas entgegenzusetzen.
Auch die EU Kommission versucht, den Europäischen
Forschungsraum weiter zu entwickeln. In Ihrer Mitteilung zur „Gemeinsamen Programmplanung“ empfiehlt
sie, die Koordinierung der nationalen Forschungsprogramme auf EU-Ebene zu verstärken. Diesen neuen Ansatz der EU-Forschungszusammenarbeit begründet die
Kommission vor allem damit, dass die bisherigen Bemühungen der Koordinierung unzureichend seien.
Diese Feststellung der Kommission ist undifferenziert
und unzutreffend. Wir haben durch unsere Bemühungen
bereits viel erreicht, um die Leistungsfähigkeit des europäischen Forschungsraumes zu erhöhen. Die Mitgliedstaaten haben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, um die nationalen Förderprogramme in
ihrer Wirksamkeit zu verbessern und die internationale
Zusammenarbeit zu verstärken. Dass diese Bemühungen
erfolgreich sind, zeigen die Ergebnisse der regelmäßigen
unabhängigen Evaluierungen.
Die Methode der offenen Koordinierung hat sich in
diesem Zusammenhang als sehr erfolgreich erwiesen. Im
Vordergrund steht dabei die freiwillige Zusammenarbeit
der einzelnen Mitgliedstaaten und der Erfahrungsaustausch anhand modellhafter und bewährter Beispiele aus
der Praxis ({0}). Auf diese Art der Politikkoordinierung wurde beispielsweise ein Reform- und Diskussionsprozess auf einzelstaatlicher Ebene in Gang gesetzt,
der als Ergebnis nationale FuE-Investitionszielvorgaben
in allen Mitgliedstaaten vorweisen kann.
Carsten Müller ({1})
Darüber hinaus besteht in bestimmten Gebieten bereits eine enge Vernetzung bzw. Koordination, unterstützt
durch das derzeitige 7. Forschungsrahmenprogramm sowie weitere europäische Initiativen, wie dem Europäischen Forschungsrat und dem Europäischen Institut für
Forschung und Technologie.
Verbindliche Regelungen für die Einrichtung von
Strukturen sind wichtig für eine effiziente gemeinschaftliche Forschung in Europa. Derzeit ist aber keine Notwendigkeit für die Einführung weitergehender Steuerungsmaßnahmen zu erkennen. Vielmehr ist es wichtig,
zunächst die neuen Instrumente der Forschungskoordinierung auf ihre Wirksamkeit hin durch eine Evaluierung
zu gegebener Zeit zu überprüfen. Dies gilt für die Einrichtung des Europäischen Forschungsrats ({2}) und die
Errichtung des Europäischen Instituts für Innovation und
Technologie ({3}). Vor der Einführung neuer Verfahren
muss in jedem Fall sichergestellt werden, dass keine weiteren bürokratischen Hürden und finanziellen Belastungen für die Mitgliedstaaten entstehen.
In einer Videokonferenz mit EU-Forschungskommissar Potocnik hatte man den Eindruck, dass auch die Kommission selbst nicht genau weiß, was sie will. Die EUKommission blieb sehr im Ungefähren und hat damit keinen Anlass gegeben, Kompetenzen an sie abzugeben.
Denn Kompetenzen gibt man nur dann ab, wenn man der
Überzeugung ist, dass sie auch kompetent ausgefüllt werden.
Die geplanten Maßnahmen müssen in jedem Fall sicherstellen, dass die Entscheidungsfreiheit der einzelnen
Mitgliedstaaten über Art und Inhalt der nationalen Forschung unangetastet bleibt. Die Kommission darf sich auf
diesem Weg keine zusätzlichen Kompetenzen wie zum
Beispiel die abschließende Entscheidung über Aufbau
und Standort von Forschungsinfrastrukturen aneignen.
Eine solche Vorgehensweise verletzt das Subsidiaritätsprinzip. Die Planung der Forschungsschwerpunkte der
Mitgliedstaaten ist keine originäre Aufgabe der EU-Kommission. Dies gilt insbesondere dann, wenn auf diesem
Weg finanzielle Mittel aus den bestehenden Programmen
entzogen werden. Will die EU eigene Instrumente implementieren, muss sie dafür auch eigenes Geld in die Hand
nehmen.
Die Einführung von weiteren Maßnahmen zulasten der
finanziellen Ausstattung von laufenden Programmen ist
kontraproduktiv und schwächt die positive Entwicklung
des Europäischen Forschungsraumes. Geld muss grundsätzlich in Maßnahmen und konkrete Projekte gesteckt
werden und nicht in Strukturen. Es gilt zu verhindern,
dass die sowieso schon als koordinierendes Element sehr
stark bürokratisch belastete EU nicht weitere Verwaltungsstrukturen aufbaut, die Kosten und Aufwand verursachen. Dies öffnet Tür und Tor für einen Zugriff auf die
Kompetenzen der Mitgliedstaaten und möglicherweise
auf finanzielle Mittel, die für andere gemeinsame Forschungsprogramme der Mitgliedstaaten vorgesehen waren.
Es gibt genug andere Ideen, die zu verfolgen sich
lohnt. Mit dem ERC und dem EIT wird bereits ein hohes
Maß an Forschungskoordinierung umgesetzt. Das macht
den Europäischen Forschungsraum effektiv und schlagkräftig, gibt Impulse für neue Innovationen. Eine Konzentrierung ist gut zur Stärkung der Forschung. Sie darf aber
nicht bevormunden.
Besonders bei Großprojekten ist eine europaweite Zusammenarbeit und in diesem Rahmen eine Vernetzung
sinnvoll und wünschenswert, da die einzelnen Mitgliedstaaten solche Aufgaben aufgrund ihres Umfangs nicht
alleine schultern können. Von einer generellen Festlegung von Forschungsthemen seitens der europäischen
Ebene ist jedoch dringend abzusehen. Das bisher geltende und durch den Europäischen Verfassungsvertrag
weiter gestärkte Prinzip der Subsidiarität darf in diesem
Zusammenhang ebenfalls nicht verletzt werden. Vor dem
Hintergrund unserer ureigenen nationalen Interessen
kann eine zentral von Brüssel ausgehende Zuweisung von
Forschungsgebieten und Forschungsthemen nicht akzeptiert werden.
Die EU-Mitgliedstaaten befinden sich im Bereich der
Forschung nicht nur mit anderen Wirtschaftsräumen,
sondern auch untereinander im Wettbewerb. Nicht zuletzt
hat die nationale Festlegung von Forschungsschwerpunkten ebenfalls enorme Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und somit auch auf den
Arbeitsmarkt unseres Landes. Deutschland ist heute in
vielen Forschungsbereichen im weltweiten Vergleich führend. Eine zentralisierte Planung würde den Verlust von
Technologieführerschaft nach sich ziehen, mit direkten
negativen Auswirkungen auf unseren Wirtschaftsstandort
und unseren Arbeitsmarkt.
Forschung und Entwicklung sind wichtig - besonders
auch in Zeiten der wirtschaftlichen Krise. Die kommenden Herausforderungen an unsere Gesellschaft sind bereits heute bekannt: demografischer Wandel, begrenzte
Energieressourcen, Pandemien. Wir haben jetzt die
Chance, uns durch intensive Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen darauf vorzubereiten und eine technologische Spezialisierung zu erreichen. Darin liegt die Zukunft der Mitgliedstaaten und der EU. Daher ist es umso
bedeutsamer, dass sich die Mitgliedstaaten in diesem Bereich stark aufstellen können, um so der Krise erfolgreich
zu begegnen.
Der Europäische Forschungsraum ist ein wichtiges
Element zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas
im globalen Wettbewerb um Innovationen und Technologien. Deutschland ist Teil dieses Forschungsraumes und
unterstützt die gemeinsame Koordinierung auf der Ebene
der EU. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Forschung und Innovation hat sich in unserer Gesellschaft
durchgesetzt. Heute sind drei von vier Europäern davon
überzeugt, dass Forschung und Entwicklung unsere Zukunft sichern. Diese positive Haltung dürfen wir durch
eine Überregulierung nicht ohne Not aufs Spiel setzen.
Das Europäische Parlament hat 2006 für den Zeitraum des 7. Forschungsrahmenprogramms von 2007 bis
2013 über 50 Milliarden Euro an Haushaltsmitteln bereitgestellt. Das ist mehr als eine Verdoppelung des
Budgets des 6. Rahmenprogramms. Mit diesen Geldern
Zu Protokoll gegebene Reden
werden zum Beispiel die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern zu einem Thema
unterstützt oder die Grundlagenforschung von Spitzennachwuchswissenschaftlern durch den Europäischen
Forschungsrat finanziert. Im Durchschnitt gibt die Europäische Kommission bis 2013 jedes Jahr circa
7 Milliarden Euro für Forschung aus. Das ist viel Geld,
aber auch gut angelegtes.
Das diesjährige Budget des deutschen Ministeriums
für Bildung und Forschung liegt, nach einer ordentlichen
Steigerung, bei über zehn Milliarden Euro. Davon gehen
3,5 Milliarden in die Projektförderung und 3,9 Milliarden
Euro werden für die Förderung der großen Forschungseinrichtungen verwendet. Hinzu kommen Gelder der
Bundesländer. Natürlich finanzieren auch alle anderen
europäischen Mitgliedstaaten nationale Forschungsprojekte, einige mehr, andere weniger. Circa 85 Prozent aller
öffentlichen Forschung wird innerhalb der Europäischen
Union auf nationaler Ebene geplant und finanziert. Im
Verhältnis dazu wirkt das 7. Forschungsrahmenprogramm somit gleich viel kleiner.
Es gibt Themen, die aufgrund ihrer Komplexität oder
auch wegen ihrer gesellschaftspolitischen oder internationalen Bedeutung forschungspolitisch nicht von einem
Staat allein gelöst werden können. Ein Beispiel wäre die
Forschung im Bereich des Klimawandels, denn dies betrifft alle Staaten. Aber auch die Finanzierung von Großprojekten wie X-FEL bei Hamburg kann nur von mehreren Staaten gemeinsam geleistet werden. Deshalb
arbeitet Deutschland mit vielen Ländern, auch außerhalb
der Europäischen Union, im Bereich Forschung bereits
jetzt sehr eng zusammen.
Die Europäische Kommission ist der Meinung, dass
die Forschungskooperation stärker ausgebaut werden
müsste. Und da das meiste Geld für Forschung, wie oben
beschrieben, nicht durch die Kommission, sondern durch
die Mitgliedsstaaten vergeben wird, sollen die Mitgliedstaaten ihre Programme besser aufeinander abstimmen.
Sie empfiehlt, auf der Basis der Freiwilligkeit und der variablen Geometrie gemeinsame Forschungsprogramme
zu definieren, zu entwickeln und umzusetzen. Die „Koordinierung der Koordinierung“ will die Kommission dabei
selbst übernehmen.
Prinzipiell ist der Aufruf zu einer engen Forschungskooperation natürlich zu begrüßen. Und sie ist in
der Praxis ja auch schon alltägliches und notwendiges
Geschäft. Wir als SPD glauben aber, dass der von der
Kommission vorgeschlagene Weg nicht der richtige ist.
Damit stehen wir nicht allein. In Vorbereitung für diesen
Entschließungsantrag haben wir alle deutschen Forschungsorganisationen um eine Stellungnahme gebeten.
Herr Professor Rietschel beispielsweise, Präsident der
Leibniz-Gemeinschaft, bringt es in seiner Antwort auf
den Punkt: „Auch ich betrachte die derzeitigen forschungspolitischen Entwicklungen in Europa in Teilen
mit Sorge.“ Alle Forschungsorganisationen sehen die
von der Kommission propagierte Gemeinsame Forschungsplanung eher kritisch.
Anbei möchte ich einige der Hauptkritikpunkte aus den
Antwortschreiben nennen, die wir teilen: die fehlende
Einbindung der Wissenschaft in die Themensuche; der
Aufbau neuer Instrumente, anstatt auf bereits bestehende
zurückzugreifen bzw. diese zu reformieren; die starke
Rolle der EU-Kommission, bei gleichzeitiger finanzieller
Enthaltsamkeit, besonders da man aus der Erfahrung
weiß, dass gemeinsame Koordinierung einen erhöhten
Verwaltungs- und Kostenaufwand zur Folge hat; die Gefahr der Unübersichtlichkeit und Intransparenz der EUForschungsförderung durch die Auslagerung auf eine
weitere Exekutivagentur mit eigenem Management und
Regeln; die mögliche Diskontinuität des Bereiches „Kooperation“ im 8. Forschungsrahmenprogramm.
Solche einstimmige Kritik ist selten und darf nicht
überhört werden. Aus diesem Grund haben wir SPD-Forschungspolitiker gemeinsam mit den Kollegen aus der
Union den vorliegenden Antrag in den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung eingebracht. Besonders gefreut hat es mich, dass dieser dort
einstimmig, sprich von allen Fraktionen des Deutschen
Bundestages, beschlossen wurde. Auch der Bundesrat
und die Bundesregierung haben bereits zur Gemeinsamen Programmplanung kritisch Stellung bezogen. Die
Gemeinsame Programmplanung wird somit sowohl von
der gesamten deutschen Wissenschaft wie auch allen Forschungspolitikern als kritisch eingeschätzt.
Die Bundesregierung hat bereits im Dezember letzten
Jahres ihre Kritik an der Gemeinsamen Programmplanung in Brüssel sehr deutlich vorgetragen. Ein Resultat
war die Schlussfolgerung des Wettbewerbsrates vom
2. Dezember 2008, in der einige deutsche Verbesserungsvorschläge aufgenommen wurden. Grundlegende Probleme bestehen an der Gemeinsamen Programmplanung
aber nach wie vor. Entscheidend wird jetzt sein, wie sich
die Detaildiskussionen entwickeln. Wir schicken die Bundesregierung jetzt mit Forderungen und einem starken
Mandat in diese Verhandlungen. Wir wollen, dass erst die
Erfahrungen und Evaluationen mit den neu geschaffenen
Initiativen und Einrichtungen abgewartet werden, bevor
neue Maßnahmen aufgebaut werden.
Und wir wollen bei aller Sinnhaftigkeit Gemeinsamer
Programmplanung die Kompetenz der Mitgliedstaaten
bei der Forschungsförderung und das Subsidiaritätsprinzip wahren.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal darauf hinweisen, dass auch das forschungsstarke Deutschland in
den letzten Jahrzehnten von der europäischen Forschungsförderung sehr profitiert hat. Deshalb ist uns zum
Beispiel auch die Zukunft des Forschungsrahmenprogramms sehr wichtig. Es geht uns hier also nicht darum,
die gesamte EU-Forschungsförderung zu kritisieren.
Aber wenn das Konzept der EU-Kommission für eine Gemeinsame Programmplanung im so großen, die europäische Idee mittragenden Mitgliedstaat Deutschland so
klar von Wissenschaft und Politik abgelehnt wird, dann
muss auch in Brüssel umgedacht werden.
Erlauben Sie mir bitte an dieser Stelle einmal, meinem
Mitarbeiter Richard Müller für die Recherche und Vorbereitung dieser Rede ganz herzlich zu danken.
Zu Protokoll gegebene Reden
Um eines gleich voranzustellen: Meine Fraktion und
ich stehen hinter der Ihnen heute zur Abstimmung vorliegenden Beschlussempfehlung. Wir stimmen dieser zu.
Grundsätzlich begrüße ich es, wenn innerhalb des
Europäischen Forschungsraumes gemeinsame Forschungsprogramme durchgeführt werden. Das fördert nicht nur
die Zusammenarbeit der nationalen Wissenschafts- und
Forschungsakteure der EU-Mitgliedstaaten bei der Beantwortung all jener wichtigen Fragestellungen, die aus
der Sicht eines Staates nicht oder nur unter erheblichem
Mitteleinsatz bearbeitet werden können. Trotzdem müssen wir innerhalb der EU der 27 das Subsidiaritätsprinzip beachten. Die Europäische Gemeinschaft ist erst gefragt, wenn der einzelne Nationalstaat seine Aufgaben
nicht mehr aus eigener Kraft lösen kann, oder die Aufgabe von gesamteuropäischem Interesse ist und von vornherein den Einzelnen überfordern würde.
In dem uns hier vorliegenden Fall unternimmt die
Kommission unter dem Deckmantel einer Gemeinsamen
Programmplanung aber den Versuch, direkten Einfluss
auf die nationalen Forschungsprogramme auszuüben,
ohne überhaupt ein Signal für eine grundsätzliche finanzielle Beteiligung zu geben. Brüssel beabsichtigt, anstatt
sich dem Gedanken des Bürokratieabbaus verpflichtet zu
fühlen, neue Hierarchien und Verwaltungsapparate aufzubauen. So fließt immer mehr Geld in die Verwaltung als
in die Forschung. Und das finde ich schlichtweg empörend. Was ist das für eine Forschungspolitik, die sagt,
wenn es eines Tages einen entsprechenden europäischen
Mehrwert gibt, dann könnte das später auch eine finanzielle Beteiligung der EU bedeuten? Die erheblichen Bedenken der deutschen Seite - ob aus der Politik oder aus
der Wissenschaftsgemeinschaft - sind Ihnen bekannt.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich spreche mich
nicht gegen den Gedanken der Weiterentwicklung des
Europäischen Forschungsraums und der europäischen
Forschungslandschaft aus. Die Forschungsrahmenprogramme der vergangenen 25 Jahre haben sich als ein
durchaus lernfähiges und immer wieder neu organisierendes System erwiesen und waren erfolgreich. Europa
hat neue Instrumente für die Wissenschaftszusammenarbeit geschaffen. Genannt seien hier besonders der Ausschuss für wissenschaftliche und technologische Forschung, CREST, das Europäische Forschungsforum,
ERF, der Europäische Forschungsbeirat, ERAB und die
Europäische Wissenschaftsstiftung, EWS. Mit dem Beschluss zur Schaffung des Europäischen Forschungsraums, EFR, im Jahr 2000 haben wir die Wissenschaftsund Forschungskooperation auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Die Ausrichtungen des sechsten und des
siebten Forschungsrahmenprogramms auf die Stärkung
der europäischen Zusammenarbeit haben ihr Ziel nicht
verfehlt.
Doch das, was jetzt hier passiert, können und wollen
wir nicht einfach so hinnehmen! Es ist schlichtweg nicht
wahr, wenn die Kommission behauptet, dass die Forschungserträge aus den nationalen Forschungsförderungen nicht ausreichen. Das Gegenteil ist der Fall. Und was
Europa angeht: Haben wir nicht gerade erst wieder neue
Einrichtungen wie die Einrichtung des Europäischen
Forschungsrates, ERC, und die Errichtung des Europäischen Institutes für Innovation und Technologie, EIT, in
Budapest beschlossen? Ist es jetzt nicht besser, erst einmal zu sehen, welchen Glanz diese Einrichtungen in unsere gemeinsame „europäische Hütte“ bringen?
Ich frage mich auch, ob die geplanten Maßnahmen für
den Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten im Europäischen Forschungsraum nicht eher hinderlich sind.
Zerstören sie nicht vielmehr die jedem Wettbewerb innewohnenden mobilisierenden Kräfte? Ich spreche mich
ganz klar und deutlich dafür aus, dass die Kompetenzen
der Mitgliedstaaten bei der nationalen Forschungsförderung uneingeschränkt erhalten bleiben. Eine Planung der
Forschungsprogramme, wie sie die Kommission vorschlägt, sollte von der europäischen Agenda verschwinden.
Meine Fraktion muss sich ja häufiger des Vorwurfs erwehren, sie agiere europafeindlich. Dies ist mitnichten
der Fall, auch dann nicht, wenn Initiativen europäischer
Gremien und Insititutionen kritisiert werden. Dies hat
kürzlich der gesamte Forschungsausschuss getan, indem
er einstimmig eine kritische Entschließung zum hier diskutierten Papier der EU-Kommission verabschiedet hat.
Da einstimmige Beschlüsse auch im Ausschuss für Bildung und Forschung selten sind, lohnt ein genauer Blick
auf das kritisierte Vorhaben der Kommission.
Die Kommission stellt eine grundlegende Kritik der
Forschungspolitiken der Mitgliedsstaaten an den Anfang: Förderprogramme, die nicht europaweit oder in
multilateralen Verbünden koordiniert würden, seien „zersplittert“ und damit „ineffizient“. Das sind 85 Prozent
der Programme - aus Sicht der EU-Kommission viel zu
viel. Es werde zuviel doppelt geforscht, die Zersplitterung
behindere den freien Wissensaustausch und zudem seien
die nationalen Programme häufig „nicht tiefschürfend“
genug. Im Vergleich mit den USA, so die Kommission, sei
Europa mit solch einer fragmentierten Forschungslandschaft nicht wettbewerbsfähig. Daher müsse nun die
Kommission - nicht der Rat oder das Europäische Parlament wohlgemerkt - das Heft des Handelns in die Hand
bekommen und neben den eigenfinanzierten Projekten
des Forschungsrahmenprogramms auch die strategische
Planung und Steuerung der nationalstaatlichen Forschungsförderung übernehmen.
Den Beweis für die These mangelnder Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Forschung bleibt die Kommission jedoch schuldig. Ihre Argumentation fußt auf der
bloßen Behauptung, dass Masse gleich Klasse sei. Wenn
man nur alle nationalen Programme zusammenführe, so
die Argumentation, dann kämen auch die besten Ergebnisse heraus. Dies gilt, so meine ich, für die meisten Forschungsfelder nicht. Im Gegenteil, es ist gerade die Differenz und die Pluralität, die innovatives Wissen
hervorbringt: die Unterschiedlichkeit der Forschungstraditionen, die verschiedenen Schwerpunkte, die in den
Ländern gesetzt werden. Das Wettbewerbsprinzip ist der
Wissenschaft inhärent, es wird gerungen um neue ErZu Protokoll gegebene Reden
kenntnisse und um die besten Problemlösungen. Würde
man hier Themen von europäischer Ebene vorgeben und
institutionell zusammenbinden, wäre das für den wissenschaftlichen Wettbewerb aus unserer Sicht nicht förderlich. Es bleibt offen, worin der echte „europäische Mehrwert“ dieser europäischen Top-down-Steuerung besteht.
Der Forschungsausschuss hat zu Recht das Problem
der Subsidiarität angesprochen, denn über Forschungsförderung werden Weichen für gesellschaftliche Entwicklungspfade gestellt. Der vorliegende Kommissionsentwurf birgt die Gefahr, dass den Haushaltsgesetzgebern
der Mitgliedsstaaten die Hoheit über die Forschungsfinanzierung in ihren eigenen Etats abhanden kommt. Der
SET-Plan zur Energieforschung wird als Vorbild für die
Gemeinsame Programmplanung genannt. An diesem
Vorbild lassen sich auch die Gefahren erkennen: Eine von
der KOM gesteuerte Programmplanung im Energiebereich kann bedeuten, dass Deutschland zukünftig hohe
Millionenbeträge in die Entwicklung von neuen Atomreaktoren investiert, obwohl unsere Politik am Atomausstieg festhalten will. Solch ein Vorgehen ist nicht demokratisch zu nennen und widerspricht damit dem Prinzip
der Subsidiarität.
Die Kommission beruft sich auf das Konzept des Europäischen Forschungsraums. Die Initiative soll dazu dienen, die Mobilität des Wissens als „fünfte Grundfreiheit“
sicherzustellen. Wir als Linke begrüßen das Entstehen eines europäischen Forschungsraums und erwarten, dass
dieser tatsächlich zu einem Raum des freien Austauschs
und der Mobilität wird. Er soll Rahmen für diesen Austausch setzen und interne Barrieren abbauen. Zu fragen
ist jedoch, ob damit auch die Ausrichtung der Forschungsprogramme auf von der Kommission definierte
Großziele verbunden werden muss. Nach den Erfahrungen mit anderen kommissionsgeführten Forschungsinitiativen der EU wie etwa den Europäischen Technologieplattformen können wir nur unsere Skepsis ausdrücken.
Auch in der gemeinsamen Programmplanung will die
Kommission die Industrie an der Planung und Ausrichtung der Programme beteiligen. Es wäre fatal, wenn das
Konzept des Europäischen Forschungsraums unter das
Paradigma des Lissabon-Prozesses und damit der Standortkonkurrenz mit den anderen großen Wirtschaftsregionen gestellt würde. Dies dient weder einer freien und gesellschaftsverantwortlichen Forschung noch macht es die
Verantwortung Europas zu einer globalen Zusammenarbeit bei der Lösung wichtiger Fragen wie dem Klimawandel oder der grassierenden Armut deutlich.
Der Forschungsausschuss fordert in seiner Entschließung zu Recht, dass erst einmal ähnlich gelagerte Initiativen wie ERA-Net oder die genannten Gemeinsamen
Technologieinitiativen in ihren Auswirkungen evaluiert
werden, bevor ein derart weitgreifender Ansatz der Kommission eingebracht wird. Bis Sommer 2009 sollen die
Bereiche für eine gemeinsame Planung ermittelt, bis
Ende 2009 bereits Empfehlungen für die Einleitung von
Initiativen durch die KOM gegeben werden. Dieses Vorgehen kann nur als unseriös eingeschätzt werden und
wird dem proklamierten Anspruch eines „langfristigen
und strategischen Prozesses“ in keiner Weise gerecht.
Der Europäische Forschungsraum dient aus unserer
Sicht einer freien Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Das schließt eine Vielfalt der Förder- und Finanzierungsstrukturen ein, die möglichst demokratischer
Kontrolle unterliegen sollen.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die Finanzierung und die Strukturen des Forschungsrahmenprogramms zu stärken. Derzeit wird die Ausrichtung des
8. Rahmenprogramms debattiert. Dabei wäre es sinnvoll,
den Bereich „Kooperation“ auch finanziell auszubauen
und fortschrittliche Elemente wie die „Gender Action
Plans“ in das Programm zu integrieren. Zudem ist die
Rolle der Wissenschaft bei der Definition der Forschungsfelder zu stärken. Europafreundlich zu sein, heißt
engagiert an der Diskussion um europäische Politik teilzunehmen. Das hat der Ausschuss mit seiner Entschließung geleistet, der wir uns als Linke anschließen.
Es wichtig und richtig, den Europäischen Forschungsraum weiterzuentwickeln. Ein weit verzweigter, tragfähiger und dynamischer Europäischer Forschungsraum
braucht dazu effiziente Strukturen und Förderinstrumente, die gute Zusammenarbeit und Koordinierung gewährleisten. Der Vorschlag der Europäischen Kommission aber, hierfür ein neues Instrument, die Gemeinsamen
Programmplanung, zu installieren, wirft zahlreiche Fragen auf.
Der Gemeinsamen Programmplanung liegt die Idee
zugrunde, den Programmplanungsprozess im Europäischen Forschungsraum über die Festlegung von gemeinsamen Themen auf freiwilliger Basis zu steuern. Aber der
dabei von der EU-Ebene favorisierte Top-Down-Ansatz
beim Join-Programming stieß in seiner Ursprungsfassung zu Recht auf Kritik und Widerstand. Denn dieser Ansatz läuft auf eine Zentralisierung europäischer Forschungsplanung hinaus. Damit würde die EU-Ebene
ihren Machtanspruch überdehnen.
Alle Fraktionen hier im Bundestag sind sich darin einig, dass dies keine positive Entwicklung gewesen wäre.
Daher war es richtig, dass dieser Ansatz auch von deutscher Seite nicht akzeptiert wurde und sich infolgedessen
in seiner ursprünglichen Form auch nicht durchsetzen
konnte. Der Kompromiss sieht nun eine Entschärfung des
Top-Down-Ansatzes vor. Die Gruppe, die die Themenfindung vornimmt, ist - anders als von der Kommission zunächst vorgeschlagen - eine Untergruppe der CRESTGruppe. Damit haben die Mitgliedstaaten ihre Entscheidungsgewalt über die Themenfindung behaupten können.
Die Kompromissentscheidung, nun einen Prozess der
Gemeinsamen Programmplanung nach dem durch
CREST modifizierten Top-Down-Prinzip anzustreben,
lässt aber immer noch zahlreiche Fragen offen:
Unklar ist zum Beispiel, in welchem Verhältnis die Gemeinsame Programmplanung zu anderen, bereits bestehenden Instrumenten wie dem Siebten Forschungsrahmenprogramm, dem Europäischen Forschungsrat oder
auch dem EIT steht. Neue Ansätze sind kein Wert an sich,
sie müssen sinnvoll eingebettet sein in die vorhandenen
Instrumente der europäischen Forschungsförderung. Es
Zu Protokoll gegebene Reden
macht jedenfalls keinen Sinn, die begrenzten Ressourcen
zur Fortentwicklung der europäischen Forschungslandschaft in immer neue Instrumente zu stecken, anstatt bewährte Strukturen, Institutionen und Programme weiterzuentwickeln.
Viele der bestehenden Instrumente haben in der Vergangenheit sinnvolle Impulse gesetzt und leisten bereits
ihren positiven Beitrag für Zielsetzungen, die jetzt mit der
Gemeinsamen Programmplanung umgesetzt werden sollen. Die Forschungsrahmenprogramme zum Beispiel
sind äußerst effizient und erfolgreich für die grenzüberschreitende Forschungskooperation. Die Forschungsrahmenprogramme haben auch dazu beigetragen, dass
Themen von gesamteuropäischer Dimension identifiziert
und inhaltliche Schwerpunkte abgestimmt werden. Welchen zusätzlichen Nutzen und welche neuen Potenziale
soll nun die Gemeinsame Programmplanung als ein weiteres Instrument der Koordinierung tatsächlich bringen?
Dieses Problem führt zu einer weiteren offenen Frage.
Bislang ist noch völlig intransparent und schwer vorstellbar, wie der Prozess der Themenfindung, die die Gemeinsame Programmplanung leisten soll, tatsächlich erfolgt.
Wie sollen prioritäre Themen in Zukunft konkret identifiziert werden? Nach welchen Kriterien? Welchen Mehrwert bringt hier die neue Form der Koordinierung?
Unklar ist ferner die Frage der Finanzierung. Die
Kommission beabsichtigt nicht, sich an der Finanzierung
der Gemeinsamen Programmplanung zu beteiligen. In
dem von der Regierungskoalition vorgelegten Antrag zum
Join-Programming wird hingegen gefordert, dass die
EU-Ebene bei der Finanzierung unterstützen soll, allerdings nicht aus bestehenden Forschungsprogrammen.
Die Finanzierungsfrage ist aber völlig offen und die Vorstellungen dazu äußerst unklar. Wir Grüne haben im Forschungsausschuss dem Koalitionsantrag trotz dieser
Schwäche zugestimmt. Auf keinen Fall aber darf es darauf hinauslaufen, dass eine solche Finanzierung auf
Kosten anderer, bewährter Programme und erfolgreich
etablierter Strukturen geht.
Für die Stärkung des Europäischen Forschungsraums
halten wir eine andere Initiative allerdings durchaus für
sinnvoll. Ich meine das Thema gemeinschaftlicher
Rechtsrahmen für europäische Großforschungsinfrastrukturen ({0}) und auch die Frage nach einer Mehrwertsteuerbefreiung für Organisationen mit dieser neu zu
schaffenden Rechtsform ({1}). Hier sollte sich die deut-
sche Regierung dafür einzusetzen, dass sich der ECOFIN
für eine solche Befreiung ausspricht, damit die Beratun-
gen zu dieser Frage beim Wettbewerbsrat im Mai zu ei-
nem erfolgreichen Abschluss gebracht werden können.
Zu diesem Thema hat sich die Koalition leider bisher
nicht positioniert. Ein positives Ergebnis wäre tatsäch-
lich ein Schritt, um den Europäischen Forschungsraum
voranzubringen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der zuständige Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in
Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 28 a und
28 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Thilo Hoppe, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Humanitäre Katastrophe in Sri Lanka verhindern
- Drucksache 16/12436 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({3}),
Marieluise Beck ({4}), Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weitere Verschlechterung der Rechtssituation
von Homosexuellen in Nigeria verhindern
- Drucksachen 16/12107, 16/12459 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({5})
Angelika Graf ({6})
Burkhardt Müller-Sönksen
Marieluise Beck ({7})
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Haibach, Fischer ({8}), RiemannHanewinckel, Graf ({9}), Leibrecht, Leutert,
Beck ({10}).
Die Situation der Homosexuellen in Nigeria hat sich
seit der parlamentarischen Behandlung am 26. April
2007 nicht zum Positiven verändert. Deshalb gebe ich
meine Rede, die ich damals gehalten habe, im folgenden
Wortlaut zu Protokoll. Wir müssen weiter darauf achten,
dass wir die Menschenrechtsverletzungen nicht akzeptieren.
Die nigerianische Regierung hat im Jahre 2005 einen
umfassenden Gesetzentwurf gegen gleichgeschlechtliche
Partnerschaften verabschiedet. Nach diesem soll nicht
nur die Anerkennung solcher Partnerschaften ausgeschlossen sein, nein, sogar die Eingehung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, Vorbereitungshandlungen
hierzu und die Mitwirkung daran sollen mit bis zu 5 Jahren Freiheitsentzug bewehrt werden. Gleiches soll danach für die Werbung für und die Darstellung solcher
Partnerschaften sowie die Eintragung homosexueller
Vereine und Clubs gelten. Die 1999 in den nördlichen
Bundesstaaten eingeführte Sharia-Strafgesetzgebung
Hartwig Fischer ({0})
sieht noch härtere Strafen für Homosexualität vor, die
dort als „Sodomie“ bezeichnet wird. So stellt zum Beispiel der nördliche Bundesstaat Zamfara den gleichgeschlechtlichen Kontakt von zwei Frauen aufgrund der
Sharia mit bis zu 50 Stockschlägen unter Strafe. Ich
möchte hier nur eine bekannte Verurteilung anführen:
Anfang 2002 wurde ein Mann im Bundesstaat Zamfara
wegen Sodomie zu 100 Stockschlägen und einer 1-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt.
Die geringe Zahl an bekannten Verurteilungen erklärt
sich dadurch, dass die Betroffenen Schutzgelder zahlen
oder in den Süden des Landes fliehen und überhaupt sehr
vorsichtig agieren, um sich nicht „erwischen“ zu lassen,
und dass zudem sehr wenige Informationen nach außen
dringen. Durch Berichte von Amnesty International ist
bekannt, dass viele Homosexuelle ein Doppelleben führen. Auf der einen Seite führen sie eine heterosexuelle Beziehung, aber nur, damit sie damit ihre homosexuelle Beziehung vor dem Staat verdecken können.
Am 14. Februar gab es zu dem Gesetzesvorschlag der
nigerianischen Regierung eine öffentliche Anhörung im
Repräsentantenhaus mit NROs, an der - nach anfänglichen Schwierigkeiten - auch Vertreter von Interessengruppen der Homosexuellenverbände teilnehmen konnten. Am
22. Februar wurde der Senat mit dem Gesetzesvorschlag
befasst. Nach Einschätzungen von Beobachtern vor Ort
gibt es im Repräsentantenhaus Unterstützung für das
Gesetz, während der Senat gespalten scheint. Vor einer
möglichen Verabschiedung wird der Entwurf nun im
Ausschuss für Justiz, Menschenrechte und Rechtsangelegenheiten des Senats behandelt. Die nigerianischen Zeitungen berichten allerdings offen über das Thema.
Ist das was sich gerade in Nigeria abspielt, ein Einzelfall? Mit Verlaub, nein! In den meisten afrikanischen
Ländern werden Schwule und Lesben verfolgt. In Simbabwe verglich Staatschef Mugabe Schwule mit Schweinen und Hunden. In Namibia hat die Polizei Anweisung,
Homosexuelle festzunehmen und des Landes zu verweisen. Auch in Kenia ist Homosexualität unter Männern gesetzlich verboten.
Aber es gibt auch andere afrikanische Länder, die mit
diesem Thema weit offener umgehen. Ich möchte dabei
noch mal das Augenmerk auf Südafrika lenken. Südafrika
hat als erstes afrikanisches Land die Homo-Ehe seit dem
30. November 2006 legalisiert. Es ist nicht zu verschweigen, dass dies auch in Südafrika ein steiniger Weg war
und die Abstimmung im Parlament sehr knapp war. Dieser positive Ansatz muss ein Signal an alle anderen afrikanischen Staaten sein, denn Südafrika zeigt damit, dass
es gegen jede Art von Diskriminierung und Vorurteilen
ist. Diese Offenheit Südafrikas und die Achtung der Menschenrechte müssen unterstützt werden.
Wie kann die Bundesrepublik Deutschland nun aber
den Menschen in Nigeria helfen? Im Zusammenhang mit
der Verabschiedung des Gesetzentwurfes zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft gab es sowohl EU-Troika als auch Demarchen aller EU-Missionschefs bei verschieden nigerianischen Dienststellen.
Dazu gehören unter anderem der nigerianische Menschenrechtsbeauftragte, der Justizminister sowie der
Rechtsausschuss von Senat und Repräsentantenhaus. Bei
diesen Demarchen wurde deutlich gemacht, dass das vorgesehene Gesetz in zahlreichen Bestimmungen im Widerspruch zu internationalen Verträgen steht, deren Partei
auch Nigeria ist. Die EU-Missionsleiter haben die Angelegenheit seit 2006 aufmerksam verfolgt und sie auch mit
den Organisationen der nigerianischen Zivilgesellschaft
erörtert, die gegen den Gesetzentwurf ins Feld ziehen.
Die EU hat dabei hervorgehoben, dass dieses Gesetz,
falls es verabschiedet wird, gegen universelle Menschenrechtsstandards verstößt. Neben den Bemühungen der
EU-Missionsleiter hat der nigerianische Senator, der dem
zuständigen Ausschuss vorsteht, eine Überarbeitung des
Entwurfs zugesagt und will sicherstellen, dass dieser auf
internationaler Ebene akzeptabel ist und mit der nigerianischen Verfassung im Einklang steht.
Wir müssen allen Staaten, die mit Deutschland zusammenarbeiten wollen, deutlich machen, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nur möglich ist, wenn das Land
die Menschenrechte achtet und auch einhält. Die derzeitige Entwicklung ist ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte, deshalb muss Deutschland auch bei den
nächsten Regierungsverhandlungen deutlich machen,
dass wir dies nicht akzeptieren und dies auch Auswirkungen auf die zukünftige Zusammenarbeit hat. Wir werden
Nigeria deutlich machen, dass es sich mit seiner Behandlung der Homosexuellen von seiner bisher positiven Entwicklung entfernt und in alte Zeiten zurückfällt. Die Einhaltung der Menschenrechte ist ein Grundbaustein einer
lebendigen Demokratie.
Die gegenwärtige Lage in Sri Lanka ist besorgniserregend. Es scheint, als seien beide Seiten des seit Jahrzehnten währenden Konfliktes, Regierung und die sogenannte
tamilische Befreiungsarmee LTTE, bereit, in eine Art von
Endkampf einzutreten, und dies ohne Rücksicht auf Verluste, bei Freund und Feind, bei den eigenen Kräften und
auch bei der Zivilbevölkerung.
Dabei sind die Rahmenbedingungen für das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft, besonders für
Deutschland und die EU, sowie auch für Hilfsorganisationen, denkbar ungünstig. Weder Regierung noch LTTE
sind offenbar zur Zeit willens, ihre militärischen Aktivitäten zugunsten von Verhandlungen einzuschränken, die
Regierung, weil sie sich militärisch beinahe am Ziel
wähnt; die LTTE, weil sie sich zu einem „Kampf bis zum
letzten Atemzug“ entschieden hat.
Mit welcher Skrupellosigkeit dabei vorgegangen wird,
zeigt ein Beispiel der vergangenen Wochen: Da lässt die
LTTE zwei Flugzeuge, voll mit Bomben und Sprengstoff,
über die Hauptstadt Colombo fliegen, in der Absicht,
sinnlos Menschenleben zu vernichten. Daraufhin lässt die
Regierung diese beiden Flugzeuge von der Luftwaffe abschießen - über Wohngebieten, den Tod von unschuldigen
Zivilisten wissentlich in Kauf nehmend. Gleichzeitig, das
beschreibt der vorliegende Antrag richtig, drohen Hunderttausende von Menschen Geiseln dieses Konflikts zu
Zu Protokoll gegebene Reden
werden, entweder in Lagern der Regierung oder in den
hart umkämpften Rückzugsgebieten der LTTE.
Insofern sind die Forderungen, die von Bündnis 90/
Die Grünen hier erhoben werden, nicht falsch: Einstellung der Kampfhandlungen, eine aktive Rolle der internationalen Gemeinschaft, der wichtige und notwendige
Einsatz der Nachbarn, der Appell zur Einhaltung von
menschenrechtlichen und humanitären Standards.
Allerdings stellt sich bei allem, was daran richtig ist,
die Frage nach dem Wie, die der Antrag nicht beantwortet. Denn so einfach ist das alles nicht. Deutschland und
die EU haben hier eine Verantwortung, aber wir sollten
uns auch eingestehen, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind.
Ein Weiteres kommt hinzu, das in diesem Antrag keine
Erwähnung findet. Die militärische Auseinandersetzung
wird, zu welcher Zeit auch immer, ein Ende finden. Und
dann? Soweit dies zurzeit übersehen werden kann, gibt es
zwar Überlegungen und Vorstellungen für eine Verfasstheit des Landes, die ein friedliches Zusammenleben zumindest möglich macht. Aber wie viel Akzeptanz diese
Vorstellungen haben, wenn große Teile der Opposition an
Verhandlungen nicht einmal teilnehmen, das ist zumindest mehr als fraglich.
Und schließlich wäre dann die wichtige Frage zu beantworten, wie eigentlich die Wunden, die in der Seele eines ganzen Volkes nach beinahe 25 Jahren bürgerkriegsähnlicher Zustände entstanden sind, wieder geschlossen
werden können. Dazu gehört die juristische Aufarbeitung
der Vergangenheit, dazu gehört aber auch der schmerzvolle Prozess der Versöhnung. Und auch diese Zukunftsperspektive gehört in einen solchen Antrag.
Der heute zu beratende Antrag zur Rechtssituation der
Homosexuellen in Nigeria von der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen ist im Prinzip ein guter Antrag. Wir - die
SPD-Bundestagsfraktion - haben uns dafür eingesetzt,
dass wir aus diesem Antrag der Grünen einen gemeinsamen Antrag mit allen Bundestagsfraktionen machen, im
Sinne der Sache. Leider war das mit der CDU/CSUFraktion aber wieder einmal nicht möglich. Unser
Koalitionspartner lehnt unsere Bemühungen, übergreifende Anträge zur weltweiten Lage und zum Menschenrechtsschutz von Homosexuellen zu initiieren, bereits seit
geraumer Zeit ab. Dabei müsste auch die Union einsehen,
dass die heutige Rechtssituation für Homosexuelle in Nigeria eine menschenrechtliche Katastrophe ist. Der aktuell im nigerianischen Repräsentantenhaus diskutierte
Gesetzentwurf zum „Verbot gleichgeschlechtlicher Eheschließungen“ wird die diskriminierende und für Homosexuelle gefährliche Rechtssituation aber noch weiter
manifestieren.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Menschenrechtspolitiker der SPD hätten gern dem Antrag zugestimmt, sind
aber an die Koalitionsdisziplin gebunden. Der Koalitionsvertrag schreibt ein einheitliches Abstimmungsverhalten der Koalitionsfraktionen fest. Wir wissen aber
auch: Unsere Bundesregierung, das heißt unser SPDAußenminister Steinmeier und unsere SPD-Justizministerin Zypries werden sich im Rahmen ihres Menschenrechtsdialoges mit Nigeria selbstverständlich dafür einsetzen, dass die Menschenrechte von Homosexuellen in
Nigeria verwirklicht werden können.
Dieser Menschenrechtsdialog stellt allerdings kein
Menschenrecht über ein anderes. Ohne die Situation von
Homosexuellen zu relativieren: Homosexuelle sind nicht
die einzige Gruppe, die keinen ausreichenden Menschenrechtsschutz durch ihre nigerianische Regierung erhält.
In Nigeria - einem Staat, in dem zum großen Teil das
islamische Recht der Scharia gilt - sind die Menschenwürde verletzende Strafen wie die Todesstrafe, das
Auspeitschen, Steinigungen oder Amputationen leider
gängige Praxis. Zudem: Regelmäßig werden von nigerianischen Sicherheitskräften schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber Zivilisten begangen, beispielsweise
- außergerichtliche - Hinrichtungen, Vergewaltigungen,
Folter, Entführungen und Erpressung sowie die Zerstörung von Wohnraum.
Auch Gewalt gegen Frauen ist in Nigeria allgegenwärtig. Dabei geht es um häusliche Gewalt und um
Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauch durch
Staatsrepräsentanten. Ebenso sind Meinungs- und Versammlungsfreiheit von Menschenrechtsverteidigern und
Journalisten regelmäßig durch Drohungen und Übergriffe der nigerianischen Geheimpolizei bedroht. Selten
werden diese schweren Menschenrechtsverletzungen
strafrechtlich verfolgt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen.
Ich stelle fest: Nigeria ist kein Staat, in dem ausschließlich Homosexuelle diskriminiert werden. Wie
schon gesagt: Die Menschenrechte von Schwulen haben
für uns hohe Priorität weltweit. Für die Zukunft sollte
man jedoch den Fokus des menschenrechtlichen Engagements bezüglich Nigerias insofern erweitern, als man
auch die anderen Menschenrechtsverletzungen in einen
Antrag mit aufnimmt.
In Sri Lanka hat sich der seit vielen Jahren andauernde Bürgerkrieg dramatisch zugespitzt. Die sri-lankische Regierung will offenbar bis zum bitteren Ende gegen
die LTTE kämpfen. Sie lehnt Verhandlungen ab und akzeptiert ausschließlich eine bedingungslose Kapitulation.
Im Norden der Insel werden die Rebellen der LTTE immer
weiter eingekesselt. Nach dem Fall einiger wichtiger
Orte scheinen die Kämpfe in die Endphase zu gehen.
Die Lage der Menschen im Kampfgebiet ist besonders
verhängnisvoll. Auf einer Fläche von 50 km² verteidigen
sich die Kämpfer der LTTE, und geschätzte 130 000 bis
200 000 Zivilisten sind den Angriffen von beiden Seiten
ausgesetzt. Die Menschen zwischen den Fronten sind unsäglichem Leid ausgesetzt: Artilleriebeschuss, Bombardierungen, Granatfeuer, Vergewaltigungen, Hunger, Not
und Elend. Menschenrechtsverletzungen durch beide Seiten werden in Kauf genommen, gezielt eingesetzt und sind
alltäglich geworden. Unter den eingeschlossenen Zivilisten sind Schwerverletzte, alte Menschen, Frauen und
Kinder. Es fehlt ihnen an allem: überlebensnotwendige
Zu Protokoll gegebene Reden
Medikamente, Trinkwasser, Nahrungsmittel. Die hygienische und soziale Versorgung ist nicht gewährleistet. Bei
tropischen Temperaturen harren sie in Erdbunkern aus.
Dort kann nicht gekocht werden. Ein Überleben ist zum
Teil nur durch den Verzehr von Beeren, Blättern und Wurzeln möglich. Im Kreuzfeuer kann selbst die Verrichtung
der menschlichen Notdurft außerhalb der Bunker tödlich
sein.
Wer den Versuch wagt, aus dem Kessel zu fliehen,
schafft es nur unter gefährlichsten Bedingungen und
muss damit rechnen, sein Leben zu verlieren. Wer es
schafft, dieser Hölle zu entfliehen, findet sich schwer verletzt, ohne Hab und Gut und getrennt von den Angehörigen möglicherweise in einem der wenigen Krankenhäuser wieder. Die Versorgung der Kranken mit 100 g Reis
pro Tag lässt keinen ernstlichen Willen der sri-lankischen
Regierung an ihrer Gesundung erkennen. Die Krankenhäuser werden überwacht. Das Militär ist überall präsent.
In sogenannten Transitlagern sind zurzeit weitere
45 000 Menschen untergebracht. Die Lager sind mit Stacheldraht umzäunt, die Binnenflüchtlinge dürfen das Gebiet nicht verlassen. Einigen Hilfsorganisationen ist der
Zugang zum Lager gelungen. Was die Mitarbeiter berichteten, ist erschreckend: Die Menschen haben keinen Kontakt zur Außenwelt. Sie sind kaum bekleidet, Lebensmittel
sind verdorben und die Tagesration mit 600 Kalorien ist
völlig unzureichend. Schwer traumatisierte Menschen
bleiben sich selbst überlassen. Mütter flehen darum, ihre
Kinder aus dem Lager geben zu dürfen. Die Menschen
werden vom Militär in drei „Sicherheitskategorien“ eingeteilt und drangsaliert. Die Kindernothilfe berichtete,
dass Personen, die Verbindungen zur LTTE unterhalten,
abgeführt und erschossen werden. Sicherheitsüberprüfte
und unverdächtige Menschen sollen in sogenannte Welfare Centres verbracht werden und später in ihre Heimat
zurückkehren können. Augenzeugen berichteten, dass
diese Unterkünfte vergitterte, viel zu kleine Behausungen
seien, in denen ein Aufenthalt von bis zu fünf Jahren geplant sei.
All dies macht mich fassungslos. Eine politische Lösung des Konflikts wird immer unwahrscheinlicher. Dennoch: Die LTTE und die sri-lankische Regierung müssen
die Waffen ruhen lassen, um Verletzte zu bergen, Tote zu
begraben und die eingeschlossenen Menschen evakuieren zu können. Die humanitäre Hilfe muss allen Bedürftigen in ausreichendem Maße zukommen.
Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier
hat am 21. Januar 2009 einen Waffenstillstand gefordert,
um die Versorgung der Binnenflüchtlinge zu ermöglichen.
Er hat beide Seiten zu Verhandlungen aufgerufen. Auch der
Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon äußerte sich besorgt über die humanitäre Lage und forderte
den Schutz der Zivilbevölkerung. Die EU-Außenkommissarin Ferrero-Waldner und auch die tschechische EURatspräsidenschaft äußerten im Gespräch mit dem srilankischen Außenminister Bogollagama die Erwartung,
dass ein militärischer Sieg die Gelegenheit sein solle, einen Prozess der Versöhnung und des Wiederaufbaus in
Gang zu setzen. Die EU-Troika wollte bereits im Februar
und im März nach Colombo reisen. Dies wurde von der
sri-lankischen Regierung bisher abgelehnt.
Der Antrag, den wir heute beraten, beschreibt die Sorgen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die furchtbare Situation der Menschen in Sri Lanka. Die Forderungen bleiben zum Teil hinter dem zurück, was Deutschland
und die EU und auch Teile der internationalen Gemeinschaft bereits getan haben bzw. was sie von den Kriegsparteien gefordert haben. Eine Solidaritätserklärung mit
der notleidenden Zivilbevölkerung braucht keine Antragsform. Wir haben diesen Konflikt auf der Tagesordnung und wurden in den Ausschüssen bereits unterrichtet.
Die zentrale Frage bleibt weiterhin offen: Wie geht die
sri-lankische Regierung mit den Autonomiebestrebungen
der Tamilen um? Wir werden die Entwicklungen in Sri
Lanka weiter beobachten und unsere Erwartungen deutlich zum Ausdruck bringen. Deutschland wird weiterhin
humanitäre Hilfe leisten und für politische Verhandlungen zur Verfügung stehen.
Wir debattieren hier heute über zwei sehr wichtige
Themen. Daher hat es mich auch etwas irritiert, dass wir
in einer Debatte sowohl die Situation in Sri Lanka als
auch die Verschlechterung der Rechtssituation von Homosexuellen in Nigeria diskutieren. Ich finde nicht, dass
diese Vorgehensweise der Wichtigkeit dieser völlig unterschiedlichen humanitären Probleme gerecht wird.
Ich werde mich daher auf die Lage in Sri Lanka beschränken, da ich die Entwicklungen in diesem Land
schon seit einigen Jahren beobachte und die Kürze eines
Redebeitrages schon für die Erklärungen der komplizierten Verhältnisse in Sri Lanka kaum ausreicht.
Mit Abscheu haben wir einige furchtbare Bilder und
Berichte, die uns aus Sri Lanka erreichen, gesehen und
gehört. Mit roher Gewalt und erschreckender Brutalität
gehen Militär und tamilische Rebellen gegeneinander vor
und nehmen dabei keine Rücksicht auf die Leiden der Zivilbevölkerung.
Für ausländische Beobachter ist es kaum möglich, in
die Kampfgebiete zu gelangen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Regierung die Vorgehensweise der tamilischen Rebellen toleriert: Um die staatliche Propagandamaschinerie am Laufen zu halten, lässt man zu,
dass die LTTE ({0}) die
Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild missbraucht. Es ist ein abscheuliches Spiel mit Menschenleben, das derzeit auf Sri Lanka zu beobachten ist. Und es
sind sowohl die tamilischen Befreiungstiger der LTTE als
auch die sri-lankische Regierung, die dafür verantwortlich zu machen sind.
Während die Regierung das Vanni-Kampfgebiet komplett abgeriegelt hat, keine medizinische Versorgung für
die notleidende Zivilbevölkerung zulässt und die Menschen in den Flüchtlingscamps - laut Aussagen meiner
Quellen - „verrotten“ lässt und dabei auch noch Familien auseinanderreißt, hat sich die LTTE über die letzten
Jahre anscheinend ein großes Waffenarsenal zugelegt
und ist momentan zu einem langen, quälenden StellungsZu Protokoll gegebene Reden
krieg in der Lage, in dem sie die Zivilbevölkerung als
Schutzschild benutzt und ihre Kinder als Soldaten
zwangsrekrutiert.
Einige vom Tsunami betroffene Gebiete sind auch
Jahre nach der Katastrophe von 2004 weit davon entfernt, wieder bewohnbar zu sein. Die LTTE aber konnte
sich seitdem angeblich sehr gut ausgestattete Quartiere,
Waffenlager und sogar eine kleine Flugzeugflotte aufbauen, finanziert, so scheint es, durch Hilfsgelder, die offiziell für den Wiederaufbau und die Zivilbevölkerung
vorgesehen waren. Beide Seiten stehen sich also in diesem endlosen Konflikt auf Sri Lanka leider in nichts nach.
Wir sind dazu aufgerufen, das Leid der Zivilbevölkerung
so weit wie möglich zu lindern.
Gleichzeitig aber müssen wir uns verstärkt darüber
Gedanken machen, mit welcher langfristigen politischen
Lösung es nach einer Beendigung des gewaltsamen Konflikts auf Sri Lanka weitergehen soll. Wie stellt sich die
sri-lankische Regierung das Zusammenleben mit der tamilischen Minderheit nach einem militärischen Sieg über
die Befreiungstiger vor? Sind nach über 26 Jahren Bürgerkrieg die entstandenen Wunden noch zu heilen?
Seitdem sich die von Norwegen geführte internationale Sri Lanka Monitoring Mission ({1}) im Januar
2008 nach mehrfacher Verletzung des Waffenstillstandes
von 2002 durch Regierung und Befreiungstiger aus Sri
Lanka zurückgezogen hat, scheint es keinerlei Einfluss
mehr von internationaler Seite auf die Konfliktparteien zu
geben. Mitarbeiter von politischen Stiftungen und Vertreter diplomatischer Vertretungen wurden zuletzt von der
Regierung an ihrer Arbeit in der Konfliktregion gehindert
und bedroht. Ein solches Verhalten der sri-lankischen Regierung ist absolut inakzeptabel!
Das Internationale Rote Kreuz ({2}) ist die letzte internationale Organisation, die noch vor Ort tätig ist. Angeblich wird es aber auch deren Vertretern immer mehr
erschwert, die bedürftigen Menschen zu erreichen. Die
sri-lankische Regierung verweigert nun selbst die Versorgung der Menschen in den Flüchtlingscamps!
Es gibt mehrere Forderungen, die wir als FDP-Fraktion angesichts der prekären Lage in Sri Lanka an die
Bundesregierung stellen:
Erstens. Die Bundesregierung muss sich innerhalb der
EU für ein konzertiertes Vorgehen gegenüber der sri-lankischen Regierung einsetzen.
Zweitens. Dies schließt ein, die sri-lankische Regierung dazu zu drängen, dass anerkannte internationale
Hilfsorganisationen wie beispielsweise das Rote Kreuz
die Menschen in den Flüchtlingscamps wieder versorgen
dürfen.
Drittens. Der sri-lankischen Regierung gegenüber ist
deutlich zu machen, dass die weitere Einschränkung der
Pressefreiheit sowie die Behinderung der Arbeit von internationalen Hilfsorganisationen, politischen Stiftungen
und diplomatischen Vertretern absolut inakzeptabel sind
und gegebenenfalls mit den entsprechenden Konsequenzen geahndet werden.
Viertens. Die Länder, die für die Waffenlieferungen an
Regierung und Rebellen verantwortlich sind, sind zu einem Stopp dieser Waffengeschäfte aufzufordern.
Fünftens. Die Finanzströme der in Deutschland tätigen tamilischen Hilfsorganisationen im Hinblick auf Waffengeschäfte sind zu überprüfen.
Die Situation in Sri Lanka ist fatal. Der Einfluss der internationalen Gemeinschaft ist seit dem Rückzug der
SLMM gering. Nicht zuletzt deswegen ist die Bundesregierung aufgefordert, alles im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unternehmen und ihren Einfluss auf die Konfliktparteien geltend zu machen, um eine weitere Eskalation
der Gewalt zu verhindern - zum Wohle der sri-lankischen
Zivilbevölkerung!
Die politische Situation in Sri Lanka gibt Anlass zu
höchster Sorge. Die bürgerkriegsähnliche bewaffnete
Auseinandersetzung in Sri Lanka dauert nun schon über
25 Jahre an. Ihre Vorgeschichte ist aber für das Verstehen
der Konfliktnatur notwendig. Es ist nicht einfach nur ein
ethnischer Konflikt. Wer diese Deutung bevorzugt, macht
sich ein viel zu einfaches Bild. An anderen Orten der Welt
leben auch verschiedene Nationalitäten in einem Staat
zusammen, ohne dass es sogenannte ethnische Konflikte
gibt. Hier, in Sri Lanka, liegt ein postkolonialer Konflikt
vor.
Deutschland ist ein Staat - wie andere europäische
Staaten auch - mit einer kolonialen Vergangenheit. Zugegeben, im Gebiet des heutigen Sri Lanka hat sich diese
deutsche Vergangenheit nicht abgespielt. Aber wir sollten
langsam einmal eine politische Sensibilität dafür ausbilden, was die koloniale Vergangenheit für Verheerungen
angerichtet hat. Deswegen müssen wir ein Interesse an
der Befassung mit diesem Konflikt im Bundestag haben.
Daher begrüßt meine Fraktion auch den Antrag der Grünen. Ohne einer detaillierten Debatte vorgreifen zu wollen, teilt meine Fraktion die darin aufgestellten Forderungen.
Ein anderer Antrag der Grünen thematisiert die
Situation der Homosexuellen in Nigeria. Es geht aber
nicht nur um die Strafbarkeit homosexueller Handlungen
oder um die Diskriminierung anderer Lebensweisen, sondern bereits schon um die Strafbarkeit der Thematisierung von Anliegen Homosexueller. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses lautet Ablehnung. Man könnte auch
sagen, dass die Mehrheit von CDU/CSU und SPD ihr
Unbehagen an der nigerianischen Praxis vielleicht rein
verbal äußern will, daraus aber keine politischen Handlungen folgen sollen. Das ist aber nichts anderes als
Komplizenschaft mit Homophobie. Wir haben damals im
Ausschuss keine Vorschläge gehört, die vielleicht effektiver sein könnten als die, die im Grünen-Antrag empfohlen
worden sind. Wir haben bis jetzt keinen anderen Antrag
der Koalition zum Thema vorliegen. Allein schon deshalb
wird meine Fraktion gegen die Beschlussempfehlung
stimmen. Sie wird es aber vor allem deswegen tun, weil
wir die Lageeinschätzung und die Forderungen des Antrags der Grünen teilen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind „gegen
Gott, gegen die Bibel, unnatürlich, zwecklos, ungesund,
unkulturell, unafrikanisch und unnigerianisch. Sie sind
eine Perversion und eine Abartigkeit, die dazu geeignet
ist, sozialen und kulturellen Holocaust in diesem Land zu
betreiben. Sie führen zum Aussterben der Menschheit und
dürfen in Nigeria niemals Fuss fassen.“ So weit ein Auszug aus der Stellungnahme der Anglikanischen Kirche in
Nigeria während der parlamentarischen Anhörung zur
sogenannten „Same Sex Marriage Prohibition Bill“, einem Gesetzentwurf zum Umgang mit Homosexuellen, am
11. März 2009. Diese hasserfüllte Äußerung der Anglikanischen Kirche macht das Umfeld und die Atmosphäre in
Nigeria deutlich, in der nun dieses Gesetz - nachdem es
bereits 2006 einen Anlauf gegeben hatte - verabschiedet
werden soll.
Nigeria ist - wie leider noch immer viele Länder auf
der Welt - kein Land, in dem man als Homosexueller
sorglos leben kann. Verhaftungen und Bedrängung von
Homosexuellen haben nach Berichten von Amnesty International und Human Rights Watch in den letzten Jahren
noch zugenommen. Einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Verkehr wird bereits jetzt mit bis zu 14 Jahren Gefängnis bestraft. Im Norden Nigerias steht unter der
Scharia-Gesetzgebung darauf der Tod durch Steinigung.
Sollte der Gesetzesentwurf tatsächlich verabschiedet
werden, so wird eine bereits unerträgliche Situation weiter verschlimmert. Der Gesetzesentwurf oder Teile davon
verletzen das Recht auf Freiheit von Diskriminierung, das
Recht auf Familienleben, die Religions- und Glaubensfreiheit, die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Der Gesetzesentwurf verletzt damit auch die nigerianische Verfassung, die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte, die Afrikanische Menschenrechtscharta
und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte.
Darüber hinaus hat sich Nigeria als Mitglied des Menschenrechtsrates verpflichtet, die höchsten Standards anzulegen, um die Menschenrechte zu gewährleisten und zu
schützen, unabhängig von der sexuellen Identität eines
Menschen. Während einer Debatte zum Universal Periodic Review, UPR, im Menschenrechtsrat im Februar 2009
hat der Vertreter Nigerias geäußert, es sei ihm keine
Gruppe von Lesben, Schwulen oder Transgender in Nigeria bekannt, aber als nigerianische Staatsbürger verfügten diese über die in der Verfassung Nigerias garantierten
Rechte.
Der Gesetzesentwurf wird erhebliche Auswirkungen
auf die Menschenrechtsarbeit in Nigeria haben. Es steht
zu befürchten, dass es verstärkt zu Verhaftungen von Personen kommt, denen Homosexualität oder die Unterstützung von Homosexuellen vorgeworfen wird, darunter fallen dann auch Menschenrechtsverteidiger. Der Vertreter
Nigerias vor dem Menschenrechtsrat wird dann auch in
Zukunft keine zivilgesellschaftliche Gruppe von Homosexuellen kennen, die für ihre Rechte eintreten, denn unter
diesem neuen Gesetz würden selbst private Treffen zu einer Gefahr werden. Personen, die eine gleichgeschlechtliche Hochzeit beobachten oder zugegen sind, können bis
zu fünf Jahre ins Gefängnis kommen, was letztlich zu einer Gefahr für die Menschenrechte aller Nigerianerinnen
und Nigerianer werden kann. Der Willkür sind hier Tür
und Tor geöffnet.
Vor diesem Hintergrund, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von den Koalitionsfraktionen, macht es mich
fassungslos, wie Sie zum wiederholten Mal - und im Menschenrechtsausschuss kommentarlos - unseren Antrag
ablehnen. Einen wortgleichen Antrag von uns haben Sie
2007 mit der Begründung abgelehnt, der Gesetzentwurf
stünde ja noch nicht zur Abstimmung an. Nun steht er zur
Abstimmung an, und es zeigt sich, dass Ihre Begründung
zur Ablehnung 2007 nur fadenscheinig war. Offenbar gibt
es bei einigen Mitgliedern Ihrer Fraktionen noch immer
Vorbehalte, was die Menschenrechte von Homosexuellen
angeht, anders kann man sich Ihr Abstimmungsverhalten
gar nicht erklären. Auch ein Signal für einen gemeinsamen Textentwurf, wie bereits 2007 von uns angeboten, haben wir von Ihnen nicht erhalten. Angesichts des Leids,
das dieses Gesetz, sollte es in Kraft treten, verursachen
wird, fällt mir dazu nur ein Wort ein: schäbig!
Ich hoffe, dass die Bundesregierung nun trotzdem alles
in ihrer Macht Stehende tun wird, um zusammen mit ihren
europäischen Partnern gegenüber der nigerianischen
Regierung und dem nigerianischen Parlament zu demarchieren. Homosexuellenrechte sind Menschenrechte!
Auch wenn es in diesen Tagen stark danach aussieht,
dass der Bürgerkrieg in Sri Lanka zugunsten der Regierung ausgeht, ist damit der 25 Jahre alte Konflikt im Land
längst nicht beendet. Die Brutalität beider Konfliktparteien, die tausende Zivilistinnen und Zivilisten das Leben
gekostet hat, bildet vielmehr die Grundlage für zukünftige
Unruhen und Auseinandersetzungen. Dass die Regierung
von Sri Lanka meint, eine langfristige Lösung könne aus
den Gewehrläufen kommen, erfüllt uns mit großer Sorge
für die Zukunft Sri Lankas. Die Regierung von Präsident
Rajapakse hat erklärt, die Kämpfe gegen die LTTE würden erst beendet, wenn diese „endgültig ausgelöscht“
seien. Wer glaubt, dass damit der Bürgerkrieg in wenigen
Wochen beendet sein wird, täuscht sich.
Im unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf,
sich viel stärker als bisher für einen sofortigen Waffenstillstand zwischen der Regierung Sri Lankas und der LTTE
einzusetzen, damit es den Zivilistinnen und Zivilisten ermöglicht wird, die Kampfzone zu verlassen. Die Regierungstruppen haben die LTTE auf ein Gebiet von nur 50 Quadratkilometerzusammengedrängt. Bis zu 170 000 Zivilistinnen und
Zivilisten sollen sich dort noch aufhalten, die meisten von ihnen verletzt, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, zu
Nahrungsmitteln und sauberem Wasser. Die humanitäre Katastrophe spitzt sich dramatisch zu, wie den Berichten des
Internationalen Komitees des Roten Kreuzes zu entnehmen
ist. Die eingeschlossenen Zivilistinnen und Zivilisten müssen
dringend evakuiert werden.
Es gibt es Hinweise darauf, dass die Menschen, die aus
dem Kampfgebiet fliehen konnten, in Flüchtlings- und
Übergangslagern festgehalten werden. Dabei wird offenbar mit vermeintlichen LTTE-Kämpfern kurzer Prozess
gemacht. Es gibt Berichte über Erschießungskommandos, über „Verfahren“ gegenüber den Flüchtlingen, die
jegliche Menschenrechtsstandards außer Acht lassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
Diese Vorwürfe müssen aufgeklärt werden, und die Re-
gierung von Sri Lanka muss dringend ermahnt werden,
die von ihr übernommenen und die universal gültigen
Menschenrechtsverpflichtungen im Umgang mit allen
Bürgerinnen und Bürgern Sri Lankas einzuhalten. Dazu
gehört auch, dass Journalistinnen und Journalisten, so-
wohl inländische als auch internationale, sich frei und
ungehindert bewegen, recherchieren und ihre Meinung
äußern dürfen - auch und gerade, was die Situation in
den Flüchtlingslagern betrifft. Die Anzahl der Morde an
Journalistinnen und Journalisten in Sri Lanka in den letz-
ten Jahren ist erschreckend.
Ohne die Einhaltung von Menschenrechtsstandards
und den Schutz vor Diskriminierung wird es zu keiner
tragfähigen Lösung des blutigen Konflikts in Sri Lanka
kommen. Dazu gehört perspektivisch ein gewisses Maß
an Autonomie im Norden und Osten der Insel, ein bewuss-
tes Programm, das die starke wirtschaftliche Ungleich-
heit zwischen den Landesteilen abbaut, und eine erkenn-
bare Akzeptanz für die Bewahrung der kulturellen
Identität von Minderheiten in Staat und Gesellschaft.
Doch das ist Zukunftsmusik.
Die Bundesregierung und die EU sollten es allerdings
nicht bei reinen Appellen an die Regierung belassen. Sie
sollte sich in der EU für die Aussetzung von Handelsprä-
ferenzen einsetzen. Sie sollte in der Weltbank und der
Asiatischen Entwicklungsbank klarstellen, dass dies nicht
die Zeit für Neuzusagen in der Zusammenarbeit ist, und
bis auf Weiteres eine entsprechende Aussetzung in den
Bereichen fordern, die nicht direkt mit der Verbesserung
der humanitären Lage zu tun haben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12436 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Weitere Verschlechterung der
Rechtssituation von Homosexuellen in Nigeria verhin-
dern“. Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/12459,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/12107 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 29 a und
29 b:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter
im Jahre 2007 ({0})
- Drucksache 16/11583 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Kerstin Müller ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine restriktive Rüstungsexportpolitik Parlamentarische Kontrollmöglichkeiten verbessern
- Drucksachen 16/11388, 16/11975 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Fritz, Hempelmann, Kopp, Schäfer ({4}),
Nachtwei.
Auch wenn der Rüstungsexportbericht 2007 erneut zu
unattraktiver Zeit auf der Tagesordnung des Deutschen
Bundestages steht, so diskutieren wir innerhalb von drei
Monaten immerhin zum zweiten Mal über Rüstungsexporte - und dies in Zeiten, in denen die Wirtschafts- und
Finanzkrise die Tagesordnung bestimmt und die Bundestagswahl ihre Schatten voraus wirft.
Schauen wir uns die Zahlen in diesem in der Tat wieder
einmal sehr spät vorgelegten Rüstungsexportbericht
2007 an, so wird deutlich, dass die Gesamttendenz im
mehrjährigen Vergleich der Rüstungsexporte nach wie
vor eine starke Kontinuität zeigt. Die vorhandenen
Schwankungen bzw. Aufs und Abs ergeben sich vor allem
aus zwei Gründen: Zum Ersten ist das Gesamtvolumen so
gering, dass einzelne Großaufträge wie etwa die Ausfuhr
von Schiffen bereits zu einem nennenswerten Ergebnis
führen, und zum Zweiten ist das internationale Engagement der Bundeswehr im Rahmen friedenserhaltender
Maßnahmen sowie die Notwendigkeit zur Schaffung von
innerer Stabilität und Sicherheit in fragilen Partnerländern auch mit dem Export notwendigen Materials verbunden.
Dies erklärt etwa die Tatsache, dass Afghanistan zu einem der wichtigsten Empfängerländer deutscher Rüstungsexporte zählt. Der Großteil der Lieferung nach Afghanistan hat 2007 aus Panzern für den im Süden des
Landes stationierten NATO-Partner Kanada bestanden.
Es wäre undenkbar, hätten wir unseren Verbündeten im
gefährlicheren südlichen Teil Afghanistans die Hilfe verweigert.
Ich möchte nicht allzu viele Zahlen nennen, aber auf
wenige Eckwerte von besonderer Bedeutung eingehen:
Der Gesamtwert der 2007 erteilten Einzelausfuhrgenehmigungen betrug 3,7 Milliarden Euro, womit ein leichter
Rückgang gegenüber dem Vorjahr - 4,1 Milliarden Euro zu verzeichnen ist. Mit circa 66 Prozent entfällt der überwiegende Anteil der Genehmigungen auf EU-, NATO23314
und NATO-gleichgestellte Länder, mit denen bekanntermaßen vielfältige Kooperationen im Rüstungsbereich bestehen. Der Anteil der Ausfuhren in Drittländer ist von
29 Prozent auf 33 Prozent gestiegen.
Wichtigste Empfängerländer waren die USA, die
Schweiz und das Vereinigte Königreich. Außerhalb der
EU/NATO waren es Afghanistan, Südkorea und Pakistan.
Zu den exportstärksten Branchen zählten in 2007 die
Landfahrzeugindustrie, militärische Elektronik und Luftfahrttechnik.
Der Gesamtwert der 2007 erteilten Sammelausfuhrgenehmigungen belief sich in 2007 auf 5,1 Milliarden Euro
und ist damit gegenüber dem Vorjahr angestiegen ({0}). Da es sich bei den Sammelausfuhrgenehmigungen jedoch um Rüstungskooperationen mit anderen EU-, NATO- und NATO-gleichgestellten Staaten
handelt, sind diese Zahlen ein Zeichen dafür, dass die Europäisierung des Rüstungssektors zunimmt. Und dies ist
ja auch politisch so gewollt! Wirklich nachvollziehbar ist
für die Mitglieder des Deutschen Bundestages die Bedeutung dieser Genehmigungsform nach wie vor nicht.
Der Wert der tatsächlich aus Deutschland ausgeführten Kriegswaffen ist erneut gegenüber dem Vorjahr leicht
zurückgegangen - auf circa 1,1 Milliarden Euro. Damit
liegt der Anteil von Kriegswaffen an den deutschen Gesamtexporten bei circa 0,11 Prozent der deutschen Gesamtexporte. Das ist der niedrigste Wert seit 2002. Ein
Anteil von immerhin 75 Prozent des Gesamtwertes entfiel
dabei auf Ausfuhren in EU-, NATO und NATO-gleichgestellte Länder. Die übrigen Exporte umfassen hauptsächlich die Ausfuhr von U-Booten nach Südkorea, die etwa
82 Prozent aller Drittlandsexporte ausmachen.
Die Genehmigungswerte für sogenannte Kleinwaffen,
insbesondere automatische Handfeuerwaffen, sind mit
48 Millionen Euro gegenüber den beiden Vorjahren um
circa 30 Prozent gestiegen, für die Gruppe der Drittstaaten von 15,6 Millionen Euro auf 30,2 Millionen Euro.
Mexiko und Saudi-Arabien sind die beiden größten
Hauptabnehmer. 11 Millionen Euro gingen an die mexikanischen Polizeibehörden und weitere 11 Millionen
Euro an die Armee Saudi-Arabiens, einen staatlichen
Endverwender also und strategischen Partner Deutschlands. So erschreckend der enorme Anstieg beim Export
von Kleinwaffen ist, so deutlich muss auch darauf hingewiesen werden dürfen, dass es auch hier ein Auf und Ab
und keinesfalls einen stetigen Zuwachs gibt. 2002 und
2003, also unter Rot-Grün, lagen die Zahlen mit 62 Millionen Euro und 53 Millionen Euro weitaus höher. Und es
gibt Hinweise, dass der Kleinwaffenexport in 2008 deutlich zurückgegangen ist. Dass die sogenannten Kleinwaffen in vielen Krisen-, Bürgerkriegsstaaten und instabilen
Ländern mit fehlenden staatlichen Strukturen oder Auseinandersetzungen rivalisierender Machtgruppen sowie
ethnisch motivierten Gewalttaten und Sezessionsbestrebungen eine für die Bevölkerung katastrophale Rolle
spielen, ist unzweifelhaft richtig. Deshalb muss vor allem
dem schwarzen und grauen Markt für Kleinwaffen auf der
Welt der Kampf angesagt werden, vor allem aber auch
der unverantwortlichen Verbreitung von Kleinwaffen
durch staatliche oder staatsnahe Lieferanten außerhalb
der EU. Andererseits wird dort, wo der Staat das Machtmonopol hat und es auch gegenüber organisierten kriminellen Strukturen durchsetzen muss, die Lieferung von
Handfeuerwaffen auch weiter sinnvoll sein, wenn er verantwortlich kontrolliert wird. Die dauerhafte Verringerung der Kleinwaffen auf der Welt bleibt ein wichtiges
Ziel.
Begrüßenswert ist, dass der Rüstungsexportbericht
2007 erstmals Daten zu der im Jahr 2006 neu eingeführten Kontrolle von Vermittlungsgeschäften für Rüstungsgüter enthält und damit ein zusätzlicher Schritt in Richtung Transparenz getan worden ist. Insofern wiederholt
der heute ebenfalls zur Diskussion stehende Antrag der
Grünen die uns bekannten Forderungen nach mehr Kontrolle und Transparenz, übergeht die aktuellen rechtlichen Entwicklungen auf europäischer Ebene und vergisst, dass die Rüstungsexportpolitik unter Rot-Grün
keinesfalls restriktiver und verantwortungsvoller war, als
sie es heute ist. Vielmehr steht die Rüstungsexportpolitik
der Bundesregierung in großer Kontinuität der unterschiedlichen Regierungen und bleibt auch künftig restriktiv und verantwortungsbewusst. Wünschenswert ist - da
herrscht Konsens im Parlament - tatsächlich eine zeitnahere Vorlage der Rüstungsexportberichte.
Die Frage des Endverbleibs von Rüstungsgütern, auch
in Kooperationsprojekten, beschäftigt uns seit Jahren.
Nicht nur einmal habe ich den Standpunkt vertreten, dass
den entsprechenden Vorschriften in den deutschen
Grundsätzen keine wirklich kontrollierbare Endverbleibsregelung gefolgt ist. Freilich gibt es Grundlagen für
eine Verbesserung in der Praxis: Zum einen regelt Art. 4
der Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den
Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern
den Endverbleib, zum anderen ist der EU-Verhaltenskodex für Waffenausfuhren am 8. Dezember 2008 durch
Beschluss des Rates der EU-Außenminister zu einem
rechtlich verbindlichen Gemeinsamen Standpunkt aufgewertet worden. Dafür haben sich die Bundesregierung
und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion seit Jahren eingesetzt.
Die im Zusammenhang mit der Europäisierung des
Rüstungssektors oftmals geäußerte Kritik, dass die Exportkontrollen auf europäischer Ebene vergleichsweise
schwach entwickelt seien, weckt die besondere Aufmerksamkeit des Bundestages. Wir werden genau beobachten,
wie der Gemeinsame Standpunkt sich in der Praxis auswirken wird. Es gibt durchaus gute Ansätze, von denen
wir aber noch nicht wissen, wie sie in der Verwaltungswirklichkeit umgesetzt werden: Die Frage des Endverbleibs ist in Art. 5 des Gemeinsamen Standpunktes geregelt. Zudem gelten auch innerhalb der EU die üblichen
Reexportbestimmungen für Drittlandexporte, das heißt,
der Empfänger deutscher Exportgüter muss vor einem
Reexport eine Genehmigung der Bundesregierung einholen. Damit gewährleistet die Bundesregierung, dass von
Drittstaaten keine Technologien an Länder exportiert
werden, bei denen deutsche Zulieferungen enthalten sind,
die nach deutschem Exportrecht nicht genehmigungsfähig wären.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dennoch bleibt die Frage, wie etwa Sturmgewehre von
Heckler & Koch nach Georgien gelangen konnten. An
Lücken in der Gesetzgebung kann das eigentlich nicht liegen. Die vorliegenden Regelungen müssen natürlich
auch konsequent angewandt werden. Insofern besteht
nach wie vor Verbesserungsbedarf, an dem die EU gegenwärtig arbeitet. Ich denke dabei an den Vorschlag
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und
des Rates zur Vereinfachung der Bedingungen für die innergemeinschaftliche Verbringung von Verteidigungsgütern. Ziel dieser bis 2012 umzusetzenden sogenannten
Transferrichtlinie ist es, den Transfer von Verteidigungsgütern innerhalb der EU durch ein einfacheres und einheitliches System zur Lizenzvergabe zu erleichtern und
zugleich die Transparenz und Rechenschaftspflicht innerhalb der EU zu erhöhen. Dies ist ein weiterer richtiger
und notwendiger Schritt auf dem Weg zu effizienterer
Überwachung und stärkerer Kontrolle des Exports im
Binnenmarkt auf europäischer Ebene.
Diese Entwicklung, wie natürlich auch die rechtliche
Verbindlichkeit des Gemeinsamen Standpunktes, sollten
uns hoffnungsfroh stimmen, dass die Transparenz künftig
weiter erhöht und das Kontrollregime innerhalb der EU
durch die Durchführung strikterer Verfahren zur Harmonisierung der Ausfuhrkontrollstrategien der Mitgliedstaaten verbessert wird.
Gerne wiederhole und erinnere ich an das, was ich bereits im Dezember an dieser Stelle gesagt habe, weil es
nichts an seiner Aktualität eingebüßt hat: Wir alle hoffen,
das neue Miteinander der Weltgemeinschaft infolge der
Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise führe zu
der weltweiten Erkenntnis, dass auch militärische Sicherheit eine wichtige Voraussetzung staatlicher Stabilität
sein kann, dass aber militärische Sicherheit nicht Frieden
und Verständnis über ethnische, kulturelle und religiöse
Grenzen hinweg ersetzen kann. In diesem Sinne sollte die
Bundesregierung ihre restriktive und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik weiterführen und die Harmonisierung auf europäischer Ebene weiter stützen und voranbringen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieht auch den engen Zusammenhang mit den hoffentlich wieder in Gang
kommenden Bemühungen um Abrüstung sowohl im konventionellen wie vor allem im Bereich der Massenvernichtungswaffen. Nur über solche Initiative wird ein breites Bewusstsein in der Völkergemeinschaft zu erzielen
sein, dass Entwicklung und Frieden mit immer weniger
Waffen das Ziel der internationalen Politik sein muss.
Neue Instabilitäten können durch unkontrollierte Waffenlieferungen vor allem in Krisengebiete und Entwicklungsländer, wie bei einigen Lieferländern zu beobachten, erst entstehen oder verschärft werden. Deshalb ist
international der Versuch zu machen, die Transparenz
von Rüstungsexportpolitik jenseits der EU, die einen erheblichen Fortschritt gemacht hat, ebenfalls zu erhöhen
und damit einen Beitrag zu weniger Rüstungsexport zu
leisten.
Zunächst einmal möchte ich hervorheben, dass wir
heute unser in der letzten Debatte zu den Rüstungsexportberichten 2004 bis 2006 gegebenes Versprechen wahrmachen, die Rüstungsexportberichte wieder einzeln und
möglichst zeitnah im Plenum zu debattieren. Der vorliegende Rüstungsexportbericht für 2007 ist im Dezember
vom Kabinett verabschiedet worden.
Die Zahlen für den Berichtszeitraum erscheinen auf
den ersten Blick insgesamt ermutigend. Zwar wurde im
Vorfeld mehrfach kritisiert, dass der Gesamtumfang deutscher Rüstungsexporte im Jahr 2007 gestiegen ist. Diese
Entwicklung beruht vor allem auf einem Zuwachs der
Sammelausfuhrgenehmigungen im Rahmen von wehrtechnischen Kooperationen mit EU- und NATO-Partnern
- so zum Beispiel der Lieferung von deutschen Komponenten. Auf nationaler Ebene ergibt sich jedoch ein anderes Bild. So ist sowohl die Gesamtsumme der Einzelausfuhrgenehmigungen als auch die Zahl der tatsächlich
exportierten Kriegswaffen gegenüber den Vorjahren zurückgegangen. Der überwiegende Anteil davon, also
etwa 75 Prozent, entfällt auf EU-, NATO- und NATOgleichgestellte Länder. Exporte in Drittstaaten umfassten
in jenem Jahr vor allem U-Bootlieferungen nach Südkorea. Dabei ist der Anteil der Ausfuhren in Entwicklungsländer wie schon in den letzten Jahren weiter zurückgegangen auf circa 1,1 Prozent. Insgesamt ist der Anteil von
Kriegswaffen an den deutschen Gesamtexporten mit
0,11 Prozent in diesem Jahr so niedrig wie schon seit
2002 nicht mehr.
Hierzu möchte ich anmerken, dass es relativ müßig ist,
diesen Zahlen allzu großen Aussagewert zuzurechnen,
weil aus der Summe einzelner Exportgeschäfte nicht die
politische Strategie dahinter ableitbar ist. Letztlich zählt
ja nicht der Wert eines Geschäfts, sondern das Empfängerland.
Gleichzeitig würde ich mir wünschen, dass künftig
präzisere Aussagen dazu getroffen werden, wie viele Anträge eigentlich abgelehnt worden sind. Die Praxis der
wehrtechnischen Industrie, in der Regel zunächst einmal
informell vorzufühlen, ist äußerst intransparent. Auch
würde es mich interessieren, welchen Stellenwert Nachforschungen über den Endverbleib der Exporte haben.
Immer wieder einmal hört man, dass Waffenlieferungen
über Schmuggelwege dann doch ihren Weg in Krisengebiete finden. Das darf nicht passieren. Es zeigt aber auch,
dass eine nationale Rüstungsexportkontrolle allein nicht
ausreicht. Anstrengungen zur Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit auf diesem Gebiet sind das A
und O.
Es ist daher zu begrüßen, dass die EU-Außenminister
bei ihrem Treffen vor drei Monaten beschlossen haben,
den EU-Verhaltenskodex für Rüstungsexporte zu einem
rechtlich verbindlichen Gemeinsamen Standpunkt zu aufzuwerten. Das ist bemerkenswert - schließlich hat sich
Frankreich lange dagegen ausgesprochen. Der überarbeitete Kodex nennt acht Kriterien wie die Menschenrechtslage oder die regionale Stabilität, die bei Rüstungsexportentscheidungen zu berücksichtigen sind. Außerdem
sind damit Berichtspflichten, ein intensivierter Informationsaustausch und Konsultationsmechanismen verbunden. Die Rüstungsexportkontrolle verbleibt zwar weiter
in nationaler Verantwortung. Gleichzeitig trägt der
Kodex aber zu einer europäischen Harmonisierung der
Zu Protokoll gegebene Reden
Rüstungsexportkontrolle bei. Die Aufwertung des Kodexes werte ich auch als wichtigen Impuls für die Initiative
zur Schaffung eines rechtlich verbindlichen internationalen Waffenhandelsabkommens.
Neben dem Rüstungsexportbericht beraten wir heute
einen Antrag der Grünen, der vor allem darauf abzielt,
die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten der deutschen Rüstungsexportpolitik zu verbessern. Die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen bemängeln
darin insbesondere, dass die Regierung ohne Mitwirkung
des Parlaments Entscheidungen über Rüstungsexporte
treffen kann. Es ist jedoch nicht ohne Grund so, dass der
Schwerpunkt der Verantwortung bei der Bundesregierung und die Kontrollverantwortung beim Parlament
liegt. Rüstungsexportentscheidungen werden im Einzelfall getroffen und geprüft. Dabei spielen betriebswirtschaftliche Kennzahlen einzelner Unternehmen eine
Rolle, die so nicht veröffentlicht werden können. Eine offene Diskussion im Bundestag wäre unter diesen Bedingungen gar nicht möglich. Hinzu kommt, dass Parlamentarier realistisch gesehen nicht jede Einzelentscheidung
prüfen können. Unsere Aufgabe liegt vielmehr darin,
Transparenz einzufordern und ein Auge auf die Entwicklung auf dem sensiblen Markt der Rüstungsgüter und der
diesbezüglichen Exporte zu haben. Die Bundesregierung
ist seit dem Jahr 2000 dazu verpflichtet, dem Bundestag
jährlich einen Bericht über die Rüstungsexporte des jeweils letzten Jahres zuzustellen. Dieser Bericht wird auch
der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es ist - das will
ich wiederholen - Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion, dass diese Berichte dann auch tatsächlich zeitnah
auf die Plenartagesordnung gesetzt und debattiert werden müssen. Wir haben heute einen guten Neuanfang gemacht.
Außerdem möchte ich daran erinnern, dass es einen
Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung gibt. Dieses Gremium widmet sich intensiv
Themen wie Streumunition, Kleinwaffen oder privaten
Sicherheitsanbietern, die ebenfalls von anderen Ausschüssen begleitet werden. Es ist unsere Pflicht, die Entwicklungen auf diesen Gebieten langfristig und vorausschauend zu begleiten. Es ist nicht sinnvoll, kurzsichtig
anhand von aktuell anstehenden Exportentscheidungen
aktiv zu werden. Deshalb kann ich und auch meine Fraktion - obwohl wir uns in vielem ja auch einig sind - den
vorliegenden Antrag nicht mittragen.
Es ist schon bemerkenswert; da musste das Parlament
über drei Jahre warten, um ein einziges Mal einen Rüstungsexportbericht der Bundesregierung im Plenum diskutieren zu können; und nun haben wir die zweite Debatte
zur Rüstungsexportpraxis der Bundesregierung in nicht
ganz drei Monaten, wenn auch zu nachtschlafener Zeit
und zu einem Bericht, dessen Zahlen bereits in die vergangene Diskussion eingeflossen sind, da dieser noch
schnell zwei Tage vor der letzten Plenardebatte veröffentlicht wurde.
Gerade aus diesem Grunde steht die heutige Debatte
symbolisch dafür, woran es den Rüstungsexportberichten
der Bundesregierung sowohl formal als auch inhaltlich
mangelt: Transparenz und Verbindlichkeit. Bis heute gibt
es keinen festen Zeitpunkt, zu dem die Bundesregierung
sich verpflichtet, den Rüstungsexportbericht vorzulegen.
So dauert es nach Abschluss des Berichtsjahres nicht selten
über zwölf Monate bis zur Veröffentlichung der Rüstungsexportzahlen durch die Bundesregierung, und das, obwohl
die Bundesregierung bereits immer bis Juni nach Abschluss
des Berichtsjahres die entsprechenden Zahlen an die Europäische Union melden muss. Es darf deshalb erstaunen,
dass es scheinbar mehr als ein halbes Jahr benötigt, um
diese Zahlen in eine für das Parlament und die Öffentlichkeit präsentable Form zu bringen. Dies ist ein Mangel an
Aktualität, der seit längerem nicht nur von der FDP, sondern
auch von Parlament und NGOs kritisiert wird. Und am
Rande sei bemerkt, die Gemeinsame Konferenz für Kirche
und Entwicklung, die jedes Jahr ihren eigenen unabhängigen Rüstungsexportbericht auf Basis der an die EU gemeldeten Zahlen herausgibt, schafft es übrigens in der Hälfte
der Zeit.
Es wird Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein,
dies besser zu machen und einen Rüstungsexportbericht
vorzulegen, der es nicht an der nötigen Aktualität vermissen
lässt und auch zeitnah im Parlament debattiert werden
kann.
Wenn die Bundesregierung in ihrer Pressemitteilung
vom 17. Dezember 2008 darauf verweist, dass man im
Jahr 2007 die geringste Zahl an Kriegswaffen seit 2002
exportiert habe, dann ist dies lediglich ein schwacher
Versuch der Augenwischerei. Deutschland zählte auch im
Jahr 2007 zu den führenden Exporteuren von konventionellen Rüstungsgütern weltweit, insbesondere im schwierigen Bereich der Kleinwaffenexporte ist unter der Großen
Koalition ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen. Gerade
aus diesem Grunde haben wir eine besondere Verantwortung zu Transparenz und Nachvollziehbarkeit unserer
Ausfuhrentscheidungen. Und es ist deshalb besonders ärgerlich, wenn sich beim näheren Hinsehen zeigt, dass es
dem Rüstungsexportbericht auch inhaltlich in einzelnen
Bereichen an Klarheit und Vollständigkeit mangelt.
Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang der
Bereich der Sammelausfuhren für Rüstungsgüter. Die
Zahlen der vergangenen Jahre belegen den Trend eines
steigenden Gesamtvolumens an Sammelausfuhren, der sich
im aktuellen Rüstungsexportbericht dadurch bestätigt, dass
im Jahr 2007 die Summe der Sammelausfuhren erstmals
das Gesamtvolumen an Einzelgenehmigungen für Rüstungsgüter überschritten hat. Diese konstant zunehmende
Zahl an Sammelausfuhrgenehmigungen ist das Ergebnis
einer wachsenden Bedeutung der innereuropäischen Rüstungskooperation. Das ist aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion in jeder Hinsicht begrüßenswert. Problematisch
ist aber, dass die Bundesregierung die Ausfuhren in europäische Partnerstaaten lediglich in einer pauschalen
Gesamtsumme in ihrem Rüstungsexportbericht ausweist
und damit von Parlament und Öffentlichkeit nicht nachvollzogen werden kann, an welche Staaten der EU Ausfuhren stattgefunden haben und wohin Rüstungsgüter mit
deutschen Komponenten über den Endhersteller exportiert wurden. Dies ist aber notwendig. Denn trotz des
rechtsverbindlich gewordenen EU-Verhaltenskodexes für
Zu Protokoll gegebene Reden
Waffenausfuhren wird die Abwägung über eine endgültige Ausfuhrentscheidung auch weiterhin auf nationaler
Ebene in den einzelnen EU-Staaten getroffen werden. Aus
diesem Grunde ist es wichtig, sichtbar zu machen, welche
EU-Staaten Empfänger deutscher Ausfuhren und mögliche Exporteure von Rüstungsgütern mit deutschen Komponenten sind. Dies kann aber nur eine differenziertere
Angabe der genehmigten Sammelausfuhren leisten.
Darüber hinaus fehlen im Rüstungsexportbericht wichtige Kategorien, um das Bild deutscher Ausfuhrpolitik zu
komplettieren. Die Anzahl und die Zielländer der genehmigten Exporte für Elektroschockgeräte und Fußfesseln
sind auch weiterhin nicht Bestandteil des Kanons, den der
Rüstungsexportbericht umfasst, obwohl seit Jahren durch
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International gewarnt wird, dass diese Geräte in einigen Staaten
gezielt zur Folter eingesetzt werden. Um hier Missbrauch
entgegenzuwirken, der insbesondere dadurch möglich
wird, dass einzelne Empfängerländer diese Güter an
Drittstaaten weiterexportieren, ist es erforderlich, den
Handelsfluss transparent und den Endverbleib nachvollziehbar zu machen.
Ein belastbarer Rüstungsexportbericht muss darüber
hinaus den aktuellen Entwicklungen und Proliferationsgefahren Rechnung tragen. Längst befindet sich die
Grenze zwischen ziviler und militärischer Nutzbarkeit
ganzer Gütergruppen in der Auflösung. Deshalb sollte
die Bundesregierung dem Beispiel des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI folgen und den Export von
sicherheitsrelevanten Dual-Use-Gütern an militärische
Empfänger in die Berichtsstatistik aufnehmen. Dies schafft
ein notwendiges Mehr an Transparenz und Nachverfolgbarkeit, ohne dabei weitere bürokratische Lasten für die
deutsche Wirtschaft zu verursachen.
Das Ziel des ebenfalls heute zur Diskussion stehenden
Antrags von Bündnis 90/Die Grünen ist eine signifikante
Beschränkung des internationalen Handels mit Rüstungsund Dual-Use-Gütern. Parallel zu der Beschränkung des
Handels soll zusätzliche Bürokratie aufgebaut und Kreditbürgschaften sollen in einschlägigen Wirtschaftsbereichen
beendet werden. Die Forderung, die erprobte, sachnahe
und wirtschaftsfreundliche Zuständigkeit der Ausfuhrgenehmigung im bislang konsultativ eingebundenen Auswärtigen Amt zu bündeln, widerspricht einer konsistenten
Außenwirtschaftsförderung.
Wir Liberalen lehnen diesen Antrag daher ab.
2007 war erneut ein gutes Jahr für die Rüstungsindustrie. Die Bundesregierung genehmigte Rüstungslieferungen im Wert von mehr als acht Milliarden Euro in aller
Herren Länder, von A wie Afghanistan bis Z wie Zypern.
Genehmigt wurden Exporte von Artilleriemunition bis
Zielortungsgeräte. Darüber hinaus wurde ein immer größerer Teil als sogenannte Sammelausfuhrgenehmigungen
für Rüstungsexporte in unbekannte Staaten erteilt - immerhin im Wert von fünf Milliarden Euro. Qualität, Quantität und in mehr als 60 Prozent der Genehmigungsfälle
sogar der Empfänger der deutschen Rüstungstechnologie
blieben unbekannt. Transparenz buchstabiert sich anders, verantwortungsvolle und restriktive Rüstungsexportpolitik auch.
Solange Fragen des Friedens weniger Schutzbedürfnis
genießen als die geschäftlichen Interessen einzelner Unternehmen, sind Verhaltenskodizes für Rüstungsexporte
nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind.
Gerne jammert die Bundesregierung mit, wenn mal wieder deutlich wurde, wie lange deutsche Kleinwaffen, wie
zum Beispiel das vor mehr als drei Jahrzehnten entwickelte G-3-Sturmgewehr von Heckler&Koch im Sudan,
weltweit auf den Kriegsschauplätzen eingesetzt werden.
Genauso gerne wird geleugnet, dass die jetzigen Exporte
von Kleinwaffen oder gepanzerten Fahrzeugen eine ähnliche Lebenszeit haben. Wer weiß schon, wie die heute an
sogenannte strategische Partner gelieferten U-Boote in
20 Jahren eingesetzt werden? Die Bundesregierung auf
jeden Fall nicht. Das System der Endverbleibskontrolle
spottet jeder Beschreibung. Kontrolle bedeutet hier, dem
Empfänger tief in die Augen zu schauen und zu vertrauen,
dass er es schon nicht böse meint.
Obwohl die Praxis also zeigt, wie lückenhaft die Erfassung der Rüstungsexporte ist, arbeitet die Bundesregierung daran, das Exportkontrollsystem für konventionelle
Rüstungsgüter weiter auszuhöhlen. Vom ehemaligen EUKommissar für Industrie, dem FDP-Politiker Martin
Bangemann, maßgeblich mitinitiiert, sollen innerhalb
der Europäischen Union nun die letzten Hürden für den
Rüstungsexport fallen, die letzten Möglichkeiten der Erfassung von Rüstungsexporten beseitigt werden. Die EURichtlinie zur Schaffung eines Binnenmarktes für Verteidigungsgüter, die im Januar 2009 beschlossen wurde,
sieht vor, dass Waffenkomponenten keine Genehmigung
mehr brauchen und der Endverbleib auch nicht mehr
kontrolliert werden muss. Nach Möglichkeit sollen die
Rüstungsunternehmen in Zukunft selber die von ihnen exportierte Menge an Rüstungsgütern melden und sich auch
um die Einhaltung des Endverbleibs kümmern. Schöne
Neue Welt!
Die Europäisierung der Rüstungsexportkontrolle führt
nur dazu, dass die Unzulänglichkeiten der nationalen
Kontrolle auf die europäische Ebene gehoben werden und
sich dort potenzieren. Letzten Endes ist dies weder im Interesse der Allgemeinheit noch in dem der Streitkräfte, die
vielleicht in absehbarer Zeit mit der eigenen Technik konfrontiert werden. Lediglich die Rüstungsindustrie profitiert davon - denn dann gilt es natürlich Gegenmaßnahmen gegen die eigene Rüstungstechnologie zu entwickeln.
Die Bundesregierung setzt leider den falschen Weg von
Rot-Grün fort. Seit 1999 wurden Rüstungsexporte im
Wert von mehr als 56 Milliarden Euro genehmigt. Deutsche Rüstungstechnologie und auch Waffen aus Bundeswehrbeständen wurde an Staaten geliefert, die Menschenrechte systematisch verletzten und an Kriegen und
bewaffneten Konflikten beteiligt sind, abgesichert wurden die Rüstungsgeschäfte zum Teil sogar mit staatlichen
Bürgschaften.
Die Genehmigungspolitik der Bundesregierung orientiert sich vor allem an Produktionskapazitäten und Auslastungen der deutschen Rüstungsunternehmen, den
bündnispolitischen und wirtschaftlichen Interessen. HäuZu Protokoll gegebene Reden
Paul Schäfer ({0})
fig dient der Export deutscher Rüstungstechnologie und
die Kooperation bei der Entwicklung von Rüstungsprojekten sogar dem Aufbau von Rüstungsproduktionskapazitäten in Drittstaaten. Diese Praxis kann und muss beendet werden.
Die derzeitige weltweite Aufrüstung trägt zur internationalen Destabilisierung bei und gefährdet den Frieden
in vielen Regionen der Welt. Die Proliferation deutscher
bzw. westlicher Rüstungstechnologie macht die Welt nicht
sicherer, sondern trägt dazu bei, Kriege und Konflikte für
einige Staaten erst führbar zu machen. Zudem ist abzusehen, dass die fortschreitende Europäisierung des Rüstungsmarktes und die Globalisierung der Rüstungsindustrie die parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten immer
weiter einschränken werden. Die Bundesregierung muss
hier endlich ein klares Gegenzeichen setzen und die Weichen für eine wirklich restriktive Rüstungsexportpolitik
stellen.
Die Linke hat bereits im Dezember letzten Jahres dazu
einige erste Vorschläge in den Bundestag eingebracht,
die leider nicht die Zustimmung der anderen Fraktionen
gefunden haben: Stopp von Exportbürgschaften und
Stopp der Abgabe von Bundeswehrmaterial. Überschüssiges Gerät ist zu vernichten. Die deutsche Mitwirkung an
der Auslagerung von rüstungspolitischen Zuständigkeiten ({1}) und der Schaffung eines Rüstungsbinnenmarktes
muss beendet werden. Die Liste ließe sich noch eine Weile
fortführen. Es besteht auf jeden Fall erheblicher Verbesserungsbedarf.
Aber eigentlich geht es hier und jetzt leider erst einmal
darum, überhaupt eine Teilhabe der Öffentlichkeit an der
Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung durchzusetzen. Regierung, Streitkräfte und Industrie mauscheln im
Dunkeln. Informationen werden - wenn überhaupt - nur
mit erheblicher Verspätung veröffentlicht: Heute diskutieren wir über einen Zeitraum, der bereits 16 Monate zurückliegt! Wir erfahren nicht einmal, welche Waffen und
Rüstungskomponenten tatsächlich ausgeliefert wurden,
weil die Bundesregierung nicht bereit ist, die statistische
Erfassungssystematik zu ändern. Kontrolle wird hier ad
absurdum geführt.
Deutlichstes Zeichen für den Unwillen und das Desinteresse der Regierung und der Regierungsparteien, ihre
Rüstungsexportpolitik auf den Prüfstand zu stellen, ist
der Umgang mit den jährlichen Rüstungsexportberichten: Nachdem die Berichte für die Jahre 2004 bis 2006 in
einem Schwung erst Ende 2008 diskutiert wurden, wird
der „aktuelle“ Bericht für 2007 nun nur pro forma im
Bundestag behandelt - die Regierungsparteien haben
sich mit ihrem Wunsch durchgesetzt, die Redebeiträge
nur zu Protokoll zu geben. Der nächste Bundestag muss wenn er sich ernst nimmt - mit dieser Praxis brechen.
Nachdem wir auf Antrag der Grünen im Dezember
erstmals in dieser Legislaturperiode eine parlamentarische Aussprache über die Rüstungsexportpolitik der
Bundesregierung hatten, mussten wir erleben, dass die
Koalitionsfraktionen alles dafür taten, dass die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung nicht öffentlich thematisiert wird. Die Rüstungsexportberichte und unser
Antrag wurden im Eilverfahren und ohne Aussprache
durch die Ausschüsse gepeitscht. Und auch heute müssen
wir wieder erleben, dass für eine mündliche Aussprache
im Parlament keine Zeit ist.
Die Grünen mahnen seit Jahren an, dass sich dieser
Bundestag intensiver mit der Frage der Rüstungsexportpolitik beschäftigen muss. Leider scheuen die meisten
Fraktionen und Abgeordneten das Thema. Insbesondere
die Regierungsfraktionen stellen sich taub und blind.
Man beklagt im besten Fall, dass man vonseiten der Bundesregierung zu spät unterrichtet wird, und versteckt sich
ansonsten hinter der Behauptung, dass die Bundesrepublik eine besonders restriktive Rüstungsexportpolitik betreibe und von daher alles in Ordnung sei. In der Union,
bei SPD und bei der FDP wird sogar offen gefordert, dass
Deutschland sich die Rüstungsexportgeschäfte nicht entgehen lassen dürfe, dass man eine starke eigene Rüstungsindustriekapazität erhalten müsse. Und weil der nationale Markt das nicht hergibt und unsere Partner in der
NATO und EU ihre Rüstungsmärkte abschotten, wächst
der Druck, außerhalb von NATO und EU Absatzmärkte zu
finden.
Wir haben uns oft beklagt, dass die deutschen Rüstungsexportberichte so spät kommen und andere Regierungen ihre Parlamente frühzeitiger und umfassender
informieren. Eine vernünftige parlamentarische Behandlung ist damit unmöglich. Selbst die EU wird von der Bundesregierung früher und umfassender informiert als der
Bundestag. Gegenüber dem Bundestag wird behauptet,
die Ressorts müssten den knapp 30-seitigen Text mit den
Tabellen und Schaubildern oft mühsam Wort für Wort abstimmen. Wenn die Bundesregierung mehr Zeit braucht,
um dem Bundestag weniger Informationen zu geben als
anderen, dann werden wir in Zukunft verstärkt dafür sorgen, dass der Bundestag wieder zeitnäher unterrichtet
wird.
Wenn wir uns die vorliegenden Zahlen für die vergangenen Jahren anschauen und auch in Betracht ziehen,
was internationale Erhebungen wie die des Stockholmer
Friedensforschungsinstituts SIPRI ergeben, dann wird
zum wiederholten Mal deutlich, dass von Restriktivität
keine Rede sein kann. Obwohl Staaten wie Frankreich,
Großbritannien und Russland immer wieder behaupten,
sie würden ihre Rüstungsexporte nun weiter und offensiv
ausbauen, landet in der Praxis dann doch die Bundesregierung mit ihrer vermeintlich restriktiven Exportpolitik
regelmäßig unter den führenden Rüstungsexporteuren
weltweit. Und selbst wenn Franzosen oder Briten wieder
einen spektakulären Export verbuchen können, wie zum
Beispiel bei der skandalumwitterten Lieferung des Eurofighters an Saudi-Arabien, verdient die deutsche Rüstungsindustrie an diesem Geschäft. Die Rüstungsunternehmen haben inzwischen ein ausgeklügeltes und
arbeitsteiliges System entwickelt, wie man über Firmensitz, Tochterfirmen, Kooperationsprojekte und Zulieferungen die Schwächen der jeweiligen nationalen Exportpolitik nutzen kann, um am schnellsten und effektivsten
zum Ziel zu kommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Alljährlich werden auf direktem Wege Rüstungsgüter
im Wert von mehren hundert Millionen Euro in Entwicklungsländer und in Krisenregionen, 2007 zum Beispiel an
Pakistan und Indien, exportiert. Auch Staaten wie Ägypten, Indonesien, Jordanien, Südkorea oder die Vereinigten Arabischen Emirate werden fleißig bedient. Wie hoch
die Exporte tatsächlich sind, was zu welchen Konditionen
geliefert wurde, wissen wir nicht. Denn die Exportstatistik erfasst lediglich die tatsächliche Ausfuhr von Kriegswaffen und nicht die tatsächliche Ausfuhr der übrigen
Rüstungsgüter oder Güter mit doppeltem Verwendungszweck. Die Genehmigungszahlen, etwa im Kleinwaffenbereich, sind erschreckend. Im Jahr 2007 hat die Bundesregierung den Export von Kleinwaffen im Wert von
30 Millionen Euro in Staaten außerhalb der EU und
NATO genehmigt. Amnesty International und andere beklagen zu Recht, dass diese deutschen Kleinwaffen in
Staaten wie Ägypten, Indien, Mexiko, Saudi-Arabien oder
den Vereinigten Arabischen Emiraten nichts verloren haben.
Ich halte nichts davon, jegliche Rüstungsexporte zu
verfluchen, und auch eine verstärkte Rüstungskooperation in Europa bedeutet in meinen Augen nicht zwangsläufig eine Militarisierung der EU. Im Gegenteil, wir
Grünen sind sogar der Auffassung, dass wir Überkapazitäten im Rüstungsbereich nur dann mit Aussicht auf Erfolg abbauen können, wenn wir im Bündnisrahmen und
im Rahmen der EU enger zusammenarbeiten und auf nationale Alleingänge verzichten. Das heißt aber grundsätzlich Ja zur europäischen Rüstungskooperation. Das
heißt Ja zu einer Europäischen Verteidigungsagentur, sofern sie endlich in die Lage versetzt werden würde, sich
dieses Themas auch ernsthaft annehmen zu dürfen. Und
das heißt Ja zu einer restriktiven und verbindlichen gemeinsamen Rüstungsexportpolitik der EU. Im internationalen Maßstab heißt dies auch Ja zu einem weitreichenden internationalen Waffenhandelsabkommen, wofür
sich nicht zuletzt dankenswerterweise zahlreiche Nobelpreisträger und NGOs wie Amnesty International,
OXFAM und IANSA nachdrücklich einsetzen. Viele Exporte sind in der Regel und im Grundsatz auch nicht zu
beanstanden. Aber es gibt hier eine Reihe von Geschäften, bei denen wir Grüne, Menschenrechtsgruppen und
viele andere - frei nach den Worten des Bundespräsidenten - sagen: Das tut man nicht.
Eigentlich haben wir mit den Rüstungsexportrichtlinien und dem Gemeinsamen Standpunkt zu Waffenausfuhren gute Grundlagen, anhand derer wir entscheiden
könnten. Diese Bundesregierung interpretiert diese
Grundsätze aber nicht mehr restriktiv, sondern extensiv.
Nachdem Rot-Grün damit Schluss gemacht hat, Länder
wie Indonesien den NATO-Staaten gleichzustellen, setzt
diese Regierungskoalition immer ungehemmter auf Exporte in Krisenregionen. Die Kanzlerin, der Wirtschaftsminister, der Verteidigungsminister und der Außenminister reisen nach Pakistan und Indien und bieten den beiden
Kontrahenten mit U-Booten, Jagdflugzeugen und Hubschraubern das Modernste an, was deutsche Rüstungsschmieden zu bieten haben. Die Käufer spielen die Exportnationen hemmungslos gegeneinander aus. Sie
wollen ihre eigene Rüstungsindustrie aufbauen, die dann
wiederum exportieren muss, um ökonomisch überleben
zu können. Um den Zuschlag zu bekommen, werden nicht
selten dubiose Sonderzuwendungen fällig. Importeure
wie Pakistan und Indien fordern Technologietransfer und
Kompensationsgeschäfte in Milliardenhöhe. Die riskanten Geschäfte werden dann auch noch mit milliardenteuren Hermes-Bürgschaften abgesichert.
Wir meinen: Damit muss Schluss sein. Dies widerspricht eindeutig den Politischen Grundsätzen für den
Rüstungsexport. Rüstungsexporte sind kein Geschäft wie
jedes andere. Wir fordern eine stärkere Parlamentsbeteiligung. Und wir halten es für die Pflicht des Deutschen
Bundestages, bei solchen Exporten genauer hinzuschauen und die Stimme zu erheben. Es geht nicht an,
dass der Bundestag über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte entscheidet, aber bei der Lieferung von Waffen
wegschaut und sagt, das ist Aufgabe der Exekutive. Wir
Grünen haben im Dezember einen Antrag vorgelegt, in
dem wir für mehr Transparenz und parlamentarische
Kontrolle und einen Systemwechsel in der Rüstungsexportpolitik geworben haben. Uns geht es um Exportkontrolle und nicht Exportförderung.
Wir appellieren insbesondere an die Regierungsfraktionen: Nehmen Sie Ihre Kontrollaufgabe wahr! Unterstützen Sie uns dabei, dass der Bundestag in die Lage versetzt wird, im Vorfeld von strategisch wichtigen oder
kritischen Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Es kann
nicht sein, dass dem Bundestag mit dem Hinweis auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Informationen vorenthalten werden, die Rüstungsindustrie aber weiß, wann
der Bundessicherheitsrat tagt, was auf der Tagesordnung
steht und was entschieden wurde. Anschließend rühmt
sich das Unternehmen öffentlich für diese Aufträge. Der
Bundestag erfährt dann im besten Fall anderthalb Jahre
später offiziell von diesen Exporten, aber nur, wenn er in
der Lage ist, die kryptischen und lückenhaften Berichte
der Bundesregierung zu entschlüsseln. So kann und darf
es nicht weitergehen.
Bedanken möchte ich mich zum Schluss bei der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung - GKKE -,
bei Amnesty International, OXFAM und den anderen
Nichtregierungsorganisationen, die mit ihrer kritischen
Beobachtung, ihren Berichten und ihren Forderungen
dazu beitragen, dass das Thema Rüstungsexportpolitik
auf der politischen Tagesordnung bleibt. In Zeiten einer
Großen Koalition ist dies wichtiger denn je.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11583 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es auch so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 29 b. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine
restriktive Rüstungsexportpolitik - Parlamentarische
Kontrollmöglichkeiten verbessern“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck23320
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
sache 16/11975, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/11388 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen und der Linken angenommen.
Zusatzpunkt 7:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
({1}), Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stärkung des europäischen Haischutzes
- Drucksachen 16/12290, 16/12458 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Holger Ortel
Dr. Kirsten Tackmann
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. Das erfolgt von den Kollegen Jahr,
Ortel, Dr. Happach-Kasan, Dr. Enkelmann und Dr. Kurth
({2}).1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt auf Drucksache 16/12458, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12290 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions-
fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 8:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vor-
1) Anlage 10
schriften der Zahlungsdiensterichtlinie ({3})
- Drucksachen 16/11613, 16/11640 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksachen 16/12430, 16/12487 Berichterstattung:
Abgeordnete Albert Rupprecht ({5})
Martin Gerster
Frank Schäffler
Dr. Gerhard Schick
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben: Rupprecht ({6}), Gerster, Schäffler,
Dr. Troost, Dr. Schick.2)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 16/12430 und 16/12487, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11613 und
16/11640 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. März 2009, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.