Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/19/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Ihnen einige Änderungen in der Tagesordnung mitteilen und davor noch einen kurzen Wahlvorgang durchführen. Auf Vorschlag der SPD-Fraktion soll der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel anstelle des Kollegen Dr. Hans-Ulrich Krüger Mitglied im Gremium nach Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Dressel zum Mitglied dieses Gremiums gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Kinder, Jugendliche, Familien stärken - Konsequenzen nach dem Amoklauf ({0}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1}) a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren - Drucksache 16/12310 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss b)Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Maßnahmen zur effektiven Regulierung der Finanzmärkte - Drucksache 16/10876 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c)Beratung der Unterrichtung durch die Deutsche Welle Zweite Fortschreibung der Aufgabenplanung der Deutschen Welle 2007 bis 2010 mit Perspektiven für 2010 bis 2013 und Zwischenevaluation 2008 - Drucksache 16/11836 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss d)Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Mitnahmefähigkeit von beamten- und soldatenrechtlichen Versorgungsanwartschaften - Drucksache 16/12036 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({6}) Beratung des Antrags der Bundesregierung Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung - Drucksache 16/12282 Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Umsetzung des Beschlusses der EU in Deutschland für einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Dienstleistungen ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kai Gehring, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen - Drucksache 16/12303 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({7}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volkmar Uwe Vogel, Dirk Fischer ({8}), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ernst Kranz, Petra Weis, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programm „Stadtumbau Ost“ - Fortsetzung eines Erfolgsprogramms - Drucksache 16/12284 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Ahrendt, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Notleidenden Unternehmen Sanierungschancen durch effizientere Gestaltung der gesetzlichen Regelungen im Insolvenzplanverfahren geben - Drucksache 16/12285 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({10}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Sicherheit und Zukunft - Initiative für ein sozial gerechtes Antikrisenprogramm - Drucksache 16/12292 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verfahren vereinfachen, Bürger entlasten, Rechtssicherheit schaffen - Notwendige Bedingungen für die Sinnhaftigkeit eines Projekts „Umweltgesetzbuch“ - Drucksachen 16/9113, 16/10393 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({13}) Dr. Matthias Miersch Lutz Heilmann ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Flexibler Eintritt in die Rente bei Wegfall der Zuverdienstgrenzen - Drucksachen 16/8542, 16/12311 Berichterstattung: Abgeordneter Anton Schaaf ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften - Drucksache 16/8100 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({15}) - Drucksache 16/12315 Berichterstattung: Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp Hans-Michael Goldmann Karin Binder Ulrike Höfken Dabei soll wie immer von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der ursprünglich ohne Debatte vorgesehene Tagesordnungspunkt 39 e soll nach dem Tagesordnungspunkt 30 aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 12 und 31 c werden abgesetzt. Schließlich mache ich auf drei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({16}) zur Mitberatung überwiesen werden. Präsident Dr. Norbert Lammert Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im patentanwaltlichen Berufsrecht - Drucksache 16/12061 überwiesen: Rechtsausschuss ({17}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Verteidigungsausschuss ({18}) zur Mitberatung überwiesen werden. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zwei Jahre Europa-Vereinbarung - Bundesregierung muss ihre Verpflichtungen unverzüglich vollständig erfüllen - Drucksache 16/12109 überwiesen: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({19}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Der in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20}) zur Mitberatung überwiesen werden. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gewerkschaften in der Türkei stärken - Drucksache 16/11248 überwiesen: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({21}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auch hier stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 19./20. März 2009 in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 2. April 2009 in London Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Darüber besteht offenkundig Einvernehmen und ist damit so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({22})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Auswirkungen der Finanzmarktkrise haben die Weltwirtschaft - wir spüren das jeden Tag - mittlerweile voll erfasst. Überall gehen Investitionen und Produktion zurück. Die Arbeitslosigkeit steigt. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank erwarten für dieses Jahr bestenfalls weltweit eine Stagnation, wahrscheinlich sogar einen Rückgang der Weltwirtschaftsleistung. Von dieser Entwicklung sind alle Wirtschaftsräume der Welt betroffen. Kein Land kann sich davon abkoppeln. Dies stärkt eben auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit gemeinsamer Antworten. Das Motto heißt also Kooperation statt Abschottung. Das ist der einzige Weg, wieder zu Wachstum und zu Beschäftigung zu kommen. Wir alle erleben in unseren internationalen Kontakten, dass diese Erkenntnis Schritt für Schritt Eingang in konkretes Handeln findet. Dies war so bei den Gipfeltreffen der vergangenen Wochen und Monate, und ich hoffe, dies wird auch bei dem anstehenden EU-Gipfel heute und morgen und bei dem G-20-Gipfel am 1. und 2. April in London so sein. Die Bundesregierung setzt sich mit aller Kraft dafür ein, diese Chance zum gemeinsamen Handeln zu nutzen. Wir müssen dabei zwei Fragen in den Mittelpunkt stellen. Erste Frage: Wie können wir unsere nationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkrise noch besser abstimmen und bündeln, damit die in den einzelnen Staaten getroffenen Maßnahmen sich nicht gegenseitig behindern, sondern befördern; an welchen Stellen benötigen wir dazu gemeinsame europäische Regeln; gibt es gemeinsame europäische Projekte, die wir jetzt vorziehen oder zusätzlich durchführen können, die uns in Europa hinsichtlich unserer Innovationskraft wirklich voranbringen? Genau darüber werden wir heute und morgen sprechen. Das Motto des Rates muss und sollte lauten: Wir meistern die Krise gemeinsam, und wir legen in dieser Krise den Grund, um aus ihr als Europäische Union dauerhaft gestärkt hervorzugehen. ({0}) Die zweite Frage, die wir behandeln, ist: Was müssen wir tun, um zu verhindern, dass eine solche Krise sich in Zukunft wiederholt? Dieses Thema kann nur im globalen Zusammenhang betrachtet werden. Deshalb wird es im Vordergrund des zweiten Weltfinanzgipfels Anfang April in London stehen. Es gibt beim Europäischen Rat weitere Themen, von denen ich heute nur eines kurz anreißen möchte, nämlich die Aussagen zur Vorbereitung der Klimakonferenz in Kopenhagen. Wir haben neben den Finanz- und Wirtschaftsmaßnahmen in diesem Jahr einen entscheidenden internationalen Schritt zu meistern: die Erarbeitung eines Post-Kioto-Abkommens, also eines Folgeabkommens für das Kioto-Protokoll. Die entsprechende Konferenz wird Ende des Jahres in Kopenhagen stattfinden. Aber schon heute ist absehbar, dass wir sowohl den Gipfel in London als auch das G-8- und G-5-Treffen - also das Treffen der G 13, Stichwort: Heiligendamm-Prozess im Sommer nutzen müssen, um die Weichen zu stellen, damit die Umweltminister Ende des Jahres auch wirklich zu belastbaren Ergebnissen kommen. An diesem Punkt wird sich genauso wie an der Frage einer Finanzmarktarchitektur zeigen, ob die Welt bereit ist, auf die globalen Fragen auch globale Antworten zu geben. ({1}) Ich füge hinzu, dass Europa sich seiner Aufgabe bewusst ist, hier eine Führungsrolle einzunehmen. Ich will allerdings auch sagen, dass wir unser Licht nicht dauernd unter den Scheffel stellen sollten. Die Europäische Union ist die einzige Staatengruppe, die klare Zusagen gemacht hat, was die Reduktionsziele anbelangt. Wir sind natürlich bereit, den Entwicklungsländern in Fragen des Klimaschutzes zu helfen. Aber schon jetzt alle Angaben zu machen, bevor zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika überhaupt ein Ziel für die mittlere Sicht - sagen wir für 2020 - erarbeitet haben, das halte ich verhandlungstaktisch für falsch. Wir können als Europäer das Problem nicht alleine lösen, aber wir wollen Vorreiter sein; das sage ich hier zu. Meine Damen und Herren, das Zusammenwachsen der europäischen Volkswirtschaften im gemeinsamen Binnenmarkt ist die entscheidende Grundlage für Wohlstand und Wachstum unseres Kontinents. Jeder Mitgliedstaat handelt heute mit all seinen EU-Partnern mehr als mit allen anderen Ländern außerhalb der Europäischen Union. Die natürliche Folge ist, dass wir aufs Engste verflochten sind und dass sich jede Maßnahme in einem Land natürlich sofort auf die Situation in allen anderen Mitgliedstaaten auswirkt. Deshalb ist es zwingend notwendig, dass wir uns seit Beginn der Krise laufend und intensiv im Kreis der Mitgliedstaaten - bei den Finanzministern, bei den Außenministern, auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs - abstimmen. Der französische Präsident und ich hatten deshalb Anfang März zu einem Sondertreffen eingeladen. Es ist richtig, dass wir im Mai noch einmal zu einem Sondertreffen der Europäischen Union zusammenkommen, um uns über die Beschäftigungschancen in der Krise auszutauschen. Wir haben beim Rat im Dezember, also beim zurückliegenden Rat, innerhalb der Mitgliedstaaten mit der Kommission abgestimmt, dass wir unsere nationalen Konjunkturpakete koordinieren. Die Europäische Union hat für 2009 und 2010 einen Konjunkturimpuls von über 400 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, einschließlich der automatischen Stabilisatoren. Das sind 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union. Deutschland hat daran mit 80 Milliarden Euro einen wesentlichen Anteil. Unser Beitrag ist ausweislich der Zahlen der Kommission mit 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Jahre 2009 und 2010 beziffert. Das heißt, wir sind in der Spitzengruppe. Wir leisten Überdurchschnittliches. Ich finde das richtig, weil wir als Exportnation natürlich ein Interesse daran haben, dass die Weltwirtschaft wieder auf die Beine kommt. Wir können dies selbstbewusst sagen und deutlich machen; das halte ich für ganz wichtig. ({2}) Unsere Maßnahmen fügen sich in das ein, was die Europäische Kommission vorgegeben hat. Sie sind Anreize für zusätzliche Investitionen in Bildung und Forschung, in Infrastruktur und in Klimaschutz. Wir helfen Unternehmen, die aufgrund der Finanzmarktkrise keine Kredite bekommen, mit unserem Bürgschaftsprogramm. Wir stärken die private Nachfrage durch eine Senkung von Steuern und Abgaben, und wir sichern Beschäftigung, zum Beispiel durch die Verlängerung der Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld. Das ist im Übrigen ein Modell, das jetzt in vielen europäischen Staaten Nachahmung findet, weil es eine wirkliche Brückenfunktion im Zusammenhang mit der Krise erfüllt. Wir erleben das jeden Tag in Deutschland. ({3}) Wir folgen damit auch komplett der sogenannten Lissabon-Strategie, also der Wachstumsstrategie der Europäischen Union, die traditionell Gegenstand der Beratungen des Frühjahrsrates ist. Elemente unserer Strategie sind Maßnahmen zur Förderung der Innovationsfähigkeit und zum Bürokratieabbau, der in Europa glücklicherweise vorankommt, sowie weitere Schritte auf dem Weg zur kohlenstoffarmen Wirtschaft. Über zusätzliche Anreize durch gemeinsame europäische Projekte werden wir auf diesem Rat diskutieren. Deutschland hat allerdings deutlich gemacht, dass wir - wir werden nur zustimmen, wenn dies Eingang in die Beschlüsse findet - zusätzliche Maßnahmen nur akzeptieren können, wenn sie 2009 oder 2010 wirklich substanziell begonnen werden; denn es macht keinen Sinn, Geld für die Jahre 2013, 2014 oder 2015 auszugeben, weil die Krise dann - davon gehen wir aus - längst überwunden sein wird. Das muss sicher sein. Dafür treten wir ein. ({4}) Es geht darum, dass wir jetzt nicht schon wieder die nächsten Konjunkturmaßnahmen fordern. ({5}) Ich halte davon überhaupt nichts. Die jetzigen Maßnahmen müssen wirken; ({6}) sie müssen ihre Wirkung entfalten können. Ein Überbietungswettbewerb von Versprechungen wird mit Sicherheit keine Ruhe in die Entwicklung bringen. Deshalb halte ich es für außerordentlich gefährlich, wenn jetzt transatlantische Gegensätze aufgebaut werden. Ich bin dem amerikanischen Präsidenten sehr dankbar dafür, dass er seinerseits gesagt hat, dass es sich hierbei um eine künstliche Diskussion handelt. Wir brauchen psychologisch gute Signale von London und keinen Wettbewerb um nichtrealisierbare Konjunkturpakete. Wir haben unseren Beitrag jetzt erst einmal geleistet, und der muss wirken. ({7}) Deutschland ist in einer guten Lage, weil wir in den letzten Jahren unsere Staatsfinanzen konsolidiert haben. Dadurch haben wir haushaltspolitische Spielräume gewonnen, um in dieser Krise zu agieren. Es ist ganz wichtig, dass wir auf dem Rat, der heute und morgen stattfindet, das Signal setzen, dass wir nach der Krise zur nachhaltigen öffentlichen Finanzpolitik zurückkehren. Das ist aus meiner Sicht und aus Sicht der Bundesregierung unbedingt erforderlich, um sicherzustellen, dass Vertrauen in die Märkte hineinkommt und das Vertrauen der Bürger wächst; es wäre falsch, wenn die Angst vor zukünftigen Steuererhöhungen schon heute das Konsumverhalten bestimmen würde. Deshalb ist es ein elementarer Fortschritt, dass es in der Föderalismuskommission II gelungen ist, im Grundgesetz eine Schuldenbremse zu verankern, über die wir nächste Woche debattieren werden. Ich möchte mich ganz herzlich bei Herrn Struck und bei Herrn Oettinger dafür bedanken, dass sie diese Föderalismuskommission zum Erfolg geführt haben. ({8}) Wir hätten vielleicht kein Ergebnis bekommen, wenn die Zeiten ganz normal gewesen wären. Dass wir in dieser Krise die Kraft aufgebracht haben, diese Maßnahmen zu vereinbaren, ist etwas, was international sehr wohl registriert wird; es findet allerdings auf internationaler Ebene leider noch nicht so viele Nachahmer, wie ich mir das wünschen würde. Deutschland kann und sollte hierfür wirklich werben. ({9}) Wir werden uns auf dem Europäischen Rat über die verschiedenen Maßnahmen austauschen. Wir werden noch einmal deutlich machen, dass die Abschottung von Märkten oder die Diskriminierung im europäischen Binnenmarkt kontraproduktive Verhaltensweisen sind - das sind die falschen Antworten auf die Krise - und dass es in dieser Krise nicht um Subventionswettläufe gehen kann, weil auch das das Vertrauen zerstört. Das heißt, wir müssen die grundlegenden Ordnungsprinzipien einhalten, die glücklicherweise durch die Europäische Union vorgegeben sind. Die Europäische Kommission ist die Hüterin der Verträge. Die Regeln des europäischen Binnenmarktes haben sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt, und sie haben auch in der Krise Gültigkeit. Allerdings sage ich auch: Die Kommission tut gut daran, wenn auch sie auf diese krisenhafte Situation reagiert. Das gilt für Bearbeitungszeiträume, und das gilt zum Teil für Lockerungen im Beihilferecht. Ich sage ausdrücklich, dass dies befristet sein sollte. ({10}) Das gilt für Ausschreibungsmöglichkeiten, die beschleunigt werden müssen. Dabei müssen die Flexibilitätsinstrumente, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt vorsieht, genutzt werden. Ein ganz wesentlicher Punkt, den Deutschland im Ecofin-Rat schon eingebracht hat und auf dem Europäischen Rat noch einmal einbringen wird, ist, dass wir sicherstellen müssen, dass die prozyklischen Wirkungen des Basel-II-Abkommens - verständlicher gesagt: die Tatsache, dass sich die Kreditbedingungen in der Krise immer weiter verschärfen, wenn eine Branche in einer schwierigen Situation ist - befristet ausgesetzt werden, damit wir nicht im Frühjahr oder Sommer in eine Kreditklemme geraten, die sozusagen durch Basel II selbst erzeugt ist. ({11}) Wir werden sehr dafür kämpfen, das durchzusetzen. Das kann mehr wert sein als manch weiteres Konjunkturprogramm. Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass unsere amerikanischen Partner Basel II nie vollständig umgesetzt haben und dass es dadurch einen extremen Wettbewerbsunterschied gibt. Das können wir uns in der jetzigen Situation nicht leisten. Wir werden ein klares Bekenntnis zum Stabilitätsund Wachstumspakt abgeben. Wir werden von deutscher Seite die Kommission ermuntern, die öffentlichen Haushalte in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr sorgfältig zu überprüfen und Wert darauf zu legen, dass nach der Krise ein Ausweg zu soliden Finanzen gefunden wird. Das Beispiel des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts zeigt ebenso wie die Regeln des Binnenmarktes, dass Europa uns einen gemeinsamen Handlungs- und Orientierungsrahmen bietet, den wir natürlich nutzen wollen und der uns zu einem kohärenten und gemeinschaftlichen Verhalten und Handeln bringt. Wir müssen konstatieren, dass einige Mitgliedstaaten - nicht nur Unternehmen, nicht nur Banken, sondern auch Mitgliedstaaten - in eine Notsituation geraten sind. Diese Mitgliedstaaten können - das haben wir immer wieder deutlich gemacht - auf unsere Solidarität zählen. Wir haben uns bereits im Dezember des vergangenen Jahres darauf verständigt, dass wir versuchen, die Strukturfonds insbesondere für die mittel- und osteuropäischen Länder schneller zur Umsetzung zu bringen. Auch hier ist die Kommission gefordert, bürokratische Hemmnisse abzubauen. Es liegt nicht immer nur an den Mitgliedstaaten, sondern zum Teil auch an der Möglichkeit, diese Strukturfonds überhaupt anzuwenden. Den Mitgliedstaaten, die finanziell in Not geraten sind, werden wir helfen. Wir haben dies bereits an den Beispielen Ungarn und Lettland gezeigt; wenn es andere Mitgliedstaaten trifft, wird das auch dort der Fall sein. Wir haben seitens der Bundesregierung verabredet, dass wir gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Entwicklungsbank darüber sprechen, wo und wie wir bei der Restrukturierung der Bankenlandschaft in den mittel- und osteuropäischen Ländern eventuell Hilfe leisten können. Denn die mittelund osteuropäischen Länder sind für uns ein wichtiger Exportmarkt. Wenn dort die Kreditvergabe und die Finanzkreisläufe völlig zum Erliegen kommen, ist das nicht nur ein Schaden für diese Länder, sondern dann zeigt sich, dass es auch in unserem Interesse ist, dass wir dort tätig werden. Deshalb wollen wir durchaus helfen. Aber wir müssen - auch in Richtung der Länder, die sich im Augenblick mit politischen Entscheidungen leider sehr schwer tun - sagen: Die wesentliche Verantwortung liegt bei den Mitgliedstaaten bzw. Ländern, denen wir helfen. Ich denke, dass wir zum Beispiel in Bezug auf die Ukraine alles unternehmen sollten, damit die notwendigen Handlungen dort erfolgen und das Land nicht immer weiter in Schwierigkeiten gerät. Meine Damen und Herren, neben dem aktuellen Krisenmanagement werden wir heute und morgen auch beraten, welche Lehren wir aus der Entstehung der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise ziehen. Denn es muss uns gelingen, derartige Krisen in der Zukunft zu vermeiden. Es ist ganz offensichtlich, dass der bisherige Finanzmarktrahmen nicht mit der Globalisierung der Finanzmärkte Schritt gehalten hat. Es gibt dafür eine Vielzahl von Ursachen: Regelungsdefizite und völlig falsch gesetzte Anreize. Das alles hat zu einer verhängnisvollen Kettenreaktion geführt, die die gesamte Weltwirtschaft in diese Krise gestürzt hat. Zur Wahrheit gehört die Tatsache - es macht keinen Sinn, darum herumzureden -, dass manche Fehlanreize und Regelungsdefizite zum Teil politisch unterstützt und nicht bekämpft wurden. Die Politik kann sich an dieser Stelle nicht herausreden und sagen, dass sie von nichts gewusst hat. ({12}) Deutschland gehörte zu denen, die in diesem Zusammenhang vieles angemahnt haben. ({13}) - Auch wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, ({14}) kann ich Ihnen nur sagen, dass es so war. Aber Sie wissen es offenbar besser. Meine Damen und Herren, was die Dimension der Krise, die wir derzeit erleben, angeht, stelle ich fest: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Aufbau einer neuen, noch nicht existierenden internationalen Finanzmarktverfassung. Dies steht auch im Vordergrund des G-20-Treffens Anfang April dieses Jahres. Der erste Weltfinanzgipfel im November vergangenen Jahres in Washington war ein Meilenstein. Dort wurde zum ersten Mal ein Aktionsplan zur Neugestaltung der Finanzmärkte verabredet. Dieser Aktionsplan ist sehr konkret und umfasst knapp 50 Punkte. Wir haben uns damals darauf geeinigt, den wirtschaftlichen Ordnungsrahmen den globalen Bedingungen anzupassen und für eine lückenlose Regulierung bzw. Aufsicht der Finanzmärkte zu sorgen. Der Londoner Gipfel wird natürlich ein Stück weit als Beweis dafür dienen, ob wir wirklich in der Lage sind, das, was wir uns vorgenommen haben, umzusetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich die europäischen G-20Teilnehmer eingeladen, um sich auf eine gemeinsame europäische Position zu einigen. Wir werden das auf dem Europäischen Rat noch einmal bekräftigen. Die Finanzminister haben erhebliche Vorarbeiten geleistet. Ich glaube, man kann sagen, dass die Fortschritte sichtbar sind, dass wir aber noch nicht am Ende dessen sind, was wir in London erreichen wollen. Wir haben uns darauf verständigt, dass Orte, Akteure und Produkte der Transparenz und Überwachung bedürfen. Gerade im Hinblick auf Steueroasen sage ich, dass es richtig und unabdingbar ist, Ross und Reiter beim Namen zu nennen. Allein diese Androhung hat bereits dazu geführt, dass sich viele Staaten, insbesondere im europäischen Raum, zu Wort gemeldet und dazu beigetragen haben, dass die OECD-Standards anerkannt werden. ({15}) Ich hoffe, dass uns in London ein wesentlicher Schritt gelingt. Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. Deutschland wird auf jeden Fall Wert darauf legen - darüber habe ich neulich auch mit dem französischen Präsidenten gesprochen -, dass auf dem Londoner Gipfel die Frage „Welche Lehren ziehen wir aus dieser Krise?“ in den Mittelpunkt gerückt wird und man sich nicht nur mit aktuellen Fragen der Krisenbekämpfung beschäftigt. Das halte ich für sehr wichtig. ({16}) Meine Damen und Herren, wenn wir uns die Ursachen dieser Krise vergegenwärtigen, stellen wir fest: In Wahrheit ist sie das Ergebnis langfristiger Entwicklungen, die immer wieder zugelassen haben, dass Länder über ihre Verhältnisse gelebt haben. Deshalb halte ich die deutsche Schlussfolgerung, eine Schuldenbremse zu verankern, auch wenn dieser Weg mühevoll wird und viele schon heute besorgt sind, welche Folgen sie in den nächsten Jahren für unsere Haushalte haben wird, für sehr wichtig. ({17}) Wir können nicht so weitermachen wie bisher und sozusagen von Krise zu Krise eilen. Wenn wir uns die Vergangenheit vor Augen führen, stellen wir fest: Ende der 90er-Jahre haben wir eine schwere Asien-Krise erlebt. Anfang des 21. Jahrhunderts gab es die sogenannte New-Economy-Krise. Jetzt befinden wir uns in einer noch schlimmeren weltweiten Krise. Wir müssen alles tun - das beschäftigt mich sehr, weil wir darüber kontroverse Auseinandersetzungen führen und manchmal vielleicht auch als diejenigen dastehen, die nicht bereit sind, so viel auszugeben wie andere -, damit wir nicht geradezu gesetzmäßig in die nächste Krise laufen. Wir haben inzwischen drei große Krisen erlebt. Wenn die Menschheit daraus nicht die richtigen Lehren zieht, dann hat sie nichts verstanden. Die Folgen wären wirklich schwerwiegend. ({18}) Da unsere Aufgabe nicht nur darin besteht, Finanzprodukte und Finanzmärkte zu regulieren, habe ich vorgeschlagen, dass wir gemeinsam eine Charta des nachhaltigen Wirtschaftens entwickeln. Das hat bei den europäischen G-20-Teilnehmern große Zustimmung gefunden. Ich hoffe, dass wir uns dies in London vornehmen können. Nachhaltiges Wirtschaften heißt, Prinzipien festzulegen, die verhindern, dass wir dauerhaft über unsere Verhältnisse leben und dass wir Ressourcen in Anspruch nehmen, die wir nicht regenerieren können. Nur wenn sich die Welt gemeinsam auf einen solchen Anspruch verständigt, wird es möglich sein, in der Zukunft Krisen zu verhindern. Globalisierung bedeutet, dass wir uns das nicht alleine vornehmen. Jedes Land muss natürlich seinen Beitrag leisten. Globalisierung bedeutet aber eben auch, dass wir miteinander, international, verabreden müssen, dass keiner von diesen Standards abweicht. Es reicht nicht, zu sagen, dass kein Land eine Steueroase sein darf. Darüber hinaus müssen sich alle zum nachhaltigen Wirtschaften verpflichten. ({19}) Ich bin also der Meinung, dass wir alle Möglichkeiten haben, statt Angst und Ohnmacht Zuversicht und aktives Handeln zu gestalten. Es muss der Wille dazu da sein. Ich sage für die Bundesregierung, dass dieser Wille da ist. Ich sage auch, dass wir mit unserer Erfahrung im 60. Jahr der Bundesrepublik Deutschland und mit über 60 Jahren Erfahrung mit der sozialen Marktwirtschaft einen Beitrag dazu leisten können. Das heißt, dass der Staat bereit ist, als Hüter der Ordnung aufzutreten, und das heißt, dass sich Staaten in der globalen Welt gemeinsam darauf verständigen, Institutionen zu akzeptieren, die überwachen und kontrollieren, ob die Staaten die gemeinsam verabschiedeten Prinzipien einhalten. Die wesentliche Frage ist: Gibt es eine solche Bereitschaft? Die europäischen Mitgliedstaaten kennen sich damit aus. Sie haben Aufgaben an die Europäische Kommission und an das Europäische Parlament abgegeben. Es ist uns nicht immer leichtgefallen, aber es hat die Grundlage dafür geschaffen, dass wir heute in der Europäischen Union gemeinschaftlich agieren können. Dieser Prozess muss sich vollziehen, auch auf der internationalen Ebene. Wir werden mit unseren nationalen Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft und mit der Erfahrung aus der europäischen Zusammenarbeit unseren Beitrag dazu leisten. Ich glaube, dass wir dazu die Unterstützung dieses Hohen Hauses haben. Herzlichen Dank. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin ist in weiten Teilen so allgemein gehalten, dass man ihr nur zustimmen kann. Es ist kein Wunder, dass sie nicht wirklich konkret wurde. Würde sie konkret, dann würde offensichtlich, dass es in ihrer Regierungskoalition mehr Streit als Einigkeit gibt. ({0}) Sie sagen, Sie glauben, dass Sie für Ihre Politik die Unterstützung dieses Hohen Hauses haben. Der Glaube soll bekanntlich Berge versetzen. Es ist aber mittlerweile offensichtlich geworden, dass Sie sich nicht mehr einig sind. Diese Regierungserklärung findet vor dem Hintergrund eines Tiefpunkts in der Beziehung der Koalition, die die Bundesregierung trägt, statt. Am heutigen Tage ist zu lesen, dass der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei gesagt hat, Merkels internationale Auftritte seien nicht glaubwürdig, wenn sie zulasse, dass im Inland Gesetze gegen die Steuerflucht blockiert würden. Er sagt außerdem, Merkel sei nur noch Geschäftsführerin der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, wer in Europa einigen will, sollte wenigstens in der eigenen Bundesregierung zur Einigkeit fähig sein. ({1}) Nicht glaubwürdig, Schutzpatron der Steuerhinterzieher, nicht mehr Kanzlerin, sondern Geschäftsführerin: Wie soll Deutschland nach außen Führung zeigen, wenn es nach innen nicht geführt wird? ({2}) Wir haben schon zu Beginn dieser Krise in zahlreichen Debatten auch in diesem Hohen Hause festgestellt, dass wir uns im Grundsätzlichen - gerade auch was die Europapolitik angeht - einig sind. Die Europäische Union hat sich in der Finanz- und Wirtschaftskrise als ein Glücksfall erwiesen. Wenn es sie nicht schon längst gegeben hätte, dann hätte man sie spätestens jetzt erfinden müssen. Kein europäisches Land wäre in der Lage gewesen, der Krise im Alleingang etwas entgegenzusetzen. Ohne den Euro beispielsweise hätte die Finanzkrise schnell zur Währungskrise werden können mit fatalen Folgen für unsere Exportwirtschaft. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und ihre Orientierung an der Geldwertstabilität haben ihren Wert bewiesen. Es hat sich auch gezeigt, wie wichtig der gemeinsame Markt für Wohlstand und Stabilität in Europa ist. ({3}) Klar ist aber auch, und das wissen wir alle auch am heutigen Tage: Der Test ist noch nicht bestanden. Die Europäische Union muss auch und gerade in der Krise geschlossen und entschlossen handeln. Sie muss an ihren Grundsätzen festhalten. Auch darin sind wir uns einig: Es darf keinen Rückfall in überwunden geglaubtes Denken, in Protektionismus, in Abschottungspolitik und natürlich auch nicht in Subventionswettläufe geben. Deswegen ist Ihre Bemerkung, Frau Bundeskanzlerin, angemessen und auch richtig, wenn Sie sagen, es dürfe keinen Wettlauf hinsichtlich der neuen schuldenfinanzierten Milliardenpakete in Europa geben. Darum geht es aber nicht. Es geht nicht darum, dass wir in Deutschland noch ein Konjunkturpaket auflegen, das wir wiederum durch höhere Steuern oder höhere Schulden finanzieren, sondern es geht darum, dass in Deutschland endlich strukturelle Veränderungen der Rahmenbedingungen vorgenommen werden müssen. Wir brauchen kein Konjunkturpaket, das wieder durch Schulden finanziert wird. Was wir jetzt brauchen, ist ein Strukturpaket, mit dem die Rahmenbedingungen so verändert werden, dass in Deutschland investiert wird, dass der Mittelstand eine Chance hat, Arbeitsplätze zu schaffen, und dass die Menschen durch niedrigere Steuern und Abgaben wieder Lust auf Leistung haben können. Das ist die Aufgabe, die jetzt angegangen werden muss. ({4}) Meine Damen und Herren, Sie sprechen von der europäischen Bankenaufsicht. Sie sagen zu Recht, dass es dafür in Europa Regeln geben muss. Welchen Sinn macht es aber - an die Bundesregierung gefragt -, dass Sie auf europäischer Ebene eine Bankenaufsicht fordern, zu deren effektiver Gestaltung Sie im Inland aber nicht fähig sind, weil Sie sich uneinig sind? In jeder Debatte hören wir von den Kolleginnen und Kollegen der Union - übrigens mit unserer Zustimmung -: Die Bankenaufsicht muss neu organisiert werden. Die Zersplitterung war ungesund. Das ist eine der Ursachen dafür, warum vieles passieren konnte. Es geschieht jedoch nichts. Sie gehen an die Zersplitterung der deutschen Bankenaufsicht nicht heran. Wer die deutsche Bankenaufsicht nicht effektiv gestalten kann, dem wird man dies auch nicht auf europäischer Ebene zutrauen, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Was wir jetzt brauchen, sind strukturelle Veränderungen. Dazu zählen aus unserer Sicht neben dem großen Thema eines gerechteren Steuersystems vor allen Dingen auch der Abbau der Bürokratie und die Beseitigung von Investitionshemmnissen. Das wäre ein Strukturpaket, das beschlossen werden müsste und das den Staat keinen einzigen Euro kostet. Dieses Strukturpaket könnte beispielsweise darauf abzielen, die ideologische Energiepolitik zu beenden, auf einen vernünftigen Energiemix zu setzen und dafür zu sorgen, dass auch in Deutschland moderne, saubere und effiziente Kraftwerke gebaut werden können, die alte und schmutzige Kraftwerke ablösen. Wenn Sie das täten, wenn Sie endlich in der Energiepolitik die ideologischen Bremsen Ihrer Politik lösen würden, dann könnten etwa 40 Milliarden Euro private Mittel in den Wirtschaftskreislauf fließen. Sie sagen, die SPD verhindere dies. Das ist aber zu wenig. Sie führen unser Land. Jedenfalls ist dies das, was in dem Wort „regieren“ der Wortwurzel nach enthalten ist. Sie können sich nicht immer hinter der Aussage verstecken, dass Sie sich nicht durchsetzen können. Es ist in diesen Zeiten der Krise Ihre Aufgabe, unser Land strukturell so zu verändern, dass wir eine echte Chance haben, aus der Krise herauszukommen. 90 Prozent der Investitionen in Deutschland werden von Privaten getätigt. Sie können noch 1 000 Konjunkturpakete des Staates beschließen, wenn Sie die Investitionsbedingungen für die Privaten nicht verbessern, ({6}) indem Sie die Bürokratie und die Ideologie in diesem Land endlich abschaffen. ({7}) Wir wissen, dass 20 Milliarden Euro darauf warten, in Infrastruktur im Bereich der Energie investiert zu werden. Wir wissen beispielsweise auch, dass in die Flughafeninfrastruktur ebenfalls 20 Milliarden Euro investiert werden könnten. Die Meinung, Konjunkturpakete müssten für den Staat teuer sein, ist falsch. Jetzt müssten Strukturpakete geschnürt werden. Die Chance der Krise kann man nutzen, indem man jetzt die strukturellen Veränderungen durchsetzt, die in Deutschland ohnehin dringend angegangen werden müssen; das ist überfällig. ({8}) Da wir mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa über die Steuerpolitik reden, ist es für unsere Bürgerinnen und Bürger schon von einem gewissen Interesse, festzustellen, dass Sie die Harmonisierung des europäischen Steuerrechts in Deutschland ausschließlich so verstehen, dass wir in Richtung der Steuersätze der Länder harmonisieren, in denen sie höher als in Deutschland sind. Das ist keine Harmonisierung. In der letzten Woche wurde auch durch unseren Finanzminister beschlossen, dass die europäischen Länder ermäßigte Mehrwertsteuersätze einführen können. 22 europäische Staaten machen davon Gebrauch. Anschließend haben Sie in Deutschland erklärt: Wir in Deutschland tun das aber nicht, weil wir das nicht wollen. Damit vorenthalten Sie dem deutschen Mittelstand faire Chancen. Den anderen geben Sie die Möglichkeit, Steuern zu senken, unseren Bürgern und unserem Mittelstand verweigern Sie das. Das ist unfair, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Nicht alle anderen sind die Geisterfahrer in Europa, sondern wir sind es. Wir Deutschen sind in der Steuerpolitik die Geisterfahrer in Europa; ({10}) denn 22 europäische Staaten in der Europäischen Union, also die überwiegende Mehrheit, gehen diesen Weg, den Sie den deutschen Bürgerinnen und Bürgern verweigern. Das halten wir für falsch. Wer das Thema mit dem einfachen Wort „Steueroase“ angeht, der macht es sich natürlich zu einfach. Natürlich müssen wir die Steuerkriminalität und die illegale Steuerflucht bekämpfen. Natürlich ist es richtig, dass wir auch in Europa und in der Welt die Regeln der OECD anwenden wollen. ({11}) - Herr Steinbrück, weil Sie gerade „Aha“ gerufen haben: Die Frage ist, ob man das mit der Peitsche tut bzw. indem man der Schweiz mit der Kavallerie gegen Indianer droht. Sie können ja nicht einmal mit der Schweiz Frieden halten. ({12}) Herr Steinbrück, Herr Finanzminister, ich muss Ihnen wirklich sagen: Diese Art und Weise des Umgangs mit unseren Nachbarländern ist eine schlicht undiplomatische Unverschämtheit. Das wird auch hier zu einem Thema gemacht werden müssen. Das ist eine schlichte Unverschämtheit. ({13}) - Es ist sehr interessant, dass Sie das gutfinden. ({14}) - Jetzt wurde gerade ein schöner Zwischenruf zur Steueroase gemacht. Ich will Ihnen das einmal wie folgt erklären, Herr Kollege: ({15}) Für den normalen Bürger ist in der Regel weniger die Oase, sondern vielmehr die Wüste drum herum das Problem. ({16}) Ich sage Ihnen: Dieselbe Energie, die Sie dafür aufwenden, Steueroasen auszutrocknen, sollten Sie dafür aufwenden, dass die deutsche Steuerwüste durch niedrigere Steuern endlich wieder fruchtbarer wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, das ist das Mittel, das man anwenden sollte. ({17}) Hinterher höre ich bestimmt wieder von Ihnen: „Schade, dass wir bei euch nicht klatschen durften!“ ({18}) Der entscheidende Punkt ist aber, Frau Bundeskanzlerin: Statt dass Sie als Regierungschefin Deutschlands ein Wort der Diplomatie an unsere Nachbarn richten, sagen Sie - ganz im Bild von Herrn Steinbrück bleibend -, man müsse Ross und Reiter nennen, mit der Peitsche drohen und die Kavallerie gegen die Indianer ins Feld schicken. ({19}) Ich glaube, diese Art und Weise ist schlichtweg unverantwortlich. Sie haben Ihren Kompass in der Regierung verloren. Sie sind zu einem wirklich kraftvollen und machtvollen Führen in Europa nicht mehr fähig. Diese Debatte zeigt, dass Sie auch inhaltlich nicht mehr einig sind. Mittlerweile ist die Koalitionszerrüttung so weit fortgeschritten, dass deutsche Interessen auch auf internationaler Ebene beschädigt werden. ({20}) Das ist schlecht für unser Land. Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Joachim Poß das Wort. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, ich freue mich, dass Sie für die Öffentlichkeit vernehmbar Ihre tiefe Sympathie für die Staaten geäußert haben, die mit ihren Regelungen mit dafür sorgen, dass den ehrlichen deutschen Steuerzahlern Milliarden entzogen werden. ({0}) Denn die Rechnung für diese systematische Steuerhinterziehung zahlen die ehrlichen Steuerzahler in Deutschland. Dass Sie, der sich dem Vernehmen nach in der Finanzszene der Schweiz gut auskennt, Herr Westerwelle, das so unverhohlen sagen, trägt sehr zur Klarheit in der deutschen Öffentlichkeit bei. Wir haben in den nächsten Tagen und Wochen einiges zu diskutieren. Dann wollen wir mal sehen, was die Umfragen ausweisen und wie viele Menschen wirklich wollen, dass ein solches sozialschädliches Verhalten vom selbsternannten Oppositionsführer im Deutschen Bundestag unterstützt wird. ({1}) Sie haben Ihre Sympathie erklärt. Offen geblieben ist dabei Ihre inhaltliche Position ({2}) zu den vom Bundesfinanzminister und anderen aufgeworfenen Fragen bezüglich der Schweiz. ({3}) - Nein. Er hat Sympathie für die Schweiz ausgedrückt, offenkundig auch für das übersteigerte Bankgeheimnis der Schweiz. ({4}) Wie ich gehört habe, lassen Sie sich auch gerne von den Profiteuren dieser Steuerhinterziehung einladen, Vorträge zu halten, Herr Westerwelle. Sie kennen sich also wirklich aus. ({5}) Darüber wird, wie gesagt, noch zu reden sein. Sie sollten lieber über die Sache reden - nämlich über die sozialschädlichen Steuerhinterzieher -, statt sich mit der Stilkritik an einem Regierungsmitglied aufzuhalten, dem man im Ergebnis attestieren muss, dass der Druck, der in den letzten Wochen und Monaten vornehmlich unter dem Einfluss der Finanzkrise aufgebaut wurde, zum Erfolg geführt hat. In die sogenannten Steueroasen ist schließlich Bewegung gekommen. Die Frage ist aber, ob das ausreicht, um weltweit und in Europa zu einem fairen Steuerregime zu kommen. Diese Frage muss hier beantwortet werden. ({6}) Nach allem, was man bisher erkennen kann, reichen die von der Schweiz und anderen angekündigten Schritte unseres Erachtens nicht aus. Darüber wird in der Sache zu reden sein. Das wird ein Thema auf dem nächsten Treffen - ich nehme an, das ist der sehr wichtige G-20Gipfel - sein. Ich freue mich, dass sich die Frau Bundeskanzlerin heute Morgen so uneingeschränkt zugunsten einer Einschränkung dieser Steuerfluchtmöglichkeiten und gegen die Steueroasen geäußert hat, weil sie, wie wir alle, weiß, dass wir nur dann zu einer fairen Finanzmarktregulierung für die Zukunft kommen können, wenn die internationalen Fluchtpunkte des Geldes ausgetrocknet werden. ({7}) Aber dabei muss man glaubwürdig bleiben. Dann muss die nationale Politik auch dem entsprechen, was auf der europäischen und der internationalen Ebene von uns gefordert ist. Deswegen herrscht bei uns ein solches Unverständnis, dass aus der Fraktion des Koalitionspartners eine Blockade in einer so zentralen Frage errichtet wird. Das erhöht nicht unsere internationale Glaubwürdigkeit. ({8}) Daher fordere ich den Koalitionspartner in aller Sachlichkeit und Friedlichkeit ({9}) - „Freundschaft“ ist ein so oft missbrauchtes Wort, Frau Merkel, wie Sie wissen - sowie in aller Freundlichkeit auf, diese Blockade aufzugeben; denn in der Tat stärkt das weder unsere Glaubwürdigkeit im Innern noch unsere internationale Glaubwürdigkeit im Kampf gegen Steueroasen. International herrscht inzwischen eine große Übereinstimmung, was die Überschriften der notwendigen Schritte in der Finanzmarktregulierung und im Kampf gegen Steueroasen angeht. Glaubwürdig sind wir nur, wenn wir das auch national unterfüttern. Ich füge mit Blick auf manche Abstimmungen im Europäischen Parlament hinzu: Auch die deutschen Europaabgeordneten sind im Rahmen der europäischen Rechtsetzung gefragt, sich der Einflussnahme und den Interessen der Finanzindustrie zu entziehen. Da reichen gefällige Formulierungen hier im Deutschen Bundestag für eine Partei nicht aus, wenn man sich dann bei der konkreten Entscheidung, wenn es darauf ankommt, anders verhält. ({10}) Deswegen sage ich für uns Sozialdemokraten ausdrücklich: Wir werden uns sehr intensiv mit dem Kleingedruckten befassen. Die Überschriften reichen uns nicht. Natürlich freue ich mich, dass bei den Vorschlägen, die jetzt in der Diskussion sind, die Vorarbeiten der Sozialdemokraten - namentlich das Papier von FrankWalter Steinmeier und Peer Steinbrück - eine wichtige Rolle spielen. Ich finde, dass die „Finanzmarktgrundsätze“, über die auch in der letzten Runde des Koalitionsausschusses diskutiert wurde, die richtige und wichtige Grundlage für weitere Lösungen bei uns in Deutschland, auf europäischer Ebene und weltweit darstellen. Die Regulierung bisher unregulierter Marktbereiche, Regeln für alle Produkte und alle Akteure, der Aufbau einer effektiven grenzüberschreitenden Aufsicht über Banken und andere Finanzakteure, eine bessere Kontrolle der Ratingagenturen, aber auch eine stärkere Bedeutung des Internationalen Währungsfonds und des Forums für Finanzstabilität - um nur einige Punkte zu nennen -, das alles wird heute nicht nur vom sozialdemokratischen Teil des Kabinetts und der Regierungskoalition vertreten, sondern ist unter uns Konsens. Ich habe aber die Wahrnehmung aus der praktischen Arbeit in der Koalition und im Parlament, dass es noch einiger Überzeugungsarbeit beim Koalitionspartner an dieser oder jener Stelle bedarf, um wirklich durchzukommen. Dass beim Partner manche Erkenntnis nur unter dem Druck der Krise entstanden ist und nicht ganz so freiwillig, finde ich nicht so erfreulich. Aber für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich der Bundeskanzlerin und den anderen beteiligten Regierungsmitgliedern volle Rückendeckung für die anstehenden Treffen in Brüssel und London geben. Bei allen Turbulenzen und Umstürzen müssen wir in den nächsten Monaten Folgendes bedenken: Das ignorante Verhalten bei AIG, das ganz Amerika in Aufregung versetzt hat, zeigt, wie vorsichtig man auf die Dinge schauen muss. Der Einfluss der Finanzindustrie an der Wall Street, in der Londoner City oder in Brüssel ist nach wie vor nicht zu unterschätzen. Im Moment geht es um das Überleben mit massiver staatlicher UnterstütJoachim Poß zung. Sobald sich aber die Stürme etwas beruhigen, werden die guten Kontakte der Branche zu den jeweiligen Administrationen wieder genutzt werden, um die anstehende Regulierung möglichst zu entschärfen und die neue Weltfinanzarchitektur im Sinne der Branche zu gestalten. Da müssen wir gemeinsam Obacht geben, weil diese Bemühungen zu registrieren sind. Auf dem Weltschattenfinanzmarkt haben eben zu viele über lange Jahre zu gut gelebt und sich doof und dämlich verdient, um es umgangssprachlich zu sagen. Diese geben nicht so schnell auf, wie das Verhalten nicht nur bei AIG, sondern auch anderswo zeigt. ({11}) Ihnen müssen wir klarmachen: Wir akzeptieren ein solches Verhalten gesellschaftlich nicht mehr. So ähnlich hat es auch Obama ausgedrückt: Dies kann nicht mehr in Dollar oder Cent ausgedrückt werden, Herr Westerwelle. Auch Sie sollten sich darüber einmal Gedanken machen. Die Frage ist, mit welchem Geist und mit welcher Mentalität wir die soziale Marktwirtschaft in Deutschland und weltweit leben wollen. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lothar Bisky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003739, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ExPost-Chef Klaus Zumwinkel hat sich 20 Millionen Euro Pensionsgelder auszahlen lassen. Nach den Strapazen seiner Steuerhinterziehung über die Steueroase Liechtenstein will er jetzt den wohlverdienten Ruhestand auf seinem Schloss am Gardasee genießen. „Einen ganz normalen Vorgang“ nennt er das. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu, auch die der Menschen, die von Kurzarbeit leben müssen oder auf Hartz IV angewiesen sind. Viele Existenzen von kleinen und mittleren Selbstständigen sind in Gefahr oder bereits zerstört. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt den Menschen das hässliche Gesicht der gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung: von maßlos übersteigertem Renditestreben und mangelnder gesellschaftlicher Solidarität geprägt, ohne demokratische Kontrolle und ohne wirkliche demokratische Mitentscheidung der Menschen über die wirtschaftlichen Abläufe. ({0}) Das empört, und zwar zu Recht. Ich weiß: Auch manche Kollegin und mancher Kollege aus den Koalitionsparteien teilen diese Empörung. Aber was folgt politisch aus dieser Empörung für ihre Parteien und Fraktionen? Was folgt daraus für die von ihnen getragene Bundesregierung? Wie reagiert die Bundesregierung angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise? Sie macht vor allem eines: Sie reist. Im November vergangenen Jahres ging es mit kaum erkennbarem Gewinn zum Weltfinanzgipfel in Washington. Am vorigen Wochenende gab es ein Ministertreffen in London, bei dem der Europäische Rat am Donnerstag vorbereitet werden sollte. Der Europäische Rat soll nun vor allem dazu dienen, die gemeinsamen Positionen von EU und Mitgliedstaaten für den Finanzgipfel der G-20-Staaten in London vorzubereiten. Aber was wird dabei herauskommen? „G20-Finanzminister beschließen nichts“, titelte die Financial Times Deutschland am Montag. Ich zitiere: Konkrete Verpflichtungen für die Regierung oder genaue Größenordnungen für … weitere Konjunkturpakete wurden nicht beschlossen. In der Sache kam es zu kaum mehr als Andeutungen. Die Hedgefonds sollen nur registriert und Informationen weitergegeben werden, den sogenannten Schrottpapieren soll allein mit Leitlinien für die einzelnen Länder begegnet werden. - Das wird kaum helfen. Wir von der Linken bleiben dabei: Wir wollen erstens Hedgefonds verbieten, ({1}) zweitens Zweckgesellschaften verbieten, drittens Steueroasen wirksam austrocknen oder verbieten und viertens Verbriefungen verbieten. Nur wenn diese vier Grundübel an der Wurzel gepackt werden, haben wir überhaupt die Chance, den Sumpf aus Gier und Spekulation trockenzulegen. ({2}) Heute und morgen tagt nun der Europäische Rat, der unter anderem für den neuen G-20-Gipfel die Positionen bestimmen soll. Die bisherige Tagesordnung lässt leider nicht ahnen, welche gemeinsamen Ergebnisse zu erwarten sind. Welche Vorschläge der hochrangigen LarosièreGruppe werden denn von den teilnehmenden Regierungen geteilt? Steht denn die Kommission, die die Arbeitsgruppe im Oktober des vergangenen Jahres eingesetzt hat, überhaupt hinter dem Ganzen oder doch wenigstens hinter einem Teil der Vorschläge? Wie bewertet die Bundesregierung den Bericht? Erst wenn wir von ihr schwarz auf weiß haben, welche konkreten Vorschläge sie für richtig hält, kann eine wirkliche parlamentarische Debatte stattfinden. ({3}) Unabhängig davon fällt auf, wie einseitig die „hochrangige Arbeitsgruppe“ besetzt ist. Es sind auffällig viele dabei, die den Finanzsektor mit seinen überhöhten Renditeansprüchen und seinen Spekulationen geradezu beispielhaft repräsentieren: Jacques de Larosière ist Mitvorsitzender der Finanzlobbyorganisation Eurofi und war bis vor kurzem Berater der französischen Bank BNP Paribas. Rainer Masera war Direktor einer europäischen Tochter der Pleitebank Lehman Brothers. Onno Ruding ist Berater der Citigroup. Otmar Issing, früher bei der Deutschen Bundesbank und der Europäischen Nationalbank, ist Berater von Goldman Sachs. Für die vier anderen Beteiligten - natürlich auch Männer - gilt im Wesentlichen die gleiche Ausrichtung. Eine Gewerkschafterin oder ein Gewerkschafter oder eine unabhän22722 gige Persönlichkeit aus dem Bereich der Wissenschaft findet sich in der Arbeitsgruppe nicht. Dies ist nicht akzeptabel. ({4}) Die Einrichtung dieser „hochrangigen“ Gruppe zeigt also deutlich: Weder die Bundesregierung noch die EUKommission sind bereit, die wahren Ursachen der Krise zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, an ihre Beseitigung zu gehen. Sie machen weiterhin Politik im Interesse der Großbanken und Großkonzerne. Der Hunderte von Milliarden schwere Rettungsschirm ist für die Garantierung von Höchstprofiten und nicht für die Erhaltung von Arbeitsplätzen der Beschäftigten bestimmt. Die Empfehlung von EU-Finanz- und Haushaltskommissar Almunia an die EU-Mitgliedstaaten spricht genau dafür: Die EU-Staaten dürfen nicht mit einer teuren und verfehlten Sozialpolitik auf die steigende Arbeitslosigkeit antworten. Dann würden die Staatsschulden noch mehr anschwellen. Dies ist eine Aufforderung zum Sozialabbau. Um einen nicht des Linksseins verdächtigen Zeugen zu zitieren, trage ich vor, was der Wirtschaftsnobelpreisträger Krugman in seinem neuen Buch schreibt: Frau Merkel und ihre Beamten glauben anscheinend noch immer, hier herrschten die normalen Regeln der Wirtschaft, die Regeln, die dann gültig sind, wenn man mit Geldpolitik noch etwas ausrichten kann. Sie haben nicht begriffen, dass in Europa wie in Amerika mittlerweile ein Depressionsklima eingezogen ist, in dem die normalen Regeln nicht mehr gelten. ({5}) Ich zitiere weiterhin Nobelpreisträger Krugman, einen lesenswerten Mann: Sobald wir wieder normale Verhältnisse haben, werde ich denjenigen, die wie Herr Steinbrück fiskalische Disziplin predigen, gern die ihnen gebührende Ehre erweisen. Sich jetzt aber an die Orthodoxie zu klammern, ist hochgradig destruktiv für Deutschland, Europa und die Welt. ({6}) Meine Damen und Herren, die Linke fordert kurzfristig einen Rettungsschirm für die Menschen und langfristig einen grundlegenden Wechsel in der Politik sowohl der Bundesregierung als auch der EU. Wir müssen weg von einer Politik für eine Minderheit der Reichen und hin zu einer Politik, in der die Interessen der Bürgerinnen und Bürger und die Bewältigung der globalen Herausforderungen im Mittelpunkt stehen. Ich danke Ihnen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Otto Bernhardt, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die internationale Finanzkrise zeigt, dass die Rahmenbedingungen versagt haben, die die Politik gesetzt hat. ({0}) Sie zwingt uns, jetzt im politischen Bereich zu handeln. ({1}) Es gibt keine Regierung auf der Welt, die so schnell und umfassend wie die deutsche reagiert hat. Dies sollte man zunächst in aller Deutlichkeit feststellen. ({2}) Deutschland ist zwar immer noch eine der stabilsten Volkswirtschaften in der Welt - und das ist gut so -, dennoch haben wir, was die Konjunkturpakete anbetrifft, absolut und relativ - relativ heißt, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt - mehr als alle anderen europäischen Staaten gemacht. Was den Gipfel betrifft, so meine ich, wir sollten zunächst einmal alle Maßnahmen wirken lassen und nicht ständig neue Maßnahmen fordern. Sonst besteht die Gefahr, dass bestimmte Maßnahmen erst zu einem Zeitpunkt wirken, zu dem sie eine sich dann vielleicht abzeichnende Inflation verstärken könnten. ({3}) Es gibt eine Reihe von Punkten, über die wir uns hier im Hause einig sind. Ich sehe jetzt einmal von dem Kampf von Reich gegen Arm ab - der Beitrag meines Vorredners passte nicht in diese Debatte -, der löst die Probleme nicht, sondern erzeugt höchstens Emotionen. Wenn ich also diesen Beitrag weglasse, dann sind wir uns alle darin einig, dass wir mehr Transparenz brauchen. Ich sage als Ordnungspolitiker: Wir brauchen leider auch mehr Reglementierung, aber nur im Bereich der Finanzmärkte. ({4}) Es gibt jetzt eine allgemeine Stimmung auch in Deutschland, in vielen Bereichen mehr zu reglementieren. Wir haben mit der sozialen Marktwirtschaft gute Chancen, aus der Krise herauszukommen. Wenn wir aber jetzt auch die Realwirtschaft, den internationalen Handel usw. stärker reglementieren, dann wird der Weg schwieriger. ({5}) Deshalb sage ich: Wir haben keine Krise der Marktwirtschaft, wir haben keine Krise der Demokratie, sondern wir haben eine internationale Finanzkrise, und wir sind dabei, die Ursachen zu analysieren, um die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Ich will einige Punkte aus dieser Debatte aufgreifen, nicht zuletzt um sie richtigzustellen. Ich beginne mit der Bankenaufsicht. Zunächst einmal stelle ich fest, dass die Bankenaufsicht in Deutschland in der Krise insgesamt gut gehandelt hat. Das gilt für die Bundesbank, und das gilt für die BaFin. ({6}) Die Bundesregierung hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, um all das zu überprüfen. Wir werden die Konsequenzen aus diesem Gutachten ziehen und einige Dinge noch in dieser Legislaturperiode verändern. Das ändert nichts an der Grundposition meiner Fraktion. Da unterscheidet sich unsere Auffassung von der der Sozialdemokraten. In dieser Hinsicht stimmen wir mit den Freien Demokraten überein. Wir sind für eine Konzentration der gesamten Bankenaufsicht bei der Deutschen Bundesbank. ({7}) Nur, in einer Krise wie dieser sollte man keine grundlegenden Veränderungen vornehmen. Wir haben zurzeit andere Sorgen. Da das System im Grundsatz funktioniert, ist jetzt nicht der Zeitpunkt für eine grundlegende Veränderung. Dennoch haben wir ein klares Ziel. ({8}) Ich greife einen zweiten Punkt auf, der Emotionen hervorruft und zum Teil mit unfairen Vorwürfen verbunden ist. Es geht um die Steuerhinterziehung und die Steueroasen. Ich finde es infam, wenn immer wieder versucht wird, die Union als die Partei darzustellen, die Spaß an den Oasen hat und die diejenigen Leute, welche Steuern hinterziehen, schützen will. Nein, auch wir sind dafür, dass Steueroasen trockengelegt werden. Für uns ist Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt. Das, was Herr Zumwinkel gemacht hat, ist für uns nicht akzeptabel, unabhängig von der rechtlichen Position. ({9}) Jetzt ein Wort zum Finanzminister. Viele wissen, dass ich ihn schätze, aber es gibt einige Verhaltensweisen, die ich nicht schätzen kann. In einer Hinsicht irrt der Finanzminister. Es ergibt keinen Sinn, Staaten, mit denen wir seit Jahrzehnten hervorragende Kontakte haben - für Bayern und Baden-Württemberg ist die Schweiz seit Jahrzehnten ein ganz wichtiger Handelspartner -, öffentlich zu beschimpfen. Das bringt nichts, das ist nicht gut, und das sollten wir nicht machen. ({10}) - Herr Kollege, man hat sie als Indianer bezeichnet. Sie mussten Ihren Minister verteidigen. Wenn wir einen Minister hätten, der solche Fehler machen würde, würde auch ich ihn verteidigen. Aber Gott sei Dank haben wir keinen, der so etwas sagt. Die Art, wie der Minister mit der Schweiz umgeht, ist nicht hinnehmbar. ({11}) Ich sage genauso deutlich: Der Ansatzpunkt in dem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist falsch. 95 Prozent aller Deutschen, die mit Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und vergleichbaren Staaten seit Jahrzehnten wirtschaftliche Beziehungen haben, haben sie nicht, um Steuern zu hinterziehen. ({12}) Vor diesem Hintergrund ist es unangemessen - es ist Ausdruck einer falschen Grundeinstellung zu diesem Thema -, diejenigen, die mit diesen Ländern seit Jahrzehnten Kontakte haben, steuerlich bestrafen zu wollen. Das ist der falsche Ansatz. ({13}) Weil wir diesen Ansatz für falsch halten, kann man uns hier nicht als diejenigen hinstellen, die Steuerhinterziehung nicht bekämpfen wollen. Wir wollen sie bekämpfen. Wir haben klare Vorstellungen. Übrigens, wir haben in der Großen Koalition einen gemeinsamen Antrag verabschiedet, zu dem in der nächsten Woche, so glaube ich, eine Anhörung stattfindet. Dann erfahren wir die Auffassung der Fachleute. In diesem Zusammenhang möchte ich einen weiteren Punkt nennen, der für mich als Banker bei den jetzigen Maßnahmen sehr wichtig ist: Viel Unheil ist von der Verbriefung und Strukturierung ausgegangen. ({14}) Ich sage das, ohne dieses Thema zu vertiefen. Ich gehöre zu denjenigen - ich bitte die Kanzlerin, diese Auffassung auf dem G-20-Gipfel intensiv zu vertreten -, die sagen: Wer in Zukunft Kredite verkauft, muss mit einem bestimmten Anteil in der Haftung bleiben. ({15}) Nur dann werden wir sicherstellen, dass die Verbriefung einer vernünftigen Begrenzung unterliegt. Ich stelle abschließend fest: Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben immer sehr schnell alle notwendigen Entscheidungen getroffen, um gegen die Finanzkrise gewappnet zu sein. Wir werden morgen das SoFFin-Gesetz weiterentwickeln, in dem wir notwendige Anpassungen vornehmen. Wir werden morgen etwas dafür tun - morgen steht die erste Lesung des Gesetzentwurfs auf der Tagesordnung -, dass sich Managergehälter in Zukunft nicht mehr an kurzfristigen Parametern orientieren. Dies zeigt: Die Große Koalition war handlungsfähig, und sie wird auch bis zur Bundestagswahl handlungsfähig bleiben. Danke schön. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich wollte ich diesen Redebeitrag mit ein paar Worten zu Frau Merkel beginnen. Frau Merkel, Sie rutschen bei mir jetzt ausnahmsweise in die zweite Reihe. Ich finde nämlich, dass Guido Westerwelle heute wirklich den Vogel abgeschossen hat. ({0}) - Na ja, ich wäre nicht so fröhlich. - Herr Westerwelle, heute haben Sie wieder einmal für soziale Kälte gesorgt: Bei Ihren Ausführungen zum Thema Steueroasen bzw. den Oasen allgemein haben Sie gesagt, es gehe um die Wüste drum herum. Ich sage Ihnen einmal ganz klar: In den Oasen saufen die großen Kamele, und Sie haben sich heute wieder einmal als Schutzheiliger der großen Kamele, die den anderen das Wasser wegsaufen, betätigt. ({1}) - Herr van Essen, seien Sie nicht so verklemmt, auch nicht in Ihren Bemerkungen. ({2}) - So habe ich es gar nicht gemeint, auch wenn ihr jetzt lacht. Herr Westerwelle, Sie äußern jetzt Mitleid mit der Energielandschaft in Deutschland. Sie klagen über die vielen bürokratischen und Investitionshemmnisse. Die Sorge vor Korruption spielt bei Ihnen gar keine Rolle. Wie erklären Sie sich bei all der Sorge über zu viel Bürokratie, die Sie hier zum Besten gegeben haben, dass Eon im letzten Jahr 10 Milliarden Euro Reingewinn erzielt hat? Das ist doppelt so viel wie im Vorjahr. Wer in der Lage ist, seinen Reingewinn von einem Jahr zum anderen auf 10 Milliarden Euro zu verdoppeln, der ist nicht bürokratisch gehemmt. Man sollte ihn vielmehr fragen, was er für die Allgemeinheit zu tun bereit ist. ({3}) Nun zum G-20-Gipfel und den Vorbereitungen darauf. Ich muss sagen: Frau Merkel hat heute wieder wunderbare Geschichten darüber erzählt, was sie alles tun würde, was alles in Vorbereitung sei. Aber am Ende ist es doch wieder eine schöne Inszenierung, der eigentlich nichts folgt. Wo ist eigentlich der Text nach all den wunderschönen Überschriften? Es ist immer das Gleiche: Uns wird erzählt, man müsse jetzt erst einmal in die Bankenkrise investieren, sozusagen systemisch relevante Banken absichern, aber dann müsse man wieder zur sozialen Marktwirtschaft zurück. Alle Welt redet vom Green New Deal, nur Frau Merkel und die CDU/CSU - von Ihnen da mal ganz zu schweigen - haben mal wieder nicht gemerkt, wo die Probleme der Welt liegen. ({4}) Es gibt viele Ankündigungen, etwa die, man wolle die IWF-Mittel verdoppeln. Wo eigentlich ist die Entscheidung dazu? Eine Ankündigung lautet, die Europäische Union wolle mit einer Stimme sprechen. Ich sehe aber nur, dass Deutschland in der Europäischen Union ständig und immer wieder der Bremser ist, zuletzt beim Konjunkturpaket der EU: Es wird gebremst bis zur letzten Sekunde, und am Ende, nach Sonderregeln für die Telekom und noch einem Extra für die deutschen Milchbauern, weil Sie ihre alten Versprechungen nicht gehalten haben, wird Ja gesagt. So, meine Damen und Herren, sieht keine treibende gute Rolle Deutschlands in der Europäischen Union aus. ({5}) Alles Überschriften, kein Text! Ein bisschen Registrierung von Hedgefonds. Schauen wir uns einmal die Schrottpapiere an! Dazu gibt es nur sehr allgemeine Leitlinien, mit denen nicht viel umgesetzt wird. Man kann eines sagen, auch wenn Sie versuchen, sich hier so groß darzustellen: Deutschland blockiert in der Europäischen Union auch und gerade Regeln für die Finanzmärkte. Das ist die Wahrheit. ({6}) Wo ist die europäische Ratingagentur, die wirklich reguliert und beaufsichtigt - das wäre Verbraucherschutz! -, über die Sie immer reden, für die Sie bisher aber weder international noch national irgendetwas angeboten haben? Wo ist die EU-Finanztransaktionssteuer, die Spekulationen abbaut und Märkte wirklich stabilisiert? Herr Steinbrück möchte sie gern ins Wahlprogramm schreiben. Warum handeln wir gerade an der Stelle eigentlich nicht jetzt, statt bis zum nächsten Jahr zu warten? ({7}) Alle reden über die Schließung von Steueroasen - außer Guido Westerwelle. Es gibt überall Bewegung, aber die Regierung ist unfähig, auch nur ein Gesetz gegen Steuerhinterziehung in Deutschland zu beschließen. Wieder diese Uneinigkeit Guttenberg und Steinbrück! Auch an der Stelle muss man sagen, dass die CDU/CSU im Ergebnis blockiert, um Steuerhinterzieher zu schützen. Das ist die ganze Wahrheit, meine Damen und Herren. ({8}) Wo sind eigentlich - um noch einen Punkt zu nennen Ihre Aktivitäten gegenüber deutschen Banken, die Dependancen auf den Cayman Islands, in Singapur, in Luxemburg haben? Allen voran ist hier die Commerzbank zu nennen, der wir gerade die Steuergelder hinterherwerfen. Wenn Sie so handlungsfähig sind, wie Sie sich darstellen, dann sagen Sie hier und jetzt, was Sie an dieser Stelle eigentlich Positives erreicht haben! ({9}) Mein Vorredner hat gesagt, man werde wunderbare Regeln hinsichtlich der Gehälter von Managern schaffen. Sie bieten uns hier an, dass die Haltefrist für Aktienpakete von zwei auf vier Jahre erhöht werden soll. Das sind Peanuts! Heute sind die meisten Unternehmen aufgrund freiwilliger Vereinbarungen schon bei einer Frist von drei Jahren. Sie bieten also faktisch eine Erhöhung von drei auf vier Jahre an. Zehn Jahre, das wäre der Einstieg in langfristiges Denken. Dazu haben Sie nicht den Mut. ({10}) Wie wenig mutig Sie an der Stelle sind, sieht man auch an all den Rettungspaketen, die wir hier verabschieden müssen. Das erste Rettungspaket ist gescheitert. ({11}) Morgen findet die Abstimmung über das zweite Rettungspaket statt. Das ist eine Lex Hypo Real Estate. Im Ausschuss war auf Einladung der FDP auch Herr Flowers von Hypo Real Estate. Da konnte man sehen, was deren Vorstellungen von marktwirtschaftlicher Ordnung sind. Die denken immer noch: Der Profit gehört uns, ansonsten werden Steuergelder eingesetzt und die Steuerzahler faktisch enteignet. - Das ist Ihre Art von Finanzpolitik. Ich sage Ihnen: Die Zeit der Spielereien muss zu Ende sein, auch für den smarten Herrn Guttenberg, der am Times Square herumturnt und von dem wir alle nun wissen, dass er gut Englisch kann. Wir brauchen jetzt wirklich eine Verstaatlichung der HRE und nicht irgendein Herumerzählen oder noch eine Umdrehung nach dem Motto, man könnte vielleicht irgendwann einmal das Insolvenzrecht verändern. Jetzt, meine Damen und Herren, brauchen wir Aktionen. ({12}) Eine Sekunde lang hat mich nachdenklich gemacht, ({13}) was Frau Merkel zu dem Beitrag gesagt hat, den sie zusammen mit Herrn Balkenende für die FAZ verfasst hat. Auch sonst hört man von Frau Merkel ja immer wieder den Satz, man müsste jetzt Regeln für eine neue Art des Wirtschaftens aufstellen. Im gemeinsam mit Herrn Balkenende verfassten Text heißt es - heute wurde es ähnlich formuliert -, dass die internationale wirtschaftspolitische Zusammenarbeit mit der Globalisierung der Wirtschaft nicht Schritt gehalten hat. Das hat sie ja heute auch wieder gesagt. Meine Damen und Herren, ich finde es schon putzig, wie geschichtsvergessen Frau Merkel ist. Es ist ja nicht wahr, dass die internationale Wirtschaftspolitik nicht Schritt gehalten habe, sondern die Wahrheit ist, dass gerade die Unionsparteien und ihre Fraktion hier im Bundestag sich jahrelang dagegen gewehrt haben, dass der Freiheit der Wirtschaft ein Rahmen mit ökologischen und sozialen Aspekten für den globalen Handel entgegengesetzt wird, damit nicht auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger gewirtschaftet wird. Wenn ich mir jetzt anschaue, was Frau Merkel anbietet, dann finde ich nur den Verweis auf eine Charta für nachhaltiges Wirtschaften bzw. die Forderung - das hat sie an anderer Stelle gesagt - nach Einsetzung eines Weltwirtschaftsrates. Einige aus meiner Fraktion haben sich nun die Mühe gemacht, über Kleine Anfragen herauszubekommen, was eigentlich dahintersteckt. Wissen Sie, was wir festgestellt haben? Keiner weiß, worum es dabei gehen soll. Die verschiedenen Ressorts antworten entweder, sie wüssten es nicht, oder, sie verträten diese Position nicht. Wenn ich mich nun entgegenkommenderweise darum bemühe, herauszubekommen, was hinter diesem Angebot steckt, dann komme ich zu dem Schluss, dass Ihr Weltwirtschaftsrat bzw. Ihre Charta für nachhaltiges Wirtschaften, Frau Merkel, eher vom Alten ist. Sie beweisen an der Stelle, dass Sie nichts ändern wollen, sondern nur jetzt über die Konjunkturpakete Geld investieren, um später wieder zu den alten Regeln der Marktwirtschaft zurückkehren zu können. Das ist unverantwortliche Politik. ({14}) Statt solche Wolkenkuckucksheime zu errichten, wäre es doch hilfreicher, international für die Einführung einer Rechnungslegung über ökologische und soziale Indikatoren zu sorgen; das wäre ja ganz simpel zu machen. Dann hätte man Kriterien, anhand derer man Politik ausrichten könnte. Die Absichten von Frau Merkel werden in Gänze sichtbar, wenn man die von ihr verfassten Texte zu Ende liest. In dem gemeinsam mit Herrn Balkenende verfassten Text wird zum Beispiel am Ende deutlich, was sie wirklich will, nämlich kein nachhaltiges Wirtschaften, sondern - dieser Satz steht auch hier wieder als Erstes im Zusammenhang mit der internationalen Wirtschaft Freiheit der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Wir haben genug von Freiheit der Wirtschaft. Das wurde nämlich immer als Freiheit von Verantwortung für das Gemeinwesen ausgelegt. Wir brauchen jetzt ein Bekenntnis dazu, dass jeder, der wirtschaftet, auch Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen hat. ({15}) Frau Merkel hat auch gesagt, wir bräuchten jetzt dringend eine weitere Liberalisierung des Handels, sprich Fortschritte bei den Doha-Verhandlungen und einen entsprechenden Abschluss bei der nächsten Welthandelsrunde. Meine Damen und Herren, genau das brauchen wir jetzt definitiv nicht. In der Vergangenheit wurde der Handel schon zu stark liberalisiert. Die WTO erlaubt der Wirtschaft, Raubbau auf Kosten der Menschen und der Umwelt zu betreiben. Wenn Frau Merkel nun fordert, in diesem Jahr zu einem entsprechenden Abschluss bei der WTO zu kommen, entlarvt sie ihre Absicht, dass es ihr doch eher um mehr Liberalisierung für einige wenige geht als um den Schutz des Klimas und der Finanzmärkte. ({16}) Wenn Frau Merkel in der Stimmung und mit den Aussagen, die sie hier an den Tag gelegt hat, heute zum Europäischen Gipfel oder am 2. April nach London fährt, dann steht zu befürchten, dass Europa jetzt die Gelegenheit verpatzt, eine Führungsrolle zu übernehmen. Genau diese wollen wir aber. Wir wollen, dass eine neue Art zu wirtschaften die Oberhand gewinnt, die nicht mehr auf Kosten anderer geht. Europa hätte dabei die Aufgabe, Frau Merkel, dabei voranzugehen, sich nicht vor Kopenhagen zu drücken, sondern dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen, entsprechende Vorschläge zu entwickeln und zu sagen, was Europa selber will.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sofort. - Die anderen sind nicht unsere Verhandlungsgegner bzw. unsere Gegenspieler, mit denen wir zocken müssen, sondern die Europäische Union hat die Aufgabe, zu zeigen, wie national und international auf den Feldern der Finanzen und des Klimas etwas erreicht werden kann. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gunther Krichbaum ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0}) - Entschuldigung, das stimmt. Frau Kollegin SchwallDüren, Sie haben das Wort. Bitte schön.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt doch noch ein paar Differenzen zwischen unserem Koalitionspartner und uns. Deswegen ist es schon richtig, dass ich - und nicht Herr Krichbaum - für die SPD spreche. Der Frühjahrsgipfel ist traditionell der Gipfel, auf dem die Finanz- und Wirtschaftspolitik auf der Tagesordnung steht, insbesondere die Lissabon-Strategie. Noch nie hatten wir einen Frühjahrsgipfel, auf dem wir mit einer derartigen Krise konfrontiert waren wie in diesem Jahr. Was brauchen wir in dieser Krise? Wir brauchen zunächst einmal entschlossenes Handeln der Politik. Denn eines ist inzwischen klar geworden: Die Rolle des starken und handlungsfähigen Staates ist wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Nicht der Nachtwächterstaat und auch nicht der Staat des Laisser-faire werden gebraucht, sondern der Staat, der als Regulator, Stimulator und Garant für öffentliche Güter da einschreitet, wo die Marktkräfte versagt haben. Das hören wir interessanterweise auch von den Marktradikalen und Apologeten der Deregulierung. Ich bin ganz froh, dass wir es in der Koalition geschafft haben, das auf Initiative von Frank-Walter Steinmeier vorgelegte Konjunkturpaket umzusetzen, um Investitionen in Bildung, Innovation und Nachhaltigkeit zu tätigen und, Herr Westerwelle, um die Kaufkraft der Geringverdiener, der Rentner und der Familien zu stärken, statt Steuern für diejenigen zu senken, die hohe und höchste Einkommen beziehen. ({0}) Wir investieren in den Arbeitsmarkt, um damit in Übereinstimmung mit der Lissabon-Strategie nachhaltig etwas für die Zukunft zu tun, damit Fachkräfte die Innovationen und die neuen Ideen umsetzen können, die wir brauchen. Diese Krise ist nicht national entstanden. Deswegen kann sie auch nicht national bewältigt werden. Für internationales Krisenmanagement und Krisenverhinderung ist zunächst einmal eine Übereinstimmung in der Europäischen Union nötig. Wir brauchen gemeinsame Maßnahmen und eine Abstimmung auf europäischer Ebene. Angesichts dieser wirtschaftlich schwierigen Zeiten erwarten die Bürger mehr denn je, dass die Europäische Union hier tätig wird und dass Anstrengungen unternommen werden, damit es nicht zu Massenarbeitslosigkeit und nicht zu einer sozialen und politischen Krise kommt. Nur dann können wir das Vertrauen stärken. Deswegen brauchen wir neben Sozial- und Globalisierungsfonds insbesondere Maßnahmen zum Erhalt der Arbeitsplätze. Wir brauchen eine besser abgestimmte und besser koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik in der EU. Dann haben wir Chancen für die Zukunft. ({1}) Wir brauchen zweitens europäische Solidarität; sie ist nötiger denn je. Wir reden oft davon, dass die EU eine Wertegemeinschaft ist. Dazu gehört vorrangig Solidarität. Was heißt das in dieser Krise? Solidarität heißt in der Tat: kein Protektionismus, keine nationalen Egoismen. Ich möchte ganz deutlich sagen: Wenn wir erwarten, dass sich die Bürger und Bürgerinnen am 7. Juni an der Europawahl beteiligen, dann können wir nicht sagen: Wir müssen erst einmal das eigene Hemd retten; die anderen sind uns egal. - Das ist nicht nur ein Verstoß gegen die europäischen Werte, sondern auch ökonomisch und volkswirtschaftlich unvernünftig. Denn wenn wir nicht gemeinsam dazu beitragen, dass unsere Volkswirtschaften diese Krise überstehen, dann sind wir jeweils mitbetroffen. ({2}) Wir haben das am Beispiel der Abwrackprämie durchdiskutiert. Wir können das auch durchdeklinieren angesichts der Frage, was mit Opel geschieht. Auch hier muss es eine europäische Lösung geben. Solidarität heißt außerdem, dass wir in der EU keine sich widersprechenden Maßnahmen beschließen könDr. Angelica Schwall-Düren nen. Es darf, wie die Frau Bundeskanzlerin gesagt hat, nicht zu einem Unterbietungs- oder Überbietungswettlauf in Bezug auf Subventionen, aber auch in Bezug auf Lohn-, Sozial- und Steuerstandards kommen. Solidarität heißt auch: Unterstützung der Nicht-EuroMitgliedstaaten in der EU. Wir haben Lettland und Ungarn bereits geholfen und müssen vielleicht noch anderen helfen. ({3}) Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen: Am 15. März dieses Jahres hat sich zum 20. Mal der Tag gejährt, an dem die Opposition anlässlich des ungarischen Nationalfeiertages den Siegeszug in Ungarn begonnen hat. Wenige Wochen zuvor fand die erste Sitzung des runden Tisches in Polen statt. Dem Mut unserer europäischen Freunde haben wir unsere Freiheit und Einheit zu verdanken. Ich glaube, es ist nicht mehr als recht und billig, dass sich in dieser Krise ein Teil unserer Dankbarkeit in europäischer Solidarität zeigt. ({4}) Da auf diesem Frühjahrsgipfel weitere Themen auf der Tagesordnung stehen, will ich unter dem Stichwort der Solidarität die europäische Nachbarschaftspolitik und insbesondere die Östliche Partnerschaft ansprechen. Denn es ist dringend notwendig, dass wir die Transformationsprozesse bei unseren Nachbarn in Richtung Demokratie, wirtschaftlichen Erfolg und Rechtsstaatlichkeit erst recht in der Krise unterstützen. ({5}) Ich glaube zutiefst, dass Investitionen in die Energieinfrastruktur, die im Rahmen des europäischen Konjunkturprogramms angedacht sind - auch wenn noch keine Einigkeit im Detail besteht -, im Zusammenhang mit dem Klimaschutz unerlässliche Maßnahmen sind und dass wir im europäischen Verbund die Effizienzsteigerung, den Einsatz erneuerbarer Energien und den Netzausbau solidarisch voranbringen müssen. Nicht zuletzt bedeutet Solidarität aber auch, dass wir im Rahmen der G 20 die Entwicklungsländer nicht vergessen dürfen, die in dieser Krise am meisten leiden. Wir müssen drittens gemeinsam dafür sorgen, dass in Zukunft eine derartige Krise von vornherein verhindert wird. Das heißt, der G-20-Gipfel muss die weltweite Regulierung politisch voranbringen. Das wird uns nur dann gelingen, wenn wir Europäer gemeinsam auftreten. Wenn die Forderung von Frau Merkel und Herrn Sarkozy, die sie auf dem Ministerrat in Frankreich erhoben haben, nämlich dass konkrete Ergebnisse erfolgen sollen, wirklich Realität werden soll, dann müssen sich die Europäer auf diesem Frühjahrsgipfel einigen, damit sie überzeugend wirken und die USA sowie andere Staaten auf dem Weg zu einer entsprechenden Finanzmarktregulierung mitnehmen können. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesbezüglich hege ich aber doch den einen oder anderen Zweifel. Es reicht nämlich nicht, davon zu sprechen, dass wir bei den Ratingagenturen einen Verhaltenskodex brauchen. Wir brauchen eine europäische gesetzliche Regelung. Es reicht ebenfalls nicht - das ist mehrfach angesprochen worden -, dass wir uns bei den Steueroasen nach dem Motto „blaming and shaming“ verhalten, sondern auch hier brauchen wir Regelungen. In diesem Zusammenhang appelliere ich, auch was die Managergehälter anbelangt, an unseren Koalitionspartner. Vergleichbares könnte man zu dem Thema „Selbstbehalt bei Verbriefungen“ sagen, wo die Sozialdemokraten 20 Prozent fordern, die Konservativen und die Liberalen aber allenfalls 5 Prozent zugestehen wollen. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wann soll die EU einig sein, die Herausforderungen anpacken und die Probleme lösen, wenn nicht jetzt? Die EU ist weiterhin wirtschaftlich stark. Jetzt braucht es den politischen Willen. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück haben mit ihren Finanzmarktgrundsätzen gute Voraussetzungen geschaffen. Frau Merkel, liebe Bundeskanzlerin - ich weiß nicht, wo Sie gerade sind -, ({7}) nutzen Sie dieses Potenzial! Motivieren Sie Ihre europäischen Kollegen und Kolleginnen, einen gemeinsamen Standpunkt zu finden und weitreichende Vorschläge zu entwickeln, die auch die USA und andere Staaten überzeugen, damit wir gemeinsam zukünftigen Krisen vorbeugen können. Ich wünsche der Kanzlerin und der Bundesregierung bei diesem Vorhaben viel Erfolg. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Gunther Krichbaum das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzmarktkrise hat die Welt verändert, und sie wird sie weiter verändern. Doch wir haben jetzt die Möglichkeit, diese Veränderung mitzugestalten. Der bevorstehende Europäische Rat bietet hierfür eine große Chance. Diese kann aber nur dann genutzt werden, wenn Europa mit einer Stimme spricht; denn nur dann wird es gelingen, unsere Überlegungen und Vorstellungen auf dem bevorstehenden G-20-Gipfel Anfang April weltweit zum Standard zu machen. Ich denke, es war ein ermutigendes Signal, dass von Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Initiative ausging. Das ist unter anderem auch ein wichtiger Impuls für das deutsch-französische Verhältnis. Solche Impulse haben gerade in der letzten Zeit gefehlt. Deswegen ist die Bedeutung dieser Initiative für die Wiederbele22728 bung des deutsch-französischen Verhältnisses nicht zu unterschätzen. Wenn wir es jetzt noch schaffen, unsere britischen Freunde und Partner mit ins Boot zu nehmen, dann wird es uns gelingen - davon bin ich überzeugt -, die Leitplanken einzuziehen, die wir auf den Finanzmärkten brauchen. Eines ist wichtig: Wir müssen jetzt Standards setzen. Wir müssen jetzt ein Immunsystem schaffen, damit sich eine derartige Krise nicht wiederholen kann. Weil mein Kollege Bernhardt auf die Aufsichtssysteme, die hierfür notwendig sind, hinlänglich eingegangen ist, möchte ich einige andere Aspekte ansprechen. Wenn es darum geht, Krisen vorzubeugen, brauchen wir zweierlei: zum einen eine Stärkung des IWF, des Internationalen Währungsfonds, und zum anderen eine Stärkung der Europäischen Zentralbank. Hier sind die Potenziale bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Angesichts der Tatsache, dass Produkte die Grenzen überschreiten, muss auch die Aufsicht Grenzen überschreiten. Beim Konjunkturpaket hätten wir uns sicherlich einiges mehr vorstellen können. Richtig ist, dass die Verantwortung bei den Mitgliedstaaten liegt. Bei einem Konjunkturpaket in einer Größenordnung von 5 Milliarden Euro, wie es die Europäische Union schnürt, können die Wirkungen nur begrenzt sein. Da die Bundesrepublik Deutschland davon immerhin circa 1 Milliarde Euro tragen wird, sollten wir darauf hinwirken, dass diese konjunkturellen Maßnahmen schnell wirksam werden, vor allem aber auch dem Mittelstand zugutekommen. Denn gerade der Mittelstand ist bei alledem besonders gebeutelt und bedarf unserer Unterstützung. ({0}) Ein Wort zu Ihnen, Herr Westerwelle: Wer jetzt hier mit Mehrwertsteuersenkungen und ermäßigten Mehrwertsteuersätzen operieren möchte, streut den Bürgern Sand in die Augen. ({1}) Ganz nebenbei: So viel Sand, wie Sie den Bürgern in die Augen streuen, gibt keine Wüste dieser Welt her. ({2}) Auch Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen, dass niedrige und ermäßigte Mehrwertsteuersätze nur sehr begrenzt an die Verbraucher weitergegeben werden. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Krichbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage des Herrn Kollegen Westerwelle wird wahrscheinlich durch meine Ausführungen beantwortet. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nehmen Sie als Beispiel Großbritannien. Dort wurde genau das gemacht. Das hatte aber die Folge, dass die Verbraucher davon nicht profitiert haben, weil Preissenkungen nicht an die Verbraucher weitergegeben wurden ({0}) und die Profite woanders geblieben sind. Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung dies nicht machen wird. ({1}) Ich möchte noch auf weitere Aspekte zu sprechen kommen, die beim Europäischen Rat nicht unter den Tisch fallen sollten. Das sind die Lissabon-Strategie und die Östliche Partnerschaft. Bei der Lissabon-Strategie befinden wir uns im sogenannten zweiten Dreijahreszyklus zwischen 2008 und 2010. Ich denke, es hat schon heute Sinn, über die Zukunft der Lissabon-Strategie nach 2010 nachzudenken. Deswegen muss an dem Kernanliegen, für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen, festgehalten werden. Die Strategie sollte aber insoweit neu ausrichtet werden, als dass in Zukunft stärker auf stabiles, nachhaltiges Wachstum Wert gelegt wird. Genau diese qualitative Komponente beim Wachstum muss in Zukunft stärker betont werden. Die Östliche Partnerschaft wurde bereits von Kollegin Schwall-Düren angesprochen. Ich denke, es hat Sinn, dass wir diese Östliche Partnerschaft auch von deutscher Seite forcieren und unterstützen. Ich möchte an dieser Stelle allerdings auch darauf hinweisen, dass es noch offene, klärungsbedürftige Punkte gibt. Zum einen betrifft dies die Finanzierung. Zum anderen ist es wichtig, dass wir kein Konkurrenzverhältnis zur Schwarzmeersynergie aufbauen und die Prozesse und Mechanismen, die wir bereits haben, aufeinander abstimmen. Wir alle wollen, so denke ich, keine Duplizierung der Strukturen; dies wäre teuer und ineffektiv. ({2}) Ein weiterer Punkt ist die europäische Integration. Wir können diese aktuelle Krise nur bewältigen, weil wir diesen Stand der europäischen Integration haben. Deswegen muss die europäische Integration weitergehen. Das betrifft auch die Staaten, mit denen wir Beitrittsverhandlungen führen. Aber man muss auch nüchtern konstatieren, dass es bei einzelnen Beitrittsländern nur sehr schleppend vorangeht. Wir unterstützen Kroatien. Mazedonien aber hat noch sehr viele Aufgaben vor sich. Im Hinblick auf die Türkei muss ein klärendes Wort erlaubt sein - ich sage dies ohne Schaum vor dem Mund -: Die jüngsten Bestrebungen der türkischen Regierung hinsichtlich der Begrenzung der Pressefreiheit sind nicht akzeptabel. ({3}) Denn die Repressalien, mit denen vor allem die DoganGruppe konfrontiert wird, zielen darauf ab, dass ein Unternehmen vom Markt verschwinden soll. Man muss auf Folgendes hinweisen: Ohne Pressefreiheit keine Meinungsfreiheit, ohne Meinungsfreiheit keine Demokratie; aber ohne Demokratie ist ein Beitritt in die Europäische Union völlig undenkbar. Wir müssen die Vertreter der türkischen Regierung an ihre Verantwortung erinnern. Die Reformen müssen zunächst einmal den Bürgerinnen und Bürgern im eigenen Land dienen. Sie dürfen nicht nur durchgeführt werden, um der Europäischen Union zu gefallen. Hier muss nachgebessert werden. Die Türkei muss gewissermaßen auf den Pfad der Tugend zurückkehren. ({4}) Die europäische Integration ist eine Erfolgsgeschichte. Ohne sie gäbe es weder den Euro noch den Schengen-Raum. Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall muss man darauf hinweisen, dass die eigentlichen Errungenschaften der europäischen Integration für die Bürger erst mit der Kreierung des Schengen-Raums greifbar wurden. Der Eiserne Vorhang war zwar gefallen, die eisernen Gardinen, wenn man so will, aber noch nicht. Wir müssen den Schengen-Raum sukzessive erweitern; denn hiervon profitieren die Bürgerinnen und Bürger am meisten. Dabei spielen auch Visaerleichterungen eine Rolle. ({5}) Wir müssen den jungen Menschen, insbesondere in Osteuropa, die Möglichkeit geben, das - in Anführungszeichen - alte Westeuropa kennenzulernen. Nur wer diese Möglichkeit hat, kann auch die Werte der Europäischen Union teilen. ({6}) Diese Aspekte dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Last, not least: Der Londoner Gipfel bietet die Chance, eine neue Finanzmarktarchitektur zu kreieren. Die anderen Themen, die von Bedeutung sind, dürfen dabei aber nicht in Vergessenheit geraten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Guido Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, da Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, möchte ich Ihnen meine Fragen im Rahmen einer Kurzintervention stellen. Sie haben die FDP und meine Person dafür kritisiert, dass wir uns für reduzierte Mehrwertsteuersätze ausgesprochen haben. ({0}) Sie haben gesagt, mit dieser Forderung würden wir den Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen streuen. ({1}) Tut das auch der Bundeswirtschaftsminister, der dasselbe sagt wie ich? ({2}) Tut das auch die CSU, ein immerhin nicht unmaßgeblicher Teil Ihrer Fraktionsgemeinschaft, die dasselbe sagt wie ich? Tut das auch der bayerische Ministerpräsident, der dasselbe sagt wie ich? Außerdem hätte ich gerne von Ihnen gewusst: ({3}) Wie erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern, dass - mit einer einzigen Ausnahme, nämlich mit der Ausnahme Dänemarks - alle Nachbarländer Deutschlands einen niedrigeren Mehrwertsteuersatz für Hotels und Gastronomie haben? Von europäischer Ebene wurde das als Möglichkeit ausdrücklich bestätigt. In Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, in Frankreich und in Luxemburg beträgt der Mehrwertsteuersatz für Hotels und Gastronomie 3 Prozent, in Belgien 6 Prozent, und auch in Tschechien und Polen ist er geringer als in Deutschland. Mit anderen Worten: Mit einer Ausnahme, nämlich mit der Ausnahme Dänemarks, ist Deutschland in der gesamten Europäischen Union das einzige Land, das bei Hotels und Gastronomie den vollen Mehrwertsteuersatz erhebt. ({4}) Finden nicht auch Sie, dass das eine enorme Wettbewerbsverzerrung zulasten unseres Mittelstandes ist? Zum Schluss möchte ich auf das Thema Medikamente zu sprechen kommen. Medikamente sind etwas, was die Menschen wirklich brauchen. Der normale Bürger kann, wenn er krank ist, nicht auf Medikamente verzichten. Ist Ihnen bekannt, dass neben Deutschland nur vier Länder in ganz Europa, nämlich Bulgarien, Dänemark, Österreich und Schweden, den vollen Mehrwertsteuersatz auf Medikamente erheben? ({5}) Vor diesem Hintergrund würde ich gerne von Ihnen wissen: Ist es nicht so, dass Deutschland das Land ist, das seine Position überprüfen muss, wenn 22 von 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen anderen Weg gehen und das tun, was die FDP vorschlägt? ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung Herr Kollege Krichbaum.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Kollege Westerwelle, ich wehre mich gegen den grenzenlosen Populismus, den Sie in diesem Hohen Hause betreiben. ({0}) Bei den Bürgerinnen und Bürgern im Land erwecken Sie den Eindruck, als würde eine Reduzierung der Mehrwertsteuersätze automatisch die Konjunktur beleben. Das ist ein Irrglaube. Andere Länder - siehe Großbritannien - haben bereits unter Beweis gestellt, dass reduzierte Mehrwertsteuersätze nicht in Form von niedrigeren Preisen an die Verbraucher weitergegeben werden. Das, was Sie hier machen, ist populistisch. ({1}) Populistisch ist auch, dass Sie einzelne Steuersätze herauspicken, so zum Beispiel den reduzierten Mehrwertsteuersatz in manchen Bereichen in Dänemark. Es gehört dann aber zur Ehrlichkeit dazu, auch zu erwähnen, dass der normale Mehrwertsteuersatz in Dänemark weit über dem bundesdeutschen liegt. ({2}) Deswegen funktioniert Ihre Rosinenpickerei nicht, Herr Westerwelle. Deutschland liegt, was die Steuerbelastung der Bürger angeht, im Mittelfeld der Europäischen Union. Man muss immer wieder darauf hinweisen, dass dem Staat die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen, wenn man Schulen, Bildungsinfrastruktur und Straßenbau finanzieren möchte. ({3}) Ein weiterer Punkt betrifft die Gastronomie. Ich komme aus Baden-Württemberg - das kann man unschwer an meinem Zungenschlag heraushören -, einem Bundesland, in dem es auf Fläche und Dichte bezogen die meisten Zwei- und Drei-Sterne-Restaurants gibt. Kein Mensch fährt ins nur wenige Kilometer entfernte Elsass, nur weil dort vielleicht die eine oder andere Speise 1 Euro weniger kostet. ({4}) Ich kann nur empfehlen, die Gastronomie im Elsass, die exzellent ist, einmal kennenzulernen. Sie werden dort aber eher mehr Geld lassen als in den hervorragenden baden-württembergischen Restaurants. Das kann ich mit Sicherheit auch in Bezug auf viele andere Restaurants im restlichen Deutschland behaupten. Ihr Populismus, mit dem Sie hier versuchen, den Menschen etwas vorzugaukeln, gehört gebrandmarkt. Es ist also dienlich, diese offenen Punkte einmal zu benennen, was Ihnen ganz offensichtlich nicht gefallen hat. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Alexander Ulrich von der Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke hat beantragt, dass der verringerte Mehrwertsteuersatz auch für Medikamente gelten soll. Herr Westerwelle, die FDP hat damals nicht zugestimmt - so viel zur Ehrlichkeit. ({0}) Die massive Umverteilung von Arm zu Reich, der massive Sozialabbau, der mit der Lissabon-Strategie verbunden ist, die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Daseinsvorsorge waren wichtige Ursachen der jetzigen Wirtschaftskrise. Deutschland wurde durch seine wachstums- und europafeindliche Lohndrückerei Exportweltmeister. Wenn man sich die heutige Regierungserklärung anhört, denkt man sich: Die Bundeskanzlerin sollte nicht die Letzte sein, die einsieht, dass Europa und Deutschland nicht Opfer, sondern Mitverursacher der jetzigen Krise sind. Die Schröder- und die Merkel-Regierungen haben diesen gescheiterten Finanzmarktkapitalismus massiv gefördert und mit verursacht. ({1}) Die Bundesregierung hat daher eine besondere internationale Verantwortung zur Belebung der Konjunktur. Die Bundesregierung tritt aber weiter auf die Bremse. Ich zitiere die Worte vom Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman aus dem Stern der letzten Woche: Deutschland war bislang nur ein riesiger Stolperstein, ein gewaltiges Hindernis. Weiter wird er in dem Artikel zitiert: Finanzminister Peer Steinbrück scheine mit koordinierten Konjunkturprogrammen „ein echtes Problem“ zu haben. Außerdem sagte Krugman, manchmal glaube er - ich zitiere -, in Deutschland begreift man das ungeheure Ausmaß der Krise immer noch nicht ganz. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die Krise in ihrer Dimension zu erkennen. Sie ist nicht in der Lage, die richtigen Antworten zu finden. Die Bundesregierung versagt auf Kosten von Wohlstand und Arbeitsplätzen in unserem Land. Wie wollen Sie die internationalen Ungleichgewichte mit dieser Politik verringern? Die Linke fordert, wie Jean-Claude Juncker, eine EuroAnleihe, um die öffentliche Kreditbeschaffung in Europa zu verbilligen. ({2}) Ein Staatsbankrott wird auf jeden Fall teurer. Doch die Bundesregierung zeigt wieder ihr antieuropäisches Gesicht und beharrt auf nationalen Anleihemärkten. An dieser Politik ist aber eines ganz besonders schlimm: Viele Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. Die Opel-Beschäftigten erwarten zu Recht schnelle Hilfe der Bundesregierung. Was wird gemacht? Der Wirtschaftsminister reist zu PR-Zwecken in eigener Sache in die USA, erreicht gar nichts und will das auch noch als Erfolg verkaufen. Die Bundesregierung kennt scheinbar zwei Klassen von Menschen: Arbeitnehmer und Bankmanager. Deshalb braucht die Bundesregierung den außerparlamentarischen Druck. Die Linke unterstützt die Forderungen und den Protest am 28. März in Berlin und Frankfurt unter dem Motto: Wir zahlen nicht für eure Krise. ({3}) Frau Bundeskanzlerin, reisen Sie nicht als Lobbyist der Finanzwirtschaft auf den Gipfel und zu G 20! Es reicht nicht aus, nur für mehr Transparenz zu sorgen. Das Kasino muss endgültig geschlossen werden. Es muss verboten werden, mit Währungen, Rohstoffen und Lebensmitteln zu zocken. Die Finanzmärkte müssen unter demokratische Kontrolle gebracht werden. Wir brauchen eine Transaktionssteuer. Hedgefonds müssen verboten und Steueroasen geschlossen werden. ({4}) Ich finde es sehr interessant - wir erleben ja zurzeit in Deutschland den Vorwahlkampf -: Trittin, Frau Künast, Müntefering, Steinbrück, Steinmeier, alle schwadronieren von der Ampel. Heute Morgen haben wir festgestellt, dass man Steueroasen zusammen mit dem Oasen-Guido schließen will. ({5}) Deshalb wird von Rot-Grün jetzt schon die nächste Wahlkampflüge vorbereitet. ({6}) Wie wollen Sie ernsthaft Mindestlöhne einführen, wie wollen Sie Steueroasen schließen, wie wollen Sie den Finanzmarktkapitalismus regulieren, wenn Sie eine Koalition mit der FDP wollen? ({7}) Das ist unglaubwürdig, und das nimmt Ihnen niemand mehr ab. ({8}) Ihr Problem ist nicht Guido, sondern Ihre Inhaltsleere. Sie wollen nur regieren, unabhängig davon, welche Inhalte dabei herauskommen. ({9}) Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine Bundesregierung, die ihrer Verantwortung für die Menschen gerecht wird und nicht weiter kläglich versagt. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält die Kollegin Nina Hauer, SPD-Fraktion. ({0})

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Westerwelle, wenn man der Meinung ist, dass die Leute lieber im Ausland essen gehen, weil dort die Mehrwertsteuer etwas geringer ist, dann ist es nur folgerichtig, Steueroasen zu verteidigen. ({0}) Es geht nicht allein darum, dass wir eine bessere Kooperation der europäischen Staaten bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung erreichen. Vielmehr geht es darum, dass wir verhindern, dass es Staaten gibt, die auf Dauer einen Teil ihrer Wertschöpfung dadurch erzielen, dass sie Steuerflüchtlingen Zuflucht bieten. Es geht auch nicht allein darum, in der Finanzmarktkrise mit Konjunkturprogrammen an einzelnen Punkten zu helfen. Darüber sollten wir es aber nicht versäumen, unser System mit neuen Regeln neu aufzustellen. Wer diese Krise bewältigen und für die Zukunft vorsorgen will, der muss jetzt dafür sorgen, dass wir Regeln bekommen, an die sich auf dem Finanzmarkt alle halten. Ich finde, bei dem Vortreffen ist schon einiges erreicht worden. Dass die Ratingagenturen beaufsichtigt und registriert werden, das ist ein großer Fortschritt. Frau Künast, es geht nicht darum, ob sie europäisch oder amerikanisch sind, sondern es geht darum, wer kontrolliert, was sie eigentlich machen. Wer nimmt ihr Geschäftsmodell unter die Lupe? Wer bewertet, wie sie ihre Bewertungen aufstellen? Wenn wir schon vor ein paar Jahren Regelungen geschaffen hätten, die außerbilanzielle Zweckgesellschaften verhindern, dann wäre uns viel geholfen. Immerhin - ich weiß nicht, wie der Finanzminister dies erreicht hat, vielleicht mit Diplomatie, offensichtlich aber auch mit Durchsetzungskraft - haben wir erreicht, dass die USA mit uns darüber reden wollen, wie wir die Hedgefonds beaufsichtigen und regulieren. Ich finde, das ist ein großer Fortschritt. Das wäre vor zwei Jahren noch nicht ohne Weiteres möglich gewesen. ({1}) Es geht aber - das hat mich etwas an der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin enttäuscht - nicht nur darum, zu sagen, dass wir neue Regeln wollen. Wir wollen auch ein Leitbild für den Finanzmarkt entwerfen. Dabei geht es darum, dass diejenigen, die ein hohes Risiko eingehen - das muss man auch weiterhin am Finanzmarkt dürfen -, dafür auch die Verantwortung tragen. Risiko und Verantwortung müssen sich also die Waage halten. ({2}) Das war bisher aber nicht der Fall. Wenn jemand Papiere kauft, die zu Paketen geschnürt worden sind, die Kredite enthalten, die nicht zurückgezahlt werden können oder bei denen das Risiko groß ist, dass sie aufgrund der Zinsbedingungen nicht zurückgezahlt werden können, dann muss derjenige einen Teil des Risikos tragen, wenn er diese Papiere weiterverkauft. Deshalb finde ich den Vorschlag unseres stellvertretenden Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier richtig, dass ein Teil des Risikos bei denjenigen bleiben soll, die die Pakete schnüren. Bei einem Selbstbehalt von 20 Prozent bei Verbriefungen beispielsweise, die wir am Finanzmarkt ja brauchen - wir wollen sie nicht abschaffen -, wird sich der eine oder andere schon überlegen, was darin enthalten ist, bevor er verkauft und bevor am Ende niemand mehr nachvollziehen kann, wohin eigentlich verkauft worden ist. ({3}) Genauso finde ich, dass es beim Risiko und bei der Verantwortung darum geht, wie viel Eigenkapital ein Unternehmen bereithält. Wir wollen mit unseren Eigenkapitalstandards nicht prozyklisch dann reagieren, wenn wir sehen, dass in Europa die Bereitschaft sinkt, Kredite für die Wirtschaft zu vergeben. Für die Zukunft wollen wir, dass diejenigen, in deren Bilanzen große Risiken stehen, diese auch mit dem entsprechenden Eigenkapital unterfüttern müssen. Hier müssen dann eben alle mitmachen. Ausgerechnet die USA setzen Basel II nicht um. Ausgerechnet jetzt, da wir es am dringendsten gebrauchen könnten, haben sie gesagt: Wir machen das an dieser Stelle nicht mit. Wir wollen mit diesen Anforderungen an Eigenkapital erreichen, dass Stresstests durchgeführt werden können und überprüft werden kann, ob die nötige Liquidität vorhanden ist, um ein Risiko im Geschäft auszugleichen. Dazu gehört auch, dass wir dafür sorgen, dass diejenigen, die Geschäfte tätigen, nicht nur dann immer hoch belohnt werden, wenn das Risiko und die Verantwortung möglichst weit auseinanderklaffen. Ich finde schon, dass jemand, der ein Risiko eingeht, belohnt werden sollte, aber das muss an Regeln gebunden sein, und es muss klar sein: Wenn ich nachhaltig wirtschafte - das ist auch am Finanzmarkt notwendig -, dann ist meine Vergütung am Ende höher, als wenn ich ein Risiko eingehe, für das hinterher die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen aufkommen müssen. - Diese Regeln wollen wir am Finanzmarkt verankern. ({4}) Ich finde, dass wir hier schon große Schritte weitergekommen sind. Dass wir überhaupt international darüber reden, dass wir alle Produkte, Akteure und Finanzmärkte beaufsichtigen müssen, und dass dort Vorschläge gemacht werden, ist schon ein erheblicher Fortschritt. Bis vor Kurzem gab es noch viele Staaten - übrigens auch viele Politiker und Politikerinnen hier in Deutschland -, die gesagt haben: Der Finanzmarkt braucht gar keine Regeln. Er hat ganz eindeutig das Interesse, die Rendite zu maximieren. Wenn das nach diesem Prinzip geht, dann läuft das schon. Das ist falsch und auch nicht die Aufgabe des Finanzmarktes. Seine Aufgabe ist es, Kapital für Ideen von Unternehmen hier und anderswo in der Welt zur Verfügung zu stellen und es zu ermöglichen, dass wir Verbraucherinnen und Verbraucher unser Geld für das Alter, zur Vorsorge und für alles andere dort anlegen können. Dabei müssen wir natürlich auch nachvollziehen können, was mit dem Geld passiert. Das sind die Leitlinien, an denen wir uns orientieren sollten. Ich bin froh, dass wir als SPD schon sehr früh Vorschläge zu diesen Leitlinien eingebracht haben. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält der Kollege Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns einig, dass aufgrund der globalen Dimension dieser Finanzmarktkrise auch globale Lösungsansätze erforderlich sind. Ich finde es gut, dass wir an uns den Anspruch stellen, dass der Globalisierung aus diesem Anlass ein politischer Ordnungsrahmen gegeben werden muss. Die Europäische Union kann mit dem Gipfel, der jetzt bevorsteht, eine Pilotfunktion wahrnehmen, weil es daThomas Silberhorn rum geht, dass wir internationale Standards setzen, die auf der Grundlage demokratischer Vorbilder und auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft zustande kommen. Wir sind uns über das Ob einig, aber wir müssen über den richtigen Weg streiten. Als beispielsweise schnell der Vorschlag gemacht wurde, jetzt eine zentralisierte europäische Aufsichtsbehörde für den Finanzmarkt zu errichten, wurde ich doch sehr skeptisch. Kann es wirklich zielführend sein, eine europäische Behörde einzurichten, wenn es um eine Finanzkrise globalen Ausmaßes geht? Eine Insellösung der Europäischen Union wird dieser Herausforderung nicht gerecht und die strukturellen Schwächen auf dem Finanzsektor weltweit ganz sicher nicht beseitigen. Ich halte ein solches Modell auch nicht unbedingt für praktikabel; denn Aufsicht findet immer lokal statt. Wenn man Regulierungsstandards setzt, über die wir uns gerne international verständigen können, dann muss die Beachtung dieser Regulierungsstandards vor Ort kontrolliert und durchgesetzt werden. Es ist auch nicht unbedingt verantwortungsbewusst, wenn man europäische Behörden einrichten will, aber im Krisenfall die Folgen von den Mitgliedstaaten getragen werden müssen. Ich glaube, dass eine Lehre dieser Finanzkrise darin bestehen muss, Handeln und Haften zusammenzuführen. Insofern mahne ich, dies nicht durch neue Institutionen oder Organisationsfehler auseinanderfallen zu lassen. ({0}) Ich halte es auch für riskant, eine Krise, die möglicherweise durch kollektives Versagen vieler Beteiligter entstehen konnte, dadurch lösen zu wollen, dass man jetzt die Entscheidungen, die bisher viele getroffen haben, in einer Behörde zentralisiert. Wenn dann eine Fehlentscheidung getroffen wird, ist die Wirkung umso schlimmer. Die spanische Finanzaufsicht beispielsweise hat den spanischen Banken untersagt, diese vergifteten Finanzprodukte aufzulegen. Wir müssen uns die Frage stellen, weshalb die kritische spanische Aufsicht, die sich letzten Endes als richtig erwiesen hat, nicht europaweit die nötige Aufmerksamkeit gefunden hat. Mein Vorschlag ist, die Aufsicht international zu koordinieren. Wir dürfen sie aber nicht zentralisieren, sondern müssen die nationalen Aufsichtsbehörden besser miteinander vernetzen. Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu diesem Punkt. Wenn man sich in Brüsseler Fluren darüber streitet, wo der Sitz einer solchen europäischen Finanzaufsichtsbehörde sein könnte, dann ist das ein verdammt kleines Karo vor dem Hintergrund der globalen Krise. Ich rate uns dazu, von solchen Kuhhandeln Abstand zu nehmen und durch eine Vernetzung der bestehenden nationalen Einrichtungen eine globale Lösung in Angriff zu nehmen. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der aus meiner Sicht in der gesamten Debatte über die Wirtschafts- und Finanzkrise zu kurz kommt, nämlich die persönliche Verantwortung der Akteure, die die Ursachen für diese Krise geschaffen und unternehmerische Fehlentscheidungen getroffen haben. Es kann doch nicht angehen, dass wir eine Art Softkriminalität in Vorstandsetagen hinnehmen, die dadurch zustande kommt, dass man mit dem System von Bonuszahlungen Handeln im Eigeninteresse fördert und unternehmerische Entscheidungen letztlich nicht im Interesse des Unternehmens, der Kunden und schon gar nicht der Beschäftigten getroffen werden. ({1}) Wenn wir solche Fehlentscheidungen dadurch korrigieren, dass wir Steuergelder der kleinen Leute einsetzen, dann liegt es nahe, dass das Vertrauen in das Funktionieren der sozialen Marktwirtschaft untergraben wird. Deswegen rate ich dazu, dass wir dort, wo die Gelegenheit besteht, die Akteure in Haftung nehmen. Vorstände von Aktiengesellschaften sind schadenersatzpflichtig. Sie haften mit ihrem vollen Privatvermögen für ihr Tun. ({2}) Es ist nicht hinnehmbar, dass unternehmerische Fehlentscheidungen mit Abfindungen, Bonuszahlungen und Auszahlungen der Rente in Millionenhöhe belohnt werden und dies zum Teil noch gerichtlich eingeklagt wird. Stattdessen sollten wir den Spieß umdrehen und die Handelnden in Haftung nehmen. Wenn man das angehen will, braucht es einen Kläger. Wenn der Bund in die Verlegenheit kommen sollte, sich an Aktiengesellschaften wie der Hypo Real Estate zu beteiligen, dann ist die Gelegenheit, ernsthaft zu prüfen, inwieweit die Handelnden in Form von Schadenersatzleistungen herangezogen werden können, und damit dafür zu sorgen, dass Handeln und Haften wieder zusammengeführt werden. Ich bitte darum, dass die Bundesregierung in diesem Sinne tätig wird, bevor wir entsprechende Anträge vorlegen müssen. ({3}) Darin liegt für uns durchaus die Chance, insoweit auch in der Europäischen Union stilbildend und vertrauensbildend zu wirken und zu versuchen, das, was an Vertrauen zerstört worden ist, so weit wie möglich wiederherzustellen. Erlauben Sie mir noch eine kritische Anmerkung zu den bevorstehenden Verhandlungen in der Europäischen Union. Ich glaube, wir haben alles getan, was in unseren Möglichkeiten steht. Wir sind bis an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit gegangen. Deswegen muss jetzt wieder ein Konsolidierungskurs eingeschlagen werden. Ich rate dazu, diese Krise nicht dazu zu missbrauchen, neue Sünden zu begehen, von einem Sonderfonds für osteuropäische Staaten über Euroanleihen, die Ausweitung des Globalisierungsfonds bis hin zum Aufschnüren der Finanziellen Vorausschau und allem, was das Sündenregister sonst noch umfasst. Im Zweifel sollte das Beichtstuhlverfahren, für das die europäischen Gipfeltreffen berühmt sind, wieder zur Anwendung kommen, aber es sollte keine Absolution erteilt werden, wenn man nicht von diesen Sünden lassen will. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Kurt Bodewig für die SPD-Fraktion. ({0})

Kurt Bodewig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003051, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Debatte soll man auch auf die Redebeiträge der anderen eingehen. Eine kurze Anmerkung zur Rede des Kollegen Silberhorn: Das Haftungsrecht besteht; wir müssen es nur anwenden. Das ist keine gesetzgeberische Frage, sondern eine Frage der Kultur in den Unternehmen. Auf diese können wir gemeinsam einwirken. ({0}) Ich gehe gerne noch auf die populistische Kurzintervention ein. Ich möchte den Bundeswirtschaftsminister ausdrücklich in Schutz nehmen. Eine solche Rede, Herr Westerwelle, wie Sie sie gehalten haben, würde er niemals halten; das ist eine wichtige Grundvoraussetzung. Ihre sehr eigenartige, unverhohlene Sympathie für Steueroasen - diese sind nichts anderes als der Zufluchtsort für Steuerhinterzieher - teilt niemand in der Bundesregierung und der Koalition; das sollten wir ausdrücklich feststellen. Ich glaube, Sie haben sich Ihren neuen Spitznamen zu Recht erarbeitet. ({1}) - Ihre Egopflege dürfen Sie selbst betreiben. ({2}) Ich fahre fort und gehe auf die Bemerkungen des Bundesfinanzministers ein. Ich glaube mich richtig zu erinnern, dass er die Schweiz mit keinem Wort erwähnt hat. Er hat von den Instrumentarien der OECD gesprochen. Die heftige Reaktion in der Schweiz dokumentiert - das ist sehr interessant -, dass man sich dort offenbar angesprochen fühlt. Auch das sollten wir wahrnehmen. ({3}) Ich möchte eigentlich noch auf einen anderen Punkt eingehen, der heute und morgen eine besondere Rolle spielt, nämlich das Zusammenwirken der europäischen Staaten bei der Energieversorgungssicherheit; die Bundeskanzlerin hat das bereits angesprochen. Das wird ein Thema sein, in der Zeit bis zur Klimakonferenz in Kopenhagen. Wir sollten uns die Barroso-Vorschläge sehr genau anschauen; denn das, was er im Moment macht, ist nichts anderes als eine Reise der Wahlgeschenke, die seiner Wiederwahl als Kommissionspräsident dient. Er macht Programmvorschläge, die das Thema Konjunkturprogramm in keiner Weise berühren. Seine vorgeschlagenen Programme sind nicht geplant und stehen zurzeit nicht an. Sie werden daher auch keine konjunkturelle Wirkung haben. Das alles passt nicht an diese Stelle. Sicherlich handelt es sich um wichtige Projekte; aber sie gehören in das ganz normale Haushaltsverfahren der EU. Es dürfen aber nicht infolge der Krise Geschenke verteilt werden, da sonst nur Mitnahmeeffekte erzielt würden. Da diese Projekte trotzdem wichtig sind, müssen wir neben der konjunkturellen Wirkung darüber nachdenken - dabei geht es nicht um neues Geld -, was wir nach der Überwindung der Krise in der Konsolidierungsphase tun werden. Dann können diese Projekte wieder eine Rolle spielen. Aber sie dürfen nicht verzerrend wirken. Nabucco ist genauso wichtig wie Nord Stream. Interkonnektoren sind in den Ostseeanrainerstaaten genauso wichtig wie in Südosteuropa. All das führt dazu, dass wir die künstliche Trennung etwa im Energieversorgungsbereich zwischen Ost und West in Europa aufheben können. Darüber sollten wir schon heute nachdenken; das ist mir sehr wichtig. Die BarrosoVorschläge dürfen nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führen. Das Problem ist, dass dann bereits geplante Investitionen zurückgestellt würden, weil man sich Mitnahmeeffekte erhofft. Wir sollten das fortsetzen, wofür Deutschland steht und was wir seit zehn Jahren sehr intensiv betreiben. Energieeffizienz stellt eine Haupteinsparquelle dar. Wir wollen die erneuerbaren Energien und Energieformen, die nicht belastend wirken. Deswegen ist Offshore ein ganz wichtiges Thema. Hierbei handelt es sich übrigens um eine der Technologien, die im Obama-Programm mit 3,2 Milliarden US-Dollar Forschungsmitteln begleitet wird. Wir haben hier Planungen und eine entsprechende Technologie. Wir sollten daher auch zur Anwendung kommen. Ich glaube, wir Europäer haben große Chancen, die Meinungsführerschaft auszuüben. Voraussetzung ist aber, dass wir Geschlossenheit zeigen. In diesem Sinne dienen die Barroso-Vorschläge eher der Ablenkung als der Konzentration und Fokussierung auf dieses Thema. Ich möchte noch andere Bereiche ansprechen. Wir brauchen in der Konsolidierungsphase Investitionen, die sich rechnen und gleichzeitig den neuesten Stand der Technologie abbilden. Ein Beispiel ist die betriebsoptimierte Anlagetechnologie in der deutschen Braunkohleindustrie. Diese Technologie könnte in China den Wirkungsgrad bei der Steinkohleverwertung verfünffachen, vielleicht sogar versiebenfachen. Das wäre eine Investition für den Klimaschutz. Gleichzeitig hätte diese große Technologie eine Anreizfunktion und würde sich auf die deutsche Wirtschaft, an der mir sehr gelegen ist, positiv auswirken. Wir haben also etwas vorzuweisen; auch CCS und andere Verfahren sind in diesem Bereich außerordentlich zukunftsträchtig. Ich würde mich freuen, wenn der Europäische Rat die Gelegenheit nutzen würde, strategisch über die Initiierung von zukunftsfähigen Investitionen zu sprechen, anstatt länderausgewogen alle Teile Europas mit kleinen 100-Millionen-Euro-Projekten zu unterstützen. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Diese Form der Unterstützung müssen wir auf den Prüfstand stellen. Gleichzeitig muss ein Appell des ganzen Hauses erfolgen, Europa so zu entwickeln, dass wir selber die Zukunft gestalten können. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Schluss dieser Debatte zeigt sich, dass keiner von uns wirklich sagen kann, ob wir am Anfang oder am Ende dieser Krise stehen und welche Herausforderungen wir noch bewältigen müssen. Doch eines möchte ich zu Beginn meiner Ausführungen klarstellen: Ich glaube, dass wir diesen Herausforderungen in einer Position der Stärke gegenüberstehen. Deutschlands Volkswirtschaft ist so stark wie seit langem nicht mehr. Wir haben eine starke handlungsfähige Regierung, ({0}) auch aufgrund dessen, dass wir drei Jahre lang Haushaltskonsolidierung betrieben haben. ({1}) Wir haben ein starkes dreigliedriges Bankensystem. Trotz aller Probleme sorgt es dafür, dass auch in der Fläche Kredite vergeben werden. Außerdem haben wir nach drei Boomjahren eine starke deutsche Wirtschaft. Wir befinden uns also in einer Position der Stärke. Das ist gerade in der jetzigen Zeit für uns enorm wichtig. ({2}) Heute, am Tag des Zusammentreffens des Europäischen Rates, und wenige Tage vor dem G-20-Treffen in London müssen wir die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Viele meiner Vorredner gingen auf diese Schlussfolgerungen ein. Ich möchte nur einen Punkt herausgreifen, der mir besonders wichtig ist: Ein Hauptauslöser der Krise war eine maßlose und oftmals auf Schulden basierte Ausgaben- und Liquiditätspolitik aller Finanzmarktteilnehmer: der Zentralbanken, der Regierungen, der Wirtschaft und auch der Privathaushalte. Diese maßlose Politik hat dazu geführt, dass eine Blase, größtenteils in den USA, entstanden ist. Als diese Blase geplatzt ist, hat dies die Volkswirtschaften der Welt in die Krise gestürzt. Ich nehme deshalb diejenigen, die jetzt besorgt vor weiteren größeren Ausgaben warnen, ernst. Ich habe heute gelesen, dass die Fed 1 Billion USDollar in den Markt pumpen will. Das erfüllt mich persönlich mit Sorge. Vor einem solchen Handeln auch in Europa müssen wir warnen. Deshalb bin ich dankbar, dass die Bundeskanzlerin und der Finanzminister Forderungen nach weiteren Konjunkturprogrammen aus den USA, England und Japan eine klare Absage erteilt haben. Eine solide Haushalts- und Finanzpolitik ist ein Garant für das Vertrauen, das wir so dringend brauchen. ({3}) Ich finde es besorgniserregend, dass entgegen allen Beteuerungen seit dem G-20-Gipfel in Washington im November letzten Jahres 17 der dort vertretenen Staaten insgesamt 47 neue Handelsbeschränkungen verfügt haben. Wichtiger denn je ist deshalb ein Fortführen und Aktivieren der Doha-Runde und der WTO-Gespräche. Protektionistischen Tendenzen muss vor allem in dieser Krise Einhalt geboten werden. Davon profitiert Deutschland. ({4}) - Frau Künast, davon profitieren vor allen Dingen auch die Schwellen- und Entwicklungsländer, die aus einem fairen und freien Welthandel großen Nutzen ziehen. Aber nicht nur die Doha-Runde und die WTO-Gespräche sind eine wichtige Komponente. Auch die Märkte, insbesondere der europäische Binnenmarkt und der US-Markt, sind ein Motor der Weltwirtschaft. Diese beiden Märkte machen 60 Prozent der weltweiten Einkommen aus und vereinen über 70 Prozent der weltweiten Direktinvestitionen auf sich. Allein diese beiden Märkte nehmen 40 Prozent aller Exporte der Entwicklungs- und Schwellenländer auf. Daraus entsteht eine enorme Wirtschaftskraft, aber auch eine enorme Verantwortung für diese beiden Wirtschaftszweige. Aus diesem Grund ist der von Bundeskanzlerin Angela Merkel initiierte Transatlantische Wirtschaftsrat wichtiger denn je. Er sorgt dafür, dass Handelshemmnisse abgebaut werden und der Welthandel wieder funktioniert. ({5}) Wer die Warenströme kennt, weiß, dass dies sowohl für unsere Automobil- und Chemieindustrie als auch für die Energie- und Umwelttechnologien wichtig ist. In diesen Bereichen können wir ebenso wie im Sicherheits- und im Umweltbereich Standards in der Welt setzen und damit zu einem Vorreiter für andere Länder werden. Eine erfolgreiche Fortsetzung der Gespräche im Transatlantischen Wirtschaftsrat hat deshalb nicht nur für Europa, sondern auch für das Weiße Haus und die Obama-Administration oberste Priorität. Dies stimmt mich zuversichtlich. Dieses Instrument stellt zugleich eine ganz wichtige Antwort auf die derzeitige Krise dar. Meine Damen und Herren, wir haben jetzt die Chance, zu einem entscheidenden Durchbruch zu kommen. Dass wir global handeln und diese Chance nutzen müssen, liegt auf der Hand. Die Weltwirtschaft kann aus dieser Krise gestärkt hervorgehen. Für die EU und die USA ist dies von besonderer Bedeutung. Lassen Sie mich zum Schluss dieser Debatte betonen, dass auch wir in Europa für mehr Handelsfreiheit sorgen müssen. Diese Gunst der Stunde sollten wir jetzt nutzen. Herzlichen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu den Abstimmungen über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12296? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Ko- alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12297? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsan- trag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 16/12298 soll zur federfüh- renden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- schen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einver- standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis g auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Fritz Kuhn, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Energiewende vorantreiben - Atomausstieg fortsetzen - Drucksache 16/12288 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verantwortlichkeiten für die Zustände im Endlager Asse II benennen und Konsequenzen für die Endlagersuche ziehen - Drucksache 16/10359 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz nehmen - Drucksachen 16/6319, 16/7882 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Angelika Brunkhorst Hans-Kurt Hill d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Sicherheit geht vor - Besonders terroranfäl- lige Atomreaktoren abschalten - Drucksachen 16/3960, 16/8469 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Angelika Brunkhorst Hans-Kurt Hill e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraft- werke in Osteuropa - Drucksachen 16/11764, 16/12312 - Berichterstattung: Abgeordnete Christian Hirte Angelika Brunkhorst Hans-Kurt Hill f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia KottingUhl, Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine Schließung des Forschungsendlagers Asse II unter Atomrecht und eine schnelle Rückholung der Abfälle - Drucksachen 16/4771, 16/12270 Berichterstattung: Abgeordnete Axel E. Fischer ({6}) Dr. Ernst Dieter Rossmann Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Cornelia Pieper Priska Hinz ({7}) g) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Cornelia Pieper, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Informations-Materialien der Bundesregierung zum Thema „Fakten und Kontroversen zum so genannten Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie“ für Kinder und Heranwachsende - Drucksachen 16/9509, 16/11343 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Grünen haben diese Debatte über die Energiewende und den Atomausstieg beantragt, weil unser Land vor einer energiepolitischen Richtungsentscheidung steht. Es geht darum, wie die Energie der Zukunft aussehen soll: Wollen wir auf erneuerbare Energien oder auf die Renaissance der Atomkraft setzen? Wir Grüne setzen auf erneuerbare Energien und sagen: Eine Renaissance der Atomkraft und erneuerbare Energien - beides zusammen geht nicht; wir müssen uns entscheiden. ({0}) Warum geht das nicht? Man denkt ja zuerst einmal, es könnte sein. Auch die Bundesregierung sagt, dass der Anteil der erneuerbaren Energien im Jahr 2020 30 Prozent betragen soll, wir Grünen wollen mehr, nämlich über 40 Prozent, und die Unternehmen im Sektor erneuerbare Energien sprechen sogar von 47 Prozent. Wir wissen, dass davon ein großer Anteil Windenergie sein wird. Auch wenn wir immer besser prognostizieren können, wann der Wind weht, und auch wenn die großen Windkraftanlagen auf dem Meer kontinuierlicher Strom liefern, so wissen wir doch, dass es Zeiten gibt, in denen der Wind nicht weht. Das heißt, dass wir zusätzlich zu den erneuerbaren Energien Kraftwerke brauchen, die schnell und flexibel hoch- und heruntergefahren werden können und die erneuerbaren Energien ergänzen können. Dazu taugen Atomkraftwerke nicht. ({1}) Sie sind langsam, sie sind schwerfällig, und sie sind unflexibel. Wenn man sie hoch- und herunterfahren würde, würden sie auch noch ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. Das funktioniert nicht. Dass das nicht nur unsere Meinung ist, haben wir gerade erfahren. Die Briten setzen bekanntlich auf Atomkraft. Deshalb haben sie bei den großen Energiekonzernen eine Stellungnahme darüber angefordert, wie sich der Ausbau der erneuerbaren Energien in Großbritannien darstellt. Eon und EDF sagen, dass Großbritannien den Ausbau der erneuerbaren Energien beschränken müsse, wenn der Ausbau der Atomkraft gewünscht werde. EDF spricht von einer Deckelung bei 20 Prozent, Eon geht etwas darüber hinaus. Das heißt, nicht nur wir Grünen, sondern auch die Energiekonzerne sind der Meinung, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien mit dem Ausbau der Atomkraft nicht zusammengeht. Deshalb muss doch die Alternative heißen: Ja zu den erneuerbaren Energien. ({2}) Wir sind aber auch für den Atomausstieg, weil Atomkraft lebensgefährlich ist. Sichere Atomkraftwerke gibt es nicht. Je älter ein Atomkraftwerk ist, desto gefährlicher ist es. Kein Atomkraftwerk der Welt wäre vor einer Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion oder in Harrisburg in den USA gefeit. Wer von uns hätte gedacht, dass wir vor drei Jahren in dem Land mit der größten Sicherheitskultur, in Schweden, fast einen GAU in einem Atomkraftwerk gehabt hätten? Das war in Forsmark. Der Chef dieses AKWs hat gesagt: Ich hätte das nicht für möglich gehalten. - Es war aber doch möglich, und es bleibt möglich. Weil wir diese Möglichkeit ausschließen wollen, wollen wir raus aus der Atomkraft. Wir wollen dieses Risiko nicht. ({3}) Wir sind für den Atomausstieg, weil Atomkraft schmutzig ist. Ich wundere mich immer über Plakate, auf denen steht, Atomkraft sei saubere Energie. Das, finde ich, ist absurd und unverfroren. Eine Technik, die Atommüll produziert, der für Hunderttausende von Jahren gefährlich ist, von dem wir nicht wissen, wo er gelagert werden kann, erzeugt keine saubere Energie. Diese Behauptung ist falsch. ({4}) Atommüll ist giftig, Atommüll strahlt, und wir wissen nicht, wohin damit. Wir haben das Problem der Endlagerung überhaupt nicht gelöst. Wenn man sich den Skandal bei dem Versuchslager Asse anschaut, dann sieht man: Strahlenmüll kann nicht sicher eingeschlossen werden. In Asse ist in einem Bergwerk, das für Hunderte von Jahren als sicher galt, Müll ausgesifft. Das funktioniert also nicht. Das Atommüllproblem ist nicht gelöst. Die Endlagerfrage ist nicht beantwortet. Wir wollen deshalb mit dem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke die Probleme mit dem Atommüll nicht verstärken. Wir fordern den Atomausstieg, damit das Problem des Atommülls endlich ein Ende hat. ({5}) Wir sind für den Atomausstieg, weil Atomkraft teuer ist. In Finnland sind die Kosten des Reaktorbaus von 3 Milliarden Euro auf mittlerweile 4,5 Milliarden Euro gestiegen. Wer zahlt das? Es sind der deutsche und der französische Steuerzahler. Eine halbe Milliarde Euro zahlt Siemens - damit hat Siemens weniger Gewinn -, und 1 Milliarde Euro zahlt der französische Steuerzahler, weil EDF an dem Kraftwerksbau beteiligt ist. Es ist also keinesfalls so, dass Atomkraft billig ist. Sie ist günstig für die Konzerne, aber nicht günstig für die Gesellschaft; denn alle Kosten, zum Beispiel die, die mit der Endlagerung verbunden sind, muss am Ende der Steuerzahler tragen. So verschlingen zum Beispiel die Asse oder Morsleben Milliarden. Diese wird am Ende der Steuerzahler zahlen müssen. Atomkraft kommt uns also teuer zu stehen. Deshalb wollen wir die Atomkraft nicht. ({6}) Atomkraft ist aber auch überflüssig. Wir brauchen keine Atomkraft. Die Atomkraftwerke Brunsbüttel, Krümmel, Biblis A und Biblis B waren in den letzten zwei Jahren im Schnitt neun Monate am Netz, also nur in etwas mehr als einem Drittel der Zeit. Das heißt, diese Atomkraftwerke wurden in einem Großteil der Zeit überhaupt nicht betrieben. Teilweise waren sieben Atomkraftwerke gleichzeitig abgeschaltet. Haben Sie irgendwo gesehen, dass eine Lampe geflackert hat? Haben Sie irgendwo gesehen, dass ein Kühlschrank ausgefallen ist? Nein, im Gegenteil: Deutschland hat in dieser Zeit enorm viel Strom exportiert. Deshalb gilt: „Stromlücke“ ist eine Stromlüge. Wir haben genug Strom, auch ohne die Atomkraftwerke. ({7}) Das ist in vielen Studien, die von der Bundesregierung selbst in Auftrag gegeben worden sind, bewiesen. Das heißt, wir haben genug Strom. Es geht ohne Unfallrisiken, ohne Terrorgefahren und ohne Strahlenmüll. Deshalb sagen wir: Wir wollen raus aus der Atomkraft. Wir werden die Debatte darüber in den kommenden Monaten führen. Die Menschen haben ein Recht darauf, die Argumente zu hören. Sie sollen wissen, dass wir an der Weggabelung stehen. Sie sollen wissen: Wir müssen uns entscheiden, ob wir eine Renaissance der Atomkraft oder ob wir erneuerbare Energien wollen. Wir als Grüne sagen: Wir gehen den Weg der erneuerbaren Energien. Wir wissen: Die Mehrheit der Bevölkerung wird uns folgen. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Christian Hirte. ({0})

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist zwar bald Ostern; die Anträge der Grünen erinnern aber eher an das alte Weihnachtslied „Alle Jahre wieder“: Jahr für Jahr legen uns die Grünen Anträge zum Atomausstieg oder zumindest zur Fortsetzung des Atomausstiegs vor, ({0}) jeweils in leicht abgewandelter Form, um ihnen einen neuen Anstrich zu geben. Indes bleiben die Anträge die alten - so wie die Sachlage. Geändert hat sich vielleicht nur die Auffassung der Bevölkerung. Dort ist nämlich eindeutig eine Trendwende hin zur Kernenergie zu bemerken. ({1}) Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid sprechen sich mittlerweile 48 Prozent der Deutschen für eine Verlängerung der Laufzeiten aus, nur 42 Prozent dagegen. ({2}) Das Bundesumweltministerium hatte auf seiner Homepage die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, in der sich immerhin 57 Prozent der Teilnehmer für eine Verlängerung der Laufzeiten ausgesprochen haben. ({3}) Diese Ergebnisse haben dort bekannterweise nicht lange gestanden. Das DIW konstatiert, dass sich dieser Trend zu einem Ja für längere Laufzeiten noch verstärkt. Der Neuaufguss der Grünen-Anträge ist durchaus nachvollziehbar - Frau Höhn hat das gerade ausgeführt -: Uns steht ein Wahlkampf bevor, und die Grünen hoffen natürlich, ihre bei diesem Thema abtrünnige Klientel im Wahljahr wieder auf Kurs zu bringen. ({4}) Dieses Thema ist allerdings zu ernst, um es für rein wahlkampftaktische Manöver zu missbrauchen. Wir alle sind uns dem Grunde nach darin einig, dass Kohlendioxid einen wesentlichen Anteil am vom Menschen verursachten Treibhauseffekt hat. Deutschland ist mit knapp einem Viertel der größte Treibhausgasproduzent in der Europäischen Union. Daher stellt sich für uns die He-rausforderung einer schnellen CO2-Reduktion in besonderer Weise und Verantwortung. Zentrales politisches Anliegen der Energiepolitik muss aber sein - obwohl es leider keine SelbstverständChristian Hirte lichkeit mehr ist -: eine sichere Energieversorgung bei möglichst geringer Importabhängigkeit für die Bürger und für die Wirtschaft zu bezahlbaren Preisen - und dies alles mit möglichst niedrigen CO2-Emissionen. ({5}) Aus diesem Spannungsfeld ergibt sich sodann die grundlegende Frage: Wie können wir unsere Klimaziele erreichen, ohne dabei die Versorgungssicherheit und die Wirtschaftlichkeit zu vernachlässigen? Bei der Energieerzeugung gibt es sicherlich keinen Königsweg. Aus diesem Grunde ist es nach wie vor vernünftig, auf ein breites Fundament zurückzugreifen. Auch die Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung“ erwartet, dass die Kraftwerkskapazitäten in den nächsten Jahren weiter erhöht werden müssen. Es wird sogar davon ausgegangen, dass in den kommenden Jahren bis 2020 ein Ersatzbedarf bei der Kraftwerksleistung von etwa 40 Gigawatt vorliegt; das ist mithin ein Drittel der derzeitigen Kraftwerkskapazitäten. Das verdeutlicht die Brisanz und auch die Dimension, vor der die deutsche Energiewirtschaft steht. Die Anträge der Opposition enthalten zwar jede Menge Forderungen, eine konkrete Antwort auf die Frage, wie Deutschland diesen immensen Energiebedarf decken soll, aber leider nicht. ({6}) Deutschland braucht also zumindest mittelfristig einen vielfältigen Energiemix. Entgegen dem, was Frau Höhn gesagt hat, geht doch beides, sowohl erneuerbare Energien als auch Kernkraft. Ich meine sogar: Beides bedingt einander, weil die Kernkraft kostenbewusst ermöglicht, die erneuerbaren Energien zu unterstützen. ({7}) Wenn die erneuerbaren Energien dem Ziel der Bundesregierung entsprechend bis 2020 etwa 20 bis 30 Prozent der Stromerzeugung leisten, heißt das im Umkehrschluss, dass 70 bis 80 Prozent der Stromerzeugung weiter aus konventionellen Kraftwerken kommen müssen. ({8}) Wir brauchen in Deutschland also auch künftig neue und effiziente Kraftwerke, das heißt auch Gas- und Kohlekraftwerke. Einerseits wehrt man sich gegen konventionelle Kraftwerke. Andererseits sind wir uns darüber im Klaren, dass kurzfristig die erneuerbaren Energien noch nicht den gesamten Energiebedarf decken können. Wir müssen uns also Alternativen überlegen. Wir wissen, dass die Stromerzeugung überwiegend aus Gas erfolgt, das wir importieren. Wenn wir nur auf Gas setzten, weil konventionelle Kohlekraftwerke abgelehnt werden, würde das dazu führen, dass wir in relativ kurzer Zeit über 70 Prozent des importierten Gases aus Russland beziehen müssten. ({9}) Was eine derartig große Importabhängigkeit von ausländischem Gas bedeuten kann, haben wir am Beispiel der Ukraine vor einiger Zeit erlebt. Ich will jetzt gar nicht auf die Nachteile des Methans eingehen - dieser Hauptbestandteil von Erdgas ist selbst ein Treibhausgas -, sondern nur kurz darauf verweisen, ohne das näher erläutern zu wollen, dass die russischen Pipelines, auch was die Dichtigkeit angeht, sicherlich nicht den deutschen Maßstäben entsprechen und damit die Energiebilanz von Gas nicht so positiv ist, wie sie manchmal dargestellt wird. ({10}) Aus diesen Gründen halte ich eine Energieversorgung für richtungsweisend, die die Abhängigkeit von anderen Staaten auf ein erträgliches Maß reduziert. ({11}) Ich erspare mir an dieser Stelle weitere Ausführungen. Ich habe aber den Eindruck, dass die Opposition keine eigenen Optionen liefert. ({12}) - Moment! - Es ist nach wie vor die Auffassung der Union, dass wir derzeit, auch als Überbrückung, auf die Kernenergie nicht verzichten können. Die Kernenergie ist nämlich die einzige sofort verfügbare Energieform, die praktisch keine klimaschädlichen Abgase produziert. ({13}) Ich will dieses Mal nicht umfangreich auf die Kernkraft eingehen - dazu wird die weitere Debatte sicherlich noch Gelegenheit bieten -, aber abschließend Stephen Tindale, den ehemaligen Direktor von Greenpeace, wörtlich zitieren: Es war ein wenig wie eine religiöse Bekehrung. Gegen die Kernkraft zu sein war lange Zeit eine essentielle Position, wenn man Umweltschützer war. Aber nun, wenn ich mit anderen Umweltschützern darüber spreche, ist die Ansicht tatsächlich ziemlich weit verbreitet, dass die Kernkraft zwar nicht ideal, aber immer noch besser als der Klimawandel sei. Vielen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kollegin Angelika Brunkhorst. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns liegen sechs Anträge der Grünen vor, Frau Höhn, aus dem von Ihnen auserkorenen Lieblingsfeld Kernenergie. Es ist immer wieder dieselbe Predigt, es sind immer wieder dieselben von Ihnen auch gerade wieder beschriebenen Angstszenarien. Liebe Grüne, die Menschen im Lande haben eine sehr viel differenziertere Meinung zur Energiepolitik, als Ihnen lieb sein dürfte. Sie erkennen nämlich an, dass wir in Zukunft weiter einen Energiemix brauchen, auch im Hinblick auf Versorgungssicherheit und Qualitätssicherung, und dass der Energiemix uns bezahlbare Energie liefert. ({0}) Viele wissen schon, dass wir den Energiemix technologisch hoch anspruchsvoll und umweltschonend ausgestalten können. ({1}) Was die Akzeptanz der Kernenergie im Lande angeht, so möchte ich gern, auch wenn Herr Hirte das schon getan hat, auf die Onlinebefragung des BMU zu sprechen kommen, und zwar wonnevoll. 57 Prozent der Befragten - immerhin waren das mehr als 14 700 - haben sich zum Ausstieg aus dem Ausstieg bekannt, und nur 28 Prozent wollten am Ausstieg festhalten. Aber die Umfrage ist ja ganz schnell wieder von der Internetseite des Umweltministeriums heruntergenommen worden. Sie von den Grünen versuchen nun auch in Ihrem aktuellsten Antrag, den Nutzen der Kernenergie ganz bewusst kleinzureden. Sie sprechen davon, dass sie nur ganz wenig Energie bereitstelle, nämlich nur 6 Prozent, vergessen dabei aber, zu erwähnen, dass die Kernenergie zumindest zur Grundlaststromversorgung 45 Prozent beiträgt, also eine der Hauptsäulen darstellt. ({2}) - Das steht in einer neuen Broschüre des Bundeswirtschaftsministeriums. Ich kann sie Ihnen gerne geben. Die Kernenergie produziert CO2-freien Strom. ({3}) Immerhin 150 Millionen Tonnen CO2 werden gespart. Das ist ein Segen für unser Klima. Auch die FDP setzt auf den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Deren Anteil wird auf jeden Fall steigen. Wir erkennen auch die technologische Leistung an; das ist gar keine Frage. ({4}) Wir wünschen uns aber, dass die erneuerbaren Energien passgenau und umweltverträglich ausgebaut werden - da gibt es Probleme; das wissen auch Sie -, und wir wollen vor allen Dingen, dass sie nicht zulasten anderer Nutzungsoptionen, jedoch zu möglichst günstigen und marktfähigen Preisen ausgebaut werden. Das ist uns ganz wichtig; das ist nämlich auch eine soziale Frage. Ihre Vision einer Energieversorgung überwiegend aus erneuerbaren Energien ist ambitioniert. Die können Sie gerne vertreten; das ist Ihre Sache. Mich stört aber der Absolutheitsanspruch, mit dem Sie sie vertreten: nur Erneuerbare und nichts anderes. Ich sehe das etwas anders. Ich glaube, dass wir heute und auch zukünftig noch eine lange Weile einen Dreiklang aus erneuerbaren Energien, aus konventionellen und hoffentlich modernisierten Kraftwerken sowie aus Kernenergie haben werden. Diese drei werden also noch länger Schwestern im Netz bleiben. Darauf setzt die FDP. Schauen wir einmal, was unsere europäischen Nachbarn machen. Nur einige Beispiele: In Finnland ist der EPR-Reaktor im Bau, weitere sind geplant. Auch Italien steigt jetzt wieder in den Bau von Kernkraftwerken ein. ({5}) Schweden hat seinen Ausstiegsbeschluss von 1980 zurückgenommen und will nun wieder in die Kernenergie einsteigen, und auch viele osteuropäische Länder wollen alte Reaktoren durch neue Reaktoren ersetzen. Just in diesem Moment fordern Sie den Ausstieg aus der Europäischen Atomgemeinschaft. Ich finde, das Verbleiben in EURATOM ist gerade jetzt so wichtig wie nie zuvor. Weil so viele Reaktoren in west- und osteuropäischen Ländern hinzukommen, ist EURATOM wichtiger denn je. Wir brauchen nämlich den Austausch technologischen Wissens, wir brauchen die gemeinsame Forschung, und wir brauchen vor allen Dingen eine gemeinsame, hochambitionierte Sicherheitsarchitektur. All das kann man gut über EURATOM erreichen. Der Vertrag über EURATOM könnte sicherlich modifiziert werden; dagegen hätten wir nichts. ({6}) Konkret zu Ihrem aktuellsten Antrag: Sie beklagen darin ungeniert Zustände, die Sie in den sieben Jahren von Rot-Grün, in denen Sie mitregierten, hätten ändern bzw. bei denen Sie Veränderungen hätten in Gang setzen können. ({7}) Sie beschwören insbesondere immer wieder die ungelöste Endlagerfrage. ({8}) Sie haben damals den AK End installiert. Dessen Bericht wurde nie ausgewertet. Herr Trittin hat diverse Gutachten in Auftrag gegeben, die nie veröffentlicht, sondern gleich immer wieder einkassiert wurden, weil die Ergebnisse nicht so ganz passten. ({9}) Herr Trittin, Sie haben ein zehnjähriges Moratorium für Gorleben verfügt, Ihre Kollegen schreiben nun aber im aktuellsten Antrag - ich zitiere -: Die umstrittene Erkundung am Standort Gorleben beruht nicht auf dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik. Ja, was denn? Das Moratorium lässt nichts anderes zu. Dann fordern Sie auch noch, das Moratorium zu verlängern. Das ist Politik aus dem Tollhaus. ({10}) Das Thema nukleare Sicherheit, Frau Höhn, ist uns Liberalen auf jeden Fall sehr wichtig. Wir wollen aber Erkenntnisgewinn, der zu konkreten und vor allen Dingen auch zeitnahen Lösungen führt. Ein solches Bestreben konnte ich bei Ihnen bislang überhaupt nicht erkennen. ({11}) Ich habe eher den Eindruck, die Grünen leben davon, eine nukleare Unsicherheit zu beschwören, weil ihnen das hilft, eine möglichst gute Argumentationskette für den Ausstieg in der Hand zu haben. Abschließend möchte ich zu den Anträgen, die Sie hier heute vorgelegt haben, Folgendes sagen: Sie haben eine Kleine Anfrage zur nuklearen Sicherheit gestellt. Diese erweckt bei mir persönlich und wohl auch bei einigen anderen den Eindruck, dass es Ihnen wiederum nur darum geht, quantitativ möglichst viele Unsicherheitsfragen aufzuwerfen und damit zu suggerieren, diese Fragen seien nicht zu lösen. Aber wir wollen sie lösen. ({12}) Sie wissen ganz genau, dass die Asse II einen neuen Betreiber hat und in einer neuen Zuständigkeit liegt. Wir sind zuversichtlich, dass man jetzt ernsthaft die Endlagerfrage angehen will. Ich bin Herrn Gabriel durchaus dankbar, dass er sich - zumindest vorübergehend - dafür sehr eingesetzt hat. Ich hoffe, dies bleibt auch so. Ich mache einen Schnitt und komme noch auf unsere Große Anfrage zu den Unterrichtsmaterialien „Einfach abschalten?“ des Bundesumweltministeriums zu sprechen. Ich möchte vorab sagen, dass es gewisse Grundsätze gibt, wie man politische Bildungsarbeit zu gestalten hat. Dazu gehört der sogenannte Beutelsbacher Konsens von 1976. Darin ist ein Überwältigungsverbot enthalten. Das heißt, politische Bildung soll nicht indoktrinieren. Weiter heißt es: Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen … Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren … Heranwachsende sollen also unterstützt werden, eine eigene Meinung bilden zu können. Sie sollen hierzu umfassend informiert und nicht beeinflusst werden. Da sind wir uns, glaube ich, alle einig. Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zu dem Beutelsbacher Konsens. Wir wundern uns allerdings sehr, dass in den Unterrichtsmaterialien „Einfach abschalten?“ dieses Bekenntnis untergraben wird. Einleitend steht darin: Mit Hilfe der vorliegenden Materialien sollen die Schülerinnen und Schüler den Sachstand zur Problematik der Nutzung der Atomenergie ({13}) erfassen. Es ist überhaupt kein positives Element der Kernenergie enthalten wie Klimafreundlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit. Herr Gabriel wird dann weiter zitiert mit dem Satz: Die Atomkraft ist eine Technologie des letzten Jahrhunderts … Ich muss schon sagen: Das ist jetzt nicht unbedingt neutral, Herr Minister. ({14}) Von Neutralität in der Darstellung keine Spur! Ich komme zum Schluss. Ich appelliere an das Bundesumweltministerium - Herr Minister Gabriel, das hat Ihr ehemaliger Ministerkollege Glos auch getan -, die Indoktrination unserer Schüler zu stoppen ({15}) und die Unterrichtsmaterialien entweder zu überarbeiten oder aber aus dem Netz zu nehmen. ({16}) Ich bitte Sie, sich in Zukunft wieder an den Beutelsbacher Konsens zu halten. Vielen Dank. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries für die SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Pries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003874, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum wiederholten Male in dieser Legislaturperiode über den Atomausstieg. Es liegen uns sechs Anträge und die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage vor. Die zur Abstimmung vorliegenden Anträge der Grünen sind - das sage ich trotz unserer Sympathie - in einigen Punkten entweder überholt, durch Regierungshandeln erledigt oder nicht umsetzbar. Wir lehnen sie daher ab. In meinen Ausführungen möchte ich heute exemplarisch auf zwei Schlagworte eingehen. Sie fassen symbolisch die Diskussion über die Atomenergie der vergangenen Jahre zusammen. Da ist zunächst die angebliche Renaissance der Atomenergie, wie sie von der Atomlobby im Verbund mit Union und FDP propagiert wird. Die Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses behaupten seit Jahren: Der Atomausstieg ist das Werk ideologisch verblendeter Technologiefeinde. Die Große Anfrage der FDP zielt genau darauf. Sie behaupten ferner: Die Atomenergie ist weltweit auf dem Vormarsch, und Deutschland isoliert sich durch den Atomausstieg. - Sehr geehrte Damen und Herren, das sind Märchen. ({0}) Wir sagen: Atomenergie ist aus ökologischen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Gründen nicht verantwortbar. Wir sagen: Atomenergie ist eine Form der Energieerzeugung des letzten Jahrhunderts. Wir sagen: Deutschland ist nicht der isolierte Nachzügler einer weltweiten Atomrenaissance. Deutschland ist vielmehr Vorreiter beim Aufbau einer modernen Energieversorgung. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, abgesehen vom radioaktiven Abfall strahlt Atomkraft nur in den Hochglanzbroschüren der Lobbyverbände. Wer deren aktuelle Ausbaupläne liest, fühlt sich unweigerlich an die Luftschlösser der 70er-Jahre erinnert. Die Prognose der Internationalen Atomenergie-Organisation damals: Im Jahre 2000 würden weltweit Atomkraftwerke mit einer Leistung von 4 500 Gigawatt installiert sein. Die Realität im Jahr 2008: 372 Gigawatt. Die bestehenden 436 Reaktoren decken gerade einmal 2,5 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs. ({2}) Das Fazit: Gemessen an den Erwartungen ist Atomenergie immer Ankündigungsenergie geblieben. ({3}) Nun wenden die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP ein, überall würden bald neue Atomkraftwerke gebaut. ({4}) Das stimmt - allerdings nur auf dem Papier. ({5}) Die Realität sieht folgendermaßen aus: Im Jahr 2008 ging zum ersten Mal seit 42 Jahren kein einziges Atomkraftwerk ans Netz. Selbst ein Vertreter der Internationalen Atomenergie-Organisation stellte in der Süddeutschen Zeitung zum angeblichen Atomboom fest, eine Renaissance bei der Atomkraft gebe es lediglich - ich zitiere - „beim theoretischen Interesse“. Wie so ein theoretisches Interesse aussieht, möchte ich am Beispiel Südafrika verdeutlichen. Im August 2007 brach dort laut n-tv die Atomära aus. 15 Milliarden Euro sollten in fünf Jahren in den Ausbau der Atomenergie investiert werden. Diese Ära dauerte genau 15 Monate. Bereits im Dezember 2008 erklärte der staatliche Energiekonzern Eskom, der Neubau eines Druckwasserreaktors werde aus finanziellen Gründen aufgegeben. Dieses Schicksal wird vor dem Hintergrund der Finanzkrise auch zahlreiche Neubauankündigungen in Europa ereilen. In Polen ist keineswegs klar, woher das Land 16 bis 18 Milliarden Euro für seine geplanten Atomkraftwerke nehmen soll. Ob in Schweden wirklich neue Atomkraftwerke als Ersatz für Altanlagen entstehen, bleibt ebenfalls abzuwarten; denn die Anlagen müssen komplett privatwirtschaftlich finanziert werden. Derartige Bedingungen haben bisher noch jedem hochfliegenden Atomprogramm zur Bruchlandung verholfen. Es gibt aber auch Lichtblicke in der Atomdebatte. Selbst Union und FDP sind sich ihrer Sache nicht wirklich sicher. Deshalb kleiden sie ihre Befürwortung der Atomenergie derzeit in den Begriff der Übergangstechnologie. Dazu sagen wir: Herzlichen Glückwunsch! Sie haben die Beschlusslage der SPD von 1986 erreicht. ({6}) Ich meine das gar nicht negativ, lehrt doch der Blick in die Vergangenheit, dass die bürgerlichen Parteien bei vielen Themen etwas länger gebraucht haben. ({7}) Denken wir zum Beispiel an das Frauenwahlrecht, an die Finanzmarktkontrolle oder die Familienpolitik. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich möchte aber auch noch auf das eingangs angekündigte zweite Schlagwort der Atomdebatte eingehen, auf die sogenannte Renaissance des Widerstands. Es ist uns allen klar, dass dieses Schlagwort vor allem der Absicherung des grünen Wählerpotenzials dient. Das ist erlaubt. Ihr aktueller Antrag zeigt aber wieder einmal deutlich, dass Sie krampfhaft versuchen, die SPD in der Frage des Atomausstiegs zu übertrumpfen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in Ihrem Interesse rate ich Ihnen: Verkohlen Sie die Bürgerinnen und Bürger nicht! Nicht alles, was moralisch oder politisch wünschbar wäre, ist auch rechtlich umsetzbar. Versprechen Sie nichts, was Sie am Ende nicht halten können! Beim Kohlekraftwerk Moorburg sind Sie schon einmal als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet. ({10}) Noch eines: Wir werden Ihnen auf jeden Fall nicht durchgehen lassen, die SPD als Handlanger der Atomindustrie abzustempeln, Frau Höhn. ({11}) In der Frage des Atomausstiegs brauchen wir uns vor niemandem zu verstecken. Wir haben in den vergangenen drei Jahren nicht gewackelt - trotz einer beispiellosen PR- und Öffentlichkeitskampagne der Atomlobby, trotz Drohungen, Gerichtsverfahren und populistischen Lockangeboten. Die Standfestigkeit von Sigmar Gabriel und der SPD-Bundestagsfraktion müssen andere erst einmal unter Beweis stellen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD steht für die Renaissance der Vernunft in der Energiepolitik. ({13}) Eine vernünftige Energiepolitik ist langfristig angelegt. Sie löst Probleme und schafft keine neuen. Mit dem Atomausstieg haben wir einen gesellschaftlichen Konflikt gelöst, der dieses Land 25 Jahre lang gespalten und energiepolitisch gelähmt hat. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, mit Energieeinsparung und einer Steigerung der Energieeffizienz legen wir die Grundlagen für die Energieversorgung der Zukunft. Mit unserer ökologischen Industriepolitik schaffen wir die Basis für wirtschaftliches Wachstum und den Wohlstand unserer Kinder. Lassen Sie uns gemeinsam auf diesem Weg voranschreiten, statt unsere Energie mit der fruchtlosen Fortführung von Kämpfen aus der Vergangenheit zu vergeuden. Danke, dass Sie mir zugehört haben. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothée Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Linke begrüßen wir diese Debatte. Sie ist überfällig. Ich erinnere nur an den 26. Februar 2009, als ungefähr 15 000 Menschen Braunschweig, Asse und Schacht Konrad - das ist eine Wegstrecke von 52 Kilometern durch eine Lichterkette unter dem Motto „Wir bringen Licht ins Dunkel“ miteinander verbanden. Ich zitiere aus dem Antrag der Grünen: Der Statusbericht zu den Zuständen im Forschungsendlager Asse II hat unsere schlimmsten Vermutungen noch übertroffen. Das spiegelt die Stimmung in der Region wider, und zwar nicht nur der Menschen, die sich seit Jahrzehnten gegen Atomkraft engagieren, sondern auch der ganz normalen Bürgerinnen und Bürger, der ganz normalen Anwohnerinnen und Anwohner. Ihre Befürchtungen sind übertroffen worden, und jede Woche ereilen sie neue Hiobsbotschaften. Was hören diese Menschen hier oder auch sonst im politischen Raum? Ich zitiere die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Katherina Reiche, die am 26. Februar im Inforadio Berlin gesagt hat, der Vergleich zwischen Asse und Gorleben sei „ein durchsichtiges politisches Manöver“. ({0}) Im Gegensatz zu Asse verfüge Gorleben über einen intakten Salzstock. Außerdem sei Gorleben in den vergangenen 25 Jahren systematisch untersucht worden. ({1}) Ich zitiere wörtlich: Über einen langen, transparenten und wissenschaftsgeleiteten Prozess ist man zu dem Schluss gekommen, Gorleben sei geeignet. ({2}) Das lässt Schlimmes erahnen. Die Menschen fühlen sich verhöhnt und bedroht. Das, was ich hier von den möglichen Koalitionspartnern einer möglichen Ampel höre, beruhigt die Menschen meiner Ansicht nach nicht. ({3}) Die Menschen fühlen sich von CDU/CSU, FDP und Atomindustrie für dumm verkauft. Ihnen wird immer wieder erzählt, die Atomkraft sei sicher; vor der Haustür erleben sie aber das Gegenteil. Es werden Märchen erzählt, die sie selber als Horrorgeschichten empfinden. Das erste Märchen lautet, Atomstrom sei billig. Das haben wir auch hier heute wieder gehört. Die mehreren Milliarden, die je nach gewählter Option für die Asse fällig werden und die für den Steuerzahler zur Zahlung anstehen, werden nicht erwähnt. Auch die über 2 Milliarden Euro, die zur Schließung des Endlagers Morsleben anfallen, werden nicht erwähnt; von Gorleben, Schacht Konrad und den Kosten für die Transporte einmal ganz zu schweigen. Wir wissen auch, dass Uran nicht unbegrenzt vorrätig ist. Wir merken, dass sich das Vorkommen seinem Ende nähert. Die Wissenschaftler sagen, dass es noch rund 50 Jahre reichen wird. Das wird auch an der Preisentwicklung deutlich: Während 1 Pfund Uran 2001 noch ungefähr 7 US-Dollar kostete, kostete es 2007 140 USDollar. Von dem Kollegen Hirte und der Kollegin Brunkhorst haben wir eben wieder einmal gehört, Atomstrom sei klasse, um CO2 zu sparen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass Strom aus südafrikanischem Uran heute je Kilowattstunde 126 Gramm CO2 verursacht. Auch über die Unverzichtbarkeit hören wir immer wieder vieles. Das lässt sich trefflich widerlegen. Wichtig ist eine transparente und umfassende Kostenbeteiligung der Konzerne. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Dafür werden wir streiten. ({4}) Einen Vorwurf kann ich den Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die in ihren Anträgen viel Richtiges schreiben, nicht ersparen: Bündnis 90/Die Grünen hat in der Vergangenheit Vertrauen zerstört, und zwar nicht nur Vertrauen in die eigene Partei, sondern in die Politik insgesamt: ({5}) mit dem sogenannten Atomkonsens, der eine Betriebsgarantie für die Konzerne war, dem Wegschauen und dem Aussitzen bei Asse II, Gorleben und Schacht Konrad, solange man in der Koalition war, und zwar sowohl in Niedersachsen als auch im Bund. Es ist zwar lobenswert, jetzt in der Opposition gute Anträge zu schreiben - wir werden gerne mit Ihnen streiten und versuchen, gemeinsam aktiv zu werden -, aber es könnte sehr nach Wahlkampfgeklingel aussehen, ({6}) wenn man nicht deutlich macht: Die Macht der vier großen Energiekonzerne, von K+S und anderen DAX-Konzernen ist groß. Dagegen müssen wir angehen; aber das schaffen wir nicht allein. ({7}) Das schaffen wir nur gemeinsam mit den Menschen, wenn wir die nötige Transparenz herstellen und wenn wir mit ihnen, die sie sich seit Jahren und Jahrzehnten engagieren und Kompetenz angeeignet haben, streiten. Ich glaube, nur so kommen wir in der Frage des Atomausstiegs weiter, also gemeinsam mit den Menschen und nicht, indem wir Parlamentarier sagen, dass wir alles lösen können. Vielmehr brauchen wir den Druck der Straße, den Druck der Bewegung und die entsprechende Kompetenz. Ich danke. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zentrum dieser Debatte heute Morgen steht wieder einmal die Schachtanlage Asse II. Von 1909 bis 1964 wurde dort Salz abgebaut mit der Folge, dass dieser Salzstock durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Nach heutigen Maßstäben würde niemand mehr auf die Idee kommen, dort Atommüll einzulagern. Die Asse wurde 1965 als Forschungsbergwerk vom Bund übernommen. Bis 1978 - in dem Jahr stoppte Ernst Albrecht die Einlagerung - wurden 126 000 Fässer schwach- und mittelradioaktiven Abfalls eingelagert. Betreiber der Asse war das GSF, das Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, aufgegangen im HelmholtzZentrum München. Es erforschte im Auftrag des Bundes im Salzstock die Einlagerung radioaktiver Abfälle. Die Einlagerung erfolgte nicht etwa geordnet, sondern man kippte nach ersten Versuchen den Müll einfach in die Schächte und überdeckte ihn mit Salzgrus, was eine mögliche Rückholung heute so schwierig macht. Dazu kommt - das ist seit vielen Jahren bekannt -, dass ausgebeutete Salzbergwerke dazu neigen, abzusaufen. Das heißt, die durchlöcherten Salzstöcke fallen unter dem Druck des Deckgebirges zusammen, und Grundwasser findet seinen Weg in den Berg. Genau das geschieht seit 1988. Täglich fließen 12 Kubikmeter Salzlauge in das Bergwerk. Bislang kommt das Wasser nicht in Kontakt mit den radioaktiven Abfällen. Genau das muss dauerhaft verhindert werden, damit Radioaktivität nicht durch das Wasser in die Biosphäre gelangt und Mensch und Umwelt schädigt. Erschwerend kommt hinzu, dass einige der ausgebeuteten Kammern, die sich in der Nähe der Kammern mit dem Atommüll befinden, mit feuchtem Versatz verfüllt worden sind, um ein Zusammenbrechen zu verhindern. In der Folge ist das so in den Berg eingebrachte Wasser in die Kammern mit dem Atommüll eingedrungen. Seit Juni letzten Jahres ist bekannt, dass es in der Asse Laugen gibt, die mit Cäsium 137 kontaminiert sind und zudem ohne Wissen und Genehmigung der Überwachungsbehörden innerhalb des Schachtes umgelagert worden sind. Das Vertrauen der Bevölkerung in den Betreiber GSF war - das ist aus meiner Sicht absolut nachvollziehbar - erheblich gestört. Die nicht genehmigte Umlagerung brachte das Fass zum Überlaufen. Seit dem 1. Januar dieses Jahres wurde ein Betreiberwechsel vorgenommen. Nun ist das Bundesamt für Strahlenschutz zuständig. Wichtigste Aufgabe ist es nun, unter Einbeziehung der Bevölkerung und mit höchstmöglicher Transparenz die Anlage geordnet zu schließen. Die GSF hatte vorgeschlagen, einen Teil des Bergwerks zu fluten. Das traf angesichts der Ungewissheit, ob der radioaktive Müll zurückgeholt werden kann, auf absolutes Misstrauen der Bevölkerung. Um neues Vertrauen aufzubauen, hatten bereits im Herbst 2007 das niedersächsische Umweltministerium als Kontrollbehörde, das Bundesforschungsministerium, das Bundesumweltministerium und die GSF im Zuge erweiterter Öffentlichkeitsbeteiligung vereinbart, die Vertreter der Bevölkerung in der Region eng in die Prüfung unterschiedlicher Konzepte einzubeziehen. Genau das halten wir als Union für richtig. Seit März 2008, also seit gut einem Jahr, prüft die Arbeitsgruppe Optionenvergleich Stilllegungskonzepte, entwiDr. Maria Flachsbarth ckelt Maßnahmen zur Verbesserung der Grubenstabilität und untersucht mithilfe externer Sachverständiger die Möglichkeit, die radioaktiven Abfälle aus der Asse zurückzuholen. Ich führe das deshalb so ausführlich aus, um zu dokumentieren, dass die Probleme nicht neu sind, dass man, wenn man sich interessiert hätte, sehr wohl von diesen Problemen hätte wissen können und dass diese Bundesregierung - ganz anders als die Vorgängerregierung mit ihrem grünen Umweltminister - die Probleme in der Asse beherzt angeht, ({0}) auch wenn die Grünen heute versuchen, in ihren Anträgen einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. ({1}) Der optimale Schutz von Anwohnern und Umwelt und eine zeitnahe und sichere Schließung der Asse sind - das habe ich bereits gesagt - das vordringliche Anliegen der Union. Allerdings müssen wir tatsächlich zügig handeln. Gutachten besagen, dass das Bergwerk nur noch bis Mitte des nächsten Jahrzehnts standfest ist. Im Januar dieses Jahres hat unter der Obhut des Bundesamtes für Strahlenschutz ein Expertengespräch stattgefunden. Man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass wir doch noch bis zum Jahr 2020 Zeit haben, allerdings nur, wenn sich die Laugenzuflüsse nicht erhöhen. Genau das ist allerdings die Gretchenfrage, die niemand beantworten kann. Daher muss zügig gehandelt werden. Die Arbeitsgruppe Optionenvergleich hat im Februar dieses Jahres einen Zwischenbericht vorgelegt. Sie legt sich aber noch nicht fest, welche Methoden sie beim Umgang mit dem Atommüll und bei der Stilllegung der Anlage favorisiert. Vielmehr werden Machbarkeitsstudien und Auswirkungsstudien angefordert. Eine abschließende Bewertung soll bis Ende des Jahres vorliegen. Das muss es dann aber auch sein. Wir müssen zügig handeln, ({2}) damit wir nicht in die Situation kommen, im Rahmen der akuten Asse-Gefahrenabwehr unüberlegt und plötzlich handeln zu müssen. Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Wir haben in den Haushalt des BfS des letzten Jahres über 70 zusätzliche Stellen eingestellt. Wie schon gesagt, sind das Zurückgewinnen von Vertrauen und verantwortliches Handeln erforderlich. Es dürfen keine politischen Spielchen stattfinden; das betone ich. Es war kontraproduktiv, dass gerade der Bundesumweltminister während seiner Sommerreise im letzten Jahr den Verdacht geschürt hat, die von mir bereits erwähnten Laugenzuflüsse von 12 Kubikmetern pro Tag seien radioaktiv kontaminiert und ihr Verbringen in andere stillzulegende Salzbergwerke in Niedersachsen gefährde möglicherweise die dortige Bevölkerung. Es hilft wenig, das im Nachhinein zurückholen zu wollen. Im Celler Kreistag führte dieser längst aufgeklärte Sachverhalt noch vor wenigen Wochen zu erheblichen Diskussionen. Herr Minister, es ist auch kontraproduktiv, dass sich Ihre Meinung zur Finanzierung der erheblichen Kosten der Asse-Stilllegung wie eine Fahne im Wind dreht. Der Deutsche Bundestag hat am 30. Januar dieses Jahres im Rahmen der Änderungen des Atomgesetzes auch den Wechsel der Betreiber der Asse beschlossen; das wissen wir alle. Der Entwurf dieses Gesetzes kam aus Ihrem Hause. In diesem Gesetzentwurf und in einer Formulierungshilfe zum Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen hat das Ministerium die Möglichkeit, die Kernkraftwerksbetreiber an der Sanierung der Asse finanziell zu beteiligen, aus rechtlichen Gründen ausdrücklich ausgeschlossen. Dazu wurden im Umweltausschuss Fragen gestellt. Außerdem haben Sie, Herr Minister, dem ZDF drei Tage vor der Beschlussfassung in diesem Hause ein Interview zu diesem Thema gegeben. In diesem Interview haben Sie, wie es auch Ihr Staatssekretär im Umweltausschuss getan hat, erklärt, eine Beteiligung der Kernkraftwerksbetreiber an den Kosten der Sanierung der Asse sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Nur eine Woche nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfs des BMU in diesem Hause haben Sie Ihre Auffassung plötzlich geändert und sich dafür ausgesprochen, dass die Betreiber der Kernkraftwerke nun doch an der Sanierung der Asse finanziell beteiligt werden sollten. Nun ging es Ihnen angeblich nicht mehr um rechtliche Notwendigkeiten, sondern vielmehr um politische Beweggründe. Man könnte es als Irreführung des Parlaments bezeichnen, wenn ein Minister, eine Woche nachdem der Deutsche Bundestag seinen Gesetzentwurf verabschiedet hat, politische Forderungen erhebt, die er ohne Weiteres in seinen eigenen Gesetzentwurf hätte einfließen lassen können. Dass Sie sich nicht getraut haben, kann sich bei Ihnen wirklich niemand vorstellen. Ich rufe uns alle auf, auch in Zeiten des herannahenden Wahlkampfes nicht zu versuchen, durch die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger vermeintliche politische Vorteile zu erlangen. Aufgabe der Politik ist es, keine Angst zu schüren. Aufgabe der Politik ist auch, die Sorgen und Ängste der Menschen ernst zu nehmen, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und diese offensiv und transparent zu kommunizieren. Herzlichen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns über die Kosten und über die Mär von der billigen Atomkraft reden. Billig ist Atomstrom nur für die Betreiber abge22746 schriebener Atomkraftwerke. Volkswirtschaftlich ist Atomstrom so teuer wie kein anderer Strom. ({0}) Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. Beginnen wir ganz am Anfang, beim Uran. Die „billige“ Ressource Uran kommt normalerweise von weiter her; so viel zum Stichwort Importunabhängigkeit. Aber auch in Deutschland gab es einmal den Uranabbau, und zwar in Wismut. Für die Sanierung des Uranabbaus in Wismut sind bisher 6,4 Milliarden Euro von der Bundesregierung eingestellt worden. Wer zahlt das? Der Steuerzahler. Sehen wir uns das Ende der Geschichte an. Beispiel Morsleben: Ihren angehäuften schwach- und mittelaktiven Müll loszuwerden, kostete die westdeutschen Atomkraftwerksbetreiber in den 90er-Jahren gerade einmal 183 Millionen DM. Die Entsorgung dieses Mülls ermöglichte die damalige Umweltministerin; das war übrigens Angela Merkel. Allein für die Stabilisierung des einsturzgefährdeten Lagers wurden bis heute 2,2 Milliarden Euro veranschlagt. Wer zahlt das? Der Steuerzahler. Beispiel Asse: Forschung für die sichere Endlagerung mit Atommüll, billigst oder auch umsonst eingelagert. Die Sanierung der Katastrophe Asse ist nun öffentliche Aufgabe, schließlich kommen 90 Prozent des radioaktiven Potenzials in der Asse aus der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe. In die WAK kam es aber aus den AKWs. 70 Prozent dieses radioaktiven Potenzials kamen alleine aus dem Atomkraftwerk Obrigheim. Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe funktionierte wie eine Waschanlage. Die schmutzige Hinterlassenschaft der Atomstromproduktion wurde zu öffentlichem Forschungsmaterial. Das war für die ursprünglichen Verursacher des Mülls sehr bequem. Die Kosten sind heute noch überhaupt nicht abzuschätzen, aber sie werden mindestens die Größenordnung der Kosten für die Sanierung von Morsleben haben. Wer zahlt das? Der Steuerzahler. Herr Gabriel, ich kann Ihnen an dieser Stelle ausnahmsweise nicht ersparen, Frau Flachsbarth recht zu geben; das passiert selten in diesen Debatten. Ja, Sie haben einen Schlingerkurs betrieben. Erst hieß es, die AKW-Betreiber sollen sich beteiligen. Dann hieß es während der Novellierung des Atomgesetzes: Es ist reine Aufgabe der öffentlichen Hand. Nun heißt es wieder, sie sollen sich beteiligen. - Sie wollen dafür die ursprünglich von uns geforderte Brennelementsteuer verwenden. Das ist löblich. Wenn wir aber die Option der Rückholung des Mülls aus der Asse tatsächlich wahrmachen, werden Sie mit 1,6 Milliarden Euro nicht weit kommen. Das System der privatisierten Gewinne und der sozialisierten Kosten zieht sich durch alles, was mit Atomkraft zu tun hat: die Deckelung der Haftpflichtversicherungen, die steuerfreien Rückstellungen und auch die jahrtausendelange Überwachung des Atommülls. Atomkraftbefürworter argumentieren gern mit dem so teuren Fotovoltaikstrom, den die Bezieher mit 31 bzw. 43 Cent über ihren Strompreis subventionieren. Wenn man die volkswirtschaftlichen Kosten und die 40 Milliarden Euro an Subventionen einrechnet, stellt man fest, dass der billige Atomstrom überhaupt nicht marktfähig ist. ({1}) Vor allem handelt es sich um eine Technologie, die der Devise folgt: Risiken und Nebenwirkungen trägt die Bevölkerung. Dies gilt nicht nur für diejenigen, die heute leben, sondern auch für diejenigen, die noch gar nicht geboren sind. So ist das Stichwort Nachhaltigkeit nicht gemeint. ({2}) Lassen Sie uns aber auch über Vertrauen und Verantwortung reden. Jahrelang hat man uns erzählt, die Asse sei ein Forschungsendlager. Heute wissen wir, dass sich quer durch die Genehmigungsbescheide für die Atomkraftwerke bis Ende der 70er-Jahre die Asse als ausgewiesenes Endlager hindurchzieht. Das hört sich zum Beispiel so an: 1972 erste Teilgenehmigung für Isar 1: Für die BRD wird das stillgelegte Salzbergwerk Asse bei Wolfenbüttel als Endlagerstätte für radioaktive Abfälle hergerichtet. Es gab auch eine Ausnahme: 1974 zweite Teilgenehmigung für Krümmel: Seit April 1967 wird das ehemalige Salzbergwerk Asse II in der Nähe von Braunschweig für die Lagerung hochradioaktiver Abfälle vorbereitet. In den 80er-Jahren ändert sich die Tonlage. Da ist dann nur noch von der in der Asse erprobten Einlagerungstechnologie und davon, dass die Asse für die Endlagerung vorgesehen ist, die Rede. In den Teilgenehmigungen für Brokdorf heißt es, das Bergwerk solle in erster Linie als Versuchsanlage für Gorleben dienen. Wer alles - die Helmholtz-Gemeinschaft, das Forschungsministerium und die Kolleginnen und Kollegen von FDP und Union - hat uns nicht erzählt, die Asse habe mit Gorleben nichts zu tun. Sie haben einen Untersuchungsausschuss zur Asse abgelehnt, obwohl als vertrauensbildende Maßnahme nichts notwendiger wäre als die Aufklärung und Benennung der verfehlten Verantwortlichkeit. ({3}) Der ehemalige Umweltminister Trittin hat, ganz anders als Sie, überhaupt nichts gegen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, sondern er hat ihn ausdrücklich befürwortet. Die Asse ist inzwischen nicht nur der GAU der Endlagerfrage. Die Asse wird zum Symbol der Unzuverlässigkeit der Atomtechnik samt ihrer ganzen Betreibergemeinde. In dieser Situation wollen Sie die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke und die unverzügliche Inbetriebnahme von Gorleben. Sie sind immer noch nicht in der Lage, bis drei zu zählen. Volkswirtschaftlich viel zu teuer, energetisch völlig überflüssig und der Vertrauens-GAU, das ist Atomkraft. Zum Glück hat Deutschland den Atomausstieg beschlossen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung hat Herr Bundesminister Sigmar Gabriel das Wort. ({0})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal etwas zu dem angeblichen Schlingerkurs sagen. Meine Frage an die Grünen ist: Warum haben Sie sich eigentlich sieben Jahre lang nicht um die Sanierung der Asse gekümmert? ({0}) Warum haben Sie eigentlich sieben Jahre lang keinen Gesetzentwurf erarbeitet, mit dem Sie den Versuch unternehmen, die deutsche Atomindustrie 30 Jahre rückwirkend an der Finanzierung der Sanierung von Morsleben oder der Asse zu beteiligen? Warum haben Sie das nicht gemacht? ({1}) Sie haben das deshalb nicht gemacht, weil Sie damals, als Ihr Minister noch in der Regierung war - er ist gerade draußen - ({2}) - Ich weiß, bei Ihnen sind immer die Sozis schuld, wenn Sie etwas nicht hinbekommen, nur Sie selbst nicht. ({3}) Sie haben das deshalb nicht gemacht, weil Sie wussten, dass dies rechtswidrig gewesen wäre. Einige derjenigen, die mir jetzt im Blickfeld sitzen, haben einmal etwas mit Regierungstätigkeit zu tun gehabt. Sie wussten, die Verfassung verbietet es uns, die Atomindustrie rückwirkend an der Finanzierung zu beteiligen. Deswegen kann man das nicht in einem Gesetz machen, mit dem wir die Asse sanieren. Deshalb können wir keine rückwirkende Finanzierung beschließen. Man kann aber sehr schnell ein Gesetz auf den Weg bringen, mit dem die Atomindustrie dadurch an der Finanzierung beteiligt wird, dass der Staat Steuern im Bereich der Kernbrennstoffe einnimmt. Das ist der richtige Weg. Das ist kein Schlingerkurs. ({4}) Wenn Sie schon darüber reden, Frau Kotting-Uhl, dann bitte unter Beherrschung der Grundrechenarten. Dies sind Einnahmen von 1,6 bis 2 Milliarden Euro pro Jahr. Sie haben gemeinsam mit uns einen Atomkonsens beschlossen, der ein sukzessives Aussteigen vorsieht. Sie können sich ausrechnen, dass sich die Einnahmen auf einen zweistelligen Milliardenbetrag belaufen werden, die Sie nutzen können, damit nicht der Steuerzahler die Sanierung von Asse, Morsleben und anderer Standorte bezahlt. Damit würde die Atomindustrie endlich angemessen an den katastrophalen Hinterlassenschaften beteiligt, die sie uns vor die Füße oder besser gesagt: unter die Füße gekippt hat. Das ist mein Vorschlag. Sie haben während Ihrer Regierungszeit nichts unternommen, um sich diesem Thema zu widmen oder um die Finanzierung sicherzustellen. ({5}) Es gibt zwei pharisäerhafte Umgänge mit der Asse. Das sind einerseits diejenigen, die dort billig entsorgt haben, und andererseits die Grünen, die derzeit die Asse entdecken. Vielleicht liegt es daran, dass ich dort wohne. Deshalb brauchen Sie mir nicht zu erzählen, was dort los ist. Ich hätte es aber besser gefunden, Sie hätten während Ihrer Regierungszeit im Bundesumweltministerium nicht alles unternommen, um die Zuständigkeit des Bundesumweltministeriums zu verhindern. ({6}) Ich hätte es gut gefunden, Sie hätten in Ihrer Regierungszeit nicht die Stellen im Bundesumweltministerium gestrichen, die für die Beobachtung der Asse mit zuständig gewesen sind. Ich hätte mir außerdem gewünscht, Sie hätten Anträge wie diesen eingebracht, die richtig sind. Hätten Sie wesentlich früher mit der Sanierung der Asse begonnen, dann hätten wir heute nicht derartig dramatische Probleme. ({7}) Ich finde, was Sie hinsichtlich der Asse machen, ist hochgradig pharisäerhaft. ({8}) Sie haben nichts unternommen. Sie wollten das nicht. Sie haben sich der Politik gebeugt, das so zu belassen, wie es ist. Sie wollten nicht hinschauen, und heute regen Sie sich darüber auf. Ich muss bei aller kollegialen Wertschätzung der Antiatompolitik ganz offen sagen: So einfach kommen Sie vor Ort nicht davon. Sie sind mitverantwortlich für das Handeln.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Sehr gern.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Höhn, bitte sehr.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Umweltminister, können Sie bestätigen, dass das Umweltministerium im Jahr 1998, als Jürgen Trittin in die Regierung eingestiegen ist, überhaupt nicht für die Asse verantwortlich war, sondern dass die Kollegin Bulmahn als Bundesforschungsministerin die Verantwortung für die Asse getragen hat? All das, was Sie jetzt über die Asse sagen, lag also in der Zuständigkeit Ihrer SPD-Kollegin Bulmahn. ({0})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Ich kann bestätigen, dass in mehreren Vermerken des Bundesumweltministeriums die Rechtsauffassung des Bundesforschungsministeriums durch Ihren Minister bestätigt wurde, dass es richtig sei, die Asse nicht unter Atomrecht zu bringen, und dass es richtig sei, die Asse in der Verantwortung des Forschungsministeriums zu belassen, und dass es keine weiteren Anmerkungen zu diesen Vorstellungen des Forschungsministeriums gegeben hat. Sie haben all das also wissentlich unterstützt, und Sie haben sogar noch eine Stelle gestrichen, durch die die Asse bei uns im Ministerium mit unter Beobachtung stand.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage: der Kollegin Kotting-Uhl?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Da sie sich anscheinend getroffen fühlen, gerne. So ist das Leben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich diskutiere gerne mit Ihnen, Herr Minister. - Erinnern Sie sich, dass auch Sie bis zum Sommer 2008 der Meinung waren, die Zuständigkeit für die Asse liege besser beim Forschungsministerium, wie Sie das jetzt rückblickend dem Minister Trittin zuschreiben? Erinnern Sie sich, dass Sie die gleichen Worte benutzt haben? Erinnern Sie sich auch, dass Sie auch nicht durch unseren Antrag, sondern erst durch die Macht der Fakten, als nämlich die radioaktiven Laugen auftauchten, dazu bewegt werden konnten, die Asse unter Ihre Aufsicht zu stellen?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Ich erinnere mich gut, dass ich gesagt habe, wir werden dieses Problem gemeinsam lösen. Die Kollegin Frau Schavan war die Erste, die das Bundesumweltministerium einbezogen hat. Ich erinnere mich gut, dass ich gesagt habe, das Bundesumweltministerium ist zuständig, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit eintritt. Dafür war damals nach § 19 des Atomgesetzes zu sorgen. Ich habe dann gesagt, es ist sinnvoller, dass wir beide uns einigen und mit der Asse beschäftigen, als dass wir ein rechtsförmliches Verfahren beginnen. Dann haben wir etwas gemacht, was Sie nie getan haben, wir haben dann nämlich einen Statusbericht in Auftrag gegeben, um zu wissen, was dort eigentlich los ist. Als der Statusbericht vorlag, erwies sich, dass ein Irrtum vorlag, was wir bis dahin nicht vermutet hatten: Die niedersächsischen Behörden unter Leitung von Herrn Umweltminister Sander von der FDP - einschließlich der Bergbehörden - waren nicht in der Lage, das Verfahren rechtmäßig zu führen. Das ist übrigens auch die Antwort auf den Einwurf von Frau Flachsbarth hinsichtlich des nicht sachgemäßen Umgangs mit Laugen. Ich habe niemals gesagt, dass die Strahlenbelastung zu hoch ist. ({0}) - Nein, ich habe gesagt, sie hätten gegen geltendes Strahlenschutzrecht verstoßen. Das ist damals auch getan worden. ({1}) Wir haben das alles aufgeklärt. Wir haben kooperativ zusammengearbeitet, statt uns diese Dinge immer hinund herzuspielen. Ich will gar nicht rechtfertigen, was dort auch unter früheren SPD-Regierungen gemacht worden ist. Es geht mir nur darum, dass Sie sich hier jetzt aufspielen, als seien Sie der Retter der Asse. Sie haben die Leute dort sieben Jahre lang alleingelassen. ({2}) Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ich finde einfach, darüber muss man öffentlich reden, wenn Sie so mit dem Thema anfangen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Bundesminister, es gibt jetzt noch einen Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen, nämlich den des Kollegen Fell.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Ich muss mich einmal nach der Geschäftsordnung erkundigen und fragen, ob ich eigentlich noch die Chance habe, meine Rede zu halten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich habe die Uhr angehalten. Sie haben noch jede Menge Gelegenheit dazu.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Dann gerne.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Fell, bitte sehr. ({0})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, danke, dass Sie mir die Gelegenheit geben. - Sie haben so sehr hervorgehoben, dass Sie aus der Umgebung der Asse kommen und bestens über die Probleme, die es dort seit vielen Jahren gibt, Bescheid wissen. Ich frage Sie: Warum haben Sie von diesen Missständen eigentlich nicht auch als Ministerpräsident in Niedersachsen richtig Kenntnis gehabt, und warum haben Sie nicht eingegriffen, sodass diese Missstände beseitigt wurden?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Ich will diese Frage gerne beantworten: In der Tat war ich zum ersten Mal als 16-Jähriger und später als Abgeordneter mehrfach in der Asse. Die niedersächsische Landesregierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder hat als erste Landesregierung damit begonnen, Sanierungsmaßnahmen in der Asse durchzuführen - übrigens mit der Umweltministerin Monika Griefahn, einer sozialdemokratischen Kollegin hier im Deutschen Bundestag. Damals wurde damit begonnen, die Südflanke, so meine ich, zu stabilisieren, nachdem vorher dort jahrzehntelang nichts passiert war. Danach ist der Antrag durch das Forschungsministerium gestellt worden, mit der Planfeststellung zu beginnen. Ab diesem Moment waren wir an der Debatte über die Sicherungsmaßnahmen beteiligt. Wir haben sie so kritisch bewertet, wie Sie das auch heute von uns hören. Wir waren aber die Ersten in Niedersachsen, die Stützungsmaßnahmen in der Asse veranlasst haben. Vorher hat sich niemand darum gekümmert. Das ist die Antwort. Sie können aber gerne noch ein paar Fragen stellen. ({0}) Verstehen Sie mich richtig: Ich bin doch nicht der Überzeugung, dass nur die Atomwirtschaft dort Fehler gemacht hat. Mich regt aber die pharisäerhafte Debatte auf. Ich sage Ihnen: Die Sozialdemokraten haben das nicht unter die Verantwortung des Umweltministeriums gestellt, die Christdemokraten haben das nicht getan, die Grünen haben nicht darum gekämpft, sondern alles beim Alten belassen, und die Linkspartei hat sozusagen die Gnade der späten Geburt. Für das Erbe ihrer Vorläuferorganisation SED sind wir in Morsleben allerdings auch zuständig. Wir alle haben dort also politisch unser Päckchen zu tragen. Ich wehre mich aber gegen diese pharisäerhafte Debatte, die Sie hier lostreten, wonach Sie das alles besser gemacht hätten und wonach es bei uns einen Schlingerkurs hinsichtlich der Finanzierung gebe. Das alles ist - seien Sie mir nicht böse - Kokolores. Daran stimmt nichts. Wir haben das endlich in den Griff bekommen und versuchen, mit großer Intensität weiter daran zu arbeiten. Die Menschen vor Ort erwarten von uns, dass wir diesen Zirkus nicht fortsetzen, ({1}) - hört doch auf! -, sondern in der Art und Weise, in der wir uns in der Sache einig sind, arbeiten. Es gibt zwei Dinge, die nicht gehen. Frau Kollegin Flachsbarth, es ist nicht möglich, mit dem Hinweis auf die angeblichen Sicherheitsbedenken das zu tun, was der Kollege Sander in Niedersachsen will, nämlich möglichst schnell alles zu verfüllen, Deckel drauf und Ende, ohne zu wissen, was sich darin befindet und ob es langzeitsicher ist. Das machen wir nicht. Wir können das nicht einfach nur deshalb, weil wir keine Lust mehr haben, uns damit zu befassen, zulasten unserer Urenkel vergraben. Das ist unmöglich. ({2}) Zweitens geht es nicht an - das sage ich kritisch an die Grünen gerichtet -, dass wir den Fehler wiederholen, den die Atomindustrie gemacht hat. Die Atomindustrie hat politische Vorgaben machen wollen, wie mit der Asse umzugehen ist. Das hat dazu geführt, dass dieses Chaos entstanden ist. Jetzt sagt Ihr Landstagskollege in Niedersachsen: „Der Gabriel muss das jetzt alles vor der Bundestagswahl entscheiden; sonst glauben wir ihm nicht, dass das notfalls herausgeholt wird.“ ({3}) - Tun Sie mir einen Gefallen, Frau Pothmer: Lassen Sie uns mit den Leuten reden, die etwas von der Sache verstehen. Sie gehören nicht dazu. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Flachsbarth?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Nein, ich würde gerne fortfahren. - Sie fordern „Alles raus, aber schnell!“. Das ist ein Motto für den Winterschlussverkauf. Für die Asse ist es nicht geeignet. Die kritischen Wissenschaftler aus der Region sagen, dass wir Zeit brauchen. Genauigkeit geht vor Schnelligkeit. Es darf keine Schlampigkeit geben, nur weil die Bundestagswahl bevorsteht. Das werden wir durchhalten. Was immer Sie vor Ort sagen, wir werden nichts am Konzept der Langzeitsicherheit ändern, und wir werden nicht, nur weil Sie gerne politischen Wahlkampf machen wollen, Maßnahmen vorschlagen, die die Menschen dort auf lange Sicht gefährden werden. Das werden wir nicht machen, Frau Pothmer, auch wenn Sie es öffentlich fordern. ({0}) Ich möchte noch einige wenige Bemerkungen zum Thema Kernenergie machen. Ich finde, es macht Sinn, den Blick darauf zu richten, wie in der Vergangenheit argumentiert worden ist. Dazu habe ich eine schöne Anzeige gefunden. Das, was heute zu diesem Thema gesagt wurde, scheint wieder in dieselbe Richtung zu führen. Der Wiedergänger in dieser Debatte, Frau Brunkhorst - das immer wieder auftauchende Thema -, ist die Kernenergie selber. Es sind nicht diejenigen, die vor den Gefahren warnen. Ich zitiere: Strom aus Wind: Ja, aber … - Das entspricht ein bisschen Ihrer Debatte. Die Dänen sind europäischer Spitzenreiter bei der Nutzung der Windenergie: 1988 wurde in Dänemark fast jede hundertste Kilowattstunde aus Wind erzeugt - das entspricht einem Anteil von 0,9 Prozent am gesamten Stromverbrauch. Jetzt kommt es: Eine vergleichbar intensive Nutzung der Windkraft ist in der Bundesrepublik wegen anderer klimatischer Bedingungen nicht möglich … Fragen zur Kernenergie beantwortet gerne: Informationskreis Kernenergie Dieselbe Debatte erleben wir heute. Sie wollen den Leuten weismachen, man brauche die Atomenergie in der Grundlast, weil die erneuerbaren Energien nicht ausreichten. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist richtig. Wer öffentlich erklärt, man brauche wegen der fluktuierenden Energie im Netz aus Wind oder Sonne die Atomenergie in der Grundlast, der hat entweder nicht verstanden, wie ein Elektrizitätsnetz oder ein Atomkraftwerk funktioniert, oder er sagt der Öffentlichkeit bewusst die Unwahrheit. ({1}) Atomenergie und erneuerbare Energien sind nicht zu kombinieren. Wer wissen will, was dabei herauskommt, wenn man es versucht, konnte dies gerade beim Abfahren von Biblis A erleben. Man kann Atomkraftwerke nicht als Regelkraftwerke nutzen. Deswegen funktioniert die Kombination Atomenergie und erneuerbare Energien nicht. ({2}) - Es tut mir leid, dass Sie sich jetzt getroffen fühlen. Aber ich meinte Sie auch. ({3}) Diese Kombination funktioniert nicht. Allerdings braucht man Regelkraftwerke aus anderen Energieformen. Selbst wenn wir - wie es die Grünen wollen - bis 2020 den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung auf 40 Prozent erhöhen, brauchen wir Regelkraftwerke. Das sind dann unter den Bedingungen des Emissionshandels Kohle- und Gaskraftwerke. Dass die Grünen den Ausstieg aus Atomenergie und aus der Kohleenergie fordern und dann als einzige Regelenergie die Gasverstromung zur Verfügung steht, ist nicht möglich. Das ist zu teuer. Deswegen ist eine Debatte über die Nutzung im Rahmen des Emissionshandels für Kohle notwendig. Die Atomenergie ist weltweit bei weitem nicht auf dem Vormarsch, wie es öffentlich behauptet wird. Es gibt 436 Atomkraftwerke. 200 davon sind so alt, dass sie in den nächsten Jahren erneuert werden müssten. Es liegen um die 40 Bauanträge vor. Einige davon sind 20 Jahre alt. Vielleicht will man sich nicht auf politische Ausstiegsbeschlüsse verlassen. Auf den Kapitalismus kann man sich in der Regel eher verlassen. Es geht um Kosten in Höhe von 3 bis 5 Milliarden Euro. Es dauert 15 Jahre, bis man das Geld zurückbekommt. Ich bin gespannt, wie sexy dieses Investment nach den Erfahrungen des Finanzmarktes beim Wiederanspringen der weltweiten Konjunktur ist. In Europa befindet sich de facto ein Atomkraftwerk im Bau, und zwar in Finnland. Das wird gerade vor die Wand gefahren. 700 Millionen Euro hat dort ein deutsches Unternehmen versenkt, glaube ich. Die Mehrkosten belaufen sich auf über 1 Milliarde Euro. Die Bauzeit verlängert sich um zwei Jahre. Wenn man so etwas als Wirtschaftsförderung in Deutschland einführen will, dann kann ich nur gute Besserung wünschen. ({4}) Völlig unterschätzt wird die Proliferationsgefahr. Wenn wir den Leuten weltweit sagen: „Die Atomenergie ist das Richtige“, dann machen wir das, was die Inder tun: Sie setzen nicht auf Uran - Frau Kotting-Uhl hat recht, wenn sie sagt, das Uranvorkommen sei begrenzt -, sondern gleich auf Plutonium. Das bedeutet, die Verbreitung waffenfähigen Nuklearmaterials nimmt weltweit auf dramatische Weise zu, wie wir es uns zur Zeit des Kalten Krieges nicht hätten vorstellen können. Wer der Welt erklärt, allein die Atomenergie sei die Energie der Zukunft, der darf sich nicht wundern, wenn ein paar Verrückte in dieser Welt zuhören und sie auch haben wollen. ({5}) - Unter anderem Sie mit Ihrer Propaganda und der Behauptung, es gebe eine Renaissance der Kernenergie. ({6}) Frau Reiche, es war nicht der Bundesumweltminister, der erklärt hat, Atomenergie sei Bioenergie. Das waren doch Sie von der CDU/CSU. Für Sie ist wahrscheinlich die Asse eine Biotonne; das nehme ich stark an. ({7}) Wir jedenfalls setzen weiterhin auf Effizienz und erneuerbare Energien. ({8}) - Herr Kollege, ich habe nicht erwartet, dass meine Rede auf ungeteilten Beifall stößt; das wollte ich auch nicht. Ich möchte Ihnen nicht die Umfragen ersparen, die Sie so nett zitiert haben. Das war zwar sehr freundlich, aber ich muss Sie leider korrigieren. Wir haben auf der BMU-Homepage eine Onlinebefragung - auf diese haben Sie verwiesen - durchgeführt. Es gab 14 726 Votings. Allerdings waren Mehrfachabstimmungen zugelassen. Das Ergebnis ist: 57 Prozent sind gegen den Atomausstieg. Nun hat die Welt, die sich solchen Umfragen offensichtlich sehr verbunden fühlt, diese Umfrage fortgeführt. Man hat wahrscheinlich gedacht: Wir ärgern jetzt den Umweltminister, führen seine Umfrage fort - da so viele Menschen für die Kernenergie sind - und zeigen, wie das geht. - Bei der fortgeführten Umfrage gab es 59 734 Votings. Dabei waren Mehrfachabstimmungen ausgeschlossen. Nun raten Sie einmal, wofür es eine Mehrheit gab? 51 Prozent waren für den Atomausstieg. ({9}) - Sie irren sich. Die Ergebnisse finden Sie weiterhin auf unserer Homepage. Es wird noch besser. Unabhängig von dieser gekaperten Umfrage bietet diese Zeitung seit dem 18. Februar ihren Lesern ein weiteres Onlinevoting zum Atomausstieg an. Auf die Frage: „Sollen alle deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet werden?“ ({10}) - Sie haben das in Ihrer Rede eingeführt, ich zitiere nur die Umfragen, die Sie auch zitiert haben; mehr mache ich nicht - erklären 84 Prozent derjenigen, die an dieser Umfrage teilgenommen haben: Ja, sofort aussteigen. Das Pünktchen auf dem I in Sachen Umfragen setzt die gleiche Zeitung mit einem Bericht vom 1. März 2009, in dem sie auf eine repräsentative Umfrage der GfK im Auftrag der Welt am Sonntag - nun dürften alle im Saal beruhigt sein - hinweist. Unter der Überschrift „Mehrheit will den Atomausstieg“ heißt es: Das Ergebnis zeigt, dass die Vorbehalte gegen Kernenergie in der Bevölkerung noch immer überwiegen: 53,2 Prozent der Befragten plädierten dafür, am deutschen Atomausstieg wie geplant festzuhalten. Nur 29,7 Prozent hielten es dagegen für richtig, die gesetzlich begrenzten Laufzeiten der deutschen Meiler doch wieder zu verlängern. Fazit: Die Debatte über die Renaissance der Kernenergie wird von den Marketingabteilungen der Unternehmen getriggert. Diejenigen, die sich hier missbrauchen lassen, machen sich zu Lobbyisten der vier großen Energieversorger, die 1 Million Euro pro Tag an einem weiterlaufenden, abgeschriebenen alten Atomkraftwerk verdienen. Darum geht es, und nicht um Klimaschutz. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über einen Antrag der Grünen; dort heißt es: Atomkraft ist lebensgefährlich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie haben sieben Jahre lang den Umweltminister gestellt. Wenn Anlagen lebensgefährlich sind, dann muss man sie abschalten, und dann macht man keinen Kompromiss. Ein Bundesumweltminister muss unsichere Anlagen abschalten. ({0}) Sie waren aber offensichtlich nicht so unsicher, dass sie lebensgefährlich waren. Sie machen diese PR-Show rechtzeitig vor der Bundestagswahl, damit Sie ein Thema haben, weil Ihnen sonst im Bundestagswahlkampf nichts einfällt. Das ist ein wirklich durchsichtiges Manöver. ({1}) Die FDP-Bundestagsfraktion strebt langfristig eine vollständig regenerative Energieversorgung an. Aber mittelfristig werden wir weiterhin einen Energiemix brauchen. Alles andere ist Wunschdenken. Man kann es nicht so machen, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern. Dort steht: „ … bis 2020 können es 30 - 50 % sein.“ Der Hintergrund ist: Die Grünen sind sich doch selber nicht einig, wie schnell der Umstieg auf die regenerativen Energien erfolgen kann. Sie haben auf ihren Parteitagen immer wieder die Debatte gehabt, ob die vollständige Versorgung durch regenerative Energien bis 2020 möglich ist. Herr Fell sagt das eine, Herr Loske das andere. Das ist Chaos. So kann man keine verantwortliche Energiepolitik in Deutschland machen. ({2}) Wir als FDP-Bundestagsfraktion glauben, dass eine Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke nötig ist. Ich sage ganz eindeutig: Die Kernenergie ist für uns eine Übergangsenergie. Deshalb bedeutet die Forderung nach einer Laufzeitverlängerung nicht die Forderung nach einem Neubau von Kernkraftwerken. Wir glauben aber, dass wir die Grundlastversorgung für den Wirtschaftsstandort Deutschland eben nicht zu einem vernünftigen Preis sicherstellen können, wenn wir nur auf Gas setzen. Nur auf Gas setzen bedeutet auch die Abhängigkeit von nur wenigen Quellen. Das ist eben nicht verantwortbar. Wir können die Energiepolitik nicht ausschließlich nach einigen wenigen Kriterien machen, die Sie sich wünschen, sondern wir müssen darauf achten, dass die Energieversorgung zu einem vernünftigen Preis auch für unsere Industrie gesichert ist. ({3}) Wir haben hier viel über die Asse gesprochen. Wir sollten aber auch Folgendes in den Blick nehmen: Was ist falsch gelaufen, und was machen wir in der Zukunft? Unabhängig davon, ob wir die Kernkraft weiter betreiben oder nicht und wie lange wir sie weiter betreiben: Klar ist, dass wir in den letzten 50 Jahren Atommüll produziert haben. Daran sind wir alle beteiligt. Meine Damen und Herren von den Grünen, viele von Ihnen waren früher in anderen Parteien, waren zum Teil auch in politischen Jugendorganisationen tätig, zum Teil bei uns - Ihre Vorsitzende etwa war bei den Jungdemokraten oder bei den Sozialdemokraten. Sie können sich hier nicht reinwaschen und so tun, als sei Ihre Bewegung völlig frei von irgendwelchen historischen Verantwortungen. Sie haben sieben Jahre lang den Umweltminister gestellt. Dieser Umweltminister hat sieben Jahre lang nichts getan, um den Atommüll unter die Erde oder wohin auch immer zu bringen. ({4}) Sie haben kein Konzept. Sie können nur kritisieren. Aber Sie haben nichts geleistet. ({5}) Wir wollen nicht - wie hier gerade behauptet wurde, um eine neue Gorleben-Lüge aufzubauen - Gorleben als Endlager in Betrieb nehmen. Wir wollen, dass geforscht wird. Wir wollen im Übrigen auch, dass Konzepte einer rückholbaren Lagerung von Atommüll geprüft werden, aber nicht so, wie das der Umweltminister will, um das Ganze auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben, sondern um tatsächlich eine seriöse Abschätzung zu erreichen: Welches Konzept ist für kommende Generationen von der historischen Verantwortung her, die wir hier alle zu tragen haben, am ehesten zu verantworten? ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter das Wort. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Dinge schlecht laufen, werden wir im Herbst eine Regierung haben, die den Atomausstieg zurücknehmen will. Wie das dann läuft, haben wir gerade erfahren. Im Übrigen: Wer brüllt, hat nicht immer recht. ({0}) Leider könnte dann Schwarz-Gelb die Früchte einer Taktik ernten, die darin bestand, das Abschalten von AKWs in dieser Legislaturperiode zu verhindern. Obwohl der sogenannte Atomkompromiss unter Rot-Grün bereits 2000 beschlossen wurde, gingen seitdem gerade einmal zwei AKWs vom Netz, unter der jetzigen Koalition kein einziges. Der Begriff Atomausstieg verbietet sich eigentlich; denn durch ewig lange Stillstandszeiten und andere Tricksereien wurde ermöglicht, Restlaufzeiten zu bunkern und die Abschaltung in die nächste Wahlperiode zu verschleppen - natürlich in der Hoffnung, unter einer anderen Regierung den Ausstieg endlich zu kippen. Dies haben wir heute bis zum Erbrechen gehört. Es bewahrheitet sich die damalige Prognose der Linken: Die garantierten Restlaufzeiten sind nicht nur eine Verstromungsgarantie für AKW-Betreiber, die sie vorher nie hatten, sondern sie verhindern auch, dass der Ausstieg unumkehrbar wird. Wir aber wollen einen unumkehrbaren Ausstieg. ({1}) Seit Monaten hören wir nun ein Trommelfeuer der Stromkonzerne, Union und Liberalen, sekundiert von RWE-U-Booten bei der Deutschen Energie-Agentur. Es wird behauptet, wir bräuchten in Deutschland neue Atom- und Kohlekraftwerke sowie längere Laufzeiten, da es bald eine Stromlücke geben werde. Das ist falsch. Ich wiederhole: Deutschland hat keine Strom-, sondern eine Handlungslücke. ({2}) Hier nützt auch die Imagekampagne der Energiekonzerne nichts, die explizit für Frauen Überzeugungsarbeit leisten soll. Frauen sind nicht so dumm; sie wissen, was Zukunftsfähigkeit heißt. ({3}) Gerade in der letzten Woche wurde auf dem Jahreskongress der Erneuerbaren Energien die Ausbauprognose bis 2020 bekanntgegeben. Stimmen die politischen Rahmenbedingungen, so ist bis dahin mit einem Ökostromanteil von 47 Prozent zu rechnen. Anfang der 90er-Jahre war noch allgemeine Lehrmeinung, dass es niemals mehr als 4 Prozent erneuerbare Energien im Netz geben werde. Seitdem sind regelmäßig alle Prognosen übertroffen worden, nicht nur die der Bundesregierung und der Wissenschaft, sondern auch die der Erneuerbaren-Branche selbst. Interessanterweise hat die jetzige Prognose den Stromverbrauch vorsichtshalber fast konstant gelassen. Dies ist angesichts der fehlenden politischen Impulse zur Senkung des Energieverbrauchs - man könnte auch sagen: angesichts der Blockade - kein Wunder. Das Energieeffizienzgesetz - Sie wissen, wovon ich spreche; wir streiten im Umweltausschuss gerade darüber - ist längst überfällig und wird vom neuen Wirtschaftsminister torpediert. Erstaunlich ist aber, dass das CCS-Gesetz, das jetzt auch als Kohleverstromungsgarantiegesetz bekannt ist, innerhalb von wenigen Monaten nach Erlass der EURichtlinie ins Kabinett kommt. In der nächsten Woche soll dies so weit sein. Die Milliarden für die riskante Technik stehen auch schon bereit, obwohl es gesellschaftlich und wissenschaftlich höchst umstritten sein dürfte, ob es sinnvoll ist, Milliarden an Tonnen KohlenEva Bulling-Schröter dioxid unter die Erde zu pressen. Das Energieeffizienzgesetz hingegen, das nach EU-Recht schon seit fast einem Jahr umgesetzt sein sollte, liegt immer noch auf Eis. Man hat gelegentlich den Eindruck, als sei die Koalition auf der Suche nach einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: bloß keine wirklichen Fortschritte beim Energiesparen, damit das Märchen von der Stromlücke Wahrheit werden kann. Für interessant halte ich die Aussage von Minister Gabriel im Spiegel, mit einer Großen Koalition sei eine stimmige Energie- und Umweltpolitik nicht zu machen. Wahre Worte! ({4}) Meine Frage ist jetzt, ob es mit einer Ampel funktioniert. Angesichts der heutigen Reden wage ich dies zu bezweifeln. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Union will nun tatsächlich mit der Legende in den Wahlkampf ziehen, Atomstrom senke die Strompreise. Man glaubt offenbar, dass Eon und Co. die Preise jemals unter den Großhandelspreis senken würden. Warum sollten sie das tun? Atomstrom ist in der Herstellung gegenwärtig vielleicht noch preiswert, auch weil die Risiken und Nachfolgekosten nicht eingepreist sind. Die Konzerne brauchen auch keine Versicherungsprämien zu bezahlen, weil keine Versicherung sie annimmt. Sie verkaufen den Atomstrom zum Großhandelspreis an der Börse. Das heißt natürlich, dass die Preise nicht sinken. Deshalb sind Atomkraftwerke - übrigens auch Braunkohlekraftwerke - Gelddruckmaschinen. Jeder Tag Laufzeitverlängerung bringt den AKW-Betreibern rund 1 Million Euro Profit. Diese Zahl wurde schon genannt. Ich denke, das müssen wir den Wählerinnen und Wählern noch viel öfter sagen. So viel zum Thema soziale Preise, von denen Sie, Frau Brunkhorst, reden. Ich wiederhole: 1 Million Euro Profit pro Tag. Um diesen Profit abzukassieren, wäre vielleicht die Brennelementesteuer geeignet, die Herr Minister Gabriel schon seit Monaten plant, die er aber leider nicht durchsetzen kann. Ich habe schon in den Haushaltsberatungen gesagt, dass wir eine Brennelementesteuer unterstützen. Das wäre der einzige Weg, irgendwie an die absurd hohen Gewinne heranzukommen, die den AKW-Betreibern aus dem Emissionshandel zusätzlich zufließen; denn durch die Zertifikatekosten steigt der Großhandelspreis noch ein Stück an. Ich meine, in dieser Beziehung muss wesentlich mehr getan werden. Zum Schluss kann ich sagen: Wer wie die Union die Laufzeiten der Kernkraftwerke um weitere 30 Jahre verlängern will, ist ein verantwortungsloser Lakai der Atomverstromer; ({6}) denn das bedeutet nicht nur 30 Jahre mehr Risiko und zusätzliche Berge von Atommüll, sondern das bedeutet auch 30 Jahre mehr Extraprofite in Milliardenhöhe aus dem Zertifikatehandel. Dann wird es nichts mit sozialen Preisen. Da geht es nur noch um die Gewinne der Konzerne. Vielleicht verspekulieren sie dieses Geld, und dann müssen wir ihnen Zuschüsse geben wie jetzt vielen anderen. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die heutige Debatte ist zum einen dem Bundestagswahlkampf geschuldet, zum anderen habe ich den Eindruck, dass insbesondere bei den Grünen allmählich ankommt, dass sich das Blatt in Sachen Kernenergie wendet. Der Kollege Hirte hat den früheren Greenpeace-Direktor Stephen Tindale zitiert. Das Bemerkenswerte an dem Zitat ist nicht, dass er von seiner Meinung gesprochen hat, sondern das Entscheidende ist, dass er auf die wachsende Zahl von Umweltschützern hingewiesen hat, die sagen, Kernkraft sei vielleicht nicht ideal, aber besser als der Klimawandel. ({0}) Es lassen sich eine ganze Reihe von Zeugen aus diesem Umfeld finden. Da gibt es zum Beispiel Chris Goodall, ein britischer Grüner, also einer von Ihrer Couleur, und etliche andere. ({1}) - Mir war klar, dass Sie jetzt diesen Zwischenruf bringen. Ich führe aber jetzt einen ganz anderen an, weil der Herr Bundesumweltminister dazu einige Bemerkungen gemacht hat, nämlich den Ausstiegskanzler Gerhard Schröder. Er hat am 21. Februar 2009 gesagt, der Iran habe das Recht auf die friedliche Nutzung der Kernenergie. Jetzt frage ich mich, wie das mit dem kompatibel ist, was vorhin der Bundesumweltminister in Bezug auf Schurkenstaaten und zum Thema atomwaffenfähiges Material gesagt hat. Wie geht denn das zusammen? ({2}) Schröder war immerhin der Kanzler der rot-grünen Koalition. Dass Ihnen das nicht gefällt, meine Damen und Herren, ist mir klar. Frau Höhn sagte vorhin, Schweden habe kurz vor dem Super-GAU gestanden; ({3}) deshalb müsse Deutschland aus der Atomenergie aussteigen. Da frage ich mich, warum die Konsequenz aus diesem angeblichen Super-Gau in Schweden der Wiedereinstieg ist. Das ist doch etwas, was man sich beim allerbesten Willen nicht erklären kann. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Nüßlein, Sie haben eben auf Schweden hingewiesen und gesagt, Schweden habe die Konsequenz gezogen, nach dem Fast-Super-GAU wieder in die Atomkraft einzusteigen. Können Sie bestätigen, dass Schweden eine schwarz-gelbe Regierung hat, und damit der Bevölkerung hier deutlich machen, was kommen würde, wenn wir nach der Bundestagswahl Schwarz-Grün hätten, nämlich ein Einstieg in die Atomkraft? ({0}) - Schwarz-Gelb natürlich.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, was uns Schwarz-Grün an dieser Stelle bringen würde. Dieses Szenario hier auszubreiten, würde - so gern ich es tun würde - den Rahmen sprengen. Natürlich ist das eine energiepolitische Entscheidung einer solchen Koalition. Die Koalition dort vertritt die Bevölkerung. Wenn das, was Sie behauptet haben, wahr wäre - dass man dort tatsächlich vor einem GAU gestanden hat -, dann wäre es - da bin ich mir sicher - völlig egal gewesen, welche politische Farbe eine Koalition hat. Sie würden unter solchen Umständen nichts zustande bringen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich glaube nicht, dass das mehrheitsfähig wäre; es wäre hier wie dort nicht durchsetzbar. Damit möchte ich nur zeigen, wie sehr Sie mit dem, was Sie an dieser Stelle immer behaupten, überzeichnen. ({0}) Das zeigt sich durchgängig auch in Ihren Anträgen. In Bezug auf Krümmel und Brunsbüttel sprechen Sie, die Grünen, tatsächlich von Störfällen, obwohl Sie genau wissen, dass das, was dort geschehen ist, nach der internationalen achtstufigen INES-Skala der Stufe 0 entsprach, ({1}) also einem Ereignis ohne Bedeutung; das ist klipp und klar festzustellen. Sie wollen das Ganze natürlich interessegeleitet hochstilisieren, um Stimmung zu machen. ({2}) Das ist ein Unding. Die politische Institution ist das eine. Menschen in diesem Land komplett zu verunsichern, sie in Angst und Schrecken zu versetzen, und zwar nur aus einem Interesse, nämlich daraus politisches Kapital zu schlagen, ist das andere. Das, was Sie dort tun, ist unverantwortlich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höhn?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn die Frau Kollegin einen Dialog wünscht, dann gern.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Höhn, bitte sehr.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Nüßlein, Sie haben eben Krümmel angesprochen. In Krümmel hat der Trafo gebrannt. Wollen Sie hier ernsthaft behaupten, dass diesem Trafobrand die Sicherheitsstufe 0 entsprach? Das hätten wir gerne im Protokoll.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gemäß der internationalen INES-Skala entsprach das der Stufe 0. ({0}) So ist meine Auskunft. ({1}) So muss ich das an dieser Stelle weitergeben. So haben wir es recherchiert. Dass Ihnen das nicht gefällt, ist kein Grund, die INES-Skala zu ändern, Frau Höhn. ({2}) Es stimmt doch, dass sich Ihr Sprachschatz in diesem Zusammenhang aus Wörtern wie „Risiken“, „Terror“, „Lebensgefahr“ und „unverantwortlich“ zusammensetzt. Ich muss an das anknüpfen, was der Kollege Kauch vorhin schon gesagt hat. All das, was Sie jetzt sagen, haben Sie schon gesagt, bevor Sie in Regierungsverantwortung kamen. Dann haben Sie beschlossen, dass die Kernreaktoren in diesem Land noch maximal 20 Jahre laufen dürfen. Ihr Beschluss! In Ihrer Regierungszeit waren Sie also plötzlich der Meinung: Die Kernenergie ist für die nächsten 20 Jahre ungefährlich und akzeptabel. ({3}) - Kompromiss oder nicht Kompromiss: Wenn wir der Meinung wären, dass das Ganze tödlich, lebensgefährlich, von Terrorrisiken nicht abschirmbar ist, dann würden wir dort sofort aussteigen. Im Übrigen haben Sie mit der „Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000“ - ich habe sie da; vielleicht wollen Sie sie noch einmal anschauen - etwas anderes unterschrieben. In dieser Vereinbarung wird den deutschen Kernkraftwerken explizit ein hohes Sicherheitsniveau attestiert. Ich wiederhole: Sie haben diese Vereinbarung unterzeichnet.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Herr Kollege Kauch von der FDP-Fraktion würde gern eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie diese?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung möchte ich Sie fragen, ob es nicht hilfreich wäre - auch im Hinblick darauf, die Akzeptanz der Kernenergie als Übergangsenergie zu sichern -, sich mit Fragen der Reaktorsicherheit aktiv auseinanderzusetzen. Wir können nicht so tun, als gäbe es keine Gefahren, als gäbe es keine Störfälle in deutschen Kernkraftwerken. Es ist wichtig, dass wir uns mit diesen Fragen seriös auseinandersetzen und diese Punkte nicht in diesen Schlagabtausch einbinden.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Niemand sagt, dass wir das nicht tun. Wir tun es auch. Wir haben immer gesagt: Kernenergie muss ein hohes Sicherheitsniveau einhalten. Das ist ganz entscheidend. Im Umweltausschuss haben wir zum Beispiel den Ausstieg aus Euratom abgelehnt - den die Grünen gefordert haben -, weil wir der Meinung sind: Angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Staaten um uns herum wieder für die Kernenergie entscheiden, müssen wir das koordinieren. Dass dabei die nationale Sicherheit ein Thema ist, ist klar. Aber das, was um uns herum passiert, muss uns auch deshalb bewegen - das ist an der Stelle ganz wesentlich -, weil wir nicht sagen können: Deutschland ist die Insel der Glückseligen; bei uns ist das Sicherheitsniveau hoch, und was mit einem Kernkraftwerk auf der anderen Rheinseite ist, ist uns letztendlich egal. Das ist auch die Problematik, über die wir hier diskutieren: Was bringt unter Sicherheitsgesichtspunkten der deutsche Ausstieg aus der Kernenergie? Gar nichts, meine ich. Wenn um uns herum Kernkraftwerke en masse existieren und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch noch neue gebaut werden, dann wird sich an der Sicherheitslage für die Bürgerinnen und Bürger nichts, aber auch gar nichts ändern. ({0}) In Deutschland sind nur Anlagen zulässig, von denen keine Gefahren für Leben und Gesundheit ausgehen. Das ist Atomrecht, das auch schon unter Rot-Grün gegolten hat. Damals haben Sie gemeint, dass die existierenden Anlagen diesem Sicherheitsgrundsatz entsprechen. In der Opposition sind Sie, liebe Kollegen von den Grünen, offenkundig anderer Meinung. Das gilt entsprechend für die Linken. Die Frage ist: Was hat sich seitdem getan? Sie führen jetzt Terrorgefahren an. Der große Terroranschlag in den USA war am 11. September 2001. Danach haben Sie noch vier Jahre regiert. Da fand sich bei Ihnen kein Satz zu diesem Thema. Sie sagen: Keiner der heute betriebenen Reaktoren könnte dem gezielten Angriff mit einem vollgetankten Großraumjet standhalten; das bestätigten sogar die Reaktorbetreiber übereinstimmend. Mir sagen die Reaktorbetreiber etwas anderes. ({1}) Abgesehen von der Frage, ob man die an der Stelle als Kronzeugen nehmen soll: Wenn Sie sie als Zeugen anführen, dann bitte nicht auch noch falsch und nur zu Ihren Zwecken! Bei Ihnen, meine Damen und Herren, gilt der Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel. Deshalb argumentieren Sie mit Störfällen so, wie Sie es brauchen. Das ärgert mich persönlich. Mich als glühenden Anhänger der erneuerbaren Energien ärgert besonders, dass hier ein Gegensatz konstruiert wird. Das ist falsch. Herr Bundesumweltminister, wenn Sie sagen, erneuerbare Energien und Kernenergie gingen nicht miteinander, dann verkennen Sie die Realität. Es funktioniert doch. Wir haben die erneuerbaren Energien ausgebaut, beginnend mit dem Stromeinspeisegesetz unter der Regierung Kohl über das EEG - ein großes Verdienst von Rot-Grün; unbestritten - bis hin zu dessen aktueller Novellierung. Wir brauchen aber auch grundlastfähige Kraftwerke. Grundlast liefern nun einmal die Kernenergie und die Kohle. Wenn man gegen beides ist, muss man sagen, wofür man ist. In nur einem Jahr haben die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land erlebt, wie nacheinander jeweils eine Ecke des Zieldreiecks, das wir hier immer beschwören, wichtiger geworden ist: zunächst der Klimaschutz, dann der Preis, als nämlich die Wirtschaft geboomt hat, und dann die Verlässlichkeit, als Russland den Gashahn zugedreht hat. Das sensibilisiert die Leute. Wir werden erleben - davon bin ich überzeugt -, dass ein Umdenken einsetzt und zu Umfrageergebnissen führt, die dem Bundesumweltministerium nicht passen. Vielen, herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Marco Bülow. ({0})

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Wir brauchen einen nachhaltigen Umbau unseres Energiesystems. Am Ende muss stehen: Unser Energiesystem ist höchst effizient und basiert zu 100 Prozent auf erneuerbaren Energien. Ich glaube, das ist die wichtigste Botschaft; diese sollte man immer wieder an den Anfang setzen. Alles andere wäre klimaschädlich und umweltschädlich. Aber nicht nur das: Es wäre auch wirtschaftlich und sozial nicht verträglich. ({0}) Wir alle wissen ja, dass die fossilen Ressourcen - das gilt übrigens auch für Uran - endlich sind, sogar sehr endlich, wenn wir in Zukunft mehr davon verbrauchen. Wir wissen auch, dass wir von vielen dieser Ressourcen abhängig sind und eine Abhängigkeit von Ländern, in denen Risikoregierungen herrschen, auch für uns ein Sicherheitsrisiko darstellt. Die Frage ist also eher: Wie lange brauchen wir für den Umstieg auf ein anderes Energiesystem, und aus welchem Energieträger steigen wir zuerst aus? Die Sozialdemokratie beantwortet den zweiten Teil der Frage damit, dass wir insbesondere aus der hochriskanten Atomtechnologie aussteigen sollten. Ich erinnere daran, dass es sich bei der Vereinbarung zum Atomausstieg, die ja gerade auch von Ihnen, Herr Nüßlein, noch einmal dargestellt worden ist, um einen Kompromiss handelt. Ich gehörte zu denjenigen, die früher aussteigen wollten, und viele in meiner Partei ebenso. ({1}) Wir haben uns aber zusammengesetzt, weil wir einen friedlichen Übergang haben wollten, und haben einen Kompromiss geschlossen. Wir stehen so lange zu dem Kompromiss, wie das die Atomindustrie auch tut. Sie ist jedoch diejenige, die jeden Monat, fast sogar jede Woche mit Sprüchen und Ankündigungen versucht, einen Beitrag zur Aufkündigung dieses Kompromisses zu leisten. Wenn sie ihn aufkündigt, werden auch wir ihn aufkündigen. Das steht so fest wie das Amen in der Kirche. Das werden wir immer wieder deutlich machen. ({2}) Ich bin es auch leid, immer wieder dagegen anzureden, wenn diese falschen Versprechungen, diese Lügen, die von der Atomlobby vorgebracht werden, für bare Münze genommen werden. Herr Minister Gabriel hat ja gerade ein gutes Beispiel gebracht. 1990 - so lange ist das ja noch nicht her - hat der Informationskreis Kernenergie verlautbaren lassen, dass ein Anteil der Windenergie an der Stromerzeugung in Deutschland von mehr als 0,9 Prozent technisch unmöglich sei. Deren Anteil beträgt jetzt 7 Prozent. Das haben wir in kurzer Zeit geschafft. Wir werden noch viel mehr schaffen. Dann kommt die nächste Lüge gegen die erneuerbaren Energien, nachdem sie jetzt einen gewissen Anteil haben und man sie nicht mehr ganz verteufeln kann. Mittlerweile gibt es ja auch in der Union viele glühende Verehrer, wie wir vernehmen konnten. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Zustimmung zum EEG vonseiten der Union schon in der letzten Wahlperiode noch höher ausgefallen wäre. ({3}) Es ist aber gut, dass sich da etwas verändert hat. Nun wird also gegen die Erneuerbaren vorgebracht: Ja, aber der Wind weht nicht immer, die Sonne scheint nicht immer; eine sichere Versorgung bekommen wir nur hin, wenn wir auf Atomenergie zurückgreifen können. Auch das stimmt nicht. Es gibt zum einen viele Kraftwerke auf Basis fossiler Energieträger, die dazu ihren Beitrag leisten können, und zum anderen - darauf hat noch kein Redner hingewiesen - gibt es die Möglichkeit, verschiedene Arten erneuerbarer Energien in Kombikraftwerken zusammenzuschließen. ({4}) Wenn wir das fördern, werden wir sehen, dass durch das Zusammenwirken verschiedenster erneuerbarer Energien auch der Grundlaststrombedarf abgedeckt werden kann. Darüber müssen wir eine Diskussion führen; denn dabei geht es um Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit. ({5}) Ich könnte noch auf viele weitere Geschichten eingehen. Über Asse ist ja schon viel diskutiert worden. Es handelt sich natürlich auch um eine typische Atomlüge, wenn gesagt wird, die Asse sei sicher. Diese Reihung könnte man noch deutlich weiterführen. Aber zur Asse ist, wie ich denke, genügend gesagt worden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Bülow, darf ich Sie unterbrechen? Herr Kollege Fell hätte gerne eine Zwischenfrage gestellt.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bülow, ich fand es sehr bemerkenswert, wie vehement Sie für erneuerbare Energien sprechen und dass Sie dargestellt haben, dass im Zusammenhang mit erneuerbaren Energien nicht wirklich ein Grundlastproblem besteht. Ich stimme Ihnen völlig zu, dass man dieses Problem auch innerhalb des Systems der erneuerbaren Energien lösen kann, da deren Wachstumsgeschwindigkeit ja sehr hoch ist. Ich möchte Sie nun fragen: Warum spricht Ihr Minister Gabriel nicht solche Worte? Er spricht davon, dass der Anteil erneuerbarer Energien bis 2020 maximal 20 Prozent betragen könne, obwohl wir wissen, dass deren Wachstumsgeschwindigkeit wesentlich höher liegt. Er spricht weiterhin davon, dass man im Rahmen des Ausbaus erneuerbarer Energien Kohlekraftwerke, obwohl diese das Klima zerstören, zur Abdeckung der Grundlast bräuchte. Ich bin verwirrt über diese Darstellungen vonseiten eines SPD-Ministers. Welcher wirklichen Erkenntnis folgt denn nun die SPD?

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Erkenntnis der SPD und genauso die des Ministers ist, dass wir die Erneuerbaren immer weiter fördern und ausbauen. Ich denke, es ist wichtig, auch das noch einmal zu erwähnen. Viele von den Grünen haben ja befürchtet, dass es unter einer Großen Koalition zu einem Abbruch bei der Entwicklung der Erneuerbaren komme. Genau das ist nicht der Fall. Die Erneuerbaren sind weiter ausgebaut worden, und zwar unter Schwarz-Rot, und dieser Ausbau wird fortgeführt. Wir diskutieren gerade darüber - übrigens zusammen mit dem Ministerium; hier gibt es schon in weiten Teilen Einigkeit -, einen Kombikraftwerkbonus zu installieren, um erstens die Marktintegration der Erneuerbaren zu fördern und zweitens dazu beizutragen, dass auf diese Weise auch Grundlast bereitgestellt wird. Es gibt an dieser Stelle eine große Einigkeit in der SPD und auch eine Annährung von SPD und Union. Die Große Koalition ist also auf einem guten Weg, den wir gemeinsam mit dem Bundesministerium weitergehen werden. ({0}) Ich möchte jetzt auf das Argument „Atomenergie ist so billig“ - auch das ist schon angesprochen worden eingehen. Dieses Argument lässt sich mit einem Satz wegwischen. Ich frage mich: Wenn Atomkraft so billig ist, warum haben dann die Bürgerinnen und Bürger nichts davon? Die Atomenergie hat in Baden-Württemberg den höchsten Anteil an der Stromerzeugung, nämlich 55 Prozent. Der Strompreis in Baden-Württemberg müsste also besonders günstig sein. Das ist er aber nicht. Das Gleiche lässt sich für Bayern sagen. Daran erkennt man: Atomkraft macht den Strompreis nicht günstiger. Das sollte man als Fakt festhalten. Als nächsten Fakt sollte man festhalten, dass bis jetzt - die Zahl ist je nach Rechenweise verschieden; gehen wir einmal von der untersten Grenze aus - 45 bis 100 Milliarden Euro an Investitionen und Subventionen der öffentlichen Hand in die Atomenergie geflossen sind. Wenn in anderen Bereichen diese Summe mit solch geringem Erfolg investiert worden wäre, hätte sich das betreffende Thema schnell erledigt. Es gibt keine Brennstoffsteuer. Für die Atomenergie gibt es die Möglichkeit, steuerfreie Rückstellungen in beliebiger Höhe zu bilden. Außerdem wird nicht die eigentlich notwendige Versicherungssumme abgedeckt. Das sind versteckte Subventionen, die wir einmal offenlegen müssen. Erst dann lassen sich die eigentlichen Kosten berechnen. Lassen wir einmal - das ist auch gefordert worden die ganze Sicherheitsdiskussion beiseite. Tun wir einmal so, als wäre die Atomenergie supersicher und als würde nie etwas passieren, obwohl Herr Kauch gerade dankenswerterweise zugegeben hat, dass dem sicherlich nicht so ist. Seit 50 Jahren wird geforscht, gefördert, subventioniert, lobbyiert und alles dafür getan - in Deutschland sind, wie gesagt, 45 bis 100 Milliarden Euro in die Atomenergie geflossen; weltweit sind es Billionen -, dass die Atomenergie zu einem großen Erfolg wird. Was ist das Ergebnis nach 50 Jahren? Es gibt 435 Atomkraftwerke, die aber nur einen Anteil von 2,5 Prozent am Endenergieverbrauch haben. Das Uran wird knapper. In den letzten Jahren - das zur Renaissance der Atomkraft - sind mehr Atomkraftwerke abgeschaltet als neue gebaut worden. Die Terrorgefahr ist gewachsen. Weltweit werden weiterhin Steuergelder bereitgestellt. Diese müssen auch bereitgestellt werden, weil die Endlagerfrage immer noch nicht gelöst ist. Und das alles nach 50 Jahren! Die Atomenergie ist für mich der größte Technikflop der letzten Jahrzehnte. Es ist überfällig, einmal darüber zu sprechen. ({1}) Die Atomenergie ist vor allem eines nicht: generationengerecht. Im Zusammenhang mit den Finanzen und mit vielen anderen Themen wird viel über Generationengerechtigkeit gesprochen. Ich denke, das ist zum Teil gerechtfertigt. Aber was ist generationengerecht daran, wenn wir bestimmen, dass die Atomenergie genutzt wird und so der strahlende Müll viele kommende Generationen belasten wird? Die Generationen, die zukünftig durch die Kosten und den Atommüll belastet werden, werden vorher nie die Chance gehabt haben, darüber zu entscheiden, ob sie Atomkraft haben wollen oder nicht. Das ist nicht nur nicht nachhaltig, sondern die größte Ungerechtigkeit, die man den zukünftigen Generationen antun kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten lieber über das diskutieren, worüber es jetzt zumindest Ansätze von Einigkeit gibt. Wir müssen unsere Effizienz deutlich steigern. Das ist aber bis jetzt nur ein Lippenbekenntnis, weil wir in diesem Punkt in der Großen Koalition nicht zusammenkommen. Der alte Wirtschaftsminister - ich fürchte, das wird auch beim neuen Wirtschaftsminister so sein - hat uns Energieeffizienzgesetze vorgelegt, die uns keinen Schritt weiterbringen. Wir brauchen aber eine Steigerung der Energieproduktivität von 3 Prozent pro Jahr, die wir im Augenblick leider nicht erreichen. Dieses Potenzial müssen wir stärker ausnutzen. Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben. Da sind wir in der Großen Koalition ein Stück weitergekommen. Wir dürfen an dieser Stelle nicht nachlassen. Gerade im Wärmebereich sind die Potenziale sehr groß. Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass immer mehr Energie eingespart wird, die im Moment noch nutzlos verpulvert wird. Diesen Weg müssen wir weiterverfolgen. Wir müssen effizienter werden, Energie einsparen und die erneuerbaren Energien ausbauen. Wenn wir das erreichen, haben wir eine sehr gute Chance, ein Energiesystem auch ohne Atomenergie zu schaffen, das Sicherheit garantiert und zukunftsfähig ist. Damit können wir weltweit zeigen, dass das der Weg ist, den man beschreiten kann und den auch andere einschlagen können. Dies sollte der Weg im Hinblick auf eine nachhaltige Energiewende sein. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Philipp Mißfelder für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich, ähnlich wie es schon andere Redner getan haben, auf den eigentlichen Grund dieser sehr ausführlichen Debatte am heutigen Tage eingehen. Sie, Frau Kollegin Höhn, sowie Ihre Kolleginnen und Kollegen versuchen hier, Ihre Sammlung von vielen Anträgen, über die wir schon seit Jahren diskutieren und zu denen Sie und wir schon oft hier im Hause gesprochen haben, im Vorwahlkampf zu platzieren. Um nichts anderes geht es hier. Es geht Ihnen nicht um die Sache, ({0}) sondern darum, die schlechten Umfragewerte der Grünen dadurch zu konterkarieren, dass Sie zu Ihren Wurzeln zurückkehren. Deshalb tragen Sie heute diese vielen Anträge vor. ({1}) Am erstaunlichsten finde ich dabei, dass das nicht nur für uns offensichtlich ist, sondern auch für jeden anderen dadurch sichtbar wird, dass nur noch eine sehr erlesene Schar von Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion anwesend ist. Wenn Ihnen das alles so wichtig ist, wie Sie sagen, dann frage ich mich: Wo sind die alle von den Grünen? Warum sind nur so wenige da, wenn ihnen das Thema so am Herzen liegt, wie Sie es die ganze Zeit in Ihren Reden behauptet haben und wie es an Ihren Zwischenrufen deutlich wird? ({2}) Vielleicht haben sie Besseres zu tun, als an dieser Debatte teilzunehmen. ({3}) Das Zweite, was ich im Verlauf dieser Debatte sehr interessant fand, war die Richtung, in die der Bundesumweltminister argumentiert hat. Man wusste gar nicht, wohin er wollte. Wohin er in der Sache will, daran habe ich keinen Zweifel; das ist bekannt. Man wusste aber nicht, welche Richtung er im Hinblick auf die Farbenspiele einschlagen wollte. Es ist nicht überraschend, dass er die CDU/CSU - ich nehme meine liebe Kollegin Reiche in Schutz, die der Bundesumweltminister in seinen Schlussausführungen explizit angesprochen hat angegriffen hat. Ein bisschen mehr überrascht mich, dass auch die FDP trotz der Anwerbeversuche der SPD gegenüber den Liberalen ihr Fett abbekommen hat. ({4}) Sie werden ja ansonsten von der SPD bei jeder sich bietenden Gelegenheit umgarnt. Es wurde also der Großen Koalition eine Absage erteilt, und die Ampel wackelte. Noch mehr erstaunt hat mich das Feuerwerk, das gegen die Positionierung der Grünen abgebrannt worden ist. Das kann nun wirklich nicht auf taktischen Überlegungen beruhen, sondern nur auf rein sachlichen Überlegungen. ({5}) Dem möchte ich mich anschließen; denn ich bin wie der Bundesumweltminister dezidiert der Meinung, dass Sie Polemik betrieben und keinen Schritt in Richtung einer stärkeren Versachlichung der Debatte gemacht haben. ({6}) Ich möchte auf einiges eingehen, was Sie in Ihren Anträgen dargestellt haben; Sie sind darauf sehr wenig eingegangen. Zum Beispiel schlagen Sie anderen Ländern vor, Energie zu sparen, um den Klimawandel abzumildern. Dabei nennen Sie explizit auch die osteuropäischen Länder. Ich frage Sie ganz konkret: Wie soll das denn bitte vonstattengehen? Sie sagen, sie sollten die Kernkraftwerke abschalten. Dadurch würden sie aber in hohem Maße auf ihren erreichten Lebensstandard verzichten. Wissen Sie eigentlich, wie sich insbesondere in Osteuropa die wirtschaftliche Situation angesichts der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise darstellt? Es ist eine Katastrophe, was gerade in diesen Ländern passiert. ({7}) Sie sagen dann mit der Arroganz des Wohlstands: Das ist kein Problem. Das interessiert uns nicht; sollen die doch Energie sparen. - Dazu muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: An dieser Stelle verstehe ich Ihre Argumentation überhaupt nicht mehr. ({8}) Ich möchte den Bogen direkt zur innenpolitischen Debatte in Deutschland schlagen. Sie sagen immer wieder: ({9}) Wir müssen mehr in erneuerbare Energien investieren. Das tun wir auch. Das tut die Regierung. Da haben wir sehr viel erreicht, im Übrigen auch im Konsens mit fast allen Fraktionen. Aber es ist trotzdem so, dass dies zunehmend auch eine soziale Qualität bekommt; denn es ist immer noch nicht geklärt, wer die Kosten dafür letztPhilipp Mißfelder endlich tragen soll. Wer soll den Ausbau der erneuerbaren Energien um jeden Preis bezahlen? ({10}) Ich kann nicht verstehen, warum Sie sich da festbeißen und nur in Richtung einer Verteuerung der Energiepreise in Deutschland argumentieren, was besonders die Menschen in unserem Land treffen würde, die wenig verdienen, aber noch zu viel, um vom Staat alimentiert zu werden. ({11}) Das kann ich einfach nicht unterstützen. Für mich ist das eine soziale Frage. Wir müssen auch in Zukunft Energiepreise haben, die für Bezieher niedriger Einkommen bezahlbar sind. ({12}) Von mehreren Rednern wurden hier prominente Vertreter der grünen Bewegung aus der ganzen Welt angeführt. Der frühere Greenpeace-Chef ist hier schon mehrfach zitiert worden; auch ich will das tun. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Mißfelder, wollen Sie vielleicht, bevor Sie das tun, Frau Bulling-Schröter Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sehr gern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Mißfelder, Sie haben über soziale Energiepreise gesprochen. Ich denke, das ist ein wichtiges Thema. Damit müssen wir uns wesentlich mehr beschäftigen. Es freut mich, dass Sie das angesprochen haben. Meine Frage an Sie lautet: Wir haben uns ja schon des Öfteren über Windfall Profits unterhalten. Die Energiekonzerne erhalten 91 Prozent der Zertifikate kostenlos. Sie preisen sie allerdings ein, geben die Preise also weiter. ({0}) Das wird vonseiten der Bundesregierung nicht bestritten. Das sind Sonderprofite. Einen Teil davon könnten wir nutzen, um die sozialen Energiepreise zu gestalten. Von unserer Seite gab es dazu eine ganze Reihe von Anträgen, die leider nie eine Mehrheit fanden. Jetzt höre ich von Ihnen, dass Sie sich auch um die ärmeren Menschen in diesem Land kümmern wollen. Wie könnte eine solche Regelung Ihrer Meinung nach ausschauen? Sind Sie bereit, einen Teil dieser Profite abzuschöpfen, um diese Menschen zu unterstützen?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In den vergangenen Wochen und Monaten mag der Eindruck entstanden sein, der Staat könne wirklich alles regeln und müsse auch an jeder Stelle eingreifen. Ich aber glaube, Frau Kollegin, dass die Zukunft einer sicheren, klimafreundlichen und preisgünstigen Energieversorgung in Deutschland vor allem davon abhängt, ob wir in Zukunft genügend Investitionen in unserem Land haben. Deshalb glaube ich, dass der Markt in diesem Zusammenhang nicht das Schlechteste ist. ({0}) Ich wünsche mir natürlich mehr Wettbewerb und einen stärkeren Markt, auch im Bereich der Energieversorgung. ({1}) Ich sage aber auch, dass wir Investitionen nicht durch eine falsche Gesetzgebung verhindern dürfen. Es wäre falsch, wenn wir in der Politik die Richtung einschlagen würden, die Sie fordern. Wir müssen vielmehr für unseren Standort werben und dafür sorgen, dass dieser Standort so attraktiv ist und die Investitionshürden so gering sind, dass wir in Deutschland das Bestmögliche und das technologisch Wirksamste haben. Wir brauchen tatsächlich die beste Technologie im Bereich der Energie. ({2}) Ich glaube, dass das sozialer ist, als eine Umverteilungsmaschinerie in Gang zu setzen. Eine solche Forderung ist angesichts der Geschichte Ihrer Partei allerdings nicht verwunderlich. Sie überraschen mich damit kaum. ({3}) Jetzt möchte ich mich aber doch noch einmal mit dem Antragsteller, den Grünen, beschäftigen. Frau Höhn, Sie haben hier gerade aktiv für eine schwarz-grüne Kooperation geworben. Anscheinend ist Ihr Herz von dieser vermeintlichen Option so voll, dass Ihnen das rausgerutscht ist. Ich muss Sie aber enttäuschen: Das wird so nicht funktionieren. Dafür müssten Sie realitätsnäher werden. Sie müssten sagen, wie Sie die Energiepolitik in Zukunft gestalten wollen. ({4}) Ich rate Ihnen, sich in den von Ihnen bevorzugten Urlaubszielen einmal umzuschauen. Ich meine nicht Sie persönlich. Ich weiß nicht, wohin Sie in Urlaub fahren, und ich will es auch nicht wissen. Sie sollten aber einmal genau hinschauen, was die bevorzugten Urlaubsdomizile der Grünen sind. Lieblingsurlaubsziele der Grünen sind - die Toskana nenne ich jetzt nicht - Schweden und Finnland. ({5}) Schauen Sie sich in diesen Ländern einmal an, was dort passiert. Dort gibt es eine Renaissance der Kernenergie, weil diese Länder keine Abhängigkeit vom Gas aus Russland wollen, weil sie eine sichere und preisgünstige Energieversorgung wollen und weil sie auch in Zukunft gegen den Klimawandel angehen wollen. Das geht nun einmal nur, wenn Sie die Kernenergie als Option erhalten - nicht ausschließlich; aber sie darf nicht vernachlässigt werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit ist die Aussprache geschlossen. Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen 16/12288 und 16/10359 an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung auf- geführt sind. - Damit sind Sie offensichtlich einverstan- den. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz neh- men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 16/7882, den Antrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6319 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion und Gegen- stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke. Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Sicherheit geht vor - Besonders terroranfäl- lige Atomreaktoren abschalten“. Der Ausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8469, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 16/3960 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie die vorherige angenom- men. Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraftwerke in Osteuropa“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/12312, den An- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11764 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussemp- fehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen angenommen. Die Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke haben da- gegen gestimmt. Die Fraktion der FDP hat sich enthalten. Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine Schließung des Forschungs- endlagers Asse II unter Atomrecht und eine schnelle Rückholung der Abfälle“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12270, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4771 abzulehnen. Wer stimmt für die Be- schlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthal- tungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenom- men bei Zustimmung von SPD, CDU/CSU und FDP und Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd- nis 90/Die Grünen. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 d und 39 f bis 39 r sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf: 39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes - Drucksache 16/12117 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gefahrgutbeförderungsgesetzes - Drucksache 16/12118 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Freihäfen Emden und Kiel - Drucksache 16/12228 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland, Bonn - Drucksache 16/12229 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Technikfolgenabschätzung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Kultur und Medien f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen und der Direktzahlungen - Drucksache 16/12231 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und Kompetenzen im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes - Drucksache 16/12232 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Vorsorge für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ ({6}) - Drucksache 16/12233 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Protokoll vom 26. März 1999 zur Haager Konvention vom 14. Mai 1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten - Drucksache 16/12234 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({7}) Ausschuss für Kultur und Medien j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Bosnien und Herzegowina andererseits - Drucksache 16/12235 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({8}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen - Drucksache 16/12257 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({9}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung medizinprodukterechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/12258 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend m)Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({11}), Joachim Günther ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verkehrsschilder reduzieren - Verkehrssicherheit bewahren - Drucksache 16/10612 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr Sicherheit auf deutschen Straßen - Masterplan Vision Zero - Drucksache 16/11212 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausbauziele der Offshore-Windenergie nicht gefährden - Raumordnungsplanung des Bundes überarbeiten - Drucksache 16/11214 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({15}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Bahnstrom auf erneuerbare Energien umstellen - Drucksache 16/11930 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({16}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit q) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- desrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2008 - Einzelplan 20 - - Drucksache 16/12091 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss r) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Kurth ({17}), Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stärkung des europäischen Haischutzes - Drucksache 16/12290 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({18}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({19}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren - Drucksache 16/12310 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({20}) Innenausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, CarlLudwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Maßnahmen zur effektiven Regulierung der Finanzmärkte - Drucksache 16/10876 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({21}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung der Unterrichtung durch die Deutsche Welle Zweite Fortschreibung der Aufgabenplanung der Deutschen Welle 2007 bis 2010 mit Perspektiven für 2010 bis 2013 und Zwischenevaluation 2008 - Drucksache 16/11836 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({22}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Mitnahmefähigkeit von beamten- und soldatenrechtlichen Versorgungsanwartschaften - Drucksache 16/12036 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({23}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 j sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 40 a: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung Erweiterung des Beschlagnahmeschutzes bei Abgeordneten - Drucksache 16/10572 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({24}) - Drucksache 16/12314 Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder ({25}) Jörg van Essen Wolfgang Nešković Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12314, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/10572 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Ich komme zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 40 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Montenegro andererseits - Drucksache 16/12064 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({26}) - Drucksache 16/12305 Berichterstattung: Abgeordnete Philipp Mißfelder Uta Zapf Dr. Werner Hoyer Marieluise Beck ({27}) Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12305, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12064 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei Zustimmung der CDU/CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP und bei Ablehnung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 40 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({28}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zweite Verordnung zur Änderung der Altfahrzeug-Verordnung - Drucksachen 16/12106, 16/12181, 16/12313 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Horst Meierhofer Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12313, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 16/12106 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der Linken und der FDP und bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen ohne Gegenstimmen angenommen. Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 40 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 536 zu Petitionen - Drucksache 16/12123 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 40 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 537 zu Petitionen - Drucksache 16/12124 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 40 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 538 zu Petitionen - Drucksache 16/12125 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen, der FDP und des Bündnisses 90/ Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ohne Gegenstimmen angenommen. Tagesordnungspunkt 40 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 539 zu Petitionen - Drucksache 16/12126 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/ Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 540 zu Petitionen - Drucksache 16/12127 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen, der Linken und des Bündnisses 90/ Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 40 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 541 zu Petitionen - Drucksache 16/12128 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der FDP und bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 40 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 542 zu Petitionen - Drucksache 16/12129 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen, bei Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und der Linken und bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 3: Beratung des Antrags der Bundesregierung Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung - Drucksache 16/12282 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Umsetzung des Beschlusses der EU in Deutschland für einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Dienstleistungen Der Kollege Ernst Burgbacher hat für die FDP-Fraktion das Wort. ({3})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Woche haben die Finanzminister der EU beschlossen, dass bei arbeitsintensiven Dienstleistungen jedes Land selbst den reduzierten Mehrwertsteuersatz einführen kann. Der Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland hat dieser potenziellen Steuersenkung auf europäischer Ebene zugestimmt, gleichzeitig aber gesagt, dass er sie dem eigenen Land vorenthalten will. Das ist für uns ein unglaublicher Vorgang. ({0}) Es kann nicht sein, dass ein deutscher Finanzminister auf europäischer Ebene so handelt. ({1}) Das ist allerdings genau der Stil des Bundesfinanzministers: Wenn die Großen etwas wollen, werden sie mit offenen Armen empfangen. Wenn die kleinen und mittelständischen Familienbetriebe etwas wollen, wird die Tür zugeschlagen. Exakt das ist hier der Fall. Wenn Sie 1 000 Familienbetriebe in Hotellerie und Gastronomie mit durchschnittlich 20 Arbeitskräften pro Betrieb nehmen, kommen Sie auf 20 000 Beschäftigte. Die stehen dann auf der Straße, und es kümmert sich niemand. Um die Großen aber kümmert man sich. ({2}) Ich will mich aufgrund der mir zur Verfügung stehenden Zeit in der Argumentation auf Hotellerie und Gastronomie beschränken und Ihnen an ganz konkreten Beispielen aufzeigen, worum es geht. Früher sind viele Deutsche über den Rhein nach Frankreich, vor allem in das Elsass, gefahren, um dort essen zu gehen. Durch enorme Qualitätssteigerungen in der deutschen Gastronomie hat sich das mittlerweile nahezu ausgeglichen. Der Trend geht eher in die andere Richtung. Bisher lag der Mehrwertsteuersatz in Frankreich im Gastronomiebereich bei 19,6 Prozent. Jetzt wird er, und zwar sehr schnell, auf 5,5 Prozent gesenkt. Deutschland aber bleibt bei 19 Prozent. Das ist unglaublich. ({3}) Was bedeutet das konkret? Wenn eine Familie in Deutschland essen geht und dafür 100 Euro bezahlt, dann bleiben dem deutschen Wirt davon 84 Euro. Wenn dieselbe Familie über den Rhein nach Frankreich fährt und dort 100 Euro bezahlt, bleiben dem französischen Wirt 94,80 Euro, also knapp 95 Euro. Das sind 11 Euro mehr. Für den deutschen Gastronomen bedeutet das, dass er entweder die Preise erhöhen oder die Qualität reduzieren muss, sei es in der Küche oder beim Service. Er ist dann aber nicht mehr wettbewerbsfähig. Genau das ist der Punkt. In 22 von 27 Ländern der Europäischen Union gilt der reduzierte Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie. In 11 von 27 Ländern gilt der reduzierte Mehrwertsteuersatz für die Gastronomie. Sie können nach den Ecofin-Beschlüssen davon ausgehen, dass diese Zahl ebenfalls auf 22 steigt. Das heißt, heutzutage ist der reduzierte Mehrwertsteuersatz in Europa der Normalfall. Der Finanzminister aber sagt: Mit mir gibt es in Deutschland keine Änderungen. - Wer so argumentiert, der setzt die Arbeitsplätze von Hunderttausenden Menschen und auch von weit über einhunderttausend Auszubildenden aufs Spiel. Er nimmt nicht nur in Kauf, dass keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden - was durchaus möglich wäre -, sondern auch, dass bestehende Arbeitsplätze gefährdet werden. Das alles tut er als Sozialdemokrat. ({4}) Die Menschen draußen werden sich sehr gut überlegen, wie sie das zu bewerten haben. Angesichts der Wettbewerbssituation in Europa und der Verpflichtung des Gesetzgebers, unseren Unternehmen durch die Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen zu helfen, fordert die FDP klipp und klar die Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozent für Hotellerie und Gastronomie. ({5}) Liebe Freunde von der Union, was Sie hier gerade liefern, ist kein wohlschmeckendes Gericht. Der Herr Seehofer kündigt eine Bundesratsinitiative für diese Woche an und zieht sie wieder zurück. ({6}) Der Tourismusbeauftragte reist mit dieser Forderung durch das Land, hat aber im eigenen Lager noch nicht einmal eine Mehrheit. Der baden-württembergische Finanzminister Stächele spricht sich für den reduzierten Mehrwertsteuersatz aus, ({7}) der baden-württembergische CDU-Abgeordnete Krichbaum lehnte ihn heute Morgen strikt ab. Wir erwarten jetzt von Ihnen eine Positionierung, ({8}) und wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich den mittelständischen und kleinen Familienbetrieben helfen und dass Sie heute klar signalisieren, dass der reduzierte Mehrwertsteuersatz eingeführt werden wird! ({9}) Sie müssen das jetzt tun. Ich sage ganz deutlich: Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, ({10}) dass Sie ein paar Leute vorschicken, die sagen dürfen, was sie wollen, und alle anderen zurückgepfiffen werden. Es geht um kleine mittelständische Familienunternehmen. Es geht um viele Hunderttausend Menschen, die in diesem Bereich Arbeit finden. Sie haben es in der Hand, ob in diesem Bereich neue Arbeitsplätze entstehen oder ob bestehende vernichtet werden. Für die FDP erkläre ich klipp und klar: Die FDP steht dazu. Wir wollen die Einführung dieser reduzierten Mehrwertsteuersätze,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, klipp und klar: Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- und zwar möglichst nicht erst nach der Wahl, sondern jetzt; denn die Probleme stellen sich nicht erst später, sondern jetzt. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es spricht der Kollege Eduard Oswald für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleich vorweg: Im gemeinsamen Wahlprogramm von CDU und CSU werden wir für den Bereich der Steuerpolitik unter anderem drei Punkte darstellen: Erstens. Wir werden die Ungereimtheiten im System der Mehrwertsteuer beseitigen. ({0}) Zweitens. Wir werden an der Reform der Lohn- und Einkommensteuer arbeiten, sodass die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wieder mehr Geld in der Tasche haben werden. ({1}) Drittens. Im Rahmen der Unternehmensteuerreform werden wir Hemmschwellen beseitigen, die die wirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens heute blockieren. Damit werden wir den Standort Deutschland stärken. ({2}) Übrigens, Kollege Burgbacher: Eine Umsetzung in deutsches Recht kann bekanntlich erst im Rahmen einer Änderung der Mehrwertsteuerrichtlinie erfolgen. Der Ecofin-Rat ist übrigens dem sehr viel weiter reichenden Vorschlag der tschechischen Ratspräsidentschaft nicht gefolgt, den ermäßigten Umsatzsteuersatz generell auf Lieferung, Bau, Renovierung, Umbau und Instandhaltung von Wohnungen zur Anwendung zuzulassen. Auch dies muss erwähnt werden. Die Forderung verschiedener Branchen nach einer Aktualisierung des Mehrwertsteuerkatalogs - dieser ist umfassender, als dies Herr Kollege Burgbacher dargestellt hat - ist für mich gut nachvollziehbar, da die überwiegende Zahl der aktuell geltenden Mehrwertsteuerer22766 mäßigungen auf das Jahr 1968 zurückgeht und zwischenzeitlich das eine oder andere heute nicht mehr nachvollziehbar ist. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir das Thema angehen müssen. Einzelne Beispiele machen dies deutlich. Dass Pralinen und Gänseleber mit 7 Prozent besteuert werden, Mineralwasser jedoch mit dem vollen Mehrwertsteuersatz, versteht man ebenso wenig wie die Regelung, dass man auf Futter für Haustiere 7 Prozent, für Babynahrung jedoch 19 Prozent entrichten muss. ({3}) Äpfel zum Essen werden ermäßigt besteuert. Der Fruchtsaft - wenn man sie durch die Presse schickt wird voll besteuert. Für Kaffee gilt Ähnliches. Kaffeepulver wird mit 7 Prozent versteuert. Handelt es sich um Kaffee, dann ist der volle Steuersatz fällig. Weitere Beispiele könnte man erwähnen. Wir brauchen - und dafür steht unsere Fraktion - eine für jeden Bürger verständliche Lösung, ein schlüssiges Konzept, das auch logisch ist. Der Bürger darf nicht erst im Katalog nachschauen müssen, wie nun versteuert wird. Es muss steuersystematisch richtig sein. Es wird doch wohl zu schaffen sein, dass wir im Steuerrecht etwas hinbekommen, was nicht kompliziert ist. ({4}) Im Gastronomiebereich zeigen sich heute schon Wettbewerbsverzerrungen in grenznahen Regionen. Durch einen Mehrwertsteuersatz von nur 10 Prozent in Österreich und einem noch niedrigeren in der Schweiz werden Gaststätten, die gerade in den grenznahen Tourismusregionen in einem harten Wettbewerb stehen, unzumutbar benachteiligt. Das steht außer Frage. Für mich persönlich gilt auch: Wer es den EU-Nachbarn gestattet, die Mehrwertsteuer zu senken, muss auch für das eigene Land eine Lösung erarbeiten. ({5}) Deshalb ist selbstverständlich auch die Frage nach den Auswirkungen auf den Haushalt zu stellen. Wir haben in dieser Periode vieles geleistet, auch bei der Sanierung des Haushaltes. Manches, was heute in der Finanzund Wirtschaftskrise getan werden muss, wäre ohne diese Sanierung nicht möglich. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, zu sagen, dass wir bei einer Absenkung des Steuersatzes im Bereich der Gastronomie Steuerausfälle in Höhe von rund 3 Milliarden Euro zu verzeichnen hätten. Nimmt man den Bereich Beherbergung dazu, fallen die Steuerausfälle vermutlich um 1 Milliarde höher aus. Arzneimittel würden mit fast 4 Milliarden Euro, Mineralwasser mit 0,3 Milliarden Euro, Kinderbekleidung und Schuhe mit 1 Milliarde Euro, Kinderspielzeug mit 0,5 Milliarden Euro zu Buche schlagen. Damit habe ich einige der Felder beschrieben, bei denen von der Politik zu Recht etwas erwartet wird. Die Aufgabe ist also etwas umfassender, als vorhin dargestellt wurde. Ich will, dass eine Mehrwertsteuerermäßigung über Preissenkungen tatsächlich an die Verbraucher weitergegeben wird. Darum geht es uns. ({6}) Das Problem ist aber, dass dies leider niemand sicherstellen kann, da die Mehrwertsteuer nur ein Preisbestandteil von vielen ist. Wir werden also ein schlüssiges Gesamtkonzept erarbeiten ({7}) - dabei werden wir sorgfältig vorgehen - und eine tragfähige und umfassende Lösung entwickeln, durch die die Menschen überzeugt werden und die zudem auch solide finanzierbar ist. ({8}) In den verbleibenden sieben Sitzungswochen bis zur Wahl einen Schnellschuss abzugeben, wäre auch angesichts der Herausforderungen, die wir im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen haben, wirklich die falsche Antwort. ({9}) Wir werden das richtig machen, ohne einen Schnellschuss abzugeben. Hier können Sie uns beim Wort nehmen. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An Ihren Taten sollt Ihr sie messen. Zum 1. Januar 2007 wurde der allgemeine Regelsatz der Mehrwertsteuer durch SPD und CDU/CSU von 16 Prozent auf 19 Prozent erhöht. Das war die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik ({0}) und eine der unsozialsten Maßnahmen. Das sind Ihre Taten. ({1}) Skandalöserweise haben Sie Teile der Mehreinnahmen durch die Steuererhöhung dann auch noch für Steuererleichterungen für Vermögende und Unternehmen verwendet. Die Linke sagt: Erhöhungen der Mehrwertsteuer sind sozial ungerecht. Die dadurch verursachte Steuerbelastung ist natürlich umso stärker, je geringer das Einkommen der Menschen ist. Um die unsoziale Wirkung Ihrer Steuererhöhung abzumildern, haben wir Ihnen hier bereits Vorschläge unterbreitet, und zwar nicht für die letzten sieben Sitzungswochen, sondern schon vorher. Wir haben Ihnen für diese Wahlperiode den Vorschlag unterbreitet, den Mehrwertsteuersatz auch für folgende drei Produktgruppen bzw. Dienstleistungen zu ermäßigen: Waren und Dienstleistungen für Kinder, apothekenpflichtige Medikamente und - das haben wir immer gefordert - arbeitsintensive Handwerksdienstleistungen. Es liegt doch auf der Hand: Eine solch große Senkung des Mehrwertsteuersatzes von 19 Prozent auf 7 Prozent, die natürlich bei den Menschen auch ankommen muss, stellt gerade für die Bezieherinnen und Bezieher von Transferleistungen eine Entlastung dar. Sie wissen, dass über 2 Millionen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik von Hartz IV und Sozialhilfe leben müssen. Für sie wäre das eine Entlastung. ({2}) Es wäre auch gut, die Kosten für arbeitsintensive Handwerksdienstleistungen zu verringern, um auch von der Ideologie der Wegwerfgesellschaft wegzukommen, sodass es sich wieder lohnt, Produkte reparieren zu lassen. Das ist eben arbeitsintensiver als einfach etwas wegzuschmeißen und neu zu kaufen bzw. durch etwas Neues zu ersetzen. ({3}) Wir haben das auch für die apothekenpflichtigen Medikamente gefordert. Wie haben Sie sich verhalten? Ich greife nur einmal unseren Antrag bezüglich der Produkte für Kinder heraus, über den hier im Februar des vergangenen Jahres namentlich abgestimmt wurde. Alle hier im Hause - bis auf zwei Abgeordnete von der CDU/CSU, die sich enthalten haben - waren nicht unserer Meinung und haben mit Nein gestimmt, und jetzt wird groß getönt. ({4}) Um noch einmal darauf zurückzukommen, dass Sie sich an Ihren Taten messen lassen sollen: Bereits die PDS war auf diesem Gebiet aktiv. ({5}) Sie werden es nicht glauben, aber lesen Sie das bitte einmal nach. Bereits im Jahr 1998 haben wir einen Antrag mit dem Titel „Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Leistungen“ in den Bundestag - damals noch in Bonn - eingereicht und gefordert, dass der damalige Finanzminister auf europäischer Ebene aktiv werden sollte. Das haben wir nach der Neuwahl wiederholt, nämlich gleich zu Beginn der 14. Wahlperiode. Auf EU-Ebene ist dann etwas geschehen. Unser Druck hier im Land hat leider nicht ausgereicht. Auf EU-Ebene wurde aber zumindest ein Modellversuch gestartet. Im Februar 2000 wurden die Teilnehmerstaaten festgelegt. Deutschland wollte nie mitmachen. Ich habe keine Stimmen der FDP im Ohr, dass sie damals dafür gewesen ist. Nein, wir haben das gefordert, Sie haben das alles immer abgelehnt. Schauen wir uns das noch einmal an, um vielleicht ein wenig zu illustrieren, wie Sie als FDP argumentiert haben. Ich habe mir einige Zitate herausgesucht, zum Beispiel von Frau Frick aus der 13. Legislaturperiode oder auch von Herrn Wissing, der gesagt hat: Wer sich so verhält und einen solchen Antrag stellt, der verhält sich chaotisch und betreibt Flickschusterei. ({6}) Schau an, was Sie heute tun! Sie sagten, es sei chaotisch und eine Flickschusterei. Nein, Sie als FDP verhalten sich heute zu dem Thema einfach wie ein Trittbrettfahrer. Sie haben in den vergangenen Jahren weder als Sie in der Regierung waren noch in der Opposition tatsächlich in dieser Richtung gehandelt, ({7}) sondern immer nur nebulös gefordert, man müsse das Ganze noch einmal neu betrachten. Warten Sie nicht ewig, bis Sie eine Gesamtbetrachtung vornehmen! Werden Sie jetzt endlich aktiv! Die EU gestattet uns das. Ich finde, wir sind dann auch in der Pflicht, tatsächlich zu handeln. Wenn wir uns verständigen, dass wir etwas tun wollen, dann können wir uns auch verständigen, was wir tun. Wir haben Ihnen unsere Vorschläge unterbreitet. Darin sind auch die arbeitsintensiven Handwerksdienstleistungen enthalten. Man muss unter den Gegebenheiten, die sich jetzt neu entwickeln, auch diskutieren, wie mit dem Hotel- und Gaststättenwesen und der Gastronomie zu verfahren ist. Eine Aufrechnung von 100 Euro hier gegen 100 Euro da ist mir ein bisschen zu platt. Ich glaube, wir müssen in diesem Zusammenhang Schwerpunkte setzen. Am besten wäre es, Sie hätten Ihre große Mehrwertsteuererhöhung gar nicht erst vorgenommen. Dann hätten die betroffenen Bürgerinnen und Bürger einige Probleme weniger. Ich danke Ihnen. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Lydia Westrich spricht jetzt für die SPDFraktion. ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Höll, ich will nicht drum herumreden: Die Umsetzung der Mehrwertsteuerermäßigung in Deutschland würde allein für diesen Bereich mehr als 6 Milliarden Euro kosten. ({0}) Mehr als die Hälfte davon entfällt auf die Restaurantleistungen. Herr Burgbacher hat dies bereits angesprochen. Ich habe sehr viel Verständnis dafür, dass eine Branche, die Sie hier so gut vertreten haben, darauf hinweist, dass ihr die Finanzspritze gut täte. Ihr Fraktionsvorsitzender Westerwelle hat heute früh festgestellt, dass die Ermäßigung auch eine gute Hilfe für den Mittelstand bedeuten würde. ({1}) Die Mehrwertsteuer ist aber - vielleicht wissen Sie oder weiß er das nicht - eine Verbrauchsteuer. Ermäßigungen sollten dort spürbar werden, wo die Belastungen wirklich auftreten, nämlich beim Verbraucher. Als Pfälzerin fahre ich ebenso wie Sie ab und zu über die französische Grenze, um im Elsass essen zu gehen. Das Essen ist dort aber nicht billiger, im Gegenteil. ({2}) Inzwischen kommen auch viele Franzosen über die Grenze in unsere pfälzischen Restaurants, um dort hervorragend und günstig zu essen. ({3}) Das Beispiel McDonalds mit den gleichen Preisen für die mit ermäßigtem Steuersatz belegte Ware außer Haus oder der mit normalem Steuersatz belegten dort verzehrten Ware ist bekannt. Sicherlich würde McDonalds auch noch das Geld einstreichen, das es bei einer Mehrwertsteuerermäßigung für die im Lokal verzehrte Ware zusätzlich einnehmen würde. Das Unternehmen hat die Mehrwertsteuerermäßigung bisher nicht an die Kunden weitergegeben. Warum sollte es dies jetzt tun? ({4}) Alle Untersuchungen der Wirkungen ermäßigter Mehrwertsteuersätze auf die Wirtschaftsaktivität, die Ihnen so sehr am Herzen liegt, zeigen, dass dies nicht die wirksamste Maßnahme ist, aber den Staatshaushalt stark belastet. Die Schaffung eines Arbeitsplatzes - selbst in der Gastronomie - durch die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes kostet den Steuerzahler sage und schreibe 60 000 Euro. Andere Fördermaßnahmen sind da sinnvoller. Einer Untersuchung zufolge haben zum Beispiel in Belgien bei Reparaturleistungen 87 Prozent der Dienstleister die Steuerermäßigung als Gewinn einbehalten, statt sie an die Verbraucher weiterzugeben. In Griechenland ist die Preisentwicklung in den ermäßigten Branchen mit der Preisentwicklung in anderen Sektoren Hand in Hand gegangen. Die Ermäßigung hat sich nicht auf die Verbraucherpreise ausgewirkt. In Spanien sind die Preise für Instandhaltung und Reparaturen an Wohnungen, die eigentlich sinken sollten, sogar mehr als allgemein gestiegen. ({5}) Bei Friseurleistungen ist die Entwicklung im Grunde ähnlich verlaufen. Die Untersuchung der Wirkung ermäßigter Mehrwertsteuersätze bei häuslichen Pflegeleistungen in Frankreich hat ergeben, dass sie keine oder nur sehr begrenzte Auswirkungen haben. In diesem Bereich betrug die Preisdifferenz bei einer Dienstleistung ohnehin zwischen 44 und 165 Prozent, sodass selbst eine Mehrwertsteuerermäßigung um 12,5 Prozentpunkte bei der Preisfindung nicht zu Buche geschlagen ist. Bei der Instandhaltung und Reparatur von Wohnungen in Frankreich sind die Preise im ersten Jahr tatsächlich um 5 Prozent gefallen. Im nächsten Jahr sind sie aber wieder um 8 Prozent gestiegen. Das gilt auch für die Niederlande und Portugal. Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen. Überall dort, wo eine Mehrwertsteuerermäßigung vorgenommen wurde, kam es zu ähnlichen Ergebnissen. Dabei handelt es sich nicht um die erste und einzige Untersuchung, die die Senkung der Mehrwertsteuersätze auf ihre Wirksamkeit überprüft hat. Alle Untersuchungen sind bislang zum gleichen Ergebnis gekommen. Eine Mehrwertsteuersenkung ist nicht das am besten geeignete Instrument, um die Wirtschaftstätigkeit anzukurbeln - selbst nicht im Restaurantbereich -, Arbeitsplätze zu schaffen und die Schattenwirtschaft einzudämmen. Dafür verursacht dieses Instrument im Verhältnis zu seiner Wirksamkeit hohe Kosten, in diesem Fall 7 Milliarden Euro. Natürlich wachsen dann die Begehrlichkeiten in anderen Branchen; das hat Herr Oswald schon erklärt. Finanzminister Steinbrück hat im Interesse Deutschlands richtig gehandelt, als er dieses Instrument in Brüssel abgelehnt hat. ({6}) Es handelt sich hier um eine reine Subventionierung bestimmter Branchen. Das haben Sie auch deutlich gesagt. Das kann man wollen. Auch unsere Tourismuspolitiker liebäugeln hin und wieder mit einer solchen Maßnahme. Aber Sie von der FDP lehnen sonst Subventionen vehement ab. Herr Westerwelle hat das heute erneut lautstark erklärt. Gleichzeitig hat er aber eine Mehrwertsteuerermäßigung, also eine Subventionierung, gefordert. Entweder kennt er die Gutachten nicht, die einer Mehrwertsteuerermäßigung negative Auswirkungen bescheinigen, oder diese Wendung in zwei, drei Sätzen - einmal gegen Subventionen und dann wieder dafür - zeigt das ganze Wirrwarr der Lösungsversuche der FDP, wenn es um die Bewältigung der Wirtschaftskrise geht. Ich gehe von Letzterem aus. Wir von der Koalition haben für die steuerliche Absetzbarkeit haushaltsnaher Dienstleistungen gesorgt und die Möglichkeit eröffnet, Handwerkerrechnungen steuermindernd geltend zu machen. Wir haben damit zielgerichtet gehandelt. Den größten Effekt hat die von uns durchgesetzte Senkung der Arbeitskosten. Ich nenne des Weiteren die Umweltprämie und das Konjunkturprogramm zur Verbesserung der Infrastruktur. Die haben ein Vielfaches an Wirkung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen dringend zum Schluss kommen.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Noch einen Satz. - Frau Höll, das Schulbedarfspaket für finanzschwache Familien, das wir bis zum 13. Schuljahr gewähren und auf Familien mit Kinderzuschlag ausweiten, kurbelt den Konsum direkt an. Das hilft den Familien. Das ist der richtige Weg und nicht eine Mehrwertsteuerermäßigung; denn man weiß nicht, wem sie zugutekommt. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist interessant, wie Herr Burgbacher Mittelstandspolitik definiert. Offensichtlich besteht der deutsche Mittelstand aus Hotellerie und Handwerk. ({0}) Sie sagen nicht, wie eine Mehrwertsteuerermäßigung gegenfinanziert werden soll. Das bedeutet dann aber, dass das aus dem allgemeinen Steueraufkommen bestritten werden muss. Dann müssen viele andere kleine und mittlere Unternehmen die Last tragen. Ihnen geht es nur um die Begünstigung einer kleinen Gruppe. Sie haben keinen systematischen Ansatz. Wenn ihre Mittelstandspolitik so aussieht, dann sollten wir mit Ihnen über Wettbewerb und Mittelstand noch einmal gründlicher diskutieren. ({1}) Vielleicht kann der neue Wirtschaftsminister, der sich als ordnungspolitischer Leuchtturm und Erbe Ludwig Erhards geriert, etwas zum System der Marktwirtschaft sagen. Für meine Fraktion kann ich nur sagen: Wir verstehen unter Marktwirtschaft etwas anderes als die Privilegierung einzelner Gruppen. ({2}) Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben im Oktober 2006 einen Antrag - Drucksache 16/3013 - eingebracht, in dem Sie auf das komplizierte Mehrwertsteuersystem verweisen. Sie stellen darin fest, dieses sei laufend verändert und verkompliziert worden. Sie fordern den Bundestag auf, eine Vereinfachung des Mehrwertsteuersystems zu beschließen. Wunderbar! So weit Zustimmung. Interessanterweise fordert Ihr Parteivorsitzender Ostern 2008 die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes auf die Energieprodukte, also eine Verkomplizierung. Nun wollen Sie eine weitere Ermäßigung - und damit eine weitere Verkomplizierung - durchsetzen; denn eine Abgrenzung ist bei Handwerksleistungen sehr schwierig. Sie wollen eine weitere Ermäßigung einführen, obwohl Sie keinen Gesamtansatz haben. Das halte ich für ziemlich schwach. ({3}) Ich möchte aus einer Rede zitieren, die der Kollege Wissing am 14. Februar des vergangenen Jahres, also vor gut einem Jahr, gehalten hat. Damals ging es um einen Antrag der Linken. Was war der Vorwurf des Kollegen Wissing? Ich zitiere: Sie brauchen eine vernünftige, systematische Vorstellung des Ganzen. Einfach hinzugehen und Symbolpolitik in die Welt zu blasen, das hilft doch keinem … Wie das abgegrenzt und … ausgestaltet werden soll, sagen Sie aber nicht. Genau das könnte man heute zu Ihrem Vorschlag sagen. Ich sage Ihnen: Messen Sie sich selber einmal an Ihren eigenen Ansprüchen. ({4}) Ein weiterer Punkt ist Europa. Sie haben auf die anderen europäischen Länder verwiesen. Entschuldigung, wir erleben doch gerade in der Finanzmarktkrise, dass es höchst problematisch gewesen ist, in den einzelnen Punkten immer wieder auf die anderen zu hören und genau das nachzumachen, was die anderen machen, auch wenn es schlecht ist. Genau damit sind wir an vielen Stellen auf die Nase gefallen. Es wäre doch gut gewesen, wenn unser Finanzmarkt besser reguliert gewesen wäre und wir nicht ständig auf Luxemburg oder Irland verwiesen hätten. Das gilt auch für das Steuersystem. Bloß weil andere ihr Steuerrecht verkomplizieren, heißt das doch nicht, dass wir das auch machen müssen. Schauen Sie sich doch bitte noch einmal die Studie von Copenhagen Economics an. Darin steht sehr deutlich, dass man natürlich in einem Bereich, in dem der Anteil der Schwarzarbeit sehr hoch ist, steuerrechtlich eingreifen kann. In der Studie steht aber auch: Prüfen Sie bitte die Alternativen. Dieser Punkt hat in Ihrer Argumentation wieder völlig gefehlt. Ich möchte nur daran erinnern, dass dieses Haus vor ganz kurzer Zeit im Konjunkturpaket I beschlossen hat, dass Handwerkerleistungen in einem größeren Umfang steuerlich absetzbar sein sollen - diese Forderung haben wir schon seit längerem erhoben -, damit in diesem Bereich gerade die energetische Modernisierung stattfinden kann und dies auf legalem Wege erfolgt. Sie haben nichts dazu gesagt, dass genau in diesem Bereich schon etwas gemacht worden ist und was die sonstigen Alternativen wären. Das war eine schwache Leistung. Eine Frage ist auch: Gibt es eine weiter gehende Perspektive, die allgemein für die Märkte gilt? Wir Grüne schlagen vor, gezielt im unteren Einkommensbereich die Sozialabgaben zu senken. Das würde nicht nur einer bestimmten Gruppe, die gerade der FDP auffällt, sondern allgemein der deutschen Wirtschaft eine Verbesserung bringen und die Schwarzarbeit wirksam bekämpfen. Ich wäre dankbar, wenn wir mehr ans Ganze denken würden und nicht nur Teilbereiche im Blick haben. Ich würde mich auch freuen - das richtet sich jetzt an die Kollegen der Großen Koalition -, wenn man nicht erst nach dreieinhalb Jahren Regierungsverantwortung anfängt, große Ansagen für die Zukunft zu machen, Herr Kollege Oswald, sondern sich einmal fragt, was in den dreieinhalb Jahren gemacht wurde. Wir haben in einem Arbeitsprozess angefangen, fraktionsübergreifend an Fortschritten zur Änderung der Mehrwertsteuer zu arbeiten. Dieser Prozess ist leider etwas eingeschlafen. Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, daran weiterzuarbeiten, damit wir zu einer guten Reform des Gesamtsystems Mehrwertsteuer kommen. Danke schön. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Manfred Kolbe spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Burgbacher, das war eine klassische Lobbyrede, ({0}) mit der Sie der betroffenen Gruppe wahrscheinlich keinen großen Gefallen getan haben, weil dieses Manöver zu durchsichtig war. Sogar der Kollege Wissing, der jetzt neben Ihnen sitzt, machte ein etwas gequältes Gesicht und hielt sich auch beim Beifall merklich zurück. Ich habe das genau beobachtet. Das spricht für dich, Volker Wissing. ({1}) Was wir brauchen, Herr Burgbacher, ist eine Gesamtkonzeption, statt jedes halbe Jahr - wenn auch vernünftige - Einzelanträge zu stellen. ({2}) Ich sage ja nicht, dass Ihr Antrag unvernünftig ist. Es hat auch Anträge der Linken gegeben, den Mehrwertsteuersatz auf Waren und Dienstleitungen für Kinder sowie Arzneimittel zu senken. Auch diese waren im Kern nicht unvernünftig. Mir fallen Dutzende von Dingen ein, bei denen der ermäßigte Mehrwertsteuersatz berechtigt wäre. Aber am Ende müssten wir dann allen den ermäßigten Mehrwertsteuersatz mit der Konsequenz gewähren, dass wir diesen dann auf 19 Prozent erhöhen müssten. Damit wäre niemandem gedient. Wir brauchen also ein Gesamtkonzept. Wir geben zu, dass die bestehende Kasuistik nicht mehr hinnehmbar ist. Ich zitiere nur einmal Nr. 22 dieser 20-seitigen Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände: Johannisbrot und Zuckerrüben, frisch oder getrocknet, auch gemahlen; Steine und Kerne von Früchten sowie andere pflanzliche Waren ({3}) der hauptsächlich zur menschlichen Ernährung verwendeten Art, … ausgenommen Algen, Tange und Zuckerrohr ({4}) Das ist nur ein Auszug aus der Liste der Produkte mit ermäßigtem Mehrwertsteuersatz. ({5}) Es gibt ein Schreiben vom BMF, Frau Kressl, wonach genießbare getrocknete Schweineohren, auch wenn als Tierfutter verwendet, dem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterliegen, während getrocknete Schweineohren, die nicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind, ({6}) unter den vollen Satz fallen. Das ist eine wahre Glanztat Ihres Hauses. Das ist Stoff für Büttenredner im Karneval. Das müssen wir beenden. ({7}) Es bestehen auch gravierende Bewertungswidersprüche in dieser Liste: Warum werden Musik-CDs niedriger besteuert als Babywindeln? Warum wird Tierfutter niedriger besteuert als Arzneimittel? Warum werden Hummer und Trüffel niedriger besteuert als Mineralwasser? ({8}) Dies gibt alles keinen Sinn mehr, und wir sind hier gefordert, zumal sich die Problematik laufend verschärft. Jede Mehrwertsteuererhöhung - wir haben eine beschließen müssen - bedeutet natürlich eine Vergrößerung des Abstandes zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Herr Burgbacher, nicht neue Ausnahmeregelungen sind das Gebot der Stunde, sondern ein einfacheres und leistungsgerechteres Steuersystem und auch Mehrwertsteuersystem. ({9}) Darüber müssen wir uns in der Tat ernsthaft Gedanken machen. Einzelfalllösungen führen uns nicht weiter, so berechtigt sie auch sein mögen. Die Gastwirte haben natürlich sehr gute Gründe. ({10}) Aber ich denke nur an die letzte Änderung, die wir hier beschlossen haben. Seinerzeit haben wir den Mehrwertsteuersatz für Seilbahnen und Skilifte ermäßigt. ({11}) - Ich darf hier einmal ein Geheimnis ausplaudern: Das war in der Großen Koalition nicht ganz unumstritten. Aber hat uns dies weitergeführt? Ich glaube nicht, dass wir die Probleme, die unser Mehrwertsteuersystem mit sich bringt, dadurch gelöst haben. Wenn wir jetzt die Mehrwertsteuer für Gaststätten senkten, bekämen wir neue Probleme; dann stünden uns Debatten über den ermäßigten Steuersatz für Luxusrestaurants im Gegensatz zum vollen Mehrwertsteuersatz bei Medikamenten ins Haus. Dies ergäbe keinen Sinn, Herr Burgbacher, das müssen auch Sie zugeben. Wir brauchen also eine Gesamtlösung. Es ist allerdings an der Zeit, dass wir sie angehen. Das muss in der nächsten Legislaturperiode passieren. Als Erstes sollten wir darüber nachdenken, ob ein Katalog noch die richtige Lösung ist, Frau Kressl, oder ob es nicht andere Lösungen als diesen Katalog gibt. Ich sage Ihnen voraus, dass jeder Katalog Wertungswidersprüche provozieren wird. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch darüber nachdenken, ob wir den ermäßigten Steuersatz wieder auf den ursprünglichen Ansatz von 1968 zurückführen, nicht mehr als das Existenzminimum zu privilegieren. Dann könnten wir vielleicht sogar den allgemeinen Mehrwertsteuersatz senken. Eine konzeptionelle Gesamtlösung muss in der nächsten Legislaturperiode gefunden werden, und dazu wünsche ich allen Fraktionen viel Erfolg. Danke. ({12}) - Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Am besten, wir fangen gleich an!)

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Besten Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation ist etwas anders, als Sie, Herr Schick, sie dargestellt haben. Richtig ist natürlich, dass unser Mehrwertsteuersystem keine Logik hat; dies haben wir hier schon oft besprochen. Richtig ist auch, dass das Ganze keinem sozialen Sinn mehr folgt. Wir haben schon gehört, dass Babywindeln voll besteuert, Trüffel und Gänsestopfleber aber steuerlich subventioniert werden. Dies kann niemand ernsthaft wollen, und die Bürgerinnen und Bürger fragen sich, warum so etwas immer noch im Gesetz steht. ({0}) Herr Schick sagt, es könne nicht sein, dass Liberale jetzt einen Einzelpunkt aufgriffen, wo doch die FDP immer gesagt habe, sie wolle eine Gesamtlösung. ({1}) Ich erläutere Ihnen, wie die Situation ist, im Übrigen auch, was es mit der Wettbewerbssituation und der Marktwirtschaft auf sich hat: Nicht die FDP hat auf europäischer Ebene einen Finanzminister losgeschickt, der sich eines Sachverhalts annimmt, den die Franzosen als ein Problem ansehen, sondern es war ein sozialdemokratischer Finanzminister. Er hat durch die Absenkung der Mehrwertsteuer für die französischen Gastronomen eine Wettbewerbsverzerrung geschaffen. Die FDP fragt sich, ob man der deutschen Gastronomie diese Ungleichbehandlung zumuten muss. ({2}) Ist es nicht eine patriotische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass in der Wirtschaftskrise mittelständische Unternehmen von solchen Wettbewerbsverzerrungen befreit werden? Weil nicht wir, sondern Sie auf europäischer Ebene verhandeln können - Sie stellen die Bundesregierung -, fordern wir dasselbe Recht für Gastronomen in Deutschland, das Sie auf europäischer Ebene geschaffen haben. - Dies ist gemeint, Herr Kollege Schick, wenn von fairen Wettbewerbsbedingungen gesprochen wird. ({3}) Sie sagen zu Recht, dass in dieser Legislaturperiode in Sachen Reform des Mehrwertsteuersystems nichts passiert sei. Das liegt an der Großen Koalition. ({4}) - Sie wissen, dass dies nicht stimmt. Wir haben im Finanzausschuss darauf gedrängt, dass es eine Selbstbefassung geben soll. Allerdings stand sie unter einem schlechten Stern, weil die Koalition gesagt hat, man könne zwar darüber reden, aber sie werde in dieser Legislaturperiode nichts ändern. Das liegt daran, dass Sie sich auf nichts verständigen können. Die Wahrheit ist doch, dass Sie auch in diesem Bereich reformunfähig sind, weil Sie sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen können. Das muss man doch den Leuten in Deutschland sagen. ({5}) Es tut sich nichts an einer wichtigen Reformbaustelle, weil CDU/CSU und SPD nicht in der Lage sind, zusammen eine vernünftige Steuer- und Finanzpolitik zu machen. Das ist doch das Problem. ({6}) - Frau Kollegin Westrich, Sie haben gemeinsam mit Ihren SPD-Kollegen Ihr Wahlversprechen gebrochen und der Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte zugestimmt. Jetzt haben Sie auch noch gesagt, dass Steuersenkungen Subventionen seien. Damit entlarven Sie im Grunde genommen Ihre Handlung und sagen, dass Sie die Steuererhöhung gerne vorgenommen haben. ({7}) Die Wahrheit ist doch, dass dieses Mehrwertsteuersystem dringend reformiert werden muss. Man muss doch ein klares System vorschlagen. Als die Vertreter der Mineralbrunnen seinerzeit zu der Vorgängerin von Frau Kressl kamen und gefragt haben, warum Mineralwasser nicht ebenso wie Lebensmittel mit einem verminderten Satz besteuert werden könnten, antwortete Frau Hendricks damals: Dann sollen die Leute doch Milch trinken. - Da versteht man, dass den Leuten in Deutschland irgendwann die Galle hochkommt; denn so viel Milch verträgt man gar nicht. ({8}) Man muss eine klare Linie haben. Das bedeutet, dass man sich nicht für eine volle Besteuerung der Gastronomie in Deutschland ausspricht, aber auf europäischer Ebene dafür plädiert, die Gastronomie mit einem verminderten Steuersatz zu besteuern. ({9}) Wir fordern: Ein Konzept, das man in Deutschland durchhalten will, muss auch auf europäischer Ebene gelten. Dieses Mindestmaß an Fairness muss man gegenüber den Menschen wahren. Das müssen sie erwarten können. Es ist schön, dass die Bundesregierung ihr Herz für Frankreich entdeckt hat. Das ist ein schönes Land. Man kann aber auch in der Pfalz gut essen, Frau Kollegin Westrich, man muss nicht über die Grenze fahren. Aber die Menschen in Deutschland fragen sich doch, wieso in der Krise durch die Steuer- und Finanzpolitik unsere französischen Nachbarn unterstützt werden und nicht eine steuerliche Entlastung in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt. Das können Sie nicht erklären. Da können Sie so tolle Reden halten, wie Sie wollen. ({10}) Wir fordern nichts anderes, als dass die Bundesregierung die Wohltaten, die sie auf europäischer Ebene an mittelständische Betriebe verteilt - der Bundesfinanzminister tut das für die französische Wirtschaft und die französische Gastronomie; anscheinend geht er gerne dort essen -, ({11}) auch in Deutschland verteilt. Das ist nicht durchzuhalten. Wir fordern gleiches Recht für alle. Wir fordern, dass diese Bundesregierung nicht nur ein Herz für die europäischen Nachbarn, sondern in erster Linie ein Herz für Deutschland hat und dass sie sich um die Probleme des deutschen Mittelstandes kümmert. Das haben Sie versäumt. Die FDP fordert das ein. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Gabriele Frechen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe die Debatte über das, was unser Finanzminister im Ecofin gemacht hat, überhaupt nicht. Ob man einer Forderung des Europäischen Rates folgt und den Weg dafür freimacht, dass die Länder selber entscheiden können, welchen Weg sie gehen wollen, ist doch etwas anderes, als hier im Inland gezielt eine Maßnahme zu ergreifen, die man für unsinnig hält. Es kann doch keiner verlangen, dass ein Finanzminister das macht. Auch wir möchten das nicht. Im Ecofin-Rat wurde den Ländern, die es wollen, jetzt die Möglichkeit eingeräumt, die Mehrwertsteuer auf bestimmte Dienstleistungen und in bestimmten Sektoren zu ermäßigen. Aber kein Land muss jeden Unfug, den andere Länder wollen, mitmachen. Da hat Herr Schick völlig recht. Das kann doch nicht gewünscht sein. ({0}) Wir haben bereits heute in den 27 Mitgliedstaaten völlig unterschiedliche Mehrwertsteuersätze, völlig unterschiedliche ermäßigte Steuersätze und völlig unterschiedliche Handhabungen der Mehrwertsteuersätze. Das rührt zum Teil aus alter Zeit, weil die Ermäßigungen bzw. die Steuersätze Bestandskraft haben. Zum Teil hat das eine oder andere Land auch von einer Übergangslösung Gebrauch gemacht, die in der Zwischenzeit angeboten wurde. Aber bereits 2003 hat die Europäische Kommission unsere, die deutsche Haltung bestätigt, dass die Weitergabe der steuerlichen Ermäßigung an die Verbraucher keinesfalls gesichert werden kann, eher im Gegenteil. Wie Frau Westrich zu Recht gesagt hat, subventionieren wir damit den Umsatz und entlasten nicht den Verbraucher. Von einer positiven Lenkungswirkung ist ebenfalls nicht auszugehen. Jetzt komme ich auf die hiesige Mehrwertsteuer zu sprechen. Nachdem wir eine Debatte darüber geführt haben, ob es sinnvoll ist, die Mehrwertsteuer auf Energiekosten zu senken, ob sie der Preistreiber in dem ganzen Spiel ist, muss doch gerade die Entwicklung der Energiekosten wirklich auch dem letzten denkenden Menschen klargemacht haben, dass die Mehrwertsteuer das Allerletzte ist, was bei der Preisbildung eine Rolle spielt. ({1}) Es gibt andere Dinge, die deutlich wichtiger sind, nämlich die Spanne zwischen „Das kann ich noch erzielen“ und „Das geht nicht mehr“. Diese Spanne ist bei der Preisbildung wichtig, deutlich wichtiger als der Mehrwertsteuersatz. Stichwort „rezeptfreie Medikamente/Arzneimittel“: Es hat sich doch eindeutig gezeigt, dass Ihre Theorie nicht stimmt. An dem Tag, an dem Ministerin Schmidt angekündigt hat, dass die preiswertesten Generika künftig von der Zuzahlung befreit sind, purzelten die Preise; die Anbieter übertrafen sich gegenseitig. Warum? Weil jedes Pharmaunternehmen ein Stück vom Kuchen haben wollte, zur Not unter Inkaufnahme einer geringeren Gewinnspanne. Was hat das mit der Mehrwertsteuer zu tun? Die Mehrwertsteuer ist bei allen Generika die gleiche. Ich spreche nur von Dingen, die im Inland gehandelt werden. Für das gleiche Schmerzgel zahlt man zwischen 6,41 Euro und 13,48 Euro, und das bei einem gleichen Mehrwertsteuersatz. Wir haben die Handwerksleistungen auf eine ganz andere Art und Weise gefördert. Dazu brauchten wir keine Mehrwertsteuersenkung. Bei uns können die Kosten für handwerkliche und haushaltsnahe Leistungen direkt von der Steuer abgezogen werden. Finden Sie etwas Vergleichbares im europäischen Ausland! Unsere Lösung hat für mich den zusätzlichen Charme, dass sie Schwarzarbeit verhindert, was durch eine Senkung der Mehrwertsteuer nicht erreicht wird. ({2}) Wenn der Handwerker die berühmte Frage stellt: „Brauchen Sie eine Rechnung?“, und der Kunde das verneint, dann merkt er doch nicht, ob ihm 7 Prozent oder 19 Prozent Mehrwertsteuer nachgelassen werden. Ich halte unsere Lösung also für besser. Gegen Vorlage der Rechnungen einen Steuerabzugsbetrag von maximal 4 000 oder 1 200 Euro gewährt zu bekommen, das ist wie bares Geld. Keine Rechnung zu erhalten, ist etwas anderes. Zu den Restaurants. Wir haben eben spekuliert, ob Nachmittagsflüge von Berlin nach Frankreich angeboten werden, weil das Mittagessen dort preiswerter ist, wenn dort die Steuern gesenkt werden. ({3}) - Doch, ich habe Ahnung. Ich komme aus Süddeutschland. ({4}) - Genau, mit gutem Essen kenne ich mich aus. Ich komme aus Süddeutschland. ({5}) Sie glauben doch nicht, dass jemand aus dem Rebland zum Essen 100 Kilometer nach Colmar und wieder zurück fährt, weil in Colmar der Steuersatz niedriger ist. Ich möchte den Badener sehen, der zum Essen statt ins Rebland nach Colmar fährt. ({6}) Wegen der Beseitigung von Wettbewerbsnachteilen wollen Sie die Steuerermäßigung zugegebenermaßen eigentlich nur für Gastronomen in grenznahen Bereichen. Ich meine, der Gastronom in Mecklenburg-Vorpommern braucht keine Steuerermäßigung, weil das Essen in Straßburg preiswerter ist. ({7}) Erzählen Sie mir nichts! Aber was machen wir denn mit der Konkurrenz zwischen Straßburg und Karlsruhe? Die Baden-Badener sind näher an der Grenze als die Karlsruher. Es könnte also zu einem innerdeutschen Wettbewerbsnachteil kommen. Zum Schluss möchte ich noch etwas zu den Hotels sagen. Eine Ferienwohnung in Zinnowitz kostet im Februar 273 Euro und im Dezember 511 Euro. Der Preisunterschied liegt nicht an der Mehrwertsteuer und auch nicht an den Heizkosten; in Zinnowitz muss im Februar und im Dezember gleichermaßen geheizt werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eltern mit schulpflichtigen Kindern wissen, woran es liegt: Es liegt nicht an der Mehrwertsteuer, sondern an der Gewinnspanne in der jeweiligen Saison; ich habe eben darauf hingewiesen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie hatten Ihre Rede bereits beendet.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Entschuldigung, noch einen Satz von Heinz Erhardt in Richtung FDP: Manche Menschen wollen glänzen, obwohl sie keinen blassen Schimmer haben. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Klaus Brähmig hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2008 hatte der Bundeshaushalt ein Volumen von 288 Milliarden Euro. Auf der Einnahmeseite standen 94 Milliarden Euro Mehrwertsteuer; das sind etwa 28 Prozent. In der aktuellen Diskussion wird mir manchmal schwummerig, wenn ich so höre, was wir alles auf breiter Front senken wollen, ohne dass einmal offen darüber gesprochen wird, dass wir das letztendlich gegenfinanzieren müssen, also entsprechende Einnahmen generieren müssen. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Das Thema, über das wir heute debattieren - es ist nicht das erste Mal; ich bin ganz sicher, dass es für die nächsten Wochen und Monate auch nicht das letzte Mal sein wird -, eignet sich nicht für Populismus. Wichtig wird sicherlich sein, dass es nach dem Ende dieser Legislaturperiode zu einem Kassensturz kommt und die dann Regierenden eine Bewertung vornehmen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich in den letzten Jahren immer für den Abbau von Wettbewerbsverzerrungen eingesetzt, auch von solchen in den Bereichen Tourismus, Gastronomie und Hotellerie, und sich ganz massiv für die Harmonisierung innerhalb Europas engagiert. Ich bin sehr froh darüber, dass im Augenblick diese Diskussion stattfindet; denn das gibt uns die Möglichkeit - es setzt uns natürlich auch unter Druck -, etwas in dieser Richtung zu tun, nicht nur darüber zu sprechen, sondern auch konstruktive Vorschläge vorzulegen und dann umzusetzen. Ich kann mich gut daran erinnern, Frau Kressl, dass wir vor nicht allzu langer Zeit mit Frau Faße bei Ihnen im Ministerium waren. Die Branche animiert uns Fachpolitiker ja ständig, Vorschläge zu unterbreiten. Ich hätte mir gewünscht, dass der Finanzminister, wenn er in Brüssel schon zustimmt - wie uns allen bekannt ist, ist ja Einstimmigkeit notwendig -, für Deutschland vorgibt, wie wir es mit den ausgewählten Branchen halten wollen. Der Anspruch der Branche, der Hotellerie und Gastronomie, ist durchaus berechtigt. Es geht nämlich darum, die Wettbewerbsverzerrungen innerhalb Europas, lieber Ernst Burgbacher, abzubauen ({0}) und den Standort Deutschland nicht zu benachteiligen. Wir werden uns in der Diskussion und in den Beratungen der nächsten Wochen und Monate etwas einfallen lassen müssen. Ich bin sehr sicher, dass wir beide Ansprüche berücksichtigen können. Man muss wissen, dass die Mehrwertsteuer gerade für die Preiskalkulation in der Gastronomie ein ganz wichtiger Punkt ist. Die Waren werden mit 7 Prozent Mehrwertsteuer eingekauft und mit 19 Prozent Mehrwertsteuer weitergegeben. Deshalb kann man einen Gastronomiebetrieb fast als kleines Finanzamt ansehen; denn man leistet dort durchaus eine wichtige Arbeit für den Staat. Da bin ich durchaus bei der Position der FDP. Wir als Tourismuspolitiker haben gemeinsam mit Ernst Hinsken in den letzten Wochen immer wieder vorgebracht, dass wir das vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Ich schließe mich da meinen Vorrednern an. Dieser Katalog bringt Kuriositäten mit sich, und das macht überhaupt keinen Sinn. Das ist einer der ersten Punkte, die so schnell wie möglich in Ordnung gebracht werden müssen. Ich will ergänzend nur noch einige Beispiele anführen: ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Hausschweine, normaler Mehrwertsteuersatz für Wildschweine; ermäßigter Satz für Kartoffeln aller Art, normaler Satz für Süßkartoffeln; ermäßigter Satz für Tomatenmark und Tomatensaft, normaler Satz für Tomatenketchup und Tomatensoße. Ein ganz tolles Beispiel ist folgendes: Pilze und Trüffel, ohne Essig haltbar gemacht: ermäßigter Mehrwertsteuersatz; Pilze und Trüffel, mit Essig haltbar gemacht: normaler Mehrwertsteuersatz. ({1}) Diese Liste ließe sich unendlich fortführen. Meine Vorredner haben deutlich gemacht, dass in vielfältiger Weise dringender Handlungsbedarf besteht und entsprechende politische Maßnahmen getroffen werden müssen. Ich will noch ganz kurz auf Folgendes eingehen: Die Regierungschefs werden ja heute oder morgen in Brüssel eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung treffen. Ich denke, sie wird derjenigen ähneln, die die Finanzminister getroffen haben. Danach muss von Brüssel die entsprechende Richtlinie erarbeitet werden. Erst dann beginnt bei uns die Umsetzung im Parlament, sofern wir die Mehrheiten dafür organisieren. Ich selber werde mich im Rahmen der Arbeitsgruppe Tourismus mit den Branchenvertretern in den nächsten Wochen zusammensetzen, damit es - das ist ganz wichtig - nicht nur dazu kommt, dass wir die Lippen spitzen, sondern auch dazu, dass wir pfeifen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Thema muss in die Wahlprogramme der Parteien aufgenommen werden; nur dann besteht die Chance, dass es Eingang in einen Koalitionsvertrag findet und im Jahre 2010 auch in die Praxis umgesetzt werden kann. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Bundesregierung erteile ich das Wort der Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette Kressl. ({0})

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zuerst kurz auf einige wenige Beiträge aus der bisherigen Debatte eingehen. Erstens will ich noch einmal ganz deutlich machen, wie dieser Kompromiss zustande gekommen ist: Alle konnten im Dezember nachlesen, dass nach sehr langer Debatte auf europäischer Ebene die Kanzlerin und Herr Sarkozy bei einem Treffen der Regierungschefs miteinander vereinbart haben, in dieser Frage einen Kompromiss zu schließen. Wir stehen zu diesem Kompromiss. Ich halte es aber nicht für zulässig, den Anteil daran nur einem Teil der Regierung zuzuordnen, wie es gerade teilweise passiert ist. Zweitens. Herr Kolbe, Sie haben ja recht, dass es sich einem, wenn man sich den Inhalt der Schreiben des BMF vor Augen führt, geradezu aufdrängt, dass es zu Veränderungen kommen muss. Sie haben dann weiterhin gesagt, das sei eine Glanzleistung unseres Hauses gewesen. Hier möchte ich einem Missverständnis vorbeugen: Ich weiß zwar, dass der Begriff „BMF-Schreiben“ immer den Eindruck vermittelt, es handle sich um ein Schreiben des Bundesfinanzministeriums. Das ist aber nicht so. Das wissen Sie wahrscheinlich. Hier geht es um eine Verwaltungsanordnung, die auf der Zustimmung einer Mehrheit der Bundesländer beruht. Ich will das nur noch einmal deutlich machen, damit nicht falsche Töne in die Debatte kommen. Das bedeutet also nicht, dass wir alles inhaltlich richtig finden, ({0}) sondern vielmehr, dass wir uns darum kümmern müssen, hier zu einer noch größeren Vereinheitlichung zu kommen. Meine dritte Anmerkung betrifft die Ehrlichkeit in dieser Debatte, insbesondere vonseiten der FDP: Wer mehr Vereinheitlichung fordert, aber nicht zugleich alles mit dem halben Mehrwertsteuersatz belegen will, darf nicht den Parteien und Fraktionen, die sich für eine entsprechende Vereinheitlichung einsetzen, vorwerfen, sie erhöhten die Steuern. Ich ahne, wie Sie im Zweifel den Parteien, die sich auf diesen Weg machen, die Worte im Mund umdrehen. Die Ehrlichkeit gebietet es, in einer Debatte nicht nur schön über Systematik zu reden, sondern auch zu sagen, auf was man sich einlässt. ({1}) Es ist so - wir haben es gehört -, dass das Experiment „ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensive Dienstleistungen“ auf europäischer Ebene für all die Mitgliedstaaten dauerhaft nutzbar wird, die es wollen. Nicht ohne Grund hat sich mittlerweile aber eine zunehmende Zahl von Mitgliedstaaten der Protokollerklärung angeschlossen und gesagt, dass sie das Instrument nicht nutzen werden. Das macht, wie ich glaube, auch Sinn. Hier vorschnell zu entscheiden - bei manchen Redebeiträgen hatte ich diesen Eindruck -, wäre unüberlegt. Da bin ich mir sicher. Die Prüfung der Mitgliedstaaten, ob sie diesen Weg mitgehen, sollte dabei unter dem Motto stehen: Bedenke die Wirkung! Manche sagen ja, dass die einzige Wirkung, die in diesem Fall sicher ist, die ist, dass es zu Steuermindereinnahmen kommt. Die Auswertung der europäischen Experimente hat doch gezeigt - ich sage dazu in Klammern: das deutet sich ja offensichtlich auch bei den Bergbahnen an -, ({2}) dass die Vorteile von im Laufe der Zeit reduzierten Mehrwertsteuersätzen so gut wie nie dauerhaft an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden. ({3}) Herr Burgbacher und Herr Wissing, bis heute hatte ich noch geglaubt, dass auch Sie der Meinung sind, dass die Einsparung an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden sollte. ({4}) Davon haben Sie aber in keinem Ihrer Redebeiträge gesprochen. Sie haben ausschließlich über den Gewinn in der Gastronomie gesprochen. Wir sollten noch einmal genau nachlesen, was Sie heute hier gesagt haben. ({5}) Die Aussage, dass noch nie eine Steuerersparnis an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben worden ist, ist nicht einfach nur dahergesagt. Es gibt mehrere Studien dazu. Ich will nur kurz auf zwei eingehen. Die Europäische Kommission konnte 2003 in ihrer Evaluierung dieser „Experimente“ weder eine positive Wirkung auf die Arbeitsplätze noch eine Eindämmung der Schwarzarbeit feststellen. In der gleichen Studie wird ergänzt, dass mit einem Einsatz von Haushaltsmitteln, die beispielsweise zur Senkung von Arbeitskosten verwendet werden, eine deutlich bessere Wirkung auf die Arbeitsplätze erzielt werden kann als mit reduzierten Mehrwertsteuersätzen. Herr Schick hat es schon erwähnt: 2007 gab es auf europäischer Ebene die Studie des Kopenhagener Økonomisk Instituts, in der deutlich festgestellt wird, dass ermäßigte Mehrwertsteuersätze das am wenigsten geeignete Mittel zur Verfolgung von Lenkungs- oder Entlastungszielen sind ({6}) und dass eine direkte Förderung in jedem Fall besser ist. Das lässt mich den Bogen schlagen zu der Tatsache, dass die Bundesregierung und die beiden Koalitionsfraktionen genau diesen Weg beispielsweise bei der Absetzbarkeit von Handwerksleistungen von der Steuerschuld - in dieser Legislaturperiode wurde der entsprechende Betrag verdoppelt - gegangen sind. Dies hat eine doppelte zielgenaue Wirkung: Zum einen bekommen die Handwerker mehr Aufträge - alle Beteiligten haben gesagt, dass diese Maßnahme zu einer Verbesserung der Auftragslage geführt hat -, und zum anderen werden die Menschen nachvollziehbar und von uns überprüfbar entlastet. Das wäre bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen völlig anders. Lassen Sie mich noch kurz auf die Steuermindereinnahmen eingehen, die sich mit Sicherheit ergeben würden. Sie würden im Bereich der kleinen Reparaturleistungen 230 Millionen Euro betragen, 640 Millionen Euro bei Friseurdienstleistungen und geschätzte 3,7 Milliarden Euro im Bereich der Restaurantdienstleistungen. ({7}) In einem ersten logischen Denkschritt können wir davon ausgehen, dass die Steuerersparnis nicht weitergegeben wird. In einem zweiten logischen Denkschritt können wir erwarten, dass es Steuermindereinnahmen gibt. Dies führt uns zu einem dritten logischen Denkschritt, nämlich dass wir diese Mindereinnahmen an anderer Stelle kompensieren müssen. Das belastet aber auch die Menschen, die nicht entlastet worden sind. ({8}) Das ist eine doppelte Bestrafung und somit nicht der richtige Weg. ({9}) Ich will ganz deutlich sagen: Die Erkenntnis, dass branchenbezogene Ausnahmen nicht der richtige Weg sind - auch die Bundeskanzlerin hat deutlich gemacht, dass sie es für falsch hält, in dieser Legislaturperiode noch ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen -, hat sich in der Bundesregierung durchgesetzt. Diese Einsicht ist aber nicht nur in der Bundesregierung vorhanden. Ich freue mich darüber, dass der Deutsche Industrie- und Handelskammertag eine differenzierte Stellungnahme dazu abgegeben hat. Er ist der Meinung, dass dies kein Weg ist, den man wirklich gehen sollte. Ich bin der Überzeugung: Wenn man auf Schnellschüsse verzichtet, ehrlich ist und die von mir vorhin erwähnten logischen Denkschritte geht, dann kommen wir am Ende der Debatten sicherlich zu dem Ergebnis, dass der von Ihnen vorgeschlagene Weg zur Entlastung des Mittelstandes und der Verbraucher, die wir wollen, falsch ist. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Eckhardt Rehberg spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Wenn man ernst nimmt, was die Europäische Union zum Thema Mehrwertsteuer beschlossen hat, dann stellen sich neue Fragen: Was sind kleinere Reparaturdienstleistungen an Fahrrädern? Was umfasst die Renovierung von und Reparaturen in Privatwohnungen mit Ausnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil des Wertes der Dienstleistung ausmachen? Herr Kollege Burgbacher, schaffen wir hier das nächste Problem? Herr Kollege Burgbacher, wenn Sie die Gastronomiee im Blick haben, dürfen Sie das Beherbergungsgewerbe nicht vergessen. ({0}) Wir schaffen damit für weitere Bereiche Bedingungen, wie es sie heute zum Beispiel im Fleischerfachgeschäft, im Bäckerladen oder bei McDonald’s gibt. Derjenige, der bei McDonald’s mit dem Auto vorfährt, zahlt eine Mehrwertsteuer von 7 Prozent, derjenige, der innen isst, eine Mehrwertsteuer von 19 Prozent. Ich weiß nicht, wo an dieser Stelle die Differenz von 12 Prozent bleibt. ({1}) Wenn wir uns diesem Thema ernsthaft widmen wollen, eine Regelung das Hotel- und Gaststättengewerbe umfassen soll und keine neue Bürokratie aufgebaut werden soll, dann muss man an dieser Stelle beides ohne Wenn und Aber zusammenpacken. ({2}) Herr Kollege Burgbacher, Sie haben sehr stark auf die europäische Gastronomie abgehoben. Im Süden gibt es - das gebe ich zu - ein ungeheueres Problem. Ich möchte aber nicht, dass in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen der gleiche Mehrwertsteuersatz wie in Dänemark und Schweden gilt. Dieser liegt nämlich in diesem Bereich bei 25 Prozent. Wenn wir uns dieses Themas annehmen - das ist meine klare Position als Wirtschaftspolitiker -, dann müssen wir das gesamtheitlich und ohne Schnellschüsse regeln. ({3}) Wir müssen insbesondere die Dummheiten, die es beim Thema Mehrwertsteuer gibt - ich habe einige beschrieben; man könnte weitere beschreiben -, beseitigen. Das Grundprinzip muss sein: weniger Bürokratie. ({4}) Frau Staatssekretärin, ich bin völlig Ihrer Meinung: Es wird eine spannende Debatte geben, zum Beispiel zum Stichwort „Tierfutter“. Was machen wir mit den dort geltenden 7 Prozent, wenn wir ein Gesamtkonzept angehen? Ich will aber die Baustellen des Mittelstandes beschreiben, die den Mittelstand im Augenblick besonders bedrücken. Das ist das Thema Zinsschranke. ({5}) Das ist die Anrechnung der Kosten für Mieten, Leasing und Pachten bei der Gewerbesteuer. ({6}) Das ist das Thema Verlustvorträge. Hier kann ich an die Kolleginnen und Kollegen der SPD nur appellieren, ihre Blockadehaltung aufzugeben; denn das sind gerade in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit Baustellen für den Mittelstand. ({7}) Diese Baustellen müssen wir beheben. Die eine oder andere Unwucht, die es bei der Unternehmensteuerreform gegeben hat, müssen wir noch vor der Sommerpause beheben; ({8}) denn wir werden danach keine Zeit mehr haben. Ich sage Ihnen voraus - jetzt komme ich wieder zum Gastronomie- und Hotelbereich -: Gerade die Anrechnung der Kosten für Mieten, Leasing und Pachten im Gewerbesteuerbereich ist ein wesentliches Problem, auch für den Einzelhandel. ({9}) Die Herabsetzung auf eine Anrechnung von 65 Prozent bei Immobilien ist nicht ausreichend. Da müssen wir deutlich unter 50 Prozent gehen. ({10}) Für die Zukunft ist auch die Frage berechtigt, was die Ansatzpunkte sind, um Nachfrage zu generieren. Wir haben in dieser Legislaturperiode einiges getan, gerade beim Konjunkturpaket II. Ich möchte an die Aufstockung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von handwerklichen Leistungen, aber auch von haushaltsnahen Dienstleistungen und Kinderbetreuungskosten erinnern. Ich erinnere an die degressive AfA. Wenn man dies alles betrachtet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass wir eine Menge getan haben, um den Mittelstand zu stärken. Wir alle sollten uns darüber klar sein - dies möchte ich betonen -, dass all dies Steuermindereinnahmen bewirkt. Aber volkswirtschaftlich gesehen rechnet es sich langfristig. Ich bin sehr dafür - ich sage das für die Wirtschaftspolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion -: ({11}) - Die gibt es schon. - Wir brauchen ein Gesamtkonzept, was die Mehrwertsteuer betrifft. Wir brauchen insbesondere weniger Bürokratie. Wir brauchen eine Vereinfachung. Ich sage ausdrücklich: Arbeitsintensive Dienstleistungen dürfen nicht mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt werden, während möglicherweise auf der Gegenseite die steuerliche Abzugsfähigkeit von handwerklichen Dienstleistungen wegfällt. Wir müssen uns sehr gut überlegen, was wir machen. Wir sollten uns vor Schnellschüssen, vor Aktionismus hüten. Herr Kollege Burgbacher, es wird nicht auf fruchtbaren Boden fallen, wenn man nur eine Branche - und dann noch selektiv die Gaststätten und nicht die Hotels im Blick hat. Danke schön. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde ist die Kollegin Simone Violka für die SPD-Fraktion. ({0})

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal staunt man ja: Die FDP hat endlich die richtungsweisende Kompetenz Europas entdeckt! Ich hätte mir gewünscht, dass die FDP genauso vehement für die Einführung der Antidiskriminierungsrichtlinie in Deutschland eingetreten wäre. Auch das war eine europäische Entscheidung. Damals hat die FDP aber mit Vehemenz dafür geworben, dass man sie nicht umsetzt. Sie hat gesagt: Man sollte das nicht machen. Man sollte sich ein Hintertürchen offen lassen. Nun hat die FDP plötzlich die richtungsweisende Kompetenz von Europa entdeckt. Dabei stimmt das an dieser Stelle noch nicht einmal. Es geht lediglich darum, einen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen jedes Mitgliedsland nach eigenem Ermessen entscheiden kann, was es umsetzen will und was nicht. Aber es müssen Rahmenbedingungen gesetzt werden. Dann darf man auch keine Rosinenpickerei betreiben, wie es die FDP tut. Ich nehme Frankreich einmal als Beispiel. Natürlich muss man fragen, ob die Höhe der Mehrwertsteuersätze zukünftig der einzige Unterschied zu Deutschland sein soll oder ob auch andere Rahmenbedingungen zu beachten sind. Ich würde mir wünschen, dass die FDP sagt: Frankreich hat den Mindestlohn. Lasst ihn uns in Deutschland einführen, damit alle die gleichen Möglichkeiten haben. - Das sehe ich noch nicht. ({0}) Dieses Verhalten passt zur FDP. Im Landtag von Sachsen hat die FDP in der letzten Woche noch vehement dafür geworben, den Schülerverkehr kostenlos anzubieten. In dieser Woche hat die FDP im Kreistag von Zwickau aber selbst dagegen gestimmt. ({1}) Das war ein SPD-Antrag. Wenn die FDP das möchte, dann muss sie das auf allen Ebenen durchhalten, dann kann sie nicht da, wo sie in der Opposition ist, Forderungen aufstellen, und sich dort, wo sie die Möglichkeit hat, etwas zu entscheiden, zurückziehen, weil das Geld kostet. So kann man doch keine Politik machen. ({2}) Herr Wissing, Sie haben recht: Das Steuersystem ist nicht logisch. Aber woran liegt das denn? Als es eingeführt wurde, hatte es noch eine gewisse Logik. Dank des Lobbyismus ist es in vielen Jahren und Jahrzehnten zu dem geworden, was es heute ist: eine recht unlogische Geschichte, die an vielen Stellen hinkt. Die FDP war viele Jahre lang an der Regierung beteiligt und ist daher mit dafür verantwortlich, dass Lobbyisten ihre Vorstellungen durchsetzen konnten. ({3}) Das darf man doch nicht vergessen. Natürlich entwickelt sich die Welt weiter, auch Deutschland. Als man die Regelungen eingeführt hat, gab es verschiedene Dinge noch nicht. Deshalb konnten sie nicht aufgeführt werden. Mein Lieblingsbeispiel in diesem Zusammenhang ist der Vergleich zwischen Hörbuch und Buch. Als der ermäßigte Mehrwertsteuersatz bei Büchern eingeführt wurde, gab es noch keine Hörbücher. Ich gebe Ihnen recht: Das sollte man auf den Prüfstand stellen und vergleichen, was vergleichbar ist. Dabei kann man durchaus zu der Erkenntnis kommen, dass man einiges ändern muss. Zum Beispiel kann man zu der Erkenntnis kommen, dass Hörbücher wie Bücher besteuert werden sollen. Dafür bin ich offen. Eine Harmonisierung bedeutet aber, dass es Plus und Minus gibt. Man darf also nicht sagen, dass alles, was von Lobbyisten bisher erkämpft worden ist, sozusagen eine Eule auf der Stirn trägt und nicht angefasst werden darf, dass also nur neue Sachverhalte aufgenommen werden dürfen. Dann muss ich vielmehr auch bereit sein, die Eulen abzunehmen und die Dinge neutral zu betrachten. ({4}) Als das versucht worden ist, war es aber die FDP, die hier lautstark von Steuererhöhungen gesprochen hat. ({5}) - Nein, das ist nicht richtig. Es ging darum, zu schauen, ob die Regelung im Sinne des Gesetzgebers ist. ({6}) - Nein, das war kein Überraschungsei. Dabei ging es um viele Punkte. - Damals hat uns die FDP als erste vorgehalten, der Staat wolle durch die Hintertür Steuererhöhungen durchsetzen. ({7}) Sie können doch nicht sagen: Wir wollen Harmonisierung - aber nur dann, wenn der Steuersatz nach unten geht. Wenn man so etwas vorhat - diesbezüglich bin ich mit vielen Kolleginnen und Kollegen d’accord -, muss auch die eine oder andere politische Entscheidung getroffen werden. Viele meiner ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen aus der SPD zum Beispiel haben gesagt: Jawohl, wir möchten, dass bei der Schulspeisung der ermäßigte Steuersatz zur Anwendung kommt, weil die Schulspeisung eben nicht in Konkurrenz zu den Gaststätten steht, sondern eher zu der Streuselschnecke vom Bäcker, für die der ermäßigte Steuersatz gilt. Wenn wir für unsere Kinder und Jugendlichen etwas machen wollen, dann gehört dazu, dass wir ein bezahlbares, gesundes und möglichst abwechslungsreiches Mittagessen anbieten. Ich glaube, das ist eine wichtige Forderung. Da Sie so extrem auf den Einfluss der Mehrwertsteuer auf die Preisfindung im Gaststättenbereich abstellen, muss ich fragen, warum es in Berlin bei einer Tasse Kaffee eine Preisspanne von etwa 1 Euro bis 2,70 Euro - der Preis kann auch etwas darunter oder darüber liegen gibt. Mir ist nicht bekannt, dass es in Berlin nach Bezirken geordnet verschiedene Mehrwertsteuersätze gäbe. Diese Preisspanne hängt vielmehr mit Verdienst, mit Miete, mit Nebenkosten und mit dem Standort zusammen und erst an letzter Stelle mit der Mehrwertsteuer, zumal dann, wenn der Rahmen vergleichbar ist. Man kann nicht einfach nur auf Frankreich verweisen; der Kollege hat es gesagt. Schauen wir einmal, wie es in den skandinavischen Ländern gehandhabt wird. Diese Beispiele nennen Sie komischerweise nicht; die lassen Sie außen vor. ({8}) Ich glaube, dass wir alle uns zusammensetzen und völlig emotionslos und unabhängig von Lobbyismus oder sonst etwas darüber reden müssen. ({9}) Wenn man ein vernünftiges System einführen möchte, sollte dies ohne Lobbyismus und vor allen Dingen ohne eine Gewinnoptimierung auf Staatskosten, wie Sie es heute eingefordert haben, geschehen. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen ({0}) - Drucksache 16/12254 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Hierzu ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl. ({2})

Nicolette Kressl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002706

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2008 entschieden, dass Beiträge zu privaten Kranken- und Pflegeversicherungen bei der Einkommensteuer berücksichtigt werden müssen. Das ist heute noch nicht der Fall. Die Bundesregierung legt daher den Entwurf eines Bürgerentlastungsgesetzes vor. Durch die Neuregelung werden die Menschen in unserem Land ab 2010 um knapp 9,5 Milliarden Euro zusätzlich steuerlich entlastet. Die hiermit freigesetzte Kaufkraft wird unsere Wirtschaft neben den beiden bereits verabschiedeten Konjunkturpaketen zusätzlich stimulieren können. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass alle Aufwendungen des Steuerpflichtigen für eine normale Kranken- und Pflegepflichtversicherung künftig steuerlich berücksichtigt werden. Angesetzt werden allerdings nur diejenigen Krankenversicherungsbeiträge, die für eine medizinische Grundversorgung mit modernen und wissenschaftlich anerkannten Behandlungs- und Heilmethoden gezahlt werden. Diese Beitragsanteile sind künftig unbegrenzt abziehbar. Die Beitragsanteile für eine Komfort- oder Luxusversorgung hingegen können nicht steuerlich berücksichtigt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht gefordert, und wir haben ausdrücklich entschieden, dass wir das aus gutem Grunde nicht tun. Denn es liegt auf der Hand, dass der Allgemeinheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht zugemutet werden darf, für teure, medizinisch nicht notwendige Zusatzleistungen in den gemeinsamen Steuertopf einzahlen zu müssen. ({0}) Von dieser finanzwirtschaftlichen Sichtweise einmal abgesehen wäre es auch sehr ungerecht; denn begünstigt würden nur diejenigen, die sich die zum Teil sehr hohen Beiträge für solche Tarife leisten können. Das will die Bundesregierung nicht. Daher sieht der Gesetzentwurf vor, dass eine Aufteilung der Beiträge erfolgen muss. Auch wenn der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sich ausschließlich auf die Beiträge eines privat Versicherten bezogen hat, gelten diese Neuregelungen gleichermaßen für gesetzlich wie privat Kranken- und Pflegeversicherte. Es war eine für uns selbstverständliche politische Entscheidung, zu sagen, dass auch die Beiträge zu gesetzlichen Krankenversicherungen steuerlich entsprechend berücksichtigt werden. Wir wollen ausdrücklich, dass auch die Beiträge des Steuerpflichtigen für seinen in der gesetzlichen Krankenversicherung mitversicherten Ehegatten bzw. seinen eingetragenen Lebenspartner und seine Kinder erfasst werden. Insoweit sieht der Gesetzentwurf keine Begrenzung der Beiträge vor. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass gerade Familien für ihre Absicherung oft höhere Beiträge leisten müssen. Wie bei der Berücksichtigung von Beiträgen zum Aufbau einer Basisversorgung im Alter werden nur die vom Steuerpflichtigen tatsächlich geleisteten Beiträge angesetzt. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich hohe Belastungen auch durch entsprechend hohe Abzugsbeträge auswirken müssen. Damit es im Vergleich zum geltenden Recht in Einzelfällen nicht zu Benachteiligungen kommt, ist im Gesetzentwurf bis zum Jahr 2019 eine Günstigerprüfung vorgesehen. Insgesamt ist für den Steuerpflichtigen mindestens der Betrag als Vorsorgeaufwendungen absetzbar, der auch nach geltender Rechtslage angesetzt werden kann. ({1}) Durch die Günstigerprüfung wird das bisherige Recht, vereinfacht gesprochen, konserviert. Es wird in jedem Einzelfall geprüft, ob für den Steuerpflichtigen die Anwendung des bisherigen oder des neuen Rechts günstiger ist. Diese Prüfungen nimmt das Finanzamt von Amts wegen vor. Der Steuerpflichtige muss in seiner Einkommensteuererklärung lediglich die Höhe der von ihm geleisteten Vorsorgeaufwendungen angeben. Sehr geehrte Damen und Herren, natürlich wird diese Neuregelung auch im Lohnsteuerverfahren berücksichtigt. So können entsprechende Beiträge ab dem 1. Januar 2010 bei der Ermittlung der Lohnsteuer angesetzt werden. Die Lohnsteuerpflichtigen werden also sofort steuerlich entlastet. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass das Bürgerentlastungsgesetz zu Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger in einem Umfang von rund 9,5 Milliarden Euro führt. Begünstigt werden zu einem großen Teil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; das Volumen ihrer Entlastung beträgt rund 7,2 Milliarden Euro. Das ist, wie ich finde, ein wichtiger Hinweis, weil oft der Eindruck entstanden ist - er ist falsch -, als würde dieses Gesetz nur zu Entlastungen beispielsweise für Selbstständige führen. ({2}) Auch Beamte und Selbstständige werden deutlich entlastet, Beamte im einem Umfang von 0,5 Milliarden Euro, Selbstständige um rund 1,6 Milliarden Euro. So viel weniger Steuern müssen sie in Zukunft zahlen bzw. so viel mehr Geld haben sie dann zur Verfügung. Ich hoffe, dass wir nach den Beratungen im Parlament, nach dem parlamentarischen Verfahren und nach der Anhörung in der zweiten und dritten Lesung zu einer großen Mehrheit für diese Entlastungen für die Menschen im Land kommen werden. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Carl-Ludwig Thiele spricht jetzt für die FDP-Fraktion. ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieses Gesetz trägt das Wort „Entlastung“ in seinem Titel. Es führt aber nicht für alle Bürger zu der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Entlastung. Aus meiner Sicht ist es ein Steuererhöhungsgesetz zulasten Vorsorge treibender Bürger. ({0}) Karlsruhe hat Entlastungen gefordert. Diese Entlastungen werden aber nur unzureichend gewährt; auf die Einzelheiten gehe ich gleich ein. Aus meiner Sicht setzt die Große Koalition mit diesem Gesetz ihre Steuererhöhungspolitik fort, allerdings klammheimlich. Insofern kann ich nur sagen: Die Große Koalition ist wieder einmal Weltmeister in Sachen Sprachschöpfung. Warum sie von einem „Bürgerentlastungsgesetz“ spricht, obwohl dieses Gesetz unter anderem vorsieht, dass Arbeitslosenversicherungsbeiträge in Zukunft nicht mehr steuerlich berücksichtigt werden können, ist ihr großes Geheimnis. Die Anforderungen, die Karlsruhe an die Entlastung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge gestellt hat, sind klar. Die Antwort der Großen Koalition lautet: Wenn wir auf der einen Seite entlasten müssen, dann müssen wir auf der anderen Seite streichen. Streichen bedeutet in diesem Fall konkret: Steuererhöhungen für andere. ({1}) - Eine Günstigerprüfung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil überhaupt nicht vorgesehen, Herr Kollege Krüger. ({2}) Daran, dass Sie eine Günstigerprüfung vorsehen, wird aus meiner Sicht eines deutlich: Bislang konnten Krankenversicherungsbeiträge nicht steuerlich berücksichtigt werden. Auf Basis des geltenden Rechts hätte man sie allerdings zusätzlich berücksichtigen müssen. Das ist im Grunde genommen das, worum es geht. Um einige Grundsätze klarzustellen: Das Existenzminimum muss steuerfrei sein. Es gibt einen weiteren verfassungsrechtlichen Grundsatz: Die erwerbsnotwendigen Aufwendungen, die Kosten zur Einnahmeerzielung, müssen steuerlich abgesetzt werden; das objektive Nettoprinzip muss also durchgesetzt werden. Es gibt einen weiteren Grundsatz: das subjektive Nettoprinzip. Er besagt, dass existenznotwendige Ausgaben steuerlich berücksichtigt werden müssen. Das sind Ausgaben, denen ein Steuerpflichtiger nicht ausweichen kann. Jetzt möchte ich dem Hohen Hause und der Öffentlichkeit erklären, was alles durch dieses Gesetz gestrichen wird: Erstens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosenversicherung ist eine notwendige Vorsorge für die Arbeitslosigkeit. Es ist eine Zwangsabgabe, die entrichtet werden muss. Deshalb können sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieser Abgabe überhaupt nicht entziehen. Die Begründung für die Streichung des Sonderausgabenabzugs - wenn man Arbeitslosengeld beziehe, sei dies steuerfrei und unterliege nur dem Progressionsvorbehalt - ist doch hanebüchen; denn zum Glück wird nicht jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin in unserem Land arbeitslos. Das heißt, die Großzahl derjenigen, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge leisten, erhält nie einen Cent aus der Arbeitslosenversicherung. ({3}) Diese Kosten können in Zukunft nicht einmal steuerlich berücksichtigt werden; daran ändert das Vergleichsverfahren überhaupt nichts. Zweitens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsversicherung. Was heißt das denn? Jeder, der erwerbstätig wird - ich sage das auch meinen Kindern -, muss sich gegen Berufsunfähigkeit versichern, schon aus Verantwortung für sich, aber umso mehr - wenn man eine Familie hat -, um das Einkommen der Familie zu sichern. Drittens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur Unfallversicherung. Gerade junge Familien brauchen aber eine Unfallversicherung, weil sie es sich nicht leisten können, dass nach einem Unfall kein Einkommen mehr zur Verfügung steht. Viertens: der Sonderausgabenabzug der Prämien zur Haftpflichtversicherung. Jeder verantwortungsvolle Mensch muss sich doch gegen Missgeschicke, die jedem passieren können, absichern; denn die finanziellen Folgen eines Missgeschicks können sehr groß sein - sowohl für den Schädiger als auch für den Geschädigten. Fünftens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge der Risikoversicherung für den Todesfall. Wenn Bürgerinnen und Bürger in unserem Land Eigentum bilden wollen, das aber nur schaffen, wenn sie am Anfang Schulden aufnehmen, dann müssen im Laufe des Erwerbslebens natürlich Kreditzinsen gezahlt und die Schulden getilgt werden. Wenn dann aber eine Berufsunfähigkeit eintritt oder ein Erwerbstätiger verstirbt, dann muss doch sichergestellt sein, dass die Familie nicht mit Schulden belastet wird, die sie gar nicht mehr tragen kann, weil das Einkommen nicht mehr vorhanden ist. Auch dieser Sonderausgabenabzug wird durch den Gesetzentwurf gestrichen. Auf der einen Seite wird gesagt: Sorgt vor! Auf der anderen Seite wird gesagt: Wenn ihr vorsorgt, dann müsst ihr das aus dem versteuerten Einkommen finanzieren. Das kann doch überhaupt nicht richtig sein. ({4}) Das regt mich wirklich auf. Bei der Krankenversicherung soll der Sonderausgabenabzug der Beitragsanteile der Krankenversicherungsprämien, die das Krankengeld absichern, gestrichen werden. Wer erhält denn Krankengeld? Das bekommt man doch nur, weil man krank ist und keine Einkünfte mehr erzielt. Auch dort wird der Sonderausgabenabzug gestrichen. Ich weiß gar nicht, ob das allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses bekannt ist. Was die Arbeitslosenversicherung anbelangt, gehe ich angesichts der verblüfften Gesichter der SPD-Fraktion davon aus, dass die meisten davon gar nichts wissen. Auch die anderen Punkte sind hier nicht bekannt. Frau Staatssekretärin, ich habe noch nie in einem Gesetzentwurf so ein ärmliches Finanztableau gesehen wie in diesem. Sie weisen nur aus, wo entlastet wird. Sie weisen mit keinem Cent aus, wo gestrichen wird, wo gegenfinanziert wird, wo Bürger belastet werden, die Vorsorge betreiben. Das ist unsäglich. Das muss diskutiert werden. Ich hoffe, dass im Rahmen der Diskussion viele erkennen, dass hier bei den Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträgen zwar Vorgaben des Verfassungsgerichts umgesetzt werden, das Gesetz aber in Kombination mit dem, was gestrichen wird, für viele schlecht ist und die nächsten verfassungsrechtlichen Probleme hervorruft. Natürlich muss man sich gegen Arbeitslosigkeit versichern. Warum das zukünftig aus versteuertem Einkommen erfolgen muss, ist überhaupt nicht einzusehen. Das muss grundlegend überarbeitet werden. So kann das überhaupt nicht bleiben. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Thiele, ich schätze Sie als Kollegen sehr. Was Sie aber hier abgeliefert haben, ging weit an der Wirklichkeit vorbei. Sie haben sehr überzogen. Hier wird ein Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Bürger ab dem 1. Januar 2010 um 9,3 Milliarden Euro entlastet werden. Sie aber reden von Steuererhöhungen. Das kann wirklich nicht wahr sein. ({0}) Mit diesem Bürgerentlastungsgesetz werden wir die Menschen mit 9,3 Milliarden Euro bezuschussen, damit sie wieder mehr Geld in der Tasche haben und mehr die Konjunktur ankurbeln können. ({1}) Das ist ein Impuls für die Wirtschaft. Das passt genau in die jetzige Lage. Im vergangenen Jahr hat es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben. Danach muss das Existenzminimum neu definiert werden. ({2}) Derzeit liegt das Existenzminimum bei 7 834 Euro. Hinzu kommen steuerfreie Pauschalen wie die Werbungskostenpauschale, der Altersentlastungsbetrag und der Sparerpauschbetrag. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Auch die Beiträge für eine Krankenversicherung müssen steuerfrei gestellt werden, sofern diese Beträge das sozialhilfegleiche Niveau erreichen. - Das machen wir mit diesem Gesetz. Weil wir dies machen, kommen 9,3 Milliarden Euro mehr bei den Bürgern an. Heute sieht die Situation so aus, Herr Thiele: Derzeit können Beiträge zur Krankenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung, für eine Berufsunfähigkeitsversicherung, für eine Haftpflichtversicherung und für eine Risikolebensversicherung in einer Größenordnung von 1 500 Euro im Jahr geltend gemacht werden. Wenn die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden, wird dies anders sein. Nehmen Sie beispielsweise einen Arbeitnehmer, der im Monat 3 675 Euro und somit 44 100 Euro im Jahr verdient. Dies entspricht einem Einkommen in der Höhe der Beitragsbemessungsgrenze. Heute kann dieser Arbeitnehmer 1 500 Euro absetzen. Ab dem nächsten Jahr wird er 4 024 Euro absetzen können. Er wird also 2 524 Euro mehr absetzen können. Das bedeutet, dass er etwa 1 000 Euro netto mehr in der Tasche hat. Somit werden die Bürger durch unseren Gesetzentwurf entlastet. ({3}) Dies ist auch kein Steuergeschenk, wie ich verschiedentlich gehört habe. Vielmehr wird deutlich festgehalten, dass einige zu viel Steuern zahlen. Das ist also etwas, was wir den Bürgern zurückgeben, aber kein Steuergeschenk. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unterscheiden zwischen dem Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Bereich der privaten Krankenversicherung. Die gesetzliche Krankenversicherung erhebt Beiträge nach dem Einkommen der Versicherten. Außerdem gibt es eine Mitversicherung für Ehepartner, für Kinder und für Lebenspartner. In der privaten Krankenversicherung ist das anders. Für jedes versicherte Mitglied muss ein eigener Beitrag gezahlt werden, der sich nach dem Alter, nach dem Gesundheitszustand und nach dem Geschlecht richtet. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Es müssen in Zukunft alle Beiträge, die Beiträge der gesetzlich Versicherten, aber auch die Beiträge der privat Versicherten, anerkannt werden. Auch für die private Krankenversicherung gilt, dass ein sozialhilfegleiches Niveau der Versorgung sichergestellt sein muss. Besonders begrüße ich an diesem Gesetzentwurf, dass damit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts gefolgt wird, dass Familien mit Kindern, die privat versichert sind, die Beiträge für ihre Kinder absetzen können müssen. Das war bisher nicht der Fall. Das heißt, gerade Familien mit vielen Kindern werden eine deutliche Entlastung erfahren. Wir haben hier also eine neue Kinderkomponente, die bisher nicht vorhanden war. Bisher konnten nur in der gesetzlichen Krankenversicherung Kinder ohne einen eigenen Beitrag mitversichert werden. An dieser Stelle erfolgt also eine Kompensation der privat Versicherten. Zudem ist in der privaten Krankenversicherung von Bedeutung, dass der sogenannte Basistarif abgesetzt werden kann. Das ist der Tarif, der den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Es gibt aber natürlich viele, die sich nicht für den Basistarif, sondern für eine private Vollversicherung entschieden haben. Hierbei gibt es in Deutschland über Zehntausend verschiedene Tarife. Es gab Überlegungen, nicht nur für jeden Tarif, sondern für jeden einzelnen Versicherten herauszurechnen, was dem sozialhilfegleichen Niveau entspricht und was Zusatzversicherung ist. Ich glaube, hier wurde in dem Gesetzentwurf eine sehr gute Lösung gefunden. Wir unterstützen es seitens der Union ausdrücklich, dass bei den Privatversicherten ein pauschaler Abzug für alle vorgenommen wird. So können wir nämlich eindeutig Bürokratie verhindern. Ansonsten hätte dieser Gesetzentwurf eine Bürokratie ohne Grenzen geschaffen. Das konnten wir Gott sei Dank verhindern. Insgesamt müssen wir zunächst einfach einmal festhalten, dass 60 Prozent der Bürger durch diesen Gesetzentwurf um 9,33 Milliarden Euro entlastet werden. Das sind Menschen, die bisher zu viele Steuern für ihre Krankenversicherungsbeiträge gezahlt haben. Eines gefällt mir allerdings nicht - das will ich noch einmal ausdrücklich erwähnen -, dass nämlich der bisherige Abzugsbetrag für die Haftpflichtversicherung, die Unfallversicherung und die Berufsunfähigkeitsversicherung gar keine Berücksichtigung mehr finden soll. ({4}) Wir müssen bedenken, dass gerade die Haftpflichtversicherung - so sagen es übrigens alle Verbraucherschützer, Verbraucherzentralen und auch die unabhängigen Berater im Versicherungsbereich - eine der wichtigsten Versicherungen ist, ({5}) weil zum einen der Schädiger geschützt wird, damit er die Leistung überhaupt erbringen kann, und weil zum anderen vor allem auch der Geschädigte geschützt wird; denn wenn der Schädiger keine Versicherung hat, dann kann der Geschädigte seinen Anspruch auf Leistung nicht geltend machen - es sei denn, der Staat tritt ein. Deswegen gibt es in solchen Fällen Folgekosten für den Staat. ({6}) Das Zweite ist die Berufsunfähigkeitsversicherung. Sie wird als die wichtigste individuelle Versicherung angesehen. Warum ist das so? - In Deutschland beträgt das diesbezügliche Durchschnittsniveau etwa 700 Euro. Wenn ein junger Mensch berufsunfähig wird, dann muss lebenslang eine Leistung für ihn erbracht werden. Hat er eine private Versicherung, so kann er dies kompensieren. Gerade der Abzugsbetrag von bisher nur 1 500 Euro kam insbesondere Geringverdienern zugute. Sie konnten auch noch Teile - teilweise natürlich auch nur mit dem Eingangssteuersatz - absetzen. Für sie war es einfach wichtig, dass sie gerade in jungen Jahren - insbesondere auch Ledige - diesen Betrag absetzen konnten. ({7}) Bisher gibt es die Möglichkeit der Berücksichtigung dieser Versicherung nur im Rahmen der Riester- bzw. Rürup-Rente, wenn man eine Altersversorgung einbezieht. Das können junge Leute normalerweise nicht, und das können vor allen Dingen diejenigen mit einem niedrigen Einkommen nicht. Deshalb sollten wir dieses Thema im Rahmen der Beratungen noch einmal aufgreifen und prüfen, ob wir gerade hinsichtlich der Haftpflichtversicherung, der Berufsunfähigkeitsversicherung und der Unfallversicherung hier nicht doch noch eine neue Lösung finden können. ({8}) Es ist natürlich nicht unproblematisch, dass die rechtlichen Grundlagen für die Altersversorgung und für die Krankenversicherung mit diesem Gesetzentwurf zum dritten Mal in den letzten fünf Jahren geändert werden. Sie wissen, dass es dann ab 2010 ein neues Recht geben wird. Mit dem Alterseinkünftegesetz haben wir ein spezielles Recht, und es besteht auch noch das alte Recht von 2004, weil es beispielsweise im Bereich der Krankenversicherung und vor allen Dingen im Bereich der Altersversorgung langfristige Verträge gibt. Wir begrüßen es seitens der Union ausdrücklich, dass hier die sogenannte Günstigerprüfung eingeführt wird, das heißt, dass diese Gesetzesänderungen nicht zu einem Nachteil des Steuerpflichtigen führen dürfen. Deshalb gibt es automatische Prüfungen seitens des Finanzamtes, und für den einzelnen Steuerpflichtigen wird genau ausgerechnet, welcher Weg für ihn der günstigste ist. Wir begrüßen das außerordentlich. Diese Entlastung um 9,33 Milliarden Euro wird durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgegeben. Ich glaube, das passt gut in die aktuelle konjunkturelle Situation. Auch bei den anderen Konjunkturpaketen haben wir über dieses Thema diskutiert. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein, um den Menschen zu zeigen, dass sie nicht nur belastet, sondern auch entlastet werden. Wir unterstützen die Bundesregierung seitens der Union, damit diese Entlastung zum 1. Januar 2010 wirksam wird. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom Februar vergangenen Jahres das Grundprinzip bestätigt, dass alle Aufwendungen, die die Menschen zur Sicherstellung ihres Existenzminimums brauchen, nicht besteuert werden dürfen, also steuerfrei zu stellen sind. ({0}) Dazu gehören auch die Aufwendungen für die private Krankenversicherung und Pflegeversicherung. Allerdings - das wurde schon betont - schließt das nicht alle Aufwendungen ein, sondern nur die Leistungen, die dem Katalog der gesetzlichen Krankenkassen zur Erlangung des sozialhilferechtlich gleichen Lebensstandards entsprechen. Chefarztbehandlung und Einzelzimmer gehören also nicht dazu. Zum Glück folgt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf genau dieser Logik. Gleichzeitig zeigen sich aber die Schattenseiten des gesetzlichen Leistungskatalogs und damit die unsoziale Gesundheitspolitik von rot-grüner und Großer Koalition: Die Menschen müssen Brillen komplett selbst bezahlen; sie sind nicht mehr im Leistungskatalog enthalten. Hörhilfen und Zahnersatz müssen zu großen Teilen selbst bezahlt werden und sind nicht einmal voll steuerlich absetzbar. Wir als Linke begrüßen ausdrücklich, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung in vollem Umfang steuerlich berücksichtigt werden. Allerdings - damit komme ich zum Knackpunkt, um den Sie herumgeredet haben - wird die Neuregelung zu erheblichen Steuerausfällen in Höhe von 9 Milliarden Euro pro Jahr führen. Sie brüsten sich bereits damit. Aber ich frage mich, wie das gegenfinanziert werden soll. Dazu sagen Sie bisher sehr wenig. In einer Pressemitteilung des Finanzministeriums vom 16. Juli vergangenen Jahres heißt es: Daher werden wir prüfen, welche Instrumente uns zur Verfügung stehen und wo Handlungsspielräume bestehen, um eine gerechte Finanzierung zu gewährleisten. Dies führt dazu, dass die Entlastung im Bereich der höheren Einkommensbezieher kleiner ausfällt, während sie bei den unteren und mittleren Einkommen wenn möglich nicht von der Gegenfinanzierung betroffen werden soll. Wo ist das geblieben? Es ist nicht mehr zu finden. Im Gegenteil: Herr Steinbrück sprach auch mal davon, dass nur 6 Milliarden Euro Steuerausfälle zu erwarten wären. Sie haben keine einzige Maßnahme zur Gegenfinanzierung zulasten der Bezieherinnen und Bezieher höherer Einkommen vorgeschlagen. Diese Gruppe profitiert natürlich stärker von der Neuregelung; denn wer höhere Beiträge zahlt, kann auch höhere Beiträge steuerlich geltend machen, und durch die Progression fällt die Entlastung deutlich höher aus. Hinzu kommt das Problem, das sowohl Herr Thiele als auch Herr Flosbach angesprochen haben. Sie haben durch Ihre Formulierung im Gesetzentwurf versucht, das still und heimlich zu kaschieren. Es wird darauf verwiesen, dass § 10 des Einkommensteuergesetzes geändert wird. Der bisherige Sonderausgabenabzug gelte jetzt eben nur noch für Krankheit und Pflege. Die Bürgerinnen und Bürger achten in der Regel nicht darauf, worauf er sich vorher bezogen hat. Man muss auch erst einmal blättern, bis man die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und zur Berufsunfähigkeitsversicherung vermisst. Ich meine, vor Jahren gab es noch eine Berufsunfähigkeitsrente für gesetzlich Rentenversicherte. Auch diese gibt es nicht mehr. Insofern ist man gezwungen, privat vorzusorgen. Als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist man gezwungen, in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Die von Ihnen vorgesehene Regelung führt konkret dazu, dass in einzelnen Fällen die Bezieherinnen und Bezieher von niedrigen Einkommen gar nichts oder nur wenig steuerlich geltend machen können; denn wir haben in Deutschland leider keinen Mindestlohn, und die Löhne sind - insbesondere für Frauen - sehr niedrig. Bisher konnten sie einen Betrag von bis zu 1 500 Euro steuerlich geltend machen. In Zukunft gilt das nur noch für die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung; der Rest fällt weg. Sie können deshalb nur noch einen geringeren Betrag geltend machen und werden real stärker belastet. Das geht nicht. Ich bin gespannt, wie sich die CDU/CSU für diesen Punkt starkmachen wird. Das alles zeigt, dass eine stärkere Entlastung der Besserverdienenden erfolgt und dass Ihr gesamtes Gesundheitssystem krankt. Wir fordern in einem ersten Schritt die sofortige Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze. ({1}) Das ist doch wohl machbar; dem steht nichts im Wege. Wir fordern die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung und zu einem umfassenden Leistungskatalog, in dem auch die notwendige Sehhilfe enthalten ist. Man darf auch nicht an den Zähnen erkennen, ob jemand viel oder wenig Geld hat. Wir fordern einen Weg hin zu einer solidarischen Bürgerversicherung; das ist die Anforderung unserer Zeit. Eine steuerliche Neuregelung muss sich auf alle Fälle hieran orientieren. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht fordert den Gesetzgeber - man muss sagen: leider - wieder auf, etwas Sinnvolles für die Bürgerinnen und Bürger zu tun. Es ist im Hinblick auf die aktuelle schwierige wirtschaftliche Lage absurd, dass die Große Koalition das Ganze als Bestandteil des Konjunkturpakets verkauft. Zum Inhalt: Mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt. Wir begrüßen viele Stellen dieses Gesetzentwurfs, vor allem die Steuerfreiheit der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Wir meinen, dass das eine gerechte Lösung ist, weil nur das Einkommen besteuert wird, das tatsächlich zur Verfügung steht. Das ist auch in steuersystematischer Hinsicht eine gute Lösung, weil das Prinzip der Besteuerung nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit berücksichtigt wird. Wir, Grüne und SPD, hatten schon im Zusammenhang mit der Rentenversicherung an eine Steuerfreiheit gedacht. Wir Grüne haben immer eine Gleichbehandlung von Privatversicherten und gesetzlich Versicherten bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit gefordert. Dabei muss man sich auf das Niveau der Sozialhilfe und die geleisteten Beiträge beziehen. Das wird nun umgesetzt. Die Vorrednerinnen und Vorredner haben aber bereits deutlich gemacht, dass man nun für die Menschen eine schwierigere Situation schafft, wenn es um die Haftpflichtversicherung, die Berufsunfähigkeitsversicherung und die Unfallversicherung geht; das muss man sehen. Wenn man das umsetzt, was vorgeschlagen ist, wird es sehr teuer. Der Regierungsentwurf sieht ein Steuerentlastungsvolumen von 9,5 Milliarden Euro vor. Ich hoffe sehr, dass wir uns in den Ausschussberatungen genau anschauen, wie sich das im Kontext mit den angesprochenen Versicherungen verhält, die - da hat Kollegin Dr. Höll recht - in der heutigen Zeit notwendig sind. Deswegen müssen wir uns Gedanken darüber machen, inwieweit diese Versicherungsbeiträge steuerlich absetzbar gemacht werden können. Darüber müssen wir gemeinsam diskutieren. Ich habe vernommen, dass sich die Union hier durchaus bewegt. Ein solches Gesetz kann aber kein Ersatz für eine vernünftige Gesundheitspolitik sein. ({0}) Es handelt sich hier um eine rein steuerliche Regelung. Viele Bürgerinnen und Bürger erfahren aufgrund einer verfehlten Gesundheitspolitik - Stichwort „Gesundheitsfonds“ - erst einmal eine höhere Belastung. Die vorgesehene steuerliche Entlastung kompensiert die höhere Belastung durch den Gesundheitsfonds zum Teil überhaupt nicht. Das heißt, einige, die höhere Beiträge aufgrund des Gesundheitsfonds zahlen müssen, werden trotz steuerlicher Entlastung unter dem Strich höher belastet. Man muss das gesamte System berücksichtigen und darf nicht isoliert die Steuerfrage betrachten. Das Bundesfinanzministerium selbst schätzt, dass nur 57 Prozent der Steuerpflichtigen, also jeder Zweite, in nennenswerter Weise durch das Gesetz entlastet werden. Wer gut verdient, spart viele Steuern. Wer wenig verdient, spart wenig oder gar nichts. Das ist die praktische Konsequenz. Dies hängt mit unserer Steuersystematik und unserem Sozialversicherungsrecht zusammen. Paradoxerweise verhält es sich bei der Belastung der Bürgerinnen und Bürger mit Sozialversicherungsbeiträgen genau andersherum: Bei einem Bruttoeinkommen von beispielsweise 1 700 Euro machen die Beiträge zur Krankenversicherung und Pflegeversicherung 9 Prozent aus; bei einem Bruttoeinkommen von beispielsweise 6 700 Euro machen diese Beiträge aber nur noch 5 Prozent aus. In absoluten Zahlen heißt das: Wer 20 000 Euro brutto verdient, wird um 100 Euro entlastet. Wer 60 000 Euro brutto verdient, wird um 1 000 Euro entlastet. Aus diesem Grund ist es für uns Grüne immer wichtig gewesen, die Sozialversicherungsbeiträge für Bezieher von geringen Einkommen ganz gezielt zu senken. Damit soll der von mir genannte Effekt vermieden werden. Bezieher niedriger Einkommen sollen nicht in die Situation kommen, dass die Sozialversicherungsbeiträge wie ein Fallbeil zuschlagen, sondern sie sollen langsam und stufenlos ansteigen, so wie wir das auch im Steuerrecht haben. Das wäre eine vernünftige Lösung. ({1}) Wir nennen diese Lösung Progressivmodell. Sie ist sehr gut und würde diese Problematik an der Wurzel bekämpfen. Darüber werden wir im Ausschuss weiter diskutieren können. Danke schön.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen, SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So manche Rede hier kommt mir so vor, als sei sie nach dem Motto „Was ich schon immer einmal sagen wollte“ gehalten worden. Viele dachten wohl: Jetzt rede ich nicht zum Bürgerentlastungsgesetz, sondern mauschel irgendetwas vor mich hin, was vielleicht besser ankommt und was sich hier gut verkaufen lässt. Frau Dr. Höll, durch die Günstigerprüfung wird sichergestellt, dass genau das nicht passiert, was Sie beschrieben haben. Wenn jemand aufgrund seines geringen Einkommens nur geringe Beiträge zur Krankenversicherung zahlt und daher nach neuem Recht weniger steuerlich geltend machen kann, dann wird geprüft, ob die Regelung nach altem Recht für ihn steuerlich günstiger ausfällt, und diese angewandt. Niemand wird nach dem neuen Recht schlechter gestellt. ({0}) Viele werden besser gestellt, aber niemand schlechter. Das möchte ich als Kernbotschaft festhalten. ({1}) Herr Flosbach, wenn ich auf das Schmierentheater von Herrn Thiele hätte eingehen müssen, dann wäre meine Reaktion sicherlich nicht halb so moderat ausgefallen wie Ihre. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken. Herr Thiele hat sich hier hingestellt und alle Versicherungen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, aufgezählt und so getan, als ob irgendjemand alle diese Versicherungen gleichzeitig steuerlich geltend gemacht hätte. ({2}) Er hat darüber hinaus so getan, als ob bisher alle diese Versicherungen unbegrenzt abzugsfähig gewesen wären. Das stimmt doch gar nicht. Die meisten haben die Beiträge für ihre Versicherungen treu und brav jedes Jahr in ihr Steuererklärungsformular eingetragen. ({3}) Diese Beiträge hatten aber überhaupt keine Auswirkungen, weil die Krankenkassenbeiträge ausgereicht haben, um den Höchstbetrag der steuerlichen Absetzbarkeit auszuschöpfen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Herr Kollege Thiele möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Klar.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Frechen, mich überrascht schon, dass Sie sagen, alles Mögliche könne geltend gemacht werden. Nach der derzeitigen Rechtslage kann nicht alles Mögliche geltend gemacht werden. Aber der Arbeitslosenversicherungsbeitrag kann geltend gemacht werden, ebenso die Beiträge für die Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsversicherung, die Unfallversicherung und die Haftpflichtversicherung. Das ist doch nicht „alles Mögliche“. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat dem Gesetzgeber mit keinem Wort vorgegeben, diese Regelung zu streichen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber nur vorgegeben, dass die Einschränkung bei der Berücksichtigung von Krankenversicherungsbeiträgen, wie es das geltende Gesetz vorsieht, nicht erfolgen darf. Warum verschwiegen wird, dass all das gestrichen wird, was ich vorgetragen habe, können Sie mir als Antwort auf meine erste Frage erklären. Warum Sie diese zu berücksichtigenden Ausgaben nicht kumulativ behandeln, sondern ausschließen wollen, können Sie mir als Antwort auf meine zweite Frage sagen.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bei Ihrer Zwischenfrage habe ich erst einmal auf die Uhr geschaut, um zu wissen, warum Sie das Gleiche fragen, was Sie vorhin gesagt haben. ({0}) Aber vielleicht hat sich in der Zwischenzeit das Publikum geändert. Auch die neuen Besucher müssen all die Versicherungen kennen, die Sie vorhin genannt haben. ({1}) - Auch das kann sein. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie auch die Präsidentin ins Bild setzen. Wir führen heute die erste Lesung durch. ({2}) Herr Flosbach, haben Sie verschwiegen, dass die sonstigen Vorsorgeleistungen gekürzt werden? ({3}) Herr Thiele hat gerade gesagt, Sie hätten das verschwiegen. Ich habe das gehört. ({4}) - Aber warum stellen Sie jetzt die Frage mit demselben Tenor noch einmal? ({5}) - Er hat es nicht verschwiegen, wir werden es nicht verschweigen, und auch ich werde es sagen. Selbstverständlich hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesagt, dass irgendetwas gestrichen werden müsse. ({6}) So etwas macht das Verfassungsgericht auch nicht. Aber wir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass bei Menschen, die nach dem neuen Gesetz schlechter gestellt würden, die alte Regelung mit den anderen Versicherungsleistungen wieder auflebt. Ich weiß jetzt nicht, wo Sie mir etwas - ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Thiele, die Rednerin beantwortet Ihre Frage. Es wäre schön, wenn Sie zuhörten. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Solange die Uhr angehalten ist, dürfen Sie fragen, was Sie wollen. ({0}) Wir haben schon gehört, dass das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass die steuerliche Behandlung der Krankenversicherungsbeiträge von Privat-Versicherten mit Kindern nicht verfassungsgemäß war. Dies wird mit diesem Gesetz geändert. Das Urteil bezog sich im Einzelfall auf Beiträge für Privat-Versicherte. Dass die Umsetzung in gleicher Weise für gesetzlich Versicherte gilt, ist selbstverständlich. Eine wie auch immer geartete einseitige Regelung ist mit uns natürlich nicht zu machen. Die Neuregelung wird zu Steuermindereinnahmen in Höhe von 9,3 Milliarden Euro führen. Dies bedeutet, untechnisch gesprochen, dass die Bürgerinnen und Bürger ab dem kommenden Jahr diese Summe zusätzlich im Geldbeutel haben werden. Wie Herr Thiele darauf kommt, dass es Steuererhöhungen sein sollen, bleibt sein Geheimnis. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass er die FDP immer als Steuersenkungspartei bezeichnet. In Wirklichkeit ist die FDP nichts weiter als eine Steuersenkungsankündigungspartei. ({1}) Immer dann, wenn sie in der Opposition ist, fordert sie Steuersenkungen. In den vielen Jahren, in denen sie an der Regierung beteiligt war, ist nicht einmal eine Steuer gesenkt worden. Schwups, kaum in der Opposition, fordert sie schon wieder Steuersenkungen. ({2}) Das war jetzt nur ein kleiner Ausflug in die Historie von Herrn Thiele. ({3}) - Doch, das war genau zutreffend. Ich fertige einmal ein Buch mit allen Steuersenkungen an, die die FDP in der Zeit ihrer Regierungsbeteiligung mitbeschlossen hat. Da werden wir sehr viel Papier sparen, weil in diesem Buch kein einziges Blatt sein wird. ({4}) - Nein, das ist nicht an der Realität vorbei. Aber ich habe vorausgesehen, dass Sie auch bei diesem Gesetz wieder ein Haar in der Suppe finden und es ganz genüsslich spalten werden. Sie haben mich nicht enttäuscht, was für mich natürlich auch eine Genugtuung ist. Fakt ist, dass 80,2 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von diesem Gesetz profitieren. Allein sie bekommen 7,2 Milliarden Euro zurück. Bei den Selbstständigen sind es 1,6 Milliarden Euro, bei den Beamten 560 Millionen Euro. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind damit die großen Gewinner der Reform. Für mich sind alle Menschen Leistungsträger, die sich aktiv am erfolgreichen Miteinander unserer Gesellschaft beteiligen, egal ob sie -

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Herr Kollege Spieth möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie sprachen davon, dass 80 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet würden. Das ist, steuerrechtlich betrachtet, möglicherweise richtig; ich will dies gar nicht kritisieren. Mit der steuerlichen Absetzbarkeit von Krankenversicherungsbeiträgen entsteht aber ein verteilungspolitisches Problem bei der Beitragsfinanzierung. Als Bundestagsabgeordnete zahlen wir einen Arbeitnehmeranteil von 8,2 Prozent in die Krankenversicherung. Das sind 301 Euro, der Höchstbetrag bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Unser volles Einkommen wird nicht verbeitragt, was dazu führt, dass wir real nur 3,93 Prozent unseres Einkommens zahlen. Wenn uns relativ gut Verdienenden nun noch eine steuerliche Entlastung in Höhe von rund 120 Euro entsteht, zahlen wir Bundestagsabgeordneten nur noch 2,36 Prozent. Ein verheirateter Arbeitnehmer ohne Kinder, der 1 500 Euro verdient, zahlt den vollen Krankenversicherungsbeitrag, also 8,2 Prozent seines Einkommens. Ihre Fraktion hat zu Beginn dieser Debatte gesagt, wir müssten dieses Problem lösen. Meine Kollegin Höll hat vorgeschlagen, deshalb die Beitragsbemessungsgrenze entfallen zu lassen, weil diese - quasi wie eine Guillotine wirkend - genau diesen Effekt erziele. Sind Sie bereit, in den weiteren Beratungen genau dieses Thema zu problematisieren? Im steuerlichen Teil liegen Sie richtig; was die beitragspolitische Seite betrifft, liegen Sie nach meiner Auffassung daneben, wenn Sie das nicht tun. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege Spieth. Frau Höll hat das Thema in ihrem Redebeitrag schon angesprochen. Ich weiß nicht, ob Sie da noch nicht anwesend waren. ({0}) Das ist die erste Lesung zum Bürgerentlastungsgesetz. Es geht um die steuerliche Behandlung der Krankenversicherungsbeiträge, egal ob die Leute gesetzlich oder privat krankenversichert sind, egal ob sie viel oder wenig Gehalt beziehen. Die Frage, die Sie gerade gestellt haben, geht knapp am Thema vorbei. ({1}) - Es geht um die steuerliche Behandlung von Krankenversicherungsbeiträgen. Sie haben doch gesagt, in steuerlicher Hinsicht hätte ich recht. Somit bin ich für den Moment zumindest zufrieden. ({2}) - Ich glaube, Sie haben meine Antwort nicht verstanden, oder Sie wollten sie nicht verstehen. Wir sollten etwas höflicher miteinander umgehen. ({3}) - Ich kann Ihnen vielleicht nicht folgen, verstehen kann ich Sie schon. Also das können Sie mir schon zutrauen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höll, Frau Kollegin?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Frau Kollegin Frechen, das hat schon alles etwas mit unserem Problem zu tun; denn es geht auch um die Frage der Gegenfinanzierung und zugleich um die einer sozial gerechten Verteilung von Be- und Entlastung. Auf die Frage der sozial gerechten Verteilung der Belastung konnten oder wollten Sie nicht antworten. Ich möchte Sie fragen, welche Vorstellungen überhaupt zur Gegenfinanzierung dieses Steuerentlastungspakets vorhanden sind; denn bei anderen Diskussionen, die wir in den vergangenen Jahren hatten, wurde uns erklärt, dass zum Beispiel weder eine Erhöhung des Kindergeldsatzes auf 200 Euro noch eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze auf mindestens 435 Euro möglich ist, weil dafür das Geld fehlt. Jetzt beschließen wir ein Gesetz mit einem Entlastungsvolumen von 9 Milliarden Euro, und plötzlich ist das Geld da. Das verwundert mich etwas. Darauf hätte ich gerne eine Antwort.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin Höll, wir haben von Anfang an gesagt, dass eine Gegenfinanzierung nicht vorgenommen wird. Es war vielleicht kein von uns forciertes und auch nicht ein von uns gewünschtes Konjunkturpaket, aber in der jetzigen Situation halten ich, die Bundesregierung und die Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion es für sinnvoll, für 2010 dieses von uns nicht propagierte, aber jetzt von uns umzusetzende Konjunkturprogramm wirken zu lassen. ({0}) Im Einzelnen heißt das: Ein verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kindern und einem Einkommen von 70 000 Euro, der 3 950 Euro für sich und seine Familie bezahlt, erhält eine Entlastung von 274 Euro. Gehen beide Ehegatten arbeiten, zahlen sie bei gleichem Einkommen 6 213 Euro Krankenversicherung, und sie werden mit 996 Euro entlastet. Das ist ein Zeichen dafür, dass wirklich die mittleren Einkommen mit diesem Gesetz entlastet werden. Der ledige Arbeitnehmer mit einem Einkommen von 40 000 Euro wird mit 722 Euro entlastet. Jetzt komme ich zu dem Problem, das von allen schon angesprochen worden ist: Der Selbstständige mit gleichem Einkommen wird mit dieser Änderung nicht entlastet. Er bezahlt einen Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von 4 360 Euro. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die sonstigen Vorsorgeaufwendungen nicht oder nicht mehr in gleicher Höhe wie zuvor zum Abzug zugelassen werden. Das ist die geringe Gegenfinanzierung, die ich eben angesprochen habe. Deshalb gibt es die Günstigerprüfung. Ich sage aber ganz offen: Darüber, inwieweit diese Vorsorgeaufwendungen gestrichen oder gekürzt werden, werden wir selbstverständlich in den anstehenden Beratungen sprechen müssen. Es gilt das Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz kommt so aus dem Bundestag heraus, wie es hineingekommen ist. Ich weiß also gar nicht, was die ganze Aufregung hier soll. ({1}) - Das muss ich noch gar nicht. Es ist nämlich ein Regierungsentwurf, Herr Thiele. Aus ganz grauer Vorzeit wissen Sie vielleicht noch, was das bedeutet. ({2}) Ich möchte jetzt gern einen ganz anderen Punkt vertreten - er liegt mir sehr am Herzen -: Wir werden gemeinsam - das steht noch nicht im Regierungsentwurf das Schulstarterpaket ausweiten, und zwar auf die Zeit vom 11. bis zum 13. Schuljahr. ({3}) - Ja, ich konnte Sie überraschen. Das freut mich jetzt. Für uns war nie verständlich, warum dieses Paket nur bis zum 10. Schuljahr angeboten wurde. ({4}) - Frau Höll, Sie sehen doch: Steter Tropfen höhlt den Stein. Man kommt auch dann zum Ziel, wenn man nicht so laut brüllt. Wir weiten dieses Paket jetzt aus. ({5}) - Genau. - Durch dieses Gesetz werden auch die Kinder von Geringverdienern, die die Schulklassen 11 bis 13 besuchen, mit dem Schulstarterpaket ausgestattet. ({6}) Darüber bin ich sehr erfreut. Das sind immerhin 250 000 Schülerinnen und Schüler. Der Kreis der Empfangsberechtigten wird auf die sogenannten Aufstocker ausgeweitet. Damit haben wir einen weiteren Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit geleistet. Ich freue mich auf konstruktive Beratungen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mitmachen statt Miesmachen“ heißt das Motto unserer Jugendorganisation. Die heutige Debatte zeigt wieder, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, das Miesmachen für Ihr politisches Programm halten. ({0}) Das finde ich bedauerlich. Das wird uns aber nicht daran hindern, diesen Gesetzentwurf als gute Grundlage in die Debatte einzubringen. ({1}) Herr Thiele hält Steuersenkungen in Höhe von 9,5 Milliarden Euro für ein Steuererhöhungsprogramm. Die Linken haben den üblichen Beißreflex. Dass Leute, die höhere Beiträge zahlen, auch höher entlastet werden, kann aus ihrer Sicht natürlich nur unsozial und ungerecht sein. Ich bin froh, dass die Grünen ihre Position sehr ausgewogen dargestellt haben, Frau Kollegin Scheel. Aus unserer Sicht ist dieser Gesetzentwurf eine sehr gute Diskussionsgrundlage. Wir beginnen heute mit der Beratung hier im Parlament; allerdings hat sich auf dem Weg vom Referentenentwurf zum Gesetzentwurf schon einiges getan: Wir haben den Kreis derjenigen, deren Krankenversicherungsbeiträge begünstigt werden können, ausgeweitet. Neben den Ehepartnern und den Kindern sind jetzt auch die Lebenspartner aufgenommen. Für Geschiedene können Krankenversicherungsbeiträge künftig über den Unterhaltsfreibetrag hinaus geltend gemacht werden. Ich danke dem Ministerium dafür, dass dieses Ergebnis einer Beratung zum Referentenentwurf so schnell in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Liebe Kollegen von der Linken, wir haben uns in dieser Legislaturperiode sehr ausführlich mit den Beziehern von kleineren und mittleren Einkommen beschäftigt. Wir haben den Kinderbonus eingeführt. Wir haben das Kindergeld erhöht. Wir haben den Grundfreibetrag erhöht. Wir haben den Eingangssteuersatz gesenkt. Wir haben die Regelleistungen für 6- bis 13-Jährige erhöht. Von der Rentenerhöhung zum 1. Juli dieses Jahres werden 7,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger profitieren, die Arbeitslosengeld II und Grundsicherung im Alter bzw. Sozialhilfe erhalten. Wir haben für die Bürgerinnen und Bürger mit kleinen und niedrigen Einkommen Beträge ausgegeben, die viel höher sind als diejenigen, die heute zur Debatte stehen. ({2}) Heute diskutieren wir ein Gesetz, das denjenigen zugute kommt, die all diese Sozialleistungen durch ihre Steuern finanzieren: die Steuerzahler, die wir in dieser Legislaturperiode bisher nicht entlastet haben, jedenfalls bei weitem nicht in dem Umfang, in dem wir die sozial Schwächeren entlastet haben. Das zum Anlass für eine Ungerechtigkeitsdebatte zu nehmen, ist schon weit hergeholt. Ich will Ihnen an zwei Beispielen erklären, warum dieses Gesetz überhaupt nicht ungerecht ist. Erstens. Ein Selbstständiger mit mittlerem Einkommen und zwei Kindern zahlt über seine Steuern die Zuschüsse zur gesetzlichen Krankenversicherung mit, um die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichen Krankenversicherung zu sichern. Sie erinnern sich: Der Steuerzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung wird mit Blick auf die beitragsfreie Mitversicherung in ebendieser Versicherung von 3,2 Milliarden Euro in 2009 bis 2014 auf 14 Milliarden Euro aufgestockt. Dieser mittelverdienende Selbstständige, der das alles über seine Steuern mitfinanziert, bekommt weder zu den Beiträgen für seine beiden Kinder in der privaten Krankenversicherung einen Zuschuss, noch kann er die Beiträge steuerlich geltend machen. Es kann doch auch aus Ihrer Sicht nicht gerecht sein, dass bei demjenigen, der mit seinen Steuern andere unterstützt, die Beiträge für die eigenen Kinder steuerlich gar nicht berücksichtigt werden können. ({3}) Das wird in diesem Gesetzentwurf geändert. Das finden wir richtig und gerecht. Zweites Beispiel. Ein besserverdienender Angestellter zahlt nur deshalb so hohe Krankenversicherungsbeiträge, weil er mit seinen Beiträgen diejenigen unterstützt, die sich aufgrund niedrigen Einkommens die Beiträge nicht leisten können. Das ist richtig. Das ist solidarisch. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, dass Sie meinen: Weil er hohe Krankenversicherungsbeiträge zahlt - in Klammern: aus solidarischer Gesinnung und weil wir es gesetzlich so vorgesehen haben -, soll er sie nicht steuerlich geltend machen dürfen. Wir können nicht erst Solidarität einfordern und dann denjenigen, von dem wir die Solidarität einfordern, im Regen stehen lassen. ({4}) Das wird durch diesen Gesetzentwurf geändert. Das ist gerecht und solidarisch. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass jemand, der hohe Beiträge zahlt, diese Beiträge in voller Höhe steuerlich geltend machen kann. Frau Kollegin Frechen hat darauf hingewiesen, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf nutzen werden, um auch in einem anderen Fall, in dem es um finanziell schwächere Familien geht, nachzubessern, nämlich beim Schulstarterpaket. Ja, es ist so: Wir haben dafür länger gebraucht. Wir wollten das auch für diejenigen vernünftig regeln, die nicht unter die Hartz-IV-Regelungen fallen. Wir wollten das Schulstarterpaket auch den Familien zugutekommen lassen, die ein bisschen mehr als Hartz IV haben, nämlich denjenigen, die den Kinderzuschlag bekommen. Wir werden das mit diesem Gesetz umsetzen. Auch damit werden wir wieder diejenigen fördern, die keine Steuern oder nur ganz geringe Steuern zahlen. In diesem Gleichgewicht von Sozialleistungen - solche haben wir in dieser Legislaturperiode schon in hinreichendem Maße auf den Weg gebracht - und Entlastung derjenigen, die unseren Sozialstaat finanzieren, steht der Gesetzentwurf. Wir werden ihn in den kommenden Wochen beraten und natürlich darüber sprechen - Herr Kollege Flosbach hat es gesagt -, ob wir nicht an der einen oder anderen Stelle auch bei anderen Versicherungsbeiträgen, die jetzt nicht begünstigt werden, nachbessern müssen. Dem Grunde nach stehen wir zu diesem Gesetzentwurf. Wir finden, dass hier Gerechtigkeit hergestellt wird. Bisher - so sagt das Verfassungsgericht - besteht sie ganz offensichtlich nicht. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12254 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes - Drucksache 16/12273 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner. ({1})

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Opferentschädigungsgesetz regelt eine Einstandspflicht des Staates für unschuldige Opfer von vorsätzlichen Gewalttaten, die der Staat mit seinen Polizeiorganen vor einer solchen Tat nicht schützen konnte. Juristen sprechen hier vom sogenannten Aufopferungstatbestand. Da ich vermute, dass nicht jedem hier im Hause die Materie dieses Gesetzes in gleicher Weise vertraut ist, will ich hier in aller Kürze die wesentlichen Punkte der bisherigen Rechtslage konkretisieren: Ziel des Opferentschädigungsgesetzes - kurz „OEG“ genannt - ist seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1976 eine eigenständige staatliche Entschädigung der Betroffenen, das heißt eine Entschädigung über die allgemeinen sozialen Sicherungssysteme und die Sozialhilfe hinaus. Anspruch auf Entschädigung haben Opfer eines Überfalls oder einer Vergewaltigung genauso wie die Betroffenen eines Terroranschlags im Inland, bei dem unschuldige Passanten getötet oder schwer verletzt worden sind. Die Voraussetzungen für einen solchen Anspruch liegen außerdem vor, wenn es sich um einen tätlichen Angriff auf Leib und Leben der Betroffenen handelt und der Täter - unabhängig von seiner Motivation - zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Umfang und Höhe der zu erbringenden Entschädigungsleistungen richten sich nach dem Bundesversorgungsgesetz. An den Prinzipien und der Intention des OEG hat sich seit seinem Inkrafttreten nichts geändert. Gewandelt haben sich aber die Anforderungen, die im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen an eine möglichst umfassende Opferentschädigung gestellt werden. Bereits mehrfach ist deshalb das OEG in der Vergangenheit erweitert und den Verhältnissen angepasst worden. So ist zum Beispiel der Schutz ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland vor allem durch die Gesetzesnovelle im Jahre 1993 erheblich verbessert worden. Nach den furchtbaren Anschlägen von Solingen und Mölln wurde bereits damals auch darüber diskutiert, den Kreis der im Inland geschützten Personen weiter zu fassen, als es schließlich geschehen ist. Fraktionsübergreifend erörtert wird seit der letzten Legislaturperiode darüber hinaus die Überlegung, den Anwendungsbereich des OEG auf Auslandstaten auszudehnen. Trauriger Anlass dieser Überlegung sind die leider vermehrt aufgetretenen Fälle, dass deutsche Touristen und Geschäftsreisende im Ausland Opfer einer Gewalttat geworden sind. Ich erinnere hier nur an den entsetzlichen Anschlag in Djerba 2002. Bislang konnten in solchen Fällen Entschädigungen häufig nur über einen Härtefonds, gewissermaßen als Notlösung, geregelt werden. Es ist deshalb gut, dass sich die Koalitionsfraktionen nach intensiven Beratungen und zahlreichen interfraktionellen Gesprächen nun auf einen Gesetzentwurf verständigt haben, der den erwähnten und anderen Erweiterungsvorschlägen in angemessener Weise Rechnung trägt: quasi von einer Notlösung zu einer transparenten gesetzlichen Lösung. Besonders herausstellen möchte ich dabei, dass besonders dann, wenn Opfer zu beklagen sind - das wissen wir ja alle -, schnelle Hilfe nottut. Schnelle Hilfe hilft doppelt, heißt es ja. Insofern wollen wir mit diesem Gesetzentwurf Rechtsklarheit in einer Situation schaffen, in der schnelle Hilfe angesagt ist. Die Kernpunkte des Dritten OEG-Änderungsgesetzes, bei dem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Formulierungshilfe geleistet hat, möchte ich hier deshalb kurz vorstellen. Der Gesetzentwurf sieht erstens vor, bei Inlandstaten den Kreis der Anspruchsberechtigten auf ausländische Verwandte dritten Grades zu erweitern, die eine Person ohne deutsche Staatsangehörigkeit besuchen, die sich in Deutschland rechtmäßig und nicht nur vorübergehend aufhält. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales begrüßt diese Neuregelung, zumal weiterhin eine Abgrenzung zu Touristen und Geschäftsreisenden ohne deutsche Staatsangehörigkeit getroffen wird, die auch zukünftig nur von einer Härteregelung erfasst werden können. Weiterhin sieht der Gesetzentwurf die Einbeziehung geschädigter ausländischer Lebenspartner vor. Diese erfolgt mittelbar über eine Gesetzesverweisung auf das Bundesversorgungsgesetz. Diese Ergänzung ist nicht nur direkt aus dem OEG heraus erforderlich, sondern auch aus europa- und verfassungsrechtlichen Gründen zwingend. Der zweite Schwerpunkt des Änderungsgesetzes ist die Ausdehnung des Geltungsbereichs des OEG auf Gewalttaten im Ausland. Über diesen Punkt ist in den fraktionsübergreifenden Gesprächen lange diskutiert worden, aber nicht über das Ob, sondern über das Wie. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht nun vor, auch bei Gewalttaten im Ausland sogenannte Regelleistungen zu ermöglichen. Sie werden wissen: Die Bundesregierung hat in den Beratungen hierzu anfänglich durchaus Bedenken geäußert. Da es bei Gewalttaten im Ausland an dem eingangs erwähnten Aufopferungstatbestand fehlt, können diese Taten aus rechtssystematischen Gründen nicht ohne Weiteres mit Inlandstaten gleichgesetzt werden; denn grundsätzlich kann der Staat wirksamen Opferschutz nur für sein Hoheitsgebiet garantieren. Die jetzt vorliegenden Regelungen sind aus Sicht der Bundesregierung jedoch durchaus vertretbar und zustimmungsfähig. Durch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Einmalzahlungen sowie die Anrechnungs- und Ausschlusstatbestände wird hinreichend deutlich, dass die Rechtsgrundlage für die Entschädigung bei Auslandstaten nur in staatlicher Fürsorge, nicht aber in einem Aufopferungstatbestand liegen kann. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Fazit ziehen. Ziel des Opferentschädigungsgesetzes ist und bleibt es, den Opfern tätlicher Gewalt einen möglichst umfassenden Schutz in Form staatlicher Entschädigung zu gewähren. Ob und wie dieses Ziel erreicht werden kann, muss sich, geeicht an einer sich verändernden Wirklichkeit, immer wieder neu erweisen. Ich bin überzeugt, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf genau das getan und in angemessener Weise nachgesteuert wurde. Deshalb würde ich mich freuen, wenn dieser Gesetzentwurf nicht nur bei den Regierungsfraktionen, sondern fraktionsübergreifend verdientermaßen eine breite Mehrheit finden könnte. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will am Anfang das aufgreifen, was Sie, Herr Staatssekretär, soeben gesagt haben. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass wir diesen Gesetzentwurf quer durch alle Fraktionen voranbringen. Ich erinnere mich an ein Berichterstattergespräch - ich glaube, es war Ende 2007 -, in dem wir eigentlich so verblieben waren, dass dieses Vorhaben in den Koalitionsfraktionen wie auch in den Oppositionsfraktionen vorangetrieben werden sollte. Deswegen war ich überrascht, dass dieser Kontakt nicht gesucht worden ist. Wir von der FDP - das will ich ganz deutlich sagen - wären gerne bei den einbringenden Fraktionen dabei gewesen, weil wir die Zielsetzungen, die Sie, Herr Staatssekretär, vorgetragen haben, ausdrücklich teilen. ({0}) Ich will am Anfang jedoch ein paar kritische Bemerkungen machen. Im Jahre 2002 hat die FDP-Bundestagsfraktion zum ersten Mal auf die Problematik mit Blick auf die Opfer von Terroranschlägen im Ausland hingewiesen. Es hat sieben Jahre gedauert, bis ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt wurde. Wie dringlich er ist, hat der Anschlag in Bombay gezeigt, bei dem auch deutsche Staatsangehörige zu Schaden gekommen sind. Dass wir hier dringend eine Regelung schaffen müssen, ist für jedermann offenkundig. Ich spreche die Hoffnung aus, dass wir bis zur Bundestagswahl zu einem Ergebnis kommen. Für die FDP-Bundestagsfraktion signalisiere ich, dass wir dazu beitragen werden, dass es dazu kommt. Die zweite Bemerkung, die ich gerne vorweg machen möchte: Es fällt mir auf, wie viele Anstrengungen unternommen werden, den Begriff der Lebenspartnerschaft im Gesetzestext nicht zu erwähnen. Ich ahne, wer dafür verantwortlich ist. Meine Gefühl ist, dass Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es nicht sind. Liege ich da richtig? ({1}) Wir sollten auch da der gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung tragen und eine klare Gesetzessprache verwenden. All diejenigen, die gemeint sind, sollten auch tatsächlich benannt werden und nicht etwa durch einen Verweis auf das Bundesversorgungsgesetz erfasst werden. Das müsste in den Beratungen, die vor uns liegen, eigentlich möglich sein. Was den Inhalt anbelangt, teile ich beide Zielrichtungen, die von Staatssekretär Brandner hier vorgestellt worden sind. Es hat sich spätestens in Mölln gezeigt, dass es sinnvoll ist, dass Personen, die in Deutschland zu Besuch sind und hier Opfer eines Terroranschlags werden, wie es beispielsweise bei einer türkischen Familie der Fall war, von den Bestimmungen erfasst werden. Dieses Ziel wird von uns ausdrücklich unterstützt. ({2}) Anschläge werden in einigen Urlaubsregionen verübt, weil sie dort aufgrund der geringeren Sicherheitsvorkehrungen leichter durchgeführt werden können. Das war in Djerba, auf Bali und zuletzt in Bombay der Fall. Wenn deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Opfer eines solchen Anschlages werden, dann handelt es sich um eine Art Aufopferung, auch wenn es rechtlich gesehen nicht der Fall ist. Deshalb haben wir die Pflicht - schon in unserem Antrag aus dem Jahr 2002 haben wir dieses Anliegen geäußert -, uns um diese Menschen zu kümmern. Ich habe immer ein schlechtes Gewissen gehabt, dass nach einer Härtefallregelung vorgegangen wurde und dass es keinen tatsächlichen Rechtsanspruch gab. Viele Opfer hatten das Gefühl, dass sie ein zweites Mal zum Opfer wurden, weil sie auf staatliche Nachsicht angewiesen waren und keinen wirklich begründeten Rechtsanspruch hatten. Herr Staatssekretär, Sie haben natürlich zu Recht darauf hingewiesen, dass es komplizierte Fragestellungen durchaus auch an Stellen gibt, wo, wie ich finde, der Staat nicht eintreten muss. Wir alle erinnern uns - die meisten sind ja in einem Alter, dass man sich daran noch erinnern kann -, dass ein sehr bekannter bayerischer Politiker bei einem Besuch im New Yorker Nachtleben zu Schaden gekommen ist. ({3}) Es ist ganz selbstverständlich, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht einzustehen hat, wenn man sich in eine solche gefahrengeneigte Situation begibt, wie das damals der Fall war. Wie dem auch sei, es ist vollkommen klar: Der deutsche Steuerzahler kann nicht in Anspruch genommen werden, wenn sich jemand selbst in Gefahr begibt und dann dabei Schaden erleidet. ({4}) - Bitte sehr, Herr Kollege, wenn die Frau Präsidentin es gestattet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gestatte es, Herr van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kauder, ich weiß, Sie müssen immer eine Zwischenfrage stellen. Deshalb sage ich sofort immer Ja.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kauder, Sie reden ja danach und könnten in Ihrer Rede auf Herrn van Essen eingehen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zumal er frei redet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich lasse die Zwischenfrage trotzdem zu.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wäre dann aus dem Zusammenhang gerissen. Herr Kollege van Essen, können wir uns darauf einigen, dass auch bei Inlandstaten Ausschlusstatbestände für denjenigen gegeben sind, der sich in Gefahr bringt? Bei der Auslandstat, die wir jetzt in das OEG einbeziehen, gilt also nichts anderes.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So ist es. Sie haben es richtig dargestellt. Aber, wie gesagt, Sie hätten dies auch in Ihrer Rede tun können. Ich weiß ja, wie gerne Sie Zwischenfragen stellen, wenn ich rede. Deshalb wollen wir es bei dieser Tradition gerne belassen. Es ist gut, dass wir jetzt einen Rechtsanspruch in das Opferentschädigungsgesetz aufnehmen. Das findet unsere Unterstützung. Wir sollten uns - das ist mein Wunsch - in den Beratungen insbesondere darüber Gedanken machen, wie wir das Ganze lesbarer ausgestalten. Aber, wie gesagt, die Zielrichtung des Gesetzentwurfes ist richtig. Das ist ein erneutes Beispiel dafür, dass im Bundestag nicht nur gestritten wird, sondern dass man auch an einem Strang ziehen kann, wenn dies für die Menschen gut ist. Gerade wer Opfer einer Straftat oder Opfer eines Terroranschlages geworden ist, hat Anspruch darauf, dass wir uns gemeinsam Gedanken machen, zu guten Lösungen zu kommen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Jahr für Jahr werden in der Bundesrepublik Deutschland etwa 700 000 Menschen Opfer schwerer Straftaten, Opfer von Attentaten, Opfer von Vergewaltigungen, Opfer von Körperverletzungen, Opfer von Freiheitsberaubungen und, wie wir es am 11. März 2009 in Winnenden erlebt haben, Opfer von Amokläufen. Diese Menschen sind schwer traumatisiert. Das gilt auch für die Hinterbliebenen der Opfer von Straftaten. Sie brauchen Hilfe, sie brauchen Unterstützung, die sie - darüber sind wir sehr dankbar - teilweise von ehrenamtlichen Helfern, von Institutionen wie der des Weißen Ringes bekommen. ({0}) Das allein reicht aber nicht aus. Auch der Staat ist in der Pflicht. So wie bei der heute anstehenden Änderung war es schon in den 70er-Jahren. Die Diskussion, ob der Staat eine staatliche Entschädigung an Opfer zahlen sollte, entbrannte im Jahr 1971 und dauerte bis zum Jahr 1976. Die Diskussion war durchaus kontrovers. Noch immer geistert das Dogma durch die Diskussion, das Opferentschädigungsgesetz sei geprägt von dem Gedanken, dass der Staat dann einzustehen habe, wenn es ihm nicht gelinge, innere Sicherheit zu gewährleisten, und wenn deshalb, weil das Gewaltmonopol nicht ziehe, ein Bürger Opfer einer Straftat werde. Dieses Dogma gab es nie. Wenn man in den Gesetzentwürfen der CDU/CSUBundestagsfraktion aus dem Jahr 1971 nachliest, kann man schon in den ersten einleitenden Sätzen feststellen, dass die Intention des Opferentschädigungsgesetzes der Umstand war, dass man Menschen, die durch eine Straftat in eine Notlage geraten sind, helfen solle. Deswegen ist es auch kein Paradigmenwechsel, wenn wir heute sagen, wir wollen auch die Auslandstat einbeziehen. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Lücke schließen, die man schon 1976 beim Erlass des OEG hätte schließen können. Es ist eine etwas paradoxe Situation, über die wir zu diskutieren haben: Eine deutsche Frau, die in Spanien vergewaltigt wird, bekommt nach deutschem Opferentschädigungsrecht keine Opferrente. Wird aber eine spanische Frau zum Beispiel von einem Italiener in Deutschland vergewaltigt, bekommt diese spanische Frau in Deutschland wegen des europaweit geltenden Diskriminierungsverbotes eine Opferentschädigung. Das heißt, die deutsche Frau, das deutsche Opfer steht im Ausland schlechter da, als das ausländische Opfer im Inland. Wir sind aufgerufen, dieses Problem zu lösen, diese Lücke zu schließen. Genau dazu ist dieser Gesetzentwurf vorgesehen. Herr Kollege van Essen, ich verhehle nicht, dass ich gerne alle Fraktionen bei diesem Entwurf eingebunden hätte. Aber es gab - Sie haben das schon angesprochen gewisse Friktionen, die ich nicht wieder entstehen lassen wollte, weil uns die Zeit davonläuft. Bis zum Ende der Legislaturperiode haben wir nur noch wenige Sitzungswochen. Deswegen mussten wir handeln. Ich bitte, das nicht als Affront zu verstehen. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages sind eingeladen, sich in den Ausschussberatungen einzubringen. Ich freue mich, wenn dieser Gesetzentwurf einen breiten Konsens im Deutschen Bundestag herbeiführen wird; denn - das sage ich gerne - das Thema Opferschutz gehört keiner Fraktion und keinem Abgeordneten, Opferschutz ist vielmehr eine Aufgabe, die das gesamte Parlament verantwortungsvoll wahrnehmen sollte. Es nimmt diese Aufgabe erkennbar wahr. ({1}) Für uns war es außerordentlich wichtig, im Bereich der Entschädigung bei Auslandstaten etwas Beispielhaftes einzuführen, über das wir genauer nachdenken müssen: Ein Opfer, das traumatisiert ist, braucht sofort Hilfe. Es braucht eine psychotherapeutische Begleitung. Das Opfer muss wissen, wer diese psychotherapeutische Begleitung bezahlt. Es gibt Fälle, in denen ein traumatisiertes Opfer für den Weg durch alle Instanzen sieben Jahre brauchte, ehe über die Entschädigung befunden wurde. Das ist ein untragbarer Zustand. Deswegen müssen wir dazu beitragen, dass die Verfahren unbürokratischer werden und schneller abgewickelt werden können. ({2}) Wir haben in diesem Gesetzentwurf daher vorgesehen, dass es bei Auslandstaten als Entschädigung Pauschalbeträge gibt. Das Opfer kann ins Gesetz schauen und feststellen: Dieser Betrag steht mir zu. Auf diesen Betrag habe ich einen Anspruch. Wir hoffen, dass dies zu einer deutlich schnelleren Abwicklung führen wird. Wenn wir diesen Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung verabschiedet haben, erleben wir eine Sternstunde des Opferschutzes. Das finde ich gut. Es kommt nicht von ungefähr, dass wir gerade heute in erster Lesung über dieses Gesetz beraten. In wenigen Tagen, am 22. März 2009, findet, wie jedes Jahr, der Tag des Kriminalitätsopfers statt. An diesem Tag sind wir aufgerufen, darüber nachzudenken, was wir für die Opfer von Straftaten noch zu tun haben. Mit der Entscheidung über das OEG ist die Debatte über Hilfen, die wir den Opfern angedeihen lassen müssen, noch lange nicht abgeschlossen. Opferschutz ist immer in Bewegung. Wir werden uns weiterhin Gedanken darüber machen müssen, wie man die Privatsphäre eines Opfers in der Gerichtsverhandlung und gegenüber der Presse besser schützen kann. Wir werden uns auch Gedanken darüber machen müssen, wie man die Videografie verbessern kann. Es gibt also viele Felder des Opferschutzes, auf denen wir uns betätigen können. Ich bin froh, dass die Politik den Blick viel stärker als in früheren Jahren auf das Opfer richtet. Wir sind auf einem guten Weg. ({3}) Alle sind eingeladen, mitzumachen. Vielen Dank. Siegfried Kauder ({4}) ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Entwurf der Koalitionsfraktionen ereilt das Hohe Haus in dieser Legislaturperiode die dritte Vorlage zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes. Doch die Linke findet, es hat sich bisher nichts Substanzielles geändert. Die Opferinteressen lagen bislang anscheinend außerhalb des großkoalitionären Blickfeldes. Nichts anderes bleibt mir als Schlussfolgerung übrig, vor allen Dingen in Anbetracht der Tatsache - das hat mein Vorredner deutlich gemacht -, dass man kurz vor Toresschluss einen Rumpfvorschlag einbringt, der vor allen Dingen auf der betagten Initiative von Bündnis 90/Die Grünen basiert. Die Linke hat Initiativen zur Fortentwicklung der Entschädigung von Opfern von Gewaltstraftaten jedes Mal ausdrücklich begrüßt. Jedes Mal haben wir aber - das kann man nachlesen - die gleichen Lücken feststellen und beklagen müssen. Die Opfer bzw. deren Hinterbliebene warten bis heute vergeblich auf eine substanzielle Regelung. Was bringt der vorliegende Entwurf? Er enthält detaillierte Regelungen zur Entschädigung unschuldiger Opfer vorsätzlicher Angriffe im Ausland sowie etwaiger Hinterbliebener. Das mag in der Sache ein Fortschritt sein, allerdings wohl eher motiviert durch die Erkenntnis, dass deutsches Engagement im Kampf gegen den sogenannten internationalen Terrorismus auch zu einem erhöhten Risiko für deutsche Staatsangehörige im Ausland führt. Der richtige Grundgedanke dabei ist: Wenn der Staat durch sein Tun die Bevölkerung gefährdet, soll er für das erhöhte Risiko einstehen. Aber für nichtdeutsche Gewaltopfer, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, bleibt alles beim Alten. Der Vorschlag wächst nicht über den Entwurf der Grünen hinaus. Zum Beispiel wird die Ungleichbehandlung von Opfern in Ost und West aufrechterhalten. ({0}) Hinsichtlich der Einbeziehung von Lebenspartnern - das wurde auch schon vom Kollegen van Essen beklagt fällt der Entwurf durch beredtes Schweigen hinter den Entwurf der Grünen zurück. ({1}) Die Linke lehnt diese beschränkte Sicht auf die Opfer ab. Lassen Sie mich dazu einige Anmerkungen machen. Ungleichbehandlung ausländischer Gewaltopfer: Außerhalb des privilegierten Kreises derjenigen, die bis zum dritten Grad mit einem Deutschen verwandt sind, erhalten diese keinen Anspruch oder nur unter den sehr verschraubten Voraussetzungen des bestehenden Gesetzes. Das führt dazu, dass vor allen Dingen Opfer rassistischer Gewalt, die ohnehin schon mit einem diskriminierenden und überkommenen Ausländer- und Asylrecht zu kämpfen haben, als Opfer zweiter Klasse behandelt werden und ohne einen Anspruch dastehen. Die Ungleichbehandlung von Opfern in Ost und West: Rund 20 Jahre nach dem Fall der Mauer werden Opfer von Gewalttaten aus den fünf ostdeutschen Bundesländern bei der Höhe der Entschädigungsleistung immer noch benachteiligt. Das ist für die Linke eine ungerechtfertige Ungleichbehandlung. ({2}) Das Opferleid Ost ist nicht geringer zu schätzen als das Opferleid West. Eine ökonomisch begründete Differenzierung findet auch nicht beim Verhältnis Stadt und Land oder im Hinblick auf Einkommensunterschiede zwischen einzelnen Regionen der alten Bundesländer statt. Gleiches gilt für die Lebenspartnerschaften. Die Situation von Lebenspartnern als Opfer von tätlichen Angriffen unterscheidet sich doch nicht von der von Eheleuten. Auch dies ist eine Ungleichbehandlung, die abgeschafft werden muss. ({3}) Die Linke fordert deshalb eine klarstellende diskriminierungsfreie Regelung, die - nebenbei gesagt - auch zur Entbürokratisierung beitragen könnte.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass die Lebenspartnerschaft bei Inlandstaten durch die Verweisung auf das BVG ohnehin schon immer einbezogen war und dass der Gesetzentwurf, über den wir jetzt diskutieren, auch bei Auslandstaten die Verweisung auf das BVG enthält? Ihr Problem ist gelöst. Sie haben es nur nicht erkannt. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das sagen Sie, Herr Kollege Kauder. Das Problem ist noch nicht gelöst, weil es keine richtige Klarstellung für Opfer von tätlichen Angriffen gibt. Sonst hätte das hier gerade erwähnt werden können. ({0}) Ich komme zum Schluss meiner Rede. Jeder, der in Deutschland Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat wird, muss den gleichen Anspruch auf Entschädigung haben. Die Ungleichbehandlung bei der Opferentschädigung - nach Staatsangehörigkeit und vor allen Dingen nach Wohnsitz - muss beendet werden. Denn der Schutzanspruch gegenüber dem Staat ist meines Erachtens unteilbar. Der Anspruch auf Fürsorge bei Staatsversagen muss es auch sein; auch er gilt als unteilbar. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort dem Kollegen Jerzy Montag.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke sehr, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 29. Mai 1993 haben feige Mordbrenner in Solingen ein Haus angezündet. Bei diesem Brandanschlag, der zu einem Mordanschlag wurde, sind Gürsün Ince, 27 Jahre alt, Hatice Genç, 18 Jahre alt, Hülya Genç, 9 Jahre alt, Saime Genç, 4 Jahre alt, und Gülüstan Oztürk, 12 Jahre alt, verbrannt. Der damalige Bundeskanzler Kohl hat sich geweigert, die Überlebenden in Solingen zu besuchen, und hat stattdessen den Außenminister hingeschickt. Denn es waren Ausländer; sie hatten mit Deutschland scheinbar nichts zu tun. Was hat das mit dem Opferentschädigungsgesetz zu tun? Sehr viel. Denn die Hinterbliebenen dieser Frauen, Mädchen und Kinder haben Anträge nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt. Das oberste deutsche Gericht hat diese Anträge abgewiesen, mit der Begründung, dass das Opferentschädigungsgesetz für diese Personen nicht einschlägig ist. Herr Staatssekretär Brandner, ich bin etwas anderer Auffassung als mein Kollege Kauder. Ich glaube, dem Aufopferungsanspruch liegt die Überlegung zugrunde, dass der Staat das Gewaltmonopol hat und zumindest im Inland für den Schutz der Menschen einzustehen hat; denn er ist die letzte Instanz. Die Tatsache, dass er für den Schutz aller Menschen - ich betone: aller Menschen -, die sich in Deutschland befinden, zuständig ist, würde es eigentlich erforderlich machen, dass wir mit dieser Kaskade der Ausschlüsse im OEG endlich Schluss machen. Wir sollten mit einem einfachen Satz erklären: Der Staat zahlt Opferentschädigungsansprüche unter den Voraussetzungen des OEG an alle, die Opfer einer Straftat in Deutschland geworden sind. ({0}) Dass die Koalitionsfraktionen nur einen ersten Schritt machen, haben sie in ihrem Gesetzentwurf mit fiskalischen Argumenten - das steht dort ausdrücklich so drin -, also mit Haushaltsargumenten, begründet. Ich gestehe: Auch wir Grüne haben mit unserem Gesetzentwurf nur einen ersten Schritt gemacht und das Gesetz so weit ausgeweitet, dass der Fall von Solingen davon umfasst wird. Wir wollen nämlich den Erfolg dieses Gesetzes. Herr Kollege Kauder, in Zukunft müssen wir nicht nur über die Aspekte des Opferschutzes, die Sie angesprochen haben, diskutieren, sondern auch über die Frage, ob das Opferentschädigungsgesetz nicht für alle Menschen, die in Deutschland Opfer einer Straftat werden, gelten muss. Vor fast genau 13 Jahren, am 4. September 1996, hat ein deutscher Röntgenarzt seine beiden deutschen Kinder, seine achtjährige Tochter und seinen sechsjährigen Sohn, auf Mallorca getötet. Die Mutter hat Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend gemacht. Das höchste deutsche Gericht hat diese Anträge in letzter Instanz zurückgewiesen. Auch hier besteht seit nunmehr 13 Jahren Nachbesserungsbedarf. Dabei geht es nicht nur um die Opfer terroristischer Gewalttaten, zum Beispiel um die Opfer der Anschläge in Mumbai oder Djerba, sondern auch um Fälle, die sich quasi im zivilen, privaten Bereich abspielen, die sich aber nur auf deutsche Staatsangehörige beziehen. Das Opferentschädigungsgesetz muss auf Gewalttaten im Ausland ausgeweitet werden. An dieser Stelle will ich deutlich machen: Frau Kollegin Dağdelen, es ist absurd, zu sagen, aufgrund seiner Außenpolitik sei es die Schuld des deutschen Staates, dass deutsche Staatsangehörige im Ausland gefährdet werden. Diese Aussage war erkennbar neben der Sache. ({1}) Zum Schluss will ich noch eines erwähnen: Es gibt einen Gesetzentwurf mit identischem Inhalt: den Gesetzentwurf der Grünen vom 28. März 2006. Die Koalition hat viel Gehirnschmalz darauf verwendet, aus der in unserem Gesetzentwurf vorgesehenen Formulierung von § 10 b OEG in ihrem Gesetzentwurf einen § 3 a zu formulieren und den Schutz der Lebenspartner hinter einer Kaskadenverweisung zu verstecken. Herr Kollege Kauder, Sie haben recht: Die Lebenspartner sind nach Ihrem Gesetzentwurf so geschützt wie Verheiratete. Sie sind nur nicht erwähnt. Das ist ein bisschen beschämend und kleinlich, ebenso wie ihr Vorgehen, den Gesetzentwurf alleine und nicht mit uns gemeinsam einzubringen, obwohl unser grüner Gesetzentwurf schon seit drei Jahren auf dem Tisch liegt. ({2}) Wenn es der Wahrheitsfindung dient: Wir werden Ihrem Gesetzentwurf zustimmen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Gregor Amann, SPD-Fraktion. ({0}) Sevim DaðdelenSevim Dağdelen

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Wochenende hat die Internationale Tourismus-Börse in Berlin geschlossen. Die Deutschen reisen gerne und viel, und das ist auch gut so. Reisen bildet. 99 Prozent aller Deutschen, die privat oder beruflich ins Ausland fahren, kehren wohlbehalten nach Deutschland zurück, reicher an Erfahrung und Erkenntnissen, vielleicht auch mit neuen Freundschaften. Das Fernweh der Deutschen ist einer der Gründe für die Novellierung des Opferentschädigungsgesetzes. Ich möchte vorweg sagen: Ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf für notwendig, aber auch für gut und sinnvoll. Ein beliebtes Ziel deutscher Touristen ist die tunesische Insel Djerba. Es gibt dort Sonne, Strand und Meer, und man kann die berühmte Al-Ghriba-Synagoge besichtigen. Am 11. April 2002 jagte ein Selbstmordattentäter der Terrororganisation Al-Qaida einen mit Gas beladenen Tankwagen vor dieser Synagoge in die Luft. 21 Menschen, darunter 14 Deutsche, wurden getötet. 17 Menschen erlitten schwere Verbrennungen. In unserer heutigen Medienwelt jagt eine Sensation die andere. Schon wenige Tage nach einem solchen Anschlag gehen die Medien auf die Suche nach neuen Sensationen. Ein grausamer Anschlag wie der in Djerba hinterlässt aber auch Opfer sowie die Hinterbliebenen und Angehörigen, deren Leben sich durch ein solches Ereignis für immer verändert. Die Überlebenden sowie die Hinterbliebenen und Angehörigen sind dann meist für den Rest ihres Lebens durch physische und psychische Verletzungen gekennzeichnet. Sie brauchen Fürsorge und Hilfe, auch vonseiten des Staates. Die deutschen Opfer von Djerba bzw. ihre Hinterbliebenen und Angehörigen hatten keinen Anspruch auf Entschädigung, der über die normalen Leistungen unserer sozialen Sicherungssysteme hinausgeht. Das Opferentschädigungsgesetz - Staatssekretär Brandner hat es bereits erläutert - regelt die eigenständige staatliche Entschädigungspflicht für Opfer von Gewaltdelikten, die der Staat nicht vor dieser Tat schützen konnte. Insoweit ist das Opferentschädigungsgesetz ein wichtiges Sozialstaatselement, auf das wir stolz sein können. Das bisherige Gesetz basiert allerdings auf dem Territorialprinzip. Das heißt, es gilt bisher nur in Fällen, in denen eine Gewalttat auf deutschem Staatsgebiet verübt wurde. Es gewährt auch keinen Schutz für Personen, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten und nicht mit Deutschen oder hier dauerhaft lebenden Ausländern verheiratet oder unmittelbar verwandt sind. Nach dem Attentat in Djerba, dem 11. September 2001 in New York, aber auch den beschämenden ausländerfeindlichen Anschlägen in Mölln und Solingen - Herr Montag, Sie haben es schon erwähnt - ist endgültig klar: Auch bei Gewalt und Verbrechen hat eine Globalisierung stattgefunden. Wir müssen hier über nationale Grenzen hinaus denken. Terrorismus ist international. Deutsche können weltweit zu Zielen von Terrorismus und Verbrechen werden. Leider können auch in Deutschland internationale Gäste, die beispielsweise ihre hier lebenden Verwandten besuchen, zu Opfern von Gewalttaten werden. Deshalb legen die Koalitionsfraktionen heute einen Gesetzentwurf vor, der eine Regelung für die deutschen Opfer von Gewalttaten außerhalb des deutschen Staatsgebietes und eine Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten vorsieht. Ich glaube, das ist sinnvoll, gut und notwendig; das sagte ich schon am Anfang. Die Debatte zeigt, dass der Entwurf eine große Mehrheit im Haus finden wird. Wir hätten das eigentlich schon vor einem Jahr beschließen können. Denn - der Kollege von der FDP sagte es - bereits vor 14 Monaten haben sich SPD, CDU/CSU, FDP und Grüne auf einen entsprechenden Entwurf des BMAS geeinigt. Dass wir diesen Entwurf erst heute in erster Lesung vorlegen, liegt in der Tat daran - liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich kann Ihnen das nicht ersparen -, dass wir bei der Anpassung des Opferentschädigungsgesetzes an heutige Realitäten neben den Ehepartnern als Anspruchsberechtigte auch Betroffene, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, einbeziehen wollten. Das ist heute selbstverständlich - dachte ich zumindest. Dennoch hat genau das zu einer über einjährigen Verzögerung geführt. Denn unser Koalitionspartner - zumindest einzelne davon - weigerte sich, die Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in die Opferentschädigung aufzunehmen. Ich finde das sehr traurig. Herr Montag nannte es beschämend und kleinlich. Dem kann ich nur zustimmen. Ich bin davon enttäuscht. Aber am Ende haben wir einen Kompromiss gefunden, und es wurde mir gesagt, dass Sie, Herr Kauder, entscheidend dazu beigetragen haben, dass es zu diesem Kompromiss kommen konnte. ({0}) Die eingetragenen Lebenspartnerschaften sind im Gesetz nicht wörtlich erwähnt, aber über den Bezug auf das Bundesversorgungsgesetz sind sie doch einbezogen. Wir haben bei der Gleichstellung von Schwulen und Lesben in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht, was die Pflichten angeht. Wir sind aber noch nicht sehr gut, was die Rechte angeht. Wir Sozialdemokraten glauben, dass alle Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung die gleichen Rechte haben sollten. Das muss auch für die Opferentschädigung gelten. ({1}) Ich glaube, unser Gesetzentwurf ist auf der Höhe der Zeit. Das Opferentschädigungsgesetz wird zu einem Gesetz, das Ansprüche von Opfern und Hinterbliebenen vernünftig regelt, und zwar in dem Umfang, der heute erforderlich ist. Hoffen wir, dass wir es möglichst wenig anwenden müssen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf der Tribüne und an den Fernsehgeräten! Heute Morgen auf dem Weg in mein Büro bin ich an einem großflächigen Plakat vom Weißen Ring vorbeigekommen, das an einer S-BahnStation hing und auf dem sinngemäß stand: Wenn alle den Täter verfolgen, wer kümmert sich dann um das Opfer? - Genau um dieses Thema geht es heute in der Debatte über das Opferentschädigungsgesetz, das wir reformieren wollen. Zunächst ein paar Richtigstellungen, Herr Kollege Amann, Herr Kollege Montag. Bei Ihnen kann ich es verstehen, Herr Kollege Amann. Sie gehören ähnlich wie ich in dieser Legislaturperiode zum ersten Mal diesem Hohen Hause an. Herr Montag, Sie aber müssten doch wissen, dass wir bereits in der bisherigen Form des Opferentschädigungsgesetzes den Verweis auf das BVG haben, wo genau diese Frage der Lebenspartnerschaften bereits mit Verweis geregelt ist. ({0}) - Frau Präsidentin, er hat vorhin selber gesprochen. Wenn Sie Wert auf seine Frage legen, würde ich sie zulassen. Aus meiner Sicht ist dies aber nicht erforderlich. Wir sind eh schon genug im Verzug. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich frage Sie trotzdem: Lassen Sie die Zwischenfrage des Kollegen Montag zu?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin nett und lasse sie zu, weil er gesagt hat, dass er bei dem Gesetz mitmacht.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ganz herzlichen Dank, Frau Präsidentin und Herr Kollege Lehrieder. - Ich möchte Sie fragen, ob Sie die Zeit finden und die Lust haben, sich mit mir nach dieser Debatte für 15 Minuten zusammenzusetzen, damit ich Ihnen erklären kann, dass es an einer Stelle im Opferentschädigungsgesetz einen Verweis auf das Bundesversorgungsgesetz gibt, dass aber die Bezugnahme, die wir zurzeit haben, genau die beiden Fälle bisher nicht abgedeckt hat, in denen Lebenspartner nicht wie Verheiratete behandelt worden sind, und dass deswegen eine weitere Bezugnahme an zwei Stellen notwendig ist, die in diesem Gesetzentwurf zusätzlich hinzugekommen ist, damit es eine volle Angleichung gibt? Sind Sie damit einverstanden, dass ich Ihnen das noch einmal privatissime erkläre?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, Herr Kollege Montag. Erstens bin ich ein netter Kerl. Zweitens habe ich ein geringes Quäntchen Hoffnung, dass es meiner Wissensmehrung dienen könnte, mit Ihnen noch einmal darüber zu sprechen. Wir machen das. ({0}) In den Ausführungen der Vorredner ist bereits sehr deutlich geworden, dass uns allen gemeinsam ist, den Opfern von Gewalttaten auch dann zu helfen, wenn es nach der bisherigen Form des Opferentschädigungsgesetzes nur unzureichend möglich war. Wie bereits gehört, gilt das Opferentschädigungsgesetz nicht für Menschen, die im Ausland Opfer von Gewalttaten wurden. Auch für die Personen, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten und weder mit Deutschen noch mit dauerhaft hier lebenden Personen verheiratet oder in gerader Linie verwandt sind, bietet das bisherige Opferentschädigungsgesetz keinen ausreichenden Schutz. Daraus ergeben sich zwingend folgende Fragen: Erstens. Ist es gerade vor dem Hintergrund der veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen noch richtig, dass das Opferentschädigungsgesetz im Hinblick auf sein Territorialprinzip diese Opfer ausklammert? Zweitens. Ist es richtig, dass Opfer nur auf die bisher schon möglichen Härtefallleistungen verwiesen werden? Drittens. Muss die staatliche Opferentschädigung hier nicht weiterentwickelt werden? Gerade die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in den vergangenen Jahren im Sinne der Opfer nach Antworten auf diese Fragen gesucht und tragfähige Lösungen angeboten. Umso mehr freut es mich, dass wir nun gemeinsam mit unserem Koalitionspartner - wie ich gehört habe, auch mit der FDP und mit den Grünen - ein Gesetz auf den Weg bringen können, das die bisherige Lücke im Opferentschädigungsgesetz schließen wird. Ich möchte kurz die Regelungen im Einzelnen beleuchten. Zunächst zu den Deutschen, die im Ausland Opfer von Straftaten wurden. Bei den zu erbringenden Leistungen steht die schnelle medizinische Hilfe zusammen mit der psychotherapeutischen Betreuung im Vordergrund. Bei den vorgesehenen Geldzahlungen handelt es sich um Einmalzahlungen. Die Höhe der Einmalzahlung ist nach dem Grad der Schädigungsfolgen gestaffelt. Bei einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 Prozent bis 40 Prozent entspricht sie beispielsweise dem Jahresbetrag der bei Inlandstaten bei gleichem Schädigungsgrad gezahlten Grundrente, also 1 428 Euro. Bei einem Grad der Schädigungsfolgen von 50 Prozent bis 60 Prozent beträgt die Einmalzahlung 5 256 Euro. Es geht hoch bis zu einem Schädigungsgrad von 100 Prozent, bei dem die Einmalzahlung 14 976 Euro beträgt. In § 3 a des Gesetzentwurfs zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes werden die Leistungen für HinPaul Lehrieder terbliebene geregelt. Hinterbliebene - einschließlich der Eltern, deren minderjährige Kinder an den Folgen einer Gewalttat im Ausland verstorben sind - sollen einen Anspruch auf notwendige psychotherapeutische Maßnahmen haben. Davon abgesehen haben sie Anspruch auf eine Einmalzahlung von bis zu 4 488 Euro. Auch das muss gesagt werden: Zu den Beerdigungs- und Überführungskosten wird ein Zuschuss von bis zu 1 506 Euro gewährt. Leistungsansprüche aus anderen öffentlichen und privaten Versorgungssystemen sind auf die Leistungen nach Abs. 2 und 3 anzurechnen. Nun zu den Menschen, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten. Von meinen Vorrednern wurde bereits auf den Fall Solingen hingewiesen. Der Schutzbereich in § 1 Abs. 6 des Opferentschädigungsgesetzes wird vor allem auf Verwandte bis zum dritten Grad ausgedehnt, die ihre dauerhaft in Deutschland lebenden Angehörigen besuchen. Bislang konnten diese Gruppen lediglich einen Härtefallausgleich nach § 10 b des Opferentschädigungsgesetzes erhalten. Es war zwar schon damals möglich, eine Entschädigung zu erhalten, allerdings gab es keinen Rechtsanspruch darauf. Herr Kollege Montag, Sie haben zutreffend darauf hingewiesen. Jetzt ist sichergestellt, dass Geschädigte bei der Versorgung gegenüber Hinterbliebenen nicht schlechter gestellt werden. Allerdings soll der Schutzbereich des Opferentschädigungsgesetzes aus Gründen der Finanzierbarkeit gerade nicht generell für alle Touristen und Geschäftsreisenden gelten. Gerade der letztgenannte Personenkreis dürfte oft schon anderweitig, zum Beispiel durch eine private Versicherung, abgesichert sein. Ich freue mich, dass die Gesetzesberatungen in den Ausschüssen, die nach dieser heutigen ersten Lesung erfolgen werden, offensichtlich von der großen Mehrheit der Oppositionsfraktionen mitgetragen werden. Von zwei Fraktionen habe ich schon Zustimmung signalisiert bekommen, bei der dritten Oppositionsfraktion habe ich noch meine Zweifel. Man wird sich überraschen lassen, ob Sie auch zustimmen können, liebe Freunde von den Linken. ({1}) Ich wünsche uns gute Beratungen und hoffe, dass wir noch in dieser Legislaturperiode das Gesetz auf den Weg bringen können. Danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/12273 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({0}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte - Drucksache 16/11245 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte gewährleisten - Drucksache 16/12289 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({2}) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Daniel Bahr, FDP-Fraktion. ({3})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eingangs dieser Debatte will ich ausdrücklich festhalten, dass die FDP die Chancen, die im Einsatz der Informationstechnologie für das Gesundheitswesen liegen, ausdrücklich begrüßt. Grundsätzlich eröffnet die Telematik im Gesundheitswesen gute Perspektiven für eine bessere Versorgung und bessere Abläufe. Jedem hier im Hause ist doch völlig klar, dass die moderne Informationstechnologie auch Eingang ins Gesundheitswesen erhalten muss, wodurch der Ablauf und die Zusammenarbeit verbessert werden können, weil nicht mehr nur auf Papier und alten Wegen gearbeitet wird. Gerade im Gesundheitswesen müssen wir aber besonders die Risiken berücksichtigen, die nun einmal damit verbunden sind, erst recht wenn es sich um solch sensible Daten wie die Gesundheitsdaten handelt. Dabei darf man die Risiken nicht außer Acht lassen. Im Rahmen der damaligen Gesundheitsreform Seehofer/ Schmidt haben CDU/CSU, SPD und Grüne mit einer ganz großen Koalition und gegen die Bedenken der FDP bereis 2003 im Gesundheitsmodernisierungsgesetz die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte beschlossen. Die Realisierung, die mehrfach angekündigt wurde, lässt noch auf sich warten, da ein solch umfas22798 Daniel Bahr ({0}) sendes System der elektronischen Gesundheitskarte allein technisch, aber auch aus Datenschutzgründen eben nicht so einfach einzuführen ist. ({1}) Wenn es um die Speicherung von Gesundheitsdaten geht, sollte besondere Vorsicht gelten. Ich will niemandem im Hause in Abrede stellen, dass damit keine guten Ziele verfolgt werden. Man stelle sich nur einmal vor, der Arbeitgeber bekäme Kenntnis über die Gesundheit seiner Mitarbeiter oder wüsste von der Erkrankung eines Bewerbers, die potenziell dessen Leistungsfähigkeit einschränkt. Es ist wohl klar, dass Bürger nicht wollen, dass Unbefugte Zugriff auf ihre Gesundheitsdaten erhalten. Ich möchte noch ein anderes Beispiel nennen. Als Union und SPD den Behörden unter bestimmten Bedingungen den Zugriff auf die Computer der Bürger ermöglichten, war der Aufschrei in der Bevölkerung zu Recht groß. Die Möglichkeit des Einblicks in intimste Daten der Gesundheit eines Menschen ohne dessen Wissen und Einwilligung dürfte noch eine Steigerung darstellen. Deshalb muss man bei einem so umfassenden System der elektronischen Gesundheitskarte besonders aufmerksam und skeptisch werden, wenn ich auch weiß, dass der Datenschutzbeauftragte bisher die hohen Kriterien des Datenschutzes immer wieder angesprochen hat und auch in die Umsetzung eingebunden ist. Für uns als Liberale ist das Ziel: Wir wollen keinen gläsernen Patienten. ({2}) Für die FDP ist Voraussetzung, dass der Versicherte stets Herr über seine eigenen Daten ist und bleibt. Er soll darüber entscheiden, wer welche seiner Gesundheitsdaten zu welchem Zweck nutzen darf. Die Speicherung der Notfalldaten sowie in weiteren Ausbauschritten die elektronische Arzneimitteldokumentation und die elektronische Patientenakte müssen dabei auf Freiwilligkeit beruhen. Der Versicherte kann, muss aber nicht entsprechende Daten zu diesen Zwecken speichern lassen. Ich sage Ihnen eines voraus: Ohne die Freiwilligkeit wird dieses Projekt wohl kaum die zum Gelingen erforderliche breite Akzeptanz finden. Das sehen wir an dem Unmut, der bei den Leistungserbringern und Patienten derzeit bei der Umsetzung der elektronischen Patientenakte in Deutschland festzustellen ist. Studien haben aber gezeigt, dass sich das gesamte Projekt um die elektronische Gesundheitskarte erst dann rechnet, wenn diese freiwilligen Zusatzanwendungen auch genutzt werden. Ansonsten übersteigen nämlich die Kosten des Aufbaus einer geeigneten Infrastruktur den aus dem Projekt entstehenden Nutzen, wie die Studien darlegen. Schon häufig konnte man in anderen Bereichen erleben, wie hohe Datenschutzstandards aufgeweicht wurden. Freiwillige Anwendungen können schnell zu Pflichtanwendungen werden, wenn damit in einem finanziell stets auf Kante genähten Gesundheitssystem Kosten eingespart werden sollen. Genau das ist unsere Sorge. Versicherten und Behandlern könnten mehr oder weniger zwingende Anreize gesetzt werden, sich entsprechend zu beteiligen. In einem Gesundheitswesen, das immer stärkere zentralistische und dirigistische Züge aufweist, darf der nächste Schritt jedoch nicht darin bestehen, den Schutz sensibelster und intimster Daten gegen vermeintliche finanzielle Vorteile auszuspielen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Versicherten vor die Wahl zwischen finanziellem Vorteil und Wahrung ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte gestellt werden. Dann wäre es in der Tat nicht mehr weit zum gläsernen und vor allem staatlich steuerbaren Patienten. Die bisherigen Tests haben mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Ich möchte einige Probleme nennen. In Schleswig-Holstein bzw. in Flensburg, wo Tests durchgeführt wurden, gab es Probleme mit der Geheimnummer, der sechsstelligen PIN. Sobald die Probleme zutage traten, kam der Vorschlag vonseiten der Politik, der Exekutive und vieler anderer Bereiche, auf die Eingabe der Geheimnummer zu verzichten. Das zeigt, wie schnell es dazu kommt und wie gefährlich es ist, dass hohe Datenschutzstandards, die ursprünglich vorgegeben worden sind, in der praktischen Umsetzung sehr schnell aufgeweicht werden können. Die hohen Datenschutzstandards müssen auch weiterhin gewährleistet werden. Große Mengen sensibelster Daten quasi in einer Hand zu bündeln, birgt ohne Zweifel Gefahren. Deswegen meinen wir: Nach dem gläsernen Bankkunden und dem gläsernen Internet-User darf jetzt nicht auch noch der gläserne Patient drohen. ({3}) Es wurde angesprochen, dass das Vorhaben nicht zu zusätzlicher Bürokratie führen soll. Das Ausstellen eines Rezepts dauert nach Aussage eines am Test teilnehmenden Internisten nun dreimal und das Einlesen der Karte viermal so lange wie bisher. Was wir derzeit als Umsetzung erleben, betrifft bei weitem noch nicht die elektronische Gesundheitskarte, auch wenn das wahrscheinlich gleich wieder so verkauft wird, sondern es ist, wenn überhaupt, nur eine Vorstufe dessen, was noch alles kommen soll. Schon hierbei werden Probleme deutlich. Die AOK Rheinland will, wie sie jetzt in der Öffentlichkeit kundgegeben hat, die Karten erst dann ausgeben, wenn sichergestellt ist, dass die Ärzte zur Teilnahme am Onlinebetrieb verpflichtet sind. Die privaten Krankenversicherungen - das war vorgestern zu lesen - steigen mittlerweile aus dem Projekt aus. Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen lassen sich in Zeitungen ohne Namen mit der Feststellung zitieren, die elektronische Gesundheitskarte sei politisch tot. Für uns ist deshalb eines ganz wichtig: Wir wollen das Prinzip der Freiwilligkeit für Versicherte, Ärzte und Krankenhäuser bei der Nutzung der Gesundheitskarte gewährleistet haben. Wir wollen nicht, dass ein Druck zur schnellen Umsetzung dieses umfassenden Konzepts der elektronischen Gesundheitskarte entsteht, das immer noch viele Fragen und Sorgen aufwirft. Deswegen haben wir von der FDP einen Antrag eingebracht, der ein MoraDaniel Bahr ({4}) torium für die elektronische Gesundheitskarte vorsieht. Die Einführung muss so lange zurückgestellt werden, bis wirklich sichergestellt ist, dass die Voraussetzungen der Datensicherheit erfüllt sind. Das ist aus unserer Sicht noch nicht gegeben. Deswegen darf hier nicht mit Druck an der Umsetzung gearbeitet werden. Wir sollten uns vielmehr so viel Zeit für die Umsetzung lassen, bis alle offenen Fragen geklärt sind. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Koschorrek, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Rolf Koschorrek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003791, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, vom Volksmund kurz als E-Card bezeichnet, gilt sicherlich weltweit als eines der anspruchsvollsten Vorhaben der Informationstechnik im Gesundheitswesen, jedenfalls was die Größe der betroffenen Population angeht. Es besteht nun offenbar bei der FDP-Fraktion die Sorge, dass die E-Card zu schnell - in Ihrem Antrag heißt es: übereilt - eingeführt wird. ({0}) Die Fraktion der Grünen nutzt die Gelegenheit, kurzfristig einen Antrag zur elektronischen Gesundheitskarte nachzuschieben. Im Wesentlichen wird darin gefordert, was bereits in dem von Ihnen geforderten Sinne geregelt bzw. selbstverständlich ist. Nur ein Beispiel: Sie finden lobende und anerkennende Worte für die Vorkehrung zur Datensicherheit bei der E-Karte. Sie fügen hinzu: So muss es bleiben. - Neu ist allerdings die absolut unrealistische Forderung, dass es den Leistungserbringern, den Arztpraxen, freigestellt sein soll, an der Nutzung der E-Card teilzunehmen. Es liegt auf der Hand, dass das so nicht funktionieren kann. Die zentrale Forderung der FDP lautet, die Einführung der E-Card auf Eis zu legen, weil - so befürchten Sie - die Erfüllung zentraler Anforderungen wie die Datensicherheit, die Freiwilligkeit und die Gewährleistung eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses nicht garantiert sei. Ich kann Ihnen versichern, dass die Union die in Ihrem Antrag geäußerten Anliegen und Sorgen sehr ernst nimmt. Für uns, die CDU/CSU, haben die Datensicherheit bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und die Selbstbestimmung des Patienten über seine Daten absolut oberste Priorität. ({1}) Es ist auch für uns eine Selbstverständlichkeit, dass die Alltagstauglichkeit der E-Card eine unverzichtbare Voraussetzung für die Einführung in die ärztliche Praxis ist. Wir wissen aber auch und sollten es ehrlich eingestehen, dass anspruchsvolle und hochkomplexe technische Neuerungen nur selten von heute auf morgen perfekt funktionieren. Es liegt in der Natur eines so hochkomplizierten und anspruchsvollen technischen Projektes wie der E-Card, dass sie immer weiterentwickelt, verbessert und an neue, zusätzliche Anforderungen angepasst wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass auch bei Toll Collect die Startschwierigkeiten extrem waren. Heute haben wir ein - unstrittig - im internationalen Vergleich einmalig gut funktionierendes System implementiert. ({2}) - Das ist ein gutes Beispiel, das auch durch Zwischenrufe nicht schlecht gemacht werden kann. Der Vorwurf einer übereilten und unbedachten Einführung mutet in dieser Situation nahezu absurd an. Es ist Ihnen doch bekannt - falls nicht, möchte ich es noch einmal in Erinnerung rufen -, dass die bundesweiten Organisationen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen bereits seit Ende der 90er-Jahre als Aktionsforum „Telematik im Gesundheitswesen“ mit dem Thema der elektronischen Gesundheitskarte und den möglichen Inhalten telematischer Anwendungen befasst sind. Schon vor fünf Jahren, im Jahre 2004, wurde bereits die rechtliche Grundlage für die E-Card mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung gelegt. Die Anforderungen an die Datensicherheit und die Funktionen der E-Card sind im SGB V verankert. Die ursprünglich für das Jahr 2006 geplante flächendeckende Einführung der E-Card wurde verschoben. Die Testergebnisse zeigten damals noch viele Unzulänglichkeiten, die zwischenzeitlich behoben sind. Die flächendeckende Einführung erfolgt jetzt schrittweise, über einen längeren Zeitraum gestreckt. Im ersten Quartal 2009 hat der sogenannte Roll-out der elektronischen Gesundheitskarte in der KV-Region Nordrhein begonnen. Die Einführung der E-Card wird sich in mehreren Etappen vollziehen. Die verschiedenen Kartenfunktionen werden in verschiedenen Ausbaustufen erst nach und nach zum Einsatz kommen. Die letzte Stufe wird die umfassende elektronische Patientenakte sein. Bei allen Stufen vorher geht es überhaupt nicht darum, dass sensible Patientenakten öffentlich verfügbar gemacht werden. Es ist sichergestellt, dass die Patienten selber und in eigener Verantwortung darüber entscheiden, in welchem Umfang Daten gespeichert oder gelöscht werden sollen und wem sie diese Daten zugänglich machen wollen. ({3}) Es gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Jeder Versicherte muss wissen, dass es allein seine persönliche und freiwillige Entscheidung ist, welche Daten gespeichert werden und wer sie lesen kann. Es besteht kein Anlass, die Versicherten und Patienten zu verunsichern; denn die verpflichtend auf der E-Card hinterlegten Daten stimmen im Wesentlichen mit den Informationen überein, die auf der bisherigen Krankenversichertenkarte gespeichert sind: ({4}) Name, Geburtsdatum, Geschlecht, Anschrift und Krankenversicherungsnummer. Als zusätzliche verpflichtende Funktion kommt das elektronische Rezept hinzu. Darüber hinaus können die Versicherten und Patienten freiwillig persönliche Gesundheitsdaten speichern lassen. Es ist sichergestellt, dass für diesen freiwilligen Bereich strenge Datenschutzregeln gelten. Der Zugriff auf die Daten ist nur mit der Kombination aus persönlicher Geheimnummer des Patienten und elektronischem Heilberufeausweis möglich, der zentraler Bestandteil des Sicherheitskonzepts der E-Card ist. Nur mit dieser Legitimation ist es möglich, Daten von der Gesundheitskarte zu lesen oder elektronische Rezepte und medizinische Daten zu speichern bzw. zu lesen. Wer trotz aller Vorkehrungen und Maßnahmen zum Schutz der Daten gleichwohl Bedenken hat, wird in eine Speicherung seiner Gesundheitsdaten sicherlich nicht einwilligen. Für diejenigen bleibt hinsichtlich der Kommunikation, Dokumentation, Bereitstellung und Nutzung ihrer Gesundheitsdaten alles wie bisher. Das Prinzip der Freiwilligkeit ist in diesem System elementar; es wird auch künftig nicht infrage gestellt. ({5}) Für die Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens, für die Patienten und Leistungserbringer bringt die Vernetzung von Gesundheitsdaten, wie sie mit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte möglich ist, eine ganze Reihe von Vorteilen. Belastende und teure Mehrfachuntersuchungen wie doppeltes Röntgen oder doppelte Laboruntersuchungen können vermieden werden. Ärzte und Patienten haben einen schnelleren und besseren, vollständigen Überblick über den Gesundheitsstatus, zum Beispiel hinsichtlich Grunderkrankungen, Impfungen, Allergien, Vorsorgeuntersuchungen, des Verlaufs chronischer Erkrankungen und individueller Risiken des Patienten. Das mühsame und zeitaufwendige Dokumentieren bzw. Suchen von Vorbefunden entfällt. Die Behandlungsqualität kann verbessert werden, wenn die Behandlungen besser aufeinander abgestimmt werden und sich sinnvoll ergänzen. Mit der Arzneimitteldokumentation werden Kontraindikationen und Doppelverordnungen vermieden. Im Notfall sind wichtige Daten deutlich schneller verfügbar. ({6}) Wir sind als Politiker dafür verantwortlich, dass die neuen technischen Möglichkeiten mit all ihren Vorteilen für die Bürger genutzt werden. Zugleich setzen wir uns für größtmögliche Datensicherheit ein und verfolgen konstruktiv und kritisch die Aktivitäten der gemeinsamen Selbstverwaltung, die in der Gesellschaft Gematik gebündelt sind. Weil wir die Kritik und die Sorgen hinsichtlich der Datensicherheit ernst nehmen, tun wir alles dafür, dass der Schutz und die technische Sicherheit der sensiblen Gesundheitsdaten höchsten Anforderungen entsprechen. Die E-Card wurde in enger Abstimmung mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz entwickelt; er wird auch die weitere Entwicklung und Anwendung der elektronischen Gesundheitskarte beeinflussen, sie unterstützen und kritisch begleiten. Datensicherheit und Datenschutz sind im Rahmen unserer gesetzlichen Möglichkeiten voll gewährleistet. Die Nutzung der E-Card ist nicht zuletzt auch eine Basis dafür, dass die Nutzung der Telematik im Gesundheitswesen in breitere Bevölkerungskreise Einzug hält. Ich bin sicher, dass es bald eine Selbstverständlichkeit sein wird, die Vorteile der Telematik zu nutzen. Gestatten Sie mir zum Schluss einige ganz persönliche Gedanken zur Telematik, nicht aus Sicht des Politikers, sondern des Versicherten und Patienten. In einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, einem Hightechland, erwarte ich im Jahr 2009 vom Gesundheitswesen eine Plattform, bei der ich, egal wo ich in Deutschland einen Arzt oder eine Klinik aufsuche, mit meiner Einwilligung, meinem Schlüssel, zusammen mit meinem Behandler Zugang zu meinen vollständigen medizinischen Daten, zu Dokumenten, Bildern, Untersuchungsergebnissen und Befunden habe, egal von wem, wann und wo sie erhoben worden sind. ({7}) Ich weiß - verschiedene neue Umfragen belegen dies eindeutig -, dass diese Erwartung von einer überwiegenden Mehrheit unserer Bürger und vor allem der Patienten geteilt wird. Dieses Thema ist zu wichtig für die Menschen, als dass man es um den Preis einer Schlagzeile mit populistischen Phrasen wie „Angst vor dem gläsernen Patienten“ belegen sollte. Lassen Sie uns die Einführung neuer Technologien zum Wohle der Patienten konstruktiv gestalten! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth, Fraktion die Linke. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Ziele, die Herr Koschorrek eben erneut formuliert hat, kann man in der Tat zum großen Teil unterstreichen. Die gemeinsame Selbstverwaltung hat es nach Einbringung des Gesetzes nicht geschafft hat, die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen für die Einführung der Gesundheitskarte zu erfüllen. Daher musste das Bundesgesundheitsministerium im Oktober 2006 eine Verordnung erlassen, in der festgelegt wurde, dass die Gesundheitskarte vor ihrer Einführung einem vierstufigen Testverfahren unterzogen werden muss. Dieses Verfahren ist jetzt geltendes Recht und unbedingt einzuhalten. Offenkundig wird sich aber die Betreibergesellschaft Gematik nicht daran halten. Der 100 000er-Test soll offenbar nicht durchgeführt werden. Dennoch wird schon jetzt mit der flächendeckenden Ausgabe der Karten in Nordrhein begonnen. Das ist rechtswidrig. Wenn die Bundesregierung ihre eigene Verordnung ernst nimmt, müsste sie eingreifen. Tut Sie es nicht, macht sie einen schweren Fehler. Nicht nur rechtlich, sondern auch fachlich kritisieren wir dieses Vorgehen. Die einzige Technik, die überhaupt getestet wurde, waren zentrale Onlinespeicherserver, die über Internet erreichbar sind. ({0}) Überall, wo auf zentralen Servern viele sensible Daten gespeichert sind, wachsen natürlich Begehrlichkeiten. Durch die Onlinevariante wird es bei allem Datenschutz möglich, darauf zuzugreifen. Der Schlüssel dazu wird bei der Ausgabe der Karte von der Krankenkasse erzeugt und an den Kartenhersteller ausgeliefert. Er wird zudem für den Fall des Verlustes der Karte bei einem sogenannten Treuhänderdienst hinterlegt. An diesen drei Stellen - Kassen, Kartenhersteller und Treuhänderdienst - finden sich Angriffspunkte für Interessenten an den Daten. Aber zumindest Krankenkassen, Arbeitgebern und Versicherungen darf man durchaus ein gewisses wirtschaftliches Interesse an diesen Daten unterstellen. Am Horizont sehe ich auch schon Herrn Schäuble auftauchen, der diese Daten möglicherweise zur Terrorbekämpfung haben möchte. ({1}) Mit dem jetzt vorhandenen Gesetz ist nach meiner Auffassung nicht gewährleistet, dies zu verhindern. Die Vorratsdatenspeicherung der Telefon- und E-Mail-Verbindungsdaten zeigt schon jetzt, wie einfach es ist, Daten, die zunächst für Rechnungszwecke gespeichert wurden, nun zur Bekämpfung von Kriminalität heranzuziehen. Wenn man an der Onlinevariante der Gesundheitskarte festhält, dann muss nach meiner Auffassung wenigstens der Schutz der Daten Verfassungsrang haben. Dieses Problem könnte mit einer dezentralen Offlinevariante der Karte, zum Beispiel einem USB-Stick, gelöst werden. Die Firma Gematik hat im Oktober 2008 der Ärzteschaft zugesagt, diese dezentrale Speichermöglichkeit zu erproben. Das ist bislang nicht geschehen. Ich vermute, dass eine ernsthafte Prüfung auch nicht mehr stattfinden wird; andernfalls schaffte man in Nordrhein keine vollendeten Tatsachen. ({2}) Für die gesetzlich vorgesehenen Funktionen der Karte benötigt man keine zentralen Onlineserver. Aber man will sie durchsetzen, weil man sie für die sogenannten Mehrwertdienste nutzen will. Dahinter verbergen sich viele Anwendungen, mit denen private Firmen Gewinn erzielen können. Ob diese Anwendungen der Gesundheit nutzen, ist nach meiner Auffassung sehr fraglich. Die Linke fordert deshalb: Die geltenden Datenschutzregelungen müssen ohne Wenn und Aber eingehalten werden. ({3}) Die informationelle Selbstbestimmung der Patienten muss gewahrt werden. Die Gesundheitskarte, die von den Beitragszahlern mit Milliarden vorfinanziert wird, darf nicht zur privaten Profiterzielung nutzbar gemacht werden. Der staatliche Zugriff auf Gesundheitsdaten muss kategorisch ausgeschlossen werden. Die 100 000er-Tests müssen durchgeführt werden. ({4}) Außerdem muss die dezentrale Offlinelösung tatsächlich getestet werden. Erst danach darf über eine flächendeckende Ausgabe der Gesundheitskarte verhandelt werden. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss schon ein bisschen über die Einlassungen staunen, die vonseiten der FDP und vonseiten Herrn Spieths für die Linke vorgetragen wurden. Wir haben doch über Jahre hinweg darüber diskutiert, dass die Missbrauchsmöglichkeiten der jetzigen Karte enorm sind. Gerade im Fachausschuss wurde immer wieder kritisiert, dass die Datenunsicherheit der jetzigen Krankenversichertenkarte, die nicht spezifisch gesichert ist, groß ist ({0}) und dass wir aus diesem Grunde eine neue elektronische Gesundheitskarte brauchen, die einen deutlichen Mehrwert hat. Darin waren wir uns einig. Interessant ist doch, dass selbst die Dinge, die im Fachausschuss klar waren - der Datenschutzbeauftragte war doch bei uns -, von Ihnen überhaupt nicht mehr dargestellt werden. Ich zitiere Ihnen gerne aus dem jüngsten Brief des Datenschutzbeauftragten an Frau Pfeiffer vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen, in dem er schreibt: Im Zusammenhang mit der Roll-out-Planung sind in den letzten Wochen einige Fragen mit erheblicher datenschutzrechtlicher Brisanz diskutiert worden. Vor allem die Frage der Verbesserung des Schutzniveaus der Versichertendaten durch die elektronische Gesundheitskarte war Gegenstand zahlreicher Schreiben. Dabei habe ich deutlich gemacht, dass mein Anliegen die schnellstmögliche Beseitigung des technologisch begrenzten Schutzniveaus der derzeitigen Krankenversichertenkarte ist. Ich sehe durch die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte sowohl in diesem konkreten Fall als auch in anderen Fällen eine große Chance, eine generelle Verbesserung des Datenschutzniveaus zu erreichen. Das rückt die Dinge doch wieder zurecht. Die neue Karte hat ein höheres Schutzniveau, und sie löst die alte Karte mit einem niedrigeren Schutzniveau ab. Was will die FDP? Sie will ein innovations- und fortschrittsfeindliches Moratorium. Sie springen von einem fahrenden Zug ab, nur um sich Überschriften zu sichern. ({1}) Das kann von uns auf keinen Fall gutgeheißen werden. ({2}) Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann muss man Folgendes feststellen: Sie haben auf der einen Seite - ({3}) - Herr Bahr, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. Das verlängert meine Redezeit. Ich bin dazu bereit.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Bahr, überwiegend hat in einer Debatte die Rednerin das Wort. Wenn Sie etwas sagen wollen, dann stellen Sie eine Zwischenfrage. ({0}) Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Gerne.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin, Sie erwecken den Eindruck, als ob alles fantastisch läuft. Ich möchte nur einmal an die Nachrichten der letzten Tage erinnern. Der Verband der privaten Krankenversicherung hat öffentlich gesagt, dass er aussteigt. Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen lassen sich mit der Aussage in den Zeitungen zitieren, das Projekt der elektronischen Gesundheitskarte sei politisch tot. Die AOK Rheinland weigert sich, in Nordrhein, wo die erste Umsetzung dieses Projektes stattfinden soll, die Karten weiter auszugeben, weil wesentliche Fragen aus Sicht der AOK Rheinland noch nicht geklärt sind. Sie tun so, als ob alles funktioniert und die FDP nur einen Schauantrag stellt. Das entspricht doch überhaupt nicht der Nachrichtenlage der letzten Tage.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Herr Kollege Bahr, das, was Sie sagen, ist falsch. Erstens. Die AOK Rheinland ist nicht gegen die Ausgabe der Versichertenkarte; sie möchte vielmehr weitere Prüfungen, was die Fragen der Onlinenutzung und des Rollouts angeht. Aber die Karten werden planmäßig ausgeteilt. Zweitens. Die privaten Krankenversicherungen möchten gerne mitmachen, sie möchten aber eine klare Basis, um auf dieser Grundlage ihre Entscheidung weiterhin vertreten zu können. Drittens. Wenn Sie sich die Geschichte der elektronischen Gesundheitskarte anschauen, dann stellen Sie fest, dass wir immer dafür sorgen mussten, dass diese Innovation überhaupt voranging, und dass immer wieder einmal Sperrfeuer von Einzelnen kam, die sich vor der Transparenz fürchten, die die neue Karte bietet. Das ist der eigentliche Grund. Die Kreise, die das verhindern wollen, bedienen Sie noch mit Ihrem Antrag. ({0}) Überhaupt nicht begreifen kann ich, dass Sie das Thema PIN noch einmal problematisieren. Gerade die PIN und der doppelte Schutz durch die beiden Zugangsschlüssel war der Grund, warum der Datenschutzbeauftragte von einem hohen Schutzniveau sprach. Jetzt problematisieren Sie die PIN, die sich eigentlich überall bewährt hat. Ich kann Sie da nicht ganz verstehen. Was wollen Sie denn nun: ein höheres oder ein niedrigeres Schutzniveau? ({1}) Frau Kollegin Bender, Sie haben nach mir die Gelegenheit, uns den Gesinnungswandel der Grünen ausführlich zu erläutern. ({2}) Ich muss mich schon sehr wundern: Die einen sagen, wir brauchen ein Moratorium, weil noch gar nicht klar ist, zu wie vielen Anwendungen es wirklich kommt und ob es sich rechnet, und Sie sagen jetzt, die Anwendungen sind bei den Leistungserbringern freiwillig. Bei Freiwilligkeit der Nutzung der Versichertendaten sind die Kosten des technologischen Projektes überhaupt nicht effizient zu berechnen. Was ist das für eine Haltung? ({3}) Schließlich haben Sie an der Einführung mitgewirkt. Man staunt schon über die verschiedenen Roll-backs, die wir bei der elektronischen Gesundheitskarte zu verzeichnen haben. ({4}) Ich bleibe dabei: Das ist ein wichtiges Projekt, das mit Innovationen für Patientinnen und Patienten verbunden ist. Wir können nicht zurück in die technologische Steinzeit, sondern wir müssen dahin kommen, dass der Patient und die Patientin letztlich darüber entscheiden, wie ihre Daten verwendet werden. Sie müssen in die Lage versetzt werden, zum Beispiel ihre elektronische Patientenakte einzusehen oder dafür zu sorgen, dass die Informationen zwischen den einzelnen Arztgruppen fließen. Dieser Mehrwert für die Patientinnen und Patienten kann einfach nicht hoch genug angesetzt werden. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich muss Sie jetzt fragen, ob der Kollege Spieth noch eine Zwischenfrage stellen darf?

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Ich habe meine Redezeit schon überschritten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Sie sind noch in Ihrer Redezeit; sonst würde ich die Zwischenfrage nicht zulassen.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Dann gerne.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank für die Zulassung meiner Zwischenfrage. Frau Staatssekretärin, zwei konkrete Fragen. Erstens. Das BMG hat 2006 ein vierstufiges Testverfahren festgelegt, das vor der flächendeckenden Einführung der Gesundheitskarte zu realisieren ist. Der letzte Test, genauer: drei Tests mit 100 000 Versicherten, die in drei Regionen in Deutschland durchgeführt werden sollten, werden offenkundig nicht mehr durchgeführt. Ist das richtig oder falsch? ({0}) Zweitens. Ist die Zusage der Selbstverwaltung gegenüber der deutschen Ärzteschaft, dass eine USB-StickLösung, also eine Lösung, die eine dezentrale Speicherung vorsieht, gefunden werden soll, eine Zusage, die vor einer flächendeckenden Ausrollung der Gesundheitskarte eingehalten werden muss und wird, ja oder nein?

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Herr Kollege Spieth, gerne beantworte ich Ihnen diese Fragen. Sie hatten bereits Gelegenheit, mit der Fachabteilung unseres Hauses genau diese beiden Fragen zu erörtern. Vor 14 Tagen fand dazu ein Treffen mit dem zuständigen Referatsleiter statt. ({0}) Ich beantworte diese Fragen aber gern noch einmal im Plenum. ({1}) Zur ersten Frage. Wir haben Ihnen schon damals erläutert, dass die 100 000er Testphase durchgeführt und in die Roll-out-Phase integriert wird. ({2}) Deswegen liegt unseres Erachtens kein Rechtsverstoß vor. Zur zweiten Frage. Das Thema USB-Stick wird bewertet werden. Es gibt grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit. Deshalb ist die Frage der Anwendung anders als die Frage der Bewertung von Chancen und Risiken. Eine solche Bewertung wird selbstverständlich vorgenommen. Auch das habe ich Ihnen bereits vor 14 Tagen erläutert. Schönen Dank.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, mir liegt ein weiterer Wunsch nach einer Zwischenfrage vor, und zwar des Kollegen Ströbele.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Gerne.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, dass ich noch die Gelegenheit zu dieser Frage bekomme. Ich bestreite nicht, dass es Überlegungen gibt, die dafür sprechen, eine solche Gesundheitskarte einzuführen. ({0}) Was sagen Sie zu dem sogenannten Mautdateien-Argument - es spielt in der öffentlichen Diskussion eine ganz erhebliche Rolle, gerade bei den Datenschützern, bei besorgten Initiativen -, dass dann, wenn Daten in einer Datei gespeichert und verfügbar sind, immer wieder Begehrlichkeiten geäußert werden, diese Daten für alle möglichen anderen Zwecke zu nutzen, ({1}) und dass das Vertrauen der Bevölkerung darauf, dass ein solcher Missbrauch, also eine Nutzung dieser Daten für anderweitige Zwecke, durch ein Gesetz ausdrücklich ausgeschlossen ist, zutiefst erschüttert ist, seitdem der Umgang der Bundesregierung mit der Mautdatei bekannt geworden ist? ({2}) Nachdem der entsprechende Gesetzentwurf verabschiedet und diese Datei angelegt worden war, hat die Bundesregierung das Gesetz geändert, um die zu einem ganz anderen Zweck - zum Erheben von Gebühren - erhobenen Daten anderen Zwecken zuführen. ({3}) Seitdem ist nicht mehr das nötige Vertrauen in die Politik und in den Gesetzgeber vorhanden, dass einmal angelegte Dateien sicher sind. Was sagen Sie dazu?

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, das gibt mir Gelegenheit, Ihnen noch einmal zu erläutern, dass seit 2004 ein Zugriffsverbot gesetzlich geregelt ist. ({0}) Dieses Verbot kann nicht umgangen werden. Wer illegalerweise auf Daten zugreift, macht sich strafbar. Weil es sich um sensible Patientendaten handelt, haben wir das im Gesetzgebungsverfahren mit einem hohen Sicherheitsniveau verankert. Ich bin Ihnen für die Frage wirklich sehr dankbar. Mit dieser Patientendatenstruktur haben wir ein hohes Schutzniveau sichergestellt. Man braucht zwei Schlüssel, um an die Daten heranzukommen, nämlich vom Patienten und vom Leistungserbringer, der den elektronischen Heilberufsausweis hat. Mit der PIN gibt es einen zusätzlichen Schutz. Wir haben im Gesetzgebungsverfahren geregelt, dass die Daten nicht für andere Zwecke an Dritte, weder an Arbeitgeber noch an staatliche Stellen, weitergegeben werden dürfen. Damit haben wir sehr frühzeitig und in enger Kooperation mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten für ein hohes Datensicherheitsniveau gesorgt. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Ströbele, das geht jetzt nicht mehr. ({0}) Das Wort hat die Staatssekretärin Caspers-Merk. Oder sind Sie mit Ihrer Rede am Ende?

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Ja. Das war eigentlich keine Zwischenfrage, sondern eine Frage am Ende meiner Rede. Ich habe natürlich sehr gern die Gelegenheit genutzt, die Redezeit zu verlängern. Vielen Dank, Herr Kollege Ströbele. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie man die elektronische Gesundheitskarte gegen die Wand fahren kann, hat vor wenigen Wochen der Vorstandsvorsitzende einer großen westdeutschen Krankenkasse vorgeführt; davon war schon die Rede. Wenn man sagt, wir machen das mit der Karte nur, wenn Ärztinnen und Ärzte verpflichtet werden, am späteren Onlinebetrieb der Karte teilzunehmen, dann wird man die Karte gegen die Wand fahren. ({0}) Es scheint noch nicht bei allen Beteiligten angekommen zu sein - Frau Staatssekretärin, das ist auch eine Mahnung an Sie -, dass es sich nicht um ein herkömmliches Großprojekt handelt, bei dem man vielleicht hoffen kann, es einfach so durchdrücken zu können. Bei der elektronischen Gesundheitskarte ist klar: Sie ist auf die Akzeptanz ihrer potenziellen Anwenderinnen und Anwender angewiesen; denn die Funktionen, die über die Speicherung der Verwaltungsdaten und das elektronische Rezept hinausgehen, lassen sich - richtigerweise nur mit Zustimmung der Patienten und Patientinnen aktivieren. Wenn Sie sie dafür nicht gewinnen, dann wird die E-Card nichts anderes bleiben als eine Krankenversicherungskarte mit Foto. Eine solche hätte man deutlich schneller und billiger haben können. Ob sich Patienten und Patientinnen für oder gegen die Gesundheitskarte entscheiden, wird auch davon abhängen, wie sich die sie behandelnden Ärzte und Ärztinnen sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe dazu verhalten. Wie sie sich aufstellen werden, wenn sie zur Onlineanwendung der Karte gezwungen werden, kann man sich vorstellen, wenn man daran denkt, was Ärztinnen und Ärzte sonst so tun, wenn sie Kritik vorzubringen haben. Das Freiwilligkeitsprinzip muss also auch für sie gelten. ({1}) Es gibt für die E-Card viele gute Argumente. Sie schafft die informationstechnische Grundlage für mehr Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Sie kann für mehr informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten sorgen. Sie kann insbesondere zum Patientenschutz beitragen, indem sie einen Damm gegen die drohende Kommerzialisierung elektronischer Patientenakten errichten hilft. ({2}) Angebote privater Firmen, die durch ihre Anbindung an das Internet höchst unsicher sind und keine Gewähr dafür bieten, dass die Patientendaten nicht kommerziell weiterverwendet werden, wollen wir nicht. Im Vergleich dazu sind die Regelungen für die E-Card unter datenschutzrechtlichen Aspekten nahezu vorbildlich. ({3}) Das ändert aber nichts daran - daran kann man politisch nicht vorbeigehen -, dass es in Teilen der Ärzteschaft und auch unter Bürgerrechtlern Befürchtungen im Hinblick auf den Datenschutz gibt. ({4}) Die notwendige Akzeptanz für die Karte wird deshalb nur zu erreichen sein, wenn die Bundesregierung wirklich glaubhaft machen kann, dass die gesetzlichen Garantien für den Datenschutz strikt eingehalten werden. ({5}) In diesem Zusammenhang, lieber Herr Kollege Koschorrek, war Ihr Vergleich mit dem Mautgesetz nicht passend. Da war es doch genau so, dass der liebe Herr Schäuble, kaum dass die Datei existierte, schon Zugriff auf die Daten nehmen wollte. ({6}) Für die Gesundheitsdaten muss daher gelten: Sie müssen für alle Zeiten vor der Datenkrake Schäuble sicher sein. Dafür werden wir kämpfen. ({7}) Datenschutz ist eben keine unzulässige Zumutung gegenüber dem reibungslosen Betrieb der Informationstechnik, sondern ein Grundrecht der Bürgerinnen und Bürger. In der Diskussion um diese Karte dominieren bisher technische, gesundheitspolitische, auch industriepolitische Aspekte. Wenn die Gesundheitskarte aber tatsächlich das halten soll, was sich viele von ihr versprechen, muss für ihre weitere Ausgestaltung die Patientenperspektive zu einem entscheidenden Kriterium werden. Dann müssen sich auch verschiedene Gruppen von Patientinnen und Patienten darin wiederfinden können, nicht nur der junge IT-Freak, der mit einer solchen Karte sicherlich gut zurechtkommt, sondern auch ältere oder behinderte Menschen. Vor diesem Hintergrund muss auch der Grundsatz der Barrierefreiheit beachtet werden. Probleme mit der praktischen Handhabbarkeit der Karte, die wir bereits erlebt haben, müssen vor der Onlineschaltung der Karte ausgeräumt werden. Die Patientinnen und Patienten müssen Beratungsangebote erhalten. Die Patientenverbände müssen einbezogen werden. Kurzum, hier wird ein dialogischer Prozess mit den betroffenen Gruppen stattfinden müssen. Diese meine Auffassung unterscheidet sich allerdings deutlich, Herr Kollege Bahr

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Bender.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- vorletzter Satz -, von Ihrer. Sie vertrauen offenbar darauf, dass es dann, wenn man den Prozess jetzt einfach stoppt und Experten beauftragt, sich damit zu beschäftigen, besser wird. ({0}) Gerade so sehen wir das nicht. Wir wollen, dass es unter Einbeziehung der betroffenen Gruppen weitergeht, damit aus der E-Card etwas Gutes wird, was den Patienten nützt. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Eike Hovermann, SPD-Fraktion.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zuerst an die wenden, die die Datensicherheit beklagen. Als einer der größten Kenner in puncto Datensicherheit weiß ich, wie viele Millionen und Milliarden Daten ungeschützt vagabundieren oder auf Datenfriedhöfen liegen. Das gilt insbesondere auch für das alte System. Wenn nun ein Kollege beklagt, dass es Interesse daran gibt, auf die Daten des neuen Systems zuzugreifen, hat er offensichtlich in seiner jahrelangen parlamentarischen Arbeit nicht begriffen, dass das bisherige System - ich wiederhole es - so löchrig war wie ein Schweizer Käse und bisher im Grunde genommen allen möglichen Interessen offengestanden hat. ({0}) Zweite Bemerkung zu diesem Thema: Wir sollten eine möglichst produktive Diskussion führen. Ich habe aber das Gefühl - es wäre schön, wenn mich an dieser Stelle mein Gefühl trügen würde -, dass sie mittlerweile schon in den Strudel des Wahlkampfes der Wahl im September 2009 gerät. Dritte Anmerkung: Die Datensicherheit im neuen System wird dank der Chipkarte und der anderen Instrumente, die hier schon geschildert worden sind, um ein Vielfaches höher liegen als früher; aber man kann natürlich nicht sagen, dass es überhaupt nicht anfällig ist. ({1}) Es wird immer entsprechende Interessen geben. In Anhörungen wurde uns ja von Verbänden mitgeteilt, dass Hackerklubs, zum Beispiel in Dortmund, bisher fast jedes System geknackt haben. Es besteht natürlich auch jetzt ein hohes Interesse, dieses System mit seinen vielen Daten zu knacken. Im Rahmen der Diskussion ist etwas Wertvolles geschehen: Wir haben mit den Patientenbeauftragten, den Datenschützern - ein Vertreter eines Hackerklubs war übrigens auch dabei - und Vertretern von verschiedenen Spitzenorganisationen die Frage diskutiert, wie wir die Daten in einem sich immer weiter verbessernden Prozess so schützen können, dass der Zugriff auf diese nicht so fürchterlich leicht möglich ist, wie es bisher der Fall war; ich könnte dafür mehrere Beispiele bringen. Herr Bahr, Sie lesen die Welt sicherlich mehr als ich. ({2}) - Diese Zeitung ist Ihnen geneigter als vielleicht die taz. Ich will auf die Anzeige eingehen, die dort in der Ausgabe vom Montag dieser Woche abgedruckt war. Lesen Sie sie einmal nach. Der Spitzenverband Bund vergrößert die Abteilung, die sich mit diesem Thema befasst, extensiv, und zwar in dem Wissen, dass in Richtung Modellverträge und Strukturverträge - beides wollen Sie und im Hinblick auf § 140 a SGB V, Integrierte Versorgung, diese Chipkarte ein unverzichtbares Instrument ist, um das Ziel, die Segmentierung in ambulant und stationär zu überwinden - auch das wollen Sie -, auch nur annähernd zu erreichen. ({3}) - Da haben Herr Hess, die Vertreter des Spitzenverbandes Bund und der Deutschen Krankenhausgesellschaft wohl unrecht. Herr Bahr, wir nehmen Ihre Meinung zur Kenntnis. Frau Kollegin Bender, Sie haben vorhin die Finanzierung angesprochen und das Schlagwort vom „gläsernen Patienten“ benutzt. ({4}) - Dann war es Herr Bahr. ({5}) - Irgendeiner hat es mit „gläsernem Arzt“ verwechselt. Aber lassen Sie mich diesen Gedanken zu Ende führen, weil ich nicht mehr so viel Redezeit habe. Die Diskussion außerhalb der Verbände zeigt sehr deutlich, dass im Zuge einer E-Card Behandlungspfade verfolgt werden können und nachgewiesen werden kann, was im Rahmen einer Behandlung vielleicht falsch gelaufen ist. Das haben manche Ärzte nicht so gerne und wollen dies verhindern, indem sie - aus Angst vor dem „gläsernen Arzt“ - vor dem „gläsernen Patienten“ warnen, also die Argumentation verdrehen. Die anderen Argumente gegen die E-Card haben einen etwas tieferen Hintergrund. Sie betreffen nämlich die Frage der Finanzierung. Es ist wohl richtig, dass im ambulanten Bereich ein übergroßer Anteil der Finanzierung von den Ärzten in den einzelnen Praxen aufgebracht werden muss. Dagegen wird im stationären Bereich - wir sollten offen darüber reden; es sei denn, Sie legen darauf keinen Wert - ein Großteil des Equipments über andere Quellen - Stichwort: duale Finanzierung finanziert.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dadurch entsteht an dieser Stelle die Angst, dass es eine ungleiche Belastung für die freien Berufe gibt, für die Sie ständig auf allen möglichen Podiumsdiskussionen eintreten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bin ich schon fertig? ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ziemlich.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich halte es daher für wünschenswert, weiter nach Lösungen zu suchen, auch im Hinblick auf die Entwicklung einer europäischen Chipkarte. Mit Blick auf die Sicherheit der Patienten nicht nur in unserem Land wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ab Oktober - dann hat sich die Koalition wieder gebildet - mit uns an einem Strang ziehen würden. Zur PKV nur noch dies:

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, ich bin jetzt auch fertig.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die PKV ist nicht ausgestiegen. Der Verband hat gesagt, dass Einzelne so weitermachen. Ich sage Ihnen: Diese werden alle in die elektronische Gesundheitskarte investieren. Vielen Dank für die Geduld. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/11245 und 16/12289 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Offenbar sind Sie damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale - Drucksache 16/12099 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 16/12299 Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/12302 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Carsten Schneider ({2}) Otto Fricke Alexander Bonde Hierbei ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion. ({3})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Nicht zum ersten Mal, sondern zum wiederholten Mal - vielleicht aber abschließend für diese Wahlperiode - steht uns eine spannende Debatte zur Pendlerpauschale ins Haus. Wir haben sie schon des Öfteren geführt. Es gibt zwar nicht mehr viel Neues, was man dazu sagen kann. Aber man kann bestimmte Dinge durchaus noch einmal herausstreichen. Wenn man sich mit der Geschichte der Pendlerpauschale beschäftigt und antizipiert, welche Positionen meine nachfolgenden Rednerinnen und Redner vertreten werden, muss man sich vergegenwärtigen: Was war 2005? Was war die Ausgangslage? Die CDU und die CSU haben ein gemeinsames Wahlprogramm vorgelegt. Darin stand die deutliche Kürzung der Pendlerpauschale. Ein gewisser Erwin Huber hat an diesem Wahlprogramm wesentlich mitgewirkt. Die FDP redet immer von „Steuersenkungen“ und hat „tolle steuerpolitische Konzepte“; die Anführungszeichen und die Ironie bitte ich zur Kenntnis zu nehmen. ({0}) - Überhaupt nicht. - Mit dem Stichwort der Steuervereinfachung ist die Absicht verbunden, den kleinen Leuten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - sei es bei der Steuerfreiheit der Zuschläge für Nachtschichten und für Sonntagsarbeit, sei es bei der Pendlerpauschale an den Geldbeutel zu gehen. ({1}) Als Sozialdemokraten haben wir in dieser Frage eine klare Position gehabt. Wir waren für die Beibehaltung der Pendlerpauschale in der bisherigen Form. ({2}) Die Grünen haben zur Pendlerpauschale die Vorstellung entwickelt, sie um die Hälfte zu reduzieren. Auch dies war verfassungswidrig, weil diese die tatsächlichen Kosten nicht mehr abgedeckt hätte. Dieser Grundsatz ist jedoch bei der Gewährung einer Pauschale einzuhalten. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung sind dann die letzten Bundestagswahlen bestritten worden. In der Koalitionsverhandlung zwischen CDU/CSU und SPD haben sich die Sozialdemokraten an verschiedenen Punkten durchgesetzt. Bei der Pendlerpauschale hat sich überwiegend die CDU/CSU durchgesetzt. ({3}) - Das kann jeder nachlesen. ({4}) - Sie kennen offenbar die Geschichte nicht. Man braucht sie nicht zu klittern, sondern muss sie einfach so erzählen, wie sie ist. Dann hatten wir im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages eine Anhörung, ({5}) in der kein Einziger der dort anwesenden Fachleute sich für die Lösung ausgesprochen hat, die die CDU/CSU in der Koalition durchgesetzt hat. Dann haben wir von der SPD den Versuch unternommen, die geplante Regelung zu ändern. Dies ist vehement abgelehnt worden, insbesondere von der CSU. Dann haben wir die Lösung der CDU/CSU in Treue zur Koalitionsverabredung in das Gesetz übernommen. ({6}) - Sie wissen schon, wer der Gesetzgeber ist, Frau Kollegin Scheel. ({7}) Die Verantwortung müssen natürlich wir als Gesetzgeber auf uns nehmen. Das haben wir in diesem Fall gemacht. Trotz großer Bedenken haben wir diese Lösung dann in das Gesetz geschrieben. Dann gab es die ersten Urteile der Finanzgerichte. Sie waren unterschiedlich. Seitens der sozialdemokratischen Fraktion haben wir dann noch einmal einen Anlauf unternommen und gesagt: Lasst uns nicht das Bundesverfassungsgerichtsurteil dazu abwarten, sondern lasst uns die Regelung gleich ändern. Das alles ist dokumentiert; das kann man nachlesen. ({8}) Dann ist es leider wieder an unserem Koalitionspartner gescheitert. ({9}) - Nein, an ihm ist es nicht gescheitert. Das steht alles in der Zeitung. An anderer Stelle können Sie die Fakten, die Sie brauchen, immer sehr gut herausfinden. Vielleicht lesen Sie auch einmal das, was Ihnen nicht in den Kram passt und was die Wahrheit ist. In diesem Fall ist das alles sehr gut dokumentiert. In den Veröffentlichungen vom November 2007 kann man das alles nachlesen. Nach der bayerischen Kommunalwahl wurde es auf einmal spannend. Derselbe Erwin Huber, der vorher der Totengräber der Pendlerpauschale war, ({10}) hat sich als Voodoo-Priester geriert und wollte sie wieder zum Leben erwecken. Das war ein durchaus spannender und erhellender Moment. ({11}) Aber es war wiederum die Führung der CDU/CSU-Fraktion, die das Ansinnen der Sozialdemokraten, die Regelung sofort zu ändern und das Bundesverfassungsgerichtsurteil nicht mehr abzuwarten, abgelehnt hat. ({12}) Als das Bundesverfassungsgerichtsurteil vorlag, war die spannende Frage: Was machen wir jetzt? Greifen wir das Thema auf und regeln es sozusagen für die Vergangenheit, um absolute Rechtssicherheit zu schaffen, oder schaffen wir diese Rechtssicherheit im Zuge der Neuregelung einer Pendlerpauschale, die angesichts der unterschiedlichen Ansichten in diesem Haus und innerhalb der Koalition im Hinblick auf die Zukunft nicht hinzubekommen ist? Wir Sozialdemokraten haben dazu gesagt: Lasst nicht zu, dass die Steuerbescheide vorläufig ergehen. Dazu hieß es wiederum: Das ist alles ganz klar; die Rückwirkung brauchen wir nicht zu regeln; lasst uns ein Eilgesetz machen; wenn wir das für die Zukunft regeln, dann lasst uns das auch für die Vergangenheit regeln; die Leute bekommen ihr Geld. - Dieselben Kollegen von der CSU, die es in der Finanz-AG abgelehnt haben, diese Sache zu regeln, haben über Herrn Seehofer eine Bundesratsinitiative eingebracht, um Rechtssicherheit zu schaffen. ({13}) Obwohl die Kollegen es in der Finanz-AG abgelehnt haben, das so zu regeln, wie wir das wollten, hat Herr Seehofer einen gleichlautenden Antrag eingebracht. Die entscheidende Frage ist eigentlich nicht: Pendlerpauschale - ja oder nein?, sondern: Wer hat den Schwarzen Peter? In diesem Fall gibt der Name einen Hinweis darauf, wo er hingehört. Wer sich die Entwicklung anschaut - angefangen beim Wahlprogramm -, stellt fest, dass der Schwarze Peter bei den Schwarzen ist. ({14}) Heute beenden wir diese Debatte und schaffen Rechtssicherheit. ({15}) Wir sorgen dafür, dass die Menschen, die lange Wege auf sich nehmen, um zum Arbeitsplatz zu kommen, wieder die Pendlerpauschale erhalten. Debatte hin, Debatte her, das ist ein gutes Ende, über das sich alle freuen können. Herzlichen Dank. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Volker Wissing hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, was wir uns von der Großen Koalition bieten lassen müssen. ({0}) Die einen behaupten, die CDU/CSU hätte die Pendlerpauschale abgeschafft; gleich werden wir von den anderen hören, dass die SPD die Pendlerpauschale abgeschafft hat. ({1}) Sie waren das beide! Sie haben beide zugestimmt. Sie waren beide anwesend, als alle Sachverständigen im Finanzausschuss unisono - auch die, die Sie benannt haben - erklärt haben, dass Ihre Regelung mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar ist, dass sie keinen Bestand haben kann. ({2}) Wenn man die Sachverständigen der Koalition gefragt hat, ob das verfassungskonform ist - ich erinnere mich noch genau daran -, dann lautete die Antwort: Natürlich nicht! Es gab nur einen in Deutschland, der wieder einmal alles besser wusste, und das war der sozialdemokratische Finanzminister, der darauf bestanden hat, dass die Regelung verfassungskonform sei, und sie durchgesetzt hat, und zwar auch mit den Stimmen der SPD, Herr Pronold. Sich jetzt hier hinzustellen und so zu tun, als habe man das gar nicht gewollt, das finde ich schon sehr scheinheilig. ({3}) - Dieser Einwand ist richtig. Roland Koch hat mitgemacht. Auch die CSU hat mitgemacht. Es ist doch so: Ohne die CSU hätte es die Kürzung der Pendlerpauschale nie gegeben. Die Wiedereinführung der vollen Pendlerpauschale erfolgt jetzt allerdings ohne die CSU, nämlich auf dem Umweg über das Bundesverfassungsgericht. Das finde ich äußerst bedauerlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Diese Regierung ist eine Regierung der Superlative. Nach der größten Steuererhöhung in der Geschichte unseres Landes kommt jetzt der größte Schuldenberg. Wir beraten heute den größten anzunehmenden Unfug, einen Super-GAU dieser Großen Koalition. In der Öffentlichkeit ist bekannt, dass unser Bundesfinanzminister eine Vorliebe für Nashörner hat. So betreibt er auch Finanzpolitik: Kopf runter und losstürmen statt innehalten und nachdenken. Wir haben umfangreiche Sachverständigenanhörungen durchgeführt und gehört, dass das nicht verfassungskonform ist. Ich meine, das war relativ leicht nachzuvollziehen. Aber nein, Sie wollten das unbedingt. Diese Nashornfinanzpolitik mag ja unterhaltsam sein; im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ist sie aber nicht. Während der Bundesfinanzminister seinen Egotrip locker fortgesetzt hat, haben die Finanzgerichte - eines nach dem anderen die Regelung nicht angewandt. Sie haben Vorlagebeschlüsse gefasst und erklärt, dass das auf dem Boden des Grundgesetzes so nicht machbar sei. Auch wir haben Ihnen das vorher gesagt. Diese Politik ist äußerst bedauerlich. Wenn wir heute schon darüber reden, will ich dieses schöne Beispiel nutzen, um zu zeigen, wo wir am Ende dieser Legislaturperiode der Großen Koalition stehen: Diese Koalition, diese Regierung hat unser Land nicht einen Millimeter vorangebracht. Wir führen jetzt genau das wieder ein, was wir hatten, bevor wir Sie hatten. ({4}) Wir erleben in diesen Tagen auch auf internationaler Ebene Steinbrück’sche Nashornpolitik. Die Schweiz bekommt es diesmal ab. Dort werden die siebte Kavallerie von Yuma oder die Peitsche angedroht. Ich finde das, ehrlich gesagt, peinlich. ({5}) - Nein. Ihr Zwischenruf, Herr Kollege Pronold, ist auch peinlich. ({6}) Ich finde diese Wortwahl des Bundesfinanzministers für die Bundesrepublik peinlich, und ich finde auch Ihren Zwischenruf peinlich. ({7}) Denn man kann auch gegen Steuerhinterziehung sein und sich auf internationalem Parkett wie ein normaler Mitteleuropäer benehmen und nicht wie ein Nashorn, das anderen Ländern Vorwürfe unter Niveau macht. ({8}) Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland diese Brachialrhetorik des Finanzministers langsam leid sind. ({9}) Man kann sie auch nicht gutheißen. Das Hickhack um die Entfernungspauschale war genauso peinlich wie unnötig, aber auch lehrreich. Die Bürgerinnen und Bürger konnten erfahren, wie schnell aus einer Regierungspartei in Berlin eine Oppositionspartei in München werden kann. Die CSU hat sich hier nicht mit Ruhm bekleckert. Ich erinnere mich noch, dass Sie im Wahlkampf in Bayern Unterschriften gesammelt haben mit dem Hinweis: Unterschreiben Sie gegen die Kürzung der Pendlerpauschale, sie ist verfassungswidrig! Kurze Zeit davor hatten Sie im Deutschen Bundestag die Hand für die Kürzung gehoben. Das ist eine peinliche Veranstaltung, die heute beendet wird. ({10}) - Ja, es ist für Sie vielleicht unangenehm, das zu hören. Sie stehen da wie begossen. Das muss man einmal sehen. ({11}) Sie führen jetzt das wieder ein, vor dessen Abschaffung wir immer gewarnt haben. Erst schaffen Sie etwas ab, dann führen Sie es wieder ein. Am Ende dieser Legislaturperiode kommen wir zurück auf den Anfang. Schade, denn es ist vertane Zeit für dieses Land. Wir haben hier im Deutschen Bundestag unnötige Debatten geführt. ({12}) Sie haben ohne Grund die Finanzverwaltung belastet. Sie hatten unrecht. Genauso haben Sie auch in den anderen finanzpolitischen Positionen, die der Bundesfinanzminister mit Vehemenz und der ihm eigenen Selbstgefälligkeit vertritt, schlicht und einfach unrecht. ({13}) Wir werden noch vieles abwickeln müssen, was Sie als Große Koalition auf den Weg gebracht haben. Schön, dass wir heute einen Schritt weiter sind. Wir sind da, wo wir ohne Sie schon einmal waren. Vielen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat als Nächster der Kollege Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Seit das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungswidrigkeit der gekürzten Pendlerpauschale entschieden hat, ist ungefähr ein gutes Vierteljahr vergangen. In dieser Zeit hat es bei den über 15 Millionen Pendlerinnen und Pendlern immer wieder viel unnötige Verwirrung und Aufregung gegeben. ({0}) Dies lag vor allem an dem Vorläufigkeitsvermerk, der in den geänderten Steuerbescheiden gedruckt war. ({1}) Rein formal ist dieser Vermerk nicht zu beanstanden. Man muss dazu sagen, dass in den Bescheiden versucht wurde, die Vorläufigkeit zu erklären. Die Ursachen der Vorläufigkeit waren abgedruckt. Trotzdem hat dieser Vermerk bei vielen Menschen die Angst geweckt, dass die Finanzämter die mit den neuen Steuerbescheiden ausgezahlten Steuererstattungen später wieder eintreiben könnten. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass der Bundestag nun ein Gesetz verabschiedet, welches die vor dem 1. Januar 2007 bestehende Regelung aufgreift und formal Rechtssicherheit schafft. ({2}) Die punktgenaue und unbefristete Wiederherstellung der alten Entfernungspauschale ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts der richtige und konsequente Schritt. Es war die Große Koalition - es waren die SPD und die Union; es war der SPD-Finanzminister -, die vor dem Bundesverfassungsgericht verloren hat. Ich meine, das sollten wir akzeptieren. Ich bedaure wirklich, dass die SPD jetzt versucht, sich davonzuschleichen. ({3}) Erlauben Sie mir den Hinweis, dass die im Jahr 2006 beschlossene unpopuläre Änderung der Pendlerpauschale niemandem aus meiner Fraktion leichtgefallen ist. Das will ich auch der SPD unterstellen. Aber aus damaliger Sicht waren diese Änderungen dringend notwendig; ({4}) denn wir mussten den Bundeshaushalt, den wir von RotGrün geerbt hatten, sanieren. ({5}) Das strukturelle Defizit betrug damals fast 60 Milliarden Euro. Manch einer wirft uns jetzt eine gewisse Einfallslosigkeit vor: Wie langweilig und unspektakulär, dass wir einfach die alte Rechtslage wiederherstellen; wir drücken sozusagen auf den Reset-Knopf. Das ist aber genau das, was die Menschen wollen. Genau das halten wir in dieser Situation für richtig. Denn die Wahrheit ist: Wir, die Union, haben bereits kurz nach der Urteilsverkündung die Wiederherstellung der alten gesetzlichen Regelung verlangt. ({6}) Es geht darum, die vorläufige Regelungslage zur Entfernungspauschale in Anbetracht des Urteils des Bundesverfassungsgerichts durch eine gesetzlich klar festgelegte Regelung zu ersetzen. Das erwarten die Menschen in diesem Land. Sie erwarten von der Politik zu Recht, dass sie für Rechtssicherheit und Planbarkeit sorgt. Jede andersgeartete Neugestaltung der Pendlerpauschale hätte vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nur für noch mehr Verwirrung und Unsicherheit gesorgt. ({7}) Von einer isolierten Überarbeitung der Pendlerpauschale halte ich sowieso nichts. Was wir brauchen, ist kein weiteres Herumbasteln und Herumdoktern am bestehenden System, sondern ein einfaches, transparentes und damit gerechteres Einkommensteuerrecht. ({8}) Das ist auch die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts: Einen zulässigen Systemwechsel kann es ohne ein Mindestmaß an neuer Systemorientierung nicht geben. So äußerte sich das Bundesverfassungsgericht wörtlich. Außerdem stellte das Gericht fest, dass eine Änderung der Einbettung in ein Grundkonzept bedarf. Die Union will in der nächsten Legislaturperiode eine Reform der Einkommensteuer durchführen. Sie soll einfacher, transparenter, gerechter und damit unter dem Strich auch niedriger werden. ({9}) Es ist gut, dass wir bis zur Wiederherstellung der alten Regelung zumindest diejenigen entlasten bzw. denjenigen etwas zurückgeben, die jeden Morgen früh aufstehen, um teilweise weite Strecken zu ihrer Arbeitsstätte auf sich zu nehmen, und die mit der Lohnsteuer, die sie zahlen, einen entscheidenden Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwesens leisten. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesfinanzminister, SPD, im Dezember letzten Jahres die Leviten gelesen: Die 2006 beschlossene Abschaffung der alten Pendlerpauschale ist verfassungswidrig. Das war eine schallende Ohrfeige für den Mann, der versucht hat, ein bestätigtes Steuerprinzip, wonach alle beruflich bedingten Kosten vom Einkommen der Steuerpflichtigen abzuziehen sind, zu untergraben. Nicht zu vergessen ist auch das Hickhack in der Großen Koalition im Hinblick auf die Pendlerpauschale: Keiner wollte und will für ihre Abschaffung verantwortlich sein, die SPD nicht, die CDU nicht und die CSU erst recht nicht. Alles in allem ist das ein Armutszeugnis für die Große Koalition. ({0}) Auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts halten sich die Koalitionsparteien offen, die Pendlerpauschale nach der nächsten Bundestagswahl abzuschaffen oder zu kürzen. Noch am Tag der Urteilsverkündung stellte der Bundesfinanzminister sofort klar: Wir werden uns das Geld nicht an anderer Stelle zurückholen. Das verträgt die derzeitige Konjunkturlage nicht. Was heißt das für die Zukunft? Dass zu Beginn des Jahres nur vorläufige Bescheide erlassen wurden, spricht eine deutliche Sprache. ({1}) Am 6. Februar dieses Jahres verlautbarte das Bundesfinanzministerium: … eine gesetzliche Neuregelung … ist auch für diese Legislaturperiode nicht vorgesehen … Wie eine künftige endgültige Regelung der Pendlerpauschale aussieht, hängt von den Entscheidungen des nächsten Bundestages ab. Damit wären die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler rechtlich weiterhin im Unklaren gelassen worden - als ob die Menschen aufgrund der dramatischen Wirtschafts- und Finanzkrise nicht ohnehin verunsichert genug wären. ({2}) Immerhin haben Sie die alte Pendlerpauschale jetzt auf öffentlichen Druck hin wieder eingeführt. Damit erfüllen Sie eine alte Forderung der Fraktion Die Linke. ({3}) Herr Pronold, Sie haben vorhin die Position der anderen Fraktionen aufgezählt. Uns haben Sie beschämenderweise weggelassen. ({4}) Seit Juni 2006 haben wir Ihnen in diesem Hause dreimal die Möglichkeit gegeben, gegen die verfassungswidrige und ungerechte Abschaffung zu stimmen. Wir haben das dreimal gefordert, auch in namentlicher Abstimmung. Obwohl die CSU vorher so laut getönt hat, hat sie im vergangenen Jahr gegen ihre eigene Unterschriftensammlung gestimmt. Auch Sie von der SPD sind dem Koalitionsduktus gefolgt. Jetzt bestünde die Chance für eine gerechte und verfassungsmäßige Neuregelung. Von der alten Pendlerpauschale profitieren besonders Steuerpflichtige mit hohem Einkommen. Das ist bei der Progression nun einmal so. Ich stelle dies anhand eines Beispieles dar: Ein alleinstehender Maurer hatte 2008 einen Weg von 40 Kilometern zur Arbeit zurückzulegen. Er arbeitete an 220 Tagen im Jahr. Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 20 000 Euro erhält er eine Erstattung von 736 Euro. ({5}) Wäre er Journalist mit einem Jahreseinkommen von 60 000 Euro, würde er 1 108 Euro sparen. An diesem Beispiel sehen wir, dass die Entlastung nicht gleichmäßig ist. Wer so wenig verdient, dass er gar keine Steuern zahlt, hat sowieso nichts von der Pendlerpauschale. Die Besserverdienenden wären hiermit bevorzugt. Deshalb schlagen wir Ihnen eine andere Regelung vor, und zwar den direkten Abzug von der Steuerschuld. ({6}) Damit bekäme jeder Steuerpflichtige, unabhängig von seinem Einkommen, den gleichen Betrag pro Kilometer erstattet. ({7}) Für eine wirklich gerechte Lösung wäre das ein erster Schritt. Aber eines ist klar: Ohne eine Neuregelung, die dafür sorgt, dass die Menschen für die Arbeit, die sie leisten, ordentlich bezahlt werden, ohne einen Mindestlohn - wir fordern einen Mindestlohn von 8,71 Euro -, ({8}) vernünftige Löhne und ordentliche Lohnsteigerungen wird es an den notwendigen Stellen keine Entlastung geben. Die Pendlerpauschale ist kein Ruhmesblatt der Großen Koalition, besonders nicht des Bundesfinanzministers. Wir sind aber froh, dass heute wenigstens in diesem Punkt eine gewisse Klarheit erzielt wird. Ich danke Ihnen. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht die Kollegin Christine Scheel für Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es ist schon bedauerlich, dass es innerhalb der Großen Koalition ein monatelanges Schauspiel gegeben hat, dass es Schuldzuweisungen bei der Frage gab, wer denn das eine oder das andere fordert - Herr Pronold hat gerade wieder ein Beispiel dafür gegeben -, und dass diese ganze Auseinandersetzung dazu geführt hat, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in eine ernsthafte Politik ziemlich erschüttert wurde. Die Leute haben die permanenten Schuldzuweisungen einfach satt. Sie wollen eine Politik, die verfassungskonform ist, die keine verfassungswidrigen Entscheidungen trifft, und sie wollen auch nicht, dass man sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuschiebt. Die Bürger sehen das Ganze eher als peinlich an. Dieses Schauspiel ist am Ende so ausgegangen - das haben wir gerade gehört -, dass das Bundesverfassungsgericht einschreiten musste, obwohl viele der Beteiligten sehr wohl wussten, dass diese Regelung verfassungswidrig ist. Es ist schlimm, wenn man immer wieder abwarten muss, bis das Verfassungsgericht die Anweisung gibt, wie denn zu handeln ist, nur weil in der Großen Koalition keine Einigung herrscht. ({0}) Dies ist heute schon der zweite Tagesordnungspunkt, auf den das zutrifft. Ich finde, das ist nicht gerade ein gutes Zeugnis für die politische Arbeit dieser Großen Koalition. Die Bürgerinnen und Bürger haben jetzt Rechtssicherheit; das begrüßen wir. Wir sehen auch, dass das Chaos, das Sie an den Finanzämtern angerichtet haben, endlich beendet ist. Auch die Verunsicherung von Millionen von Berufspendlern ist jetzt beendet. Sie haben aber in der Konsequenz im Hinblick auf die Haushaltslage etwas ausgelöst, was sich für die gesamte Politik als sehr schwierig gestaltet. Wir haben nämlich im Jahr 2009 ungeplante Steuerausfälle für Bund, Länder und Gemeinden in einer Größenordnung von bis zu 6 Milliarden Euro. Dies war in der gesamten Finanzplanung so nicht vorgesehen. Das heißt, dass aufgrund Ihrer chaotischen Politik die Neuverschuldung in diesem Jahr noch einmal ansteigt. Das ist eine Belastung für die nächsten Generationen, die Sie mit zu verantworten haben. ({1}) Wir haben immer wieder darüber diskutiert, welche verfassungskonforme Lösung es geben könnte. Es gibt viele Vorschläge. Der Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht uns als politisch Verantwortliche eingeräumt hat, ist relativ groß. Wir hätten es als Fraktion richtig gefunden, wenn Sie nicht erst im Wahlkampf Vorschläge unterbreitet hätten. Herr Kollege Gutting hat gesagt, eine Reform der Einkommensteuer stehe an. Es solle alles sozialer, gerechter und einfacher werden. Die Union hatte einmal vorgeschlagen, die Pendlerpauschale ganz abzuschaffen. Das war Herr Professor Kirchhof mit seinem einfachen Steuerrecht. Die FDP hat vorgeschlagen, die Pendlerpauschale ganz abzuschaffen. Die SPD hat aktuell vorgeschlagen, die Pendlerbelastungen von der Steuerschuld abzuziehen. Die Linken haben sich jetzt auch dazu geäußert. Bei uns wird über ein Mobilitätsgeld diskutiert. Ich hätte es für richtig gehalten, dass die Große Koalition nicht nur dafür sorgt, dass der alte Rechtszustand wiederhergestellt wird, was unausweichlich ist, sondern dass Sie jetzt auch sagen, was denn danach passiert. Das sollte nicht wieder auf die lange Bank geschoben werden. Wir fordern mehr Ehrlichkeit in der Sache ein. Die Koalitionsfraktionen sollten sich klar dazu bekennen, welche Regelungen sie anstreben, und zwar jede Fraktion für sich. ({2}) Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab, weil er den Bürgerinnen und Bürgern eine zukunftsfähige Regelung vorenthält und wir dieses politische Spiel nach dem Motto „Im Wahlkampf wird alles Mögliche versprochen“ nicht unterstützen wollen. Danke schön. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Als nächstes hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für unsere Pendler und für unsere leistungsbewussten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich freue mich, dass die Gesetzeslage von 2006 hinsichtlich der Entfernungspauschale wieder gilt. Das ist ein richtiger Weg. Ich betone, dass die CSU für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer geworben hat. ({0}) Wir haben auch dafür gekämpft. Nach Inkrafttreten des Gesetzes wurden anhand vieler Beispiele die BenachteiDr. h. c. Hans Michelbach ligung und der Verlust der Leistungsgerechtigkeit für Pendler deutlich. Es war in der Tat ein Fehler, die Pendlerpauschale derart zu gestalten. ({1}) - Herr Pronold, es gehört zur politischen Kultur, zugeben zu können, dass man einen Fehler begangen hat. Es nützt Ihnen deshalb nichts, Ablenkungsmanöver, Geschichtsklitterung und Märchenstunden zu veranstalten. ({2}) Tatsache ist, dass jetzt eine Lösung gefunden wurde. Bundesfinanzminister Steinbrück, der dafür zuständig ist, hat damals gesagt: Ich halte das Werkstorprinzip für die einzig richtige Bewertung. - Die Betrachtung des Haustürprinzips ist richtig. ({3}) Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Dezember vergangenen Jahres, das die Neuregelung der Pendlerpauschale ab 2007 für verfassungswidrig erklärt hat, war gesetzgeberisches Handeln noch in dieser Legislaturperiode geboten. ({4}) Ich muss ganz deutlich sagen: Wir hatten der Argumentation des Bundesfinanzministers Glauben geschenkt, dass die Veränderung der Pendlerpauschale verfassungsgemäß sei. Alle Bedenken wurden im Finanzausschuss immer wieder vom Tisch gewischt. ({5}) Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht. ({6}) Mit der gesetzlichen Wiederherstellung der alten Pendlerpauschale wird heute ein unnötig lange andauernder Unsicherheitsfaktor beseitigt. Wir schaffen heute Rechtssicherheit für die vielen Berufspendler in unserem Land. Der wesentliche Punkt ist, dass wir hier wieder an einem Grundprinzip festhalten. ({7}) Dieses Grundprinzip ist für uns gerade in der Steuer- und Finanzpolitik unabdingbar und muss immer lauten: Leistung muss sich lohnen. ({8}) Wir haben hier leistungswillige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht leistungsgerecht behandelt. Das ist eine Tatsache. Deswegen sollten wir jetzt gemeinsam erkennen, dass es einen besseren Weg gibt, nämlich den, über den wir heute entscheiden. ({9}) Als Gebot der Stunde muss natürlich noch ein weiteres Grundprinzip realisiert werden: mehr Netto vom Brutto. ({10}) Wir müssen hinsichtlich der Einkommen- und der Lohnsteuer eine weitere Reform auf den Weg bringen, weil es nicht sein kann, dass man nach einer Lohnerhöhung um 1 Prozent 2 Prozent mehr Steuern zahlen muss. Ich glaube, dass wir mit der Pendlerpauschale auf einem guten Weg hin zu mehr Leistungsgerechtigkeit sind. ({11}) Wir alle müssen jetzt dafür arbeiten, dass zwingend mehr Netto vom Brutto übrig bleibt, damit die Leistungsträger in unserem Land motiviert anpacken und Vertrauen in unser Gemeinwesen zurückgewinnen. Das ist die entscheidende Frage. Die Menschen wollen jetzt keinen Wahlkampf. Sie haben einen Anspruch auf Sacharbeit und erfolgreiches Krisenmanagement. Das ist der entscheidende Punkt. Krisenmanagement jetzt erfolgreich gestalten: Dazu gehört die Entlastung bei Steuern und Abgaben. Das ist der richtige Weg. Deswegen sollten wir stolz auf die heutige Entwicklung sein. Meinen herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12299, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12099 anzunehmen. Wer stimmt für diesen Gesetzentwurf? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung der Großen Koalition, der FDP und der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf ist, der möge sich bitte erheben. - Die Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung bei gleichem Stimmenverhältnis wie vorher angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({1}), Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern - Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit - zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit Für eine tatsächliche Chancengleichheit von Frauen und Männern - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern wirksam durchsetzen - Drucksachen 16/8784, 16/11175, 16/11192, 16/12265 Berichterstattung: Abgeordnete Michaela Noll Caren Marks Jörn Wunderlich Es ist vorgesehen, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist die Kollegin Dr. Eva Möllring für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Dr. Eva Möllring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Woran liegt es, dass Frauen in Deutschland so viel weniger verdienen als Männer? Ich sage Ihnen erst einmal, woran es nicht liegt, nämlich nicht daran, dass Frauen weniger arbeiten als Männer. ({0}) Ich finde es nicht in Ordnung, dass manche Damen und Herren von den Sozialdemokraten und auch von den Grünen in trauter Übereinstimmung mit Wirtschaftsvertretern immer wieder sagen: Wenn die Frauen nur halbtags arbeiten, dann sind sie selbst daran schuld. Sollen sie doch Vollzeit arbeiten! ({1}) Das ist unredlich. ({2}) - Hören Sie zu! Das scheint ja zu sitzen. ({3}) Der Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männern von 23 Prozent bezieht sich auf den Vergleich von Vollzeitstellen und steigt beim Stundenlohn noch an. Deswegen ist es eine Unverschämtheit, was Sie erklären. Neulich bin ich bei einem Interview mit einer Kollegin von Ihnen zusammengetroffen, Frau Scheel, die genau das gesagt hat. Ich nenne jetzt ihren Namen nicht, aber später kann ich das gerne tun. Es ist eine Unverschämtheit, den Frauen zu sagen: „Jetzt arbeitet mal ordentlich! Dann verdient ihr auch ordentlich Geld.“ Die Gründe liegen woanders. Ich nenne drei entscheidende Punkte. Erstens die Berufswahl von Frauen einerseits und Männern andererseits. ({4}) - Hören Sie einfach einen Moment zu! Das kann Ihnen nicht schaden. ({5}) Gerade im Bereich der Berufswahl von Frauen und Männern ist in letzter Zeit Erhebliches erreicht worden. ({6}) Denn wer sich damit befasst, was in den Kommunen in den Kindertagesstätten, in der frühkindliche Erziehung, in den Schulen, bei der Expo und der CeBIT dafür getan wird, um Frauen für technische Berufe zu begeistern, der sieht, dass wir erhebliche Fortschritte gemacht haben. ({7}) Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich der CDU-Bundesbildungsministerin, Frau Schavan, die diese Maßnahmen finanziell und ideell sehr stark unterstützt. ({8}) Zweitens die Arbeitsbewertung. Dabei sind die Gewerkschaften gefragt. Es ist eine erhebliche HerausforDr. Eva Möllring derung, zu einem gerechten Bewertungssystem zu kommen, weil auch in den Gewerkschaften sehr wenige Frauen an der Spitze sind. Drittens Frauen in Führungspositionen. Rollenklischees sind durch das Elterngeld und die Partnermonate gebrochen worden. Das ist ein hervorragender Ansatz von unserer Ministerin von der Leyen, der in der nächsten Wahlperiode noch verstärkt werden muss. ({9}) - Genau. Sie haben mitgestimmt. Auch das Vergaberecht richtet sich an der Förderung von Frauen aus. Die entscheidende Baustelle ist noch die Förderung von Führungspositionen in Teilzeit. Dafür muss einiges getan werden. Der Arbeitgeber muss in die Pflicht genommen werden, mit den Teilzeit arbeitenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Gespräche zu führen, um zu testen, wie man Frauen noch besser in Verantwortung bringen und vor allem nach Auszeiten wieder in den Beruf und in verantwortliche Positionen hineinbringen kann. Ihre Lösungen scheinen dagegen nicht weiterzuführen. Dazu zählt erstens die Quote. Über die Quote von Aufsichtsräten können wir gerne diskutieren. ({10}) Aber was hilft es der Frau am Schreibtisch, die nicht die Chance hat, in einem Aufsichtsrat zu landen, sondern die selber nur eine Position höher kommen will? ({11}) Ihr zweiter Lösungsansatz ist der Mindestlohn. Das Land in Europa, in dem die geringsten Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern bestehen - er beträgt 4,4 Prozent -, ist Italien. Italien hat keinen Mindestlohn. An zweiter Stelle steht Malta, das im Januar 2009 einen Mindestlohn von 3,67 Euro festgesetzt hat. Das dritte Land ist Polen. Polen hat im Januar dieses Jahres einen Mindestlohn von 2,10 Euro festgesetzt. Nun können Sie selber die Frage beantworten, ob der Mindestlohn Frauen in Führungspositionen bringt. ({12}) - Also wirklich, Sie können überhaupt nicht mehr zuhören. ({13}) Ihre dritte Lösung betrifft das Verbandsklagerecht. Das Problem bei den Klagen um einen besseren Lohn ist nicht die Tatsache, dass die Frauen keine juristischen Möglichkeiten haben, sondern dass ihr persönlicher Fall offenkundig wird und sie dann im Arbeitsverhältnis große Schwierigkeiten bekommen werden. Dieses Problem werden Sie auch nicht durch das Verbandsklagerecht lösen, weil auch bei einem Verbandsklageverfahren immer der Einzelfall deutlich gemacht werden muss. Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber Sie mussten es sich jetzt anhören. Ich danke für Ihre große Aufmerksamkeit. Vielen Dank für Ihr Zuhören. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ina Lenke ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Kollege hat zu mir gesagt: Wenn die Damen doch weniger streiten und mehr regieren würden! - Ein bisschen Wahrheit steckt darin. ({0}) Ich will nun zu unserem Thema kommen. Sehr geehrter Herr Rix, gleiche Leistung, weniger Lohn: Wie wir alle wissen, verdienen Frauen im Durchschnitt circa 25 Prozent weniger als Männer. Studien der OECD, der EU und des Statistischen Bundesamtes belegen das sehr deutlich. Es ist traurig - das muss uns alle ärgern -, dass Deutschland im europäischen Vergleich beim Entgeltunterschied zwischen Männern und Frauen auf dem viertletzten Platz liegt. Ein Bankkaufmann erhält durchschnittlich 4 125 Euro, während eine Bankkauffrau 3 049 Euro verdient. Ähnliche Unterschiede gibt es auch zwischen Verkäuferinnen und Verkäufern, Büroleiterinnen und Büroleitern. Überall werden Frauen schlechter bezahlt als Männer und verdienen durchschnittlich 25 Prozent weniger. Warum ist das so? Ich möchte gerne auf Ihren Vorschlag zu sprechen kommen, meine Damen und Herren von SPD und Grünen. Sie wollen ein Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft. Nach Meinung der FDP ist das nicht die Lösung. Auch das Bundesgleichstellungsgesetz für die Bundesverwaltung und die Gerichte des Bundes hat nicht immer, wie wir alle wissen, zu gleicher Bezahlung geführt; darüber gibt es Berichte. Hier wurde zum Beispiel die Möglichkeit der Teilzeitarbeit erweitert, um auch Vätern Teilzeitarbeit schmackhaft zu machen. Genutzt haben diese Möglichkeit im Ergebnis nur weibliche Angestellte. Die Teilzeitrate stieg bei ihnen stetig an. Wenn die Quote von 92 auf 93 Prozent steigt, dann frage ich mich, ob ein solches Gesetz der richtige Weg ist. Wir alle wissen, dass die Lohnungleichheit in Deutschland viele Ursachen hat. Frau Möllring hat richtigerweise das fehlende Angebot der Kleinkindbetreuung in Krippen und das mangelnde Angebot an Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten für unter Dreijährige genannt. Wenn Kinder 70 Arbeitstage Schulferien haben, während die Arbeitnehmer nur 30 Tage Urlaub haben, dann führt das in der Regel dazu, dass die Ehepartner nie zur gleichen Zeit Urlaub machen können. In meinem Wahlkreisbüro hat eine Dame 14 Tage unbe22816 zahlten Urlaub genommen, damit sie einmal drei Wochen zusammen mit ihren Kindern Urlaub machen kann. Das muss man sich einmal vorstellen! Besonders für Alleinerziehende ist das ein Jobkiller. Karrieren sind dann natürlich ausgeschlossen. Ich möchte noch etwas anderes wiederholen, was Frau Möllring gesagt hat, weil das für die Öffentlichkeit wirklich wichtig ist. Junge Frauen sehen für sich nur ein enges Berufsspektrum: Arzthelferinnen, Friseurinnen, Verkäuferinnen, Büroangestellte. Hier lassen junge Frauen sehr oft außer Acht, dass das Gehalt in diesen Berufen niedrig ist und die Aufstiegsmöglichkeiten gleich null sind. Information und Aufklärung in Schule und Elternhaus sind daher - wir kennen keine andere Lösung - sehr wichtig. Das müssen wir vonseiten der Politik unterstützen. Ein weiterer Punkt ist die sogenannte Teilzeitfalle. Jemand, der Teilzeit arbeitet, hat wenige Aufstiegschancen. In diesem Zusammenhang ist auch das veraltete Lohnsteuerklassensystem zu sehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, egal welcher Couleur, in der nächsten Legislaturperiode muss die Steuerklasse V abgeschafft werden. ({1}) Wer auch immer von der SPD gleich redet, kann gerne etwas gegen meine Argumente sagen. Aber ich finde, es soll jetzt endlich etwas passieren. Ein weiterer Punkt ist die fehlende Familienfreundlichkeit in den Betrieben. Flexible Arbeitszeiten sind wichtig. Elterngeld und Elternzeit muss es auch für junge Väter geben. Die Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit bei den Kinderbetreuungskosten muss auch für den öffentlichen Dienst gelten; das ist bisher nicht der Fall. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat in einer Broschüre super Vorschläge gemacht. ({2}) Diese können umgesetzt werden, Frau Schewe-Gerigk. Oft ohne finanziellen Mehraufwand können die Betriebe für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Dort werden wirklich gute Beispiele genannt, die einfach sind und die jeder versteht. Die Baustellen in Deutschland bei der Schaffung echter Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern sind von den Tarifparteien, insbesondere von der Politik und der Wirtschaft sowie manches Mal - das will ich deutlich sagen - von den Frauen selbst zu beseitigen. Heute hat die Familienministerin einen Vorschlag aus der Schweiz übernommen und zum Einsatz des Selbsttestinstruments Logib in Deutschland aufgefordert. ({3}) Mit diesem Selbsttest können die Unternehmen die Lohnschere zwischen den Geschlechtern überprüfen. Ich hoffe, dass sich dadurch einiges ändern wird. Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Schluss. Die FDP fordert die Bundesregierung unter anderem auf, sich mit den Unternehmen und Sozialpartnern sowie im öffentlichen Dienst für eine Dienststrukturerhebung und Überprüfung von Stellenbeschreibungen einzusetzen, um auf dieser Grundlage Lohnfindungssysteme und gegebenenfalls unterschiedliche Verfahren bei der Arbeitsbewertung auch im Hinblick auf die Entgeltgleichheit zu überprüfen, das Steuerrecht auf Geschlechtergerechtigkeit abzuklopfen, das Elterngeldgesetz zu überarbeiten usw. Ich kann das leider nicht weiter ausführen; denn ich habe meine Redezeit um eine Minute überzogen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Genau.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hoffe, wir finden andere Beispiele dafür, wie wir uns im Bundestag dafür einsetzen können, mehr Geschlechtergleichheit im Arbeitsleben herzustellen. Danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Gradistanac für die Fraktion der SPD. ({0})

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Der Schauspieler Mario Adorf sagte: Ein erfolgreicher Mann ist ein Mann, der mehr verdient, als seine Frau ausgeben kann. Eine erfolgreiche Frau ist eine, die so einen Mann findet. ({0}) Man sollte meinen, dass solch eine verstaubte Äußerung als schlechter Witz belächelt wird, aber von wegen! Die Vorsitzende der Gruppe der Frauen der CDU/CSUFraktion, Frau Fischbach, meinte kürzlich: Die männlichen Kollegen sehen sich eher in der Ernährerrolle und können nicht alles mittragen. ({1}) Frau Fischbach, es wird Zeit, dass Sie und Ihre Kollegen von der CDU/CSU die verstaubten Rollenbilder modernisieren. Frauen wollen keine Anhängsel ihrer Männer sein; Frauen wollen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. ({2}) Frau Möllring und ich haben ein Dreivierteljahr lang - ich wiederhole: ein Dreivierteljahr - intensiv über einen Antrag zum Thema Entgeltgleichheit verhandelt. Dann wurde nicht einmal ein minimaler Konsens gefunden. Ihre Rede heute war natürlich auch für die Katz. ({3}) - Da hätte ich schon mehr erwartet, nachdem wir uns in Teilen einig waren. ({4}) Herr Singhammer, Sie waren als frauenpolitischer Sprecher der CDU/CSU nicht bereit, für diesen Antrag zu kämpfen, und haben kläglich versagt. Ich bin da auch persönlich sehr enttäuscht. ({5}) Ihr Versagen zeigt sich auch in Ihrem Fraktionsbeschluss zur Bekämpfung der Entgeltungleichheit. Appelle und freiwillige Vereinbarungen - das haben wir jetzt wirklich gelernt - führen nicht zum Erfolg. ({6}) Bei der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen in New York haben wir über die für Männer und Frauen unterschiedlichen Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise gesprochen. Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, geht davon aus, dass Frauen gegenüber Männern eine schwächere Position haben, wenn es darum geht, sich der Finanz- und Wirtschaftskrise zu widersetzen. Ursachen hierfür sind die geringe Erwerbsquote von Frauen, ihre schwächere Kontrolle über Eigentum und Ressourcen und die Konzentration von Frauen in informeller und gefährdeter Beschäftigung mit geringeren Verdiensten und geringerem sozialem Schutz. Für den sozialdemokratischen EU-Kommissar Spidla ist die Angleichung der Löhne von Frauen und Männern nicht nur in der Krise ein moralisches und ökonomisches Gebot. Deshalb brauchen wir verbindliche Regelungen und Gesetze. Zu dieser Ansicht kommt übrigens auch der CEDAW-Ausschuss. ({7}) Nur durch eine aktive Gleichstellungspolitik können wir die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern endlich schließen. Es gibt genügend Berichte und Analysen zu den Ursachen des Unterschiedes von circa 23 Prozent. Deswegen bekommen Frauen übrigens auch deutlich weniger Rente als Männer und haben im Alter ein höheres Armutsrisiko. Wir von der SPD-Fraktion fordern deshalb erstens die Veränderung von Strukturen mit den Instrumenten Gender Mainstreaming und Gender Budgeting. ({8}) - Wenn Sie die Verhandlungen zwischen Frau Möllring und mir verfolgt hätten, wüssten Sie, wo ich stehe. Leider sind Gender Mainstreaming und Gender Budgeting für viele immer noch Fremdwörter. Zweitens fordern wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, drittens ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft und viertens eine Quote von 40 Prozent für die Besetzung von Aufsichtsräten. ({9}) Um gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit durchzusetzen, fordern wir fünftens einen Diskriminierungscheck für Lohnverträge ({10}) und sechstens - dies wird Sie jetzt nicht verwundern ein schärferes Antidiskriminierungsgesetz. ({11}) Angesichts des morgigen Equal Pay Days, bei dem die Frauenministerin ihren großen Auftritt hat, gebe ich Ihnen ein Zitat von Abraham Lincoln mit auf den Weg - dies ist besonders an Sie gerichtet, meine Damen und Herren von der CDU/CSU -: Wenn du nur das tust, was du immer getan hast, wirst du auch nur das bekommen, was du schon immer bekommen hast. ({12}) Dass Frauen im Jahr 2009 in unserem Land im Durchschnitt fast ein Viertel weniger verdienen als Männer, ist eine Schande. Danke schön. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat nun das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Bis zum Jahr 1957, in dem ich geboren wurde, mussten sich Frauen in der Bundesrepublik Deutschland ihren Arbeitsvertrag von ihrem Ehemann genehmigen lassen. Bis zum Jahr 1977 waren Frauen verpflichtet, sich um das Hauswesen zu kümmern. Heim und Herd waren eine Domäne der Frau, Arbeit war eine Domäne des Mannes. So war das Familien- und Ehebild in der Bundesrepublik: eine heterosexuelle Idylle unter dem Regime des Mannes. Schön, nicht, Herr Singhammer? Sie nicken so. ({0}) 1957 besann man sich zum Glück auf den Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes. Die Bundesrepublik verpflichtete sich in jenem Jahr zur Entgeltgleichheit von Mann und Frau. Man kann es kaum glauben: 52 Jahre später sind wir von diesem Ziel weit entfernt. Konkret heißt dies beispielsweise, dass in die Bewertung der Arbeit einer Altenpflegerin ihre körperliche Belastung nicht mit einfließt, in die Bewertung der Arbeit eines Hausmeisters sehr wohl; er erhält mehr Entgelt. Tätigkeiten, die zumeist selbstverständlich von Frauen ausgeübt werden, werden nicht in gleicher Weise bewertet und damit auch nicht in gleicher Weise entlohnt wie die Tätigkeiten ihrer männlichen Kollegen. Im Jahr 2009 ist dies immer noch die bittere Wahrheit. Fakt ist, die Lohnschere zwischen Frauen und Männern ist in den letzten Jahren sogar noch weiter auseinandergegangen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Viele Frauen arbeiten in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, viele Frauen arbeiten in Teilzeitjobs, viele Frauen werden in ihrer Karriere benachteiligt, und viele Frauen arbeiten im Niedriglohnsektor. Meine Damen und Herren von der Großen Koalition - dies gilt auch für die Vorgängerregierung, die rot-grüne Koalition -, Sie sind an dieser Entwicklung mitschuldig: ({1}) Ihre Arbeits- und Sozialpolitik führte zum Ausbau des Niedriglohnsektors. Ihre Einführung von Hartz IV hat das Lohnniveau in den unteren Beschäftigungsverhältnissen nach unten gedrückt. ({2}) Ihre Politik hat zu einer Umgehung des Kündigungsschutzes und zu einem Ausbau ungesicherter Arbeitsverhältnisse geführt. Ihre Sozialpolitik ging und geht zulasten von Frauen. Sie haben die Lohnschere weiter geöffnet. ({3}) Frau Möllring, Sie haben sich heute nicht einmal mehr die Mühe gemacht, irgendwelche Ansätze zu formulieren. Ich habe darauf gewartet, dass Sie Appelle an die Wirtschaft richten, freiwillige Vereinbarungen abzuschließen, oder Ähnliches. Nichts. ({4}) Ihre Bundesregierung hat sich im Vorjahr zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und dazu verpflichtet, den Entgeltabstand bis zum Jahr 2010 auf 15 Prozent zu verringern. Bis zum Jahr 2015 soll er nur noch 10 Prozent betragen. Wie denn, bitte schön? Antworten gehören auf den Tisch. ({5}) Wir brauchen endlich einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,71 Euro, ({6}) der bald auf 10 Euro angehoben werden muss. Wir brauchen ein sogenanntes proaktives Gesetz, das die Tarifparteien zu einer diskriminierungsfreien Entgeltbewertung verpflichtet. Die Tätigkeiten müssen tatsächlich diskriminierungsfrei bewertet werden. ({7}) Wir brauchen ein Verbandsklagerecht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, damit das AGG nicht weiter ein zahnloser Tiger bleibt. Wir benötigen eine Antidiskriminierungsstelle, die vom Familienministerium abgekoppelt wird und ihrer Aufgabe tatsächlich gewachsen ist. ({8}) Heute liegen drei Anträge der Opposition vor. Die SPD hat verkündet, was sie will. Ich frage Sie: Mit wem wollen Sie das umsetzen? Dieser Frage müssen Sie sich stellen. In den letzten Jahren sind Sie hier Antworten schuldig geblieben. Sie haben es in Ihrer Koalition nicht geschafft, etwas durchzusetzen, im Gegenteil. Heute hätten Sie die Möglichkeit, unserem Antrag zuzustimmen. Das wäre ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. Danke. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Ministerin ist nicht da, sie will dieser wichtigen Debatte fernbleiben. ({0}) Anlässlich des Equal-Pay-Day demonstrieren morgen Frauen mit roten Taschen gegen rote Zahlen und dagegen, dass Frauen im 21. Jahrhundert immer noch 23 Prozent weniger Geld bekommen als Männer. Mit dem Motto „Wer etwas ändern will, muss auch handeln“ sind wir angesprochen, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ganz besonders die Regierung. Das Regierungshandeln beschränkt sich auf das Schreiben von Pressemitteilungen und auf das Erstellen von Computerprogrammen. Es ist gut, dass die Grünen nicht mehr die Einzigen sind, die das Thema Entgeltgleichheit immer wieder auf die Tagesordnung bringen. ({1}) Auch EU-Arbeitskommissar Spidla wiederholt es geradezu gebetsmühlenartig: Die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern liegen in der EU bei 17 Prozent. Deutschland schafft es auf einen der hintersten Plätze mit 23 Prozent. Jetzt endlich will die EU gesetzliche Regelungen prüfen. Überfällig, kann ich da nur sagen. ({2}) Auf Initiative der Grünen hatten wir im Januar eine Ausschussanhörung zu unserem Antrag zur Entgeltgleichheit. Dabei wurde deutlich, dass die extremen Lohnunterschiede in Deutschland nicht nur eine Ursache haben. Darum brauchen wir eine Vielzahl von Maßnahmen. Aber klar ist: Ohne gesetzliche Regelungen, wie wir sie fordern, wird es nicht gehen. Darum muss die Bundesregierung endlich aktiv werden. Wir Grünen fordern, die Eingruppierungskriterien in den Tarifverträgen auf Diskriminierung zu prüfen. ({3}) Hier muss der öffentliche Dienst eine Vorbildfunktion übernehmen. ({4}) Wir stehen zur Tarifautonomie, aber so kann es nicht weitergehen. Arbeitgeber wie Gewerkschaften müssen diese Aufgabe endlich ernst nehmen. Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt kann nur durch die Zusammenarbeit aller Verantwortlichen erreicht werden. Da muss ich eine traurige Bilanz in diesem Hause ziehen: Die letzten vier Jahren waren frauenpolitisch eine verlorene Zeit. ({5}) Es gab nicht ein Gesetz zum Thema Frauenrechte, Sie haben nicht einen Gesetzentwurf vorgelegt. Unsere Anträge haben Sie ständig abgelehnt. Ein gesetzlicher Mindestlohn wäre ein sinnvoller Schritt zur Verringerung des Lohngefälles. Immerhin würde davon jede vierte Frau profitieren. Das heißt, jede vierte Frau verdient weniger als 7,50 Euro. Wir brauchen aber auch ein Verbandsklagerecht, damit Arbeitnehmerinnen gegen kollektive Lohndiskriminierungen nicht immer nur individuell klagen müssen. All diese Forderungen haben Sie am Mittwoch im Ausschuss abgelehnt. Von Ihnen kam nicht ein einziger Vorschlag. Es gibt noch einen anderen Ursprung der Schieflage: Bei uns hapert es schlicht und einfach an der Veränderung der Geschlechterrollen. Auch im Jahr 2009 ist die Forderung nach einer gerechten Aufteilung von Hausund Familienarbeit zwischen Frauen und Männern so aktuell wie eh und je. Der europäische Mann arbeitet im Schnitt sechs Stunden im Haushalt, die Frau 25 Stunden. Deutschland hat einen extrem hohen Anteil von Frauen, die Teilzeit arbeiten. Warum? Weil unsere Kinderbetreuung, unser Schulsystem und selbst unsere Versorgung der alten Menschen darauf basieren, dass Frauen einspringen. In diesem Zusammenhang werde ich bei einem Blick in die USA ganz neidisch. Das erste Gesetz, das Präsident Obama nach seinem Amtsantritt unterzeichnete, der Fair Pay Act, soll dort eine faire Bezahlung sicherstellen. Es wäre schön, wenn so etwas auch bei uns zustande käme. ({6}) In unserem Land scheint das Thema Geschlechtergerechtigkeit nur in Zeiten des Wahlkampfs auf der Agenda zu stehen. Ich muss jetzt die Kollegin von der SPD ansehen: Dass Franz Müntefering im Wahlkampfgetöse fordert, dass die Entgeltgleichheit sogar ins Grundgesetz geschrieben wird, ist bestenfalls scheinheilig. Dass morgen der SPD-Generalsekretär vor dem Brandenburger Tor gegen ungleiche Löhne demonstrieren wird, das halte ich nun wirklich für eine Dreistigkeit. Demonstriert er eigentlich gegen sich selbst? Sie sind in der Regierung, Sie hätten etwas machen können, und jetzt demonstrieren Sie da. Die Ministerin hat heute ein Computerprogramm vorgestellt, das die Firmen freiwillig anwenden können. Ich glaube, mit diesem Computerprogramm werden wir nicht für Lohngerechtigkeit sorgen können. Wir sehen kein konkretes Handeln. So kann es nicht weitergehen. Regieren via Pressemitteilung ist zu wenig. Tun Sie endlich Ihre Arbeit! ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich jetzt am Fernseher oder hier oben auf der Besuchertribüne sitzen würde, würde ich mich fragen: Was ist das eigentlich für eine Debatte? ({0}) Es geht um Frauen, es geht um berechtigte Anliegen der Frauen, und bis jetzt habe ich nur Gezank und Gezeter gehört. ({1}) - Ich werde es jetzt präzisieren, Frau Lenke. Frau Gradistanac, Ihre Rede bestand aus nichts anderem als Gezeter und einer 50-sekündigen Aufzählung. Da Sie sich erlaubt haben, sich zur Rede der Kollegin zu äußern, darf ich das ebenfalls, obwohl ich das eigentlich nicht gut finde, und deswegen beende ich das jetzt auch. Mich hat gewundert, dass Sie so genau wissen - Frau Schewe-Gerigk hat gerade in das gleiche Horn gestoßen -, was alles richtig und was falsch war. Als Sie zusammen in der Regierung waren, hätten Sie etwas tun können. Ich muss mich fragen: Haben Sie es damals nicht ernst gemeint, oder haben Sie heute neue Erkenntnisse? Das würde bedeuten, dass man erst einmal schauen muss, was woanders passiert, und dass man daraus Lehren für das eigene Handeln ziehen muss. ({2}) - Wir sind an der Regierung, und deshalb werden wir, Frau Schewe-Gerigk, uns dazu äußern; wir haben es bereits getan. ({3}) Die heutige Debatte findet auch aufgrund des Equal Pay Days, den wir eingeführt haben, statt. ({4}) - Wenn Sie eine Frage haben, dann melden Sie sich zu einer Zwischenfrage. Ich kann dann ein bisschen länger reden. Bis jetzt muss ich meine Redezeit auf vier Minuten beschränken. Ihre Antwort, „Ein Gleichstellungsgesetz wird es bringen“, bringt es nicht auf den Punkt; denn die Ursachen sind vielfältig. Das haben Sie alle gesagt. Wir wissen, dass es in der finanziellen Bewertung der Arbeit ganz unterschiedliche Ansätze gibt. Angesichts dessen muss das uns und vor allen Dingen den Tarifparteien ein Anliegen sein. Hier spreche ich die Gewerkschaften an, die sich immer für Arbeitnehmerinteressen einsetzen; wahrscheinlich tun sie es nur für Arbeitnehmerinteressen und nicht für Arbeitnehmerinneninteressen. Es ist an der Zeit, dass auch in ihrer Spitze mehr Frauen sind, die sich dafür einsetzen, dass das Gefälle bei den Löhnen der Frauen beseitigt wird. Das wäre wichtig. ({5}) Warum wird die Pflege schlechter bezahlt als eine körperliche Tätigkeit auf dem Bau? Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn dieser Unterschied beseitigt wird, dann hätten wir schon einmal eine zentrale Baustelle weniger. Sie haben gerade das Computersystem Logib lächerlich gemacht. Wenn Sie sich in anderen Ländern ein wenig umhören - das haben Sie auch bei der Quote getan; Sie nehmen Norwegen als Beispiel -, dann erfahren Sie, dass die Schweiz freiwillige Lohntests eingeführt hat. Diese Tests haben sehr gut eingeschlagen. Das heißt, die Unternehmen haben sich beteiligt. Diejenigen, die sich da noch nicht beteiligt haben, kamen so unter Druck, dass sie es tun mussten. Das ist ein Weg, den auch wir einschlagen müssen. Das ist richtig und wichtig. ({6}) Wir müssen an zwei weiteren Punkten ansetzen. Erstens geht es um den Fall, dass junge Frauen ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, weil sie Kinder bekommen. Ich war erstaunt, dass Sie, Frau Gradistanac, wissen, was die Frauen alles wollen. Ich erfahre bei meinen Reisen durchs Land - sie sind sehr vielfältig -, dass die jungen Frauen sehr wohl arbeiten wollen, aber in den ersten Jahren nach der Geburt in Teilzeit. Warum fangen wir nicht an, einmal die Diskrepanzen aufzulisten? Warum wird Teilzeit unterbewertet? Warum ist Teilzeit in unserem Land für die Frauen auch heute noch ein Schritt zurück auf der Karriereleiter? Warum können wir Unternehmen nicht dazu bringen, dass Teilzeitarbeit höher bewertet wird, sodass sie keinen Karriereknick bedeutet? ({7}) Der zweite Aspekt, der hier eine Rolle spielt, ist das Potenzial der Frauen, die um die 30 oder 40 sind und die bisher ein anderes Lebensmodell hatten. Wie schaffen wir es, dieses Potenzial zu aktivieren, das heißt, ihnen den Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen? Frauen in dem Alter haben noch 20 bis 25 Jahre vor sich, in denen sie aktiv arbeiten können. Deshalb ist das Ministerium sehr gut aufgestellt gewesen, als es das Programm für Frauen zum Wiedereinstieg in den Beruf auf den Weg gebracht hat. Das sind zwei Punkte, bei denen wir ansetzen müssen. ({8}) Ich möchte einen Satz zur Quote sagen. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind sehr dafür - das wird auch unsere Forderung sein, die wir in der nächsten Zeit noch thematisieren werden -, dass in den Corporate-Governance-Kodex eine Bestimmung aufgenommen wird, die diese „Aufsichtsratsquote“ beinhaltet. ({9}) - Anders als Sie, Frau Schewe-Gerigk - Sie bölken immer dazwischen -, werden wir uns die Anwendung dieses Kodexes anschauen, wenn dieser Punkt aufgenommen ist. ({10}) Wir werden zur gegebenen Zeit reagieren; wir werden nicht Jahre warten wie Sie, um etwas zu verändern. Wenn die Zahl der Frauen nicht entsprechend erhöht wird, werden wir sicherlich ganz schnell andere Regelungen treffen. Herzlichen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Liebe Frau Fischbach, ich bin mir nicht ganz sicher, dass das Wort „dazwischenbölken“ ein parlamentarischer Ausdruck ist. Ich nehme einmal an, Sie wollten so etwas wie „rufen“ oder „brüllen“ zum Ausdruck bringen. ({0}) - Gut. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ich erteile das Wort dem Kollegen Sönke Rix für die SPD-Fraktion. ({1})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Lenke, weil Sie mich vorhin so nett gleich als Erstes angesprochen haben, mache ich das jetzt umgekehrt auch. Frau Lenke, Sie haben betont, Ihre Redezeit sei zu kurz; sonst wären die Antworten auf die Frage, die auch ich Ihnen jetzt stellen muss, gekommen. ({0}) - Ich weiß. Ich habe ihn auch gelesen. Darin sind sehr viele Appelle und sehr viele Maßnahmen, die auf Freiwilligkeit der Arbeitgeber und der Tarifparteien setzen. Das haben wir seit Jahren gefordert. Das haben wir seit Jahren praktiziert. Trotzdem sind wir im EU-Vergleich immer noch auf einem der letzten Plätze. ({1}) Deshalb glaube ich, dass freiwillige Lösungen nicht mehr tragen. ({2}) Sehr geehrte Frau Höll, Sie haben gesagt, dass die SPD keine Lösungen vorgeschlagen hat, bzw. gefragt, warum wir das, was wir vorgeschlagen haben, nicht machen. Ich muss dazu sagen: Es gibt Zeiten, da sind Gemeinsamkeiten in einer Koalition aufgebraucht. Das haben wir bei der Debatte heute deutlich gemerkt. Die SPD hat klar Position bezogen. Sie haben gefragt, wann wir das machen wollen. Wir machen das nach der nächsten Bundestagswahl, wenn wir mit den Grünen - da haben wir nämlich viele Gemeinsamkeiten - die Mehrheit haben. ({3}) Wir haben schon in der vergangenen Legislaturperiode ein Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst auf den Weg gebracht. ({4}) Ich glaube, dass es tatsächlich nicht an allen Stellen etwas gebracht hat, aber für die freie Wirtschaft wäre ein solches Gesetz ein kleiner, aber wichtiger Schritt, um auch hier Lohngleichheit und mehr Gleichberechtigung zu erreichen. ({5}) Frau Fischbach, Sie haben gesagt, dass meine Kollegin Gradistanac keine Punkte genannt hat. Sie hat angeblich nur - ich will diesen Begriff jetzt nicht noch einmal gebrauchen - irgendwie negativ gerufen; so will ich es einmal bezeichnen. Tatsächlich wurden sechs Punkte aufgezählt. ({6}) Die habe ich in Ihrer Rede vermisst. Sie haben zwar die Vorredner kritisiert und zwei Punkte angeführt. Bei diesen setzen Sie jedoch auch wieder auf Freiwilligkeit. Ich frage mich da, was das soll. Wir sind hier das Parlament und dazu da, Gesetze zu verabschieden. ({7}) Deshalb wäre es ganz sinnvoll, nicht nur Appelle zu verbreiten, weil morgen ein besonderer Tag ist, und für die entsprechenden Aktionen zu werben, sondern auch die Verantwortung als Gesetzgeber deutlich wahrzunehmen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen. ({8}) Wir sollten bei all dem, was wir schon gemeinsam auf den Weg gebracht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Frau Möllring hat zwar das Elterngeld erwähnt, aber die Initiative hierzu Frau von der Leyen zugeschrieben. Ich will jetzt nicht noch einmal dieses Fass aufmachen, sondern halte nur fest: Die Idee dazu kam eigentlich von der Sozialdemokratin Renate Schmidt. Ich bin ja ganz dankbar, dass die Union diesen Ansatz trotz Widerstandes aus den eigenen Reihen mitgetragen hat. Auch der gemeinsam auf den Weg gebrachte Ausbau der Kinderbetreuung ist ein wichtiger Punkt. Von daher sollten wir angesichts der Maßnahmen, die wir gemeinsam ergriffen haben, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Ich würde mir wünschen, wir würden noch mehr Dinge gemeinsam umsetzen, aber ich glaube, das ist in dieser Legislaturperiode nicht mehr möglich. ({9}) So bleibt aber wenigstens ein bisschen Vorfreude auf die nächste Legislaturperiode. Schönen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Hiermit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/12265. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 16/8784 mit dem Titel: „Durchsetzung der Ent- geltgleichheit von Frauen und Männern - Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der FDP, Gegenstimmen in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11175 mit dem Titel: „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit - Für eine tatsächliche Chancengleichheit von Frauen und Männern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange- nommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11192 mit dem Titel: „Entgeltgleichheit zwischen den Geschlech- tern wirksam durchsetzen“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen, der FDP und Bündnis 90/Die Grü- nen und Ablehnung der Fraktion Die Linke angenom- men. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Carola Reimann, Detlef Parr, Frank Spieth und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung - Drucksache 16/11515 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die diamorphingestützte Substitutionsbehandlung - Drucksache 16/7249 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens Spahn, Maria Eichhorn, Dr. Hans Georg Faust und weiterer Abgeordneter Ausstiegsorientierte Drogenpolitik fortführen Künftige Optionen durch ein neues Modellprojekt zur heroingestützten Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger evaluieren - Drucksache 16/12238 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Verabredung ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Dr. Carola Reimann für die SPD-Fraktion.

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen ersten Lesung des Gesetzentwurfes zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung machen wir einen wichtigen Schritt hin zu einer dauerhaften und auch langfristig tragfähigen Regelung für Schwerstopiatabhängige. Hinter diesem Entwurf, der sich inhaltlich eng an die Bundesratsinitiative anlehnt, stehen zahlreiche Abgeordnete von SPD, FDP, den Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Das freut mich, weil durch die breite Unterstützung aus fast allen Fraktionen hoffentlich zügig eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die diamorphingestützte Substitutionsbehandlung geschaffen werden kann. ({0}) Darauf warten die betroffenen Schwerstabhängigen und diejenigen, die sich in den Projekten engagieren und gute Arbeit leisten. Es wird deshalb höchste Zeit, dass ein solches Gesetz kommt. ({1}) Die Modellprojekte und die damit verbundene klinische Studie haben klar nachgewiesen, dass die Diamorphinbehandlung den Gesundheitszustand und die Lebensumstände von Schwerstopiatabhängigen verbessert, und zwar mit signifikant besseren Ergebnissen als bei der Methadonbehandlung. Bei den Betroffenen - das will ich an dieser Stelle sagen - handelt es sich um langjährig schwerstabhängige Menschen in äußerst kritischem Gesundheitszustand. Durch die jahrelange Heroinabhängigkeit ist ihr Körper schwer gezeichnet. Für sie ist die Behandlung mit Diamorphin die letzte Therapieoption, eine allerletzte Chance, in ein geregeltes Leben zurückzukehren. Es besteht kein Zweifel: Durch die Modellprojekte haben Schwerstabhängige wieder zurück ins Leben gefunden. ({2}) Wir brauchen jetzt eine gesetzliche Grundlage, damit diese Versorgung auch fortgesetzt werden kann. Mit dem Gesetzentwurf wollen wir die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Diamorphin, also künstliches Heroin, im Falle seiner Zulassung als Arzneimittel zur Behandlung von Schwerstopiatabhängigen eingesetzt werden kann. Dazu ist es notwendig, dass erstens Diamorphin als verschreibungsfähiges Betäubungsmittel eingestuft wird und zweitens strenge Kriterien für die Verwendung von Diamorphin zur Substitution eingeführt werden. Uns ist völlig klar, dass es sich hier um eine besondere Substanz und Behandlungsmethode handelt. Deshalb befinden sich im Entwurf für die kontrollierte Abgabe auch strikte Vorgaben zum Personenkreis: ({3}) Die Diamorphinbehandlung kommt nur für Schwerstopiatabhängige infrage. Das heißt, eine Abhängigkeit muss seit mindestens fünf Jahren bestehen, verbunden mit schwerwiegenden körperlichen und psychischen Störungen. Vor Beginn einer solchen Behandlung müssen mindestens zwei andere Therapien versucht worden sein, die erfolglos waren. Außerdem muss der Patient mindestens 23 Jahre alt sein. Die an den Projekten Beteiligten sind häufig sehr viel älter. Hinzu kommt, dass die Behandlung nur in bestimmten Einrichtungen und Zentren vorgenommen werden darf, die besondere Anforderungen erfüllen müssen, insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit. Weitere Maßnahmen sind ein Sondervertriebsweg und eine entsprechende Qualifikation der Ärzte. Der Gesetzentwurf trägt also den Bedürfnissen der Schwerstabhängigen Rechnung und enthält zugleich die notwendigen strengen Sonderregelungen, die wir beim Umgang mit dieser besonderen Substanz brauchen. ({4}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU, kann ich nicht nachvollziehen, warum Sie sich so vehement gegen diesen Gesetzentwurf sträuben. ({5}) Ihr Antrag, den Sie nach langem Zögern - besser gesagt: nach langem Verzögern - vorgelegt haben, wiederholt alte und unzutreffende Zweifel an den Studienergebnissen ({6}) und erweckt in unverantwortlicher Art und Weise den Eindruck, dass künftig Zehntausende von Abhängigen für die Substitutionsbehandlung Schlange stehen werden. Das ist nicht wahr. Er belässt außerdem Betroffene wie auch Mitarbeiter in den Projekten in unsicheren Provisorien. ({7}) Dieser halbherzige und unzureichende Antrag verstärkt bei mir den Eindruck, dass Ihre Ablehnung nicht aus fachlichen, sondern aus rein ideologischen Gründen erfolgt. ({8}) Überzeugende und stichhaltige Argumente, die gegen unseren Gesetzentwurf sprechen, kann ich in Ihrem Antrag nicht entdecken. Stattdessen sprechen Sie blumig von offenen Fragen, die noch geklärt werden müssen. Nach jahrelangen Modellprojekten, mehrjährigen Studien, positiven Ergebnissen auch aus anderen Ländern und guten Erfahrungen mit den Projekten hier vor Ort sind alle Fragen, die zu klären waren, geklärt. ({9}) Jetzt ist es Zeit, dass wir endlich eine sichere gesetzliche Grundlage zur Weiterführung der Projekte schaffen. ({10}) Der Gesetzentwurf wird durch eine breite Unterstützung interfraktionell getragen. Er wird von zahlreichen Experten, Verbänden und Politikern vor Ort - im Übrigen auch von CDU-Kollegen - unterstützt. Er wird ebenfalls unterstützt von Praktikern und Fachleuten in den Einrichtungen vor Ort, ja mehr noch: seit vielen Wochen und Monaten gefordert. Deshalb werbe ich dafür, den Gesetzentwurf nun zügig zu beraten, damit wir noch in diesem Frühjahr eine sichere gesetzliche Grundlage zur Weiterführung dieser Versorgung schaffen. Danke. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Detlef Parr für die FDP-Fraktion. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jobcenter gestern: Union gegen Union; Hilfe für Schwerstabhängige heute: Union gegen Union. Die CDU/CSU ist dabei, nur noch Eigentore zu schießen. ({0}) Lassen Sie mich kurz erklären, warum. Wir beraten heute unter anderem einen Gesetzentwurf, der auf Antrag der Länder Hamburg, Hessen, Niedersachsen, des Saarlandes und des Landes Nordrhein-Westfalen im Bundesrat beschlossen wurde. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wer in Hessen, Niedersachsen und NordrheinWestfalen mit der FDP regiert. Die Zusammenarbeit zwischen den Ländern und dem Bund funktioniert offenbar nicht mehr. Die CDU/CSU setzt noch einen obendrauf, nämlich einen eigenen Antrag, der die guten und richtigen Vorschläge sowohl im Gesetzentwurf des Bundesrates als auch in unserem interfraktionellen Gesetzentwurf, endlich die schon lange fälligen Regelungen für die Aufnahme der diamorphingestützten Substitutionsbehandlungen in die gesundheitliche Regelversorgung zu schaffen, konterkariert. In einigen Städten und Ländern, zum Beispiel in Karlsruhe, hat die CDU dagegen bewiesen, dass sie aus den dort seit 2002 durchgeführten Modellprojekten die richtige Schlussfolgerung gezogen hat, den therapeutischen Weg für eine Diamorphinbehandlung für Schwerstabhängige freizumachen. ({1}) Es geht nicht darum - wie uns die Union im Bundestag glauben machen möchte -, großflächig Manna an Drogenabhängige zu verteilen. Vielmehr geht es darum, einer kleinen Gruppe von Menschen - sie wird nicht ins Unermessliche wachsen, weil wir eine vernünftige Sucht- und Drogenpolitik machen, die, Frau Drogenbeauftragte, natürlich noch ein bisschen verbessert werden könnte; wir haben viele Gemeinsamkeiten in diesem Bereich -, die heroinabhängig ist und die mit den bisherigen Hilfsangeboten nicht erreicht werden konnte, zu helfen, in den Alltag des Lebens zurückzufinden. Der Bundesrat hat bereits am 21. September 2007 für den Gesetzentwurf gestimmt. Weil die CDU/CSU diesen blockiert hat, befassen wir uns erst heute, eineinhalb Jahre später, mit dieser Initiative. Das ist eine lange Zeit, die ungenutzt verstrichen ist und die die Betroffenen in große Unsicherheit versetzt hat. ({2}) Leider verweigert sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach wie vor der uneingeschränkten Unterstützung von Menschen, bei denen eine herkömmliche Substitutionsbehandlung nicht erfolgreich verläuft oder die von anderen Maßnahmen der Suchtbehandlung gar nicht mehr erreicht werden ({3}) - Entschuldigung, Herr Kollege, das alles sind Fakten -, ({4}) von Langzeitabhängigen, deren Alter über zehn Jahre höher ist als das eines durchschnittlichen Drogenabhängigen in Deutschland, und von Schwerstbetroffenen, für die es oft nur noch ums nackte Überleben geht. ({5}) Sie wollen die gesicherten Ergebnisse nicht zur Kenntnis nehmen, wie die deutliche Verbesserung des gesundheitlichen Zustands der Patienten. ({6}) - Je lauter Sie rufen, umso weniger überzeugend sind Ihre Argumente, Herr Kollege. ({7}) Sie wollen den Rückgang des illegalen Drogenkonsums, die sinkende Quote der Beschaffungskriminalität, die Abnahme der Prostitution, die von 11 Prozent auf 27 Prozent gestiegene Zahl der regelmäßig Arbeitenden, die Delinquenzrate, die sich innerhalb eines Jahres von 70 Prozent auf 27 Prozent zurückentwickelt hat, nicht zur Kenntnis nehmen. Diese Haltung, die Sie nach wie vor gegenüber den Modellprojekten und diesen Ergebnissen einnehmen, ist nicht nachvollziehbar. ({8}) Deshalb bin ich der SPD dankbar, liebe Frau Reimann, dass wir einen Gruppengesetzentwurf auf den Weg bringen konnten, der interfraktionell großen Zuspruch fand und noch immer findet. Wer ihn genau liest, stößt immer wieder auf Brücken, die wir der Union gebaut haben. ({9}) Es sind zahlreiche Sonderregelungen vorgesehen. So darf Diamorphin ausschließlich zur Substitutionsbehandlung verschrieben werden und nicht zur Schmerzbehandlung. Der Vorwurf, es gebe Heroin auf Krankenschein, läuft also ins Leere. ({10}) Die Behandlung darf nur in bestimmten Einrichtungen vorgenommen werden, die einer Erlaubnis der Landesbehörde bedürfen und die eine besondere personelle und sächliche Ausstattung vorweisen müssen. Auch die Sicherheitsbedingungen sind sehr hoch angesetzt. Das benötigte Diamorphin darf nur auf einem Sondervertriebsweg geliefert werden; um einige Beispiele zu nennen. Die Bundesärztekammer, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, hat so viel Vertrauen in diese Behandlungsmethode, dass sie sie in ihre Substitutionsrichtlinien und ihr Fortbildungsprogramm einarbeiten will. ({11}) Bedenkenträger bleibt allein die CDU/CSU. Sie kann sich nur zu einer müden Fortführung des Modellprojekts durchringen. Damit spielt sie weiter auf Zeit und lässt schwerstabhängige Menschen im Stich. Das Gewissen wird scheinbar beruhigt, aber die Probleme bleiben ungelöst. ({12}) Das wollen wir nicht mitmachen. Wir brauchen die Aufnahme in die Regelversorgung jetzt. Das duldet keinen Aufschub mehr. ({13}) 250 Kolleginnen und Kollegen haben den Gesetzentwurf bis heute unterschrieben. ({14}) Es fehlen nicht mehr viele bis zur Mehrheit. Machen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, die Überlebenshilfe auch zu Ihrer Sache! Folgen Sie Ihrer inneren sozialen Stimme ({15}) und lassen Sie endlich einmal Fraktionszwang Fraktionszwang sein! Danke. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Maria Eichhorn das Wort für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Rede ist es schwer, sachlich zu bleiben. Ich werde mich trotzdem darum bemühen, auch wenn Sie diese Sachlichkeit haben vermissen lassen. ({0}) In Deutschland leben zurzeit schätzungsweise 140 000 Opiatabhängige. Das sind 140 000 Menschen, die nicht mehr von der Droge loskommen und daher unserer Hilfe bedürfen. Von den 140 000 Abhängigen befinden sich 60 000 in Behandlung, 90 Prozent davon in Substitutionsprogrammen. Das ist kein schlechter Wert, wenn man das mit der Versorgungslage bei anderen Abhängigkeiten vergleicht. Studien belegen zum Beispiel, dass nur 5 bis 10 Prozent der Alkoholabhängigen behandelt werden. 1998 vereinbarte die rot-grüne Bundesregierung im Koalitionsvertrag einen Modellversuch zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger. Dadurch sollte überprüft werden, ob sich der Gesundheitszustand der Patienten verbessert, wenn ihnen Heroin statt Methadon verabreicht wird. Auch die Auswirkung der Heroinsubstitution auf den Konsum von Straßenheroin war Untersuchungsgegenstand. Im vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe um die Kollegen Reimann, Parr und andere sowie im Gesetzentwurf des Bundesrates wird nun gefordert, im Zuge dieses Modellprojekts die Diamorphinbehandlung in die Regelversorgung zu überführen. Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU hat sich mit Beschluss vom 26. November 2007 aus guten Gründen dagegen ausgesprochen. Stattdessen haben wir vorgeschlagen, die Heroinbehandlung im Rahmen eines neuen Modellvorhabens mit dem Ziel weiterzuführen, die offenen Fragen zu klären. Viele Fachleute unterstützen uns in dieser Haltung. ({1}) Die SPD und das Bundesgesundheitsministerium haben unseren Vorschlag aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgelehnt. ({2}) Für die Entscheidung der Union waren schwerwiegende fachliche Argumente gegen die Heroinsubstitution ausschlaggebend. ({3}) Diese wurden von Sachverständigen der Wissenschaft, der Ärzte und der Krankenversicherungen - Sie waren selbst dabei - im September 2007 in einer Anhörung im Deutschen Bundestag zum Ausdruck gebracht. Für viele Experten lassen die Ergebnisse der Studie keinen sicheren Schluss auf eine Überlegenheit von Heroin gegenüber Methadon bei Schwerstabhängigen zu. Bei der Verbesserung des Gesundheitszustandes der Patienten und dem Rückgang des illegalen Drogenkonsums ergaben sich zwar statistisch signifikante Unterschiede zugunsten der Heroinsubstitution; diese sind jedoch so gering, dass sie nach Meinung der Experten ({4}) für die Praxis kaum von Bedeutung sind und eine erhebliche Zunahme der Heroinsubstitution zulasten der Methadonsubstitution nicht rechtfertigen. ({5}) - Ich komme darauf noch zu sprechen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund einer unterschiedlichen Erwartungshaltung bei den Patienten. Erfahrene Substitutionsärzte weisen darauf hin, dass Patienten oft bereits in Erwartung der Behandlung von einem besseren Gesundheitszustand berichten, wenn Behandlungsmethode und Behandlungsziel ihren Wünschen entsprechen. Vergessen werden darf auch nicht, dass die starke Giftwirkung des Heroins zu einer erheblichen Komplikationsrate führt, die es bei Methadon nicht gibt. Atemdepressionen sind die häufigste Todesursache bei Opiatsüchtigen. Sie traten im Modellprojekt bei 23 Heroinpatienten und nur bei einem Patienten der Methadongruppe auf. Krampfanfälle gab es bei 63 Heroin-, aber nur bei einem Methadonpatienten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Auch der Beikonsum illegaler Drogen wie Kokain hat sich im Vergleich zur Methadonsubstitution nicht wesentlich verändert. So stellt sich die Frage, warum jeder dritte Heroinpatient weiterhin illegal Drogen konsumierte, obwohl ihm Heroin legal zur Verfügung gestellt wurde. Dies geschieht - zugespitzt gesagt - ganz nach dem Motto: Eine Ration vom Staat und eine Ration vom Dealer. ({6}) - Herr Parr, da Sie ständig unsachlich waren, darf auch ich einmal einen etwas emotionaleren Satz sagen. ({7}) Damit bleibt - entgegen den Behauptungen der Vertreter des Modellprojektes - trotz Heroinsubstitution ein großer Teil der Patienten in der Drogenszene. Darüber hinaus sind weitere Aspekte ungeklärt. Fachleute weisen darauf hin, dass die Kriterien für die Aufnahme der Diamorphinbehandlung zu ungenau sind. Die meisten der heute in Behandlung befindlichen Methadonpatienten würden die vorgegebenen Kriterien zur Heroinbehandlung erfüllen. Die Zahlen gehen weit auseinander. Wer sich für die Heroinsubstitution ausspricht, redet die Zahl möglichst klein. In der Anhörung dagegen haben die Krankenkassen - Sie haben es selbst gehört - von einer Zahl von bis zu 80 000 Personen gesprochen. ({8}) Damit bestünde nicht nur die Gefahr einer unsachgemäßen Ausweitung der Behandlung mit Heroin, sondern auch die Kosten für die Krankenkassen würden in eine für die Beitragszahler nicht zumutbare Größenordnung steigen. ({9}) Eine Heroinbehandlung kostet dreimal so viel wie eine Behandlung mit Methadon. Die Möglichkeiten, die weitaus günstigere Methadonbehandlung auszubauen, sind längst nicht ausgeschöpft. ({10}) So werden in der Schweiz zwei Drittel der Heroinabhängigen mit Methadon behandelt, bei uns nur ein Drittel bis zur Hälfte. Das ist Tatsache.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Eichhorn.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sofort. - Deswegen fordern wir in unserem Antrag eine klare Definition der Aufnahmekriterien, damit die Behandlung mit Diamorphin tatsächlich nur als Ultima Ratio durchgeführt wird. - Bitte sehr.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Nouripour würde gerne eine Zwischenfrage stellen. - Bitte schön.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, wären Sie bereit, mit mir in meinen Wahlkreis nach Frankfurt zu kommen und ein Gespräch mit der Dezernentin für Gesundheit in der Stadt, Frau Rottmann, ({0}) und vor allem mit der Oberbürgermeisterin der Stadt, Frau Petra Roth - meines Wissens ({1}) CDU-Mitglied -, zu suchen, um sich darüber zu erkundigen, ob das, was Sie hier berichten, irgendetwas mit der Realität zu tun hat? ({2}) Wären Sie, wenn es zwischen Ihrer Rede und der Situation vor Ort tatsächlich eine Differenz geben sollte, bereit, sich überzeugen zu lassen, dass wir vor Ort tatsächlich andere Argumente gelten lassen müssen? ({3})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, dass ich meine Arbeit so verstehe, dass ich mich vor Ort, dort, wo die Praxis die Tagesordnung bestimmt, immer informiere. So habe ich mich zum Beispiel in München, wo ein Heroinsubstitutionsmodellprojekt betrieben wird, erkundigt und mit den Abhängigen gesprochen. Ich habe aber auch erfolgreiche Einrichtungen zur Methadonsubstitution besucht. ({0}) Ich habe festgestellt - das ist klar -: Derjenige, der Heroin bekommt, will es weiterhin haben. Ich habe auch festgestellt, Herr Kollege, dass diejenigen, die vom Heroin losgekommen sind und es geschafft haben, wieder ein eigenständiges Leben zu führen, darüber todfroh waren. ({1}) Ich gestehe Ihnen zu, dass mich das sehr bewegt hat. ({2}) Ich habe die Entscheidung meiner Fraktion nicht auf die leichte Schulter genommen. Es geht darum, den Menschen zu helfen, ein Leben ohne Heroin führen zu können; die meisten wollen das auch. Das können wir auch durch eine gute Methadonbehandlung erreichen. Hier sind viele Möglichkeiten noch nicht vollständig ausgeschöpft. ({3}) Oberstes Ziel jeder Drogentherapie ist und bleibt - das ist nicht nur die Auffassung unserer Fraktion - der Ausstieg aus dem Drogenkonsum. Jeder Heroinabhängige wird Ihnen, wenn sie ihn fragen, bestätigen, dass er von der Droge loskommen will. Nach § 5 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung dient die Substitutionsbehandlung dem Ziel der schrittweisen Wiederherstellung der Abstinenz einschließlich der Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszustands. Durch die Diamorphinvergabe im Rahmen des Modellprojekts konnten nur 8 Prozent der teilnehmenden Drogenabhängigen in eine Abstinenztherapie überführt werden. Daher fordern wir, dass eine neue Studie durchgeführt wird, in der es auch um die Frage geht, inwieweit sich die Gabe von Diamorphin mit dem Ziel des Ausstiegs aus der Sucht vereinbaren lässt. Im vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe um Frau Reimann wird behauptet, es gebe zur Diamorphinbehandlung keine Alternative. Dies sehen viele Experten und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion anders. Viele Sachverständige vertreten die Meinung, dass mit psychosozialer Betreuung bei der Methadonsubstitution ähnlich gute Erfolge erzielt werden können wie mit der Heroinsubstitution; davon habe ich mich vor Ort überzeugt. Daher fordern wir den Ausbau der Methadonbehandlung und der psychosozialen Betreuung, und zwar im gleichen Umfang, wie sie im Rahmen der Studie bei der heroingestützten Behandlung erfolgt ist. Meine Damen und Herren, für übereilte Entscheidungen besteht keine Veranlassung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, diesmal von Frau Caspers-Merk.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass im Rahmen des Modellprojekts, das eine klare Überlegenheit im Hinblick auf die Überlebensrate ({0}) und im Hinblick auf die gesundheitliche Struktur der Abhängigen zum Ergebnis hatte, ({1}) je zur Hälfte klassische Methadonsubstitution und Diamorphinsubstitution durchgeführt wurde ({2}) und dass in beiden Fällen dieselbe psychosoziale Behandlung stattgefunden hat, ({3}) sodass Ihre Forderung, die Methadonbehandlung mit einer verbesserten psychosozialen Behandlung zu kombinieren, unsinnig ist? Das Interessante ist doch, dass es sich um eine klinische Studie handelt, bei der die gleichen Randbedingungen vorherrschten und die so angelegt war, dass wir, falls es sich hier um die Zulassung eines Medikaments gehandelt hätte, ein solches nach unseren Regelungen hätten zulassen müssen. ({4}) Das war einer der Gründe, warum diese Studie zu diesen Ergebnissen führte. Das können auch Sie nicht kleinreden. ({5})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Abgeordnete, natürlich weiß ich, dass die Methadon- und die Heroinsubstitution unter gleichen Bedingungen durchgeführt wurden. Wie ich bereits dargelegt habe, waren die Unterschiede aber nicht so groß, dass es gerechtfertigt wäre, die Diamorphinbehandlung in die Regelversorgung zu überführen; ({0}) das ist der erste Aspekt. Hier setzen wir an. Der zweite Punkt, den ich betonen will, ist, dass bei der Methadonsubstitution in der heutigen Praxis in den meisten Fällen keine psychosoziale Betreuung stattfindet. Aus diesem Grunde kommen viele Betroffene in eine schwierige Lage. In diesem Fall verlangen sie eine Heroinsubstitution, obwohl ihnen schon vorher mit einer guten Methadonbehandlung hätte geholfen werden können. ({1}) Für übereilte Entscheidungen besteht keine Veranlassung. Auch ohne Mitfinanzierung durch den Bund ist die Versorgung der bisherigen Heroinpatienten durch die Städte gesichert; auch das Bundesgesundheitsministerium hat dies bestätigt. ({2}) Die Patienten werden seit dem 1. Januar 2007 und auch weiterhin auf der Basis einer Ausnahmeerlaubnis mit Diamorphin behandelt. Kein einziger Patient musste auf seine Behandlung verzichten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Karlsruhe, Köln und Frankfurt haben sogar Genehmigungen für die Aufnahme neuer Patienten erhalten. Deswegen ist es ungeheuerlich, wenn gesagt wird, dass aus christlicher und moralischer Perspektive die Haltung der Union nicht vertretbar sei.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wollen in erster Linie den Ausstieg aus der Droge. Das ist die beste Hilfe für die Heroinsüchtigen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Frank Spieth hat jetzt für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über 250 Kolleginnen und Kollegen haben den Gesetzentwurf zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung unterstützt und unterschrieben. Zugegebenermaßen hat er einen sperrigen Titel, der sich nicht ohne Weiteres erschließt. Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob die Damen und Herren hier und die Zuschauer neben den taktischen Geschichten, die hier im Plenum deutlich werden, nachvollziehen können, um was es geht. Ich möchte anhand eines ganz konkreten Falles versuchen, dem Ganzen ein Gesicht zu geben: Der 48-jährige Herbert S. wurde von den Mitarbeitern der Studienambulanz in der Grünen Straße in Frankfurt am Main buchstäblich von der Straße aufgelesen. 20 Jahre lang war er heroinsüchtig und die letzten fünf Jahre obdachlos. Er ist 1,81 Meter groß, wog aber zu Beginn der Therapie nur 41 Kilogramm. Sein Gesundheitszustand war miserabel. Bei der Aufnahmeuntersuchung zeigte sich, dass er seine Schuhe nicht mehr ausziehen konnte. Das hatte einen Grund: Er trug mehrere Socken übereinander; die Füße waren voller Wunden, und das unterste Paar Socken klebte an diesen Wunden fest. Herbert S. war äußerst kontaktscheu, ein typischer Einzelgänger, von der Straße gezeichnet. Bisher hatte er aus Angst vor dem Entzug jede Therapie abgelehnt. Eine Methadontherapie, die den Entzug lindern kann, kam für ihn nie infrage. Denn er hatte sich auf dem Schwarzmarkt bereits illegal Methadon beschafft und wusste, wie es wirkt. Unter Methadon fühlte er sich schlecht, antriebslos und depressiv. Methadon führte bei ihm dazu, dass er immer wieder maßlos Schnaps und Wein trank. Da aber die Kombination Alkohol und Methadon die Atmung lähmen kann - dies wird von den meisten Therapeuten bestätigt -, kommt es beim Betroffenen zu problematischen Folgen: Die mit Heroinkonsum verbundenen Entzugserscheinungen haben solche Auswirkungen, dass er letztendlich aus der Entzugsmaßnahme aussteigt und in der letzten Konsequenz wieder an der Nadel hängt. Es handelt sich also um einen Teufelskreis. Für den schwerstabhängigen Herbert S., der ohne die Hilfe der Studienambulanz wahrscheinlich nicht mehr leben würde, war die Diamorphinbehandlung der einzige Ausweg. Die Aussicht auf eine Therapie ohne Entzugserscheinungen machte ihn neugierig, und er stimmte zu. Zunächst kümmerten sich die Mitarbeiter der Studienambulanz um ein Obdach. Als das gefunden war, begann die psychische Behandlung. Ein großer Unterschied zwischen Diamorphin und Methadon ist die Halbwertszeit im Körper. Sie beträgt bei Methadon 24 Stunden, während Diamorphin schon nach drei Stunden zur Hälfte abgebaut ist. Daher muss Herbert S. die Studienambulanz auch morgens, mittags und abends aufsuchen. Diese Regelmäßigkeit hilft ihm, seinen Tag zu strukturieren. Den Therapeuten gibt dies die Möglichkeit, regelmäßig mit ihm zu sprechen. Mittlerweise wiegt er 64 Kilogramm. Die Wunden haben zwar ihre Narben hinterlassen, sind aber geheilt. Vor vier Monaten hat dieser ehemals todgeweihte Mann sogar eine Arbeit gefunden. Es ist zwar nur ein 1-Euro-Job, aber er freut sich, wieder gebraucht zu werden. Nun geht er dreimal die Woche für die Stadt Frankfurt in die Parks und sammelt Müll auf. Er freut sich über diese Arbeit; denn durch sie hat er sein Einzelgängerdasein überwunden und ein stabilisierendes soziales Umfeld gefunden. Herbert S. ist nicht der einzige Abhängige, dem die Diamorphintherapie geholfen hat. Wir könnten dies durch zahlreiche weitere Beispiele belegen. ({0}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, meine ich, dass die Erkenntnisse aus den Untersuchungen und die konkreten praktischen Erfahrungen eine andere Behandlung für diesen begrenzten Kreis von Personen - im Sinne einer Ultima Ratio - überhaupt nicht mehr zulassen. Dem muss endlich gefolgt werden. Ich unterstelle Ihnen überhaupt nichts. Ich weiß, dass sehr viele von Ihnen sehr starke christliche und soziale Wurzeln haben. An dieser Stelle habe ich aber erhebliche Zweifel; denn die Forderungen, die Sie hier aufstellen, sind in sich nicht schlüssig. Ihr Antrag ist im Kern nichts anderes als ein taktisches Reagieren auf diesen Gesetzentwurf. Das finde ich nicht erträglich. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie müssten jetzt bitte zum Ende kommen.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin sofort fertig. Ich kann mich insofern nur meinen Vorrednerinnen und Vorrednern anschließen. Heben Sie den Fraktionszwang auf und machen Sie diese Entscheidung zur Gewissensentscheidung! ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat nun Dr. Harald Terpe für Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Chancen stehen gut, dass wir endlich zu einer gesetzlichen Regelung die Diamorphinbehandlung für schwerkranke Opiatabhängige betreffend kommen. Betroffene Patientinnen und Patienten werden dankbar dafür sein und aufatmen, genauso wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Drogenambulanzen der betroffenen Kommunen. Mit unserem breit unterstützten Gesetzesvorschlag werden im Gegensatz zum Antrag der Union die richtigen Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen des Modellprojektes gezogen. Ich will die Ergebnisse nicht in allen Einzelheiten wiederholen. Der Gesundheitsausschuss hat sich mit gebotener Gründlichkeit mit den wissenschaftlichen Ergebnissen beschäftigt. Ich will einen kleinen Ausflug in die Wissenschaft machen. In der Argumentation von Frau Eichhorn haben wir immer wieder von den vielen Experten gehört. Ich kenne aus dem Kinderreim: Eins, zwei, viele. Wenn es aber darum geht, signifikante Ergebnisse anzuerkennen, ist bei Ihnen offenbar Fehlanzeige. ({0}) „Signifikanz“ ist ein Begriff aus der Wissenschaft. Deshalb kann man nicht einfach argumentieren, dies sei kein Ergebnis. Das ist ein signifikantes Ergebnis. ({1}) Die Ergebnisse der Studie sind durchweg positiv und sprechen eindeutig dafür, dass die Behandlung in die Regelversorgung für den kleinen Kreis schwer Opiatabhängiger übernommen werden muss. Wenn man den vorliegenden Antrag der Unionsabgeordneten liest, bekommt man das Gefühl, als hätten die Autoren dieses Antrags eine völlig andere Studie gelesen oder an einer anderen Anhörung teilgenommen. ({2}) Obwohl die Studienergebnisse eindeutig sind, bezweifeln oder leugnen die Unionsabgeordneten in ihrem Antrag die Vorteile der Diamorphinbehandlung. Sie behaupten auch, dass es einen Ansturm von 80 000 Abhängigen auf die neue Behandlungsform geben werde, obwohl in der Anhörung nahezu alle Sachverständigen gerade das ausgeschlossen haben. Es muss noch einmal festgehalten werden: 80 Prozent der Patientinnen und Patienten haben sich in ihrer gesundheitlichen Situation verbessert. Bei 70 Prozent der Patientinnen und Patienten wurde der illegale Drogenkonsum verringert. Die Diamorphinbehandlung soll im Übrigen keine der bestehenden Therapieoptionen ersetzen. ({3}) Sie führt auch nicht zur Abstinenz, aber sie schafft es, die zwingenden Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Patientinnen und Patienten für eine weiterführende Substitutions- und Abstinenztherapie erreichbar werden, nämlich die gesundheitliche und soziale Stabilisierung - das hat Herr Kollege Spieth sehr eindrucksvoll anhand eines Patientenfalls geschildert - und die Loslösung aus der Drogenszene. Allein in der Stadt Frankfurt wechselten 50 Prozent der Studienteilnehmer in eine weitergehende Substitutions- oder gar Abstinenztherapie. Nun fordern die Unionsabgeordneten in ihrem Antrag ein weiteres Modellprojekt. Dabei gehört die Diamorphinbehandlung national wie international zu den am besten untersuchten Therapien in der Suchtmedizin. Neben der deutschen Studie kommen vier große Studien zur Diamorphinbehandlung in der Schweiz, in den Niederlanden, in Spanien und in Großbritannien ebenfalls zu durchweg positiven Ergebnissen. Ich wäre froh, wenn es für alle Teile des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen gelingen würde, eine derart gute Evidenz nachzuweisen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, obwohl die Redezeit fast abgelaufen ist, haben Sie die einmalige Chance, eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Eisel zuzulassen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Stephan Eisel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003886, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, gerade weil ich aus einer der betroffenen Städte komme, nämlich aus Bonn, stelle ich Ihnen die Frage, ob Sie nicht bereit sind, anzuerkennen, dass es sowohl von den Experten bei dem Expertenhearing als auch von Ärzten - übrigens auch von Ärzten aus meinem Wahlkreis in Bonn - unterschiedliche Bewertungen der Ergebnisse dieser Studie gab bzw. gibt. Akzeptieren Sie nicht, dass es vor diesem Hintergrund auch eine verantwortliche Haltung sein kann, zunächst die unbeantworteten Fragen durch eine weitere Studie beantworten zu lassen, bevor man eine umstrittene Behandlungsmethode zur Regelbehandlungsmethode macht, und dafür zu sorgen, dass, wenn diese weitere Studie stattfindet, all diejenigen, die sich jetzt in der Behandlung befinden, auch künftig in der Behandlung verbleiben können?

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich muss darauf Folgendes antworten: Mir ist durchaus bekannt, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher, evidenzbasierter Studien häufig in Zweifel gezogen werden, und zwar meistens von den Leuten, die beispielsweise den Begriff „Signifikanz“ nicht anerkennen. ({0}) Es ist also kein ausreichendes Argument, dass es Leute gibt, die das nicht so sehen. ({1}) - Solche gibt es auch unter den Ärzten. ({2}) - Herr Spahn, wir sind hier jetzt nicht in der Schule und erklären uns nicht den Begriff „Signifikanz“. ({3}) Das ist meine Antwort darauf: Es gibt immer wieder Leute, die wider besseres Wissen Studienergebnisse in Zweifel ziehen. ({4}) Ich glaube, der wesentliche Irrtum der Unionsabgeordneten besteht darin, dass sie die Opiatabhängigkeit in erster Linie noch immer als moralische Angelegenheit und nicht als eine schwere chronische Erkrankung betrachten. ({5}) Genau genommen verwundert mich die Haltung der Union auch nicht mehr sonderlich; denn seit Mitte der 90er-Jahre, seitdem der Bundesrat erstmalig ein Modellprojekt für die Diamorphinbehandlung gefordert hat, laufen Sie Sturm gegen diese Diamorphinbehandlung, und zwar mit allen Kräften, aber auch, wie man eben von Ihnen gehört hat, mit schlechten Argumenten. ({6}) Ich hoffe jedenfalls, dass sich die Mehrheit des Bundestages davon nicht beirren lässt und die Chance zur Einführung der Diamorphinbehandlung nutzt; denn nichts spricht ernsthaft dagegen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sabine Bätzing spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich als letzte Rednerin der Debatte noch einmal zusammenfassen, um was es bei diesem Gesetzentwurf eigentlich geht. Es geht um das Leben von schwerstkranken Menschen. ({0}) Es geht um langjährig Heroinabhängige, die trotz vielfältiger Versuche keinen Ausstieg aus dem Teufelskreis der Sucht geschafft haben - weder durch drogenfreie Therapien noch durch eine Methadonbehandlung. Was sind das für Menschen? Es handelt sich um Menschen, die über 20 Jahre heroinabhängig sind, zahlreiche Begleiterscheinungen aufweisen und zum Teil mit Hepatitis C oder HIV infiziert sind. Viele haben posttraumatische Gewalterfahrungen gemacht oder haben mehrfache psychische Erkrankungen. Bei dieser Gruppe von Schwerstabhängigen schlagen die gängigen Substitutionsmedikamente nicht an, oder sie haben das Hilfesystem bislang überhaupt noch nicht in Anspruch genommen. ({1}) Genau für diese Patienten werden durch die Diamorphinbehandlung eindeutig wissenschaftlich-signifikant bessere Ergebnisse erzielt. ({2}) Den Menschen werden dadurch wieder Perspektiven gegeben. Durch die Diamorphinbehandlung wird das Überleben dieser Menschen gesichert. An die Kolleginnen und Kollegen von der Union: Auch wenn es um die Abstinenz geht, kann die Diamorphinbehandlung sehr gute Ergebnisse vorweisen. ({3}) Von allen Patienten, die nach vier Jahren die diamorphingestützte Behandlung beendet haben, wechselte rund ein Drittel in eine andere Substitutionsbehandlung. Weitere 13 Prozent dieser Patienten, die wir früher nicht erreicht haben, haben eine abstinenzgestützte Behandlung aufgenommen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Bätzing, möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Widmann-Mauz zulassen?

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne, Frau Widmann-Mauz.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Bätzing, Sie haben uns gerade erklärt, dass die Schwerstabhängigen nicht durch gängige Methadonbehandlungen und -substitution erreichbar gewesen seien. Wie erklären Sie es sich dann, dass in der Kontrollgruppe zu den mit Diamorphin Behandelten im Modellvorhaben - nämlich der Kontrollgruppe, die mit Methadon weiterbehandelt wurde - zu 75 Prozent dieselben Erfolge erreicht wurden wie mit Heroin? Kann es nicht daran liegen, dass nicht der Stoff - in dem Fall Heroin - den Erfolg bringt, sondern mehr die psychosoziale Betreuung, die in diesem Modellvorhaben so elementar gut ist, dass es dann auch mit Methadon zu den entsprechenden Erfolgen kommt? Wenn Ihre Grundannahme richtig wäre, hätte doch in der Methadonkontrollgruppe kein Erfolg mehr erzielt werden können. ({0})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, liebe Kollegin Widmann-Mauz, das kann nicht daran liegen. Frau Caspers-Merk hat das vorhin sehr deutlich gemacht. Die psychosoziale Begleitung war in beiden Gruppen gleich. Wir können selbstverständlich die Methadonbehandlung verbessern, ({0}) - das schließt ja nicht aus, dass wir das tun -, aber es sind immer noch 25 Prozent, die überhaupt nicht erreicht werden. Sind Ihnen diese 25 Prozent egal? Uns sind sie nicht egal. Wir wollen auch diesen Menschen das Überleben sichern. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, es gibt noch eine Zwischenfrage der Kollegin Monika Knoche.

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, Frau Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr verehrte Frau Kollegin, glauben Sie nicht auch, dass es der Versachlichung der Debatte auch im Sinne Ihrer Argumentation dienlich wäre, dem Plenum und der Öffentlichkeit darzulegen, dass es sich um eine Arzneimittelstudie handelt und dass es um die Frage geht, welches Präparat aus ärztlicher Sicht das geeignete und beste für die betroffenen Personen ist, und dass wir als Politiker und Politikerinnen insbesondere dann, wenn signifikante Ergebnisse für ein solches Präparat sprechen, die Pflicht haben, uns um die Zulassung eines Medikaments zu bemühen, wenn es einem bestimmten Personenkreis besser helfen kann als ein gängiges Präparat? Stimmen Sie mir zu, dass diese Information in der Debatte einen großen aufklärerischen Wert haben könnte?

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Knoche, ich stimme Ihnen sehr gerne zu. Es handelt sich in der Tat um eine Arzneimittelstudie, es geht um ein Arzneimittel. Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Information, die noch einmal deutlich macht, dass es um Hilfe, Therapie und ein Medikament für schwerstkranke Menschen geht. Herzlichen Dank dafür. ({0}) Ich habe viele abhängige Menschen vor Ort kennengelernt und habe fast alle Ambulanzen besucht. Man kann es nicht hoch genug einschätzen, wie positiv sich das Leben dieser Menschen verändert hat. Eindrucksvoller als Kollege Spieth kann man das sicherlich nicht darstellen. Wir wollen, dass diesen schwerstkranken Menschen eine Möglichkeit geboten wird, wieder menschenwürdig zu leben ({1}) und, auch wenn es nicht einfach ist, ihre Sucht zu überwinden. Die Unionsfraktion, die den alternativen Antrag eingebracht hat, befürchtet dagegen - das hat sie heute mehrfach wiederholt -, dass die Nachfrage nach Diamorphinbehandlungen sprunghaft zunimmt. Diese Angst ist völlig unbegründet. ({2}) Die Horrorzahl von bis zu 80 000 Diamorphinpatienten geistert schon seit Monaten durch die Medien. Sie ist aber eine reine Erfindung der Union. ({3}) Realistisch ist - das bestätigen die Erfahrungen aus der Schweiz -, von 2 000 bis 3 000 Schwerstabhängigen auszugehen, die die Behandlung in Anspruch nehmen könnten und denen nicht anders geholfen werden kann. Es gibt also für uns keinen Grund, jetzt ein positiv abgeschlossenes Modellprojekt fortzuführen und weiter abzuwarten. Was soll mit einer Verlängerung eines Modellprojektes erreicht werden? Die Forschungsergebnisse sind eindeutig, auch was die angeblich offenen Fragen der Union angeht. ({4}) Die Fortsetzung des Modells ist weder durchdacht noch finanzierbar; denn die Antragsteller haben sich bislang noch nicht einmal um zusätzliche Finanzmittel gekümmert. Das ist unredlich und unseriös. ({5}) Wir brauchen für die betroffenen Schwerstabhängigen eine langfristige Perspektive, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Deshalb ist jetzt die Übernahme der erfolgreichen diamorphingestützten Substitutionsbehandlung in die Regelversorgung notwendig. Ich appelliere abschließend an die Kolleginnen und Kollegen der Union: Geben Sie Ihrem Gewissen Freiheit! Entscheiden Sie sich auch aus christlicher Nächstenliebe für diese schwerkranken Menschen und unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf! Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Jens Spahn das Wort.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Bätzing, wir können darüber streiten, wie wir den Menschen helfen. Aber eines lasse ich mir persönlich und lassen wir uns als Fraktion nicht absprechen, nämlich dass wir genau das gleiche Bemühen an den Tag legen, wenn es darum geht, Schwerstabhängigen eine Perspektive zu geben. Wir haben genau das gleiche Ziel, diesen Menschen eine Chance zu geben und den Weg zurück in die Unabhängigkeit zu ermöglichen, damit sie ihr Leben selber gestalten können. Wir streiten nicht über das Ziel, sondern über das Wie. Etwas anderes sollten Sie nicht unterstellen. ({0}) Herr Kollege Terpe, ich möchte aufgreifen, was Sie gesagt haben; das hat auch die Kollegin Bätzing angesprochen. Wir bestreiten nicht die Ergebnisse der Studie. Wir ziehen aber andere Schlussfolgerungen aus der Studie als Sie. Es gibt noch zahlreiche offene Fragen, wie die Frage des Beikonsums - warum also weiterhin Kokain, Alkohol und Cannabis konsumiert werden - und die Frage der Ausstiegsorientierung. Frau Kollegin Bätzing, die Zahl 80 000 wurde nicht von der Union erfunden, sondern von der KBV und den Krankenkassen, also von den Kostenträgern und der versammelten Ärzteschaft, in der Anhörung genannt. Die Kostenträger und die versammelte Ärzteschaft - man kann sie auch Experten nennen - haben gesagt, gemäß der von ihnen definierten Kriterien kämen 80 000 Menschen - und nicht, wie Sie gesagt haben, 1 000 - in Betracht. Was mich am meisten stört, ist der Eindruck, den Sie hier erwecken. Wenn es um Ideologie, um Irreales ginge, würden wir mit unserem Antrag sicherlich nicht ein Kompromissangebot machen. Wenn man das Modellprojekt mit einer anderen Schwerpunktsetzung fortführt - ich verweise noch einmal auf den Beikonsum, die Ausstiegsorientierung und die psychosoziale Betreuung hin; es ist zu untersuchen, inwieweit sie zu den Ergebnissen beiträgt - und wenn es zu entsprechenden Ergebnissen kommt, sind wir bereit, über eine Gesetzesänderung nachzudenken. Wenn Sie wirklich ein Interesse daran haben, dass es zu einer vernünftigen Lösung kommt, wie Sie in Ihrer Rede gesagt haben, und dass die betroffenen Städte möglichst schnell zusätzlich Menschen aufnehmen können, dann können wir am morgigen Tag die wenigen Millionen Euro im Haushalt des Bundesministeriums für Gesundheit einstellen, die wir brauchen, um dieses Modellprojekt fortzusetzen. Wir reichen die Hand dazu, dass das schnell geht. Nehmen Sie diese Hand im Interesse der Betroffenen und im Hinblick auf gute Erkenntnisse an! Wir streiten über das Wie, aber nicht über das Ziel. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zur Erwiderung hat die Kollegin Bätzing das Wort.

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Spahn, ich möchte nur auf einen Punkt eingehen. Ich glaube, die Debatte hat gezeigt, dass wir stichhaltige Argumente haben, die wissenschaftlich belegt sind. Die Ergebnisse kann man auch nicht anders auslegen; denn die Fakten sprechen eine klare Sprache. ({0}) Ich möchte lediglich etwas zu Ihrem Kompromissangebot sagen. Ich halte es für einen faulen Kompromiss, den Sie uns anbieten. Sie hatten vier Jahre Zeit. ({1}) So lange liegt das endgültige Ergebnis der Studie vor. Wir haben zu zahlreichen Gesprächsrunden und Besuchen vor Ort eingeladen. Wir haben mit Ihnen über Gesetzentwürfe diskutieren wollen. Aber nie gab es ein Kompromissangebot. Jetzt, wo es nicht mehr anders geht, bringen Sie einen Antrag ein. Aber Sie machen keine Finanzierungsvorschläge. Das ist nichts anderes als reine Verzögerungstaktik. Für uns ist das ein fauler Kompromiss, dem wir uns nicht anschließen werden. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat noch der Kollege Terpe das Wort.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Spahn, Sie haben eben gesagt, Sie würden die Ergebnisse der Studie nicht bestreiten, nur andere Schlussfolgerungen daraus ziehen. Das deckt sich nicht ganz mit dem, was Frau Kollegin Eichhorn gesagt hat. ({0}) Von ihr habe ich nur gehört, dass beispielsweise das Signifikanzkriterium in Zweifel gezogen wird. Wir können uns natürlich noch einmal darüber unterhalten, was ich unter Signifikanz verstehe. Ich habe als Arzt damit gearbeitet und eine Menge an Erfahrungen gesammelt. Ich nehme Ihnen Ihr Argument nicht ab, dass Sie die Studienergebnisse zwar anerkennen, aber andere Schlussfolgerungen ziehen. Sie haben gerade etwas zur Ideologie gesagt. Ich kann mich an die Bemerkung „Kiffen auf Krankenschein“ erinnern. Ich weiß nicht, ob eine solche Formulierung nicht zur Ideologisierung einer Diskussion beiträgt, bei der es ganz konkret um Patienten geht, die zu behandeln sind, und zwar um schwerkranke Patienten. ({1}) - Ja, das haben wir gehört. ({2}) - Die Argumente waren ja scheinheilig. ({3}) - Wenn man an anderer Stelle ganz andere Äußerungen hört, dann fragt man sich, ob die Argumente in sich schlüssig sind. ({4}) - Das liest man in der Zeitung. Jeder weiß es. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/11515, 16/7249 und 16/12238 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kai Gehring, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen - Drucksache 16/12303 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Agenden der Gipfeltreffen sowohl in der EU als auch auf internationaler Ebene anschaut, dann erkennt man, dass ein Element, das nach unserer Überzeugung nicht fehlen darf, bisher nicht Gegenstand der Verhandlungen ist. ({0}) Wir wollen dieses Element heute voranbringen und hoffen, dass Sie mitziehen; wir werben um Ihre Unterstützung. Es geht um die Finanzumsatzsteuer, die wir auf europäischer Ebene einführen wollen. Das ist ein Projekt, über das auch in anderen Ländern Europas diskutiert worden ist. Wir glauben, es ist notwendig, dass es nicht nur politische Meinungsäußerungen dazu gibt - zum Beispiel des Außenministers und des Finanzministers; die können wir in dem Papier, das die beiden Minister vorgelegt haben, nachlesen -, sondern dass dieses Projekt auf europäischer Ebene auch wirklich vertreten wird. ({1}) Wir wollen uns für eine EU-weite Finanzumsatzsteuer einsetzen. Natürlich müssen wir uns darüber unterhalten - wir sollten das im Ausschuss tun -, welche die bessere Variante ist: eine Börsenumsatzsteuer oder eine allgemeine Finanzumsatzsteuer. Notwendig ist auf jeden Fall, dass wir zu einer sinnvollen Besteuerung von Umsätzen auf den Finanzmärkten kommen. Warum? Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit und der Fairness. Die Umsetzung unseres Vorschlags würde dazu führen, dass die Gewinner des Finanzbinnenmarktes, also diejenigen, die hohe Umsätze generieren, de facto einen Teil der Ausgaben tragen, die auf europäischer Ebene - über den Sozialfonds und die Regionalmittel getätigt werden, um die Verlierer der Entwicklung zu kompensieren. Das sollte in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Häufig wird das Argument vorgetragen, dies führe zu Belastungen bei der Altersvorsorge und im Aktienhandel. Im Gegensatz zur Börsenumsatzsteuer bezieht sich eine allgemeine Finanzumsatzsteuer nur zu 6 Prozent auf Umsätze mit Aktien und zu 94 Prozent auf Derivate, Optionen und Futures verschiedener Arten. Das heißt, das Gros der Belastung betrifft nicht denjenigen, der sich Aktien kauft, um für das Alter vorzusorgen. Es soll vielmehr auf die Teile des Finanzmarkts abgezielt werden, wo ein sehr schneller Umschlag herrscht. Alle beklagen, dass das Verhältnis von Realwirtschaft und Finanzwirtschaft nicht mehr stimmt. Das muss wieder hergestellt werden. Es handelt sich daher um eine sinnvolle Steuer, die auch stabilisierend wirkt. Klar, die Steuer hätte die jetzige Krise nicht verhindert. Dieser Einwand gilt aber für jeden einzelnen Vorschlag. Aber sie wirkt stabilisierend auf die Finanzmärkte, weil es sich nicht mehr lohnt, minimale Preisunterschiede auszunutzen. ({2}) Es wird manchmal gesagt, das gehe rechtlich nicht. Das stimmt nicht. Es ist auf europäischer Ebene durch eine Richtlinie festgelegt, dass das machbar ist. ({3}) Wir sollten das tun. Das, was wir vorschlagen, ist auch keine Steuererhöhung. Unser Vorschlag geht dahin, dass im Gegenzug die Mitgliedsbeiträge in die nationalen Haushalte zurückgeführt werden. Damit hätten wir eine sinnvolle Finanzierung der europäischen Aufgaben über ein europäisches Finanzierungsmodell. ({4}) Andere europäische Staaten haben uns vorgemacht, dass nationale Parlamente diese Diskussion anstoßen können. Frankreich und Belgien haben entsprechende Beschlüsse gefasst. Sie sind bereit, wenn andere Staaten mitziehen, so etwas europaweit zu realisieren. ({5}) Es ist an der Zeit, das Deutschland nicht nur allgemeine Meinungsäußerungen dazu abgibt, sondern als größte Volkswirtschaft mitzieht und diesen Vorschlag weiterverfolgt. Es gibt ein gutes Vorbild, das sich die Große Koalition anschauen sollte. In einer Studie des Wirtschaftsinstituts in Wien wurde eine Finanzumsatzsteuer auf europäischer Ebene in der Form, die wir aufgegriffen haben, vorgeschlagen. Nehmen Sie sich ein Vorbild an der Großen Koalition in Österreich. Es gibt auch Große Koalitionen, die Sinnvolles in die europäische Diskussion einbringen. Wir hoffen, dass wir in den Ausschussberatungen zu einer gemeinsamen Position kommen. Dann müssen die europäischen Regierungen gemeinsam so etwas voranbringen; denn eines ist klar: Es darf nicht passieren, dass für die Belastungen der jetzigen Krise wieder alle Menschen über die Erhöhung der Mehrwertsteuer - das haben Sie schon einmal gemacht - bezahlen. Wir wollen, dass die Gewinner an den Finanzmärkten die Verlierer entschädigen. Wir wollen zu einer fairen Entwicklung an den Finanzmärkten beitragen und vor allem für mehr Stabilität an den Finanzmärkten sorgen. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Nina Hauer das Wort. ({0})

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Na ja, wenn Österreich das vorschlägt, dann sind eigentlich alle großen Finanzmärkte der Welt dabei, oder? ({0}) Ich glaube, Ihre Überlegung, dass eine Steuer, wenn wir sie in diesem Bereich brauchen, nicht nur die Produkte umfassen darf, die an der Börse gehandelt werden, ist gar nicht falsch. Darüber kann man reden. Die Frage ist nur, wie Sie das machen wollen. Woran wollen Sie das festmachen? Was nehmen Sie alles mit hinein? Nehmen Sie Überweisungen dazu, Schuldverschreibungen und alles, was dazu gehört? Sie haben in Ihrem Antrag, der in dieser Beziehung sehr dünn ist, Aktien und Derivate aufgeführt. Es gäbe noch mehr. Diejenigen, die die Börsenumsatzsteuer fordern, tun das meiner Meinung nach deshalb, weil sie wissen, dass es schwierig genug sein wird, diese Steuer letztendlich einzuziehen. Sie wollen große Finanzmärkte und Akteure kontrollieren. Trotzdem enthält Ihr Vorschlag eine Steuer von nur 0,01 Prozent. Man kann dafür oder dagegen sein, man kann sich für 1 Prozent oder 0,01 Prozent aussprechen, aber, ehrlich gesagt, viel werden Sie damit am Finanzmarkt nicht bewegen. Sie werden diejenigen, die kurzfristige und risikoreiche Spekulationen durchführen, nicht bremsen können. Sie werden auf der anderen Seite auch nicht die Einnahmen, die Sie sich versprechen, erzielen, wenn Sie es technisch überhaupt hinbekommen, diese Steuer einzuziehen. Die Einnahmen werden nicht besonders hoch sein. 70 Milliarden Euro verteilt auf 27 Mitgliedsländer sind nicht viel. Sie wollen das Geld gleich bei der EU belassen. Dazu muss ich sagen: Worin besteht denn dann der Anreiz für die Länder, diese Steuer zu erheben? Jedes Land, das eine höhere Wertschöpfung als Österreich hat, wird das sein lassen, weil es auf die Einnahmen verzichten kann und über die EU ohnehin Gelder fließen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Hauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schick?

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Unser Antrag enthält einen Hinweis darauf, dass das österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut in Wien in einer Studie von einem Steuersatz von 0,01 Prozent ausgeht; daraus ergebe sich ein EU-weites Steueraufkommen von gut 70 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist sehr konservativ geschätzt. Wir haben als Benchmark für die Diskussion ganz bewusst die vorsichtigste Schätzung genommen. Wir sind gern bereit, darüber zu diskutieren, welcher der richtige Satz ist. Sie haben auch gesagt, das sei wenig Geld. Wenn Sie diesen Betrag ins Verhältnis setzen zum Haushalt der Europäischen Union, sind Sie dann bereit, anzuerkennen, dass diese 70 Milliarden Euro mehr als die Hälfte des derzeitigen Volumens des europäischen Haushaltes sind und dass dieser Betrag angesichts dessen keine geringe, sondern eine sehr relevante Größe ist?

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Schick, welche Zahl größer ist, kann man leicht feststellen. Die Frage lautet allerdings: Bekommt man diese Einnahmen überhaupt? Dazu steht in Ihrem Antrag überhaupt nichts. Wie soll die rechtliche Grundlage für das Erheben dieser Steuer aussehen? ({0}) Auf welche Produkte soll diese Steuer erhoben werden? Wer soll das kontrollieren? Das, was Sie im Hinblick auf den EU-Haushalt vorhaben, ist, wie ich finde, politisch schwierig zu erklären. ({1}) Gerade in der jetzigen Situation - wir geben Finanzunternehmen Bürgschaften, um deren Existenz zu sichern ist den Leuten schwer zu erklären, dass sie von diesen Steuereinnahmen nichts haben sollen, weil sie in den EU-Haushalt fließen. Da Sie das offensichtlich wissen, haben Sie gleichzeitig den Vorschlag gemacht, diese Einnahmen wieder an die Mitgliedstaaten zu verteilen. Wie soll das gehen? Das hat mit der eigentlichen Steuer am Ende überhaupt nichts mehr zu tun. ({2}) - Wir reden hier aber über die Finanzumsatzsteuer. So wie dieser Antrag formuliert ist, kann eine solche Steuer doch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Das Bemerkenswerte ist, dass auf unserem Finanzmarkt nicht nur Hedgefonds und kurzfristige Spekulanten agieren. Auf unserem Finanzmarkt geht es vor allen Dingen darum, den Unternehmen Kapital zur Verfügung zu stellen und es Anlegern zu ermöglichen, Altersvorsorge und Vermögensbildung zu betreiben. ({3}) Wie soll das funktionieren, wenn die Finanzprodukte verteuert werden? Sie schreiben, das würde sich auf die Altersvorsorge über Kapitalanlagen unwesentlich auswirken. ({4}) Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich mir das kaum vorstellen kann. Wenn jemand eine Kapitalanlage wie einen Fonds wählt, dann hat er ein Interesse daran, dass dieser Fonds wächst; sonst ist sein Geld am Ende nichts mehr wert. Dieser Fonds wächst aber nur, wenn man schnell auf den Kapitalmarkt reagieren kann. Wenn man eine zusätzliche Steuer schafft, dann wird das Ergebnis sein, dass es Fonds für diejenigen gibt, die sich nicht viel leisten können. Sie werden diesen Steuersatz zahlen. Ein Kursgewinn von 3 Prozent würde nach Steuern nur eine Rendite von 2 Prozent bringen; nach Ihrer Rechnung wären es 2,9 Prozent, aber das ist nicht viel mehr. Sie wollen diejenigen, von denen wir, die Politik, glauben, dass sie einen Finanzmarkt brauchen, der gut funktioniert und sicher ist - ich meine die ganz normalen Anleger und Anlegerinnen -, die Zeche zahlen lassen. Sie wollen, dass die für sie gedachten Produkte verteuert werden. Sie bewirken, dass diese Menschen in Kapitalanlagen investieren, deren Fondsmanager wenig Interesse daran haben, möglichst viel zu handeln, weil sie dafür viel bezahlen müssen. ({5}) Aber diejenigen, die international agieren, die ganz schnell aussteigen und an einer anderen Börse, auf einer anderen Plattform oder außerhalb von beidem handeln können, lassen Sie heraus. Diese Personen werden die Steuer am Ende nicht zahlen; sie werden nicht zu den von Ihnen geplanten Einnahmen beitragen, sondern ihre Papiere schlicht und ergreifend woanders handeln. Ich sage gar nicht, dass wir das aus grundsätzlichen Überlegungen nicht wollen. Die ganze Debatte über diese Art der Besteuerung dreht sich um die Fragen: Wie bekommen wir diese Steuereinnahmen? Welche Effekte löst das aus? Sind das volkswirtschaftliche Effekte, die wir erzielen wollen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass unser Finanzmarkt von beiden Teilen leben muss? Er muss davon leben, dass sich Unternehmen Geld besorgen. Er soll in diesen schwierigen Zeiten und auch in Zukunft davon leben, dass die Leute einen Teil dessen, was sie an Vermögen bilden wollen, am Finanzmarkt zu fairen Preisen sicher anlegen können, und zwar so, dass sie erwarten können, dass ihre Produkte gut gemanagt werden. Das würden wir mit dem von Ihnen vorgeschlagenen Vorgehen kaputtmachen. Würden wir Ihrem Antrag folgen, ließen wir diejenigen außen vor, die diese Steuer eigentlich zahlen könnten, und würden am Ende dafür sorgen, dass der Finanzmarkt für normale Anleger nicht mehr zu erreichen ist. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frank Schäffler für die FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Den Worten von Ihnen, Frau Hauer, kann ich eigentlich nur zustimmen. ({0}) Alles, was Sie gesagt haben, ist richtig. Nur, Ihr eigener Kanzlerkandidat fordert eine Börsenumsatzsteuer und will den Finanzmarkt stärker mit Steuern überziehen. Von daher haben Ihre Worte in Ihrer eigenen Partei sicherlich nicht so richtig eine Mehrheit gefunden. Ich möchte auf den Antrag der Grünen zu sprechen kommen. Herr Schick, ich glaube, Sie haben die Lehren aus der Finanzkrise noch nicht richtig durchdrungen. Ich glaube, die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er-Jahre wurde im Wesentlichen dadurch verschärft, dass die Länder dieser Welt damals die Steuern erhöht und gleichzeitig die Zölle angehoben haben. Das war letztendlich die Ursache dafür, dass die Weltwirtschaftskrise über so lange Zeit eine verheerende Wirkung zeigen konnte. Wenn Sie jetzt genau das Gleiche fordern, dann haben Sie aus der Geschichte nichts gelernt. ({1}) Sie haben auch aus den internationalen Erfahrungen mit Börsenumsatzsteuern - so sage ich jetzt einmal nichts gelernt. ({2}) Wir haben international im Kern eigentlich eine sehr erfreuliche Entwicklung. Überall wird die Börsenumsatzsteuer oder die Besteuerung von Aktienumsätzen abgeschafft. Dänemark hat die Börsenumsatzsteuer 1999 abgeschafft. Deutschland hat 1991, als wir in der Koalition noch Steuern gesenkt haben, die Börsenumsatzsteuer abgeschafft. Italien hat 2008 die Börsenumsatzsteuer abgeschafft, die Niederlande ({3}) 1990, Österreich 2000, ({4}) Schweden 1991, Spanien 1988. Überall auf dieser Welt wird die Börsenumsatzsteuer abgeschafft, und Sie von den Grünen wollen wieder eine neue Steuer einführen. Das passt nicht ins Bild. ({5}) Die internationalen Erfahrungen, die wir dazu haben, sind verheerend. Schweden hat die Börsenumsatzsteuer 1985 eingeführt. Daraufhin ist der Markt für festverzinsliche Wertpapiere um 85 Prozent eingebrochen. Das Handelsvolumen bei anderen Produkten an der Börse ist um 98 Prozent zurückgegangen. Die Einnahmen, die Schweden damals unterstellt hat, nämlich etwas über 165 Millionen Euro, sind nicht erzielt worden. Innerhalb von wenigen Jahren sind sie auf 9 Millionen Euro gesunken. Wenn Sie also Arbeitsplätze in diesem Land vernichten wollen, auch am Finanzstandort Frankfurt, dann müssen Sie die Finanzumsatzsteuer einführen. ({6}) Lassen Sie mich direkt auf Ihren Antrag eingehen. Wenn man einen Antrag formuliert und wissenschaftliche Quellen nennt, auf die man sich bezieht, dann sollte man wenigstens ordentlich abschreiben. Sie haben in Ihrem Antrag auf das österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO verwiesen - Sie haben es gerade wieder getan -, haben einen Steuersatz von 0,01 Prozent erwähnt und Steuereinnahmen in Höhe von 70 Milliarden Euro pro Jahr prognostiziert. Es ist immer ganz schön, wenn man einmal nachschaut, ob alles das, was da hineingeschrieben wurde, auch zutrifft. Ich habe mir vorhin erlaubt, diese Studie herunterzuladen. Auf Seite 71 können Sie das gern noch einmal nachlesen. Da ist genau beschrieben, welche Annahmen getroffen worden sind. Es ist beispielsweise angenommen worden, dass bei diesem Steuersatz die Aktienumsätze oder Börsenumsätze um 15 bis 35 Prozent zurückgehen. Es wird tendenziell das dargestellt, was ich für Schweden gerade vorgetragen habe. Unterstellt werden nicht Steuereinnahmen in Höhe von 70 Milliarden Euro, wie Sie geschrieben haben, sondern von 28,6 Milliarden US-Dollar. Das ist wesentlich weniger als das, was Sie angenommen haben. Das passt wieder zu dem Bild, das ich für Schweden gezeichnet habe. Zwischen dem, was man ursprünglich annimmt, und dem, was dann tatsächlich eintritt, besteht ein himmelweiter Unterschied. ({7}) Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie davon Abstand! Ziehen Sie die Lehren aus der Finanzkrise! Diese wird eben nicht dadurch bewältigt, dass man Steuern und Zölle erhöht sowie Mauern aufbaut, sondern dadurch, dass man Mauern abbaut und Freihandel zulässt. Das ist die richtige Antwort auf diese Finanzkrise. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die Unionsfraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schick, es wäre vielleicht sinnvoller gewesen, wenn Sie zu diesem Tagesordnungspunkt Ihren ursprünglichen Antrag mit dem Titel „Finanzmärkte besser regulieren - Krisen künftig verhindern“ eingebracht hätten. Da hätte es viele Schnittmengen gegeben; da wären wir in vielen Punkten durchaus gemeinsamer Auffassung gewesen und hätten das auch gemeinsam nach vorne bringen können. Sie haben sich - aus nachvollziehbaren Gründen - jetzt rein auf die Einführung einer Finanzumsatzsteuer konzentriert, weil Sie mit Ihrem Finanzmarktpapier wahrscheinlich auch eine Antwort auf die SPD-Forderung nach Einführung einer Börsenumsatzsteuer geben wollten. Vor Wochen zumindest lehnte Finanzminister Steinbrück die Einführung einer Börsenumsatzsteuer ab. Die jetzt im Finanzmarktpapier der SPD erhobene Forderung ist wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass er mehr in seiner Eigenschaft als stellvertretender SPD-Vorsitzender und weniger als zuständiger Finanzminister agiert. Das sollte Sie, Herr Schick, nicht veranlassen, die durchaus guten Vorstellungen, die Sie in Ihrem Finanzmarktpapier entwickelt haben, nicht mehr weiterzuverfolgen und sich einseitig auf eine unnötige Belastung des Finanzmarktes durch Einführung einer solchen Finanzumsatzsteuer zu konzentrieren. Ich habe mit Respekt und in gewisser Weise auch überrascht die Ausführungen der Kollegin Hauer gehört, die sich im Grunde genommen nicht nur gegen die Einführung einer Finanzumsatzsteuer ausgesprochen hat, sondern indirekt auch gegen die im Finanzmarktpapier der SPD geforderte Einführung einer Börsenumsatzsteuer. Vor diesem Hintergrund gibt es in dieser Debatte zwischen uns durchaus einige Gemeinsamkeiten. Wenn Sie, Herr Schick, sagen, mit Ihrem Vorhaben ginge keine Belastung der privaten Altersvorsorge einher, dann muss ich Ihnen entgegnen - darauf hat sich Frau Kollegin Hauer auch schon bezogen -: Wenn eine Belastung da ist, wird sie sich in kleinen Schritten kumuliert über die Zeit negativ auf die Rendite des Anlegers auswirken. Wenn eine Anlage auf diese Weise über 20 Jahre belastet wird, dann hat das durchaus nennenswerte Auswirkungen auf den Anlageprozess zur Folge. Die Einführung einer solchen Steuer muss auch im Hinblick auf Aktienkultur und Aktienanlagen gesehen werden: Aktien, die durch die Abgeltungsteuer jetzt schon stärker als beispielsweise Inhaberschuldverschreibungen oder Anleihen belastet sind, würden zusätzlich belastet. Das würde dazu führen, dass vernünftige Unternehmensfinanzierungen über den Aktienmarkt immer schwieriger würden. ({0}) Weiterhin würde eine solche Steuer eine Störung der Mobilität des Finanzkapitals mit sich bringen. Sie würde in einer Krise darüber hinaus prozyklisch wirken. ({1}) Wenn Sie, wie Sie schreiben, durch die Belastung mit einer solchen Steuer erreichen wollen, dass gerade die kurzfristigen Geschäfte am Finanzmarkt erschwert würden, dann sollten Sie bedenken, dass es auch einige Finanzinstrumente kurzfristiger Natur gibt, die durchaus stabilisierende Wirkungen gegenüber den Grundgeschäften haben. Wenn Sie diese zusätzlich belasten, würden Sie den gesamten Apparat der Sicherungsgeschäfte auf den Finanzmärkten erschweren. Hier sollte man immer das Ende bedenken. Weiter sagen Sie in Ihrem Antrag, die Finanzumsatzsteuer sorge für mehr Finanzmarktstabilität. Schauen wir uns einmal an, in welchen Ländern es Strukturen gibt, die einer Börsenumsatzsteuer oder einer Taxation anderer Art entsprechen. Da wären zum Beispiel das Vereinigte Königreich oder die USA zu nennen. Aber von diesen Ländern gingen doch überwiegend die Krisen, die auch uns erreicht haben, aus. Wenn eine solche Steuer Finanzmärkte stabilisieren würde, dann hätte es in diesen Ländern gar nicht zu diesen Vorkommnissen kommen dürfen. Von daher gehen Sie auch mit dieser Annahme in Ihrem Antrag fehl. Im internationalen Vergleich erkennen wir, dass im Vereinigten Königreich und in den USA nicht alle Elemente des Finanzmarktes in die Besteuerung einbezogen sind. Wenn Sie sagen, Obama werde das jetzt machen, dann sage ich: Gut, dann soll er einmal vorangehen. Ob dann andere Länder nachziehen, ist eine andere Frage. Herr Kollege Schäffler hat schon dargestellt, wie es im europäischen Vergleich ausschaut. Sie von den Grünen sagen ebenfalls, dass Sie keinen Alleingang wollen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei, die Länder, die bisher diese Finanzinstrumente wohlweislich und aus nachvollziehbaren Gründen abgelehnt haben, dazu zu bringen, einer europäischen Grundlage für eine solche Steuer zuzustimmen. Wir müssen uns fragen, ob wir die Europäische Union als eine Einheit ansehen, die selbstständig Steuern erhebt. Das haben wir bisher, Herr Kollege Schick, immer abgelehnt. Ich glaube, wir fahren gut damit, dass dies auch in Zukunft so bleibt. ({2}) Sie widersprechen sich in Ihrem Antrag selbst, indem Sie fordern, dass die Anteile im jeweiligen Land einen gewissen Stellenwert haben sollen und dass ein bestimmter Teil der Einnahmen in den Ländern verbleiben muss, weil sie sonst kein Interesse daran haben, diese Steuer zu erheben. ({3}) Das ist ein Widerspruch. Wenn Sie eine solche Steuer auf europäischer Ebene einheitlich erheben wollen, dann können Sie die nationale Zuständigkeit für bestimmte Bereiche nicht beibehalten. Daher der Hinweis: Ihr ursprünglicher Antrag war in diesem Punkt sehr viel besser. Heute Morgen gab es - auch von unserer Kanzlerin hervorragende Debattenbeiträge dazu, welche Erfordernisse sich für die Finanzmarktstabilisierung auf internationaler und auf europäischer Ebene in den nächsten Monaten ergeben werden. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Wir sollten - ausgehend von den G-20-Beschlüssen vom 15. November - die fünf Leitprinzipien, die bis zu 47 Einzelmaßnahmen im Hinblick auf den internationalen Finanzmarkt und seine Stabilisierung nach sich ziehen, nicht nur als Ankündigung sehen, sondern auch dafür sorgen, dass sie in den nächsten Monaten Schritt für Schritt umgesetzt werden. Wir sollten einen Teilbereich besonders beachten. Angesichts der europäischen Einigkeit, was Elemente der Finanzmarktstabilisierung betrifft, sollten wir gemeinsam mit den USA und dem gesamten angelsächsischen Bereich diese Beschlüsse umsetzen, weil jetzt das Zeitfenster gegeben ist. Wenn diese Krise in einigen Jahren überstanden ist, dann werden wir uns in einem Zustand wiederfinden, den es vor zwei bis zweieinhalb Jahren gegeben hat, als in diesem Bereich wenig Sensus für Regulierung und für Elemente der Finanzmarktstabilisierung vorhanden war. Es geht um Transparenz, um mehr Rechenschaftspflichten und um die Verbesserung der Regulierung. Es muss das Ziel sein, dass es weltweit keine weißen Flecken mehr gibt, was die Regulierung von Finanzmarktprodukten anbelangt. Dazu gehört auch die Austrocknung von Steueroasen. Dies muss aber in gegenseitigem Respekt geschehen und nicht mit dem Einsatz von verbalen Machtinstrumenten. Dazu gehört auch die Forderung, die Integrität des Finanzmarktes zu wahren, die internationale Zusammenarbeit zu stärken und Institutionen wie IWF und das Financial Stability Forum mit den Kompetenzen auszustatten, die es ihnen ermöglichen, die angestrebten Ziele zu erreichen. Deshalb sind für uns - im Gegensatz zu Ihnen - die Stabilisierung und Weiterentwicklung der internationalen Finanzarchitektur eine sinnvolle Zielsetzung. Darauf sollten wir uns konzentrieren und nicht auf eine zusätzliche Belastung der Finanzmärkte durch die von Ihnen vorgeschlagene Steuer. Wenn es Europa auf dem Londoner Gipfel gelingt, mit einer Stimme zu sprechen, dann bietet sich damit eine hervorragende Grundlage, internationale Vereinbarungen zu treffen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der uns vorliegende Antrag ist gewissermaßen ein Symbol für eine sehr interessante momentane Entwicklung. Ich will sie mit folgenden Worten beschreiben: Wir müssen etwas gegen den Finanzkapitalismus tun; aber das darf ihm nicht wehtun. - Wir halten das ausdrücklich für falsch. Wenn Union und FDP gar einem finanzpolitischen Weiter-so, wie es soeben erfolgt ist, das Wort reden, ist das eine besonders fatale Entwicklung, die uns nicht aus der Krise herausführt, sondern in das nächste Chaos hinein. ({0}) Begonnen hat das alles heute Morgen. Die Frau Bundeskanzlerin hat ja nicht in erster Linie als Kanzlerin geredet, sondern als CDU-Vorsitzende. Das mag sich die CDU gewünscht haben. Aber für eine konsequente Politik, die uns aus der Krise herausführt, ist das natürlich der falsche Weg. Beschwichtigen, zurückrudern - eine solche Politik können wir nicht hinnehmen. ({1}) Natürlich geht der Vorschlag der Grünen in die richtige Richtung. Er ist eine aktuelle Einladung an Finanzminister Steinbrück. Auch der proeuropäische Ansatz ist unterstützenswert. Es wäre sogar, wie wir wissen, eine Mehrheit im Bundestag vorhanden, diesen Antrag zu beschließen. Aber den bei diesem Ausmaß der Krise notwendigen Schritten wird auch dieser Antrag nicht gerecht. Sie hatten bereits - daran muss ich Sie erinnern - im ersten Halbjahr 2007 die Möglichkeit, einem nicht gleichen, aber ähnlichen Antrag der Fraktion Die Linke zuzustimmen. Vor zwei Jahren wurden wir für diesen Vorschlag in der Debatte - ich habe sie mir noch einmal angeschaut - bestenfalls verlacht. Dabei haben wir damals - da waren wir noch nicht mutig genug - noch nicht einmal Karl Marx, sondern die Ökonomen Keynes, Tobin und Stiglitz zitiert. Der Antrag der Grünen im Wandel - dies ist schon von meinem Vorredner angesprochen worden. Er hieß nämlich bis vorgestern: „Finanzmärkte besser regulieren Krisen künftig verhindern“. Ich hielte das für weitaus mutiger. Der jetzige Antrag war in diesem enthalten. ({2}) Ich hoffe, dass dabei nicht die Analyse Pate stand, dass die Partei der Grünen die Wählerinnen und Wähler mit den höchsten Einkommen hat, inzwischen Empfängerin von Spenden aus der Finanzwirtschaft ist - ebenso wie CDU, CSU, FDP und SPD ({3}) und nur 1 Prozent der Bevölkerung sagt, dass sich die Grünen in der Krise um sozial Benachteiligte kümmern. Auch ist immer noch das Wort Ihres Übervaters Joschka Fischer aus dem Jahre 2003 nachzulesen, der seiner Partei meinte ins Stammbuch schreiben zu müssen: Wir können nicht Politik gegen die Finanzmärkte machen. In dem vorliegenden Antrag gibt es ein sehr großes praktisches Problem. Es wird nichts zur Höhe der vorgeschlagenen Steuer gesagt. Kollege Schick hat nun etwas dazu dargestellt. Aber wer Steuerforderungen erhebt, muss, weil Steuern nun einmal etwas mit den vier Grundrechenarten zu tun haben, auch etwas zur Höhe sagen; denn die Höhe hat sehr wohl Einfluss auf die Qualität. Nur wenn eine bestimmte angemessene Höhe erreicht wird, wird auch das Ziel, Kapital investiv und nicht spekulativ anzulegen, erreicht werden. Bleibt der Satz aber so gering - möglicherweise so gering, wie Sie ihn im Zusammenhang mit einem Vergleich angeben, nämlich ein 100stel Prozent -, dann orientiert sich das, was wir mit dieser Steuer erreichen wollen, am Umsatz. Sie zielen damit gewissermaßen darauf, am Geschäft des Kasinos ein bisschen mitzuverdienen. Insofern sage ich: Der Antrag spiegelt die Situation wider, mit der wir es jetzt zu tun haben. Er ist zwar nicht falsch, aber auch nicht konsequent genug. Leider stellen wir auch fest, dass sich Bundesfinanzminister Steinbrück am Krebsgang orientiert. Er hat noch vor kurzem die lückenlose Kontrolle der Hedgefonds gefordert. Jetzt erfahren wir: Von 9 000 weltweit agierenden Hedgefonds sollen gerade einmal 100 in diese Kontrolle einbezogen werden. Seine Forderung nach Einführung einer Börsenumsatzsteuer hat er ausdrücklich im Zusammenhang mit dem SPD-Wahlprogramm bekannt gegeben und nicht in seiner Funktion als Bundesminister. Was das bei der SPD bedeutet, wissen wir von Franz Müntefering, der es schlicht und einfach unfair nannte, dass man ihn nach der Wahl daran erinnert, was er vor der Wahl gesagt hat. Zurück zur Fraktion der Grünen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Claus, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Komme ich auch, Frau Präsidentin. - Mein Fazit ist: Schlecht regieren konnten die Grünen gut. Gute Opposition müsst ihr noch üben. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12303 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung datenschutzrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/12011 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit - 21. Tätigkeitsbericht - Drucksachen 16/4950, 16/12271 Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp Gisela Piltz Silke Stokar von Neuforn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich begrüße ganz ausdrücklich den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, der an dieser Debatte über seinen Tätigkeitsbericht und den Gesetzentwurf teilnimmt. ({2}) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp für die Unionsfraktion. ({3})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Du kannst immer bei mir klatschen, weil ich vernünftige Sachen sage. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum 21. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz liegt Ihnen eine fraktionsübergreifende Entschließung vor, die den sogenannten kleinsten gemeinsamen Nenner aller Beteiligten darstellt. ({0}) - Es ist der kleinste, aber immerhin, Herr Bürsch. Wenn viele Arbeitsgruppen und Berichterstatter das schaffen würden, wären wir in der Bevölkerung vielleicht erheblich besser angesehen, als das im Augenblick der Fall ist. ({1}) Herr Bürsch, fraktionsübergreifend sind wir uns darüber einig, dass angesichts der technologischen Entwicklung der vergangenen Jahre immer deutlicher wird, dass wir unser Datenschutzrecht in seiner Gesamtheit überdenken und überarbeiten müssen. Es wird wesentlich darauf ankommen, zu verhindern, dass es am Ende unendlich viele Einzelregelungen und bereichsspezifische Sonderregelungen gibt. Wir brauchen ein stringentes Datenschutzrecht aus einem Guss. ({2}) Zur Ehrlichkeit gehört natürlich auch, zuzugeben, dass es im Bereich des Vollzugs der Datenschutzaufsicht und wohl auch im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes erhebliche Defizite gibt. ({3}) Hier sind die Länder besonders gefordert. Intensive Gespräche zu diesen Themen wurden dort bereits auf den Weg gebracht. Es ist guter Brauch, an dieser Stelle dem Bundesdatenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Arbeit Dank zu sagen. Ich tue das im Namen meiner Fraktion auch in diesem Jahr ausdrücklich und freue mich, dass ich das durch Augenkontakt unterstreichen kann. Das ist ja einmal etwas Nettes. ({4}) Bei der heutigen Debatte liegt das Hauptaugenmerk zweifellos auf dem Gesetzentwurf zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung datenschutzrechtlicher Vorschriften. Das Ausmaß der öffentlichen Diskussion über die in diesem Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen und die sich bereits jetzt abzeichnenden Konsequenzen für ganze Branchen verlangen nach einer intensiven, ernsthaften und ausgewogenen Auseinandersetzung mit den Betroffenen und den Interessengruppen. Ich habe ebenso wie viele von Ihnen in den vergangenen Monaten sehr viele Einzelgespräche mit Unternehmern, Verbandsvertretern, mit Vertretern unterschiedlichster Branchen, aber auch mit Datenschützern und Verbraucherschützern geführt. Ich wiederhole hier deshalb sehr eindringlich, vor allem nach unserer fraktionsinternen Anhörung in der vorigen Woche: Das Ende der Überlegungen und der Auseinandersetzungen mit diesem heiklen Thema sehe ich noch lange nicht. ({5}) Die Abschaffung des Listenprivilegs und die gleichzeitig geplante Einführung eines umfassenden, verpflichtenden Opt-in sind die wesentlichen Streitpunkte. Nach derzeitiger Rechtslage ist die Weitergabe und Nutzung von Name, Adresse, Geburtsdatum und Berufsbezeichnung verbunden mit jeweils einem zusätzlichen Merkmal gestattet. Nach dem sogenannten Listenprivileg ist dies immer dann rechtlich zulässig, wenn es sich nicht um Daten einzelner Personen handelt, sondern um listenmäßig zusammengefasste Daten. Ich glaube sogar, daher stammt dieser Begriff. ({6}) - Das muss einmal gesagt werden, Herr Bürsch. ({7}) Damit nähern wir uns den Realitäten erheblich. - In diesem Fall müssen die Betroffenen zwar nicht über die Weitergabe oder Nutzung informiert werden, sie haben aber jederzeit die Möglichkeit - schon nach geltendem Recht -, einer Weitergabe oder Nutzung zu widersprechen. Das ist das sogenannte Opt-out. Selbstverständlich gibt es ein Auskunftsrecht über gespeicherte Daten. Der uns nun vorliegende Gesetzentwurf will nicht nur dieses Privileg, von dem ich immer sage, dass es gar keines ist, gänzlich abschaffen, sondern zugleich einen Kurswechsel um 180 Grad vornehmen. Ich bin aber sicher, dass wir mit der Abschaffung des Listenprivilegs und der Einführung eines verpflichtenden Opt-in über das eigentliche Ziel von Datenschutz hinausschießen. Damit wird, wenn man ehrlich ist, effektiver Verbraucherschutz mehr als fraglich. ({8}) Wenn personifizierte, also auf einen speziellen potenziellen Kunden abzielende Werbung nicht mehr möglich ist - das wird dann der Fall sein -, dann sind unter anderem folgende Alternativen zu befürchten - ich zähle sie einmal auf -: Jeder Einzelne wird dann Opfer ungefilterter flächendeckender Werbung, die im Vergleich zu heute erheblich zunehmen wird. ({9}) - Nein, ich glaube nicht alles, Frau Stokar, sondern ich kann mir, weil der gesunde Menschenverstand selten hinderlich ist, ausmalen, wie sich Werbung vollzieht, wenn nicht mehr personifiziert geworben werden kann, sondern flächendeckend geworben wird. Dann habe ich mehr Werbung im Briefkasten als jetzt, nur mit dem Unterschied, dass meine Adresse nicht mehr draufsteht. Es gibt noch andere Möglichkeiten. Es wird wieder vermehrt Drückerkolonnen geben, die zu passenden oder unpassenden Zeiten an der Haustür klingeln und uns belästigen; ich empfinde das jedenfalls so. Es wird natürlich, auch wenn es inzwischen gesetzlich eingeschränkt ist, zu vermehrter Telefonwerbung kommen. ({10}) Also müssen wir uns fragen, ob wir das wollen und ob sich tatsächlich etwas für den Verbraucher verbessert. Das finde ich jedenfalls mehr als fraglich. Schon jetzt ist absehbar, dass ein verpflichtendes Opt-in aus unterschiedlichsten Gründen das künftig verfügbare Adressmaterial erheblich reduzieren wird. Da helfen auch keine Ausnahmen für etwaige Sondergruppen wie Spendenorganisationen. Denn die Zahl der Adressen, auf die sie zugreifen können, wird so reduziert sein, dass sie in ihrer Existenz bedroht sein werden und ihre Arbeit eigentlich auch sein lassen könnten. Man muss sich überlegen, ob man das in unserer Gesellschaft möchte. ({11}) Der nächste Punkt. Die Auswirkungen werden auch die deutsche Wirtschaft treffen. Ich meine, dass das in der derzeitigen Wirtschaftssituation kaum zu verantworten ist. Ich will auf Folgendes aufmerksam machen: 337 000 Anwender haben sich 2007 des MarketingBeatrix Philipp instruments der volladressierten Werbesendung mit einem Aufwendungsvolumen von 11,5 Milliarden Euro bedient. Man kann sagen, dass das unheimlich viel ist; aber ich weise darauf hin, dass die Alternativen anders aussehen. Die Zahlen sprechen im Hinblick auf gesamtwirtschaftliche Konsequenzen und Arbeitsplätze für sich. Man kann nicht sagen, das erzähle immer die Wirtschaft; es liegt eigentlich auf der Hand und muss erhebliche Berücksichtigung finden. Ohne wesentliche Änderungen zeichnen sich für einen Großteil der Wirtschaft Konsequenzen in einem Ausmaß ab, wie ich es für nicht akzeptabel halte: für die Unternehmen, die auf ständige Neukundengewinnung angewiesen sind - jeder im Versandhandel und bei Zeitschriftenverlagen sagt Ihnen, dass sie jedes Jahr 10 Prozent Neukunden brauchen, um den Verlust an Kunden auszugleichen -, für die Werbung und die Direktmarketingbranche, für Firmen und für Existenzgründer. Im April dieses Jahres findet die 60. Meisterfeier bei der Handwerkskammer in Düsseldorf statt. Der Handwerksmeister, der mit dem Meisterbrief nach Hause geht und beschließt, all die anzuschreiben, die er gut bedienen und beraten könnte, hat diese Möglichkeit demnächst nicht mehr, weil ihm die Adressen fehlen. Man muss sich genau überlegen, ob man das will. Nicht zuletzt gibt es erhebliche Konsequenzen für Sonderbereiche, denen man bereits durch entsprechende Sonderregelungen entgegenzukommen versucht. Man hat schon gesehen, dass es da Probleme gibt. Aber wie gesagt: Die Ausgangslage ist, dass das Adressenmaterial erheblich reduziert sein wird. Den Bereich der Marktund Meinungsforschung wird es in dieser Zuverlässigkeit nicht mehr geben. Im Bereich der Versicherungen wird ein verpflichtendes Opt-in aufgrund des gesetzlich vorgeschriebenen versicherungsspezifischen Spartenprinzips zu einer erheblichen Belastung; und wir sehen Korrekturbedarf für den Bereich der Fachpresse. Schließlich - ich will mich jetzt beschränken, weil wir in der nächsten Woche eine Anhörung durchführen glaube ich, dass wir uns auf die Dinge konzentrieren sollten, für die ich mich von Anfang an eingesetzt habe. Ich sage: Wir brauchen mehr Datensicherheit und nicht nur mehr Datenschutz. Die Abschaffung des Listenprivilegs muss grundsätzlich überdacht werden inklusive der Problematik, die mit einem juristisch einwandfreien Opt-in verbunden ist, das vor Gericht Bestand hätte. Das gibt es nämlich noch nicht; auch darauf sind wir aufmerksam gemacht worden. Das Kopplungsverbot muss uneingeschränkt gelten. Wir brauchen eine große Robinsonliste und eine firmeninterne kleine Robinsonliste mit einer Hinweispflicht durch die Unternehmen. Wir brauchen eine Kennzeichnungspflicht bezogen auf die letzte Quelle der Daten. Wie gesagt: Der Vollzug muss verbessert werden. Dies ersetzen wir nicht mit der bisher vorgesehenen Auditregelung. Meine Damen und Herren, wir bewegen uns in einem sensiblen Bereich, in dem man sehr genau überlegen muss, an welchen Stellschrauben man dreht, wenn man unerwünschte Ergebnisse, zum Beispiel die Abwanderung von Firmen ins Ausland, vermeiden möchte. Wir stehen am Anfang einer Debatte, die in erheblichem Maße geeignet ist, bei der Bevölkerung Problembewusstsein zu schaffen; das ist gut. Es besteht aber auch die ernst zu nehmende Gefahr, dass man Firmen mit allzu hohen Hürden, zu strengen Auflagen und zu großen Belastungen ins Ausland treibt, in Länder, in denen mit verschiedenen Auflagen maßvoller umgegangen wird als bei uns; das wäre schlecht. Insofern hoffe ich auf eine ernsthafte Debatte, getragen von dem Willen, für einen angemessenen und abgewogenen Umgang mit Datenschutz und Datensicherheit zu sorgen. Der Überweisung des Gesetzentwurfes an die Ausschüsse stimme ich natürlich zu. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird endlich gut. Vor dem Hintergrund des Themas, über das wir heute diskutieren, sollte man hinter diesem Satz eher ein Fragezeichen als ein Ausrufezeichen setzen. Denn um dieser Aussage zumindest noch ansatzweise gerecht zu werden, läuft Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Großen Koalition, langsam die Zeit davon. Sie haben lange - ich finde: zu lange - gebraucht, um dafür zu sorgen, dass wir dieses Thema debattieren. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Denn aus meiner Sicht hätte die Debatte über die Vorschriften, um die es heute geht, schon längst geführt werden können, sogar schon längst geführt werden müssen. ({0}) Nicht erst die jüngsten Datenskandale zeigen eindrucksvoll, dass dem gewissenlosen Umgang und dem Herumvagabundieren von Daten - heute kann man Daten ohne Probleme im Internet kaufen - durch gesetzliche Regelungen schon längst ein Riegel hätte vorgeschoben werden müssen. In der kurzen mir zur Verfügung stehenden Redezeit gehe ich auf zwei wichtige Punkte des Gesetzentwurfes ein. Zunächst möchte ich ein paar Worte zum Entwurf eines Datenschutzauditgesetzes verlieren. Das Bundesdatenschutzgesetz sieht diese Möglichkeit schon seit dem Jahre 2001 vor. So lange haben Sie gebraucht, um dies in die Wege zu leiten. Das sage ich auch an die Adresse der Grünen, die dafür ebenfalls viel Zeit gehabt hätten. Wenn dieses Parlament für alles neun Jahre braucht, mache ich mir wirklich Sorgen. Obwohl die Bundestagsfraktion der FDP schon lange die Etablierung eines Datenschutzsiegels fordert, kann ich Ihrem Gesetzentwurf, abgesehen von seiner Zielsetzung, nicht furchtbar viel abgewinnen. Er lässt klare Prüfungsmaßstäbe vermissen. Des Weiteren fehlt die Möglichkeit, neben Unternehmen auch Produkte, Dienstleistungen und Verfahren zu auditieren. Mein Hauptkritikpunkt ist der unwahrscheinlich große bürokratische Aufwand, den der Gesetzentwurf mit sich bringt. Mit diesem bürokratischen Monstrum wird die Zielsetzung, einen unbürokratischen Datenschutz zu etablieren, geradezu konterkariert. ({1}) Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang an Ihren Koalitionsvertrag erinnern - ich weiß, dass Sie sich nicht daran erinnern wollen; wir erinnern Sie aber gerne -, in dem steht: Das Datenschutzrecht bedarf vor dem Hintergrund der technischen Entwicklungen der Überprüfung und an verschiedenen Stellen der Überarbeitung und Fortentwicklung. Bei dieser Aufgabe werden wir auch prüfen, ob im Hinblick auf den Abbau überflüssiger Bürokratie Änderungen vorgenommen werden können. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Gemessen an diesem Satz haben Sie das Ziel Ihres Gesetzentwurfes wirklich verfehlt. ({2}) Das zweite zentrale Anliegen des Gesetzentwurfes - dazu hat sich Frau Philipp ausführlich geäußert; sie hatte auch mehr Zeit als ich - ist die Etablierung des sogenannten Opt-in-Verfahrens und die Abschaffung des generellen Listenprivilegs. Wenn man dem, was man immer wieder hört, Glauben schenken kann, ({3}) ist dies wohl ein schwieriges Thema. ({4}) Ich finde es interessant, dass Sie, Frau Philipp, die gesamte Redezeit Ihrer Fraktion für sich beansprucht haben. Ich hätte gerne auch gewusst, was der Bundesinnenminister, die Staatssekretärin im Verbraucherschutzministerium und die verbraucherschutzpolitischen Fachleute Ihrer Fraktion dazu sagen. Dazu haben Sie sich allerdings nicht geäußert. Das bedaure ich außerordentlich. Ich weise Sie darauf hin, dass jeder Haushalt 137 Werbebriefe pro Jahr erhält, die er möglicherweise gar nicht bekommen möchte. Falls Sie in diesem Zusammenhang Drückerkolonnen im Blick haben, frage ich mich, ob die CDU/CSU-Fraktion das EU-Recht ändern oder das Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften einschränken möchte. Das wäre nämlich das Szenario, das Sie an die Wand gemalt haben. Eines ist klar: Die Technik ist heute weiter, als das Listenprivileg alt ist. Heutzutage kann man ruck, zuck Daten vermengen oder gegeneinander austauschen. All das ist heute viel schneller möglich als früher. Dieser Entwicklung muss man sich stellen, und dieser Entwicklung stellen wir uns. Ich denke, es ist nach wie vor richtig, zu sagen: Ich bestimme, was mit meinen Daten passiert, sei es nur ein einziges persönliches Merkmal, das hinzukommt. Ich entscheide, ob man meine Daten benutzt oder nicht. Wenn man das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ernst nimmt, muss man darüber nachdenken. Wir halten das nach wie vor für den richtigen Weg. ({5}) Leider sind die von uns geforderten Datenmarker noch nicht in den Gesetzentwurf aufgenommen; wir würden das für klug halten. Durch sie könnte man seine Ansprüche wirklich durchsetzen. Von daher bleibt aus unserer Sicht festzustellen, dass man noch viel verbessern kann. Insbesondere muss man auch für den Datenschutzbeauftragten mehr Geld zur Verfügung stellen. Ich halte es immer für ein bisschen schwierig, wenn die Vertreter der Großen Koalition hier darüber sprechen, dass man ihn besser ausstatten muss. Sie folgen nämlich im Haushaltsausschuss nicht den entscheidenden Anträgen, ihm mehr Geld zur Verfügung zu stellen, und äußern sich hinterher öffentlich im Fernsehen und sagen, er müsste mehr Geld bekommen. Das ist Doppelmoral. Das hat der Bundesdatenschutzbeauftragte nicht verdient. ({6}) Noch kurz zum Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten, der aus meiner Sicht eine eigene Debatte verdient hätte: Ich bin froh, dass wir die Tradition fortsetzen konnten; das teile ich, Frau Philipp. Ich fände es aber auch schön, wenn die Regierung dem Parlament folgen würde und nicht zum wiederholten Male - wie beim Arbeitnehmerdatenschutz - unsere Forderungen missachtet. Vielleicht wird einmal alles besser. Die Skandale haben schließlich gezeigt: Es besteht Nachbesserungsbedarf. Zum Schluss gilt mein Dank in diesem Zusammenhang den Mitberichterstattern, unseren Mitarbeitern und dem Bundesdatenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeitern. Ich bin stolz, dass wir das wieder hinbekommen haben. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion.

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Datenschutz ist heutzutage Verbraucherschutz. Dies wird nicht zuletzt durch eine Studie des Nürnberger Marktforschers GfK deutlich. Danach haben im vergangenen Jahr 29,5 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher im Internet eingekauft. Das sind 12 Prozent mehr als 2007. Der Umsatz der Onlineshops stieg damit 2008 um erstaunliche 19 Prozent und hat sich seit 2003 mehr als verdoppelt. Bei all diesen virtuellen Einkäufen hinterlassen die Verbraucherinnen und Verbraucher ihre E-Mail-Adresse, tippen ihre Kontoverbindung ein oder geben ihre Kreditkartennummer preis. Wer einen Job sucht, stellt seinen Lebenslauf online. Wer Freunde treffen will, bewegt sich in sozialen Onlinenetzwerken. Wer einen Partner sucht, wird in seiner Darstellung zwangsläufig sehr persönlich. Das Datenschutzrecht muss deshalb modernisiert werden. Es muss auf der Höhe der rasanten technischen Entwicklung bleiben. Missbräuche müssen drastisch reduziert werden. ({0}) Zum Glück ist unsere Rechtsprechung eindeutig. Es gilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Da hat sich in der Vergangenheit einiges verschoben. Ich erinnere an die vielfältigen Skandale, die es gab. Das muss wieder ins Lot gebracht werden. Deshalb begrüßen wir den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung grundsätzlich. Es ist richtig, wenn das bestehende Listenprivileg modifiziert wird. Dieses Privileg hat leider dazu beigetragen, dass persönliche Daten weitläufig und für den Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar und überprüfbar verstreut werden. Dies entspricht nicht dem erwähnten Grundrecht. Folgendes sage ich auch als Verbraucherpolitiker. Fakt ist: Ein funktionierendes Wirtschaftssystem und ein funktionierender Wettbewerb brauchen nun einmal die Werbung. Gerade junge und kleine Unternehmen müssen in der Lage sein, Kunden zu akquirieren, um sich am Markt zu behaupten. Es ist auch nicht verwerflich, wenn Werbung zielgruppengerecht erfolgt. Deshalb sollten wir es im weiteren Beratungsverfahren möglich machen, beim Listenprivileg zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Durch diese Lösung muss auf der einen Seite Datenmissbrauch zukünftig verhindert und darf auf der anderen Seite der Wettbewerb der Unternehmen nicht behindert, sondern soll letztendlich gefördert werden. Es darf nicht sein, dass bei vielen Produktbestellungen im Internet ein Datenstriptease nötig ist, um die Bestellung zu realisieren. Deshalb brauchen wir ein wirksames Kopplungsverbot. Das Prinzip der Datensparsamkeit muss auch hier gelten. ({1}) Für unsere Verbraucherpolitik gilt das Prinzip der gleichen Augenhöhe. Deshalb plädiere ich eindeutig und nachdrücklich dafür, dass wir die rechtliche Position der Verbraucherinnen und Verbraucher bei Verstößen gegen den Datenschutz deutlich verbessern. Dies muss durch eine Erweiterung des Verbandsklagerechts für Verbraucherverbände auf den Datenschutz, verankert im Unterlassungsklagegesetz, erfolgen. ({2}) Schließlich brauchen wir ein Datenaudit. Dieses muss effizient, wenig bürokratisch und eindeutig sein. ({3}) Wenn mögliche Gremien etabliert werden, dann sollte darin auch die Verbraucherseite Berücksichtigung finden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der aktuelle Gesetzentwurf ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Ansonsten gilt wie immer für uns das Struck’sche Gesetz. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Redeliste weist aus, dass die Fraktion Die Linke wollte, dass die Ab- geordnete Petra Pau jetzt spricht. Aus nachvollziehbaren Gründen bin ich anderweitig beschäftigt. Deshalb neh- men wir diesen Beitrag für die Fraktion Die Linke zu Protokoll1). Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gern würde ich die Redezeit der Präsidentin übernehmen; denn ich stehe jetzt vor der Aufgabe, innerhalb von vier Minuten vier sehr komplexe Datenschutzthemen zu bewerten. Deswegen das Wichtigste zuerst. Mein Dank geht an Peter Schaar und sein Haus für die Vorlage des 21. Tätigkeitsberichts, aber natürlich nicht nur für diesen Bericht, sondern auch für die engagierte Arbeit für den Datenschutz. Wenn wir nur ein paar Empfehlungen des Bundesdatenschutzbeauftragten mit Mehrheit im Parlament beschließen würden, dann wären wir alle ein Stück weiter. ({0}) Meine Geduld an der Gemeinsamkeit, dass wir Jahr für Jahr feststellen, dass beim Thema Datenschutz etwas geschehen muss, aber diejenigen, die jetzt regieren, sich keinen Millimeter bewegen wollen, hat ein Ende gefun- den. 1) Anlage 2 ({1}) Ich habe heute hier etwas erlebt, was ich bisher noch nie erlebt habe, nämlich den Verriss eines Gesetzentwurfs von Bundesinnenminister Schäuble durch die CDU/CSU-Fraktion, wie es schlimmer eigentlich nicht mehr gehen kann. Der Bundesinnenminister, den ich selten lobe, hat ein durchaus ambitioniertes Datenschutzgesetz für den privaten Bereich vorgelegt, nicht freiwillig, sondern als Antwort auf zahlreiche Datenschutzskandale und sicherlich auch - ich kenne ihn schließlich gut -, um sich gegenüber der Öffentlichkeit zu entlasten und um im Windschatten der Debatte um Datenschutz in der Privatwirtschaft die staatliche Überwachung weiter auszubauen. Dass Sie, meine Damen und Herren von der CDU, durch Ihre Kollegin Frau Philipp dieses Datenschutzgesetz in der Plenardebatte jedoch öffentlich in Grund und Boden stampfen, das ist schon ein besonderes Ereignis. Ich habe es so vernommen, dass Opt-in mit dem heutigen Abend gestorben ist. Von der SPD war hierzu wenig zu hören. Herr Bürsch hat sich gegenüber dem Handelsblatt ähnlich geäußert. Deswegen möchte ich Ihnen noch einmal erklären, worum es eigentlich geht. Es geht nicht um eine Belästigung durch Werbeflut. Vielmehr geht es darum, dass hinter meinem Rücken mit meinen Daten, die ich für einen bestimmten Zweck zur Verfügung gestellt habe, weil ich im Internet etwas kaufen wollte, Kundenprofile von mir erstellt werden und dass diese Kundenprofile von einem Unternehmen an ein anderes Unternehmen weiterverkauft werden und dass ich diesbezüglich keine Transparenz habe und ich mich auch nicht dagegen wehren kann. ({2}) Opt-in ist im Internetzeitalter überhaupt kein Problem. Mit einem Mausklick erklärt man sich damit einverstanden, dass einem weitere Informationen zugeschickt werden, oder nicht einverstanden. Das ist seit dem Volkszählungsurteil ein Grundsatz des Datenschutzes. Ich bestimme über meine Daten. Meine persönlichen Daten sind keine beliebige Ein-Euro-Ware. Sie von der CDU/CSU machen sie erneut dazu und tragen damit auch die Verantwortung für die weiteren Skandale in der Privatwirtschaft. ({3}) Ich kann jetzt nur noch ein paar Worte zum Datenschutzaudit sagen. In der Anhörung im Innenausschuss werden wir intensiv darüber reden. Seit zehn Jahren wollen wir dieses Datenschutzaudit, das heißt, wir wollen ein Gütesiegel für diejenigen, die einen vorbildlichen Datenschutz betreiben. Auch hier: Auf Ihrem Gesetzentwurf steht Datenschutzaudit, aber ein Datenschutzgütesiegel ist noch lange nicht darin enthalten. Wir sind gerne bereit, an der Verbesserung dieses Gesetzentwurfs mitzuwirken. Wir wollen Qualitätsstandards, die staatlich gesetzt werden und eingehalten werden müssen. Sie arbeiten hier mit einem Placebo. Wenn Sie meinen, man kann die Verbraucherinnen und Verbraucher heute noch mit einem Datenschutzgütesiegel light hinters Licht führen, dann haben Sie sich getäuscht. Gehen Sie diesen Weg, und schaffen Sie ein vernünftiges Datenschutzgütesiegel, dann haben Sie uns an Ihrer Seite. Was hier heute zu hören war, zeigte aber: Die Große Koalition wird beim Thema Datenschutz trotz der zahlreichen Skandale nichts mehr bewegen. ({4}) Den Arbeitnehmerdatenschutz haben Sie ja schon beerdigt. Ich bedaure dies und hoffe, dass wir das Thema in der nächsten Legislaturperiode mit anderen Leuten erneut angehen. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Michael Bürsch das Wort.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ist vielleicht die Gelegenheit, mal wieder etwas Ruhe und Abgeklärtheit in der Debatte zu schaffen. ({0}) Verehrte Kollegin Stokar, wenn es um die Große Koalition und ihre Vorhaben geht, dann halte ich mich an meinen und unseren Innenminister. Innenminister Wolfgang Schäuble hat gesagt, er schließe Nachbesserungen zwar nicht aus, er warne aber vor einem Scheitern. Ich zitiere: Wir müssen den Datenschutz im privaten Bereich noch stärker durchsetzen. Daher müssen wir hier auf jeden Fall noch etwas in dieser Legislaturperiode tun. Genau so wird es geschehen. Frau Philipp hat ein paar kritische Anmerkungen gemacht. Das ist wohl erlaubt. ({1}) Nach dem Motto „Wo bleibt das Positive?“ sage ich: Bitte schön, jetzt nenne ich einige Punkte, die wir uns mit dieser Datenschutznovelle und dem ganzen Drumherum vornehmen. Zunächst einmal zum wichtigsten Punkt. Die SPD, die Grünen und ich weiß nicht, wer noch alles, haben in der Tat schon vor Jahren bzw. Jahrzehnten gefordert, dass ich nicht mehr, wie das bislang üblich war, widerrufen muss, wenn jemand meine persönlichen Daten verwendet, sondern ich vorher einwilligen muss: vorherige Einwilligung statt Widerruf. Frau Stokar von Neuforn, Frau Piltz und all die anderen, die sich hier kritisch geäußert haben, es ist doch auch nach Ihrer Einschätzung ein Paradigmenwechsel, dass dies in den Vordergrund gerückt wird und dass wir dies auch aufgrund der Lehren, die wir aus den Datenschutzskandalen gezogen haben, ernst nehmen. Das ist die Richtschnur, die uns bei allem, was in dem Gesetzentwurf enthalten ist und was wir noch umsetzen wollen, leiten wird. Es geht um Einwilligung statt Widerruf. Im zweiten Schritt rede ich gerne über Listenprivileg und all die Begriffe, die kaum jemand hier kennt. Auch wenn wir jetzt um 20.15 Uhr nur noch unter Eingeweihten hier sitzen, rate ich sowie einmal dazu, dass man die ganze Debatte so führt, dass andere sie auch verstehen. ({2}) Wer weiß, was ein Audit ist, wer weiß, was ein Kopplungsverbot ist, und, Kollege Zöllmer, wer weiß, was das Struck’sche Gesetz ist? Ich erläutere zumindest das: Das Struck’sche Gesetz stammt von Peter Struck und bedeutet: Kein Gesetz kommt so aus diesem Bundestag heraus, wie es als Entwurf hineingekommen ist. Genau das ist die Devise, nach der ich an dieses Gesetz herangehe. Nach den 37 Gesprächen und all den Treffen mit Verbänden und Vereinen, die ich gehabt habe - wie wahrscheinlich viele andere hier auch -, bin ich mir ganz sicher, dass wir Wege finden werden. Wir haben im letzten halben Jahr viel dazugelernt, und wir werden Lösungen finden. Wir werden unsere Aufgabe erfüllen, die darin besteht, verehrte Frau Stokar, als Gesetzgeber einen Interessenausgleich zu finden. Das ist unsere Aufgabe: auf der einen Seite ein Interessenausgleich zwischen einem enormen Fortschritt im Datenund Verbraucherschutz - das will ich, und das will auch die SPD -, aber auf der anderen Seite mit Augenmaß, was die Risiken, Wirkungen und Nebenwirkungen angeht. Das ist keine große Einschränkung der dritten Art, sondern es bedeutet, dass wir nicht nur den Datenfluss wollen - wir leben im 21. Jahrhundert -, sondern auch den Datenschutz. Dabei ist für mich maßgeblich, was wir im Gesetzentwurf vorgesehen haben und was für uns alle die Richtschnur sein muss, nämlich Einwilligung statt Widerruf. Wir werden auch den Datenschutz in der Wirtschaft verbessern. Das ist die Zielsetzung, die wir im Grunde in den vielen Gesprächen mit der Wirtschaft verabredet haben. Damit ist mir allerdings etwas anderes wichtiger als das, was mit einem freiwilligen Zertifizierungsverfahren gemeint ist. Mir ist viel wichtiger, was schon im Gesetz steht, aber in der Praxis noch nicht stattfindet, nämlich dass wir viel stärker darauf achten, wie die Daten, mit denen gehandelt wird und die hin und her fließen, verschlüsselt sind und wie sie entschlüsselt werden können. ({3}) Die Möglichkeiten der Verschlüsselung werden bei weitem noch nicht genutzt, im Gegenteil. In § 3 a des Bundesdatenschutzgesetzes ist das wunderbar geregelt. Danach sollen Daten anonymisiert oder mit Pseudonymen versehen werden, wie die Fachleute es nennen, sodass man die personenbezogenen Angaben nicht direkt lesen kann. Die ganzen Skandale der letzten Monate bei der Telekom und wo auch immer wären nicht passiert, wenn die Daten ordnungsgemäß verschlüsselt worden wären. Das ist für mich der Schlüssel zu dem, was Datenschutz in der Wirtschaft bedeutet. Das werden wir angehen. Verehrter Herr Schaar, auch von unserer Seite ganz herzlichen Dank für die Zusammenarbeit, für viele kritische Anmerkungen, aber auch für die konstruktive Begleitung dessen, was wir erreichen wollen. Wir wollen und müssen den Datenschutzbeauftragten stärken. ({4}) Wenn wir - wie es im Gesetzentwurf vorgesehen ist eine stärkere Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden wollen, dann müssen wir ihm jetzt endlich - es ist schon zu viel Zeit vergangen; damit bin ich ganz bei Ihnen mehr Personal und mehr Eigenständigkeit ermöglichen. Das gilt genauso für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten. An dieser Stelle müssen wir nachbessern. Ich bin der Meinung, wir können auf dem Gesetzentwurf aufbauen. Wir werden nach der Anhörung in der nächsten Woche mit den sich daraus ergebenden Anregungen ein Gesetz machen können, das sich sehen lassen kann. Das ist meine feste Überzeugung. Wir werden den Datenschutz voranbringen. Ich lade alle dazu ein, die guten Sinnes sind und das auch erreichen wollen, statt es nur kritisch zu begleiten und am Rande zu kläffen. ({5}) Alle, die dabei mitmachen wollen, sind dazu eingeladen. Wir können den Datenschutz vielleicht gemeinsam verbessern, wie wir auch eine gemeinsame Erklärung zum Bericht des Datenschutzbeauftragten abgegeben haben. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache und gehe davon aus, dass mit der letzten Bemerkung kein Mitglied des Hauses gemeint war und sich damit auch nicht angesprochen fühlen muss. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/12011 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- schusses zu dem Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informa- tionsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/12271, in Kenntnis des genannten Berichts auf Drucksache 16/4950 eine Ent- schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mobilfunkforschung verantwortlich begründen - Drucksache 16/10325 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mobilfunkstrahlung minimieren - Vorsorge stärken - Drucksache 16/9485 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion. ({2})

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Mobilfunk ist aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken. Das merkt man allein daran, dass es mittlerweile in Deutschland mehr Handys als Bürger gibt. Man merkt es aber auch daran, dass das Handy zunehmend leistungsfähiger wird und teilweise schon mobile Computer ersetzen kann, wodurch die Arbeitswelt flexibler geworden ist. All das begrüßen wir sehr. Es geht aber nicht nur um eine Modernisierung und darum, was das Mobilfunkgerät alles ermöglicht hat. Vielmehr geht es auch um viele Arbeitsplätze in diesem Bereich. Ich glaube, es sind ungefähr 200 000 Menschen, die im mittelbaren und unmittelbaren Bereich von Funktechnologie, Handys und anderen Strahlengeräten tätig sind. Die betreffenden Unternehmen stehen für eine sehr innovative Branche, kurze Produktzyklen und große Innovationen, also für etwas, wofür der Standort Deutschland geradezu ideal sein sollte. In der Bevölkerung gibt es trotzdem - das ist der eigentliche Grund unseres Antrags - noch immer viele Vorbehalte. Viele von uns kennen aus ihrem Wahlkreis, dass sich eine Bürgerinitiative, wenn ein Funkmast errichtet werden soll, zu Wort meldet und dass Angst herrscht, weil die Unwissenheit teilweise noch relativ groß ist. Wir wollen dieses Problem dadurch lösen, dass wir die Forschung vorantreiben. Entscheidend ist: Man kann die Angst minimieren, indem man mehr Öffentlichkeit und Transparenz herstellt sowie die Mobilfunkforschung optimiert. ({0}) Es gibt erste Erkenntnisse und Ergebnisse. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm weist sehr gute Ansätze auf. Vieles wurde untersucht und erreicht, aber logischerweise noch nicht alles; denn das war im Rahmen dieses Programms nicht möglich. Meine Damen und Herren von der Linken, ich darf zwei, drei Bemerkungen zu Ihrem Antrag machen. Es ist aus meiner Sicht falsch, wie Sie an die Sache herangehen. Sie schüren Ängste und werden der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht. Sie zeichnen sich durch ein sehr populistisches Vorgehen aus. ({1}) So wollen Sie die Strahlung der Geräte verringern; dafür gibt es im europäischen Ausland Beispiele. Das bedeutet aber, dass man mehr Funkmasten braucht. Genau das wollen Sie vermutlich auch nicht. Wir wollen gleichzeitig weiterhin telefonieren. Die Mobilfunkanbieter haben den Auftrag, eine flächendeckende Nutzung zu ermöglichen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß, wenn Sie vor die Bürgerinitiativen in Ihren Wahlkreisen treten und ihnen erklären, dass nun zusätzliche Handymasten gebaut werden müssen. Ich glaube, dass Ihr Ansatz nicht richtig ist. ({2}) Ich halte Ihren Ansatz auch aus einem anderen Grund für nicht richtig. Die Ergebnisse der Reflexstudie, die Sie anführen, können eigentlich nicht auf den Menschen übertragen werden. Die Europäische Umweltagentur hat zudem selbst eingestanden, dass sie eigentlich über keinerlei Expertise im Bereich der elektromagnetischen Felder verfügt. Trotzdem verweisen Sie auf die Studie dieser Umweltagentur. Das halte ich für nicht anständig. Damit sorgt man nur für mehr Verunsicherung und weniger Transparenz. Damit erreicht man nicht das, was wir alle wollen, nämlich eine bessere Information aller Bevölkerungsschichten. ({3}) Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir eine transparente Forschung und eine paritätische Finanzierung. Das heißt, wir wollen keine reine staatliche, öffentliche Finanzierung, sondern drei Säulen. Dann könnten wir die Probleme einigermaßen lösen. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm hat zu der Erkenntnis geführt, dass akute oder chronische Wirkungen der nichtionisierenden Strahlung - also der von Handys und anderen strahlenden Geräten weder unter Laborbedingungen noch in epidemiologischen Studien erfasst werden konnten. ({4}) Das ist eine gute Nachricht. Die Ängste waren in diesem Bereich also unbegründet. Es konnte kein Zusammenhang festgestellt werden. Das nimmt Ängste. ({5}) Noch ist aber nicht alles untersucht. Es gibt drei Bereiche, die wir in einem weiteren Schritt untersucht wissen möchten. Das sind die Auswirkungen der Strahlung auf Schwangere, kleine Kinder und Heranwachsende. Das alles konnte bislang nicht erforscht werden, genauso wenig wie die langfristigen Folgen der Strahlung. Diese drei Bereiche sollten aus unserer Sicht noch weiter untersucht werden. Deswegen haben wir unseren Antrag gestellt. Man sollte auch die Auswirkungen der Addition von Strahlungen untersuchen. Mittlerweile sind oft verschiedene Strahlungsgeräte gleichzeitig im Einsatz. Viele haben zu Hause WLAN, ein schnurloses Telefon und ein Handy. Darüber, wie verschiedene Strahlungsquellen zusammenwirken, gibt es noch zu wenige Informationen. Diese Bereiche sollte man unserer Meinung nach endgültig und befriedigend untersuchen. Wenn uns das gelingt, gibt es, glaube ich, weniger Probleme. Die Struktur sollte verbessert werden. Die Erkenntnisse sind valide. Die Erkenntnisse des Deutschen Mobilfunk-Forschungsprogramms sind sicherlich aller Ehren wert. Trotzdem gab es das eine oder andere Mal Kritik. Man will mehr Objektivität durch einen unabhängigen Projektleiter. Das war bei diesem Forschungsprogramm nicht der Fall. Wenn man beim nächsten Mal dafür sorgen würde, wäre das der letzte kleine Stein, der noch fehlt, um eine optimale Information der Bevölkerung zu erreichen. Wir haben für den Bereich der Erforschung nichtionisierender Strahlung 1,6 Millionen Euro in den Bundeshaushalt für 2009 eingestellt. Was damit aber gemacht werden soll, steht leider noch nicht fest; wir konnten das bisher nicht erfahren. Wir glauben, dass man das konkreter angehen sollte. Wir sollten deswegen diese Bereiche erforschen und das Programm abschließen. Neben dem Staat sollten auch die Netzbetreiber in die Finanzierung einbezogen werden - das war bisher schon der Fall -, aber auch die Handyhersteller, die Hersteller der Endgeräte - sie wurden bisher noch nicht einbezogen -, die aus unserer Sicht ein Interesse daran haben sollten, dass alle Probleme aus der Welt geschafft werden. Schon 2006 haben wir angeregt, die Geräte, die eine niedrige Strahlung aufweisen, zu kennzeichnen, beispielsweise mit einem Blauen Engel. Leider ist das von den Herstellern nicht in einem sinnvollen Umfang angenommen worden, obwohl ein Drittel aller Geräte schon jetzt über den entsprechenden Standard verfügen würden. Wir rufen hiermit die Hersteller auf, die Geräte zu kennzeichnen. Wenn man keinen Blauen Engel verwenden möchte, besteht auch die Möglichkeit, es wie bei den Kühlschränken zu machen und die Geräte in verschiedene Strahlungsklassen - A, B, C, D und E - einzuteilen. Wenn uns das gelänge, könnten wir vernünftig über die Strahlenbelastung reden und würden die Bedenken der Bevölkerung ernst nehmen, aber sie nicht für populistische Zwecke ausnutzen. Ich bitte Sie darum, unserem Antrag positiv zu begegnen und ihm letztendlich zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die Unionsfraktion. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Meierhofer hat seine Rede mit dem Hinweis begonnen, dass die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie in unserer Gesellschaft eine große Bedeutung hat. Ich möchte daran anknüpfen. Über die Hälfte der Industrieprodukte und weit über 80 Prozent der Exportprodukte Deutschlands hängen heute vom Einsatz dieser Technologie ab. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes. Sie ist Innovationsträger, erzeugt Wachstum und Arbeitsplätze. Die vom Kollegen Meierhofer genannte Zahl war nicht ganz richtig: Die gesamte IKT-Branche beschäftigt rund 750 000 Menschen. ({0}) Dieses Segment ist also sehr wichtig. Die Mobilfunktechnologie wird von uns allen genutzt. In Deutschland gibt es mehr Handys als Bürger. Im Jahr 2006 kamen auf 100 Menschen 104 Handys; es werden praktisch täglich mehr. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, über dieses Thema zu diskutieren. Gleichzeitig nimmt die Strahlenexposition zu. In der Bevölkerung gibt es Ängste und Sorgen wegen möglicher gesundheitlicher Gefährdungen. Vor diesem Hintergrund beraten wir heute über zwei Anträge aus der Opposition: über den Antrag der FDP-Fraktion, der uns gerade vorgestellt wurde, und über den Antrag der Linksfraktion. Die beiden Anträge könnten gar nicht unterschiedlicher sein. Sie von der FDP gehen in Ihrem Antrag von der großen Bedeutung der Mobilfunktechnologie aus. Sie sagen, die bestehenden Vorbehalte müssten erforscht werden, um die Ängste und Risiken auszuräumen; es bestehe weiterer Forschungsbedarf. Sie fordern eine Langzeitstudie zu den Auswirkungen auf Kinder usw. Das sind Vorschläge, über die wir beraten sollten. Ich finde, der Antrag geht absolut in die richtige Richtung: Er ist sachbezogen, ergebnisorientiert und objektiv. Vielleicht haben Sie teilweise von uns abgeschrieben. Allerdings ist Ihr Antrag nicht mehr ganz zeitgemäß; er enthält Forderungen, die wir im Deutschen MobilfunkForschungsprogramm bereits erarbeitet und umgesetzt haben bzw. umsetzen werden. Die Ergebnisse sprechen eindeutig dafür, diese Forschung weiterzuführen. Sie fordern auch, die Kommunikation zu verbessern. Hier erinnere ich nur an das Informationszentrum Mobilfunk, das eine sehr gute Informationsbasis bietet, und an die Internetseite www.mobilfunk-baukasten.de, wo unter anderem die Kommunen sachlich und verbraucherorientiert informiert werden. Im Gegensatz zum Antrag der FDP spielt der Antrag der Linken mit den Sorgen der Menschen. Das ist absolut unredlich. Er basiert auf reinen Behauptungen, die wissenschaftlich überhaupt nicht fundiert sind und von der Forschung nicht gedeckt werden. Aber so sind nun einmal die Anträge, die Sie stellen. Sie basieren auf Unwissenheit. Statt in populistischer Weise diffuse Ängste vor Mobilfunk, die es in Teilen der Bevölkerung gibt, zu schüren, sollten wir durch Forschung und Aufklärung zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Das wäre der richtige Weg. ({1}) Die Koalition nimmt ihre Verantwortung wahr. Sie tut viel, um die Folgen der Mobilfunktechnik zu untersuchen und mögliche Gefahren zu erkennen. Das erste Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm hat die Aufgabe, herauszufinden, ob die geltenden Grenzwerte, die die Bevölkerung vor der Mobilfunkstrahlung ausreichend schützen sollen, noch in Ordnung sind. Die Bundesregierung hat in den Jahren 2002 bis 2007 8,5 Millionen Euro in dieses Forschungsprogramm gesteckt, weitere 8,5 Millionen Euro gaben die Mobilfunknetzbetreiber dazu. Es gibt kein Programm, in dessen Rahmen umfangreicher und gründlicher geforscht wurde als dieses. Das ist eine sehr gute Sache. Ich bin sehr froh, dass wir dieses Programm erfolgreich zu Ende führen konnten. ({2}) Weltweit gab es mittlerweile über 20 000 Untersuchungen auf diesem Gebiet. Nach Aussagen der Weltgesundheitsorganisation besteht kein begründeter Zusammenhang zwischen Mobilfunkstrahlung und dem steigenden Risiko einer Erkrankung - das sollten wir den Menschen auch so deutlich sagen -, und das müssen wir anerkennen. Die Ergebnisse des Programms sind zuerst einmal beruhigend. Die Strahlenschutzkommission und das Bundesamt für Strahlenschutz haben übereinstimmend festgestellt, dass es keine Erkenntnisse gibt, nach denen die bestehenden Grenzwerte überarbeitet werden müssen. Es konnten ausdrücklich keine negativen Effekte auf Hormone, auf die Blut-Hirn-Schranke, auf die Fortpflanzung oder auf das Krebsrisiko festgestellt werden. Das, was Sie gesagt haben, wurde überhaupt nicht verifiziert, auch nicht repliziert. Demzufolge ist das unbegründet. Es kann davon ausgegangen werden, dass es im Bereich der thermischen Wirkung kein zusätzliches Langzeitrisiko und kein Krebsrisiko gibt. 6 Prozent der Menschen leiden unter Elektrosensibilität. Es wurde aber in Untersuchungen festgestellt, dass die Mobilfunkstrahlung darauf keinen Einfluss hat. So wurden Anlagen zufällig abgeschaltet oder eingeschaltet. Dabei wurde festgestellt, dass die Sensibilität unabhängig davon, ob die Anlagen ein- oder ausgeschaltet waren, bestand. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Ergebnisse keinen Anlass bieten, die Schutzwirkung der bestehenden Grenzwerte in Zweifel zu ziehen. Deswegen bleiben die bestehenden Grenzwerte der 26. BImSchV erhalten. Das Forschungsprogramm hat dazu beigetragen, viele Ängste auszuräumen, und es hat die wissenschaftliche Kenntnis über die Wirkung elektromagnetischer Felder wesentlich verbessert. Trotz dieser insgesamt beruhigenden Ergebnisse muss weitergeforscht werden. Es ist ganz wichtig, dass die Forschung finanziell ordentlich ausgestattet wird. Das betrifft insbesondere - da gebe ich Ihnen vollkommen recht - die Forschung über die Langzeitwirkung. Wir können jetzt noch nicht sagen, was in zehn Jahren passiert; ({3}) denn so lange gibt es die Geräte noch nicht. Weiterer Forschungsbedarf besteht über die Auswirkungen auf Kinder und Schwangere. All das muss weiter untersucht werden, aber ohne Hysterie. Es muss auf fundierter Grundlage ordentlich aufgeklärt werden. Ich begrüße die Tatsache, dass die Mobilfunkbetreiber zugesagt haben, dass sie dieses Programm weiter mitfinanzieren und dass die 2001 unterschriebene Selbstverpflichtung weiter gilt. Es soll jetzt zu nachprüfbaren Verbesserungen auch für Verbraucher-, Gesundheits- und Umweltschutz kommen. Ein besonderes Augenmerk legen die Hersteller auf die Verbesserung der Geräte. Es ist wichtig, dass die Handys bei geringerem Stromverbrauch und geringerer Strahlung die gleiche Leistung erreichen. Das ist eine Win-win-Situation. Eine erschöpfende Analyse der gesundheitlichen Risiken ist momentan noch nicht möglich. Es steht allerdings jetzt schon jedem frei, selbst Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, also auf drahtlose Systeme zu verzichten und auf kabelgebundene Systeme zurückzugreifen, zum Beispiel auf Headsets mit Kabeln. ({4}) Dann kann jeder, der unter Elektrosensibilität leidet, für sich entscheiden, ob er einer Vorsichtsmaßnahme folgt oder nicht. ({5}) Das Handy ist aus unserer mobilen Informationsgesellschaft nicht mehr wegzudenken. Wir müssen diese Technologie stetig verbessern und verfeinern. Wir müssen die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen; das machen wir auch. Wir dürfen die Emotionen nicht verharmlosen; das machen wir auch nicht. Wir müssen gezielt forschen, ohne Aktionismus und ohne böse Beschuldigungen. Wir müssen die Wissensbasis verbreitern und durch eine transparente und verständliche Kommunikation zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Das ist der richtige Weg. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Lutz Heilmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Mit dem Antrag, den die FDP vorgelegt hat, macht sie wieder eines deutlich: dass sie stramm an der Seite der Mobilfunkbetreiber und Mobilfunkhersteller steht. ({0}) Irgendwann danach kommen auch einmal die Verbraucherinnen und Verbraucher an die Reihe. ({1}) Kollege Koeppen, Ihre Ausführungen kann ich so nicht stehen lassen. Erst sagten Sie, es sei alles wunderbar, es sei alles in Butter, es sei alles rosarot. Trotzdem haben Sie am Ende gesagt: Ja, wir müssen weiterforschen, ({2}) um Langfristigkeit herzustellen. Dann erwähnen Sie doch ganz einfach, dass das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm über fünf Jahre lief und dass in diesen fünf Jahren überhaupt keine Langzeitforschung erfolgen konnte. Deswegen ist es ganz einfach notwendig, dieses Programm fortzuführen. Genau das haben wir in unseren Antrag geschrieben. ({3}) Aber diese Fortführung lehnen Sie ab. Darüber haben wir im Umweltausschuss diskutiert. Schauen Sie sich das Protokoll ganz einfach an! ({4}) Kollege Meierhofer, zu Ihrem Vorhalt: Ich weiß nicht, ob Sie unseren Antrag nicht gelesen haben oder ob Ihr Mitarbeiter Ihnen das nicht richtig aufgeschrieben hat. Das, was Sie mir vorgehalten haben, steht darin nicht. Unser Antrag enthält ganz konkrete Punkte. Diese Punkte will ich Ihnen gleich näher erläutern. Ihr Antrag enthält kein einziges Wort zu den Risiken des Mobilfunks. Diese Risiken gibt es; das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Das hat man auch Ihren Redebeiträgen entnehmen können. Der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz hat das ebenfalls deutlich gemacht. Er empfiehlt zum Beispiel, dass Kinder nicht oder nur sehr wenig mit dem Handy telefonieren. ({5}) Ich möchte Sie ganz einfach dazu auffordern, ein bisschen mehr zu recherchieren. Um es klarzustellen: Die Linke steht für einen technologischen Fortschritt im Interesse der Menschen. Das schließt eine verantwortungsbewusste Nutzung von Mobilfunk ausdrücklich ein. ({6}) Aber die Forderungen, die Ihr Antrag enthält, sind weit hinter dem, was möglich ist. Sie schreiben zum Beispiel, dass es zu einer Reduzierung der Strahlen kommen soll, wenn man das Handtelefon in die Basisstation steckt. Es ist möglich, dass die Strahlenbelastung vollständig reduziert wird. Warum schreiben Sie keine entsprechende Forderung in Ihren Antrag? ({7}) - Ihr Antrag ist von der Wirklichkeit überholt. Das stimmt allerdings. Fakt ist, dass der Ausbau des Handynetzes, insbesondere des UMTS-Netzes, voranschreitet, was zweifellos höhere Belastungen mit elektromagnetischen Feldern zur Folge hat; das hat auch Kollege Koeppen bestätigt. Da damit insbesondere gesundheitliche Risiken steigen, da die geltenden Grenzwerte nicht ausreichend sind, da gerade die thermischen Effekte der Handystrahlung umstritten sind, da WLAN-Netze immer mehr Verbreitung finden - schauen Sie in die Schulen, schauen Sie in die Flughäfen, schauen Sie in die Bahnhöfe -, da für Mobilfunkanlagen nur eine Standortgenehmigung nötig ist und da Gesichtspunkte des Immissionsschutzes völlig unberücksichtigt bleiben - wie gesagt, ist das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm 2007 ausgelaufen -, ist nach Auffassung der Linken Folgendes notwendig: Erstens. Die Grenzwerte müssen so weit gesenkt werden, dass gesundheitliche Auswirkungen ausgeschlossen werden können. Das ist möglich. Kollege Meierhofer, Sie haben es erwähnt: Warum lassen sich die Mobilfunk22850 hersteller darauf nicht ein? Die entsprechenden Techniken gibt es schon. ({8}) Insofern ist das unverständlich. Zweitens. Ein allgemein öffentlich zugängliches Strahlenkataster muss geschaffen werden. Drittens. Genehmigungen für Mobilfunkanlagen sind nur befristet zu erteilen, und der Immissionsschutz ist darin aufzunehmen. Viertens. Es ist darauf hinzuwirken, dass schnurlose Telefone - hören Sie jetzt einfach zu, Kollege Meierhofer! - so zu bauen sind, dass die Funkverbindung zwischen Basisstation und Mobilteil unterbrochen wird, sobald das Gerät in der Basis ist. Fünftens. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm ist auch unabhängig von einer Beteiligung der Mobilfunkbetreiber fortzusetzen. Sechstens. Die Untersuchungen hinsichtlich der Gefährlichkeit sind auf Tiere und Pflanzen auszudehnen. Abschließend Folgendes: Künftig müssen alle Handys gefahrlos zu nutzen sein. Das ist der Anspruch, den wir an die Industrie stellen. Darunter machen wir es nicht. Ich wünsche einen schönen Abend und danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Detlef Müller für die SPDFraktion. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Nutzerinnen und Nutzer von Mobiltelefonen - das werden wir wohl alle sein -, was kann man heute nicht alles mit modernen Handys, die längst Lifestyle-Symbole sind, machen? Fotografieren, Bilder senden und empfangen, Videos anschauen, Nachrichten schreiben und lesen, E-Mails abrufen, Dateien erstellen und verwalten. Auch als Navigationssystem werden sie schon genutzt. Die eigentliche Aufgabe, das Telefonieren, wird dabei fast zur Nebensache. Es gab von Anfang an in Teilen der Bevölkerung auch kritische Stimmen, die fragten, ob die Nutzung der Mobilfunktechnologie nicht gesundheitliche Schäden durch elektromagnetische Felder hervorrufe. Der Bundesregierung, dem Bundesumweltministerium sowie den Netzbetreibern war klar, dass diese Vorbehalte nur dann ausgeräumt werden können, wenn Gesundheitsrisiken durch unabhängige Forschung ausgeschlossen werden können. Dieser Zwiespalt - eine hohe Zunahme der Nutzerzahlen, aber auch eine wachsende Verunsicherung bei einigen Bürgern, verbunden mit Forderungen nach Absenkung der Grenzwerte - führte 2001 letztendlich zur Implementierung des Deutschen Mobilfunk-Forschungsprogramms. Von Anfang an galten dabei als oberstes Prinzip Transparenz und Objektivität. Dies ist vor allem an die Adresse der Fraktion Die Linke gerichtet, die die Unabhängigkeit des Programms infrage gestellt hat. Die Mobilfunknetzbetreiber hatten kein Recht zur Auswahl, konnten an Projekten nicht mitwirken und sie auch nicht beeinflussen. Das gilt ebenso für die Bewertung der Forschungsergebnisse. Auch hinsichtlich der Transparenz war das Mobilfunk-Forschungsprogramm vorbildlich. Alle Projektvorschläge wurden im Rahmen eines Fachgespräches vorgestellt. Es bestand ausreichend Gelegenheit zur öffentlichen Diskussion. Was aber waren die Ziele des Mobilfunk-Forschungsprogramms? Was konnte es leisten und was nicht? Hauptsächlich sollten wissenschaftliche Unsicherheiten durch eine gezielte unabhängige Forschung geklärt und die geltenden Grenzwerte überprüft werde. Dabei lagen die fachlichen Schwerpunkte in den Bereichen Biologie, Epidemiologie und Dosimetrie, also bei den Messungen der Strahlendosis. Nach Abschluss der Forschungsprojekte im Jahre 2008 bewerteten sowohl das Bundesamt für Strahlenschutz als auch die Strahlenschutzkommission das Programm. Beide sind unabhängig voneinander zu dem Ergebnis gekommen, dass die Forschungen keine Erkenntnisse erbracht haben, die die geltenden Grenzwerte infrage stellen. Ebenfalls war ein ursächlicher Zusammenhang zwischen elektromagnetischer Strahlung unterhalb der geltenden Grenzwerte und unspezifischen Gesundheitsbeschwerden, der sogenannten Elektrosensibilität, nicht nachweisbar. Somit decken sich in der Gesamtbewertung die Ergebnisse des Programms mit denen anderer Projekte, auch aus dem Ausland. Deshalb gab es für die Bundesregierung keinen Grund, von den geltenden Grenzwerten abzurücken. Ich sage es ganz klar: Die vorliegenden Ergebnisse des Mobilfunk-Forschungsprogramms geben keinen Anlass, die angestrebte Schutzwirkung der bestehenden Grenzwerte in Zweifel zu ziehen. ({0}) Vor diesem Hintergrund müssen aber die Anträge gesehen werden, über die wir heute beraten. Beide Anträge haben große Schnittmengen, und die Antragsteller fordern insbesondere die Weiterführung des MobilfunkForschungsprogramms. ({1}) Grundsätzlich steht die Politik beim Thema Mobilfunk vor einem Dilemma: Die Ergebnisse des Forschungsprogramms beziehen sich auf den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand. Die zukünftige Unschädlichkeit einer Technologie kann wissenschaftlich nie bewiesen werden. Die Bundesregierung hat sich bei der Grenzwertfestlegung auf die aktuellen Ergebnisse gestützt, während die Mobilfunkgegner oder -kritiker Detlef Müller ({2}) vorhandene gesundheitliche Beschwerden auf elektromagnetische Felder des Mobilfunks zurückführen. Die Politik steckt deshalb in der Klemme zwischen Wissenschaft und teilweiser öffentlicher Wahrnehmung. ({3}) Natürlich sind wir uns bewusst, dass auch durch intensivste wissenschaftliche Forschung mögliche Risiken nicht völlig ausgeschlossen werden können. Vorbeugende Maßnahmen sind deshalb weiterhin sehr sinnvoll. ({4}) Fakt ist, dass das Forschungsprogramm primär auf den Mobilfunk ausgerichtet war, andere Funktechnologien wie zum Beispiel digitales Fernsehen oder auch die WLAN-Technologie nur am Rande betrachtet wurden. Insbesondere die Auswirkungen auf Kinder sind noch nicht endgültig erforscht. Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen. In diesem Bereich sind noch dringend spezifische Untersuchungen erforderlich. Wir als SPDFraktion unterstützen dieses Anliegen. ({5}) Hinzu kommt, dass Kinder möglichen Risiken länger ausgesetzt sind, weil sie - leider - schon seit ihrer Kindheit Handys benutzen. Auch ist nicht auszuschließen, dass Kinder möglicherweise auch empfindlicher aufgrund einer vergleichsweise höheren Eindringtiefe der Strahlung in den Körper reagieren. In diesem Bereich muss die Forschung intensiviert werden. Nur unbefriedigend kann die Frage beantwortet werden, ob die Gefahr für gesundheitliche Folgen bei der Nutzung über Zeiträume von länger als zehn Jahren zunimmt. Durch Untersuchungen konnten bisher gesundheitliche Auswirkungen des Mobilfunks nicht belegt werden, da die Anzahl der Personen, die Mobiltelefone seit mehr als zehn Jahren nutzten, zu gering war, um statistisch belastbare Daten zu liefern. Zu Fragen möglicher Langzeitwirkungen wurden im Rahmen des Forschungsprogramms allerdings zahlreiche tierexperimentelle Langzeitstudien durchgeführt. Insgesamt stützen diese Ergebnisse nicht die Vermutung, dass chronische Einwirkungen zu einer Risikoerhöhung führen. Dagegen können wir durch die Vorlage des Gesetzes zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung, welches wir morgen hier in den Deutschen Bundestag einbringen werden, eine wichtige Rechtslücke schließen. Damit wird der gesetzliche Rahmen geschaffen, um auch in Deutschland die Grenzwerte der EU-Ratsempfehlung für elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder über den gesamten Frequenzbereich von 0 Hertz bis 300 Gigahertz umsetzen zu können. So wird sichergestellt, dass es durch die gleichzeitige Anwendung unterschiedlicher Quellen nicht zur Verletzung gesundheitsbezogener Grenzwerte kommt. Aber wir müssen leider feststellen, dass die geltenden Regelungen noch nicht alle Aspekte des Schutzes der Bevölkerung vor Strahlen aus diesem Bereich abdecken. Folgende Punkte bedürfen deshalb unserer Meinung nach einer Regelung: Erstens. Es werden derzeit nur die wichtigsten Anlagen der Infrastruktur, die Netze, geregelt. Zweitens. Unserer Ansicht nach bleiben noch zu viele Quellen, insbesondere die Endgeräte, unberücksichtigt. Verbraucherschutzmaßnahmen wie der Blaue Engel werden nicht oder nur unzureichend umgesetzt. Drittens. Eine relativ neue Technik, Wireless LAN bzw. WLAN, muss gründlich überprüft werden. Ihre Reichweite kann unter bestimmten Voraussetzungen mehrere Hundert Meter betragen. Auch durch diese Technik entstehen hochfrequente elektromagnetische Felder. Zwar gibt es trotz mehrerer Studien, unter anderen des Bundesamtes für Strahlenschutz, nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft keinen Nachweis, dass innerhalb der gesetzlichen Grenzwerte eine gesundheitliche Gefährdung besteht, Forschungsbedarf besteht aber sehr wohl. Die in der Umgebung von öffentlich zugänglichen WLAN-Hotspots erhobenen Expositionswerte lagen alle unterhalb der vom Europäischen Rat empfohlenen Werte. Trotzdem fordern wir an dieser Stelle die Bundesregierung auf, auch die Forschung in diesem Bereich weiterzubetreiben. Im Übrigen erachten wir es nicht als negativ, eine finanzielle Beteiligung der Industrie an der Mobilfunkforschung einzufordern. Im Gegenteil, eine Beteiligung wird aus unserer Sicht als sachgerecht angesehen, da dies nach dem Verursacherprinzip notwendig ist. ({6}) In diesem Zusammenhang nehmen wir auch zum wiederholten Mal die Herstellerfirmen bzw. Netzbetreiber in die Pflicht, zukünftig verstärkt strahlungsärmere Endgeräte anzubieten und aktiv zu bewerben. ({7}) Sehr geehrte Damen und Herren, wir nehmen das Thema Mobilfunkstrahlung ernst und sind uns beim Thema Mobilfunk unserer Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung sehr bewusst. Wir als SPD-Fraktion begrüßen die grundsätzlichen Ansätze der Anträge der FDP und der Linken. Auch wir haben weiteren Forschungsbedarf zur Beantwortung der noch offenen Fragen gesehen. Dem wird mit der Fortsetzung des Mobilfunk-Forschungsprogramms Rechnung getragen. Das BMU und das Bundesamt für Strahlenschutz werden die Forschung zur weiteren Aufklärung der noch offenen Fragen fortsetzen. Hierzu wurde ein dreijähriges Forschungsprogramm erstellt. Die Finanzierung soll anteilig durch Mittel des BMU und der Netzbetreiber erfolgen. ({8}) Insofern ist der FDP-Antrag entbehrlich, weil ein Großteil der Forderungen im Antrag bereits umgesetzt wird. Mit dem alle zwei Jahre erfolgenden Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag zur Mobil22852 Detlef Müller ({9}) funkforschung werden wir als Parlamentarier über die neuesten Forschungsergebnisse zeitnah informiert. Gestatten Sie mir abschließend noch ein paar Worte zum Antrag der Linken. Wir teilen die dort angeführten Feststellungen zu diesem Thema nicht. So entstammen die im Antrag zur Begründung angeführten Behauptungen zu Folgen und Risiken des Mobilfunks wie zum Beispiel gentoxische Effekte, erhöhtes Hirnturmorrisiko oder auch niedrigere Lebenserwartung in der Nähe von Mobilfunkbasisstationen einer selektiven Wiedergabe der wissenschaftlichen Literatur. Sie geben aber nicht den heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand wieder. Eine derartige einseitige Wiedergabe des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist allerdings keine fundierte Basis für die Ableitung weitergehender Anträge. Herr Heilmann, es geht nicht darum, Technologien wie WLAN abzulehnen oder zu verbieten, sondern es geht darum, sie zu verbessern. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben beim Mobilfunk ein Dilemma. Wir haben das Bedürfnis einer Mehrheit in der Gesellschaft nach mobiler Kommunikation - möglichst überall und zu jeder Zeit -, und wir haben die Elektrosensibilität einer Minderheit. Was dieses Dilemma angeht, ist es überhaupt nicht wichtig, ob die Elektrosensibilität nachgewiesen werden kann. Entscheidend ist, ob die Betroffenen sie empfinden. Forschung ist wichtig; auch wir wollen sie. Das Problemfeld Kinder und Jugendliche einerseits und Langzeitwirkungen andererseits ist von allen benannt worden. Aber, Herr Meierhofer, die Forschungen helfen Elektrosensiblen nicht, solange die Schädlichkeit nicht nachgewiesen ist. Dass auch die Unschädlichkeit bisher nicht beweisbar ist, befreit die Menschen nicht von den Beeinträchtigungen, die sie spüren. ({0}) Diese Menschen sind aber zu wenige, und sie haben keine Lobby. Unsere Antwort ist daher vor allem Mitsprache. Die freiwillige Selbstverpflichtung der Mobilfunkbetreiber hat nicht das gebracht, was sie sollte. Vor allem in kleinen Kommunen funktioniert die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger nur suboptimal. Das Baurecht erlaubt nur in reinen Wohngebieten, Sendemasten zu verhindern. Die öffentliche Standortdatenbank war ein erster guter Schritt. Jetzt braucht es zentrale Anlaufstellen für Bürger und Bürgerinnen. Solche Stellen müssen die Anwohner von sich aus über geplante Anlagen informieren und runde Tische organisieren. Einzelne Kommunen gehen da schon mit gutem Beispiel voran. Aber das muss eine Verpflichtung werden. Nur mit garantierter Bürgerbeteiligung können wir das Gefühl von Ohnmacht bei den Betroffenen verringern. Besonders sensible Bereiche wie Kindergärten oder Krankenhäuser brauchen besonders sensible Maßnahmen. Da sind die Vorschläge der Linken nicht verkehrt, wie auch noch andere ihrer Vorschläge. Ich habe aber ein Problem zum Beispiel mit Ihrer Haltung zu der Frage, wer die weitere Forschung bezahlen soll. Was nicht geht, ist, die Mobilfunkbetreiber außen vor zu lassen. Auch an dieser Stelle gilt für mich das Vorsorgeprinzip. Sie unterstellen, dass Mobilfunkunternehmen über die Kostenbeteiligung Einfluss auf die Gestaltung der Studien und Abschlussberichte nehmen können. Bei der Interpretation der Ergebnisse des großen Deutschen Mobilfunk-Forschungsprogramms haben sie das wohl probiert. Aber daraus zu schließen, dass das Ganze eine Art Gefälligkeitsforschung war, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Wo soll das enden, wenn schon die Linke die Industrie aus der Finanzierung der Beseitigung von Folgekosten entlasten will? Ihr Antrag, Kollege Meierhofer, ist erstaunlich technikkritisch. Das ist an dieser Stelle richtig. ({1}) - Stellen Sie eine Zwischenfrage! Dann können wir uns unterhalten. - Es ist überfällig, dass wir Technologien vor ihrer Einführung auf ihre Folgewirkungen hin erforschen und nicht erst dann, wenn sie bereits so stark in Wirtschaft und Gesellschaft verankert sind, dass wir sie nicht mehr zurücknehmen können. ({2}) Es freut mich, Herr Koeppen, dass auch Sie das so sehen. Das gilt übrigens nicht nur für Funktechnologien, sondern auch für die Nanotechnologie, für CCS und viele andere Technologien, ({3}) bei denen die Begeisterung für die Chancen die Risiken gern übersehen lässt. Das gilt gerade für Ihre Partei, Kollege Meierhofer. Es ist auch überfällig, dass wir aufhören, jeden einzelnen Emittenten isoliert zu betrachten und die kumulative Wirkung zu ignorieren. Grundsätzlich ist Kennzeichnung, also auch die Kennzeichnung der Strahlungsintensität beim Handy, der erste Schritt zum mündigen Bürger. Es ist unverständlich, dass die Große Koalition unseren Antrag vor zwei Jahren abgelehnt hat. Machen wir also einen neuen Versuch! ({4}) Auch beim Antrag der FDP stoße ich mich neben dem Duktus so richtig nur an einer Stelle, nämlich an der Lebensretterfunktion des Handys beim Kind. Solange wir nicht wissen, ob die Nutzung von Handys aufgrund ihrer Strahlung bei Kindern zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann - da gibt es noch keine ForschungsSylvia Kotting-Uhl ergebnisse -, sind Handys in Kinderhänden für mich am falschen Platz. ({5}) Die beiden Anträge sind in ihren Forderungen nicht so gegensätzlich, wie Sie, Herr Koeppen, sagen. Beide wollen Forschung, beide wollen Kennzeichnung. Ob die einen die Forschung wollen, weil sie aufklären wollen oder weil sie davon überzeugt sind, dass diese Forschung die gesundheitliche Schädigung nachweist, oder ob die anderen die Forschung wollen, weil sie davon überzeugt sind, dass durch sie die Unschädlichkeit nachgewiesen wird, ist mir relativ egal. Die Hauptsache ist, dass wir alle Forschung fordern und die Bundesregierung bewegen, sie in die Wege zu leiten. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/10325 und 16/9485 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Freiherr von Stetten, Dr. Hans-Peter Friedrich ({0}), Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Michael Bürsch, Ute Berg, Klaas Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Faire Wettbewerbsbedingungen für Öffentlich Private Partnerschaften schaffen - Drucksache 16/12283 - Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Ole Schröder und Christian Freiherr von Stetten für die Unionsfraktion, Dr. Michael Bürsch für die SPD-Frak- tion, Ulrike Flach für die FDP-Fraktion, Ulla Lötzer für die Fraktion Die Linke und Alexander Bonde für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12283. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge- gen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen. 1) Anlage 3 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Pakistan und Afghanistan stabilisieren - Für eine zentralasiatische regionale Sicherheitskonferenz - Drucksachen 16/10845, 16/11249 Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Schmidbauer Johannes Pflug Harald Leibrecht Wolfgang Gehrcke Marieluise Beck ({2}) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kollegen: Holger Haibach für die Unionsfraktion, Detlef Dzembritzki für die SPD- Fraktion, Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion, Dr. Norman Paech für die Fraktion Die Linke, Omid Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.2) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Pakistan und Afghanistan stabilisieren Für eine zentralasiatische regionale Sicherheitskonferenz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11249, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10845 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Anhebung der Höchstgrenze des Tagessatzes bei Geldstrafen - Drucksache 16/11606 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 16/12143 Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder ({4}) Joachim Stünker Wolfgang Nešković 2) Anlage 4 Vizepräsidentin Petra Pau Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re- den zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu ge- ben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kollegen: Siegfried Kauder für die Unionsfraktion, Dr. Peter Danckert für die SPD- Fraktion, Jörg van Essen für die FDP-Fraktion, Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke, Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Parlamentari- sche Staatssekretär Alfred Hartenbach für die Bundesre- gierung.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsaus- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/12143 den Gesetzentwurf der Bundes- regierung auf Drucksache 16/11606 in der Ausschuss- fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz- entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({5}), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten - Drucksachen 16/9142, 16/11384 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungshaft, ihrer rechtlichen Grundlagen und der Inhaftierungspraxis in Deutschland - Drucksachen 16/3537, 16/12020 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Hartfrid Wolff ({7}) Josef Philip Winkler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die 1) Anlage 5 Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Josef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Praxis der Verhängung von Abschiebehaft und des Vollzuges ist im Sinne einer an den Menschenrechten orientierten Flüchtlingspolitik nicht länger hinnehmbar. Bei den Betroffenen handelt es sich nicht um Menschen, die sich eine Straftat haben zuschulden kommen lassen, sondern um Personen, die in Deutschland Schutz gesucht haben. Die Inhaftierung von Menschen zum Zwecke der Sicherung einer reinen Verwaltungshandlung widerspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Nur zur Erklärung: Abschiebehäftlinge können bis zu 18 Monate inhaftiert werden, ohne einer Straftat schuldig gesprochen worden zu sein oder überhaupt einer verdächtig zu sein. Ein Abschiebehäftling hat nach Anordnung der Haft kaum Möglichkeiten, gegen die Haft juristisch vorzugehen. Ein Haftprüfungstermin, wie er bei Untersuchungshäftlingen Anwendung findet, ist für Abschiebehäftlinge ebenso wenig vorgesehen wie ein Pflichtverteidiger. Demzufolge wäre eigentlich davon auszugehen, dass Abschiebehaft nur im Ausnahmefall angeordnet wird und bei der Anordnung durch das Amtsgericht eine sehr sorgfältige Prüfung stattfindet, ob die Haft wirklich notwendig ist. ({0}) Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Im Zehn-MinutenTakt werden die Abschiebehaftbeschlüsse verfasst, und die gesetzlich vorgesehene Anhörung findet de facto nicht statt. Den Angaben in den Anträgen der Ausländerbehörden auf Anordnung der Abschiebehaft wird allzu oft ungeprüft Glauben geschenkt. Die belastenden Haftbedingungen sollen auf die Flüchtlinge abschreckend wirken und darauf hinwirken, dass sie Deutschland vorzeitig und „freiwillig“ verlassen. Auch nach Einschätzung vieler Flüchtlingsinitiativen, die in den Gefängnissen Besuchsdienste leisten, haben Abschiebegefängnisse gleichsam den Charakter einer Beugehaft. Das kann nicht länger so bleiben. ({1}) All dies wird in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage meiner Fraktion zur Situation in den deutschen Abschiebehaftanstalten deutlich. Besonders erschütternd war für uns, dass es in den Jahren zwischen 2005 und 2007 mindestens zwei Selbstmorde und 39 Selbstmordversuche gab, wobei nicht alle Bundesländer der Bundesregierung Auskunft über die Zahlen in ihJosef Philip Winkler rem Land gegeben haben. Dies ist für einen Rechtsstaat wirklich unerträglich ({2}) und zeigt, dass die Situation nicht länger so bleiben kann, wie sie derzeit ist. Hinter diesen Zahlen verbergen sich unfassbare menschliche Dramen. Ich habe die Zahlen der Selbstmorde und der Selbstmordversuche in den Mittelpunkt gestellt. Es gibt aber noch eine Vielzahl anderer Gruppen, die man erwähnen könnte: Schwangere Frauen waren zum Teil mehr als 100 Tage in Abschiebehaft, zum Teil sogar noch am Tag der Entbindung. Auch Minderjährige befinden sich in den Abschiebehaftanstalten. Darüber haben wir im Innenausschuss ausführlich debattiert. All das kann ich hier jetzt nicht noch einmal ausführlich darstellen. Diese Zahlen können uns als Bundestag nicht beruhigen. Ganz im Gegenteil: Der Bundesinnenminister wäre gefordert - Herr Staatssekretär, Sie können es ihm ja ausrichten -, endlich seiner Verantwortung gerecht zu werden. Das Problem von Suiziden und Suizidversuchen und die Ursachen dieser Misere müssen endlich ernst genommen werden, statt wie bisher im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen zu werden. Zwar ist der Vollzug der Abschiebehaft Ländersache; die gesetzliche Grundlage ist aber in § 62 des Aufenthaltsgesetzes, einem Bundesgesetz, geregelt. Zusammen mit den Bundesländern wäre der Innenminister hier gefordert, zum Beispiel auf Grundlage der Daten dieser Großen Anfrage über Reformen und humanitäre Verbesserungen zu beraten. Ein Anlass hierzu könnten die Beratungen über die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz sein. Unserer Auffassung nach sollte § 62 des Aufenthaltsgesetzes so modifiziert werden, dass dieser schwerwiegende Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen auf absolute Ausnahmefälle beschränkt wird. Im Übrigen bewegen wir uns da auf der Linie des Bundesverfassungsgerichtes, das am 15. Dezember 2000 in einer Entscheidung klar gesagt hat, dass die bisher übliche Haftdauer bis zu einem Maximum von 18 Monaten nicht verhältnismäßig ist. Änderungen sind hier also überfällig. ({3}) Wir fordern, dass im Rahmen der jetzt anstehenden Beratungen zu den Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz Konkretisierungen und verbindliche Regelungen insbesondere für Minderjährige und Traumatisierte vorgelegt werden. Leider Gottes ist ein Befund des Vorsitzenden Richters am Verwaltungsgerichtshof Hessen, Herrn Göbel-Zimmermann, aus dem Jahre 1996 immer noch aktuell - ich zitiere und komme dann zum Ende -: Abschiebungshaft wird teilweise zu schnell und zu oft beantragt und angeordnet sowie zu lange vollzogen. Das Abschiebungshaftverfahren ist häufig mit gerichtsorganisatorischen Mängeln, Verfahrensfehlern und Fehleinschätzungen der Rechtslage belastet, so dass es zu einer nicht unerheblichen Zahl fehlerhafter Entscheidungen kommt. Dies darf nicht länger so bleiben. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Es mutet an wie in dem Spielfilm Und täglich grüßt das Murmeltier. In steter Regelmäßigkeit müssen wir uns hier im Deutschen Bundestag auf Betreiben der Oppositionsfraktionen mit den Themen Abschiebung und Abschiebungshaft beschäftigen. ({0}) Meine sehr verehrten Kollegen von der Opposition, der Mehrwert und der Neuigkeitswert dieser Debatten sind leider Gottes außerordentlich gering. Eines bleibt klar festzuhalten: Abschiebungen und Abschiebungshaft sind notwendige Mittel zur Durchsetzung rechtmäßiger Ausweisungen. Ich möchte außerdem zu Beginn klarstellen: Das deutsche Recht wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in vollem Umfang gerecht, indem Abschiebungen Ultima Ratio, das allerletzte Mittel einer notwendigen Rückführung sind. ({1}) Ich darf auch darauf hinweisen: Es handelt sich bei dem Kreis der Betroffenen um Personen, die keinen Aufenthaltstitel in Deutschland haben und Deutschland eigentlich verlassen müssten, aber aus diversen Gründen - teilweise humanitären, teilweise tatsächlichen Gründen Deutschland bislang nicht verlassen konnten und nicht verlassen haben. ({2}) Die §§ 58 ff. des Aufenthaltsgesetzes genügen in vollem Umfang den rechtsstaatlichen und meiner Meinung nach auch den humanitären Anforderungen. Dies ist mehrmals, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der Opposition, durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und viele Urteile bestätigt worden. Es gibt einen klaren Grundsatz, der besagt, dass die Abschiebung das letzte Mittel der notwendigen Rück22856 Stephan Mayer ({3}) führung ist. Es gibt im Vorfeld mildere Mittel, die weitaus häufiger angewandt werden. ({4}) Die freiwillige Ausreise hat den absoluten Vorrang. Der überwiegende Teil der Personen, die nun einmal keinen Aufenthaltstitel für Deutschland haben und Deutschland verlassen müssen, verlässt Deutschland freiwillig. Wenn eine Abschiebung notwendig wird, muss sie im Vorfeld erst einmal angedroht werden. Für den Fall, dass sie tatsächlich erforderlich ist, bedarf es einer richterlichen Anordnung der Abschiebung. Eine Abschiebung bedarf also der Anordnung durch ein unabhängiges gerichtliches Organ. Des Weiteren gibt es diverse Möglichkeiten, die dazu beitragen, dass auf das Mittel der Abschiebung verzichtet wird. Wenn der Betroffene, also die Person, die ausreisepflichtig ist, glaubhaft macht, dass er Deutschland entweder freiwillig verlassen oder sich der Abschiebung beugen wird, dann bedarf es nicht der Anordnung der Abschiebungshaft. Das europäische Recht ist mit dem deutschen Recht schon in vollem Umfang in Einklang gebracht worden. ({5}) Der Rat der Europäischen Union hat die sogenannte Rückführungsrichtlinie am 16. Dezember letzten Jahres verabschiedet, und am 13. Januar dieses Jahres ist sie in Kraft getreten. ({6}) Viele andere Länder in der Europäischen Union haben im Hinblick auf die EU-Rückführungsrichtlinie weitaus größeren Nachbesserungsbedarf als Deutschland. ({7}) In Art. 15 der Rückführungsrichtlinie sind Abschiebung und Abschiebungshaft als letztes Mittel, als Ultima Ratio, vorgesehen. Wie im bisher geltenden deutschen Aufenthaltsgesetz wird auch hier der freiwilligen Ausreise Vorrang eingeräumt. Im Rahmen von Art. 7 der EU-Rückführungsrichtlinie gibt es diverse Möglichkeiten, unter bestimmten Auflagen auf die Anordnung einer Abschiebung zu verzichten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Mayer, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen zulassen?

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, sehr gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieben Dank, Herr Kollege. - Ich werde gleich noch eine Rede halten. Wenn ich meine Frage aber nicht jetzt an geeigneter Stelle stellen dürfte, wäre das später völlig aus dem Zusammenhang gerissen. ({0}) Sie haben gesagt, die Rückführungsrichtlinie sei schon in nationales Recht umgesetzt worden. Dazu habe ich eine Frage. Nach Art. 16 der Rückführungsrichtlinie ist es nicht zulässig, Menschen, die zur Ausreise verpflichtet worden sind, in Straf- bzw. Haftanstalten unterzubringen; in 14 der 16 Bundesländer ist dies aber noch Usus. Außerdem sind nach der beschlossenen Rückführungsrichtlinie keine Inhaftierungen allein aufgrund einer illegalen Einreise mehr erlaubt. Ich frage Sie, ob Sie zur Kenntnis nehmen, dass diese zwei Regelungen der Rückführungsrichtlinie noch nicht in nationales Recht umgesetzt worden sind, und ob die Bundesregierung gedenkt, auch diese Regelungen in nationales Recht umzusetzen.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Kollegin Dağdelen, ich kann nur für meine Fraktion und für mich, aber nicht für die Bundesregierung sprechen. Ich gehe natürlich davon aus, dass die Bundesregierung, insbesondere wenn die CDU/ CSU an ihr beteiligt ist, der Vorgabe der EU-Rückführungsrichtlinie in vollem Umfang Genüge tun wird, (Rüdiger Veit [({0}) sodass die EU-Rückführungsrichtlinie bis zum 24. Dezember 2010 im Wortlaut umgesetzt wird. Nun zum ersten Teil Ihrer Frage, Frau Kollegin. Ich habe die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der Grünen sehr intensiv gelesen. Sie haben sich gerade auf Frage 3 der Großen Anfrage bezogen, die, wenn ich das so sagen darf, sehr perfide gestellt ist; darauf möchte ich gerne eingehen. ({1}) - Ja, oder schlau. - Leider kenne ich den genauen Wortlaut nicht auswendig. Sinngemäß lautet die Frage: In welchen Bundesländern werden Abzuschiebende auch in Justizvollzugsanstalten untergebracht? - Natürlich werden Abzuschiebende in den Bundesländern, in denen dies der Fall ist, nicht ausschließlich in JVAs untergebracht. Das ist also eine Fragestellung, der man sehr genau auf den Grund gehen muss. Meines Wissens werden die Abzuschiebenden in fast allen Bundesländern fast Stephan Mayer ({2}) ausschließlich in gesonderten Haftanstalten untergebracht, sodass dem Art. 16 der EU-Rückführungsrichtlinie schon Genüge getan wird. ({3}) Diese Fragestellung sollte man erst einmal genau hinterfragen. Die Antwort auf diese Frage ist in Anbetracht der Fragestellung natürlich relativ. ({4}) Frau Kollegin, auch Sie sollten sich diese Fragestellung noch einmal genau zu Gemüte führen. ({5}) Ich fasse zusammen: Art. 16 der EU-Rückführungsrichtlinie ist umzusetzen. Es ist davon auszugehen, dass dies geschieht. Ich möchte betonen, dass diejenigen, für die Abschiebungshaft angeordnet wurde, in allen 16 Bundesländern in den meisten Fällen bereits heute in gesonderten und speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden. Das ist auch vollkommen richtig, Frau Kollegin, weil ein Abzuschiebender in den allermeisten Fällen nichts mit einem Straftäter oder einem Straffälligen zu tun hat. Deswegen ist es auch richtig, dass es zwei verschiedene Haftanstalten gibt, zum einen für Straftäter und zum anderen für Abzuschiebende. Frau Kollegin, lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit auf Ihren Antrag zu sprechen kommen. Sie haben die weitestgehende Forderung gestellt, nämlich dass die Abschiebehaft komplett abzuschaffen ist. Dies ist in vollem Umfang weltfremd und unrealistisch. ({6}) Es gibt Fälle, in denen es einer zwangsweisen Abschiebung und auch der Anordnung einer Abschiebehaft bedarf. ({7}) - Herr Kollege Winkler, natürlich handelt es sich bei den Abzuschiebenden nicht immer um Straftäter. Es gibt aber durchaus Fälle, bei denen es sich um Straftäter handelt. Ich möchte nur an die brutalen und menschenverachtenden Schläger in der Münchener U-Bahn erinnern, die kurz vor Weihnachten 2007 einen über 70-jährigen Rentner fast totgeschlagen haben. ({8}) Leider sind die rechtsstaatlichen Grundsätze immer noch zu hoch - das sage ich ganz offen -, ({9}) um solche Personen im Zweifel abschieben zu können. ({10}) In Einzelfällen besteht aber natürlich die Notwendigkeit, ausländische Straftäter abzuschieben. Des Weiteren ist Ihre Forderung, die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang als zuständige Gerichte für die Anordnung der Abschiebehaft einzusetzen, ebenso weltfremd und unrealistisch. ({11}) Dies wäre ein logischer Bruch in unserem Prozessrechtssystem. Haft wird nun einmal von ordentlichen Gerichten angeordnet. So muss es auch bei der Abschiebehaft sein. Das bis dahin stattfindende Verfahren wird von den Verwaltungsgerichten in ordnungsgemäßer Weise durchgeführt. Dies gilt für die Rückweisung und auch für die Anordnung der Abschiebung. Die Anordnung der Abschiebehaft muss aber selbstverständlich von den ordentlichen Gerichten angeordnet werden, und daran sollte sich auch nichts ändern. Ebenso vollkommen überzogen ist Ihre Forderung, für abzuschiebende Personen generell eine Pflichtverteidigung und eine kostenlose anwaltliche Vertretung bereitzustellen. Dies entspricht in keiner Weise dem deutschen Prozessrecht. Wenn die entsprechenden persönlichen Verhältnisse der Person nicht zulassen, dass sie sich selbst vertreten kann, und sie auch nicht die nötigen finanziellen Mittel für einen Rechtsbeistand aufbringen kann, ({12}) sieht es das deutsche Prozessrecht in bestimmten berechtigten Fällen vor, dass dann die Möglichkeit der Anordnung eines Pflichtverteidigers unter Prozesskostenhilfe besteht. Dies gilt aber nur für diese Ausnahmefälle. Eine Ausnahme ist meines Erachtens richtigerweise, dass Minderjährigen selbstverständlich ein Pflichtverteidiger beigeordnet wird. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die Große Koalition hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren in Sachen Reduzierung der sich illegal in Deutschland aufhaltenden Personen durchaus bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Wir haben eine Bleiberechtsregelung geschaffen, eine Altfallregelung in § 104 a des Aufenthaltsgesetzes, die wirklich wegweisend ist. Auch die Innenministerkonferenz hat eine Bleiberechtsregelung geschaffen, von der durchaus und in nicht zu unterschätzender Art und Weise Gebrauch gemacht wird. ({13}) Am Ende des Tages müssen wir aber einfach zur Kenntnis nehmen, dass es in Deutschland Personen gibt, die keinen Aufenthaltstitel haben. Diese Personen müssen Deutschland dementsprechend verlassen. Wenn sie das Stephan Mayer ({14}) nicht freiwillig tun, dann muss dies eben mit den Mitteln der Abschiebung und der Abschiebehaft geschehen. Wie schon eingangs erwähnt, beschäftigen wir uns in steter Regelmäßigkeit mit solchen Anträgen, die keinen Neuigkeitswert zutage fördern. Deswegen kann ich uns nur empfehlen, die interessanten Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen-Fraktion zur Kenntnis zu nehmen und den vollkommen weltfremden, überzogenen und unrealistischen Antrag der Linksfraktion abzulehnen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Umgang mit sich illegal in Deutschland aufhaltenden Menschen betrifft durchaus das Selbstverständnis einer freiheitlichen Gesellschaft und die grundsätzlichen Fragen der Durchsetzung unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Die Abschiebehaft ist ein Instrument des Ausländerrechts, mit dem man sich auf eine seriöse Art und Weise beschäftigen sollte, gerade dann, wenn man die humanitären Themen angehen möchte. Der Antrag der Linken kommt mit humanitärer Absicht daher, verschweigt aber konsequent seine Folgen für die deutsche Zuwanderungspolitik. In entlarvender Weise fordern die Linken die Aufgabe der staatlichen Durchsetzungsmöglichkeiten und quasi die Einstellung jeglicher Abschiebung aus Deutschland. So einfach kann man sich das nicht machen. Auch die Forderungen nach weiteren kostenlosen Leistungen sind unverhältnismäßig. Die Privilegierung illegal oder zumindest ohne Rechtsgrundlage Eingewanderter gegenüber legal eingewanderten Menschen und auch jedem deutschen Staatsbürger gegenüber ist fragwürdig. Zu Ende gedacht ruft die Linkspartei unter dem Vorwand der Menschenrechte zu einer weitgehenden Abschaffung jeglicher Migrationssteuerungsinstrumente auf. Gleichzeitig aber schimpft sie über Integrationsmängel, Schwarzarbeit sowie die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen. Das ist unlogisch und unredlich. ({0}) Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei den Vertretern der Linken eine naive Freude an unkontrollierter und unsteuerbarer Zuwanderung besteht. ({1}) Generell aus dem deutschen Zuwanderungsrecht einen Verstoß gegen die Menschenrechte abzuleiten, ist infam. Bei jeder Abschiebung liegt ein Verstoß gegen geltendes demokratisches Aufenthalts- oder Zuwanderungsrecht vor. Bei aller Kritik, die in manchem Einzelfall angebracht sein mag: Die pauschale Herabsetzung rechtsstaatlichen Handelns, die die Linke hier vornimmt, ist unanständig. ({2}) Mit diesen überzogenen Forderungen der Linken wird dem an sich berechtigten Anliegen, eine verhältnismäßige und humanitäre Abschiebepraxis zu gewährleisten, ein Bärendienst erwiesen. ({3}) Es gilt auch aus liberaler Sicht, ({4}) dass mit dem Instrument der Abschiebehaft sehr zurückhaltend und sehr behutsam umgegangen werden muss. Es gibt eine ganze Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten, die umgesetzt werden müssen. Auch in diesem Bereich sehen wir durchaus Handlungsbedarf. Grundsätzlich halten wir die Abschiebehaft jedoch für notwendig. Insofern haben wir die detaillierte Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen positiv gesehen. Außerdem ist es grundsätzlich sehr gut, dass die Grünen diese Große Anfrage gestellt haben ({5}) und wir damit eine Grundlage bekommen, um uns sachlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich muss allerdings auch sagen: Einige Teilaspekte sind angesprochen worden; der Gesamtzusammenhang fehlt jedoch leider.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wolff, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkler?

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, jetzt nicht. ({0}) Dabei hatten die Grünen bereits im Jahr 1998, lieber Josef, im Koalitionsvertrag unterschrieben, die Praxis der Abschiebehaft - ich zitiere - „im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ zu prüfen. ({1}) Hartfrid Wolff ({2}) Sie hatten sieben Jahre lang Zeit, liebe Kollegen von den Grünen, das zu tun, was Sie für besser gehalten haben. Was ist daraus geworden? Der Kollege Veit wird jetzt überlegen, ob er derjenige war, der verhindert hat, dass Ihre großen, hehren Ziele umgesetzt wurden. ({3}) Jedenfalls hatten Sie die Möglichkeit, sie umzusetzen. Die FDP stimmt den drei essenziellen Aspekten zu, die auch die EU-Kommission beschlossen hat. Demnach müssen das Primat der freiwilligen Rückkehr gestärkt, verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesichert - aus meiner Sicht auch ausgebaut - und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Gerade dann, wenn wir auf europäischer Ebene weiterkommen wollen, kann die Rückführungsrichtlinie, so notwendig sie auch war, nur ein Anfang sein. Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag der Linken zeigt zwar Probleme auf - der eine oder andere Satz zeigt auch das Niveau -; die Antragsteller bieten als scheinbare Lösung jedoch nur eine weitgehende Erschwerung von oder einen Verzicht auf Abschiebungen. Damit ist niemandem gedient, insbesondere den Menschen nicht, die legal und unter Beachtung der Gesetze der Bundesrepublik Deutschland hierher eingewandert sind und sich rechtmäßig im Lande aufhalten. Eine individuelle Bewertung ist notwendig. Institutionalisierte, ritualisierte oder automatische Nachsicht mit denen, die sich nicht an unsere Rechtsordnung halten, kann das Ansehen aller Zuwanderer beeinträchtigen und die Rechtstreue im Alltag aushöhlen. Zuwanderung ist aber etwas, was wir brauchen. Deshalb sollten wir sehr vorsichtig mit den verschiedenen Vorgaben umgehen. Auch deswegen bleibt die Abschiebehaft ein letztes, aber legitimes Mittel, den Abschiebevollzug sicherzustellen, wenn es darum geht, eine Rechtsordnung zu verteidigen, die demokratisch entstanden ist. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPDFraktion.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Nicht selten liegen Wahrheit und Realität in der Mitte - auch bei einigen Beiträgen, die hier und heute schon gehalten worden sind. Ich will mich bemühen, möglichst angemessen und nicht emotional auf die Problematik einzugehen. Wir können den Antrag der Linksfraktion nicht unterstützen, weil er zum einen aufgrund der Rückführungsrichtlinie, die aktualisiert wurde, völlig veraltet und in keiner Hinsicht mehr aktuell ist ({0}) und weil er zum anderen eine Reihe von Behauptungen und Forderungen enthält, die in der Tat als nicht praktikabel angesehen werden können. Insoweit stimme ich der Begründung des Kollegen Wolff in einigen Details - aber wirklich nicht in jeder Hinsicht - zu. Lieber Kollege Winkler, ich möchte mich aber auch an Sie wenden und sagen: Als jemand, der an diesem Geschehen einmal aktiv und verantwortlich beteiligt war, verwahre ich mich dagegen, dass Abschiebung und Abschiebungshaft in Deutschland generell so verhängt, vollzogen und praktiziert würden, dass dies mit menschenrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei. ({1}) Diese pauschale Schelte für alle daran beteiligten Verwaltungsbehörden oder auch Gerichte kann ich so nicht stehen lassen. ({2}) Da ich die Pflicht hatte, zwölf Jahre lang politisch hauptverantwortlich einer Ausländerbehörde und darüber hinaus weitere sechs Jahre lang einer zentralen Abschiebebehörde vorzustehen, könnte ich Ihnen durchaus einiges aus der Praxis erzählen - übrigens auch von den manchmal extremen emotionalen Belastungen, denen die Mitarbeiter ausgesetzt sind, die unsere Rechtsordnung vollziehen müssen. Das betrifft nicht nur die politisch Hauptverantwortlichen, sondern auch einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und natürlich die davon betroffenen Menschen. Um das ganz klar zu sagen: Dass als Ultima Ratio Abschiebung als solche und Abschiebehaft von irgendjemandem in unserem Staatswesen - Verwaltungsbeamten, Gerichten oder sonstigen Beteiligten - mit großer Freude und Überzeugung vollzogen würden, kann man nun weiß Gott nicht sagen. Das ist für alle Beteiligten in der Regel eine quälende Belastung. Es ist aber im Ausnahmefall notwendig, dass die Rechtsordnung durchgesetzt wird. ({3}) - Vielleicht von „zu häufig“. Aber auch das „häufig“ lasse ich nicht gelten. Der Kollege Wolff hat die Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 1998 übrigens nicht ganz vollständig zitiert. Darin hieß es nämlich, dass sowohl die Abschiebehaft als auch das Flughafenverfahren im Lichte der Verhältnismäßigkeit zu überprüfen seien. Lieber Kollege Winkler und alle, die damals schon daran beteiligt waren - wenn ich es richtig sehe, dann war das auf der Seite der Grünen nur der Kollege Hans-Christian Ströbele -, wir hätten gegenüber unserer eigenen Regierung unter Umständen ein bisschen erfolgreicher sein können. Ich will das einmal so freundlich umschreiben. ({4}) Hinsichtlich der Flughafenverfahren gab es ja immerhin Erfolge. Nachdem die neue Unterkunft fertiggestellt worden war - ich habe das hier schon mehrfach gesagt -, waren die Bedingungen sowohl für die Betroffenen als auch für die Mitarbeiter wesentlich besser und die Zahl der Beschwerden über diesen ganzen Komplex und die erheblichen Belastungen wesentlich geringer. Trotzdem sollten wir nicht aufhören, auch darauf zu achten. Ich komme noch einmal darauf zurück. Wir haben damals erreicht - jedenfalls in den Jahren 1999, 2000 und 2001 -, dass zumindest die unbegleiteten Minderjährigen - und hierbei vor allem die Kinder entweder nur ganz kurz oder überhaupt nicht in der Flughafenunterkunft untergebracht worden sind. Mir sind von meinen Mitarbeitern Zahlen vorgelegt worden, aus denen hervorgeht, dass sich diese Tendenz leider wieder umgedreht hat, sodass sich heute wieder mehr Jugendliche und sogar Kinder in der Flughafenunterkunft aufhalten. Meine Mitarbeiter haben mir zum Beispiel von einem Fall berichtet, bei dem ein Minderjähriger über 32 Tage dort war. Das geht nicht in Ordnung. Hier ist die Bundesregierung in ihrer Eigenschaft als Dienstherr sowohl der Bundespolizei als auch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg aufgefordert und gebeten, darauf hinzuwirken, dass Kinder und Jugendliche allenfalls nur wenige Stunden auf dem Flughafen in Frankfurt verbleiben und dann kind- bzw. jugendlichengerecht untergebracht werden. Gerade für die Kinder gilt - es ist vielleicht eines der Verdienste von Bündnis 90/Die Grünen, dass sie diese Daten mit ihrer Anfrage noch einmal zutage gefördert haben -: Sie kommen in ein Land, von dem sie sich Sicherheit und Schutz vor Verfolgung im Herkunftsland erhofft haben, und erleben dann möglicherweise schwierigste und nicht kindgerechte Haftbedingungen oder Aufenthaltsbedingungen, zum Teil und gerade in der unmittelbaren Nachbarschaft von Erwachsenen. Sie erleiden allein schon durch dieses Schicksal möglicherweise zusätzliche Traumata, die wir als humanitärer Rechtsstaat eigentlich vermeiden sollten. Nicht ohne Grund geht aus Art. 37 der Kinderrechtskonvention klar hervor, dass Freiheitsentziehungen bei einem Kind nur als allerletztes Mittel und für die denkbar allerkürzeste Zeit angeordnet werden können. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen interpretiert die UN-Kinderrechtskonvention so, dass Abschiebehaft bei Kindern unter 16 Jahren überhaupt nicht und bei Jugendlichen unter 18 Jahren nur als letztes Mittel verhängt werden darf. Damit sind wir bei einem anderen Thema, das uns schon häufiger beschäftigt hat, nämlich die von der Bundesregierung immer noch erklärten Vorbehalte gegenüber der Akzeptanz der Kinderrechtskonvention. Es ist nur noch ein einziger Punkt offen. Alle anderen sind erledigt. Dabei geht es um die Frage der Asylmündigkeit und der Behandlung von Jugendlichen unter 18 Jahren als Asylsuchende und Flüchtlinge. Denn unser Recht geht von der Fiktion aus, sie seien schon in jeder Hinsicht mündig und verantwortlich, könnten selbst Anträge stellen und womöglich auch in Haft genommen werden. Das entspricht nach Überzeugung der SPD-Fraktion nicht der Kinderrechtskonvention. Wir sehnen uns als Mehrheit des Parlaments schon langsam danach, endlich einer Regierung gegenüberzusitzen, die bereit ist, die Parlamentsbeschlüsse auch umzusetzen. ({5}) Dabei bin ich mir darüber im Klaren, Herr Staatssekretär Altmaier, dass das Problem bei den Bundesländern liegt. Mit dieser Frage werden wir uns vielleicht noch einmal im Ausschuss fachlich auseinandersetzen. Aber nicht nur im Lichte der Kinderrechtskonvention - es wird wirklich langsam Zeit, dass wir den Vorbehalt endlich ausräumen -, sondern auch im Lichte anderen übergeordneten Rechtes haben wir Veranlassung, lieber Kollege Mayer, unser eigenes Rechtssystem zu überprüfen. Insoweit ist unser Anliegen doch aktuell. Ich denke dabei an die Aufnahmerichtlinie und - wie versprochen komme ich jetzt darauf zurück - an die Rückführungsrichtlinie aus dem Januar dieses Jahres. Um es klipp und klar zu sagen: Die Rückführungsrichtlinie ist weder für die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament noch für die sozialdemokratische Fraktion im Deutschen Bundestag ein besonders fortschrittliches Instrument der Migrationspolitik. Aber sie bildet sozusagen den Mindeststandard - nur den Mindeststandard - für alle Mitgliedstaaten der EU. Darunter waren auch einige, die noch sehr viel problematischere Bedingungen im Bereich von Abschiebung, Rückführung und Abschiebungshaft hatten. Insoweit muss man feststellen: Wenn das Mindeststandards für alle EU-Staaten sind, dann ist das insoweit ein Erfolg. Das darf uns als deutschen Gesetzgeber nicht daran hindern, an günstigeren Regelungen festzuhalten oder sie zu schaffen. Wir müssen aber - damit sind wir wieder bei der Asylmündigkeit und den Richtlinien für Kinder unter 18 Jahren - alles daransetzen, sowohl was die Frage der Unterbringung der Kinder und Jugendlichen - Stichwort Aufnahmerichtlinie - als auch ihre angebliche Asylmündigkeit ab 16 Jahre angeht, unser deutsches Recht diesen Mindeststandards anzupassen, um nicht dahinter zurückzubleiben. Das wäre ein gemeinsames Anliegen, an dem wir weiter arbeiten sollten. Wenn dazu die Antwort der Bundesregierung mit zum Teil nicht so erfreulichen Zahlen über den Vollzug von Abschiebungshaft und vor allen Dingen von ganz bestimmten besonders schutzwürdigen Gruppen einen Beitrag geleistet hat, dann wäre das immerhin ein kleiner Erfolg. Ansonsten sind wir alle gefordert, in der geschilderten Weise auch gesetzgeberisch tätig zu werden. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der fraktionslose Kollege Henry Nitzsche.

Henry Nitzsche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003601, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, mit was man sich als deutscher Volksvertreter so herumschlagen muss. Das meiste Kopfschütteln rufen bei mir regelmäßig die Anfragen und Anträge der Grünen hervor. ({0}) Ich will einige Beispiele nennen: die Große Anfrage „Zur Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender“ vom Juni 2006, die Kleine Anfrage zur „Lage der Homosexuellen auf Jamaika“ vom Juni 2008 oder der Antrag zur Rechtssituation von Homosexuellen in Nigeria Anfang dieses Monats. ({1}) Das sind die Nöte und Sorgen, die die Menschen in unserem Land bewegen. ({2}) Jetzt sorgen Sie sich also um die Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten, wo es wahrscheinlich zugehen muss wie in Guantánamo. Gehen Sie doch bitte einmal zum Hauptportal herein, und schauen Sie nach oben. Dort steht „Dem deutschen Volke“ geschrieben. Zeigen Sie dafür doch endlich einmal Verantwortung! Kommen wir zu Ihrer Großen Anfrage. Es ist bezeichnend, dass Sie sich auf die zweifelhafte Antirassistische Initiative Berlin beziehen. ({3}) Bei dieser handelt es sich nämlich um eine Gruppierung mit besten Kontakten zum Linksextremismus. ({4}) Da haben Sie wahrlich den Bock zum Gärtner gemacht! Diese Gruppierung behauptet auf ihrer Internetseite, die Polizei veranstalte in Deutschland Menschenjagden, und fordert wörtlich offene Grenzen, Bleiberecht für alle und gleiche Rechte für alle. Darauf wollen Sie sich beziehen? ({5}) Da brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass der von Ihnen angeführte Selbstmord eines sich in Abschiebehaft befindlichen Asylbewerbers nicht den Tatsachen entspricht. ({6}) Besagter Äthiopier erhängte sich nämlich in Wahrheit, während er in Untersuchungshaft wegen des Verdachts auf Totschlag saß. Das ist schon ein Unterschied, auch wenn das nicht in Ihr Weltbild passt. Es sind nicht alle Opfer. Es gibt auch viele Täter unter ihnen. ({7}) Schauen wir uns einmal an, woher die Asylbewerber stammen, die in Abschiebehaft sitzen. Wir finden darunter Nationalitäten, die durchaus verwundern. Darunter sind Menschen aus Litauen, Portugal, Israel oder Polen. Da frage ich mich schon: Warum haben die bitte Asyl beantragt? Noch etwas fällt auf: Ein Großteil der Asylbewerber stammt aus der Türkei. Demnach müssen die Verhältnisse in diesem Land - gerade in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte - deutlich zu wünschen übrig lassen. Wie können Sie da die Aufnahme der Türkei in die EU verantworten, meine Damen und Herren von den Grünen? Erklären Sie das hier bitte einmal! In Wahrheit geht es Ihnen doch gar nicht um die Verbesserung der Situation in deutschen Abschiebegefängnissen. Sie wollen das Instrument der Abschiebehaft ganz abschaffen. Um das zu erkennen, genügt ein Blick in Ihr Wahlprogramm. Ich zitiere: Menschen, die nichts weiter getan haben, als in Deutschland Zuflucht zu suchen, sitzen in Abschiebehaft. Wir setzen uns für die Beendigung dieser inhumanen Situation ein. Ich muss Sie fragen: Sind Sie noch ganz bei Trost? Sie wissen doch ganz genau, was los wäre, wenn man die Abschiebehaft abschaffen würde. Die abgelehnten Asylbewerber würden schnurstracks in die westdeutschen Großstädte, in die Gettos, abtauchen. Liebe Kollegen von den Grünen, ich weiß, Sie sind immer große Freunde präventiver Ansätze. Ich will Ihnen einen solchen Ansatz einmal vorstellen. Die Frage ist nicht, wie die Situation in der Abschiebehaft verbessert werden kann, sondern wie verhindert werden kann, dass überhaupt Personen in Abschiebehaft gelangen. Die Asylanerkennungsquote in Deutschland liegt etwa bei 1 Prozent. ({8}) Das heißt, 99 Prozent der Asylanträge werden abgelehnt, und die Asylbewerber müssen das Land wieder verlassen. Daher wäre es doch sinnvoll, sich einmal Gedanken darüber zu machen, wie wir das ändern könnten. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Sicherungssystem der EU-Außengrenzen und einer verstärkten Kontrolle an den Grenzen zu Deutschland?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nitzsche, denken Sie an die Zeit, bitte.

Henry Nitzsche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003601, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. - Dann lösen sich die Probleme in den Abschiebehaftanstalten von ganz alleine. Im Übrigen, Herr Präsident, ist das Plenum nicht beschlussfähig. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort die Kollegin Sevim Dağdelen von der Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser rassistische, menschenverachtende und auch menschenfeindliche Unsinn meines Vorredners spricht für sich selbst. Ich möchte das nicht weiter kommentieren. ({0}) In der ersten Beratung über unseren Antrag am 29. März 2007 haben die Regierungsfraktionen und die FDP eines deutlich gemacht: Abschiebungshaft ist ein Instrument der Abschreckungspolitik. Denn der Verzicht auf Abschiebungshaft würde - ich zitiere Herrn Wolff von der FDP - einen massiven Anreiz zur illegalen Zuwanderung darstellen. Der Kollege Veit von der SPD malte in der ersten Beratung das Gespenst eines nicht zu bewältigenden Zustroms an die Wand, würde sich - ich zitiere erneut - unter den vielen Millionen Menschen in der Welt, die in Armut und Elend leben, oder den zig Millionen bereits auf der Flucht befindlichen Menschen herumsprechen, dass, wer immer deutschen Boden erreicht, auch hier leben kann. Ich finde, das hat mit Humanismus nichts mehr zu tun, auch nichts mit einem Bewusstsein für die Fluchtursachen und -gründe der Flüchtlinge, für die wir wegen der Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen mitverantwortlich sind. Außerdem ist nicht zu ersehen, woher eigentlich diese Sorge kommt. Die letzten Bundesregierungen haben maßgeblich dafür gesorgt, dass die Chance, die EU lebend zu erreichen, minimiert wird. So sinken auch die Zahlen derjenigen, die es überhaupt noch bis nach Deutschland schaffen. Wir alle kennen die Bilder vom Mittelmeer oder aus dem Westen Afrikas. Für die Linke darf ich feststellen: Für uns ist kein Mensch illegal. Deshalb plädieren wir für mehr Humanität. ({1}) Es ist einer der zynischen Höhepunkte der Abschiebepraxis in Deutschland, dass Abschiebungshäftlinge für die Kosten der Haft und der Abschiebung auch noch zahlen müssen. Zynisch ist auch, dass Menschen für eine solche Abschreckungspolitik persönlich herhalten müssen. Einige zahlen dafür nicht nur sprichwörtlich Blutzoll; Herr Winkler hat es noch einmal deutlich gemacht. Ich wiederhole: Seit 1993 töteten sich 150 Flüchtlinge angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon allein 56 Menschen in Abschiebungshaft. Dieser Verantwortung können sich die letzten Bundesregierungen nicht entziehen. Abschiebungshaft wird häufig rechtswidrig und rechtsfehlerhaft verordnet. In zwei Dritteln aller Fälle, die vom Rechtshilfefonds des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes unterstützt wurden, konnte eine Entlassung aus der Haft erreicht werden; die betroffenen Personen waren also rechtswidrig oder rechtsfehlerhaft inhaftiert worden. Herr Mayer, das belegt nochmals deutlich, dass Abschiebungshaft eben nicht die Ultima Ratio zur Durchsetzung der Ausreisepflicht ist, sondern häufig ohne Prüfung erfolgt. ({2}) Aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen geht auch hervor, wie leichtfertig die Abschiebungshaft verhängt wird. Etwa der Hälfte der Abschiebungen ging eine Abschiebungshaft voraus. Etwa 15 Prozent aller Inhaftierten mussten wieder entlassen werden. Ich finde, diese Menschen hätten erst gar nicht ihrer Freiheit beraubt werden dürfen, da bereits im Vorfeld klar war, dass eine Abschiebung unmöglich ist. ({3}) Zwischen 2005 und 2007 wurden unbegleitete Minderjährige für bis zu 142 Tage in Haft gehalten, Schwangere für bis zu 132 Tage. Das zeigt noch einmal deutlich, dass es Ihnen um die Abwehr von Flüchtlingen geht und nicht um den Schutz bedrohter Menschen in diesem Lande. Ich erinnere Sie gern noch einmal daran, dass Heiko Kauffmann von Pro Asyl die Abschiebungshaft als eine „demokratisch abgesicherte Barbarei“ bezeichnet hat. Günter Wallraff bezeichnet Abschiebegefängnisse als „Institutionen der Unmenschlichkeit“. Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich besonders im Umgang mit den Schwächsten einer Gesellschaft, mit Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten. Folgen Sie also unserem Antrag und schaffen Sie die immer rigoroser und unmenschlicher werdende Abschiebungshaft ab! Schaffen Sie, um dieses Ziel zu erreichen, eine gesetzliche Grundlage für die Wahrung von Mindeststandards bei der Inhaftierungspraxis! Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungs- haft, ihrer rechtlichen Grundlagen und der Inhaftierungs- praxis in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12020, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3537

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 16/12255 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Schäffler, Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Reform der Anlegerentschädigung in Deutschland - Drucksache 16/11458 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten stärken - Drucksachen 16/11205, 16/12184 - Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Ortwin Runde Es ist interfraktionell vorgesehen, dass die Redebei- träge zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU, Jörg-Otto Spiller, SPD, Frank Schäffler, FDP, Dr. Axel Troost, Die Linke, und Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/12255 und 16/11458 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz- ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf den Fi- nanzmärkten stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- 1) Anlage 6 ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12184, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11205 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Joachim Günther ({3}), Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Nachtstromspeicherheizungen nicht verbieten, sondern modernisieren - Chancen für erneuerbare Energien und für den Klimaschutz nutzen - Drucksache 16/11193 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden von Volkmar Uwe Vogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, Michael Kauch, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, und Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Außerbetriebnahme von elektrischen Speicherheizungen ist ein Baustein der gestern von der Bundesregierung beschlossenen Novellierung der Energieeinsparungsverordnung. Darin werden erstens die Anforderungen bei Errichtung neuer Wohn- und Nichtwohngebäude um durchschnittlich 30 Prozent verschärft ebenso wie zweitens für Altbauten für den Fall größerer Umbauarbeiten sowie drittens Regelungen zur Verbesserung des Vollzugs der Verordnung festgeschrieben. Baustein Nummer vier ist die Außerbetriebnahme elektrischer Speicherheizungen, wobei es sich zu 99 Prozent um sogenannte Nachtspeicherheizungen handelt. Das ebenfalls verabschiedete Energieeinsparungsgesetz schafft in diesem Zusammenhang die Verordnungsermächtigung für das Inkrafttreten der Energieeinsparungsverordnung in nunmehr sechs Monaten. Dabei - und das möchte ich insbesondere angesichts dieses Tagesordnungspunktes noch einmal betonen - dürfen die einzelnen Maßnahmen zum Klimaschutz und deren Bausteine nicht isoliert betrachtet werden. Nur kumuliert entfalten sie ihre erwünschte Wirkung: Viele Pinselstriche ergeben hier das Bild. Das heißt aber nicht, dass wir uns in kleinteilige Diskussionen verstricken dürfen. Davor warne ich. Es ist von entscheidender Bedeutung, alle Einsparpotenziale zu erschließen, die zu vertretbaren Kosten zu erreichen sind. Dabei dürfen wir den Bürgern nicht zuviel zumuten - das war und ist die Position und Entscheidungsgrundlage der Union. Bei elektrischen Speicherheizungen sehen wir jedoch einen Handlungsbedarf. Rund 1,4 Millionen Wohnungen werden elektrisch beheizt ({0}), sei es durch elektrische Speicherheizungen - von denen hier die Rede ist - oder durch Direktheizungen, wie etwa Fußbodenheizungen. Das ist in etwa jede 25. Wohnung. Zugleich verursachen diese rund 3 Prozent der deutschen CO2-Emissionen. Elektrische Speicherheizungen sind die größten Stromverbraucher in deutschen Haushalten. Sie sind schlecht zu regeln und teuer im Unterhalt. Aus Umweltsicht höchst problematisch bei Nachtspeicherheizungen ist insbesondere deren schlechter Wirkungsgrad. Energetisch betrachtet, sind Nachtspeicherheizungen eine Verschwendung hochwertiger Energie für die Bereitstellung niederwertiger Raumwärme. Den Begründungskontext für das Aufkommen und Wachstum von Nachtspeicherheizungen in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren bildeten große Überkapazitäten an Strom in der Nacht und das Interesse der Energieversorger, die Kraftwerke möglichst gleichmäßig zu fahren. Insofern wurde durch diese Stromspeicherheizungen und günstige Nachtstromtarife nachts eine künstliche Nachfrage geschaffen. Heute sehen wir die Dinge differenzierter: Der wertvolle Strom sollte im Allgemeinen dort eingesetzt werden wo er wirklich gebraucht wird, das heißt, in elektrischen oder elektronischen Geräten, in elektrischen Antrieben. Eine elektrisch betriebene Raumheizung ist weder wirtschaftlich noch umweltschonend und daher nicht mehr zeitgemäß. Dies hat in aller Deutlichkeit eine Studie des Bremer Energieinstituts aus dem Jahr 2007 gezeigt. Die Studie stellt aber auch fest, dass der Trend zu elektrischen Heizungen im Allgemeinen ungebrochen ist: Der Heizstromverbrauch stieg von 1995 bis 2004 um 6 Prozent und damit stärker als der Gesamtenergieverbrauch für Raumwärme! Insbesondere für Nachtspeicherheizungen gibt es eine Vielzahl an alternativen Erzeugungsformen, wobei im Vergleich bis zu 80 Prozent Primärenergie gespart werden können, zum Beispiel durch Holzpellet-Heizungen - mit oder ohne Solarkollektor - oder etwa hocheffiziente Gas-Brennwert-Heizungen. Eine Außerbetriebnahme alter und heutzutage nicht mehr im Neubau verwendeter Nachtspeicherheizungen nützt erstens dem Klima und zweitens der Konjunktur. Nach Berechnungen des Bremer Energieinstituts liegen die spezifischen CO2-Emissionen von Nachstromspeicherheizungen gegenüber einer Gas-Brennwert-Heizung um den Faktor 3,6 und gegenüber einer Pellet-Heizung sogar um den Faktor 13 höher. Daher werden wir sie nach Maßgabe der Energieeinsparungsverordnung langfristig außer Betrieb nehmen. Das hilft dem Klima. Klimaschutzmaßnahmen verlieren, richtig gemacht, auch angesichts wirtschaftlich schwierigerer Zeiten nicht an Legitimation. Klimaschutz war richtig und bleibt es vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit auch unter den jetzigen, schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir haben in den letzten Monaten zwei Konjunkturpakete verabschiedet, um die Wirtschaft anzukurbeln. Vor diesem Hintergrund fügt sich diese Maßnahme gut ein auch wenn sie keinen kurz- oder mittelfristigen, sondern einen langfristigen Charakter hat. Schließlich erfolgt die Außerbetriebnahme erst ab dem Jahr 2020 stufenweise und für dann mindestens 30 Jahre alte Anlagen in Wohngebäuden mit mindestens sechs Wohneinheiten. Jenseits von Aspekten des Umwelt- und Klimaschutzes sehen wir einen Markt für Umweltinnovationen im Wärmebereich. Hier ruht ein großes Investitionsvolumen: Aufträge für Heizungsbauer und Installationsgewerbe, Mittelstand und Handwerk. Ganz entscheidend ist, und dafür steht die Union, dass die Außerbetriebnahme sozialverträglich und mit Augenmaß geschieht. Genau das erreichen wir durch Förderanreize einerseits sowie umfangreiche Härtefallregelungen und eine langfristige, stufenweise Verpflichtung zur Außerbetriebnahme andererseits: Das fördert die Akzeptanz für die Maßnahme bei den Betroffen und die Bereitschaft, den Weg mit zu gehen. Ganz konkret wird die Außerbetriebnahme von Nachtspeicherheizungen bereits seit Mai 2003 als Einzelmaßnahme im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungsprogramms von der KfW gefördert. Daneben bietet auch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle im Rahmen des Marktanreizprogramms des BMU Förderungen von Maßnahmen zur Nutzung erneuerbarer Energien im Wärmemarkt an. Hiermit werden auch kurzfristig Anreize gesetzt, die mit steigenden Stromkosten immer teurer werdenden Nachstromspeicherheizungen zu ersetzen. Zudem haben wir in der Novellierung die bestehende Härtefallreglung noch umfangreicher und zugleich konkreter gestaltet: Weiterhin gilt das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Maßnahme - für die Union ist das ein entscheidender Gradmesser: Stellt die Umsetzung der Vorgaben einen unangemessenen Aufwand dar oder kann die erforderliche Aufwendung - auch bei Inanspruchnahme der Förderung - nicht innerhalb einer angemessenen Frist erwirtschaftet werden, so entfällt die Pflicht zur Außerbetriebnahme. Wir von der Union sind überzeugt, dass wir mit der langfristigen Außerbetriebnahme von Nachtspeicherheizungen eine für alle tragbare und sinnvolle Regelung gefunden haben. Die im Antrag der FDP-Fraktion geforderten Maßnahmen stehen aus Sicht der Union bezüglich Aufwand und Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis. Die Nutzung elektrischer Speicherheizungen zur Raumbeheizung ist aufgrund der technischen Systemeigenschaften definitiv nicht mehr zeitgemäß. An diesen grundlegenden Defiziten ändert auch etwa die Nutzung von Strom aus erneuerbaren Energien nicht das Geringste. Daher lehnen wir den Antrag der FDP-Fraktion ab.

Rainer Fornahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003120, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Am 19. Dezember 2008 hat der Bundestag das Energieeinsparungsgesetz beschlossen und damit die rechtliche Grundlage zum Verbot von Nachtstromspeicherheizungen geschaffen. Ein Entschließunsantrag der FDP mit gleichlautendem Inhalt wie der hier vorliegende Antrag wurde damals von allen anderen Fraktionen abgelehnt, Zu Protokoll gegebene Reden sodass sich die heutige Debatte eigentlich erledigt hat. Da die Fraktion der FDP ihren Antrag nicht zurückgezogen hat und mir ausreichend Redezeit zur Verfügung steht, werde ich auf einige Irrungen und Wirrungen bei der FDP eingehen. Es ist falsch zu behaupten, dass Nachtstromspeicherheizungen nicht klimaschädlich sind. Nach einer Studie von IZES/Bremer Energieinstitut sind die spezifischen CO2-Emissionen gegenüber einer Gas-Brennwertheizung um den Faktor 3,6 und gegenüber einer Pellet-Heizung sogar um den Faktor 13 höher. 1,4 Millionen Wohnungen ({0}) werden derzeit in Deutschland elektrisch beheizt. Die moderne und umweltverträgliche Wärmeversorgung mit erneuerbaren Energien und hocheffizienten Nah- oder Fernwärmesystemen könnte durch Substituierung von elektrischer Raumheizung bis zu 80 Prozent der Primärenergie sparen und die Emissionen des klimaschädlichen CO2 um über 80 Prozent reduzieren. Mindestens 23 Millionen Tonnen CO2/a können durch den Ersatz von Nachtstromspeicherheizungen eingespart werden. Die im Antrag erwähnte parlamentarische Anhörung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am 10. November 2008 hat hier auch nichts anderes ergeben. Die FDP greift in ihrem Antrag im ersten Spiegelstrich ein von einem Experten entwickeltes Argument zum Emissionshandel auf. Demnach werden die durch wegfallende Nachtspeicher nicht mehr benötigten Emissionsrechte im Emissionshandel einfach für andere Stromverbraucher frei und führen damit nicht zu einer Minderung der Emissionen. Diese Argumentation ist formal nicht falsch, berücksichtigt aber nicht, dass die jetzt geltenden Emissionshandel-Richtlinien ({1}) für die Jahre 2007 bis 2012 gelten, während die Außerbetriebnahmeregelung erst ab dem 1. Januar 2020 wirksam wird. Für Emissionshandel der dritten Periode ab 2013 werden zwar erste Verhandlungen geführt. Rechtsrelevante Emissionsregelungen für diese sogenannte Post-Kioto-Periode existieren aber noch nicht. Selbstverständlich würden bei der Festlegung künftiger Emissionshandelsobergrenzen die in diesen Zeitabschnitt fallenden Einsparungen aufgrund ordnungsrechtlicher Einzelpflichten berücksichtigt. Je mehr Einsparungen im Strombereich durch Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen, den Einsatz effizienter Geräte und andere Maßnahmen erreicht werden können, umso niedriger kann das Cap für die dritte Handelsperiode sein. Die Außerbetriebnahmepflicht führt daher insgesamt nicht zum Anstieg, sondern zur dauerhaften Minderung der deutschen Treibhausgasemissionen. Der Hinweis in dem Antrag, dass die Nachtstromspeicherheizungen von den Energieversorgungsunternehmen in der Vergangenheit insbesondere in der Nähe von Kohlekraftwerken gezielt gefördert wurden, um diese nachts aufgrund der Lasttäler nicht zu sehr drosseln zu müssen bzw. das Netz vor Überspannung zu schützen, ist richtig. Seit der Liberalisierung der Energiewirtschaft Ende der 90er-Jahre haben sich die Rahmenbedingungen für die Versorgung mit Elektrizität aber grundlegend geändert. Physikalisch gleicher Strom wird nunmehr ökonomisch, ökologisch und im Zeitgang differenziert weit über die Landesgrenzen hinaus gehandelt. Eine bessere Regelbarkeit der Kraftwerke, die Verstärkung der europäischen und nationalen Verbundnetze, der Ausbau der Windenergie und vieles andere mehr haben die technischen Gegebenheiten erheblich verändert. Deshalb und aufgrund der ökologischen Nachteile der Nachtstromheizungen ist zum 31. Dezember 2006 auch die Steuerermäßigung für Strom zum Betrieb von Nachtspeicherheizungen, die vor dem 1. April 1999 installiert wurden, ausgelaufen. Zum Ausgleich wird seit Mai 2003 der Ersatz von elektrischen Nachtspeicherheizungen im Rahmen des mit Bundesmitteln ausgestatteten KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramms als Einzelmaßnahme gefördert. Bei allen im vorliegenden Antrag zur Rettung der Nachtstromspeicherheizungen beschworenen zukünftigen technologischen Entwicklungen und einem modernen Lastenmanagement bleibt, dass elektrische Widerstandsheizungen eine Verschwendung hochwertiger Energie für die Bereitstellung niederwertiger Raumwärme darstellen. Um Panik zu vermeiden, sollten die Kollegen von der FDP vielleicht einfach nur sorgfältig den vom Bundeskabinett beschlossenen Entwurf zur Energieeinsparverordnung 2009 lesen, die hoffentlich bald ihre klimapolitisch segensreiche Wirkung entfalten kann. Nachtstromspeicherheizungen sollen langfristig und stufenweise außer Betrieb genommen werden. Nach Ablauf des Jahres 2019 dürfen die ersten Anlagen mit einem Alter von mindestens 30 Jahren nicht mehr betrieben werden. Den Eigentümern und indirekt auch den Herstellern wird damit eine langfristige zeitliche Perspektive gegeben. Die Kosten für den Austausch zum Beispiel gegen einen Brennwertkessel sind zwar hoch ({2}). Die Regelung gilt aber nur für ältere Wohngebäude mit mehr als fünf Wohneinheiten und ähnlich große Nichtwohngebäude. Ein größerer Anwendungsbereich ist den Betroffenen gegenwärtig wirtschaftlich unzumutbar. Härtefallklauseln sollen sicherstellen, dass niemand persönlich, wirtschaftlich oder finanziell überfordert wird. Bundesregierung und Koalition beabsichtigen jedoch, in den nächsten Jahren den Austausch im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungsprogramms nach Maßgabe der durch den Haushalt zur Verfügung gestellten Mittel zu fördern. Ich glaube, dies macht deutlich, dass es nicht um den Untergang des Abendlandes geht. Ich kann der FDP aber wenigstens eine kleine Hoffnung machen, dass es 2020 doch nicht zu dem sanktionsbewehrten Verbot kommen muss. Die Preiskalkulation für Strom für elektrische Widerstandsheizungen beruht insbesondere auf einem extrem niedrigen Wert für Netznutzungsentgelte - im Bundesschnitt 2 Cent/kWh, weit weniger als ein Drittel der regulären Netznutzungsentgelte im Niederspannungsbereich. Dies dürfte sich aus rechtlichen, betriebswirtschaftlichen und betriebstechnischen ({3}) Gründen zunehmend ändern. Einige Stromanbieter haben bereits ihre Tarife nach oben korrigiert bzw. preisgünstige Sondertarife nicht verlängert. Ein realistisch kalkulierter Preis für Elektroheizungen müsste bei 15 bis 16 Cent/kWh liegen. Das liegt jenseits der Zu Protokoll gegebene Reden Energiepreise, die für die sonst üblichen Heizsysteme anzusetzen sind ({4}). Würden die Strompreise für Elektroheizungen auf dieses Niveau angehoben, würde sich der Druck stark erhöhen, diese Heizungen schnellstmöglich zu ersetzen. Ganz im Sinne der FDP würde der Markt die Frage des Verbots beantworten. Ich befürchte allerdings, dass dann der Mieter das Nachsehen hätte. Deshalb ist die gefundene Regelung, mit der über einen langen Zeitraum geplant werden kann, sinnvoll und vernünftig und im Sinne von Energieeffizienz und Klima-Verantwortung ohne ernsthafte Alternative. Deshalb lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den vorliegenden FDP-Antrag ab.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Bundesregierung will den Ersatz der von ihr als „extrem klimaschädlich“ empfundenen Nachtstromspeicherheizungen in Wohnhäusern rechtlich erzwingen. Es reicht ihr dabei nicht, einfach nur den weiteren Zubau von Nachtstromspeicherheizungen zu verbieten, vielmehr sollen auch die im Gebäudebestand bereits in Betrieb befindlichen Nachtstromspeicherheizungen entfernt werden müssen. Mit dem verabschiedeten Energieeinspargesetz hat die Koalition die rechtliche Grundlage für ihr geplantes Verbot geschaffen. Dabei ließ sie die Ergebnisse einer zu diesem Thema durchgeführten parlamentarischen Expertenanhörung außer Betracht. Dies ist auch nachvollziehbar; denn die Anhörung ergab gravierende Zweifel am klimaund energiepolitischen Sinn der Maßnahme. Eine erzwungene Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen ist aus mehreren Gründen abzulehnen; denn sie ist sowohl aus der Perspektive der Ressourcenschonung als auch des Klimaschutzes sinnlos und kontraproduktiv. Eine Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen führt in der Gesamtbetrachtung nicht zu einer Emissionssenkung. Nein, im Gegenteil! Diejenigen Haushalte, in denen Nachtstromspeicherheizungen außer Betrieb genommen werden, würden sich gezwungen sehen, neue Heizungsanlagen einzubauen. In den Fällen, in denen diese mit fossilen Brennstoffen betrieben würden, entstünden dann zusätzliche CO2-Emissionen. Denn Emissionen von Gasheizungen sind nicht durch den Emissionshandel mit seinen festen CO2-Obergrenzen erfasst - der Strom für die Nachtspeicherheizungen schon. Im Ergebnis werden deshalb die CO2-Emissionen kurzfristig ansteigen, wenn die Bundesregierung die Verordnungsermächtigung in die Tat umsetzt. Das Verbot steht damit in unmittelbarem Widerspruch zu dem Ziel, das es vorgibt, erreichen zu wollen. Eine effiziente Nutzung von modernisierten Nachtstromspeicherheizungen in einem schlüssigen Konzept aus Energiespeicherung und modernem Lastmanagement würde dagegen zur Optimierung der Energieausbeute beitragen. Schließlich erscheint eine Modernisierung bestehender Nachtstromspeicherheizungen deutlich kostengünstiger und auch energiepolitisch sinnvoller als deren aufwendige Entfernung. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert daher die Bundesregierung auf, ungeachtet einer zwischenzeitlich geschaffenen Ermächtigungsgrundlage die bestehenden Pläne zur erzwungenen Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen in der bisherigen pauschalen Form nicht weiter zu verfolgen. Stattdessen sind sinnvollere Maßnahmen zu ergreifen: Eigentümern von Nachtstromspeicherheizungen müssen die Vorteile des liberalisierten Strommarktes zugänglich gemacht werden, da der Wechsel zu anderen und billigeren Anbietern für diese Stromkunden immer noch nicht möglich ist. Die aufseiten der Netzregulierung erforderlichen Regelungen für die Einführung intelligenter Zähler müssen unverzüglich erarbeitet werden, um das Angebot lastabhängiger Tarife zu ermöglichen und Wettbewerbern - mit Zustimmung des Stromkunden - einen Zugang zu den Verbrauchs- und Lastdaten zu geben, die für die Erstellung solcher neuartiger Wettbewerbsangebote erforderlich sind. Dazu gehören aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion Standards für die technischen Anforderungen an Zähler, insbesondere hinsichtlich der Fernauslesbarkeit, der Fernsteuerbarkeit und der Datenformate. Überdies sind im Dialog mit den Netzbetreibern die regulatorischen Voraussetzungen zu prüfen, wie Nachtstromspeicherheizungen in Smart-Grid-Konzepte eingebunden werden können, die ihre Nutzung als Wärmeenergiespeicher insbesondere auch für Strom aus erneuerbaren Energien erlauben bzw. optimieren. Schlussendlich muss die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag ein widerspruchsfreies und hinsichtlich seiner Bestandteile aufeinander abgestimmtes, konsistentes Konzept für einen wirksamen und zugleich wirtschaftlichen Klimaschutz im Rahmen des europäischen Emissionshandels vorlegen, statt sinnlose und kontraproduktive Maßnahmen zu verfolgen, die einem langfristigen Klimaschutz entgegenstehen.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit ihrem Festhalten an den ineffizienten und klimaschädlichen Nachtstromspeicherheizungen macht sich die FDP zum Handlanger der Kohle- und Atomkonzerne. Das rasante Wachstum der erneuerbaren Energien ermöglicht einen Ausstieg aus Kohle und Atom. Mit den fossilen Energieträgern werden auch die Nachtstromspeicherheizungen überflüssig. Wenn das die FDP nun blockiert, kann sie es nicht ernst meinen mit der Energiewende. Nachtstromspeicherheizungen wurden erfunden für die Kohle- und Atomkraftwerke. Weil die nachts ihre Leistung nicht herunterfahren konnten, musste der Strom irgendwie verbraucht werden. Nachtstromspeicherheizungen und fossile Kraftwerke ergänzen sich dabei gegenseitig: Die Heizungen kriegen günstigen Nachtstrom, die Kraftwerke können mehr Strom verkaufen. Von einem Weiterbetrieb der Nachtstromspeicherheizungen würden also vor allem unflexible Kohle- und Atomkraftwerke profitieren. Energieeffizienz und erneuerbare Energien bleiben auf der Strecke. Zu Protokoll gegebene Reden Nachtspeicheröfen verursachen im Vergleich zu anderen Heizungssystemen die höchsten CO2-Emissionen und darüber hinaus die mit Abstand höchsten Kosten bei der Raumheizung. Die in 1,4 Millionen Wohnungen installierten Geräte verbrauchen den Strom von fünf großen Braunkohlekraftwerken. Da sie zudem überproportional häufig in alten Mietwohnungen installiert sind, müssen häufig ärmere Familien draufzahlen, oder der Steuerzahler kommt über das Arbeitslosengeld II für die exorbitanten Heizkosten auf. Vom BMU war ursprünglich vorgesehen, einen Ersatz der Nachtspeicheröfen mit festgelegten und überschaubaren Fristen vorzuschreiben. Das BMWi hat hier zahlreiche Befreiungs- und Härtefallregeln hineinverhandelt und zudem die Fristen zum Austausch auf spätestens 2020 bzw. 30 Jahre nach der Installation festgelegt. Der ökologische und ökonomische Unfug wird also frühestens 2038 endgültig beendet, wobei noch unklar ist, ob es finanzielle Anreize zum Austausch geben wird. In Wohngebäuden mit weniger als sechs Wohneinheiten oder weniger als 500 Quadratmetern Nutzfläche braucht gleich überhaupt nichts zu passieren. Vielleicht wurde hier so halbherzig vorgegangen, weil Nachtspeicheröfen den Energieversorgern ihr geliebtes Geschäft mit dem Nachtstrom sichern. Nicht nur im Stromsektor, auch im Wärmebereich müssen wir umsteuern. Dazu ist ein Abschied von den Nachtstromspeicherheizungen ein notwendiger erster Schritt. Denn Heizen mit Strom ist höchst ineffizient. Wertvolle Energie wird verschwendet, wenn die Wärme im Kraftwerk zunächst in Strom umgewandelt wird, nur um anschließend wieder in Wärme verwandelt zu werden. Solch eine Energieverschwendung können wir uns in Zeiten steigender Energiepreise einfach nicht leisten! Die Alternativen zur klassische Öl- und Gasheizung müssen endlich durchgesetzt werden: Vor allem der Anschluss an Nah- oder Fernwärme kann enorme Mengen des Klimakillers CO2 einsparen. Sinnvoll ist auch ein deutlich höherer Anteil von erneuerbaren Energien im Wärmebereich, wie Solaranlagen zur Warmwasserbereitung. Nach einer Studie des Instituts für Zukunfts-Energie-Systeme und des Bremer Energie-Instituts kann dadurch bis zu 80 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespart werden. Das Hauptfeld und die kostengünstigste Option zu CO2-Einsparungen ist und bleibt im Übrigen die Wärmedämmung, vor allem im Gebäudebestand. Doch die hat ja die Bundesregierung in ihrer Verordnung gerade von Pflichten zur energetischen Gebäudesanierung befreit. Kommen wir noch einmal zu den konkreten Plänen der Bundesregierung, Natürlich ist die Umstellung von Nachtspeicherheizungen auf Alternativen mit Kosten verbunden, die sich nicht alle leisten können. Daher ist es richtig, dass die Regierung ein Förderprogramm auflegen möchte. Auch Ausnahmen und Härtefälle kann es geben. Sie müssen jedoch viel enger begrenzt werden als gegenwärtig geplant. Sie dürfen schlicht nicht dazu führen, dass praktisch nichts passiert! Vom Aus der Nachtspeicherheizungen wird nicht nur das Klima profitieren. Vor allem die Mieterinnen und Mieter können bei den Energiekosten sparen. Die explodierenden Strompreise sind doch nicht zu übersehen. Deswegen ist es richtig, wenn jetzt Geld in die Hand genommen wird, um langfristig Kosten einzusparen. Fassen wir zusammen: Die ineffizienten Nachtstromspeicherheizungen machen nur Sinn in Kombination mit Kohle- und Atomkraftwerken. Wir sind aber auf dem Weg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. Deswegen brauchen wir neue, umweltfreundliche Heizsysteme. Die gibt es bereits. Nur die Atomfreunde der FDP wollen weiterhin Energie verschwenden. Dazu sagen wir von der Linken ganz klar: Nein! Die Nachtstromspeicherheizungen müssen sozialverträglich durch klimafreundliche Heizungen ersetzt werden.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zunächst einmal ist bemerkenswert, wie hartnäckig die FDP dieses Thema verfolgt. Allerdings sollten hier die Fakten nicht verdreht werden. In der im Antrag erwähnten parlamentarischen Expertenanhörung war es durchaus nicht so, dass sich eine breite Mehrheit gegen das Verbot von Nachtstromspeicherheizungen aussprach. Im Gegenteil, nur der von der Fraktion der FDP eingeladene Professor Weimann war ein glühender Verfechter dieser Heizungsart. Allerdings - und das musste auch Professor Weimann anerkennen - funktioniere seine Theorie auch nur auf der Basis eines weltweit funktionierenden Emissionszertifikatehandels. Dass es diesen - noch nicht gibt, dürfte auch der FDP nicht verborgen geblieben sein. Die Änderung der Energieeinsparungs-Verordnung, EnEV, bezüglich der elektrisch betriebenen Nachtstromspeicherheizungen ist unter dem Strich sinnvoll, vor allem, wenn man sich den Gesamtwirkungsgrad ansieht, das heißt die thermische Erzeugung von Strom, um dann aus Strom wieder Wärme zu machen. Es ist mit Sicherheit ein Fehler gewesen, in manchen Kommunen den Einsatz von Nachtstromspeicherheizungen vorzuschreiben. Dagegen gewehrt haben sich die EVU aber nicht. Denn es ist durchaus von ihnen auch eine unmerkliche Abhängigkeit der Kunden befördert worden. Viele dieser Kunden merken heute, nachdem auch Sondertarife für Nachtstromspeicherheizungen angehoben wurden, die neue Unfreiheit schmerzhaft an den monatlichen hohen Abschlagszahlungen. Denn so preiswert, wie einmal versprochen wurde, ist Strom schon lange nicht mehr. Deshalb liegt der Verdacht nahe, dass die FDP hier zwar als Retter der Verbraucher auftritt, in Wirklichkeit aber die Interessen der großen Energieversorgungsunternehmen vertritt. Interessant wäre die Antwort auf die Frage, ob ein Ersatz von Nachtstromspeicherheizungen auch dann sinnvoll wäre, wenn sie ausschließlich mit Strom betrieben würden, der aus regenerativen ungeregelten Energieumwandlungssystemen stammt. Die Bundesregierung hat sich diesbezüglich nicht äußern können oder wollen. Die Antwort könnte in den kommenden Jahren stärker ins Zentrum der Diskussion rücken, nämlich dann, wenn es zu temporären Stromüberangeboten aus regenerativen Quellen kommt. Fraglich ist allerdings auch dann noch, ob ein „Edel“Zu Protokoll gegebene Reden Energieträger wie Strom im Wärmemarkt überhaupt eingesetzt werden sollte - zumindest im größeren Maßstab. Der Gebrauch von Elektroheizungen und Nachtstromspeicherheizungen zementiert zudem den bestehenden Kraftwerkspark, basierend auf thermischen Großkraftwerken, und verhindert eine dezentrale Struktur. Kondensationskraftwerke auf Dampfturbinenbasis haben einen Wirkungsgrad von mehr als 30 Prozent bis weniger als 50 Prozent, wobei Atomkraftwerke besonders ineffizient sind. Diese Kraftwerkstypen und damit die Struktur des Energiemarktes würden damit gestützt. Die Folge ist, dass die Hälfte bis zwei Drittel des eingesetzten Brennstoffes nicht genutzt und als „Wärmemüll“ in die Umwelt abgegeben werden. Ziel muss es sein, diese Verluste zu minimieren. Dazu ist aber der Ausbau einer dezentralen Energieversorgungsstruktur auf Basis der Kraft-WärmeKopplung, KWK, notwendig. Diese wird jedoch durch das Festhalten an alten Strukturen verhindert. Die FDP ist Bremserin einer zukunftsfähigen Energiepolitik. Insofern wirft sie auch mit dem Titel ihres Antrages Nebelkerzen. Wenn das, was im Antrag gefordert wird, Realität würde, wird ziemlich genau das Gegenteil von dem erreicht, was erreichen zu wollen die FDP vorgibt: Die Chancen für erneuerbare Energien und für den Klimaschutz würden eher verschlechtert denn verbessert. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Statt sich auf eine kleinteilige Lobbyarbeit zu reduzieren, sollte die FDP endlich unseren vielfältigen Vorschlägen folgen. Denn wenn wir so weitermachen, wird es mehr als 150 Jahre dauern, bis der Gebäudebestand auf einen vernünftigen energetischen Standard gebracht ist. Das ist unverantwortlich gegenüber unseren nachfolgenden Generationen. Daher lohnt es sich, nochmals unsere wesentlichen Forderungen aufzuführen. Wir müssen der Aufklärung und der qualifizierten Beratung der Gebäudenutzer eine stärkere Aufmerksamkeit schenken. 20 bis 30 Prozent der Einsparungen lassen sich alleine durch ein verändertes Heizverhalten und mit einem vergleichsweise geringen Mitteleinsatz durch Beratung erreichen. Wir müssen endlich verbindliche und realistische Gebäude-Effizienzstandards für Bestands- und Neubauten setzen, deren Wirkungen auf die kurzfristigen - bis 2020 und langfristigen - bis 2050 - Klimaschutzziele ausgerichtet sind. Wir müssen ein Recht der Mieter bzw. Nutzer auf Einhaltung dieser Effizienzstandards einräumen. Wir müssen die stärkere Berücksichtigung von Lösungsansätzen in der Förderpolitik beachten, mit denen die größten Klimaschutz- und Einsparpotenziale bei geringstem Mitteleinsatz gehoben werden können. Wir müssen bauliche und modulare Lösungen in der energetischen Gebäudesanierung von heute fördern, die uns bei der Erreichung der langfristigen Ziele morgen nicht im Wege stehen. Wir müssen zusätzliche Sanierungshilfen und Lösungen für ökonomisch schwache Vermieter oder Hauseigentümer einführen, insbesondere in den peripheren Regionen Deutschlands. Wir müssen schließlich endlich einen Energieausweis vorschreiben, der die energetische Qualität eines Gebäudes tatsächlich abbildet und nicht als unseriöse Lachnummer im Internet für Dumpingpreise von 1,99 Euro ersteigert werden kann.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Sicherheit in der Informationstechnik des Bundes - Drucksachen 16/11967, 16/12225 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Die Kollegin Gisela Piltz hat sich als Einzige in dieser Aussprache zu Wort gemeldet. Die anderen Reden nehmen wir zu Protokoll. Jetzt wollen wir unsere Aufmerksamkeit der Kollegin Piltz widmen. ({1})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Titel dieses Gesetzentwurfs, der sehr spät auf der Tagesordnung steht - aus meiner Sicht leider zu spät für ein Gesetz, dessen Konsequenzen sich die meisten von Ihnen, wie ich glaube, noch gar nicht klargemacht haben -, denkt man zunächst an nichts Schlimmes. Gegen Sicherheit von Computern und der Informationstechnik kann man erst einmal nichts haben. Das ist völlig richtig. Die Pannen mit Meldedaten oder auch andere Vorfälle zeigen uns ganz deutlich: Diese Sicherheit muss Priorität haben. Nur, da hat man die Rechnung ohne den Wirt gemacht; denn wo Sicherheit draufsteht, ist bei dieser Bundesregierung meist auch Überwachung drin. Auch die martialische Wortwahl des Bundesinnenministers, Herr Staatssekretär, im Zusammenhang mit dem geplanten BSI-Gesetz lässt einiges ahnen. In der Pressekonferenz zum Arbeitnehmerdatenschutz am 16. Februar 2009 sprach er diesbezüglich vom Cyber-War, also vom Krieg. Ich finde, das ist nicht ganz angemessen. Natürlich gehört die Informationstechnik zu den kritischen Infrastrukturen eines Staates. Natürlich ist es notwendig, diese zu schützen. Darin sind wir uns alle einig. Natürlich würde im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung jeder versuchen, die IT-Strukturen anzugreifen und zu sprengen. Aber bei Hackerangriffen, Viren und Würmern von Cyber-War zu sprechen, ist wohl doch etwas überzogen und impliziert wieder Kategorien des Kriegsrechts. Ich sage es einmal ganz überspitzt: Ein Feindstrafrecht für Hacker darf es aus unserer Sicht nicht geben. ({0}) Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bekommt neue Aufgaben. Das hat mit Sicherheit leider nur begrenzt etwas zu tun. Das BSI bekommt Aufgaben, die weit darüber hinausgehen, nämlich durch die Zertifizierung von Verschlüsselungstechnologien oder Ähnlichem die Sicherheit in der IT des Bundes zu verbessern. Die neuen Aufgaben zur automatisierten Erhebung und Auswertung von Protokolldaten an den Schnittstellen der Behörden bedeuten im Klartext: Wer die Seiten des Bundesverwaltungsamts, des BKA, des BMI oder anderer Behörden des Bundes im Internet aufruft, dessen Eingaben, Klicks und Verweildauer auf den Seiten werden gespeichert und ausgewertet, und zwar ohne Anonymisierung und ohne Pseudonymisierung, nämlich im Klartext. Damit kann das BSI die gesamte Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger mit Behörden abhören und auswerten, den Besuch von Internetseiten, E-Mails, Internettelefonie und Chats. Wir finden, das geht zu weit. ({1}) Damit aber leider nicht genug. Diese Daten dürfen dann auch noch an die Sicherheitsbehörden weitergegeben werden, an die Polizei, an die Staatsanwaltschaften und ebenso an die Nachrichtendienste. Das BSI wird zur allgemeinen Polizei- und Schnüffelbehörde; denn es soll nicht nur Hacker und Trojaner verfolgen, sondern allem auf die Spur kommen, was vielleicht illegal im Netz ist. Weil bei so viel Schnüffelei auch einmal etwas Privates dabei sein könnte, sollen „Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung“ im Zweifel entweder gelöscht werden oder - das, Herr Staatssekretär, ist wirklich einmalig - „unverzüglich dem Bundesministerium des Innern“ vorgelegt werden. ({2}) Zu Risiken und Nebenwirkungen der Telekommunikation für die Menschen fragen Sie bitte Ihr freundliches BMI! Ich glaube, so hat sich das Bundesverfassungsgericht das wirklich nicht vorgestellt. ({3}) Da steht nichts von einer unabhängigen richterlichen Kontrolle. Da steht nichts davon, dass Eingriffe in den Kernbereich erst einmal zu unterbleiben haben, so wie es uns das Bundesverfassungsgericht auf den Weg gegeben hat. Erst einmal wird automatisch aufgezeichnet. Wie aus der Antwort auf unsere Kleine Anfrage spricht daraus: Die Bundesregierung hält den Kernbereichsschutz offensichtlich nur für ein Beweisverwertungsverbot. Auch da haben Sie das Bundesverfassungsgericht falsch verstanden. Immerhin hat das der Bundesrat in seiner bemerkenswerten Stellungnahme deutlich hervorgehoben. Bei der Gegenäußerung der Bundesregierung muss aus meiner Sicht hingegen von einem vorgezogenen Aprilscherz ausgegangen werden. Da steht: Die Daten werden auch nicht anlasslos erhoben, sondern nur, um Gefahren für die Informationstechnik des Bundes abzuwehren. Ich versuche einmal, mir das im nicht virtuellen Raum vorzustellen: Die Polizei erhebt Daten von allen Autofahrern an allen Autobahnauffahrten - also Kennzeichen, Geschwindigkeit, Zahl der Insassen -, weil ein Verkehrssünder dort fahren könnte. Das entspräche dem, was Sie hier vorhaben. Ich finde, das geht nun wirklich viel zu weit. ({4}) Mehr Sicherheit in der IT setzt übrigens Transparenz voraus. Gerade hier wird aber ein Riegel vorgeschoben. Findet das BSI Schadsoftware oder spürt es Sicherheitslücken auf, braucht es das der Öffentlichkeit nicht mitzuteilen, obwohl das eigentlich Sinn der Sache wäre. Mit diesem Gesetzentwurf soll auch das Telemediengesetz geändert werden. Der Dienstanbieter soll nach dem Willen der Bundesregierung künftig nicht nur Verbindungsdaten, sondern auch Nutzungsdaten erheben. Das heißt, er soll feststellen, wer wie lange auf welcher Seite im Internet gewesen ist. Auch das ist eine neue Qualität Ihres Handelns und öffnet dem „gläsernen Surfer“ wirklich Tür und Tor. Der Bundesrat hat zum Glück in seiner Stellungnahme, dem Vorschlag Hessens und Baden-Württembergs folgend, eine Einschränkung vorgeschlagen: Nur bei konkretem Verdacht soll die Möglichkeit zur Aufzeichnung erlaubt sein. Wir hoffen, dass sich die Bundesregierung dem anschließt. Ich glaube, ich bin die letzte Rednerin des heutigen Tages. Ich darf mich an dieser Stelle bei Ihnen bedanken, dass Sie so viel Geduld aufgebracht haben. Ich bedanke mich aber auch bei denen, die hinter den Kulissen fünf Minuten länger arbeiten müssen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Die übrigen Reden werden zu Pro- tokoll genommen. Es handelt sich um die Reden von Clemens Binninger, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD, Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/ Die Grünen1). Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/11967 und 16/12225 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Das war eben zwar die letzte Rede, aber wir haben noch eine ganze Reihe von Tagesordnungspunkten abzuarbeiten. Ich bitte, mich dabei noch ein wenig zu begleiten; denn allein kann ich das nicht machen. ({0}) - Im Übrigen brauche ich Sie auch noch zur Abstim- mung. 1) Anlage 7 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Monika Knoche, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Öffentlich finanzierte Pharmainnovationen zur wirksamen Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten in den Entwicklungsländern einsetzen - Drucksache 16/12291 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wir nehmen die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Michael Kretschmer, CDU/CSU, René Röspel, SPD, Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Dr. Karl Addicks, FDP, Dr. Petra Sitte, Die Linke, und Ute Koczy, Bündnis 90/ Die Grünen.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gesundheit ist im wahrsten Sinn des Wortes ein kostbares und kostspieliges Gut. Die Bundesregierung investiert in den pharmazeutischen und biomedizinischen Bereich in beträchtlichem Umfang. Allein für die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eingeleitete „Pharma-Initiative“, die die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten zum Ziel hat, werden bis zum Jahr 2011 über 800 Millionen Euro investiert. Und gerade für den Bereich der vernachlässigten Krankheiten gibt es seit Jahren viele internationale Initiativen. So stellen wir uns einmal mehr die Frage, wieso wir gerade im Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten nur langsam vorankommen. Dabei geht es immerhin um das Leiden und Sterben von vielen Millionen Menschen jährlich. Nicht nur an den drei großen todbringenden Krankheiten - Tuberkulose, Malaria und Aids - sterben jährlich 6 Millionen Menschen. Auch an scheinbar banalen Durchfall- und Atemwegserkrankungen und an armutsbedingten Tropenkrankheiten, wie etwa der Schlafkrankheit oder Lepra, sterben Millionen Erwachsene und Kinder. Laut Bericht der WHO sind mehr als eine Milliarde Menschen mit einer oder mehreren vernachlässigten Krankheiten infiziert. Der Grund: Neben unsauberem Trinkwasser und mangelnden sanitären Anlagen fehlt es in vielen Teilen der Welt immer noch an einer hinreichenden gesundheitlichen Versorgung. Immer noch ist ein Drittel der Weltbevölkerung von einer essenziellen medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Eine der Hauptursachen ist der enorme finanzielle und zeitliche Aufwand für die Entwicklung von Medikamenten wie Impfstoffen. Das Risiko, dass sie es nicht bis zur Produktionsreife schaffen, ist dabei so hoch, dass viele Pharmaunternehmen die Finger davon lassen. Der Markt für Impfstoffe gegen Armutskrankheiten ist hiervon besonders betroffen. Pharmafirmen sehen hier keine ökonomischen Anreize, weshalb sie die Forschung in diesem Bereich kaum vorantreiben. Um sich eine Vorstellung davon zu machen, über welche Beträge wir bei der Entwicklung eines Impfstoffs sprechen: Die Impfstoffentwicklung lässt sich grob in drei Stufen aufteilen: In der ersten Stufe wird Grundlagenforschung betrieben. Sie kostet bis zur präklinischen Forschung mehrere Millionen Euro. In der zweiten Stufe erfolgt die Prüfung der Toxizität und die Weiterentwicklung bis zum Eintritt in die klinische Phase. Diese verschlingt wiederum einige Millionen Euro. Dabei muss man wissen, dass bis hier völlig unklar ist, ob es sich überhaupt um einen erfolgversprechenden Impfstoffkandidaten handelt oder nicht. Die dritte Stufe umfasst die klinischen Studien. Diese teilen sich in drei Phasen auf. In der ersten Phase erfolgt für einige Millionen Euro die Sicherheitsprüfung. In der zweiten Phase erfolgt für um die zehn Millionen Euro die Prüfung von Sicherheit und Effektivität. Und in der dritten Phase erfolgt die Prüfung der Schutzwirkung, welche über viele Jahre hinweg durchgeführt wird und bei der die Kosten schnell bis an den dreistelligen Millionenbereich gelangen. Die dritte Stufe ist also die kosten- und zeitintensivste der ganzen Entwicklung. Das sind alles grobe Schätzwerte, die von Studie zu Studie divergieren. Aber ich glaube, es ist deutlich geworden, weshalb wir angesichts der Kosten und des Risikos Probleme haben, pharmazeutische Unternehmen zu bewegen, Grundlagenforschung für die Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten zu betreiben. Pharmazeutische Unternehmen sind zunehmend nur noch bereit, an bereits vorliegenden, erfolgversprechenden Impfstoffkandidaten mit hinreichenden Informationen aus der präklinischen und frühen klinischen Entwicklung weiterzuforschen. Das heißt, sie kaufen die Impfstoffkandidaten zu Beginn der dritten, kostspieligen und zeitaufwendigen Stufe der Impfstoffentwicklung und forschen weiter. Die Gefahr, dass der Impfstoffkandidat ungeeignet ist, ist zu diesem Zeitpunkt geringer. Trotzdem schafft es nur ein kleiner Teil bis zur Zulassung. Wie begegnen wir diesem Problem? Auch wenn wir den Druck auf die Pharmaunternehmen stetig erhöhen, können wir sie doch nicht zur Forschung zwingen. Die Bundesregierung fährt aus diesem Grund seit einigen Jahren einen anderen zielführenden Weg. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat sich bereits mehrfach an der Entwicklung erfolgversprechender Impfstoffkandidaten beteiligt, indem es die von Agenturen wie der Vakzine Projekt Management GmbH ({0}) betriebene Impfstoffentwicklung von der Grundlagenforschung bis hin zur frühen klinischen Forschung fördert, also bis zu der Phase, an der Pharmaunternehmen zur Übernahme und Fortführung der Forschung bereit sind. Durch diese Förderung erhalten Impfstoffkandidaten mit einem hohen Forschungsrisiko und einer wichtigen gesundheitspolitischen Bedeutung überhaupt erst die Chance auf Weiterentwicklung in der sehr aufwendigen und kostspieligen Phase der klinischen Entwicklung. Dabei fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung nicht nur die Grundlagenforschung und Weiterentwicklung von Impfstoffkandidaten, die es ohne diese Initiative nicht geben würde. Es bemüht sich auch aktiv um die Verwertung und weitere Entwicklung der Forschungsergebnisse und darum, günstige Lizenzkonditionen für Verkäufe von Medikamenten in Entwicklungsländer zu vereinbaren. Der Verhandlungsspielraum ist durch die Schwierigkeit, Interessenten für die Weiterentwicklung von Impfstoffen für vernachlässigte Krankheiten zu finden, eingeschränkt. Aber erst und nur durch diesen Weg kommt der Impfstoff überhaupt seiner Anwendung näher. Und die durch den Verkauf der Lizenz gewonnenen Einnahmen werden der Erforschung neuer Impfstoffkandidaten zugeführt. Dabei arbeitet die Bundesregierung weiter an Strategien, wie nicht nur die Forschung an Impfstoffen für vernachlässigte Krankheiten, sondern auch die Vermarktung zu erschwinglichen Preisen gesichert werden kann. Der von uns als Regierungsfraktionen erarbeitete Antrag „Deutschlands globale Verantwortung für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten - Innovation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern“ fordert genau solche Strategien. Wir haben es auch trotz Haushaltskonsolidierungsplan geschafft - sowohl über den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung als auch über den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung -, Mittel für zusätzliche Forschungsvorhaben zu vernachlässigten Krankheiten in den Haushalt 2009 einzubringen. Der Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten ist lang und schwer. Aber wir haben den Kampf entschlossen angetreten.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Situation ist erschreckend. Laut WHO starben allein im Jahr 2006 1,7 Millionen Menschen an Tuberkulose. Neben dieser „weißen Pest“ raffen aber auch HIV/ Aids und Malaria Millionen von Menschen jährlich hin. Das menschliche Leid, welches hinter diesen Zahlen steht, können wir uns gar nicht ausmalen. Hinzu kommen weniger bekannte Tropenkrankheiten wie Elefantiasis oder Flussblindheit, die zwar nicht tödlich sind, aber trotzdem großes Leid verursachen. Alle diese Krankheiten wüten wiederum vorwiegend in ärmeren Ländern in Afrika und Asien. Vor dem Hintergrund dieser erschreckenden Zahlen will ich ausdrücklich appellieren, sich von der Bezeichnung „vernachlässigte“ Krankheiten nicht irreführen zu lassen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, es handele sich etwa um vernachlässigbare Krankheiten, nur weil sie in unseren Breiten oder unserer Gesellschaft keine Rolle spielen. Dieser Eindruck entsteht nur dort, wo der Blick nicht über den Tellerrand hinausgeht, man sich in der mitunter trügerischen Sicherheit wiegt, man selbst könne davon nicht betroffen sein, oder wo es an Solidarität mit betroffenen Menschen in anderen Ländern mangelt. Meine Erfahrung ist, dass auf Nachfrage in Veranstaltungen allenfalls noch die sogenannte Kriegsgeneration konkrete Erfahrungen oder Erinnerungen beispielsweise an Tuberkulose hat. Dennoch zeigen die Zahlen, welche Bedeutung diese Krankheit nach wie vor hat und auch wieder bekommen wird, wenn wir nicht mit gemeinsamer Kraft gegensteuern. Aber auch Europa ist schon längst nicht mehr verschont. In Osteuropa ist Tuberkulose verbreitet. Eine Herd für Neuinfektionen sind offenbar die russischen Gefängnisse. So werden laut einer Studie jedes Jahr 30 000 Gefangene mit Tuberkulose aus russischen Gefängnissen entlassen. Aber auch in Deutschland tritt Tuberkulose auf. 2006 starben daran circa 600 Menschen bei zunehmend auftretenden Resistenzen des Erregers gegenüber Medikamenten. Die sogenannten vernachlässigten Krankheiten sind für Deutschland somit eine moralische und entwicklungspolitische, aber auch gesundheits- und forschungspolitische Herausforderung. Eine Lösung liegt neben präventiven Maßnahmen, wie zum Beispiel besserer Hygiene und ein gutes Gesundheitssystem, in der Pharmaforschung und einem bedarfsgerechten Zugang zu Medikamenten. Das beinhaltet Maßnahmen hier in Deutschland sowie Anstrengungen bzw. Unterstützungen in den besonders stark betroffenen Ländern. Bereits die rot-grüne Bundesregierung hat sich dieser Verantwortung gestellt, und die Große Koalition setzt dies fort. Allein für Tuberkulose hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Zeitraum 2004 bis 2010 für Forschungsvorhaben 6 Millionen Euro bereitgestellt. Hinzu kommen noch einmal fast 28 Millionen Euro für übergreifende Programme, in denen auch an Tuberkulose geforscht wird. Aber nicht nur in der Politik wird das Problem erkannt. Auch die deutsche Forschung verstärkt ihre Anstrengung in diesem Bereich. So hat die Deutsche Forschungsgesellschaft ein Afrika-Programm mit dem Schwerpunkt „Tropische Infektionskrankheiten“ ausgeschrieben, das bereits jetzt überzeichnet ist und eine Vielzahl erfolgversprechender Projekte erwarten lässt. Das Parlament hat sich damit aber nicht zufriedengegeben. In den letzten Haushaltsverhandlungen haben die Koalitionsfraktionen deshalb darauf hingewirkt, dass die Gelder zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten für 2009 noch einmal um 3 Millionen Euro erhöht worden sind. Forschungs-, Entwicklungs- und Haushaltspolitiker der Koalition arbeiten auch in dieser Frage eng zusammen. Das Thema ist bei uns als Querschnittsthema, wie im Antrag gefordert, bereits erkannt und angegangen worden. Das dokumentiert auch der vor fast einem Jahr von meinem Fraktionskollegen Dr. Wolfgang Wodarg dankenswerterweise initiierte und in den Bundestag eingebrachte Antrag „Deutschlands globale Verantwortung für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten - Innovation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern“, Drucksache 16/8884, der nicht nur auf die Problematik hinweist, sondern auch eine Reihe von Forderungen abdeckt, die jetzt auch der vorliegende Antrag der Fraktion der Linken aufgreift. Ich halte nicht nur deswegen viele Punkte aus dem Antrag der Linksfraktion für vernünftig und unterstützenswert. Allerdings können wir ihn in anderen Punkten nicht unterstützen, weil er nicht ausgegoren genug ist und eher kontraproduktiv wirken würde. Zu Protokoll gegebene Reden Ein Beispiel: Die Forderung „10 Prozent der für die Pharmainitiative verausgabten Mittel“ - das wären über 80 Millionen Euro - zukünftig direkt für die Forschung zur Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten auszugeben, geht an der Realität vorbei und muss als Aktionismus bezeichnet werden. Wir haben auf dem parlamentarischen Abend des „Stop-TB-Forums“ im Oktober 2008 erfahren können, dass die deutsche Forschung in diesem Bereich gut aufgestellt und die Kapazitäten ausgenutzt sind. Nun eine „Geldlawine“, die zudem noch aus anderen Bereichen der Gesundheitsforschung abgezogen werden soll, anzubieten, ohne dass das Geld sinnvoll genutzt werden könnte, ist schlicht der falsche Weg. Sinnvoller ist der von uns beschrittene Weg des kalkulierbaren, kontinuierlichen Aufwuchses in diesem Forschungsbereich, auf den sich Forscher und Forscherinnen einstellen können. Es gilt hier die Kapazitäten nachhaltig auszubauen. Verständnis habe ich für die Kritik der Antragsteller am internationalen Patentsystem, die aber auch schon im Koalitionsantrag des letzten Jahres zum Ausdruck kommt. Nachvollziehbar finde ich auf den ersten Blick auch die kritische Befassung mit der vom BMBF geförderten Vakzine Projekt Management GmbH, VPM, bei der man sich gerne idealerweise vorstellen kann, dass die entwickelten Produkte und Impfstoffe am besten kostenfrei an Betroffene in den Entwicklungsländern abgegeben werden würden. Allerdings können wir realistischerweise auch nicht ignorieren, dass wir uns in einem Spannungsfeld bewegen, das so einfach nicht aufzulösen ist. VPM wird durch das BMBF so gefördert, dass Vakzinekandidaten bis zur Phase eins einer klinischen Prüfung entwickelt werden können. Ohne diese staatliche Förderung wäre der Impfstoff vermutlich in einem frühen Entwicklungsstadium verblieben und hätte aller Voraussicht nach keine Chance auf Weiterentwicklung gehabt, weil er für kommerzielle Partner - leider - noch nicht interessant bzw. ertragreich genug gewesen wäre. Eine allein staatliche Finanzierung der Weiterentwicklung von Impfstoffkandidaten bis zur Marktzulassung würde sehr wahrscheinlich sowohl die finanziellen wie auch rechtlichen Möglichkeiten des Staates sprengen. Eine finanzielle Unabhängigkeit der Weiterentwicklung nach der Anschubfinanzierung durch den Staat wird nur erreicht, wenn ein privater bzw. kommerzieller Investor entweder mit humanistischem Anliegen auftritt oder seine zu erwartenden Investitionen durch ausreichende Vermarktbarkeit refinanzieren kann. Das ist im Bereich vernachlässigter Krankheiten, für die es entweder zu wenig Betroffene oder zu wenig kaufkräftige Betroffene gibt, leider nicht zu erwarten, wenn die Vermarktungsmöglichkeiten auch noch eingeschränkt werden. Davon unabhängig bleiben wir bei unserer Aufforderung an das BMBF, im Rahmen seiner Möglichkeiten seine Verhandlungsspielräume zu nutzen, um einen begünstigten Zugang für Entwicklungsländer zu ermöglichen. Der Ausbau von Forschung und Gesundheitssystemen in den betroffenen Gebieten muss verstärkt werden. Dies passiert bereits durch nationale, auch europäische Finanzierung. Doch in Ländern, in denen nicht einmal kontinuierliche Wasser- und Stromversorgung gewährleistet sind, wird der Aufbau, geschweige denn der Ausbau von Forschungskapazitäten nur sehr langsam vorankommen. Es braucht somit auch Zeit. Mit dem Thema öffentliche klinische Studien in armen Ländern werden wir uns noch einmal intensiver aufgrund der EU-Mitteilung „Partnerschaft Europas und der Entwicklungsländer im Bereich klinischer Studien“ im Ausschuss beschäftigen. Ich möchte an dieser Stelle aber schon einmal sagen, dass man an dieses Thema sehr differenziert herangehen sollte. Der Kapazitätsausbau von Forschungsinfrastruktur und Wissen ist richtig. Aber eine Verlagerung von klinischen Studien in Entwicklungsländer aus rein finanziellen Gründen darf es nicht geben. Denn dies wäre aus verschiedenen Gründen problematisch. So ist die Vergleichbarkeit nicht immer gegeben. Aber besonders die Einhaltung ethischer Grundsätze bei der Durchführung klinischer Studien ist in Entwicklungsländern viel schwerer zu überprüfen. Dabei darf der Schutz von Menschen im Rahmen von klinischen Studien nicht vom Durchführungsort der Untersuchung abhängig sein. Wie Sie sicherlich wissen, habe ich mich bereits in der Vergangenheit sehr kritisch mit dem TRIPS-Abkommen auseinandergesetzt. Dabei musste ich aber auch die Grenzen der Handlungsmöglichkeiten eines deutschen Parlamentariers erkennen. Einige Kritikpunkte teile ich deshalb durchaus. Ich glaube aber nicht, dass uns die Herausnahme des Abkommens aus dem WTO-System wirklich weiterbringt. Ich plädiere vielmehr für eine Reformierung bzw. Weiterentwicklung von TRIPS. Insgesamt scheinen mir die Vorschläge des Koalitionsantrages aus dem letzten Jahr zielführender zu sein.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen sie mich zunächst ein Lob aussprechen: Es ist erfreulich, dass die Linkspartei jetzt auch auf das Thema „vernachlässigte Krankheiten“ aufmerksam geworden ist - fast ein Jahr, nachdem die Große Koalition einen Antrag zum Thema eingebracht hat. Es zeugt allerdings von wenig Kreativität und Engagement, dass der Antrag fast eins zu eins abgeschrieben wurde. Grundsätzlich haben Sie aber viele Punkte richtig aus unserem Antrag übernommen: Während wir hier in Deutschland und Europa über medizinische Innovationen diskutieren und die Lebenserwartung immer weiter steigt, sterben in vielen Entwicklungsländern immer noch Millionen Menschen an Krankheiten, die eigentlich behandelbar wären. Insgesamt sind es jährlich knapp 13 Millionen Menschen. Ich spreche dabei nicht nur von den drei großen todbringenden Krankheiten Tuberkulose, Malaria und HIV/Aids. Vor allem an scheinbar banalen Durchfall- und Atemwegserkrankungen sterben Tausende Kinder und Erwachsene jedes Jahr. In vielen Entwicklungsländern liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bis heute um bis zu 30 Jahre unter der in den Industriestaaten. Hinzu kommt, dass viele der vernachlässigten Krankheiten zwar nicht tödlich sind, aber die Lebensqualität und die Produktivität der betroffenen Menschen erheblich mindern. Zu Protokoll gegebene Reden Wenn wir Entwicklungsländern aus der Armut helfen wollen, wenn wir in Zukunft starke Partner wollen, mit denen wir in absehbarer Zeit auf gleicher Augenhöhe auch wirtschaftlich zusammenarbeiten können, dann müssen wir in die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten investieren. Zwei grundlegende Punkte stehen im Mittelpunkt der Problematik: zum einen die fehlenden Innovationen und zum anderen die mangelnde Versorgung der Menschen in Entwicklungsländern mit vorhandenen Medikamenten. Zunächst zu den Problemen bei den Innovationen. So, wie wir es in den vergangenen Monaten so häufig auf den Finanzmärkten sehen konnten, ist es auch bei der medizinischen Forschung: Es wird nicht gefragt, was den Menschen dient, sondern nur, wo es möglichst schnell die höchste Rendite gibt, am besten schon morgen. Langfristiges Denken ist bei den Pharmaunternehmen kaum zu erwarten. Dass eine Stärkung armer Länder auch in Zukunft Abnehmer bringt, wird kaum in Betracht gezogen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Nur 1,3 Prozent aller seit 1975 auf den Markt gebrachten Medikamente wurden für die Bekämpfung von tropischen Krankheiten und Tuberkulose entwickelt. Dabei wurde weltweit noch nie so viel in Forschung und Entwicklung von neuen Medikamenten investiert wie in den letzten zwei Jahrzehnten. Das Interesse gilt jedoch eher Haarausfall, Fettleibigkeit, Impotenz oder anderen „Krankheiten“ reicher Länder. Hier lässt sich Profit machen, und hier hat die Pharmaindustrie ein Interesse, zu investieren. Denguefieber, Schlafkrankheit, oder Wurmerkrankungen wie die Bilharziose werden kaum beachtet. Eine Lösung des Problems - auch das wurde bereits im Antrag der Koalition vergangenes Jahr beschlossen - ist die Stärkung öffentlicher Investitionen im Bereich vernachlässigter Krankheiten. Zum Beispiel auf der EUEbene ist hier eine stärkere Förderung öffentlich finanzierter medizinischer Forschung vonnöten. Am besten und schnellsten entwickelt sich medizinisches Wissen in offenen internationalen Netzwerken, denen die nötigen Mittel bereitgestellt werden. Deswegen freue ich mich, dass wir nächste Woche im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das EDTCP-Programm - das europäische Programm „Partnerschaft Europas und der Entwicklungsländer im Bereich klinischer Studien“ - auf der Tagesordnung haben. Dieses wichtige Netzwerk fördert die eigenen Forschungsaktivitäten der Entwicklungsländer und bekämpft zielgerichtet die Krankheiten HIV, Malaria und Tuberkulose. Das Programm ist jedoch zeitlich und inhaltlich begrenzt. Deswegen werde ich mit meinen Kollegen im Ausschuss die EU auffordern, dieses Programm zu verlängern und es auf andere vernachlässigte Krankheiten auszuweiten. Die öffentliche Forschungsförderung muss massiv zunehmen und aktiv auch von Deutschland unterstützt werden. Ein guter Anfang ist auf jeden Fall die Initiative der WHO, die Verantwortung für die Versorgung mit Medikamenten verstärkt in Bereichen zu übernehmen, wo der Markt eine Versorgung nicht leistet. Im Mai 2008 wurde durch die Weltgesundheitsversammlung beschlossen, die Erforschung von Arzneimitteln für vernachlässigte Krankheiten zu fördern. Dieser Prozess in der WHO wurde im vergangenen Jahr durch den Antrag der Koalition auf nationaler Ebene unterstützt und begleitet. Der zweite relevante Punkt in der Problematik ist die Versorgung der Kranken mit bereits entwickelten Medikamenten. Etwa ein Drittel der Menschheit ist bis heute von essenziellen Medikamenten ausgeschlossen. In einigen Teilen Afrikas, Lateinamerikas oder Indiens liegt der Anteil der Bevölkerung ohne Zugang zu einer Versorgung mit den wichtigsten Medikamenten bei mehr als 50 Prozent. Zuallererst muss hier intensiv mit den Entwicklungsländern zusammengearbeitet werden. Die Versorgung der kranken Menschen darf nicht an mangelnder Kapazität oder an Korruption scheitern; dann wäre jegliche Anstrengung, Medikamente zu entwickeln, ad absurdum geführt. Konkret ist es wichtig, Entwicklungsländer bei der Anwendung der TRIPS-Flexibilitäten zu unterstützen. TRIPS muss so ausgelegt werden, dass Länder nicht davon abgehalten werden, Medikamente für die öffentliche Gesundheitsversorgung herzustellen und einzusetzen. Der Schutz des geistigen Eigentums, ein Punkt, den die Bundeskanzlerin immer wieder betont hat, ist wichtig. Im Bereich der medizinischen Forschung ist der Wettbewerb um Patente jedoch tödlich für alle, die aus finanziellen Gründen nicht mithalten können. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass Arzneimittelentwicklung und die Forschungsanstrengungen der Pharmabranche nicht nur von Absatzerwägungen und Marktchancen abhängen, sondern vor allem vom gesundheitlichen Bedarf gerade der bedürftigsten Teile der Weltbevölkerung bestimmt werden. In vielen Punkten kann ich den Forderungen aus dem Antrag der Linken nur zustimmen. Vieles wurde gut aus unserem Antrag aus dem letzten Jahr übernommen. Allerdings haben Sie elementar wichtige Dinge übersehen: Die Prävention muss nach wie vor ein Schwerpunkt der weiteren Förderung sein; und das taucht leider in Ihrem Antrag überhaupt nicht auf. Für jeden Aids-Patienten, der eine antiretrovirale Therapie erhält, werden mindestens doppelt so viele neue HIV-Infektionen gezählt. Deshalb ist es richtig, öffentlich geförderte Forschungsvorhaben vordringlich auf die Entwicklung von präventiven Maßnahmen und Impfstoffen zu konzentrieren. Ich möchte an dieser Stelle im Hinblick auf die Äußerungen des Papstes betonen, wie wichtig Prävention ist. Die Behauptung des Papstes, die Benutzung von Kondomen würde das HIV/Aids-Problem in Afrika nur verschlimmern, ist nicht nur aus entwicklungspolitischer, sondern auch aus menschlicher Sicht völlig inakzeptabel. In vielen Ländern ist die Lage dramatisch. Präventionsmaßnahmen, darunter die Verteilung von Kondomen, tragen dazu bei, die Menschen vor der Übertragung von HIV zu schützen. Durch die Äußerung des Papstes wird langjährige und aufwendige Aufklärungs- und Präventionsarbeit in unverantwortlicher Weise konterkariert. Aber zurück zum Thema Forschung. Die Mittel für die Förderung der Forschung im Bereich vernachlässigter Krankheiten sind im Haushaltsjahr 2009 angewachsen; auch hat Deutschland im Jahr 2008 fast 200 Millionen Euro in den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Zu Protokoll gegebene Reden Tuberkulose und Malaria eingezahlt. Das ist ein Anfang, allerdings noch immer viel zu wenig. Wir werden uns weiter für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten einsetzen und haben dafür Anfang letzten Jahres mit unserem Antrag eine gute Grundlage geschaffen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Linkspartei unsere Forderungen mitträgt und Teile unseres Antrags gleich übernommen hat. Über Weiterentwicklungen, die mehr sind als ein lasches Wiederkäuen unserer Anträge, würde ich mich auch in Zukunft freuen. Für die weitere Arbeit im konkreten Fall gilt jedoch: Wir brauchen keine Kopien der Linken, sondern bleiben lieber bei unserem Original.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die internationale Gemeinschaft hat sich mit den acht Millennium Development Goals, MDGs, zu verstärkten Anstrengungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bis zum Jahr 2015 verpflichtet. Die Verbesserung der Gesundheit in Entwicklungsländern haben drei der acht MDGs zum Ziel: die Verringerung der Kindersterblichkeit, die Verbesserung der Gesundheit der Mütter, die Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und von anderen übertragbaren Krankheiten. Leider sind die Zwischenmeldungen, die uns in Bezug auf die Erreichung der Gesundheits-MDGs erreichen, nicht in allen Teilen der Welt positiv. Wir werden in Subsahara-Afrika vermutlich keines der acht MDGs erreichen. Neben einigen Fortschritten treffen uns auch immer wieder Rückschritte. Uns bleibt noch viel zu tun! Die Zahlen verdeutlichen die enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen: In Subsahara-Afrika liegt die Kindersterblichkeit bei 160 Todesfällen pro 1 000 Lebendgeburten. Jedes sechste Kind stirbt vor dem Erreichen des fünften Lebensjahrs, viele an tropischen Krankheiten. Allein durch HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose und andere tropische Krankheiten gehen jedes Jahr 140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit verloren. Hinzu kommen Sterbefälle durch vermeidbare und leicht behandelbare Krankheiten wie Durchfallerkrankungen, hervorgerufen durch schlechte oder nichtvorhandene sanitäre Einrichtungen. Eine bisher wenig beachtete Todesursache stellen armutsbedingte Tropenkrankheiten wie Wurmerkrankungen, Flussblindheit, Denguefieber oder auch die Schlafkrankheit dar. Wenn auch nicht immer lebensbedrohlich, sind diese Krankheiten mit viel Leid, Behinderungen und Beeinträchtigungen im Alltag der Betroffenen verbunden. Die Zahl der Menschen, die unter tropischen Krankheiten leidet, ist erschreckend hoch und vielen nicht bewusst: Eine Milliarde Menschen leidet unter tropischen Krankheiten. Für die meisten gibt es bisher noch keine oder nur unzureichende Therapiemöglichkeiten. Besonders die Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten muss mit verstärkten Anstrengungen angegangen werden. Wir haben uns bereits im letzten Jahr in einer Debatte mit diesem Thema befasst. Leider sind die Ergebnisse der Bundesregierung in diesem Bereich mehr als ernüchternd. Lediglich eine Etaterhöhung im Bundesministerium für Bildung und Forschung um 3 Millionen Euro für den Bereich der vernachlässigten Krankheiten ist für das Jahr 2009 zu verzeichnen. Anstrengungen sehen für mich anders aus. Angesichts des nicht ausreichenden Willens der Bundesregierung müssen wir immer wieder diese Debatte in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken. Die gewaltigen Herausforderungen im Bereich der Wirkstoffforschung müssen die Privatwirtschaft und die Politik gemeinsam angehen und nach neuen Möglichkeiten suchen, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Nur wenn alle Partner - Politik, Wirtschaft und Wissenschaft - international gemeinsam an dieser Herausforderung arbeiten, wird nachhaltig eine Verbesserung der Lage zu erreichen sein. Neue Modelle der Forschungsförderung sowie die Förderung von Public Private Partnerships, PPP, müssen dabei stärker in den Fokus der Debatte rücken. Bisher ist die Bundesregierung eher zurückhaltend in ihrem Engagement in diesem Bereich, und das, obwohl es bisher sehr erfolgreiche PPPs gibt. Allein im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird das Instrument der PPP zur Erforschung und Entwicklung armutsbedingter, tropischer und vernachlässigter Krankheiten in einem Zeitraum von zwölf Jahren mit circa 7 Millionen Euro gefördert. Hier, meine ich, sollte man sich in der Bundesregierung Gedanken machen, ob da nicht mehr Engagement nötig und auch möglich ist. Aber auch eine kohärente Strategie der Bundesregierung bei der Bekämpfung von tropischen Armutskrankheiten ist dringend vonnöten. Aus der Wissenschaft und Wirtschaft wird immer wieder auf die ungeklärten Zuständigkeiten bei den beteiligten Ministerien - BMZ, BMG und BMBF - verwiesen. Darüber hinaus muss ein Konzept von der Bundesregierung vorgelegt werden, das gemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft und Politik erarbeitet wird. Denn Wirtschafts- und Wissenschaftsförderung bringt auch für die Entwicklungszusammenarbeit Vorteile. Diese Win-win-Situation für alle Seiten muss unser Ziel sein. Wir fordern ganz klar die Bundesregierung auf, in diesem Bereich ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit den Worten „Wir wollen wieder zur Apotheke der Welt werden“ verkündete Staatssekretär Meyer-Krahmer im vergangenen Jahr die Sieger des 100 Millionen Euro schweren Bio-Pharma-Wettbewerbs des Forschungsministeriums. Die drei hochdotierten öffentlich-privaten Projekte befassen sich mit der effizienten Umsetzung von Ergebnissen der Grundlagenforschung in den Pharmamarkt - das Stichwort heißt Wertschöpfung. Apotheke der Welt sein zu wollen, heißt das aber nicht etwas anderes, als „dem Pharmastandort neue Impulse zu geben“, wie es der Staatssekretär ebenfalls in dem Zusammenhang erklärte? Apotheken nehmen Apothekerpreise, so hat es zumindest der Volksmund festgestellt, Preise also, die weit über denen liegen, die Menschen in ärmeren Regionen bezahlen können. Trotzdem rentieren sich die Preise, denn in den wohlhabenden Ländern sind sie bezahlbar. Und damit die Verwertungskette in diesen Gegenden nicht ins Stocken gerät, setzen die Pharmafirmen ihre Patente und Verwertungsrechte anderswo auch mithilfe von Gerichten durch. Aktuell verklagt der deutsche Bayer-Konzern die indische Regierung, weil diese die Lizenz zur Herstellung Zu Protokoll gegebene Reden eines Krebsmedikamentes an einen einheimischen Hersteller erteilt hatte, obwohl noch Patentschutz besteht. Nach der Indienreise des Forschungsausschusses weiß ich, was dort trotz des wirtschaftlichen Wachstums für ein unglaubliches Elend herrscht. Eine Mehrheit der Bevölkerung kämpft um das tägliche Überleben. Es ist ein Skandal, dass eine Firma wie Bayer ihre monopolistischen Rechte auf gerichtlichem Wege durchzusetzen versucht, obwohl Indien der wichtigste Generikalieferant nicht nur für die eigene Bevölkerung, sondern für viele arme Länder Südostasiens ist. Wenn die Aufgabe der „Apotheke der Welt“ darin besteht, Medikamente nur den wohlhabenden Regionen zur Verfügung zu stellen, um die schon jetzt exorbitanten Gewinne noch zu steigern, dann müsste ehrlicherweise von Deutschland als „Apotheke der Reichen dieser Erde“ gesprochen werden. Diese Rolle spiegelt sich auch in der Forschung wider: die Organisationen Ärzte ohne Grenzen und Oxfam haben im vergangenen Jahr das Engagement Deutschlands bei der Suche nach neuen Wirkstoffen und Diagnostika für die sogenannten Armutskrankheiten wie etwa Tuberkulose, Malaria und Cholera untersucht. Beide Studien kommen zu einem niederschmetternden Ergebnis: Deutschland tut viel zu wenig. Lediglich 0,12 Prozent des Forschungshaushaltes wurden 2007 im Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten aufgewendet. Auch das Beispiel Tuberkulose zeigt den mangelnden Einsatz Deutschlands: Inklusive der eingeworbenen EU-Mittel wurden 9,5 Millionen Euro im Kampf gegen TBC ausgegeben, obwohl sich die Gefahr durch neue resistente Erreger stark vergrößert hat und mittlerweile auch in Europa wieder eine große Rolle spielt. Selbst die private Gates-Stiftung hat mehr als das Sechsfache ausgegeben, von den 140 Millionen Euro des US-amerikanischen Staates ganz zu schweigen. Wir haben es sehr begrüßt, dass die Koalition im laufenden Haushalt drei Millionen Euro zusätzlich zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten eingestellt hat. Das ist jedoch nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein, insbesondere im Vergleich mit anderen Pharmaprojekten des Forschungsministeriums wie dem schon genannten Biopharmawettbewerb. Ist es nicht fraglich, dass das Millenniumsziel der weltweiten Bekämpfung von Infektionskrankheiten an zu wenig Forschungsmitteln und restriktiver Patentanwendung scheitert, während die deutsche Pharmaindustrie mit den insgesamt 800 Millionen Euro der „Pharmainitiative“ ins Biotech-Zeitalter hineinsubventioniert werden soll? Wir haben es mit einem drastischen Marktversagen zu tun, denn es sind die Investitionsentscheidungen der Unternehmen, die ein stärkeres privates Engagement gegen die Armutskrankheiten verhindern. Warum sollte eine Firma mit Gewinninteresse an Krankheiten forschen, die in Gegenden praktisch ohne Kaufkraft vorkommen? An dieser Stelle sind massive öffentliche Mittel gefragt, um ein strukturelles Problem der Arzneimittelversorgung in privater Hand wenigstens abzumildern. Der hier debattierte Antrag meiner Fraktion fordert die Bundesregierung auf, aus der „Pharmainitiative für Deutschland“ auch eine Pharmainitiative für Gesundheit in der Dritten Welt zu machen. Stellen Sie mindestens zehn Prozent der verausgabten Mittel direkt in den Dienst des Kampfes gegen die in armen Ländern vorherrschenden Krankheiten! Ohnehin steigt aufgrund der Investitionszurückhaltung der Industrie der Anteil öffentlicher Mittel in der Pharmaforschung - besonders im Grundlagenbereich. Das gibt der öffentlichen Hand auch Gestaltungsspielräume bei dem Umgang mit Patenten und anderen Rechten am sogenannten geistigen Eigentum. Der Fall des neuen Tuberkulose-Impfstoffes VPM 1002 ging Ende letzten Jahres bundesweit durch die Presse. Hier wurde am öffentlich finanzierten Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie ein aussichtsreicher Wirkstoff entwickelt, dessen Exklusivlizenz dann vom federführenden Wissenschaftler zur weiteren klinischen Prüfung an die ebenfalls öffentlich finanzierte Vakzine Projekt Management VPM GmbH verkauft wurde - übrigens für 40 000 Euro und in dem guten Glauben, dass der Wirkstoff auch weitestmöglich zur Anwendung kommt. Mittlerweile beträgt der Marktwert dieser Lizenz nach Schätzungen etwa fünf Millionen Euro. Dieses Geld könnte die VPM gut gebrauchen, denn sie soll sich ab 2010 aus ihren eigenen Lizenzeinnahmen tragen. Den maximalen Preis bekommt sie jedoch nur, wenn ein Pharmakonzern eine globale Exklusivlizenz erwerben kann, ohne den Zwang zur preiswerten Abgabe des Impfstoffs etwa in armen Ländern. Und hier beginnt die Verantwortung des Forschungsministeriums: Die Aufgabe dieser mit Steuergeld finanzierten Wissenstransferagenturen wie VPM darf nicht nur die mundgerechte Belieferung der Industrie sein. Nachhaltige Innovationspolitik muss den größtmöglichen Gemeinnutzen der Anwendung von Forschungsergebnissen im Blick haben. Unser Antrag fordert, dass der Impfstoff VPM 1002 nur unter der Auflage eines preisgünstigen Zugangs für arme Länder an einen Pharmahersteller verkauft werden darf und dass in Zukunft diese Lizenzen zudem in sogenannte Patentpools für die Generikaherstellung eingebracht werden. An guten Ideen zum Wissenstransfer in die Anwendung mangelt es nicht - wie das eben erwähnte Beispiel des Patentpools zeigt. Dieser bündelt eingebrachte Patente, für die zuvor eine pauschale Gebühr entrichtet wurde, und macht so die Herstellung von preiswerten Kombinationspräparaten möglich. Die Bundesregierung sollte zudem aktiv und auch finanziell die Entwicklung sogenannter Produktentwicklungspartnerschaften für die Herstellung preiswerter Medikamente unterstützen. Es ist beschämend, dass dies wegen interministerieller Abstimmungsschwierigkeiten bisher nicht gelungen ist. Wir haben in unserem Antrag weitere Vorschläge gemacht, wie im Sinne des Millenniumsziels der Bekämpfung von Krankheiten in den armen Regionen dieser Welt in der deutschen Forschungspolitik umgesteuert werden kann. Dass weltweit nur zehn Prozent der Forschungsmittel für Krankheiten ausgegeben werden, die neunzig Prozent der Menschen betreffen, ist eine nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit. Der HIV-Experte der WHO, Kevin de Cock, hat recht, wenn er sagt: „Der Schutz vor den großen Infektionskrankheiten AIDS, Tuberkulose und Malaria muss endlich ein universelles Recht sein.“ Zu Protokoll gegebene Reden

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vernachlässigte Krankheiten gelten deshalb als vernachlässigt, weil sie schlecht erforscht sind und mit veralteten Methoden bekämpft werden. Deswegen ist es wichtig, dass dieses Thema immer wieder aufgegriffen wird. Deswegen haben wir auch kürzlich eine Kleine Anfrage zur Entwicklung von Tuberkulose- und MalariaImpfstoffen an die Bundesregierung gestellt. Es ist richtig, dass das Parlament über den Zusammenhang von Pharmainnovationen und vernachlässigten Krankheiten in Entwicklungsländern diskutiert. Dazu bietet der vorliegende Antrag eine gute Gelegenheit. Allzu oft wird vergessen, welch ungeheure Verbesserung der Lebensumstände in Entwicklungsländern ein Durchbruch in der Pharmaforschung bringen könnte. Unser Grundziel ist es, die Verbesserung der Lebensumstände der Menschen in Entwicklungsländern zu erreichen. Dazu gehört natürlich - wie in den Millenniumsentwicklungszielen beschrieben - auch und entscheidend eine Verbesserung des Gesundheitszustands der Menschen. Dringend notwendig sind hierfür eine verbesserte Infrastruktur und eine bessere Gesundheitsversorgung; insbesondere der Fachkräftemangel im Gesundheitssystem ist ein Problem, das dringend angegangen werden muss. Heute allerdings nehmen wir das Problem der sogenannten vernachlässigten Krankheiten in den Blick. Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits in ihrem am 24. Mai 2008 verabschiedeten Strategiepapier weitreichende Empfehlungen für die Stärkung von Forschung und Entwicklung zu vernachlässigten Krankheiten und den Zugang zu Medikamenten abgegeben. Bislang ist leider zu wenig zur Umsetzung geschehen. Die Entwicklung neuer Arzneimittel kostet viel Geld und viel Zeit. Ergebnis: Pharmaunternehmen in den Industrieländern vernachlässigen die Armutskrankheiten in ihrer Forschung, da ihnen die Entwicklung von Medikamenten hierfür geringere Aussichten auf Gewinne verspricht, denn der größte Teil der potenziellen Käuferinnen und Käufer ist arm. Aus dem gleichen Grund sind auch vorhandene Medikamente oft nicht auf die Bedürfnisse der Menschen in Entwicklungsländern zugeschnitten, sind nicht hitzebeständig, nicht für Kinder geeignet oder schlichtweg zu teuer. Von den zwischen 1975 und 2004 neu entwickelten 1 556 Medikamenten entfielen gerade mal 18 neue Medikamente auf die tropischen Armutskrankheiten und drei auf Tuberkulose. Angesichts dieser Situation muss es neue Anreize zur Forschung an Arzneimitteln für vernachlässigte Krankheiten geben, und ich erinnere hierbei auch an die Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Flussblindheit. Es ist nicht hinnehmbar, dass zum Beispiel gegen Tuberkulose, die zusammen mit HIV/Aids und Malaria eine der tödlichsten Krankheiten ist, an denen jährlich 6 Millionen Menschen sterben, seit Jahrzehnten keine neuen Medikamente entwickelt wurden. Die Krankheit hingegen hat sich sehr wohl weiterentwickelt: Die unsachgemäße Behandlung von Tuberkulose oder der vorzeitige Abbruch von Therapien wegen mangelhafter Begleitung führen wiederum dazu, dass es mittlerweile multiresistente Erreger gibt. Zudem kommt die Tuberkulose, die in unseren Breiten als ausgerottet galt, inzwischen auch wieder in neuer Form zu uns zurück. Folge in diesem Teufelskreis: Die heute erhältlichen Medikamente sind mittlerweile veraltet, haben starke Nebenwirkungen und einen zweifelhaften Therapieerfolg. Wir begrüßen daher, dass zurzeit ein neuer Tuberkulose-Impfstoffkandidat aus der Grundlagenforschung des Max-Planck-Institutes in die klinische Phase übergegangen ist. Auch zu den vielfältigen möglichen Anreizen gibt die Weltgesundheitsorganisation Empfehlungen. Wir beziehen uns hierbei nicht nur auf Patente - die auch ein Anreiz zur Entwicklung neuer Medikamente sind, die aber aus unserer Sicht auf keinen Fall armen Menschen den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten verwehren dürfen. Auch andere Anreize sind zu prüfen: Der Antrag der Linken erwähnt Forschungspreise, die auch wir unterstützen. Auch Aufkaufverpflichtungen, die sogenannten Advanced Market Commitments, wären ein möglicher Anreiz. Wir fanden es schon 2007 sehr schade, dass die Bundesregierung anders als Großbritannien, die USA, Kanada und Italien nicht bereit war, die Entwicklung eines für Entwicklungsländer nutzbaren Impfstoffes gegen Pneumokokken nicht nur rhetorisch, sondern auch finanziell zu unterstützen. An Pneumokokken, die Lungen- und Hirnhautentzündung auslösen können, sterben in Entwicklungsländern vor allem Kinder unter fünf Jahren. Den größten Erfolg allerdings verspricht die Stärkung der öffentlichen Forschung über vernachlässigte Krankheiten. Die Initiative DNDi, die Drugs for Neglected Diseases Initiative, ist eine Produktentwicklungspartnerschaft, die von Anfang an sicherstellt, dass öffentliche Mittel, die in die Forschung zum Beispiel an Medikamenten gegen Malaria investiert werden, auch definitiv dazu dienen, einen breiten öffentlichen Zugang zu eben diesen Medikamenten zu ermöglichen. Und hier komme ich zum Hauptproblem: der Preisgestaltung bei Medikamenten. Häufig verhindert ein zu hoher Preis, dass Menschen in Entwicklungsländern sich die notwendigen Medikamente tatsächlich leisten können. Pharmaunternehmen sind hier in der Mitverantwortung. Denn sie greifen auf Grundlagenforschung zurück, die fast immer auch durch öffentliche Mittel finanziert ist. Die Bundesregierung muss ihren Einfluss dahin gehend geltend machen, dass Institute wie die Vakzine Projekt Management GmbH ({0}), die derzeit mit öffentlichen Mitteln die Entwicklung eines TuberkuloseImpfstoffes vorantreibt, in der Zukunft auch ihre Lizenzverträge so gestalten, dass ein erleichterter Zugang von Entwicklungsländern zu den von der VPM mitentwickelten Impfstoffen gesichert ist. Die Bundesregierung sollte außerdem einfordern, dass die drei mit dem Themenkomplex der Forschung für vernachlässigte Krankheiten betrauten Ministerien ({1}) ihre sich zum Teil überschneidenden Aufgaben besser koordinieren und ihre jeweiligen Zuständigkeiten auch für Außenstehende klarer definieren. Armutskrankheiten müssen endlich als eine globale Aufgabe angesehen werden und auch als solche angegangen werden. Das erfordert eine kooperative ZusammenZu Protokoll gegebene Reden arbeit von staatlichen und multilateralen Institutionen, von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12291 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Bürgerschaftliches Engagement umfassend fördern, gestalten und evaluieren - Drucksachen 16/11774, 16/12202 Berichterstattung: Abgeordnete Markus Grübel Sibylle Laurischk Ekin Deligöz Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Markus Grübel, CDU/CSU, Sönke Rix, SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Elke Reinke, Die Linke, Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt mehr als 23 Millionen freiwillig engagierte Menschen in Deutschland. Dies entspricht 36 Prozent der über 14-jährigen Bürgerinnen und Bürger. Ohne sie würde das Zusammenleben, wie wir es kennen, nicht funktionieren. Das klingt gut; wenn man jedoch genau hinsieht, muss man feststellen, dass sich das klassische Ehrenamt in einer Krise befindet. Immer weniger Menschen sind bereit, sich langfristig und zeitaufwendig in Verbänden, Vereinen, in kirchlichen Institutionen etc. zu binden bzw. freiwillig zu engagieren. 53 Prozent der Bevölkerung sind in keiner Organisation Mitglied. Für diese Menschen müssen neue Anreize, Möglichkeiten geschaffen werden, sich einzubringen. Gerade beim Engagement der Jugend liegen große Potenziale. Jedoch engagieren sich von den 16-Jährigen gerade einmal 20 Prozent freiwillig. Bei den 14-Jährigen sind es sogar nur 18 Prozent. Bei den älteren Jugendlichen zeichnet sich wieder ein höheres Interesse ab, zumindest wenn man das Interesse an den Jugendfreiwilligendiensten, die wir im letzten Jahr gesetzlich neu geregelt haben, zugrunde legt. 23 000 junge Menschen engagieren sich hier. Darüber hinaus müssen wir die Potenziale der Rentner und Pensionäre verstärkt mit einbeziehen. Statistisch gesehen, verbringt ein Rentner ein Viertel seines Lebens im Ruhestand. Viele Menschen, auch im hohen Alter, wollen gesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Wir benötigen also die „aktiven Alten“. Heute sind bereits über 30 Prozent von ihnen freiwillig engagiert. Weitere 30 Prozent würden sich gerne engagieren, wenn es passende Angebote gäbe. Das BMFSFJ hat daher in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Projekten initiiert, um das Miteinander der Generationen zu fördern. Ich nenne exemplarisch die Mehrgenerationenhäuser und die neuen Freiwilligendienste aller Generationen. Zudem wurden zahlreiche Vorschläge der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ bereits in der letzten Legislaturperiode umgesetzt. Der Enquete-Bericht sieht Engagementförderung als Querschnittsaufgabe an, die durch stärkere Kooperation von Verwaltung, Politik und Fachressorts sowie ressortübergreifende Vernetzung von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen bestmöglich umgesetzt werden könne. Auch wurde der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ eingesetzt. Viele von den Engagementpolitikern sind dort Mitglied und haben auch daran mitgearbeitet, dass im Rahmen des im Jahr 2007 verabschiedeten Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements die steuer- und gemeinnützigkeitsrechtlichen Rahmenbedingungen erheblich verbessert wurden. Mit der Initiative „ZivilEngagement“ soll durch eine Vielzahl von Maßnahmen Engagementpolitik wirksam gestaltet werden. Ziel ist eine abgestimmte Strategie zur Weiterentwicklung einer nationalen Engagementpolitik mit unterschiedlichen Schwerpunkten, wie zum Beispiel weiterer Ausbau der bestehenden generationenübergreifenden Angebote für bildungsferne Gruppen, einfach zugängliche Engagementangebote insbesondere für Jugendliche, Optimierung der Einsatzmöglichkeiten von Freiwilligen durch Qualifizierungsangebote und Erweiterung von Tätigkeitsprofilen für Engagierte. Bürgerschaftliches Engagement ist für gesellschaftliche Integration, wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand und stabile demokratische Strukturen unerlässlich. Engagementpolitik berührt alle relevanten Politikfelder und alle staatlichen Ebenen. Bund, Länder und Kommunen müssen Rahmenbedingungen wirkungsorientiert fördern, die zivilgesellschaftliche Organisationen als Träger bürgerschaftlichen Engagements, Unternehmen und nicht zuletzt die engagierten Bürgerinnen und Bürger für bürgerschaftliches Engagement benötigen. Zur Förderung zählt ausdrücklich auch eine verstärkte öffentliche Wertschätzung bürgerschaftlichen Engagements. Die Anerkennung des freiwilligen Einsatzes der Engagierten ist von besonderer Bedeutung. Es bedarf einer Kultur der Anerkennung, in der bürgerschaftliches Engagement einen Wert an sich darstellt und zu einer Selbstverpflichtung wird. Dazu ist ein gesamtgesellschaftliches Umdenken vonnöten. Die Leitidee einer Bürgergesellschaft und die verschiedenen Facetten des bürgerschaftlichen Engagements - ihr Wert für die Engagierten und für die Gesellschaft - müssen zukünftig deutlich herausgestellt werden. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die Voraussetzungen für eine regelmäßige wissenschaftliche Berichterstattung zum bürgerschaftlichen Engagement durch eine Sachverständigenkommission ab der nächsten Legislaturperiode schaffen. Der Forschungsbericht von unabhängigen Wissenschaftlern soll - auf Schwerpunkte konzentriert - die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements und den Stand der Engagementpolitik einschließlich der politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einmal pro Legislaturperiode aufzeigen. Ihm soll außerdem eine Stellungnahme der Bundesregierung angefügt werden. Mit der Berichterstattung soll erreicht werden, die Diskussion über das bürgerschaftliche Engagement noch tiefer im öffentlichen Bewusstsein zu verankern und die in der Gesellschaft vorhandenen Potenziale für bürgerschaftliches Engagement zu mobilisieren und zu nutzen. Zudem ist der Bericht für die Entwicklung einer ressortübergreifenden Engagementstrategie wichtig und wird Informationen und Empfehlungen liefern, um die richtigen Weichen zu stellen und Bedarfe und Möglichkeiten, aber auch Hindernisse für Engagement aufzeigen. Ein Vorläuferbericht für die regelmäßige Berichterstattung, der den Beitrag des bürgerschaftlichen Engagements zur Bewältigung sozialer Aufgaben unter besonderer Beachtung der Familie und bei Familien unterstützenden Dienstleistungen untersucht, wird im Mai 2009 erscheinen. Bedauerlicherweise ist kein interfraktioneller Antrag zustande gekommen, wie ursprünglich angedacht, da die anderen Fraktionen sich entweder in Enthaltung oder Ablehnung üben. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass durch die regelmäßige Berichterstattung eine verstärkte Wahrnehmung des Themas in der Öffentlichkeit erreicht und bürgerschaftliches Engagement weiter ausgebaut und gefördert werden kann.

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute verabschieden wir den Antrag, der von den Koalitionsfraktionen eingebracht wurde. Der Titel „Bürgerschaftliches Engagement umfassend fördern, gestalten und evaluieren“ lässt erst einmal nicht vermuten, dass es sich im Kern um eine regelmäßige Berichterstattung handelt. Beim zweiten Hinsehen erschließt sich das aber schon. Denn um überhaupt das bürgerschaftliche Engagement umfassend fördern und gestalten zu können, benötigen wir eine regelmäßige Bestandsaufnahme und Evaluation. So möchte ich das, was ich bereits im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in der letzten Sitzungswoche betont habe, auch hier noch einmal deutlich machen: Eine regelmäßige Berichterstattung zum Themengebiet bürgerschaftliches Engagement ist nützlich und sinnvoll, zumindest dann, wenn wir unserem Anspruch gerecht werden wollen, die Rahmenbedingungen für Engagierte stetig zu verbessern und einer aktiven Bürgergesellschaft die Steine aus dem Weg zu räumen, die es mancherorts noch gibt. Dabei war es meiner Fraktion äußerst wichtig, dass der Bericht von einer unabhängigen Expertenkommission erstellt wird und so unvoreingenommen wie möglich erarbeitet werden kann. Der Bericht soll Problemlagen aufdecken und durch eine immer andere Schwerpunktsetzung unseren Blick für das bürgerschaftliche Engagement schärfen. Ohne Frage haben wir in den letzten Jahren schon damit angefangen. Denn das Thema bürgerschaftliches Engagement hat die SPD in den letzten zehn Jahren immer weiter in den Vordergrund gerückt. Auf Initiative der SPD-Fraktion wurde die Enquete-Kommission zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements eingesetzt. Deren Arbeit hat deutlich gezeigt: Das Thema bürgerschaftliches Engagement ist ein Querschnittsthema. Fast alle und damit auch die unterschiedlichsten Politikbereiche haben Einfluss auf die Entfaltungsmöglichkeiten des bürgerschaftlichen Engagements. Das fängt an bei den finanziellen Rahmenbedingungen, geht über die Anerkennung, die wir den Engagierten entgegenbringen, und führt bis zu der Frage, wie viel Hauptamtlichkeit und wie viele Netzwerke wir brauchen, um dafür zu sorgen, dass das Engagement auch gut organisiert ist. Und so ist auch die Förderung des Engagements ein Querschnittsthema. Das berücksichtigt auch der Antrag. Hier heißt es: „Der Bericht sieht die Engagementförderung als Querschnittsaufgabe an, die durch stärkere Kooperation von Verwaltung, Politik und Fachressorts sowie ressortübergreifende Vernetzung von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen sowie der Wirtschaft bestmöglich umgesetzt werden könne.“ Diese beiden Aspekte - Kooperation und Vernetzung - halte ich für die wichtigsten. Einen Beitrag dazu leistet bereits seit sechs Jahren der Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“. Die Kolleginnen und Kollegen, die wie ich Mitglied dieses Unterausschusses sind, wissen: Hier treffen sich regelmäßig Akteure aus der Zivilgesellschaft, aus der Verwaltung und der Regierung und berichten über ihre Erfahrungen und Initiativen. Eine stärkere Vernetzung ist dadurch möglich, wenn sie auch eher durch inoffizielle Gespräche am Rand dieses Gremiums entstehen mag als durch die öffentliche Sitzung. Der Bericht kann helfen, die Arbeit des Unterausschusses zusammenzutragen und auch neue Denkanstöße zu geben. Aufgrund der demografischen Entwicklung, der gerade zurzeit unsicheren Lebensverhältnisse und der neuen Anforderungen, die sich an die Gesellschaft und jeden Einzelnen stellen, werden sich auch die Strukturen des Engagements verändern. Diese müssen wir beobachten. Dazu dient zurzeit der Freiwilligensurvey, den es meiner Meinung nach auch weiterhin als wichtigste Datengrundlage in diesem Bereich geben muss. Der geplante Bericht kann aber über die Fakten, wer sich wie und warum engagiert, hinaus eine ganz andere Schwerpunktsetzung unter unterschiedlichen Fragestellungen betreiben. Hieraus ergeben sich dann ganz konkrete Aufgaben für die Politik - so wünsche ich es mir jedenfalls. Eine weitere Aufgabe, die der Bericht leisten kann, ist, dem bürgerschaftlichen Engagement noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. In den letzten zehn Jahren wurden auch dafür schon die Grundsteine gelegt, nicht nur im Parlament, sondern auch durch die Organisationen selbst. Und an dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich beim BBE bedanken, denn das leistet mit der Woche des bürgerschaftlichen Engagements jedes Jahr einen unschätzbaren Beitrag für eine breite Öffentlichkeit und mehr Anerkennung für alle Engagierten. Um weiter auf diesem guten Weg zu bleiben, um Problemlagen erZu Protokoll gegebene Reden kennen und lösen zu können, um Engagierten die Rahmenbedingungen zu schaffen, die sie benötigen, brauchen wir diesen unabhängigen Bericht.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerade für Liberale ist bürgerschaftliches Engagement Ausdruck einer lebendigen Bürgerkultur: einer Gesellschaft, in der Probleme nicht wie selbstverständlich bei öffentlichen Einrichtungen abgegeben werden, einer Gesellschaft, in der Bürger für Bürger da sind. Vor diesem Hintergrund ist es schwer, die Arbeit der Bundesregierung im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements zu loben. Hauptsächlicher Aktionspunkt der Bundesregierung in dieser Legislatur war das Auswechseln von Begriffen. Der von der Enquete-Kommission geprägte Begriff des „bürgerschaftlichen Engagements“ wurde zugunsten des Begriffs „Zivilengagement“ aufgegeben. Die FDP sieht dies äußerst kritisch, da so eine allgemeine Verwirrung bei Diskussionen entsteht und etwas Neues suggeriert wird, obwohl alles beim Alten bleibt. Neben dieser babylonischen Begriffsverwirrung ist vor allem die Untätigkeit der Bundesregierung bei der Belastung des bürgerlichen Engagements durch die Mehrwertsteuer fatal. Die Bundesregierung nimmt die durch die Finanzämter neuerdings entdeckte Mehrwertsteuerbelastung des bürgerschaftlichen Engagements hin und tritt dieser Entwicklung nicht entschieden entgegen: Es ist erstaunlich, dass sowohl bei den Jugendfreiwilligendiensten als auch bei den Sponsoringaktivitäten durch Unternehmen dies seit Jahrzehnten unbeanstandet von den Finanzbehörden stattfand. Nach Auffassung des BMF bzw. eines Finanzamtes ist dies nun anders. So liegt zum Beispiel in der kostenlosen Überlassung von Telefondienstleistungen der Deutschen Telekom an die Telefonseelsorge ein der Umsatzsteuer unterliegendes Tauschgeschäft vor. Das BMF konstruiert aus dem bürgerschaftlichen Engagement von Unternehmen nun tauschähnliche Umsätze, da zum Beispiel auf der Internetpräsenz der Telefonseelsorge darauf verwiesen wird, dass die Telekom der Partner der Telefonseelsorge ist. Aus einem Hinweis auf den Sponsor nun ein steuerliches Tauschgeschäft zu konstruieren, steht im krassen Gegensatz zu den Bemühungen, mehr Unternehmen für Engagement im gesellschaftlichen Bereich zu gewinnen. Es ist sogar im staatlichen Interesse, dass auf den Sponsor hingewiesen wird. Nur so können andere Unternehmen über die Steigerung von Ansehen und Prestige dazu bewegt werden, sich gesellschaftlich zu engagieren. Weiterhin ist vollkommen ungeklärt, ab wann der Hinweis auf den Sponsor einen steuerlich relevanten Tatbestand schafft. Unterliegt es beispielsweise der Steuerpflicht, wenn die dörfliche Gastwirtschaft ihre Mikrofonanlage aus dem Festsaal einem örtlichen Sportverein kostenlos für das Fußballturnier leiht und sich dieser Verein auf dem Fußballfeld deutlich hörbar über die Mikroanlage dafür bedankt? Ist dies Werbung oder bürgerschaftliches Engagement? Wenn das Gebaren einiger Finanzbehörden Schule macht, ist mit einem deutlichen Rückgang solcher Sponsoringaktivitäten zu rechnen. Dies wird dem Ehrenamt erheblichen schaden. Leider beweihräuchert der vorliegende Antrag die Arbeit der Bundesregierung. Weiterhin fordern Sie in Ihrem Antrag einen Bericht. Nun ist die FDP nicht generell gegen einen solchen Bericht, die Vorgehensweise ist jedoch atemraubend. Der Bericht ist längst in Auftrag gegeben und quasi fertiggestellt und soll bereits im Mai 2009 der Öffentlichkeit vorgestellt werden! Nun seitens der Regierungskoalition durch diesen Antrag zu suggerieren, die Initiative zur Erstellung dieses Berichts gehe von den Regierungsfraktionen aus, ist einfach peinlich. Fakt ist, den Bericht wird es geben, egal, ob dieser Antrag angenommen oder abgelehnt wird. Der im Antrag geforderte Bericht allein nutzt nach den Erfahrungen der letzten Jahre gar nichts und dient eher der Augenwischerei. Es ist zwar durchaus bemerkenswert, dass die erstellten Berichte der verschiedenen Kommissionen in der Regel ein überdurchschnittliches Niveau haben, sie werden aber in ihren Anregungen lediglich zur Kenntnis genommen und nicht umgesetzt. Das Parlament diskutiert in der Regel erst nach Jahren über die Berichte. Es gilt die Faustregel: Je besser der Bericht, desto länger bleibt er in der Schublade. Die sehr aufschlussreichen „Altenberichte“ der Bundesregierung werden erst zwei bis drei Jahre nach ihrem Erscheinen behandelt. Ich fordere deshalb von der Bundesregierung, mit Vorlage des Berichts zum bürgerschaftlichen Engagement auch Vorschläge zu dessen Umsetzung zu machen.

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Wichtigkeit und die Unverzichtbarkeit des bürgerschaftlichen Engagements dürften nicht nur uns Abgeordneten, sondern allen Bürgerinnen und Bürgern bekannt sein. Viele Vereine oder Verbände wären ohne vorbildliches ehrenamtliches Engagement kaum überlebensfähig. Die Linke wehrt sich aber dagegen, dass ihr unterstellt wird, jede Kritik am bürgerschaftlichen Engagement, speziell an Gesetzen oder Anträgen zu diesem Thema, gehe mit einer Geringschätzung oder gar Ablehnung desselben einher. Gerade weil sich die Linke für eine bessere Ausgestaltung, Anerkennung und Evaluierung des bürgerschaftlichen Engagements einsetzt, ist gegen den im Antrag von Union und SPD geforderten regelmäßigen wissenschaftlichen Bericht grundsätzlich nichts einzuwenden. Das Thema „bürgerschaftliches Engagement“ muss von der politischen Bühne noch stärker in die öffentliche Diskussion rücken; es muss bei den Menschen noch mehr Interesse geweckt werden. Ein regelmäßiges, auf breiterer Basis debattiertes Berichtswesen kann dazu beitragen und beispielsweise Handlungsrahmen abstecken und Empfehlungen geben. Ein solches Berichtswesen muss aber meiner Meinung nach auch kritische Punkte ansprechen und sozial gerechte Lösungen aufzeigen. Ich befürchte, dass dies - wenn überhaupt - nur unzureichend geschehen wird. Einen Vorgeschmack gibt ja bereits der vorliegende Antrag. Hierin wird stolz berichtet, dass das Bundesfamilienministerium einen Bericht in Auftrag gegeben hat, der - ich zitiere - „den Beitrag des bürgerschaftlichen Engagements zur Bewältigung sozialer Aufgaben“ untersuchen soll. Ja, das Ehrenamt leistet dazu einen bedeutenden Beitrag; es ist gesellschaftlich und unter Zu Protokoll gegebene Reden demokratischen Gesichtspunkten sinnvoll und notwendig. Aber wo genau liegen die Grenzen? Wie weit m u s s und d a r f bürgerschaftliches Engagement überhaupt soziale Aufgaben bewältigen? Oder gibt es nicht noch andere Institutionen, die sich ebenfalls der sozialen Verwerfungen unserer Zeit annehmen sollten? Angesichts der Sozial- und Verteilungspolitik der vergangenen Jahre sollte jeder, der Ähnliches wie das oben Zitierte hört oder liest, sehr misstrauisch werden. Wir haben es Ihnen wiederholt gesagt: Bürgerschaftliches Engagement ist für die Linke kein Ersatz für eine gerechte Steuer- und Sozialpolitik! Unbezahlte Arbeit kann keine gerechte Verteilungspolitik ersetzen und die weit auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich schließen. Auch eine „Initiative ZivilEngagement“ hält eine immer stärker gespaltene Gesellschaft nicht zusammen. Der Staat darf nicht immer mehr der Möglichkeiten beraubt werden, selbst gestaltend aktiv zu werden. Der Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge ist dabei ganz bestimmt der falsche Weg! Es ist bedenklich, wenn bei den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl aufkommt, die Regierung fördert ehrenamtliches Engagement nur, um den eigenen Haushalt zu entlasten. Gesamtgesellschaftliche Probleme dürfen aber nicht auf die aufopferungsvoll tätigen Freiwilligen abgewälzt werden. So will die Linke bürgerschaftliches Engagement nicht verstanden wissen! Auf eine Vermögensteuer wird nach wie vor verzichtet, verantwortungslose Finanzjongleure bekommen Milliarden an Euro zugeschustert. Die Linke fordert stattdessen einen Schutzschirm für alle Beschäftigten sowie für sozial Benachteiligte. Bei ausreichender sozialer Absicherung würde auch das Ehrenamt noch stärker aufblühen. Es sind außerdem klare Forderungen an die Wirtschaft zu stellen. Unternehmen sonnen sich gerne im Schein des Engagiertseins, sobald es um etwas „handfestere“, sprich finanzielle Unterstützung geht, wird sich oftmals allzu schnell in den Schatten zurückgezogen. Ziel des bürgerschaftlichen Engagements sollten gesellschaftliche Teilhabe und Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger sein. Dies beinhaltet zugleich sozialversicherte Tätigkeit, von der man leben kann. Ehrenamt braucht keine Stundenlöhne, sollte aber zugleich keine regulären Arbeitsplätze verdrängen und ersetzen und dadurch Sozialabbau vorantreiben. Die Linke fordert deshalb seit langem, stärker in Richtung öffentlich finanzierter Beschäftigung aktiv zu werden. Alles in allem hätte ich mir gewünscht, dass sich der erste Bericht mit den Zugangsbarrieren - besonders für sozial Benachteiligte - zum bürgerschaftlichen Engagement sowie mit Teilhabechancen befasst. Dies wäre zukunftsweisend und würde tatsächliche Probleme angehen. In dem Antrag ist ebenfalls zu lesen, dass ein solcher wissenschaftlicher Bericht „nur ein erster Ansatz“ sein kann. Wie viele „erste Ansätze“ brauchen Sie denn noch? Von SPD-Seite wurde in der Ausschussdebatte zugegeben, dass die exakte Ausgestaltung des Berichts im Laufe der Zeit bestimmt noch verbessert werden könne - nachzulesen in „Beschlussempfehlung und Bericht des Familienausschusses“ unter Drucksache 16/12202. Warum denken Sie die Dinge nicht vorher zu Ende, bevor Sie sie auf den Weg bringen? Bei Ihnen ist keine klare Richtung, kein Gesamtkonzept zur Stärkung und Anerkennung bürgerschaftlichen Engagements erkennbar. Ihr einziges Konzept ist die Konzeptlosigkeit - wie auf vielen anderen Politikfeldern auch. Insgesamt enthält sich die Fraktion Die Linke zu Ihrem Antrag, weil gegen die zentrale Forderung kaum etwas einzuwenden ist. Es ist für uns aber immer wieder aufs Neue verwunderlich, wie realitätsfern und vor allem gänzlich unkritisch die Regierungskoalition mit wichtigen gesellschaftspolitischen Themen umgeht. Obwohl wir bürgerschaftliches Engagement unterstützen und fördern, werden wir auch weiterhin unbequeme Wahrheiten ansprechen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Unsere Fraktion wird dem Antrag der Großen Koalition nicht zustimmen. Der Grund dafür liegt nicht etwa in der Forderung nach einem regelmäßigen wissenschaftlichen Bericht zum bürgerschaftlichen Engagement. Im Gegenteil: Wir begrüßen das Einsetzen eines solchen ausdrücklich. Wie groß der Nachholbedarf in Sachen wissenschaftlicher Befassung des Themas Bürgerschaftliches Engagement ist, hat zuletzt noch einmal die Diskussion im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement im Januar gezeigt, als wir uns mit dem Thema Entwicklung von Wissenschaft, Forschung und Lehre im Bereich Zivilgesellschaft befassten. Allerdings hätten wir uns konkretere Einzelheiten zur politischen Begleitung eines Berichts gewünscht, ähnlich wie es bei der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Fall war. In Ihrem Antrag heißt es dazu, dass Sie hoffen, dass ein Bericht den politischen Diskurs anregen kann und das Thema so in die öffentliche Wahrnehmung rücken wird. Das wird ein frommer Wunsch bleiben. Sie müssen doch sagen, wohin die Reise gehen soll - was wollen sie denn, wo sind die politischen Maßgaben, wo ihre Vorhaben? Sie nennen Ihren Antrag, um den es hier heute geht: Bürgerschaftliches Engagement umfassend fördern, gestalten und evaluieren. Und genau das sollten sie auch tun, statt - und nun zitiere ich ihren Antrag - „das Engagement der Bundesregierung im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements“ ausdrücklich zu begrüßen. Sie haben im Moment ganz offensichtlich keine Gesamtstrategie zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements. Die Initiative des Bundesfamilienministeriums, die sie jetzt Zivilengagement nennen, hat es bisher nicht geschafft, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft einzubinden. Tatsächlich scheint es ja selbst innerhalb der Koalition zwischen SPD und CDU/CSU so zu sein, dass Sie sich über wesentliche Inhalte der neuen Initiative uneins sind. Schon längst hätte sie im Kabinett beraten werden sollen und wird stattdessen von Mal zu Mal verschoben. Auf unsere Kleine Anfrage vom Februar dieses Jahres bleiben sie die Antworten schuldig. Wesentliche Punkte, Zu Protokoll gegebene Reden vom Leitbild der Zivilgesellschaft bis hin zur nachhaltigen Finanzierung des bürgerschaftlichen Engagement, sind einfach nicht ausreichend geklärt. Was aber offensichtlich bereits längst geklärt ist, ist die öffentliche Vermarktung des Ganzen. Denn vergangene Woche startete die erste PR-Kampagne im Rahmen der Initiative Zivilengagement. Wieder einmal hat es den Anschein, als sei dem Familienministerium der Schein wichtiger als das Sein. So wirken Sie in Sachen Engagementplan zwar engagiert, sind aber doch ziemlich planlos. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen enthält sich zu diesem Antrag.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12202, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/11774 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion sowie Enthaltung vom Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose und Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung aufnehmen - Drucksache 16/11649 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wir nehmen die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU, Dr. Axel Berg, SPD, Gudrun Kopp, FDP, Dr. Herbert Schui, Die Linke, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor nicht einmal einem Jahr diskutierten wir hier in ähnlicher Runde über mehr Transparenz beim Sachverständigenrat. In diesem Zusammenhang waren es auch die Kollegen von den Grünen, die unter anderem der Gemeinschaftsdiagnose der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute attestierten, dass kaum jemand diese - ich zitiere - „dicken Berichte“ zur Kenntnis nehmen, geschweige denn lesen würde. Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie müssen ja nicht gleich aus Ihren Reihen auf andere schließen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir im Gegensatz zu Ihnen die Berichte nicht nur einfach zur Kenntnis, sondern vor allem ernst nehmen. Die meisten von Ihnen werden mir beipflichten, dass die Konjunkturprognosen der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute unerlässliche Informationsquellen für unsere Arbeit sind. Nicht nur untersuchen die Institute darin unsere gesamtwirtschaftliche Leistung, sie geben auch wirtschaftspolitische Empfehlungen ab, die in unsere Wirtschaftspolitik einfließen. In diesem Zusammenhang verstehe ich Ihre Zweigleisigkeit, mit der Sie hier auftreten, nicht: Einerseits kritisieren Sie solche Berichte als in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und zu uneffektiv, auf der anderen Seite fordern Sie jetzt mit Ihrem Antrag, dass die Umweltberichterstattung mit in die Gemeinschaftsdiagnose aufgenommen werden soll. Ja, aber was wollen Sie denn jetzt eigentlich? In ihrer letzten Gemeinschaftsdiagnose haben sich die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute dafür ausgesprochen, dass der Staat in der gegenwärtigen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise Maßnahmen ergreifen sollte, die der Stützung der Wachstumskräfte und der Belebung der Konjunktur dienen. Diesen Empfehlungen sind wir in den letzten Monaten gefolgt. Wir haben mit den Maßnahmen der beiden Konjunkturpakete eine ausgewogene Mischung aus Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen beschlossen, mit denen wir der Wirtschaft eine Brücke über die schwierige Phase hinweg bauen wollen. Unternehmen und Bürger werden von Abgaben und Steuern entlastet und zugleich wird die Binnenwirtschaft durch gezielte Investitionen unterstützt. Bund, Länder und Kommunen investieren 20 Milliarden Euro in Straßen und Schienenwege, in Bildungsstätten und Bauwirtschaft. Der Bund hat zur Kreditversorgung deutscher Unternehmen einen 100-Milliarden-Euro-Fonds aufgelegt und weitet sein Kreditangebot bei der KfW auf 15 Milliarden Euro aus. Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Grünen, gerade für Sie dürfte es von großem Interesse sein, dass die Einführung der Umweltprämie - entgegen Ihren Ankündigungen auch ökologisch gesehen - ein voller Erfolg ist, von dem neben der Automobilwirtschaft auch die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land profitieren. Denn mit der Abwrackprämie tragen wir dazu bei, dass Altautos fachgerecht entsorgt und durch umweltfreundlichere und energiesparendere Fahrzeuge ersetzt werden. Darüber hinaus haben wir bereits im Rahmen des ersten Maßnahmenpakets die Mittel für die CO2-Gebäudesanierung um insgesamt 3 Milliarden Euro aufgestockt. Auch dies ist ein Beitrag, den wir trotz der schwierigen Zeit zum Umweltschutz leisten wollen. Soviel zur Ineffektivität und fehlenden Aufmerksamkeit, die Sie den wirtschaftspolitischen Empfehlungen der Gutachten versucht haben zu unterstellen. Wie Sie sehen, haben wir den Empfehlungen Taten folgen lassen. Sie fordern jetzt mit Ihrem Antrag die Aufnahme der Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose und Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Allerdings kann ich Ihrem Antrag kein schlüssiges Konzept entnehmen, wie Sie dies umsetzen wollen, geschweige denn, was davon der wirtschaftliche Nutzen sein soll. Das Statistische Bundesamt schreibt in seinen Erläuterungen zur Umweltökonomischen Gesamtrechnung, dass - ich zitiere - „eine direkte Messung des Inputs von Dienstleistungen der Umwelt auf gesamtwirtschaftlicher Ebene zurzeit weder in monetären noch in physischen Einheiten möglich ist“. Ich frage mich daher allen Ernstes, warum Sie mit solchen Forderungen unsere kostbare Zeit verschwenden. Anstatt hier neue Verwaltungs- und Bürokratiemonster zu schaffen, handeln wir lieber entsprechend. Dabei ist der Nachhaltigkeitsgedanke ein konsequenter Bestandteil unserer Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Denn mehr denn je muss sich eine nachhaltige Umweltpolitik dem ökonomischen Kalkül stellen. Nachhaltigkeit in unserem Sinne versucht die Interessen aus Umweltschutz, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Verantwortung bestmöglich zusammenzuführen. Was wir heute in den Klimaschutz investieren - das belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien -, verhindert in der Zukunft hohe wirtschaftliche Folgekosten sowie Umwelt- und Gesundheitsschäden für die Bevölkerung. Deswegen scheint es dringender denn je, eine nachhaltige marktwirtschaftliche Umweltpolitik als Chance und als Motor für Innovation, Wachstum und Beschäftigung zu begreifen. Sie bietet Chancen für Wachstum und Beschäftigung, insbesondere im Mittelstand. Anstatt hier unsinnige und wissenschaftlich nicht messbare Forderungen zu stellen, wie dies die Grünen erneut unter Beweis gestellt haben, ist es unser Ziel, die weltweit führende Rolle Deutschlands bei den Umwelttechnologien weiter auszubauen. Die Politik kann unterschiedliche Wege beschreiten, um der zunehmenden Umweltbelastung und -verschmutzung Einhalt zu gebieten. Dabei sollten wir aber nicht dazu übergehen, durch neue Berichterstattungen und Statistiken, deren wissenschaftliche Erkenntnis zudem umstritten ist, den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land höhere Abgaben oder Gebühren aufzuzwingen. Eine gerechte Kostenanlastung kann auch erfolgen, indem man beispielsweise Subventionen für den wirtschaftlich nicht konkurrenzfähigen Solarstrom abbaut und die Gelder lieber zugunsten der Entwicklung effizienterer Techniken umschichtet.

Dr. Axel Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003036, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Forderung der Grünen, dass Umweltnutzung und Umweltbelastungen in wirtschaftliche Analysen und Prognosen eingearbeitet werden sollen, macht Sinn. Die Betrachtung von Umweltverbrauch und dessen wirtschaftlichen Auswirkungen ist eine Voraussetzung für nachhaltige Wirtschaftsgestaltung. Und einer nachhaltigen Wirtschaft fühlen wir uns als Sozialdemokraten verpflichtet. Die Diskussion darüber, ob das Bruttoinlandsprodukt eine vernünftige Kenngröße ist, dauert schon lange an. Dass die Reparatur von Umweltschäden oder Beseitigung von Umweltverschmutzung zur Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes führen, mutet schon seltsam an. Das Gleiche gilt übrigens für Unfälle. Wie die Grünen in ihrem Antrag schreiben, gibt es mittlerweile auch andere Kennzahlen, die für wirtschaftliche Gutachten und Prognosen herangezogen werden können, die Umweltverbrauch und -verschmutzung nicht mehr als erfolgreiches Wirtschaftswachstum einstufen. Wenn man in Zukunft solche Indikatoren nutzt, könnte dies ein Wechsel weg von quantitativen hin zu qualitativen Messungen werden. Im Antrag der Grünen wird das Jahresgutachten des Sachverständigenrates für Wirtschaft von 1996 herangezogen und deutlich gemacht, dass die herangezogenen Größen wie Bruttosozialprodukt, die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung usw. Probleme aufwerfen, weil Eigenproduktion und Schwarzarbeit nicht zur offiziellen Wertschöpfung beitragen, Umweltnutzung und -zerstörung allerdings positiv zum BIP beitragen oder keine Berücksichtigung finden. Aus dem Jahresgutachten selbst geht hervor, dass die umweltökonomischen Gesamtrechnungen Eingang in die Bewertung des Inlandsproduktes, Konjunkturanalysen und -prognosen finden sollen, so wie es die Grünen fordern. Im Bericht folgt dann aber ein zusätzlicher Abschnitt: „Die lange Zeit gehegte Vorstellung, durch entsprechende Ergänzungen das Sozialprodukt in ein Ökosozialprodukt überführen zu können, das objektiv und angemessen die Wohlstandsänderung einer Gesellschaft ausdrückt, hat sich bald als nicht erfüllbar erwiesen“ ({0}). Dieser Satz findet sich im Antrag der Grünen nicht wieder. Das ginge auch nicht, weil er nämlich erklärt, dass die geforderte Einbeziehung von Umweltkosten mit den von den Grünen vorgeschlagenen Indikatoren nicht möglich ist. Prima wäre jetzt gewesen, wenn der Sachverständigenrat selbst eine Lösung vorgeschlagen hätte, wenn er das Problem doch wenigstens erkennt. Das große Problem ist immer noch, dass Umweltverbrauch keinen bezifferbaren Wert hat. Das liegt an der nicht vollständig vorhandenen Festlegung, welche Werte und Orientierungen im Zusammenhang mit der umweltökonomischen Gesamtrechnung als nachhaltig angesehen werden. Zusätzliche normative Vorgaben, die laut Jahresgutachten notwendig sind, machen den Unterschied zum volkswirtschaftlichen Rechnungswesen aus und machen es deshalb schwierig, „bei der Diagnose der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen die Ergebnisse der umweltökonomischen Gesamtrechnungen zu berücksichtigen“ ({1}). Es hat den Anschein, als seien die von den Grünen vorgeschlagenen Indikatoren nicht geeignet, eine Umweltberichterstattung außerhalb der umweltökonomischen Gesamtrechnung zu gewährleisten. Diese zu finden, ist die Herausforderung der nächsten Zeit. Richtig ist aber, dass Umweltverbrauch und Umweltverschmutzung einen negativen Wert bekommen müssen, wenn die Entwicklung eines Landes analysiert wird und daraus Folgerungen für die Zukunft geschlossen werden sollen. Dafür sollte aber in den Ausschussberatungen geprüft werden, ob neue und qualitativ angelegte Indikatoren für eine Umweltberichterstattung herangezogen und dann später für Prognosen und Analysen verwendet werden können oder aber normativ Werte festgesetzt werden müssen, mit denen Umweltverbrauch in den Gesamtrechnungen zu berücksichtigen ist. Der Sachverständigenrat ist eingeladen, mitzudenken. Zu Protokoll gegebene Reden

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Ziel des Sachverständigenrates ist die Beobachtung des Vierecks aus Stabilität des Preisniveaus, hohem Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum. Demgegenüber dokumentieren die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen ({0}), inwieweit die Natur durch die Wirtschaft und die privaten Haushalte verbraucht, entwertet oder gar zerstört wird. Hier wird bereits das Kernproblem dieses Antrags von Bündnis 90/Die Grünen klar: Die monetäre Bewertung von Umweltvermögen und -schäden usw. ist sehr schwierig, da keine Marktpreise existieren. Die Grundverschiedenheit in den Ansätzen macht deutlich, dass eine Erweiterung der Aufgabe des Sachverständigenrates keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringen würde. Ist ein Null- oder Minuswachstum bei hoher Arbeitslosigkeit deswegen erträglicher, weil die UGR ein positives Ergebnis zeigen? Ich halte die Einbeziehung in die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ({1}) bzw. die Gemeinschaftsdiagnose für nicht sinnvoll. Eine gemeinschaftliche Konjunkturprognose, die führende deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute jeweils im Frühjahr und im Herbst eines Jahres erstellen, kann in Zukunft schwerlich vorhersehen, wie viel Natur durch das prognostizierte Wachstum verbraucht wird. In diesem Fall müsste es einen klaren Zusammenhang zwischen größerer Wertschöpfung bzw. Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch geben. Die Entwicklung des Energieverbrauchs zeigt, dass es diesen Zusammenhang nicht gibt. Der Energieverbrauch ist im Laufe der Zeit weniger stark angestiegen als das BIP. Diese Entkopplung zeigt, dass aus mehr Wachstum gerade nicht auf mehr Verbrauch an „sauberer Luft“ oder an Ressourcen geschlossen werden kann. Das Bruttoinlandsprodukt ({2}) als zentraler Schwerpunkt der VGR ist natürlich kein vollkommen befriedigender Wohlfahrtsindikator. Die Gründe dafür liegen aber nicht nur an den von Bündnis 90/Die Grünen formulierten Schwächen. Für im BIP unberücksichtigte Faktoren wie wohlfahrtssteigernde Bildungsmöglichkeiten oder die Gesundheitsversorgung wurden allerdings extra Sozialindikatoren von der OECD entwickelt. Neben den „Wirtschaftsweisen“ gibt es zudem bereits einen Sachverständigenrat für Umweltfragen. Die Ergebnisse der UGR werden überdies ohnehin veröffentlicht und können zur Bewertung einzelner Sachverhalte bei Bedarf herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund sollten die Gutachten der Wirtschaftsweisen und der Konjunkturinstitute nicht überfrachtet werden. Die Erfassung von Umweltschäden und deren monetäre Bewertung sind schwierig, da keine realen Marktpreise existieren. Dementsprechend ließen sich wirklichkeitsfremde Berechnungen durch ungenaue Schätzungen und Fehler beim Erstellen der UGR nicht vermeiden. Würden, wie es Bündnis 90/Die Grünen hier vorschlägt, diese Berechnungen dennoch mit einbezogen, führte dies unweigerlich zu unsichereren Ergebnissen statt zu einer präziseren Gemeinschaftsdiagnose bzw. Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Erschwerend kommt hinzu, dass anders als bei den VGR, bei den UGR keine umfassenden Revisionen stattfinden, wodurch neue Daten und Statistiken nur in Teilbereichen einbezogen werden könnten. Der internationale Vergleich zeigt, dass nur wenige Länder bisher ähnlich umfassende Daten zu den UGR erstellen. Eine internationale Vergleichbarkeit einer Gemeinschaftsdiagnose, wie sie in diesem Antrag vorgeschlagen wird, würde damit zusätzlich erheblich erschwert. Wir Liberalen lehnen aus diesen Gründen den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab. Der vorliegende Antrag dient allenfalls umweltaktionistischen Darstellungen in der Öffentlichkeit. Ein wirklicher Nutzen ist weder für die Umwelt noch die Wirtschaft erkennbar. Die möglichst realitätsnahen, am erwähnten Kanon orientierten Konjunktur- und Wirtschaftsanalysen und Prognosen dürfen daher nicht durch ungenaue Erhebungen verwässert werden. Dass diese Berechnungen keinen Anspruch als allumfassender Wohlfahrtsindikator erheben, versteht sich - zumindest für die FDP-Fraktion von selbst.

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Fraktion der Grünen verlangt in ihrem Antrag, dass der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Wirtschaftsforschungsinstitute zukünftig auch die Umweltbelastung analysieren und prognostizieren. Dieser Forderung stimmt Die Linke zu. Die Wirtschaftspolitik muss grundlegend geändert werden, weil wir die Umweltzerstörung aufhalten müssen. Dafür ist wissenschaftlicher Rat hilfreich. Man darf allerdings nicht überschätzen, was damit gewonnen wäre. Zunächst einmal kann nicht alles, was uns am Herzen liegt, in Euro bewertet werden. Das gilt auch für saubere Luft und schöne Landschaften. Man kann deshalb nicht einfach vom Bruttoinlandsprodukt die Umweltzerstörung in Euro abziehen und dadurch ein objektives Ökoinlandsprodukt berechnen, das es zu maximieren gilt. Das Statistische Bundesamt verzichtet zu Recht in seiner Umweltökonomischen Gesamtrechnung auf die Bewertung von Umweltzustand und Umweltbelastung in Geldeinheiten. Es geht also nicht um eine Korrektur der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern um eine Ergänzung. Die Vorstellung, Umweltzerstörung in Geld ausdrücken zu können, reduziert die Umwelt auf ein Wirtschaftsgut. Auch das Statistische Bundesamt ist davon nicht frei. Im Bericht zu den Umweltökonomischen Gesamtrechnungen 2008 ist zu lesen, dass Ökosysteme wie die Atmosphäre, so wörtlich, Dienstleistungen für wirtschaftliche Aktivitäten zur Verfügung stellen. Das Verhältnis von Mensch und Natur wird also als Beziehung zwischen Dienstleister und Kunden gedacht. Das ist blanker Ökonomismus. Wenn man Schäden für Mensch und Natur nicht erschöpfend in Geld bewerten kann, dann bleibt die Abwägung eine Frage der Politik. Darüber muss öffentlich diskutiert und entschieden werden. Sie kann nicht an ein Expertengremium delegiert werden. Sie kann auch nicht an den Markt delegiert werden. Anhänger einer grünen Zu Protokoll gegebene Reden Marktwirtschaft argumentieren, dass der Markt zum richtigen Ergebnis führt, wenn alle Kosten in den Preisen berücksichtigt werden. Sie folgen damit der Theorie von Milton Friedman, einem der Begründer des Neoliberalismus, demzufolge der Markt eine demokratische Institution ist. Der Ansatz scheitert jedoch daran, dass nicht alle Schäden auf geldwerte Kosten reduziert werden können, ganz abgesehen von der Unsicherheit, was zukünftige Schäden betrifft. Dazu kommt der Verteilungseffekt dieses Ansatzes: In einer grünen Marktwirtschaft kann man sich Umweltverschmutzung leisten, wenn man nur genügend Geld hat. Die Alternative dazu sind politische Entscheidungen, bestimmte Produktionstechniken vorzuschreiben oder zu verbieten oder verpflichtende Grenzwerte zu setzen. Es kann nicht schaden, wenn sich der Sachverständigenrat oder die Wirtschaftsforschungsinstitute mit diesen Fragen beschäftigen und die Öffentlichkeit beraten. Solange sie jedoch an ihrer Marktgläubigkeit festhalten, werden ihre umweltpolitischen Empfehlungen kaum besser sein als ihre Wachstumsprognosen in jüngster Vergangenheit.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir befinden uns mitten in einer schweren Wirtschaftskrise, und wir befinden uns in einer noch schwereren Klimakrise. Inzwischen dürfte jedem klar geworden sein, dass diese Krisen zusammenhängen. Sie müssen darum auch zusammen gelöst werden. Wirtschaftliche Tätigkeit darf in Zukunft nicht mehr in derselben Weise auf Kosten des Klimas gehen wie heute. Eine nachhaltige und umwelt- bzw. klimaschonende Wirtschaft muss man gestalten. Zuvor aber muss man erfassen, welche Belastungen für Umwelt und Klima das Wirtschaften erzeugt. Wenn es um die Wirtschaft geht, gucken wir aber immer nur auf das Bruttoinlandsprodukt ({0}). Auch jetzt, in der Wirtschaftskrise, starren wir ängstlich auf die Zahlen. Um wie viel wird unsere Wirtschaft dieses Jahr schrumpfen? Um 4 Prozent? Um 5 Prozent? Das BIP misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen, abgeleitet aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, VGR. Es ist eine standardisierte Größe, die internationale Vergleichsmöglichkeiten bietet, und daher unverzichtbar. Das BIP pro Kopf wird im internationalen Vergleich als Wohlstandsindikator herangezogen. Je höher das BIP pro Kopf eines Landes, desto reicher ist das Land im Vergleich zu anderen. Weil das BIP so bequem zu handhaben ist, werden seine Schwächen gern übersehen. Die Höhe des BIP ist unabhängig davon, inwieweit bei der Wertschöpfung Kapital unwiederbringlich verbraucht wird. Das gilt auch für Ressourcen und Fläche. Die Kosten von Umweltzerstörung werden nicht angemessen erfasst, im Gegenteil. Werden Umweltschäden behoben, zum Beispiel indem kontaminierter Boden abgetragen und ersetzt wird, steigern die dabei anfallenden Kosten das BIP. So entsteht das Paradox, dass - zumindest in der Logik des BIP - die Zerstörung der Umwelt als wohlfahrtssteigernd gilt. Diese Schwächen des BIP sind seit langem bekannt. In seinem Jahresgutachten 1996/1997 hat der Sachverständigenrat bereits darauf hingewiesen. Er regte an, die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen, UGR, beim BIP zu berücksichtigen und in die Konjunktur- und Wachstumsanalyse einzubeziehen. Das ist aber in den folgenden Jahresgutachten nie geschehen. Wir haben mit den UGR bereits ein auf die VGR abgestimmtes System für die Umweltmessung. Diese Daten werden auch veröffentlicht, erfahren aber bei weitem nicht das Interesse, das dem BIP zukommt. Darum nehmen wir den Sachverständigenrat beim Wort und fordern genau das, was er vor über zwölf Jahren vorgeschlagen hat. Die Umweltnutzung und die Umweltbelastungen sollen ab sofort in die Konjunktur- und Wirtschaftsanalyse und in die Prognosen des Sachverständigenrats einbezogen werden. Dabei wird auf die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen. Die Ergebnisse werden Bestandteil der Gutachten des Sachverständigenrats. Auch in die Gemeinschaftsdiagnose soll die Umweltmessung einbezogen werden. Dazu muss in der Ausschreibung des Bundeswirtschaftsministeriums zur Gemeinschaftsdiagnose stehen, dass neben den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auch die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen einbezogen werden müssen. Die Umweltnutzung, Umweltbelastungen und ihre Veränderungen werden in die Konjunktur- und Wirtschaftsanalysen sowie Prognosen einbezogen. Damit würde das BIP relativiert, wir könnten zwischen ressourcenschonendem und zerstörerischem Wachstum unterscheiden. Auch wenn inzwischen theoretisch große Einigkeit darüber herrscht, dass CO2-armes Wirtschaften der einzig gangbare Weg aus den Krisen ist, so ist die Hörigkeit gegenüber dem BIP doch noch groß. Wenn wir das BIP aber ergänzen, werden in Zukunft bei der Bewertung von Wohlstand nicht mehr nur ein möglichst hohes BIP pro Kopf, sondern zum Beispiel auch eine Verringerung des CO2-Ausstoßes oder ein möglichst geringer Flächenverbrauch eine Rolle spielen. Die große Resonanz auf den Stern-Bericht „The Economics of Climate Change“ hat klargemacht, dass Zahlen ein Umdenken unterstützen und befördern können. Die Menschen wollen wissen, was Sache ist. Darum sollten wir auch bei den deutschen Veröffentlichungen zu Wohlfahrt und Wachstum nicht mehr auf die Umweltdaten verzichten - zumal wir bereits eine so gute Datenlage dazu haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11649 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ÄndeVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms rung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften - Drucksache 16/12256 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien Auch die Reden hierzu nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Wolf Bauer, CDU/CSU, Dr. Marlies Volkmer, SPD, Daniel Bahr, FDP, Dr. Martina Bunge, Die Linke, Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Staatssekretärs Rolf Schwanitz für die Bundesregierung.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bereits mit dem 14. Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes wurden im Wesentlichen europäische Vorgaben in nationales Recht umgesetzt. Inzwischen besteht allerdings darüber hinaus noch weiterer Handlungsbedarf. Diesem soll durch die 15. AMG-Novelle Rechnung getragen werden. Abgesehen davon ist die Novellierung durch kein zentrales Thema bestimmt. Denn betroffen ist nicht nur das Arzneimittelgesetz, sondern eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen, darunter - nur um einige zu nennen das Betäubungsmittelgesetz, die Arzneimittelpreisverordnung, das Sozialgesetzbuch V, das Krankenhausentgeltgesetz und viele andere mehr. In den ersten Gesprächsrunden stellte sich heraus, dass viele der angesprochenen Punkte konsensual sind; bei einigen noch Diskussionsbedarf besteht. Dieser soll ja nicht zuletzt auch durch eine Anhörung abgedeckt werden. Was das Arzneimittelgesetz betrifft, gilt es, europäische Vorgaben umzusetzen, die hauptsächlich die Arzneimittelsicherheit betreffen. Die Novellierung ist daher begrüßenswert, da sie dem Verbraucher, also dem Patienten, mehr Schutz und Sicherheit gewährt. So sind auch neben der erweiterten Anzeigepflicht bei Standardzulassungen ergänzende Regelungen zur Reduzierung von Arzneimittelfälschungen vorgesehen: Auch das ist ein Beitrag zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit. Einigkeit besteht sicherlich auch darüber, dass die Anpassungen sowohl im Bereich der Arzneimittel für neuartige Therapien als auch bei Kinderarzneimitteln dringend notwendig und geboten sind. Denn die zugrunde liegenden Verordnungen aus Europa gelten bisher unmittelbar. Auch wird hier die besondere Stellung der Kinderarzneimittel hervorgehoben. Denn oftmals besteht bei der Medikation von Kindern das Problem, dass keine speziell getesteten und zugelassenen Arzneimittel existieren. Dieser Umstand führt zu inadäquaten Dosierungsangaben, was bei Überdosierung das Risiko von Nebenwirkungen erhöht oder bei Unterdosierung zu einer unwirksamen Behandlung führt. Um unsere Kinder besser mit Arzneimitteln versorgen zu können, werden die Entwicklung neuer Arzneimittel gefördert, ihre Verfügbarkeit verbessert und der Zugang zu Informationen erleichtert. Ein weiterer grundsätzlicher Bestandteil der Anpassung des Arzneimittelgesetzes an Europarecht ist die Neudefinition des Arzneimittelbegriffes. Wenn bisher nationaler und europäischer Arzneimittelbegriff auch nicht wortgleich sind, kamen sie in der Anwendung doch in den häufigsten Fällen bei der Einordnung eines Arzneimittels zu den gleichen Ergebnissen. Kam bei der Anwendung beider Begriffe ein unterschiedliches Ergebnis heraus, legten unsere Gerichte den nationalen Arzneimittelbegriff bereits europarechtskonform aus. Auch hier dient die Neuregelung der rechtlichen Klarstellung und ist daher zu begrüßen. In diesem Zusammenhang soll eine „Zweifelsfall“-Regelung eingeführt werden. Diese Regelung soll nicht prüfen, ob nach der Definition ein Arzneimittel vorliegt, sondern eventuell auftretende Einordnungsproblematiken lösen. Denn in der Praxis kann es vorkommen, dass ein Erzeugnis sowohl unter die Definition Medizinprodukt als auch unter die Definition Arzneimittel fällt. Solche Erzeugnisse definiert die „Zweifelsfall“-Regelung als Arzneimittel, die damit den Vorschriften des Arzneimittelgesetzes unterliegen. Auch diese Novellierung ist zu begrüßen. Sie schafft Rechtsklarheit, auch wenn sie nationale Gerichte bereits in diesem Sinne anwenden. Eine weitere europäische Vorgabe betrifft die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln. Durch die Novellierung wird den pharmazeutischen Unternehmen und den Arzneimittelgroßhändlern ein öffentlicher Sicherstellungsauftrag für die Versorgung mit Arzneimitteln zugewiesen. Während bislang nur den Apotheken ein solcher Auftrag oblag, haben pharmazeutische Unternehmen und Arzneimittelgroßhändler nunmehr gemeinsam sicherzustellen, dass der Bedarf an Arzneimitteln für unsere Bevölkerung gedeckt wird. Hintergrund ist, dass Apotheken auf eine funktionierende Distribution und Lagerung von Arzneimitteln angewiesen sind. Gerade dies leisten aber pharmazeutische Unternehmen und die Arzneimittelgroßhändler. Die Novellierung kommt daher dem gestiegenen Bedürfnis der Patienten nach, Arzneimittel schnell verfügbar zu haben, und wirkt sich damit vorteilhaft für die Patienten aus. In diesem Zusammenhang wird über die europäische Vorgabe hinaus dem vollversorgenden Großhandel ein Belieferungsanspruch gegenüber dem pharmazeutischen Unternehmen eingeräumt. Das ist erforderlich, denn der Großhandel ist für die Arzneimitteldistribution im deutschen Gesundheitssystem unverzichtbar. Er ermöglicht eine zeitnahe und flächendeckende Belieferung der Apotheken auch in der entsprechenden Angebotstiefe. Um diese Funktion dauerhaft zum Wohle des Patienten gewährleisten zu können, benötigt der vollversorgende Großhandel den Belieferungsanspruch. Dabei wird jedoch, wie in der Diskussion im Vorfeld immer wieder angesprochen, der Vertriebsweg nicht festgelegt; der sogenannte Direktvertrieb ist den pharmazeu22886 tischen Unternehmen nicht verwehrt. Auch hat nicht jeder Großhandel automatisch einen Belieferungsanspruch. Nur der vollversorgende Großhandel, also der Großhandel, der über eine entsprechende Angebotstiefe seines Sortimentes verfügt, hat einen Anspruch auf Belieferung durch pharmazeutische Unternehmen. Zudem ist die Menge der abzugebenden Arzneimittel beschränkt. Der Anspruch richtet sich auf eine „bedarfsgerechte“ Belieferung. Dieser Bedarf kann anhand entsprechender Marktdaten des jeweiligen Vormonats zuzüglich eines Sicherheitszuschlages ermittelt werden. Wichtig dabei ist, dass eine „bedarfsgerechte“ Belieferung nur die Nachfrage auf nationaler Ebene betrifft. Der Export und der Zwischenhandel innerhalb der Europäischen Union sind davon nicht umfasst. In diesen Bereich fällt auch die Änderung der Großhandelsspanne. Dazu wird ein Arbeitsauftrag an das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft erteilt. Ein weiteres heftig diskutiertes Thema ist - wie könnte es anders sein - der Versand von Arzneimitteln und die damit verbundene Problematik der Pick-up-Stellen. Arzneimittelsicherheit, flächendeckende Versorgung und Verbraucherschutz sind hier Themen, die so gestaltet sein müssen, dass die daraus resultierenden hohen Anforderungen an die Abgabe von Arzneimitteln erfüllt werden. Ob das Pick-up-Stellen leisten können, ist mehr als fraglich. Das größte Problem hierbei ist, dass aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken Versandhandel und Pickup-Stellen nicht isoliert von einander betrachtet und einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden können. Wolfgang Zöller, unser stellvertretender Fraktionsvorsitzender, sagte dazu am 18. September 2008 hier im Plenum: „Deshalb setzen wir uns auch dafür ein, dass eine flächendeckende Versorgung nicht durch einen den Wettbewerb verzerrenden Versandhandel gefährdet wird. Pick-up-Stationen und Arzneimittelautomaten widersprechen den hohen qualitativen Anforderungen, die wir an die Abgabe von Arzneimitteln stellen.“ Diesbezüglich hat Wolfgang Zöller auch schriftlich signalisiert, dass wir die „Forderung von Bayern und Sachsen zur Rückführung des Versandhandels auf das europarechtlich notwendige Maß“ unterstützen. Die weitere Entwicklung und Bundesratsinitiativen bleiben abzuwarten. Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang sowohl das BMG als auch die ABDA ein Konzept für die Ausgestaltung von Pick-up-Stellen vorgestellt haben. Da keine Einigung über eine gemeinsame Formulierung erreicht worden ist, bleibt es wohl oder übel beim Status quo. Im Bereich des SGB V sieht die 15. AMG-Novelle eine ganze Reihe von wesentlichen Änderungen vor. Hier sind vor allem die Regelungen zum Krankengeld zu nennen und das Generieren eines Einsparpotenzials für die GKV bei den parenteralen Zubereitungen in der Onkologie. Auch hier bleibt es spannend, wie ein guter Weg gefunden wird, der einerseits die Qualität der Versorgung in den onkologischen Praxen und in unseren Krankenhäusern - stationär und ambulant - gewährleistet bzw. verbessert und andererseits die GKV um 300 Millionen Euro - wie im Entwurf dargestellt - entlastet. Wir haben also noch eine Menge Gesprächsbedarf zur 15. AMG-Novelle. Heute ist ihre erste Lesung. Für Anfang Mai 2009 ist eine Anhörung geplant. Anhand der Ergebnisse dieser Anhörung und mit allen dann vorliegenden Gutachten wird es uns - davon bin ich überzeugt gelingen, noch in dieser Legislaturperiode eine gute AMG-Novelle zu verabschieden.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute ein Gesetz, dessen Titel nur wenig über den Inhalt aussagt. Tatsächlich sollten ursprünglich mit der sogenannten 15. AMG-Novelle nur einige Anpassungen vorgenommen werden, die durch europäisches Recht und den Vollzug des Arzneimittelgesetzes notwendig geworden waren. Aber das Ende der Legislaturperiode naht: Die nächste Möglichkeit zu Gesetzesänderungen wird es frühestens im nächsten Jahr geben. Vor diesem Hintergrund ist der Umfang der Kabinettsvorlage beachtlich angewachsen. Deshalb werde ich mich auf einige ausgewählte Themen beschränken, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Mehrere Änderungen betreffen die Vertriebsstrukturen von Arzneimitteln. Die wichtigste Änderung an dieser Stelle ist die Übertragung eines öffentlichen Sicherstellungsauftrages an den pharmazeutischen Großhandel und die Arzneimittelhersteller. Die öffentlichen Apotheken sind auf eine kontinuierliche Belieferung mit Arzneimitteln und eine funktionierende Infrastruktur zur Verteilung und Lagerung angewiesen. Nach unserer Auffassung ist nur der herstellerneutrale Großhandel in der Lage, dies flächendeckend sicherzustellen. Damit der Großhandel den neuen Gemeinwohlauftrag erfüllen kann, erhält er durch das Gesetz einen Anspruch auf eine angemessene und kontinuierliche Belieferung durch die Hersteller. Tatsächlich sind in der Vergangenheit viele Unternehmen dazu übergegangen, Apotheken direkt mit Arzneimitteln zu beliefern und den Großhandel damit zu umgehen. Der Großhandel konnte dadurch in einigen Teilbereichen die Anfragen der Apotheken nicht mehr bedienen. Dazu kommt, dass die Vergütung des Großhandels bislang vom Preis des Arzneimittels abhängig ist. Da meist teure Arzneimittel von den Herstellern direkt in die Apotheken geliefert werden, zum Beispiel biotechnologisch hergestellte Medikamente, wurden dem Großhandel erhebliche Umsätze entzogen. Die Industrie hat vielfach beklagt, durch eine solche Regelung würde es ihr unmöglich, Apotheken auch weiterhin direkt zu beliefern. Dies ist nicht der Fall: Hersteller können auch weiter an Apotheken direkt liefern, aber nicht ausschließlich. Es ist an der Apotheke zu entscheiden, ob sie die Arzneimittel direkt beim Hersteller bestellen oder lieber über den Großhändler beziehen möchte. Es ist sachgerecht, dass der Apotheker über den Vertriebsweg entscheidet und nicht der Hersteller. Zu Protokoll gegebene Reden Noch einmal zurückkommen möchte ich auf die Vergütung des Großhandels, die, wie bereits erwähnt, an die Arzneimittelpreise gekoppelt ist. Zwei gleichzeitig auftretende Effekte haben die Mischkalkulation der Großhändler in eine Schieflage gebracht: Auf der einen Seite werden, wie erwähnt, den Großhändlern teure Präparate durch den Direktvertrieb entzogen. Auf der anderen Seite sinken durch unsere Reformmaßnahmen - zum Wohl der Versicherten und der gesetzlichen Krankenversicherung die Preise für Generika. Der Großhandel kann aber seine Aufgabe auf Dauer nur dann erfüllen, wenn er eine leistungsgerechte und auskömmliche Vergütung erhält. Deshalb soll die Großhandelsvergütung in der Arzneimittelpreisverordnung neu gestaltet werden. Festgelegt wird allerdings nur, dass das Gesundheitsministerium und das Wirtschaftsministerium einen Vorschlag vorlegen, der zum 1. Januar 2010 in Kraft treten soll. Der Vorschlag soll die Großhandelszuschläge auf einen preisunabhängigen Fixbetrag zuzüglich eines prozentualen Zuschlags für die Logistikleistung umstellen. Derzeit wird noch über die Höhe des Fixbetrages diskutiert. Auf keinen Fall darf die Umstellung der Vergütung zu einer Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung und damit der Versicherten führen. In der Öffentlichkeit viel beachtet wurden die Änderungen, die den Krankengeldanspruch für Selbstständige betreffen. Bekanntlich wurden mit der letzten Gesundheitsreform Wahltarife zur Absicherung des Krankengeldanspruchs für hauptberuflich Selbstständige, unständig und kurzzeitig Beschäftigte eingeführt. Seit dem 1. Januar 2009 müssen die Krankenkassen solche Tarife anbieten. Bei der Umsetzung hat sich allerdings gezeigt, dass vor allem ältere Versicherte von der Regelung benachteiligt werden. Deshalb erhalten die genannten Personengruppen künftig wieder die Möglichkeit, wie normale Arbeitnehmer einen Krankengeldanspruch gegen Zahlung des allgemeinen Beitragssatzes ab der siebten Woche der Arbeitsunfähigkeit abzusichern. Aber auch der Abschluss von Wahltarifen bleibt möglich. Differenzierungen nach dem individuellen Risiko der Versicherten, also Altersabstaffelungen, oder Differenzierungen nach dem Geschlecht oder Krankheitsrisiko der Versicherten sollen aber künftig nicht mehr zulässig sein. Viel diskutiert werden auch die Regelungen zur Abrechnung von onkologischen Rezepturen. Im Sinne einer Gleichbehandlung unterschiedlicher Arzneimittel und Darreichungsformen ist es, dass auch bei Infusionen, die unter anderem bei der Krebs- oder Rheumatherapie angewandt werden, Rabatte und Einkaufsvorteile von den Apotheken an die Krankenkassen weitergegeben werden. Damit können die gesetzlichen Krankenkassen erheblich entlastet werden. Ohne an dieser Stelle ins Detail gehen zu wollen: Wir werden genau darauf achten, dass die Änderungen in der Praxis umsetzbar sind. Die Sicherstellung der flächendeckenden und wohnortnahen Versorgung der Krebspatienten darf durch die Neuregelungen nicht gefährdet werden. Im Interesse privat krankenversicherter Krebskranker ist eine andere Maßnahme im Zusammenhang mit onkologischen Zubereitungen. Bisher verlangen die Apotheken für die Abgabe neben einem Rezepturzuschlag einen Zuschlag von 90 Prozent auf den Einkaufspreis der Apotheke. Ein solcher Zuschlag ist gerechtfertigt, wenn zum Beispiel eine einfache Salbe angefertigt werden muss. Bei teuren Krebsmedikamenten ist das anders: Aufwand und Preis stehen hier in einem krassen Missverhältnis. Hier sind in der Vergangenheit Patienten, Beihilfeträger und private Krankenversicherungen finanziell massiv belastet worden. Die gesetzliche Krankenversicherung darf Regelungen über Einkaufspreise, Fest- und Rezepturzuschläge vereinbaren, die von der Arzneimittelpreisverordnung abweichen. In Zukunft soll unter anderem auch die private Krankenversicherung derartige Vereinbarungen treffen dürfen. Wenn eine solche Vereinbarung nicht vorliegt, soll auf die Vereinbarungen der gesetzlichen Krankenversicherung zurückgegriffen werden können. Es gäbe noch viele Themen zu besprechen, was mir aus Zeitgründen nicht möglich ist. Deshalb möchte ich Sie auf die anstehenden Ausschussberatungen und die öffentliche Anhörung verweisen.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die 15. AMG-Novelle beschäftigt sich nur zu einem kleinen Teil mit arzneimittelrechtlichen Fragen. Sie wird darüber hinaus von der schwarz-roten Regierung genutzt, um alle möglichen Reparaturen in diversen Gesetzen und Verordnungen vorzunehmen. Erstaunlicherweise betrifft das auch ein Gesetz, das erst zum 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, also vor noch nicht einmal drei Monaten, nämlich das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz. Aber das ist ja nichts Neues. Es beweist wieder einmal, mit welch heißer Nadel die Koalition ihre Gesetze strickt, unbeeindruckt davon, dass sie damit Chaos und Unruhe schafft und viel zu viele Ressourcen für Reparaturarbeiten vergeudet werden. Was den arzneimittelrechtlichen Bereich anbelangt, möchte ich nur zwei Beispiele herausgreifen. Das eine ist der öffentliche Sicherstellungsauftrag für den Arzneimittelgroßhandel. Ohne hier eine vorschnelle Wertung vornehmen zu wollen, verwundert es doch, dass diejenigen, die kontinuierlich den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen unterhöhlt haben, nun einen solchen für den Großhandel schaffen wollen. Fraglich ist in dem Zusammenhang auch, ob man dem Großhandel einen Belieferungsanspruch einräumen muss. Es mag ordnungspolitisch sinnvollere Wege geben, wie man sicherstellen kann, dass Patienten mit den Arzneimitteln versorgt werden können, die sie benötigen. Das alles werden wir in der Anhörung im Gesundheitsausschuss noch einmal ausführlich diskutieren müssen. Beispiel Nummer zwei: die Versorgung mit patientenindividuellen Rezepturen. Da frage ich mich, warum überhaupt eine Änderung vorgenommen werden soll. Die aktuelle Regelung, dass solche patientenindividuellen Rezepturen von der Zulassungspflicht ausgenommen sind, hat bisher doch nicht zu irgendwelchen Problemen geführt. Warum dies nunmehr auf Zytostatika und Lösungen für die parenterale Ernährung beschränkt werden soll, vermag von daher nicht einzuleuchten. Es gibt andere Erkrankungsformen, bei denen ebenfalls solche patientenindividuellen Rezepturen notwendig sind, wie zum Zu Protokoll gegebene Reden Daniel Bahr ({0}) Beispiel die Mukoviszidose oder die zystische Fibrose. Ich habe nirgendwo eine Begründung gelesen, warum man diese Indikationen anders behandeln sollte als onkologische Erkrankungen. Darüber hinaus gibt es aber weitere Punkte, zum Beispiel im Krankenhausbereich. Das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz war nicht exakt genug gefasst. Das hat zu Meinungsschwierigkeiten darüber geführt, ob bei Verhandlungen der Landesbasisfallwerte 2009 die krankenhausindividuellen Basisfallwerte des Jahres 2008 zugrunde gelegt werden oder ob die vereinbarten Landesbasisfallwerte die Grundlage bilden sollen. Die Klarstellung im Gesetz ist deshalb vom Grundsatz her zu begrüßen. Allerdings muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist, dies schon für das Jahr 2009 so vorzugeben und nicht erst für die Zeit ab 2010. Bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens werden in vielen Ländern die Verhandlungen bereits abgeschlossen sein. Eine Rückabwicklung kann niemand allen Ernstes wollen. Es gibt ein weiteres Gesetz, bei dem eine Änderung notwendig ist, weil die entsprechenden Regelungen einfach schlecht gemacht waren. Das ist das sogenannte GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, mit dem insbesondere für selbstständig Versicherte mit Wirkung ab dem 1. Januar 2009 Wahltarife zur Absicherung des Krankengeldanspruches eingeführt und gleichermaßen der Anspruch auf Absicherung des Krankengeldes im Rahmen der „normalen“ Krankenversicherung herausgenommen worden ist. Hier rächt sich, dass man keine klare, saubere Lösung gefunden hat. Entweder belässt man den Krankengeldanspruch in der Versicherung oder man löst ihn heraus mit der Konsequenz, dass jeder, der das absichern möchte, dies privat tun kann und dann auch sicher ist, dass er seinen Anspruch behält. Will eine gesetzliche Krankenversicherung ihren Versicherten ein Gesamtangebot unterbreiten, kann sie entsprechende Kooperationen mit privaten Anbietern eingehen. Darüber hinaus hätte man selbstverständlich für eine Übergangsregelung für diejenigen sorgen müssen, die aufgrund ihres Lebensalters oder ihres Krankheitsrisikos mit besonders hohen Prämien zu rechnen hatten. All das hat die Regierung versäumt. Stattdessen will die Regierung jetzt einen Wahltarif der gesetzlichen Krankenkassen schaffen, der keine Alters- und Risikostaffelungen vorsehen darf, und will zudem die Möglichkeit einräumen, über einen Zuschlag das Krankengeldrisiko im Rahmen der „normalen“ Verträge abzusichern. So etwas führt zwangsläufig zu Risikoselektion. Die Zeche all dieser Reparaturarbeiten, die wiederum schlecht ausgeführt werden, zahlen die Bürger.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften wird die Umsetzung der EU-Verordnungen 1901/2006 und 1394/2007 zum Anlass genommen, ein komplexes Sammelsurium von Gesetzesänderungen vorzulegen. Das erscheint nachvollziehbar, ist es doch eine der letzten Möglichkeiten für die Bundesregierung, erforderliche Änderungen auf den Weg zu bringen. Allerdings sagt es viel über die Arbeitsweise der Bundesregierung aus, dass wieder einmal Fehler früherer Gesetzesänderungen korrigiert werden müssen. Zu den zahlreichen erst kürzlich beschlossenen und in Kraft getretenen Regelungen, die präzisiert, zurückgenommen oder ausgeführt werden, gehört beispielsweise die Änderung zum Krankengeld, die gerade zum 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist. Hier zeigt sich der mangelnde Weit- und Überblick dieser Regierung. Hier fehlt es an einer klaren Linie und an klaren Zielen. Dabei soll nicht vergessen werden, dass durch solche Schnellschüsse auch Kosten entstehen. Mir liegen Schreiben von Krankenkassen vor, die zu Recht die Kosten für die Entwicklung und Kalkulation von Wahltarifen zum Krankengeld beklagen, die nun nicht mehr gebraucht werden. Betrachte ich diese Gesetzesvorlage, bin ich mir ziemlich sicher, dass auch die hier vorgeschlagenen Regelungen zum Teil nur eine geringe Halbwertzeit aufweisen werden, wenn sie so beschlossen werden. Die vorgelegten Regelungen zum Krankengeld sind nur teilweise eine Lösung für die Probleme, die durch die kürzlich in Kraft getretenen Gesetzesänderungen entstanden sind. Es gibt zahlreiche Kritikpunkte. Die Beibehaltung eines Wahltarifs als einer freiwilligen Absicherung wird beispielsweise zweifellos dazu führen, dass gerade geringverdienende Selbstständige sich diesen Aufwand nicht leisten werden oder können. Damit werden im Krankheitsfall Transferleistungen notwendig, also Kosten nur verschoben. Vielen selbstständigen Frauen dürfte es auch nicht bekannt sein, dass am Wahltarif für Krankengeld auch das Mutterschaftsgeld hängt. Dies wird letztlich auch auf die noch ungeborenen Kinder zurückfallen. Wir brauchen ein bezahlbares Krankengeld für alle. Die geplanten Regelungen in den §§ 129 und 129 a SGB V sollen dazu beitragen, dass die Preiskalkulation von Apotheken und Krankenhausapotheken bei der Zubereitung von Fertigarzneimitteln für die Krebsbehandlung klarer wird und die Krankenkassen auch von niedrigen Einkaufspreisen profitieren. Wenn man sich in diese Logik hineinbegibt, ist die Regelung logisch. Allerdings sollte dabei berücksichtigt werden, dass weiterhin Anreize für die Krankenhäuser und Apotheken bestehen bleiben müssen, Arzneimittel günstig einzukaufen bzw. herzustellen. Ansonsten entstehen den Krankenkassen eher Mehrkosten und die Versorgungsstruktur mit onkologischen Arzneimitteln wird gefährdet. Die Bundesregierung stärkt auch den Pharmagroßhandel. Das ist zu begrüßen. Damit ist sichergestellt, dass alle Medikamente flächendeckend und schnellstmöglich an die Apotheken und damit an die Patientinnen und Patienten geliefert werden können. Der Entwurf der Regierung beinhaltet die Verpflichtung der Hersteller, den Großhandel zu beliefern, und des Großhandels, die Versorgung der Apotheken sicherzustellen. Zudem wurde mit der Einführung eines preisunabhängigen Fixzuschlags die Vergütung für den Großhandel angepasst. Dies soll dafür sorgen, dass sich auch der Vertrieb niedrigpreisiger Arzneimittel lohnt. Damit scheint ein Schritt in die richtige Richtung vollzogen zu werden. Fraglich bleibt, wie der zunehmenden Monopolbildung im Großhandel entgeZu Protokoll gegebene Reden gengewirkt werden kann. Diese wird ansonsten auf Dauer zu Versorgungs- und Kostenproblemen führen. Im Gesetzentwurf sind also Verbesserungen vorgesehen; einige wünschenswerte und lange überfällige Verbesserungen fehlen jedoch. Wenn es schon die Arbeitsweise dieser Bundesregierung ist, Gesetze mit zahllosen Regelungen anzureichern und mit nachfolgenden Gesetzesänderungen vorherige Gesetze zu korrigieren, dann sollte sie dies wenigstens konsequent fortführen. So konnte sich die Bundesregierung nicht durchringen, endlich Regelungen zum Versandhandel mit Arzneimitteln zu erlassen. Nicht zuletzt aufgrund des sogenannten dm-Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2008 besteht aus unserer Sicht Handlungsbedarf. Die Linke will eine patientennahe, sichere und rasche Arzneimittelversorgung auf lange Sicht flächendeckend sicherstellen. Die unabhängige und umfassende Beratung in den Apotheken soll daher weiter ausgebaut werden. Den Versandhandel nur auf rezeptfreie Arzneimittel zu beschränken, kann unseres Erachtens hierzu einen wichtigen Beitrag liefern. Einen entsprechenden Antrag hat meine Fraktion Die Linke in den Bundestag eingebracht. Diese Änderung könnte hier ganz leicht eingefügt werden. Ebenso verpasst die Bundesregierung die Chance, eine weitere Korrektur ihrer Politik bei der Hilfsmittelversorgung vorzunehmen. Es hat sich gezeigt, dass die Ausschreibungen genau zu den Problemen geführt haben, die meine Fraktion bei der Einführung der Ausschreibungen mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz befürchtet hatte. Die niedrigsten Preise bestimmen die Ausschreibungen, und die Notleidenden sind die Patientinnen und Patienten, die weder wohnortnah noch qualitativ hochwertig versorgt werden. Die Auswirkungen fehlender Qualität bekommen derzeit beispielsweise zahlreiche Menschen zu spüren, die auf Inkontinenzartikel angewiesen sind. Als fehlend sind weiterhin zu benennen: der Abbau der überstarken Belastung geringverdienender Selbstständiger durch Krankenkassenbeiträge oder die Sicherung der vollständigen Versorgung für Personen, die mit Krankenkassenbeiträgen im Rückstand sind. So aber bleibt dieser Gesetzentwurf trotz einiger guter Ansätze hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bereits die Überschrift dieses Gesetzespaketes macht deutlich, dass wir es nicht mit einer der üblichen Arzneimittelgesetznovellen zu tun haben. Normalerweise würden wir von der 15. AMG-Novelle sprechen, aber der Omnibus ist so vollgeladen, dass dies sogar in der Überschrift deutlich werden muss. Aus dem Kontext des Arzneimittelrechtes will ich zwei Aspekte aufgreifen: den Großhandel und die Definition anthroposophischer Arzneimittel. Der Sicherstellungsauftrag zur flächendeckenden Vollversorgung mit Arzneimitteln soll auf den Großhandel und die pharmazeutischen Unternehmen ausgeweitet und eine Lieferverpflichtung von Pharmaherstellern eingeführt werden. Ergänzend soll die Arzneimittelpreisverordnung geändert werden. Für uns Grüne stellen sich die Fragen: Sind diese Maßnahmen notwendig? Sind sie auch in Zukunft tragfähig oder werden Strukturen zementiert und der Wettbewerb verschiedener Vertriebswege verzerrt? Sinnvoll und konsequent erscheint uns die Ersetzung der prozentualen und damit preisabhängigen Großhandelszuschläge durch einen Fixbetrag plus ergänzenden prozentualen Zuschlag. Systematisch knüpft dies an die Umstellung der Apothekenzuschläge an und würde die tatsächlichen Distributionsleistungen des Großhandels realistischer abdecken als das bestehende System. Dies darf, wie vorgeschlagen, nicht zu zusätzlichen Belastungen der Krankenkassen und somit der Versicherten führen. Diese Umstellung kann jedoch auch ohne die Einführung des erweiterten Sicherstellungsauftrags geschehen; die Verknüpfung, die die Bundesregierung aufstellt, leuchtet nicht ein. Die Erweiterung des Sicherstellungsauftrages auf den Großhandel sehen wir kritisch. Ist dies ein Schutzschirm über den Großhandel, der bereits jetzt eher oligopolistisch strukturiert ist? Ver- oder behindert der Vorschlag nicht die Entwicklung neuer veränderter Strukturen in der Arzneimitteldistribution? Bereits die Umstellung der Preisverordnung dürfte Auswirkungen auf die Konkurrenz zwischen Direktvertrieb und Großhandel haben; der Anreiz zum Direktvertrieb hochpreisiger Medikamente wird sinken. Warum zum jetzigen Zeitpunkt darüber hinausgehende Regelungen notwendig sein sollten, erschließt sich uns nicht. Es ist begrüßenswert, dass nun auch anthroposophische und nicht nur homöopathische und pflanzliche Arzneimittel definiert werden. Warum jedoch im Gegensatz zu den dortigen Definitionen nicht nur die Entwicklung und Herstellung gemäß der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis, sondern auch die Anwendung nach diesem Ansatz Bestandteil der Definition sein soll, ist nicht nachvollziehbar. Aus den weiteren 17 Artikeln möchte ich noch zwei Aspekte aus dem SGB V aufgreifen: Das Krankengeld und die ambulante Versorgung psychisch kranker Kinder. Positiv zu bewerten ist die Einsicht der Bundesregierung, dass die mit der Gesundheitsreform eingeführte Neuregelung des Krankengeldes für Selbstständige sowie unständig oder kurzzeitig Beschäftigte korrigiert werden muss. Die vorgeschlagenen Regelungen - Anspruch auf gesetzliches Krankengeld - scheinen jedoch, wie sich aus der massiven Kritik von Betroffenen als auch der Krankenkassen schließen lässt, zu kurz gesprungen. Gerade für die Gruppe der unständig Beschäftigten fehlen die notwendigen Verbesserungen. Die Krankenkassen nach wenigen Monaten zu einem völlig neu zu kalkulierenden Wahltarif zu verpflichten, von dem nicht abzuschätzen ist, ob er überhaupt angenommen wird, fällt eher in die Kategorie „überflüssig“. Der Unterausschuss „Arzneimittel“ des Gesundheitsausschusses des Bundesrats fordert zu Recht, die Wahltarife von einer Muss- in eine Kannbestimmung zu ändern. Zu Protokoll gegebene Reden An den massiven Problemen der Fortführung der Sozialpsychiatrievereinbarung, die wir in den letzten Monaten erlebten, zeigt sich einmal mehr, welche negativen Folgen die Einführung des Gesundheitsfonds nach sich zieht. Der Vorschlag der Bundesregierung, die SPV für alle Krankenkassen einheitlich zu regeln, wird von uns Grünen sehr begrüßt. Im Gesetzgebungsprozess sollten wir jedoch intensiv erörtern, ob diese Regelung ausreicht. Aus Baden-Württemberg wird mir berichtet, dass Krankenkassen die Regelungen so interpretieren, dass sie nur die sozialpädiatrische Diagnostik übernehmen wollen und die Kinder und Jugendlichen zur Therapie an die Jugendhilfe verwiesen werden sollen. Dies entspricht aus meiner Sicht nicht dem Wunsch des Gesetzgebers und sollte klargestellt werden. Ebenso notwendig ist es, dass die Krankenkassen Übergangsregelungen bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes abschließen.

Rolf Schwanitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002123

Der von der Bundesregierung heute eingebrachte Entwurf für ein Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften enthält im Wesentlichen Anpassungen des Arzneimittelgesetzes an europäische Verordnungen und an Erfahrungen aus dem Vollzug. Mit dem Gesetzentwurf wird die Arzneimittelsicherheit weiter verbessert. Zudem werden so weit wie möglich Verfahrenserleichterungen für die Arbeit der Behörden und der Unternehmen geschaffen. Der Gesetzentwurf enthält neben den Änderungen des Arzneimittelgesetzes Änderungen anderer Gesetze, insbesondere des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Wesentliche Anpassungen im Arzneimittelgesetz gehen auf zwei EG-Verordnungen zurück: die Verordnung über Arzneimittel für neuartige Therapien und die über Kinderarzneimittel. Arzneimittel für neuartige Therapien unterliegen grundsätzlich der europäischen Verordnung. Zu den Arzneimitteln für neuartige Therapien zählen zum Beispiel biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte, die in der regenerativen Medizin angewendet werden. Soweit solche Arzneimittel nicht routinemäßig, sondern individuell für einzelne Patientinnen und Patienten hergestellt werden, unterliegen sie nicht den Zulassungsregelungen der EU-Verordnung. Deshalb sollen im Arzneimittelgesetz ähnliche Qualitäts- und Sicherheitsstandards geschaffen werden, wie sie auch in den Fällen routinemäßiger, also industrieller Herstellung im Rahmen der EU-Verordnung erfüllt werden müssen. Damit werden der Zugang der Patientinnen und Patienten zu diesen Arzneimitteln und zugleich ein hohes Qualitäts- und Sicherheitsniveau gewährleistet. Hinsichtlich der Verordnung über Kinderarzneimittel sind im AMG insbesondere Bußgeldbewehrungen und Klarstellungen zur Kennzeichnung vorgesehen. Nach der Föderalismusreform ist es möglich und aus Gründen der Arzneimittelsicherheit auch erforderlich, die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes auch auf solche Arzneimittel auszudehnen, die nicht dazu bestimmt sind, in Verkehr gebracht zu werden. Damit werden auch insbesondere solche Arzneimittel erfasst, die von der Ärztin oder vom Arzt zur Anwendung an den eigenen Patientinnen und Patienten selbst hergestellt werden. Zur weiteren Erhöhung der Arzneimittelsicherheit dient die Regelung des Anwendungsverbotes bedenklicher Arzneimittel. Einen wichtigen Beitrag zu mehr Arzneimittelsicherheit leisten die Regelungen zum Schutz vor Fälschungen. Hier werden insbesondere die derzeit für Arzneimittel geltenden Vorschriften auch auf Wirkstoffe zur Arzneimittelherstellung ausgedehnt. Schließlich enthält der Entwurf Ergänzungen zur klinischen Prüfung im Interesse des Schutzes der Probanden und der Arzneimittelentwicklung. Damit auch in Zukunft die flächendeckende Arzneimittelversorgung für die Patientinnen und Patienten gewährleistet ist, erhalten der Großhandel und der pharmazeutische Unternehmer einen Sicherstellungsauftrag für die Arzneimittelversorgung der Patientinnen und Patienten. Hierfür ist es notwendig, dass der vollversorgende Großhandel einen gesetzlichen Belieferungsanspruch gegenüber der Pharmaindustrie erhält, damit er seiner Verantwortung nachkommen kann. Darüber hinaus wird der Verordnungsgeber verpflichtet, die Großhandelsspannen neu zu gestalten. Die Änderungen im Betäubungsmittelgesetz dienen im Wesentlichen der Anpassung an Regelungen und Änderungen im Arzneimittelgesetz und in anderen Vorschriften. Für Patientinnen und Patienten bei klinischen Prüfungen und „Compassionate Use“ ist eine Ausnahme von der betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnispflicht vorgesehen. Damit werden die ({0})Ärztinnen und ({1})Ärzte und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte von unnötigem bürokratischen Aufwand entlastet. Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs bleiben in gleichem Maße gewährleistet. Lassen Sie mich nun kurz die wichtigsten Änderungen der Gesetze benennen, die nicht im Zusammenhang mit den Änderungen des Arzneimittelgesetzes stehen: Besonders hervorzuheben sind die Änderungen im SGB V, insbesondere die Änderungen zum Krankengeld: Das GKVWettbewerbsstärkungsgesetz hat für bestimmte Versichertengruppen mit Wirkung ab 2009 Wahltarife zur Absicherung des Krankengeldanspruchs eingeführt. Damit wurden flexible Angebote für die Versicherten ermöglicht. Bei der Umsetzung der Vorgaben durch die Krankenkassen hat sich allerdings gezeigt, dass die gesetzlichen Vorgaben zur Vermeidung von ungerechtfertigten Belastungen, vor allem bei älteren Versicherten, und zur Verwaltungsvereinfachung angepasst werden müssen. Versicherte, die einen Krankengeldanspruch nach den Regelungen des GKV-Wettbewerbstärkungsgesetzes seit 1. Januar 2009 allein über einen Wahltarif absichern konnten, erhalten deshalb künftig wieder die zusätzliche Option, wie Arbeitnehmer gegen Zahlung des allgemeinen Beitragssatzes einen „gesetzlichen“ Krankengeldanspruch ab der siebten Woche der Arbeitsunfähigkeit abzusichern. Daneben ist auch weiterhin der Abschluss von Wahltarifen möglich. Auch über den „gesetzlichen“ Zu Protokoll gegebene Reden Anspruch hinausgehende Absicherungswünsche können weiterhin über Wahltarife realisiert werden. Entgegen der bisherigen Praxis vieler Krankenkassen sind künftig aber Differenzierungen nach dem individuellen Risiko der Versicherten, insbesondere also Altersstaffelungen, nicht mehr möglich. Eine weitere wichtige Änderung im SGB V ist die Regelung zur Sicherung der Fortführung der Versorgung mit Leistungen der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung. Aufgrund von Kündigungen der Sozialpsychiatrie-Vereinbarungen durch Krankenkassen ist bei den betroffenen Ärztinnen und Ärzten, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den betroffenen Patientinnen und Patienten sowie deren Familien erhebliche Unsicherheit entstanden, da die Finanzierung nichtärztlicher Leistungen im Rahmen sozialpädiatrischer und psychiatrischer Tätigkeit zur Disposition gestellt wurde. Um die Sorge über die Fortführung der Versorgung mit Leistungen der So-zialpsychiatrie-Vereinbarung zu beenden, wird gesetzlich klargestellt, dass die Krankenkassen für diese Leistungen eine angemessene Vergütung vereinbaren müssen und dass das Nähere hierzu im Bundesmantelvertrag zu vereinbaren ist. Hervorheben möchte ich die Änderungen im SGB V zur Abrechnung parenteraler Zubereitungen. Apotheken, die Arztpraxen mit Infusionen und anderen parenteralen Zubereitungen versorgen, sollen künftig offenlegen, wo sie die Arzneimittel eingekauft haben, aus denen die Zubereitung hergestellt worden ist. Das verbessert die Arzneimittelsicherheit. Außerdem sollen die Einkaufsvorteile für Infusionsarzneimittel weitergeleitet werden. Rabatte sollen nicht in der Vertriebskette versickern. Das Geld soll in die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten fließen. Die Apotheken erhalten auch die Möglichkeit, künftig die Einkaufspreise für Arzneimittel zur Herstellung von Infusionen frei zu vereinbaren. Dies verbessert die Wirtschaftlichkeit und stärkt die ortsnahe Versorgung durch Apotheken. Der Gesetzentwurf enthält auch die Regelungen zur elektronischen Gesundheitskarte. Im Zusammenhang mit ihrer Einführung hat sich aus unterschiedlichen Gründen Anpassungsbedarf für gesetzliche Regelungen ergeben. Um den Arbeitsabläufen in der Praxis Rechnung zu tragen, soll in Zukunft neben den Leistungserbringern auch deren Praxispersonal befugt sein, die Einwilligung der Versicherten zum Speichern ihrer Daten mittels der elektronischen Gesundheitskarte zu dokumentieren. Darüber hinaus wird klargestellt, dass auch die ambulant tätigen Krankenhäuser von den bestehenden Finanzierungsregelungen erfasst sind. Zusätzlich werden die bereits bestehenden umfangreichen Aufgaben des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik detaillierter im Gesetz geregelt. Die gesetzlichen Anpassungen sind erforderlich, um die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte weiter zu unterstützen. Der Entwurf enthält ein ganzes Bündel wichtiger Maßnahmen, nicht zuletzt wegen der europarechtlichen Bezüge müssen wir den Entwurf rasch umsetzen. Lassen Sie uns daher nun konzentriert und intensiv im Ausschuss über den Entwurf beraten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12256 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({0}), Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts ({1}) - Drucksache 16/5596 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir nehmen die Reden der Kolleginnen und Kollegen Daniela Raab, CDU/CSU, Christine Lambrecht, SPD, Jörg van Essen, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke, Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Am 19. Dezember 2008, also vor genau vier Monaten, habe ich zuletzt über dieses Thema geredet. Ich habe schon damals wiederholt gesagt, dass ich gar nicht wissen will, wie oft wir schon wegen dieser Thematik hier zusammengekommen sind. Diesmal fordert die Fraktion der Grünen also erneut eine vollständige Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe in Bezug auf die Adoptionsrechte. Sie begründet dies unter anderem mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli 2002 und den Inhalten des Europäischen Übereinkommens vom 24. April 1967 zur Kindesadoption. Leider muss ich Ihnen auch heute wieder mitteilen, dass insbesondere im Bereich der Adoption keinerlei Zustimmung vonseiten der Union zu erwarten ist. Wir sind weiterhin gegen ein volles Adoptionsrecht für Lebenspartnerschaften und somit gegen ein erneutes „Heranrücken“ an die Ehe. Wir haben der Stiefkindadoption zugestimmt, was schon ein großer Schritt war. Außerdem kann auch ein Lebenspartner, dessen Partner ein adoptiertes Kind hat, nach § 9 LPartG zur Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens, die das Kind betreffen, befugt sein. Er ist bei Gefahr im Verzug nach § 9 Abs. 2 LPartG ebenfalls berechtigt, zum Wohl des Kindes auch allein zu handeln. Sie liefern also keine neue Basis, die eine gemeinsame Adoption eines Kindes durch Lebenspartner auf eine solide, sozialwissenschaftlich gesicherte Tatsachengrundlage stellen würde und bei der das Kindeswohl im Vordergrund steht. Das vom BMJ ins Leben gerufene Forschungsvorhaben zur Situation von Kindern in Lebenspartnerschaften und Lebensgemeinschaften von Menschen gleichen Geschlechts ist weder abgeschlossen, noch gibt es erste Erkenntnisse. Daher werden wir von der Union uns auch weiterhin gegen diese Möglichkeit aussprechen. Grundsätzlich ist festzuhalten: Klar ist für mich persönlich - und da spreche ich für viele meiner Kollegen -: Eine völlige Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft streben wir nicht an und sie ist auch nicht geboten! Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es dem Gesetzgeber wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes grundsätzlich nicht verwehrt, diese gegenüber anderen Lebensgemeinschaften zu begünstigen. Das bedeutet nicht etwa eine Schlechterstellung oder Benachteiligung der Lebenspartnerschaften, aber eine Andersbehandlung.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute in erster Lesung den von der Fraktion der Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts. Hier vorgesehen ist die Angleichung der Lebenspartnerschaft an die Ehe im Adoptionsrecht und die Ermöglichung einer gemeinsamen Adoption für eingetragene Lebenspartnerschaften. Derzeit ist es für Homosexuelle nur möglich, ein Kind als Einzelperson anzunehmen, da nur Verheirateten die Möglichkeit offen steht, gemeinschaftlich ein Kind anzunehmen. Ein erster Schritt in die Richtung, dies zu ändern, war die Stiefkindadoption, die seit 2005 möglich ist. Ein Blick zurück zeigt, dass wir seit der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes 2001 durch die rot-grüne Koalition viel erreicht haben, jedoch leider noch nicht die vollständige Gleichstellung mit der Ehe. Das Bundesverfassungsgericht hat die Gleichstellung mit der Ehe durch sein Urteil vom 17. Juli 2002 vom Grundsatz her bestätigt. Unter anderem steuerrechtlich oder im Beamtenrecht behandelt das Gesetz Lebenspartner aber noch immer nicht gleich. Hier haben wir noch eine Menge zu tun, ich gehe aber acht Jahre nach dem Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes davon aus, dass wir trotz der Widerstände einiger konservativer Kräfte die Vollendung der Gleichstellung mit der Ehe doch noch erreichen können. Das von der rot-grünen Koalition 2004 verabschiedete Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts glich weiterhin die Rechte und Pflichte in der Lebenspartnerschaft denen in der Ehe so weit wie möglich an. Es wurde im Zuge dessen auch ein kleines Adoptionsrecht, die Stiefkindadoption leiblicher Kinder der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners eröffnet. So ist es durch die Stiefkindadoption seit Beginn 2005 erstmals möglich in Deutschland, dass zwei Mütter oder zwei Väter rechtlich als Elternpaar anerkannt werden. Die gemeinschaftliche Annahme bleibt aber Ehepaaren vorbehalten. Aufgrund des Verbotes von Kettenadoptionen kann ein adoptiertes Kind auch nicht durch weitere Personen adoptiert werden. Die Stiefkindadoption ist für die Paare an strenge Voraussetzungen geknüpft. Die Adoption ist mit allen Konsequenzen endgültig. Verwandtschaftsbeziehungen zum leiblichen Elternteil, auch die unterhaltsrechtlichen und erbrechtlichen Ansprüche an die leiblichen Verwandten des Kindes sind mit der Annahme vollständig aufgehoben. Ist zu erwarten, dass zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-KindVerhältnis entsteht, so eröffnet die Stiefkindadoption die Möglichkeit, das Kind rechtlich besser in der Familie abzusichern. Sie muss beim Vormundschaftsgericht beantragt werden. Der Antrag ist notariell zu beurkunden. Einbezogen wird auch das Jugendamt, das vom Vormundschaftsgericht beauftragt wird, zu prüfen, ob die beabsichtigte Adoption, wie selbstverständlich, dem Wohle des Kindes dient und zu erwarten ist, ob zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht. Das Jugendamt überprüft dabei die Beziehung zu dem Stiefelternteil sowie die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Lebenspartner wie bei heterosexuellen Paaren auch. Der Weg zur Stiefkindadoption ist also schon jetzt nicht einfach. Laut Untersuchungen leben in Deutschland mindestens 13 000 Kinder bei homosexuellen Paaren. Oft stammen diese Kinder aus vorangegangenen Beziehungen, immer öfter werden Kinder aber auch via Samenspende hineingeboren. Das von dem Gesetzentwurf der Grünen vorgesehene Recht eingetragener Lebenspartner, gemeinschaftlich ein Kind anzunehmen, bedeutet nach der Stiefkindadoption einen neuen Schritt. Abzuwarten bleibt, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz dafür entwickelt. Selbstverständlich haben wir uns wie immer an den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen zu orientieren. Der rechtliche Rahmen für Ehe, Lebenspartnerschaften und Familie muss zeitgemäß sein und den Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Für die Änderungen des Adoptionsrechts müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Sicherlich kann sich gerade im Fall von Pflege- und Adoptivkindern ein gesellschaftliches Bedürfnis für eine gemeinschaftliche Adoption dieser Kinder durch gleichgeschlechtliche Paare durchsetzen. Dass die Paare selbstbewusst zu ihrer Lebensweise stehen, wurde von den Adoptionsvermittlungsstellen, die Erfahrungen mit homosexuellen Paaren hatten, als positiv für die Entwicklung der Kinder beurteilt. Es bleibt aber noch abzuwarten, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz nach der Einführung der Stiefkindadoption weiterentwickelt. Voreilige Schlüsse verbieten sich bei diesem Thema. Die anstehenden Beratungen geben Gelegenheit, über die offenen Fragen zu beraten.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich freue mich darüber, dass die langjährige Forderung der FDP, auch gleichgeschlechtlichen Paaren ein gemeinsames Adoptionsrecht einzuräumen, mittlerweile auch in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mehrheitsfähig ist. Nur zu gut erinnere ich mich an die kontroversen Diskussionen aus der 14. und 15. Wahlperiode über dieses Thema. Die FDP-Bundestagsfraktion hat als erste Fraktion überhaupt 2004 einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht, der neben Regelungen im Sozialhilfe-, Einkommen- und Erbschaftsteuerrecht auch ein gemeinsames Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartner vorgesehen hat. Diese Initiative ist damals leider an der Mehrheit von Rot-Grün gescheitert. Auch in den Reihen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gab es erhebliche Widerstände gegen ein gemeinsaZu Protokoll gegebene Reden mes Adoptionsrecht. Die damalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer erklärte dazu im Oktober 2004 im Deutschen Bundestag, sie teile die Befürchtung, dass die Stiefkindadoption als Türöffner genutzt werden könnte, um langfristig das volle Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare zu erleichtern. Mit der Adoption gehe es aber nicht um Emanzipationsbestrebungen oder um Statusfragen von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen, sondern allein um die Frage des Kindeswohls, so Frau Vollmer. Im gleichen Jahr schrieb sie im „Tagesspiegel“, sie sei davon überzeugt, dass die Erfahrung des Lebens mit einem weiblichen und einem männlichen Elternteil für Kinder im Grundsatz produktiv und gut sei. Kinder wollen einen Vater und eine Mutter, so Frau Vollmer. Darüber hinaus hat sich die rot-grüne Koalition in den vorangegangenen Jahren ständig hinter dem Europäischen Adoptionsabkommen versteckt und behauptet, das Abkommen stünde einem gemeinsamen Adoptionsrecht von homosexuellen Menschen in Deutschland entgegen. Die FDP-Bundestagsfraktion war von dieser Argumentation nie überzeugt, insbesondere im Hinblick auf das gemeinsame Adoptionsrecht in den Niederlanden. Nunmehr räumen auch die Grünen in ihrem vorliegenden Gesetzentwurf ein, dass das Abkommen der Einführung eines gemeinschaftlichen Adoptionsrechts für gleichgeschlechtliche Lebenspartner nicht entgegensteht. Die Einsicht kommt zwar spät, aber besser als nie. Die FDPBundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass in dieser wichtigen Frage mittlerweile auch bei Bündnis 90/Die Grünen ein Umdenken stattgefunden hat. Der Gesetzgeber hat in der 15. Wahlperiode die Stiefkindadoption für Lebenspartner eingeführt. Für die FDPBundestagsfraktion war dies ein Schritt in die richtige Richtung, aber letztendlich auch nicht mehr als nur eine halbherzige Lösung. Nach Auffassung der FDP ist RotGrün mit dieser Initiative auf halbem Weg stehen geblieben. In Deutschland leben schätzungsweise weit mehr als 10 000 Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Die Tatsache, dass Kinder mit zwei Bezugspersonen aufwachsen, die dem gleichen Geschlecht angehören, ist daher in Deutschland keine Seltenheit, sondern vielmehr Ausdruck einer Lebensform, die in der Gesellschaft anerkannt und akzeptiert ist. Homosexuelle Menschen haben bereits heute das Recht, als Einzelperson ein Kind zu adoptieren. Darüber hinaus werden gleichgeschlechtliche Paare seit Jahren von den Jugendämtern verstärkt als Pflegeeltern angeworben, weil sich ihre Erziehungskompetenz in besonderer Weise bewährt hat. Ausschlaggebend für eine Adoption muss alleine das Kindeswohl sein. Ein Kind hat gute Entwicklungschancen in einer stabilen und gefestigten Beziehung. Es dient gerade in besonderer Weise dem Kindeswohl, wenn das Kind zwei Bezugspersonen hat, die beide Verantwortung für das Kind und seine Erziehung übernehmen. Im Interesse der Stabilität von Familienstrukturen und Verantwortungsgemeinschaften und insbesondere im Interesse der betroffen Kinder hält die FDP-Bundestagsfraktion es daher für zwingend geboten, auch gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit einer gemeinsamen Adoption zu eröffnen. In einem Antrag zur Adoption von Kindern, den wir in dieser Woche in den Bundestag eingebracht haben, bekräftigen wir diese Forderung erneut. In einer Anhörung des Rechtsausschusses vom vergangenen Jahr haben die dort anwesenden Experten aus dem Bereich des Familienrechts übereinstimmend erklärt, dass Unterschiede im Hinblick auf die Entwicklung zwischen Kindern in gleichgeschlechtlichen Familien und Kindern in heterosexuellen Familien nicht vorliegen. Die Sachverständigen haben vorgetragen, dass praktisch vergleichbare Entwicklungsbedingungen für Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften bestehen. Alle Vorurteile, die in früheren Jahren gegen die Erziehungskompetenz von gleichgeschlechtlichen Paaren vorgetragen wurden, sind durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen klar widerlegt worden. Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen daher unterstützen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Als Präsident Obama am 20. Januar sein Amt antrat, ließ er auf der Homepage des Weißen Hauses seine politischen Ziele veröffentlichen. In diesen turbulenten Zeiten beschränkte er sich nicht auf Statements zur größten Wirtschafts- und Finanzkrise seit 1929, sondern betonte auch die Unterstützung der Lesben- und Schwulenbewegung: Präsident Obama meint, dass wir die Adoptionsrechte für alle Paare und Einzelpersonen gewährleisten müssen, ohne Rücksicht auf die sexuelle Orientierung. Er denkt, dass das Wohl eines Kindes von einem gesunden und liebevollen Heim abhängt und nicht davon, ob die Eltern schwul/lesbisch sind oder nicht. Demgegenüber haben wir in Deutschland eine rückständige Situation. Beispielhaft für die Auseinandersetzung ist die Aussage der CSU-Abgeordneten Daniela Raab. Sie sprach am 19. Dezember im Plenum des Bundestages zum Stand der Gleichstellung von Ehe und eingetragener Partnerschaft: „Solange die Union an der Regierung beteiligt ist, wird es eine vollständige Gleichstellung nicht geben.“ Dies heißt für die CDU/CSU, dass sie ein Adoptionsrecht für lesbische und schwule Paare verhindern will. Während der Präsident der Vereinigten Staaten das Adoptionsrecht erweitern will, kommt die CDU/CSU zur gegenteiligen Schlussfolgerung und möchte das Adoptionsrecht lesbischen und schwulen Paaren in jedem Fall verwehren. Wie kommt es zu dieser strikten Ablehnung? „In dieser Frage darf es keine Kompromisse geben. Denn anders als bei der rechtlichen Ausgestaltung der Lebenspartnerschaften sind hier nicht nur die Interessen der Betroffenen tangiert, sondern in erster Linie die der Kinder, die staatlichen Schutz benötigen.“ So die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Recht zur Klausurtagung der CDU/ CSU am 28. Mai 2008. Worum geht es hier eigentlich? In Deutschland können sich erwachsene Menschen frei entscheiden, wie sie zusammenleben. Zwei Rechtsinstitute stehen zur Verfügung, die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft, um Zu Protokoll gegebene Reden das Zusammenleben rechtlich abzusichern. Es existieren viele familiäre Konstellationen: die Groß- und Kleinfamilie, alleinerziehende Väter und Mütter, Drei-Generationen-Familien, die Patchwork-Familie und vieles mehr. Entscheidend für die Kinder ist, dass sie Liebe und Zuneigung erfahren. Der rechtliche Rahmen sollte für Erwachsene und Kinder so dynamisch sein, dass das Wohl und die Rechte für alle gewährleistet sind. Kinder haben das Recht auf Umgang mit ihren biologischen Eltern, aber im Falle des Falles auch mit ihren sozialen Eltern. Das Sorge-, Umgangs-, Unterhalts- und eben auch das Adoptionsrecht bilden den rechtlichen Rahmen. In Deutschland wachsen etwa 13 000 Kinder bei gleichgeschlechtlichen Paaren auf. Stellen sie sich ein schwules Paar vor, Herrn Schön und Herrn Stark. Dieses möchte gerne gemeinsam ein Kind großziehen und es daher gemeinsam adoptieren, um die Verantwortung gemeinsam zu tragen. Doch nach geltendem Recht wird dem Paar eine gemeinsame Adoption verweigert. Die Konsequenz: Herr Stark adoptiert das Kind, Roland, allein. Doch nach 14 Jahren gemeinsamer Partnerschaft, fürsorglicher Erziehung und gemeinsamer Fürsorge des Kindes trennt sich Herr Schön von Herrn Stark. Die Beziehung geht im Streit auseinander. Roland hat nun nur Rechte gegenüber Herrn Stark, nicht aber gegenüber Herrn Schön. Und Herr Schön muss sich das gemeinsame Umgangsrecht mühsam erstreiten. Beim Unterhalts- und beim Erbschaftsteuerrecht ist Roland gegenüber anderen Adoptivkindern benachteiligt. Soll dies im Interesse des Kindeswohls sein? Mit der Möglichkeit der Stiefkindadoption, die seit 1. Januar 2005 besteht, wurde ein weiterer Schritt zum Wohle des Kindes in einer Lebenspartnerschaft gegangen. Nun ist es an der Zeit, das Kindeswohl vollständig zu beachten. Frau Bundesministerin Zypries, bitte geben Sie nicht noch eine Studie zur Situation von Kindern bei gleichgeschlechtlichen Paaren in Auftrag, lassen Sie uns endlich die Gleichstellung zwischen hetero- und homosexuellen Paaren vollziehen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU: Rüsten sie endlich ideologisch ab. Meine Damen und Herren von der SPD: Handeln sie im Inte-resse der Kinder. Lassen sie uns dem Antrag der Grünen zustimmen - im Interesse der Kinder. Kinder verdienen es, gleich behandelt zu werden.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zu Beginn erlauben Sie mir, Ihnen eine gute Nachricht von unserem nördlichen Nachbarland zu verkünden. Bereits gestern wurde ein Gesetz vom Parlament in Kopenhagen beschlossen, nach dem das Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartnerschaften eröffnet wurde. Angesichts der Tatsache, dass die Dänen mit dem Institut der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften schon 20 Jahre Erfahrung haben, kann man ihnen wohl vertrauen, dass sie das Richtige tun. Das Grundgesetz schützt in Art. 6 Abs. 1 die Familie. Um diesen Schutz gewährleisten zu können, muss das Familienrecht sich wandelnden familiären Lebensformen gerecht werden. In Deutschland wachsen bereits in jeder achten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft Kinder auf. Nach bestehender Rechtslage ist eingetragenen Lebenspartnerinnen oder Lebenspartnern anders als Eheleuten eine gemeinsame Adoption dennoch nicht möglich. Mit dem Gesetz zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts will die Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen die bestehende Benachteiligung nun korrigieren. Im Mittelpunkt unserer Familienpolitik steht immer das Wohl des Kindes. Bei den in Lebenspartnerschaften lebenden Kindern handelt es sich um eigene Kinder, aber auch um gemeinsame Pflegekinder oder Adoptivkinder einer Partnerin oder eines Partners. Obwohl zwei Erziehungspersonen für das Kind sorgen, werden die Kinder durch fehlende Ansprüche gegenüber den faktischen Eltern nach dem geltenden Unterhalts- oder Erbrecht benachteiligt. Gegenüber gemeinschaftlich adoptierten Kindern verheirateter Eltern fehlt ihnen die doppelte Sicherheit. Auch im Alltag erfahren Kinder in solchen Familien Nachteile durch die fehlende rechtliche Anerkennung als Familie. Diese Diskriminierung ist hinsichtlich des Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich, da der Schutz der Familie und das Wohl des Kindes die rechtliche Absicherung dieser faktischen Eltern-Kind-Beziehungen gebieten. In der politischen Diskussion vorgetragene Befürchtungen, das Aufwachsen in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften füge Kindern seelische und psychische Schäden zu und führe zu Entwicklungsstörungen, sind wissenschaftlich nicht haltbar. Alle vorliegenden Studien legen nahe, dass kein nennenswerter Unterschied zum Leben in Familien mit verschiedengeschlechtlichen Eltern auszumachen ist. Eine Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung kann der aktuellen Forschung nach nicht festgestellt werden. In zahlreichen Kommunen berichten Jugendämter über ihre guten Erfahrungen mit schwulen und lesbischen Pflegeeltern. Auch die positiven Meldungen aus Schweden, dem Vereinten Königreich, Spanien, Belgien und den Niederlanden, wo die Möglichkeit der gemeinschaftlichen Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare bereits eingeführt ist, widerlegen die ohnehin empirisch nie belegten Vorbehalte. Und reden Sie sich nicht mit der Studie, die vom Bundesministerium der Justiz im Auftrag gegeben wurde, heraus. Die liegt schon dem Ministerium längst vor und belegt, dass es keine sachlichen Gründe gegen Gleichberechtigung eingetragener Lebenspartnerschaften im Adoptionsrecht gibt. Und auch dem Bundesverfassungsgericht wird die Auskunft verweigert, obwohl es schon öfters nach den Ergebnissen der Studie gefragt hatte. Niemand hat ein Recht auf ein Kind. Kinder haben vielmehr ein Recht auf Liebe, Fürsorge, Aufmerksamkeit und Geborgenheit. All dies können sie bei gleichgeschlechtlichen Eltern grundsätzlich in gleicher Weise erfahren wie bei verschiedengeschlechtlichen Paaren. Lesben und Schwule sind genauso verantwortliche Eltern wie andere Menschen auch. Ein genereller Ausschluss vom gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit von Lesben und Schwulen zur Kindererziehung aus ideologischen Gründen pauschal infrage. Diese willkürliche Diskriminierung ist sachlich nicht gerechtfertigt und schadet dem Kindeswohl, indem es die Stigmatisierung bereits beZu Protokoll gegebene Reden Volker Beck ({0}) stehender Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern fördert und den Kreis der am besten geeigneten Adoptiveltern künstlich verknappt. Ob eine Adoption im konkreten Fall dem Wohl des Kindes dient, muss bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften genauso wie bei Ehepaaren jeweils im Einzelfall der sachkundigen Entscheidung des Vormundschaftsgerichts überlassen bleiben. Und beenden möchte ich meine Rede ebenso mit einer guten Nachricht, die allerdings vom Mai letzten Jahres kommt. Damals verabschiedete das Ministerkomitee des Europarats die revidierte Fassung des Übereinkommens über die Adoption von Kindern von 1967, nach der das Adoptionsrecht auf gleichgeschlechtliche Ehepaare bzw. Lebenspartner ausgeweitet werden kann. Dies zeigt, dass auf der europäischen Ebene die Vorurteile gegenüber homosexuellen Eltern keine Mehrheiten mehr finden. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn auch der deutsche Gesetzgeber die Gleichstellung der Lebenspartnerinnen und Lebenspartner mit den Ehegatten im Bereich des Adoptionsrechts beschließen würde. Im Übrigen rufe ich die Bundesregierung auf, der Ratifizierung der zeitgemäßen Fassung des Übereinkommens nicht mehr entgegenzustehen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/5596 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anordnung des Zensus 2011 sowie zur Änderung von Statistikgesetzen - Drucksache 16/12219 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Die Reden dazu nehmen wir ebenfalls zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Kristina Köhler, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD, Gisela Piltz, FDP, Petra Pau, Die Linke, Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit Stichtag 3. November 2008 gab es 12 987 543 Rindviecher in Deutschland, davon 632 in Berlin. Wir wissen also genau, wie viele Rindviecher welchen Alters wo in Deutschland leben. Wenn wir jedoch genau wissen wollen, wie viele Menschen in Deutschland leben, dann müssen wir leider feststellen, „nichts Genaues weiß man nicht“. Es gibt keine exakten Daten über Umfang und Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland. Genaue, nach sozio-demografischen Strukturmerkmalen differenzierbare Bevölkerungszahlen sind aber die wesentliche Grundlage für viele politische und wirtschaftliche Planungen, ebenso wie für die wissenschaftliche Forschung. Wie viele Kindergartenplätze braucht eine Gemeinde? Wie viele Schulen und wie viele Altenheime? Ist das neue Krankenhaus notwendig? Alles Fragen, die sich nur auf der Basis verlässlicher Bevölkerungsdaten beantworten lassen. Gleiches gilt für die Einteilung von Bundestagswahlkreisen oder für den Finanzausgleich zwischen den Ländern. Wahlkreise dürfen in ihrer Größe nicht zu sehr voneinander abweichen, sonst kann theoretisch sogar die Wahl angefochten werden. Und im Länderfinanzausgleich geht es um viel Geld, hier fällt jeder Einwohner mit rund 2 000 Euro ins Gewicht. Wenn man das weiß und wenn man weiß, dass die amtliche Einwohnerzahl in rund 50 Rechtsvorschriften eine wichtige Bemessungsgrundlage darstellt, dann wird deutlich, wie wichtig auch hier verlässliche Zahlen sind. Ein solides Datenmaterial ist also die Voraussetzung für gute Politik. Wir können die notwendigen Veränderungsprozesse nur dann gestalten, wenn wir über ein angemessenes Bild der Wirklichkeit unserer Gesellschaft verfügen. So weit, denke ich, sind wir uns alle einig. Ich weiß aber auch, dass manch einer bezweifelt, dass wir zum Einblick in diese Wirklichkeit überhaupt einen Zensus brauchen. Eines ist richtig: Natürlich haben wir bereits Bevölkerungszahlen. Aber diese Zahlen basieren auf Fortschreibungen der Volkszählung von 1987 in der Bundesrepublik Deutschland und von 1981 in der DDR. Eine erste Testerhebung zur Vorbereitung des Zensus hat gezeigt, wie dramatisch dabei die Abweichungen der Hochrechnungen zu den tatsächlichen Zahlen sein dürften: Die aktuellen Bevölkerungszahlen dürften zurzeit um mindestens 1,3 Millionen überhöht sein. Das Ausländerzentralregister weist 600 000 weniger Ausländerinnen und Ausländer auf als die Bevölkerungsfortschreibung. Von mancher Seite aus kommt auch der Einwand, man bräuchte deshalb keinen umfänglichen Zensus, weil man ja den regelmäßigen Mikrozensus habe. Dieser diene ja gerade dazu, in regelmäßigen und kurzen Abständen Strukturdaten über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt zu gewinnen. Der Glaube, dass der Mikrozensus den großen Zensus ersetzen könne, ist jedoch - auch nur einzelne Merkmale betreffend - aus statistischer Sicht ein Trugschluss. Der Mikrozensus ist eine Repräsentativstatistik. Dass heißt, er basiert ausschließlich auf einer Stichprobe. Eine verlässliche Stichprobe kann man aber nur dann ziehen, wenn man die Grundgesamtheit kennt. Ich kann eben nur dann sagen, dass die von mir ausgewählte Gruppe repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ist, wenn ich zugleich auch weiß, wie sich die Gesamtbevölkerung - also die Grundgesamtheit - zusammensetzt. Und diese Grundgesamtheit hat sich seit den letzten Zählungen 1987 bzw. 1981 ziemlich verändert. Diese Veränderung lässt sich mit reinen Fortschreibungen eben nicht verlässlich erfassen, wie die Abweichungen beim Zensustest gezeigt haben. Hier wieder die Wirklichkeit als Basis zu haben, genau darum geht es auch im großen Zensus. Deshalb kann der Mikrozensus den Zensus nicht ersetzen. Kristina Köhler ({0}) Im Gegenteil: Ohne eine regelmäßige Gesamterhebung sind die Ergebnisse des Mikrozensus nicht verlässlich! Deshalb brauchen wir den Zensus 2011 und deshalb werden wir uns an der Zensusrunde der Europäischen Union beteiligen. Dabei sage ich im Übrigen auch ganz offen: Aus meiner Sicht war es ein Fehler, dass man im Jahr 2000 die Zensusrunde der EU nicht mitgemacht hat. Ich bin froh, dass dieses Mal die Volkszählung von fast allen Seiten in einem sehr konstruktiven Rahmen begleitet wird. Dass sich die Proteste gegen den Zensus in Grenzen halten, hat aber sicherlich auch damit zu tun, dass sich die Methode des Zensus 2011 grundsätzlich von einer traditionellen Volkszählung unterscheiden wird. Es wird keine umfangreiche Befragung aller Haushalte geben. In erster Linie werden bestehende Register genutzt, vor allem die Melderegister der Kommunen und die Daten der Bundesagentur für Arbeit. Nur um Ungenauigkeiten zu erkennen und um solche Daten zu erhalten, für die es - wie etwa im Falle des Bildungsabschlüsse - keine bundesweiten Verwaltungsdaten gibt, wird im Jahr 2011 ein kleiner Teil der Bevölkerung direkt von Interviewern befragt werden. Wir reden hier von circa 7 bis 8 Prozent. Außerdem werden die rund 17,5 Millionen Eigentümer und Verwalter von Wohnraum schriftlich befragt werden, da es bundesweit keine Register zur Wohnraumversorgung gibt. Dieser Zensus ist also, wenn Sie so wollen, ein „minimalinvasiver Zensus“. Das nun vorliegende Gesetz zum Zensus 2011 werden wir intensiv beraten. Aus dem Deutschen Bundestag kommt selten etwas wieder so raus, wie es reingekommen ist. Das wird wohl auch mit diesem Gesetz nicht anders sein. Dabei gibt es einige diskussionswürdige Vorschläge zur weiteren Verbesserung des Zensus 2011. Dazu gehört etwa die Forderung, das Merkmal „Migrationshintergrund“ in die Stichprobenbefragung aufzunehmen. Da haben wir nämlich genau das Problem, dass der zwar im Mikrozensus erhoben wird, wir aber die Grundgesamtheit nicht kennen. Oder es gibt die Forderung des Bundesrates, das Merkmal „Religionszugehörigkeit“ in die Stichprobe aufzunehmen. Auch diesen Vorschlag prüfen wir zurzeit sehr sorgfältig. Dann gibt es noch weitere Vorschläge vor allem der Länder und Kommunen zur Frage der Optimierung der Genauigkeit der Daten. Auch diese Vorschläge werden wir uns natürlich genau anschauen. Grundsätzlich gilt natürlich bei allen Verbesserungsvorschlägen, dass auch sie sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben orientieren müssen, die das Bundesverfassungsgericht uns in seinem Volkszählungsurteil auferlegt hat. An diese strengen Maßgaben wollen und werden wir uns auch halten, ebenso wie wir uns strikt an einem optimalen Datenschutz und an einer optimalen Datensicherheit orientieren werden. Ich bin froh, dass es auf allen Seiten die Bereitschaft gibt, dieses wirklich komplexe Werk „Zensus 2011“ zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Die Große Koalition im Bundestag und auch der Bundesrat sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Wir brauchen dieses Zensusgesetz, weil wir den Zensus brauchen. Mein besonderer Dank an dieser Stelle gilt den Mitarbeitern des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden und den Mitarbeitern der Statistischen Landesämter für ihre schon jetzt hervorragende Arbeit bei der Vorbereitung des Zensus 2011. Die Methode des nun geplanten registergestützte Zensus wurde von ihnen in jahrelanger Arbeit entwickelt. Erlauben Sie mir diese Anmerkung als Soziologin: Sie haben hier eine Pionierarbeit geleistet, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann! Vielen Dank!

Maik Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

1981 wurde in der damaligen DDR, 1987 in der damaligen BRD die letzte Volkszählung durchgeführt. In ziemlich genau zwei Jahren wird es in der EU eine Volks- und Gebäudezählung geben. Die beteiligten Länder werden diesen Zensus auf unterschiedliche Weise durchführen. Nachdem die letzten Volkszählungen 1981 und 1987 auf konventionelle Weise, das heißt durch die Befragung aller Bürger, abliefen, soll es 2011 erstmals einen registergestützten Zensus geben. Dies entlastet die Bürger von allen großen und zeitraubenden Auskunftspflichten. Es bringt uns aber auch, und darauf werde ich noch näher eingehen, bisher vollkommen neue Fragen und Probleme auf den Tisch, unter anderem auch deshalb, weil zur Feststellung der bevölkerungsstatistischen Angaben nicht mehr alle Bürgerinnen und Bürger befragt werden sollen. Die aktuellen Bevölkerungszahlen in Bund, Ländern und Kommunen sind teilweise mit großen Unsicherheiten behaftet. In der Anhörung vom September 2007 bekamen wir zur Genauigkeit bzw. zur Richtigkeit mancher Register sehr deutliche Aussagen der Gutachter. Genauere Zahlen sind notwendig. Wenn wir schon durch eigene Schätzung davon ausgehen, dass 1,3 bis 1,5 Millionen Menschen weniger als geglaubt in Deutschland leben - also nicht die 82 Millionen, von denen wir heute sprechen -, so ist das eine Abweichung von etwa 1,8 Prozent. Es handelt sich eben nur um Schätzungen. Zuverlässige Bevölkerungszahlen sind auch als Berechnungsgrundlage für den Länderfinanzausgleich und den kommunalen Finanzausgleich notwendig. Die zum Zensusstichtag festgestellten Einwohnerzahlen bilden die Grundlage für die Bevölkerungsfortschreibungen. Sie wirken sich aber auch auf etwa 50 Rechtsvorschriften aus, für die die amtliche Einwohnerzahl als wichtige Bemessungsgrundlage dient. Betroffen sind noch weitere Bereiche, zum Beispiel die Festlegung von Wahlkreisen zu Bundes- oder Landtagswahlen, die Bundesratsstimmen, die Berechnung von Sitzen bis in die Vertretungen kommunaler Gebietskörperschaften sowie die auf Einwohnerzahlen basierenden Finanzzuweisungen. Wir brauchen also dringend eine solche neue Zählung. Dass der Zensus notwendig ist, darin sind wir uns einig. Dass wir ihn registergestützt machen, das ist neu. Aber auch da stimmen wir überein. In der EU wird dies ja sehr unterschiedlich gehandhabt. Um jedoch bundesweit eine einheitliche Qualität erreichen zu können, werden wir - und dies deutet die Stellungnahme des Bundesrates zum vorliegenden Gesetzentwurf bereits an - noch weiter auf spezifische Besonderheiten so mancher GebietskörZu Protokoll gegebene Reden perschaft eingehen müssen. So bestätigte die Evaluation im letzten Jahr die bereits im Vorfeld des Vorbereitungsgesetzes befürchteten Probleme, ländliche Strukturen und Besonderheiten von Großstädten statistisch homogen abbilden zu können. Berlin beispielsweise würde laut Bundesrat in seiner Struktur vollkommen unscharf abgebildet werden, da hier, wie wir als Bundestagsabgeordnete bestens wissen, nach Bezirken verwaltet und regiert wird. Dementsprechend werden bevölkerungsstatistische Daten auch bezirksweise erhoben und weiterverarbeitet. Ein weiteres zu beachtendes Thema sind die ländlichen Strukturen, unter anderem in Rheinland-Pfalz. Wie die dort zuständigen Verantwortlichen zu bedenken geben, werde eine Mindesterhebungsgrenze bei Gebietskörperschaften von 10 000 Einwohnern 95 Prozent der Gemeinden nicht statistisch abbilden können. Inwiefern dies sinnvoll ist, wird in der weiteren Diskussion zu hinterfragen sein. In der Anhörung vom September 2007 wurde auch die Einheitlichkeit der Erhebung deutlich hervorgehoben. Vor allem die Länder sind darauf eingegangen. Das vorliegende Gesetz ermöglicht ja einige Abweichungen in den Ländern. Inwieweit dies zu unterschiedlichen Ergebnissen, die auf nicht vergleichbarer Basis erhoben worden sind, führt, wird ebenfalls zu prüfen sein. Eines will ich aber deutlich sagen: Es muss Rechtssicherheit gegeben sein. Ich bin mir aber sicher, dass es sich hierbei um durchaus lösbare Probleme handelt. Denn nicht nur der Bund, sondern auch die Länder sind sehr stark am Zensusergebnis interessiert. Wenn man sich all dies vor Augen führt, dann blickt man natürlich auch auf die verbleibende Zeit. Millionen von Daten werden bewegt und zusammengeführt. Das machen nicht nur Computer, das müssen auch Menschen machen. Ende 2010 wird das Anschriften- und Gebäuderegister einsatzfähig sein. Und ich gehe davon aus, dass zu diesem Zeitpunkt auch alle beteiligten Institutionen und Ämter einen Datensatz erstellen können, der unseren hohen Ansprüchen an Vergleichbarkeit und Datenqualität gerecht wird und uns für den Zensusstichtag am 9. Mai 2011 die notwendigen Ergebnisse und Zahlen liefern wird. Diese millionenfache Datenverarbeitung und deren Vorbereitung braucht Zeit. Die Bundesregierung hat im Bundeshaushalt die Weichen gestellt. Die Erhöhung der Haushaltsmittel des Statistischen Bundesamtes um 16 Millionen Euro, beginnend mit dem Haushaltsjahr 2008, resultiert zu etwa drei Vierteln aus dem Zensus, den wir 2011 erstellen werden. Dafür wurden und werden etwa 60 Stellen, teilweise zeitlich befristet, eingerichtet. Auch die Länder haben ihre Hausaufgaben bereits umfassend gemacht. Der Entwurf der Bundesregierung sieht eine Umsetzung der EU-Vorgaben 1:1 vor. Vonseiten der Kirchen sind wir in Briefen bzw. in persönlichen Gesprächen auf das fehlende Merkmal „Religionszugehörigkeit“ hingewiesen worden. Wir werden in der weiteren Diskussion auch darauf unser Augenmerk zu lenken haben. Meine Fraktion wird sich mit den Empfehlungen des Bundesrates konstruktiv auseinandersetzen. Schließlich ist es unser gemeinsames Interesse, ein unanfechtbares, effektives Gesetz auf den Weg zu bringen und damit allen Beteiligten ein funktionsfähiges Instrument an die Hand zu geben. Es soll auch für europäische Kollegen Vorbild sein.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP-Bundestagsfraktion hatte zum Zensusvorbereitungsgesetz in ihrem Entschließungsantrag einige zentrale Forderungen im Hinblick auf das Anordnungsgesetz dargelegt. An diesen ist der nun vorgelegte Gesetzentwurf aus unserer Sicht zu messen. Bevor ich auf die Einzelheiten des Gesetzentwurfs eingehe, möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass die FDP-Bundestagsfraktion den Ansatz eines registergestützten Zensus begrüßt und unterstützt. Damit wird die notwendige Erhebung valider Daten für statistische Zwecke, die unerlässliche Grundlage für staatliches Handeln sind, datenschutzfreundlich ermöglicht. Der registergestützte Zensus bietet grundsätzlich die Chance, die für die Funktionsfähigkeit des Staates erforderliche Datenerhebung mit dem grundrechtlich garantierten Schutz personenbezogener Daten in Einklang zu bringen. Schon im Entschließungsantrag zum Zensusvorbereitungsgesetz hatte die FDP-Bundestagsfraktion die Beschränkung auf wenige Merkmale und Register begrüßt. Nur so kann dem Volkszählungsurteil von 1983 Rechnung getragen werden. Nun stehen wir aber - wie es fast zu erwarten war - vor der Situation, dass die Forderungen immer zahlreicher werden, was noch alles aufgenommen werden sollte. Da kommen die Kommunen mit der Forderung nach Erhebung der Höhe des Mietzinses und der Nebenkosten. Da kommen die Kirchen mit der Forderung nach Erhebung der Religionszugehörigkeit. Das sind alles interessante Fragen. Es gibt für alle diese Punkte auch gute Gründe, warum für diesen oder jenen im Gemeinwesen notwendigen oder wünschenswerten oder auch nur angenehmen Zweck diese oder jene Datenerhebung und -auswertung sinnvoll wäre. Ich warne aber ausdrücklich davor, die anstehenden Beratungen zu einem Wunschkonzert zu machen. Wir müssen bei all den an uns schon herangetragenen oder noch kommenden Forderungen sehr genau hinsehen, ob das wirklich im Rahmen dieser Datenerhebung notwendig und erforderlich ist. Wir dürfen nicht den Fehler machen, dass wir am Ende mit einem Bauchladen an neuen Merkmalen und Registern herauskommen - und damit genau die Balance zwischen Datenerhebung und Datenschutz nicht mehr stimmt. Ein Problem, das die FDP-Fraktion schon 2007 beim Zensusvorbereitungsgesetz angesprochen hatte, ist mit dem Zensusanordnungsgesetz nicht gelöst. Die Vorgehensweise bei der Vorbereitung und Durchführung des Zensus in Bund, Ländern und Kommunen muss einheitlich gestaltet sein. Valide und vor allem auch gerichtsfeste Statistiken, die dann zum Beispiel über den Finanzausgleich, die Zuweisung von Fördermitteln oder Ähnliches entscheiden, kann man nicht gewinnen, wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht und dabei natürlich eigene Interessen verfolgt. Denn es geht dabei ja um Geld, um viel Geld. Dieses Problem ist mit dem vorliegenden Zu Protokoll gegebene Reden Gesetzentwurf nicht gelöst. Im Gesetz müsste daher - wie dies auch von den Ländern gefordert wurde - eine Verpflichtung zur einheitlichen Durchführung verankert werden. Der Bundesrat hatte dies auch eingefordert, aber die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung keine Bereitschaft gezeigt, den Ländern entgegenzukommen. Genau zu prüfen werden auch die Wünsche der Kommunen sein, die sich erhoffen, von den durch den Zensus erhobenen Daten für ihre eigene Aufgabenerfüllung zu profitieren. Kleinräumige Planungsdaten dürfen nach dem Gesetzentwurf nur sehr eingeschränkt genutzt werden. Dies ist einerseits ein Beitrag zum Datenschutz, aber andererseits muss man sich schon die Frage stellen, ob und inwieweit ein solches Vorhaben nicht auch sinnvolle Datengrundlagen für die Kommunen schaffen sollte. Hier muss auch berücksichtigt werden, dass eine Nutzung auch für Kommunen etwaige eigene Datenerhebungen dort vermeiden hilft, was auch zur Datensparsamkeit führt und es gegebenenfalls auch im Interesse einer effizienten Verwaltung und der Vermeidung weiterer Kosten für die öffentliche Hand ist, den Kommunen eigene Erhebungen zu ersparen. Denn es geht ja in diesem Fall nicht um den Wunsch nach Erhebung weiterer Daten, sondern um die Nutzbarmachung der ohnehin zu erhebenden Daten. Hier muss im weiteren Verfahren eine Abwägung durchgeführt werden, um zu einem Interessen ausgleichenden Ergebnis zu kommen. Erheblichen Bedenken begegnet die Vorgabe, dass alle Daten beim Statistischen Bundesamt ausgewertet werden sollen. Hierzu soll ein höchst komplexes und im Übrigen noch nie in der Realität und unter wirklichen Arbeitsbedingungen angewandtes IT-System aufgebaut und eingesetzt werden. Dies widerspricht dem schon zwischen Bund und Ländern vereinbarten Fachkonzept, nach dem die zu verarbeitenden riesigen Datenbestände auf vier verschiedene Statistische Ämter des Bundes und der Länder aufgeteilt werden sollten, um dort aufbereitet zu werden. Dieses Fachkonzept erscheint wesentlich sinnvoller. So erscheint schon die Schaffung eines derartigen riesigen IT-Systems für eine einmalige Anwendung fragwürdig - nicht nur unter haushalterischen Gesichtspunkten, sondern weil es doch immer so ist, dass, wenn schon mal ein System besteht, um die vielen Daten der Bürgerinnen und Bürger zu nutzen, zu verknüpfen, abzugleichen und auszuwerten, dieses ganz bestimmt auch für andere Anwendungen dann irgendwann genutzt werden soll. Das mag jetzt einigen vielleicht ein wenig hysterisch vorkommen. Aber die Erfahrung zeigt, dass alle Systeme, mit denen man persönliche Daten sammeln und auswerten kann, auch genutzt werden - und zwar nicht nur für den ursprünglich genannten Zweck. Daher ist eine dezentrale Datenverarbeitung sehr sinnvoll. Ebenso erscheint diese sinnvoll, weil die Risiken eines Systemausfalls damit abgefedert werden und weil schon getestete Systeme zum Einsatz kämen. Eine Risikoerhöhung durch ein neues ITMammutprojekt - ich erinnere hier nur an die Bundesagentur für Arbeit - ist erheblich. Im nun anstehenden parlamentarischen Verfahren gibt es also noch einige Detailfragen, bei denen konstruktiv über den besten Weg gestritten werden muss. Neben den genannten Punkten möchte ich an dieser Stelle schon einmal erwähnen, dass die FDP-Fraktion Beratungsbedarf bei der Erhebung von Daten zur Religionszugehörigkeit sieht. Weiterhin muss bei der Frage der eingetragenen Lebenspartnerschaften auf einen Lückenschluss zum Bundesstatistikgesetz, dem das Merkmal noch immer fremd ist, obwohl eingetragene Lebenspartnerschaften erfreulicherweise längst gesellschaftliche Realität sind, hingewirkt werden. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht den Beratungen mit der Hoffnung entgegen, dass die berechtigten Kritikpunkte des Bundesrats hier im Hause Gehör finden werden und am Ende ein notwendiges Vorhaben mit einem vernünftigen Gesetz auf den Weg gebracht werden kann, ohne dass - wie bei dem Vorbereitungsgesetz - erneut der Vermittlungsausschuss angerufen werden muss.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es bestehen unausgeräumte Zweifel. Erstens. Es ist nachvollziehbar, dass die Politik, die Verwaltung und andere mehr möglichst stimmige Daten anstreben. Das ist seit Bibel-Zeiten so und das wurde auch noch in der Neuzeit über Volkszählungen praktiziert. Zweitens. Es war aber ausgerechnet eine Volkszählung in der BRD-alt, bei der das Bundesverfassungsgericht ein Stoppzeichen setzte. Es erhob in einem historischen Urteil den Datenschutz zum Grundrecht. Drittens. Nun geht es aktuell nicht um eine groß angelegte Volkszählung, sondern „nur“ um eine Mini-Volkszählung, genannt „Zensus“. Aber auch eine kleine Volkszählung will bürgerrechtlich begründet sein. Viertens oder anders gesagt: Der erwartete Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger muss erkennbar weit größer sein als das befürchtete Risiko für ihre verbrieften Rechte. Und genau da bestehen unausgeräumte Zweifel. Fünftens. Zu alledem wird es noch eine Anhörung von Expertinnen und Experten geben. Das haben Bündnis 90/ Die Grünen und die Linke beantragt. Ich werde heute daher nicht unserem Urteil danach vorgreifen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Zeiten ändern sich, löste die Volkszählung 1983 noch eine große Protestbewegung aus, so können wir heute in der entwickelten Informationsgesellschaft unauf- geregt über den europaweiten Zensus 2011 reden. Die Bundesregierung hat dazugelernt, die staatlichen Zähler dringen nicht mehr mit Fragebögen in die Wohnungen der Bürgerinnen und Bürger ein und stellen Fragen, die tief in das Privatleben eindringen. Die Volkszählungsboy- kottbewegung hat damals das Volkszählungsurteil erstrit- ten, und das war gut so. Wir haben heute das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, und auf dieser Grundlage findet der Zensus 2011 statt. Der Staat braucht statistische Informationen, um Poli- tik für die Zukunft planen zu können. Der Staat verfügt heute über eine große Menge von Datenmaterial - mehr als uns manchmal lieb ist -, und es ist richtig, dass nicht Zu Protokoll gegebene Reden alles neu erfasst wird, sondern auf das vorhandene Mate- rial zurückgegriffen wird. Im Zensusvorbereitungsgesetz ist festgelegt, dass die Daten zur Volkszählung 2011 aus den Melderegistern der Kommunen und aus dem Daten- bestand der Bundesagentur für Arbeit entnommen wer- den sollen. Länder und Kommunen sind mit dem Zensus- vorbereitungsgesetz aufgefordert, ihre Daten auf einen aktuellen Stand zu bringen und an den Bund zu liefern. Zu- sätzlich werden 25 Millionen Einwohner, davon 17,5 Mil- lionen Wohnungseigentümer, persönlich befragt. Nach der vorläufigen Kalkulation des Statistischen Bundesam- tes und der statistischen Ämter der Länder werden wahr- scheinlich 527,81 Millionen Euro an Gesamtkosten ent- stehen. Davon will der Bund 44,81 Millionen Euro tragen, die Länder sollen 483 Millionen Euro der Ge- samtkosten übernehmen. Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, wir sehen in der Frage der Kostenaufteilung wei- teren Klärungsbedarf und haben sehr wohl Verständnis für die Forderungen aus dem Bundesrat, dass die Kosten zwischen Bund und Ländern hälftig geteilt werden. Wir setzen uns für eine faire Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern ein und fordern, dass das Bundesamt für Statistik die analysierten Daten so bald wie möglich den Ländern und Kommunen zur Verfügung stellt. Der Bundesrat sieht auch inhaltlichen Korrekturbe- darf, wir sollten in der geplanten Anhörung des Innen- ausschusses die Anregungen aus den Ländern und natür- lich aus dem Bereich des Datenschutzes sorgfältig prüfen. Eine formale Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Beschlus- ses darf schon angesichts der enormen Kosten, die der Zensus 2011 verursacht, nicht dazu führen, dass wichtige Informationen, die wir national für erforderlich halten, nicht erhoben werden. Ich möchte hier insbesondere auf den Migrationsbereich verweisen. Eine gezielte Integra- tionspolitik braucht wissenschaftlich analysiertes Zah- lenmaterial, und hier muss sorgfältig geprüft werden, ob nicht das eine oder andere Merkmal zusätzlich abgefragt werden soll. Wenn wir Anonymisierung und Datenschutz sicherstellen, spricht nichts dagegen, Informationen über Einbürgerungen, Herkunftsländer oder Bildungsab- schlüsse für Eingewanderte auszuwerten, und auch der strittige Punkt der Aufnahme der Religion als Merkmal muss erneut sachlich diskutiert und bewertet werden. Politik braucht Planungsdaten, und dazu gehört als Fundament eine verlässliche Bevölkerungsstatistik. Die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner in unseren Kommunen entscheidet über die Zuschnitte von Bundes- tagswahlkreisen, sie ist Grundlage für eine gerechte Ver- teilung der Steuerlasten, sie ist Berechnungsgrundlage für den kommunalen Finanzausgleich, und sie regelt den Finanzausgleich zwischen Deutschland und Europa. Bei der zusätzlich geplanten Gebäudeerhebung ist allerdings darauf zu achten, ob diese Daten wirklich alle gebraucht werden. Wir werden beim Zensus 2011 darauf achten, dass der Grundsatz der „Einbahnstraße“ von statistischen Daten gewahrt bleibt, es keine Speicherung über den erforderli- chen Zeitraum hinaus gibt und Zugriffe Dritter auf die Daten ausgeschlossen bleiben. Wir erwarten, dass der Datenschutzbeauftragte des Bundes und die Daten- schutzbeauftragten der Länder das gesamte Verfahren Zensus 2011 eng begleiten und bewerten. Wenn der Da- tenschutz gewahrt bleibt, spricht nichts gegen den Zensus 2011.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/12219 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 16/12280 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 16/12279 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung und zur Änderung und Anpassung weiterer Vorschriften - Drucksache 16/11608 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Auch die Reden hierzu nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Clemens Binninger und Norbert Königshofen, CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter und Uwe Beckmeyer, SPD, Jan Mücke, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke, Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Staatssekretärs Ulrich Kasparick für die Bundesregierung.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Einheitliche Europäische Luftraum hat zum Ziel, die bisherige, weitgehend nationale Einteilung der Lufträume in ein europaweites System zu überführen. Mit dem Einheitlichen Europäischen Luftraum können von Fluggesellschaften verstärkt direkte Flugkorridore verwendet werden. Das erspart Umwege und Zeit, Kerosin und Geld. Letztlich können dadurch bis zu 12 Prozent der CO2Emissionen - also etwa 11,2 Millionen Tonnen - eingespart werden. Der Einheitliche Europäische Luftraum stellt also ein wichtiges Element zur Verbesserung der Gesamtwirtschaftlichkeit und Effizienz des Flugverkehrs dar, wie auch zur Reduktion von Treibhausgasen. Die wesentlichen Vorschriften zum Single European Sky stammen aus dem Jahr 2004. Heute beraten wir die notwendigen Gesetzänderungen, um die Vorgaben für den Einheitlichen Europäischen Luftraum in Deutschland umzusetzen. Zu diesen notwendigen Rechts- und Strukturanpassungen gehört auch eine Änderung des Art. 87 d Grundgesetz, die wiederum die Voraussetzung für die Änderung verschiedener luftverkehrsrechtlicher Vorschriften und Gesetze ist. Mit der Änderung des Art. 87 d wird erstens klargestellt, dass die Luftverkehrsverwaltung allgemein der Bundesverwaltung zugeordnet ist. Damit bleibt sie Hoheitsaufgabe - soweit dem das Recht der Europäischen Gemeinschaft nicht entgegensteht. Sie muss aber nicht mehr durch Behörden der unmittelbaren Bundesverwaltung oder von der bundeseigenen Verwaltung zugerechneten organisationsprivatisierten Einrichtungen durchgeführt werden. Vielmehr können damit Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung auch durch die mittelbare Bundesverwaltung einschließlich privater Beliehener durchgeführt werden. Dies ist nicht nur aus fachlicher Sicht unverzichtbar, sondern entspricht auch der aktuellen Praxis unter anderem bei Flugsicherungsbetriebsdiensten sowie Flugwetterdiensten an kleineren Flughäfen und ist auch vom Gemeinschaftsrecht so vorgesehen. Darüber hinaus wird die Möglichkeit geschaffen, technische Unterstützungsdienste, insbesondere sogenannte CNS-Dienste - also Communication, Navigation, Surveillance -, aus der hoheitlichen Luftverkehrsverwaltung herauszunehmen, wie es das geltende europäische Recht schon heute vorsieht. Zweitens schaffen wir die Voraussetzungen, um gemäß der Single-European-Sky-Verordnungen funktionale Luftraumblöcke einrichten zu können. Dies wird über staatsvertraglich vereinbarte Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten geschehen. Zur Einrichtung dieser Luftraumblöcke muss die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von nationalen Flugsicherungsorganisationen ermöglicht und intensiviert werden. Dazu ist es notwendig, dass auch ausländischen, nach EU-Recht zugelassenen Flugsicherungsorganisationen entsprechende Flugsicherungsaufgaben in Deutschland übertragen werden können. Eine solche Kooperation kann darüber hinaus auch unabhängig von europarechtlich zwingenden Vorgaben geschehen, wenn es zum Beispiel aus technischer oder praktischer Hinsicht etwa bei Regionalflugplätzen oder im Grenzbereich notwendig ist. Auch das ermöglicht nun die Änderung des Art. 87 d. Zusätzlich zu der Möglichkeit einer völkerrechtlichen Regelung und einer Übertragung von Hoheitsrechten an eine zwischenstaatliche Organisation wird die Übertragung von Aufgaben an ausländische Organisationen damit in Zukunft auch auf Basis eines Bundesgesetzes möglich sein. Dieses Begleitgesetz sieht sehr enge Grenzen für eine solche Übertragung an ausländische Organisationen vor. Nur, wo es zur Schaffung eines funktionalen Luftraumblocks oder aus praktischen Erwägungen notwendig ist, können die Flugsicherungsaufgaben übertragen werden. Damit gilt nach wie vor: Der größte Teil der Flugsicherung in Deutschland wird nur von einer zu 100 Prozent im Bundeseigentum befindlichen Gesellschaft durchgeführt werden. Flugsicherungsaufgaben können an ausländische Organisationen auch nur dann übertragen werden, wenn diese ein Zertifizierungsverfahren durchlaufen haben. Damit wird sichergestellt, dass das hohe Sicherheitsniveau, das wir heute haben, auch in Zukunft aufrechterhalten bleibt. Mit dieser Grundgesetzänderung schaffen wir die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Luftverkehrsverwaltung und für die Beteiligung Deutschlands am Einheitlichen Europäischen Luftraum. Damit ist nicht nur eine sicherere, sondern auch eine effizientere grenzüberschreitende Zusammenarbeit möglich, die viele Vorteile mit sich bringt.

Norbert Königshofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002703, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit den heute eingebrachten Gesetzen nehmen wir die Diskussion über die Weiterentwicklung der Flugsicherung wieder auf, die schon einmal - nämlich am 7. April 2006 - in einen Beschluss des Deutschen Bundestages einmündete. Damals hat der Bundespräsident Horst Köhler das Gesetz, das der Deutsche Bundestag mit einer über neunzigprozentigen Mehrheit verabschiedet hatte, aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken nicht unterschrieben. Wir ziehen nun daraus die Konsequenzen, indem wir den Art. 87 d Grundgesetz durch das eingebrachte „Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes“ an die Vorgaben des Rechts der Europäischen Gemeinschaft zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums ({0}) anpassen. Das bisherige, national organisierte System der Flugsicherung ist bereits vor geraumer Zeit an seine Grenzen gestoßen. Schon seit Jahren haben wir auch in Deutschland eine grenzüberschreitende Flugsicherung; so wird beispielsweise der an die Schweiz grenzende südwestdeutsche Raum durch die schweizerische Skyguide kontrolliert. Seit 2007 nehmen Lotsen der österreichischen Austro Control Flugverkehrskontrolldienste an einer Reihe deutscher Regionalflughäfen wahr. Beides ist bei strenger Auslegung des Grundgesetzes nicht verfassungskonform. Der Flugverkehr hatte in den letzten Jahren außerordentliche Wachstumsraten. Allgemein geht man davon aus, dass unabhängig von der derzeitigen Wirtschaftsund Finanzkrise sich die Flüge in Europa bis zum Jahr Zu Protokoll gegebene Reden 2020 gegenüber 2005 an Zahl verdoppeln werden. Schon heute ist der Himmel über Mitteleuropa hoffnungslos überlastet. Besonders führen die Kapazitätsengpässe rund um die Drehkreuze Paris, Frankfurt und London immer häufiger zu Ehrenrunden in der Luft und Stauungen am Boden. Nach Berechnungen der International Air Transport Association ({1}) summierten sich allein im Jahr 2007 die durch die fragmentierte Überwachung verursachten Verspätungen auf eine Dauer von 40 Jahren. Das bedeutet 468 Millionen unnötige Flugkilometer oder 16 Millionen Tonnen unnütz in die Atmosphäre geblasene Abgase. Daher soll ein einheitlicher europäischer Luftraum geschaffen werden, indem aus den derzeitig 60 Luftraumkontrollstellen der 27 nationalen Flugsicherungen mehrere große Einheiten gebildet werden, sogenannte Functional Airspace Blocks ({2}). Neben dem ökonomischen Aspekt ist hier auch der ökologische Nutzen hervorzuheben. So kann der CO2-Ausstoß laut Berechnungen um rund 1 800 000 Tonnen verringert werden. Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande sowie die Schweiz wollen den „Functional Airspace Block European Central“ ({3}) bilden. Dafür ist es allerdings notwendig, dass wir auch in Deutschland eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Flugsicherung durch die Regelung des Luftverkehrsgesetzes ermöglichen. Neben der Deutsche Flugsicherung GmbH ({4}) müssen auch andere ausländische - nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft zertifizierten Flugsicherungsorganisationen in die Luftverkehrsverwaltung des Bundes eingebunden werden können, so wie die DFS auch jenseits der deutschen Grenze tätig werden können soll. Um dies zu ermöglichen und den gesetzwidrigen Zustand in Deutschland zu beseitigen, müssen wir die Vorschrift, dass die Luftverkehrsverwaltung in bundeseigener Verwaltung geführt wird, im Art. 87 d des Grundgesetzes durch eine europarechtskonforme Fassung ersetzen. Ich bitte Sie dringend, der Anpassung des Grundgesetzes und der übrigen Änderungen luftverkehrlicher Vorschriften zuzustimmen. Es ist ein wichtiger unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines einheitlich kontrollierten europäischen Luftraums.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der vorliegende Gesetzentwurf hat den Zweck, die Luftverkehrsverwaltung in Deutschland den Realitäten und den Vorgaben der europäischen SES-Verordnungen anzupassen. Dazu soll - man ist fast versucht zu sagen: wieder einmal - das Grundgesetz geändert werden. Zurzeit verpflichtet uns Art. 87 d GG, die Luftverkehrsverwaltung in bundeseigener Verwaltung zu führen. Was bedeutet das? Wir müssen feststellen: Schon in der Auslegung dieses Begriffes ist man sich nicht einig. Die Verfassungsliteratur versteht diesen Begriff weit. Sowohl die unmittelbare als auch die mittelbare Staatsverwaltung soll davon umfasst sein. Damit könnte die Flugsicherung in Deutschland durch eigene und rechtlich unselbstständige Behörden des Bundes sowie durch Körperschaften und Anstalten oder Beliehene wahrgenommen werden. Diesem weiten Verständnis hat sich der Bundespräsident aber ausdrücklich nicht angeschlossen. Seiner Auffassung nach gibt Art. 87 d GG dem Bund auf, der Verantwortung für die Flugsicherung nur dann nachzukommen, wenn eine jederzeitige Durchsetzung des staatlichen Willens garantiert ist. Dies sei aber schon bei mittelbarer Staatsverwaltung nicht mehr der Fall. Ist die Deutsche Flugsicherung als bundeseigene GmbH heute also im Rahmen der Beleihung tätig, deckt sich diese Praxis nicht mehr mit der Ansicht des Bundespräsidenten. Es leuchtet daher ein, dass wir unser Verfassungsrecht mit der Wirklichkeit in Einklang bringen müssen. Wir können und wollen uns hier kein rechtliches Vakuum leisten. Wir sind für ein Europa, das nicht nur am Boden mit den Schengen-Abkommen, sondern auch in der Luft weiter zusammenwächst. Europa wirkt schon heute vielfältig im Bereich des Luftverkehrs nach Deutschland hinein, zum Beispiel mit der Gestaltung der europäischen Außenbeziehungen im Luftverkehr oder bei der Verbesserung der Verbraucherrechte für Flugpassagiere. Im Jahr 2004 wurde diese Zusammenarbeit auf eine neue Stufe gehoben: Mit den SES-Abkommen wurden die Voraussetzungen für die Einrichtung eines einheitlichen europäischen Luftraumes geschaffen. Im Bereich der Flugsicherung herrscht heute noch die Kleinstaaterei, Zuständigkeiten richten sich nach Landesgrenzen und nicht nach Flugrouten, Umwege der Flugzeuge mit höherem Spritverbrauch und CO2-Ausstoß sind die Folge. Die geplanten fortgeschriebenen SES-II-Verordnungen verpflichten uns darüber hinaus, ausländische Flugsicherungsorganisationen in Deutschland zuzulassen. Diese Verordnungen sind in Ordnung. Genauso wie wir bei der Kriminalitätsbekämpfung, beim Verbraucherschutzes und in der Wirtschafts- und Finanzpolitik eng zusammenarbeiten, ist auch die Flugsicherheit heute keine rein nationale Angelegenheit mehr. Art. 87 d GG verbietet uns aber hier mit seinem Gebot der bundeseigenen Verwaltung, ausländische Flugsicherungsorganisationen in Deutschland zuzulassen. Die Grundgesetzanpassung erscheint deshalb aus europarechtlichen Gründen notwendig. Nun ist das Grundgesetz keine beliebige Verfügungsmasse. Änderungen bedürfen stets besonderer Rechtfertigung. In der Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfes müssen wir uns deshalb von folgenden Grundsätzen leiten lassen: Erstens: Oberste Priorität hat für uns Sozialdemokraten die Sicherheit der Tausenden von Menschen, die täglich in der Luft über Deutschland unterwegs sind. Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir alles Mögliche für sichere Flüge tun. Wirtschafts- oder Marktinteressen müssen hier zurückstehen. Die Deutsche Flugsicherung ist eine der besten der Welt. Dies muss so bleiben. Das Unglück von Überlingen im Jahr 2002 hat uns brutal vor Augen geführt, was es heißt, wenn Kontrollen versagen oder lax gehandhabt werden. Zweitens: Die Deutsche Flugsicherung GmbH muss weiter die zentral verantwortliche Institution für die LuftZu Protokoll gegebene Reden verkehrskontrolle in Deutschland bleiben. Nur in Ausnahmefällen sollten Dritte - nach strengen Zulassungsund Zertifizierungsverfahren - diese Aufgaben wahrnehmen können. Drittens: Der Bundesparteitag der SPD im Oktober 2007 hat uns aufgetragen, keinesfalls einer Initiative zuzustimmen, die eine Privatisierung der Deutschen Flugsicherung zum Ziel hat und insbesondere das Grundgesetz dafür ändert. An diesen Beschluss fühle ich mich gebunden. Mit ist durchaus bewusst, dass eine Privatisierung nicht das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfes ist, allerdings wird sie mit dieser Grundgesetzänderung theoretisch möglich sein. Das ist problematisch. Darüber hinaus stellen sich mir eine Reihe weiterer Fragen: Die Luftverkehrsverwaltung soll in Zukunft nach Art. 87 d Abs. 1 GG in sogenannter Bundesverwaltung geführt werden. Damit werden die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Dritte mit der Flugsicherung in Deutschland beauftragt werden können. Das Institut der „Bundesverwaltung“ ist neu und dem Grundgesetz bisher fremd. Wenn hier aber neue Begrifflichkeiten geschaffen werden, halte ich es für unerlässlich, dass ihre Bedeutung und Systematik genau bestimmt ist, um rechtliche Grauzonen auszuschließen. Dies leistet der Gesetzentwurf bisher nicht in ausreichendem Maße. Vom Grundsatz der Bundesverwaltung darf weiter gemäß Art. 87 d Abs. 1 GG dann abgewichen werden, wenn europäisches Recht dies notwendig macht. Auch diese Formulierung ist für mich alles andere als eindeutig. Warum ist in der Gesetzesbegründung beispielsweise von „zwingendem europäischen Recht“ die Rede, im Grundgesetz aber nicht? Diese und andere Punkte sind für mich noch nicht hinreichend beantwortet. Das müssen wir uns noch einmal genau angucken.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes im Art. 87 d sowie einen Entwurf für ein Gesetz zur Änderung der luftverkehrsrechtlichen Vorschriften. Darüber hinaus liegt uns ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung vor. Die Änderungen, die wir als Koalitionsfraktionen parallel zur Bundesregierung in die parlamentarischen Beratungen einbringen, stehen im engen Zusammenhang mit dem festen Willen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, eine engere Zusammenarbeit im Luftverkehr zu erreichen. Ziel der Kooperation innerhalb der Europäischen Union ist es, die Verkehrsströme in der Luft effektiver zu organisieren. Im Jahr 2004 hat die Europäische Union ein Paket an Verordnungen zur Errichtung eines einheitlichen europäischen Luftraums verabschiedet. Oberstes Ziel ist es, grenzüberschreitende „funktionale Luftraumblöcke“ zu schaffen. Auf diese Art werden Flugtrassen optimiert. Die Schadstoffemission von Flugzeugen wird reduziert. In den grenzüberschreitenden Luftfahrtblöcken ist darüber hinaus eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit der nationalen Flugsicherungsorganisationen der europäischen Mitgliedstaaten vorgesehen. Das erhöht die Flugsicherheit. Um die Qualität der Flugsicherheit in Europa zu verbessern, wurden einheitliche Zulassungskriterien für Flugverkehrskontrollanbieter und feste Vorgaben für Struktur, Verfahren und Technik festgelegt. Darüber hinaus ist ein großräumiger Zuschnitt der jeweils überwachten grenzüberschreitenden Luftraumblöcke vorgesehen. Außerdem strebt die Europäische Union eine Verbesserung der Effektivität der Flugsicherungsleistungen an und schreibt eine Trennung von Aufsicht und Umsetzung von Flugsicherungsdiensten vor. Mit der angestrebten Änderung des Grundgesetzes wollen wir die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Luftverkehrsverwaltung schaffen. Deutschland will und muss sich aktiv an der Herstellung eines einheitlichen europäischen Luftraums beteiligen. Außerdem wollen wir den unhaltbaren Zustand beenden, dass bereits heute in grenznahen Räumen ausländische Flugsicherungsorganisationen ohne rechtliche Grundlage tätig werden; ein Umstand, der sich aus der Notwendigkeit ergibt, dass Flugkorridore und damit die dortige Sicherheit am Himmel über nationale Grenzen hinweg organisiert werden müssen, um einen effektiven Flugverkehr zu ermöglichen. Die Hoheitsgrenzen der Bundesrepublik Deutschland lassen sich nicht parallel mit den Zuständigkeitsbereichen der Flugsicherungsorganisationen in der Luft abbilden. Hier kommt es zu Überschneidungen mit den Aufgabenund Funktionsbereichen anderer ausländischer Flugsicherungsorganisationen. Kooperationen und Absprachen der Deutschen Flugsicherung mit anderen ausländischen Flugsicherungsorganisationen sind zwangsläufig notwendig, um den Flugsicherungsbetrieb in diesen Lufträumen ordnungsgemäß abwickeln zu können. Ähnlich sieht es bereits heute an Regionalflughäfen aus, an denen aus praktischen und technischen Gründen ausländische Flugsicherungsorganisationen tätig sind und deren Tätigkeit bisher rechtlich nicht gedeckt ist. Mit der Neuregelung im Grundgesetzartikel 87 d öffnen wir die bundeseigene hoheitliche Luftverkehrsverwaltung für abweichende Vorgaben des europäischen Rechts. Sie wird auch künftig der Bundesverwaltung zugeordnet. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich, dass die Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung Hoheitsaufgaben des Bundes bleiben. Sie müssen jedoch nicht mehr nur durch Behörden und Personal des Bundes, sondern können in Ausnahmefällen auch im Wege der mittelbaren Bundesverwaltung einschließlich beliehener Flugsicherungsorganisationen wahrgenommen werden. Darüber hinaus werden mit der Grundgesetzänderung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen, um in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaft Unterstützungsdienste der Flugsicherung, das heißt Kommunikations-, Navigations- und Überwachungsdienste sowie Flugberatungsdienste aus der Hoheitsverwaltung des Bundes ausgliedern zu können. Dabei handelt es sich um die technischen Dienste, die die Beschäftigten der Flugsicherungsorganisationen wie die Fluglotsen bei ihrer Tätigkeit unterstützen. Mit dem Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften folgen wir dem Auftrag des neuen Art. 87 d im Grundgesetz, der uns als Gesetzgeber Zu Protokoll gegebene Reden beauftragt, die konkrete Regelung der Flugsicherung in Deutschland in einem eigenständigen Bundesgesetz zu treffen. Mit den geplanten Änderungen im Luftverkehrsgesetz wollen wir festschreiben, dass auch in Zukunft die Deutsche Flugsicherung als bundeseigenes Unternehmen im vollständigen Besitz des Bundes bleibt. Wir schließen eine Privatisierung aus. Darüber hinaus wird die DFS weiterhin die führende Flugsicherungsorganisation in Deutschland bleiben. Nur in Randbereichen lassen wir auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages eine Beleihung von ausländischen Flugsicherungsorganisationen zu. Um die hoheitlichen Kontroll- und Aufsichtsrechte des zu errichtenden Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung zu sichern, ist es bei einer Beleihung einer ausländischen Flugsicherungsorganisation unabdingbar, dass ein zwischenstaatlicher Vertrag vorliegt. Die Hoheitsrechte des deutschen Staates müssen an dieser Stelle gewahrt werden. Außerdem legen wir fest, dass nach Maßgabe der europäischen Regelungen jede Flugsicherungsorganisation, die in Deutschland tätig wird, ein europäisches Zertifikat vorzuweisen hat. Damit schließen wir im Einklang mit den europäischen Vorgaben zukünftig eine Beleihung natürlicher Personen für die Zukunft aus. Aktuell geltende Einzelbeauftragungen erlöschen spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2010. Gleichzeitig stellen wir klar, dass zu einer ordnungsgemäßen Durchführung der Flugsicherung neben der Sicherheit, Ordnung und flüssigen Abwicklung des Luftverkehrs auch die Beachtung der Aspekte des Lärm- und Umweltschutzes gehört. Die Bundesregierung hat darüber hinaus ein Gesetz zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung vorgelegt, das wir im Zusammenhang mit den anderen beiden Gesetzesinitiativen beraten. Das europäische Recht sieht eine zwingende Trennung von Aufsichtsund Durchführungsaufgaben im Bereich der Flugsicherung vor. Das zu errichtende Bundesaufsichtsamt wird die hoheitlichen Kontrollaufgaben gegenüber den Flugsicherungsorganisationen wahrnehmen. Ich lade alle Fraktionen des Deutschen Bundestags ein, sich konstruktiv an der parlamentarischen Beratung der vorliegenden Gesetzentwürfe zu beteiligen. Meine Hoffnung ist, dass wir die vorgeschlagenen Änderungen mit einer breiten Mehrheit des Hohen Hauses verabschieden werden. Das wäre ein gutes Signal im Sinne einer weiteren Integration in der europäischen Luftverkehrspolitik.

Jan Mücke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003813, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Durch die Medienberichte der letzten Tage entstand teilweise der Eindruck, dass mit den drei Gesetzentwürfen, die uns zur Beratung vorliegen, die Zukunft der Deutschen Flugsicherung GmbH oder gar deren Kapitalprivatisierung bzw. ihre Verhinderung geregelt werden soll. Sicher, von einigen Grenzregionen und Regionalflughäfen abgesehen, werden die Flugsicherungsdienste in der Bundesrepublik von der DFS erbracht. Insofern trifft die beabsichtigte Novellierung dieses Unternehmen ganz besonders. Auch steht die FDP-Bundestagsfraktion einer Kapitalprivatisierung bekanntlich offen gegenüber. Darum geht es bei den vorliegenden Gesetzentwürfen aber gar nicht. Vielmehr schaffen sie einen Rechtsrahmen dafür, wie in Deutschland zukünftig Flugsicherung allgemein organisiert sein soll. Die Initiativen sind aber nicht etwa das Ergebnis des unbändigen Tatendrangs von Bundesregierung und Koalitionsfraktionen. Beide wurden schlicht und einfach durch die Gegebenheiten zum Handeln gezwungen. Flugsicherungsdienste werden in grenznahen Regionen der Bundesrepublik durch ausländische Organisationen erbracht. Dies ist auch zweckmäßig, da Luftraumblöcke nur schwerlich am genauen Grenzverlauf ausgerichtet werden können. Diese Praxis verstößt jedoch gegen die Vorgaben des Grundgesetzes. Das ist der Bundesregierung und der Koalition spätestens seit der Anhörung im Verkehrsausschuss zum Flugsicherungsgesetz im März 2007 bekannt. Mehrere Gutachter, darunter auch der Staatsrechtler Professor Wieland, machten damals auf das Problem und all seine Folgen aufmerksam. Passiert ist hingegen nichts. Mehr noch: Von der Opposition im Verkehrsausschuss beantragte Selbstbefassungen zu diesem Thema wurden mehrfach vertagt, deren parlamentarische Initiativen wie der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion „Zukunft der Flugsicherung verfassungskonform gestalten“ wurden abgelehnt. Dabei ist das Thema alles andere als zum Aussitzen geeignet. Der anhaltende Verfassungsbruch führt dazu, dass die Bundesrepublik für Schäden, die in diesem Zusammenhang entstehen, voll haften muss. Das wurde uns bereits vom Landgericht Konstanz in seinem Urteil zum Unglücksfall Überlingen bestätigt. Auch dort erbrachte das Schweizer Unternehmen Sky Guide Flugsicherungsdienste über deutschem Hoheitsgebiet. Die Regierungskoalition nahm damit für lange Zeit neben dem Verfassungsverstoß als solchem ein Haushaltsrisiko in unüberschaubarer Höhe in Kauf. Wenn sie nun endlich - nach über zwei Jahren - legislativ tätig wird, ist dies zwar zu begrüßen; es wird aber auch allerhöchste Zeit. Ein ähnlich starker Handlungszwang geht auch vom europäischen Gemeinschaftsrecht aus. Innerhalb des letzten Jahres wurde deutlich, dass es Europa ernst meint mit dem Single European Sky. Die Kommission hat einen Vorschlag für eine Verordnung vorgelegt, nach der die Mitgliedstaaten bis spätestens 2012 Funktionale Luftraumblöcke errichten müssen. Spätestens zu dieser Zeit muss sichergestellt sein, dass auch ausländische Organisationen ihre Dienste im deutschen Luftraum erbringen können. Deutschland kann sich dann schlechterdings nicht den Angeboten ausländischer Unternehmen unter Hinweis auf die nationale Verfassungslage verschließen unabhängig von den geplanten EU-Vorschriften. Denn alles andere wäre ein Rückschritt hin zu reinem Protektionismus. Und es wird Sie nicht verwundern, dass wir in der FDP-Bundestagsfraktion diesem nicht die Hand reichen werden. Dabei mache ich mir um die DFS übrigens keine Sorgen. Dank der Organisationsprivatisierung im Jahre 1993 ist sie hervorragend aufgestellt und muss keinen Vergleich mit anderen Organisationen fürchten. Die Anzahl der von ihr kontrollierten Flüge nahm in den letzten 15 Jahren um 40 Prozent auf 3,15 Millionen zu. TrotzZu Protokoll gegebene Reden dem hatten im Jahr 2008 nur 4 von 100 Flügen eine Verspätung von mehr als 15 Minuten, die in die Verantwortung der DFS fiel. Diese Zahlen belegen: Weniger Staatsnähe im Bereich der Flugsicherung ist eine Chance und kein Risiko für das Unternehmen. Wir begrüßen es auch aus einem anderen Grund, dass die Kommission bei der Errichtung des Single European Sky jetzt Gas gibt. Durch ihn kann ein wertvoller Beitrag zum Umweltschutz geleistet werden, ohne dass damit wieder eine Verteuerung des Luftverkehrs und der Ticketpreise einhergehen würde. Allein durch die Vermeidung von Umwegen, die auf nationalstaatliche Interessen zurückzuführen sind, kann der CO2-Ausstoß der Flugzeugflotten um bis zu 16 Prozent reduziert werden. Um dieses Ziel erreichen zu können, müssen auch - und gerade - die rechtlichen Voraussetzungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten geschaffen werden. Vor diesem Hintergrund kamen die Entwürfe spät, sehr spät. Umso wichtiger ist es, dass die letztlich beschlossenen Gesetze Bestand haben und einer verfassungsrechtlichen Kontrolle standhalten. Es wäre fatal, wenn ein Gesetz die Flugsicherung betreffend zum dritten Mal innerhalb von 19 Jahren für verfassungswidrig erklärt werden würde. Im Rahmen der Beratungen ist daher besonderes Augenmerk auf die Unterrichtungen des Bundespräsidenten aus den Jahren 1991 und 2006 und die darin aufgeführten Gründe für die Nichtausfertigung zu richten. Es werden im Rahmen der Anhörung dahin gehend einige Fragen zu klären sein. Ein erneutes Scheitern an den Hürden des Grundgesetzes darf es nicht geben. Es freut uns, dass auch aus Sicht der Koalition Kommunikations-, Navigations- und Flugberatungsdienste ab sofort nicht mehr hoheitliche Handlungen darstellen, sondern als privatwirtschaftliche Tätigkeiten zu Marktbedingungen erbracht werden sollen. Union und SPD bestätigen damit die Auffassung der FDP, die seit Jahren von uns vertreten wird, so zum Beispiel in unserem Antrag „Zukunft der Flugsicherung verfassungskonform gestalten“. Bedauerlich ist, dass die Koalition nicht konsequent genug war, einen Schritt weiterzugehen und auch Flugsicherungsverkehrsdienste als privatwirtschaftliche Dienstleistung auszugestalten. Dies würde aus unserer Sicht nur Vorteile bringen. So stellt sich die Frage, warum es zur Erbringung von Flugsicherungsdiensten durch ausländische Organisationen auch nach der geplanten Grundgesetzänderung notwendig sein soll, dass eine völkerrechtliche Vereinbarung mit dem Heimatstaat der Organisation geschlossen worden sein muss. Wohl auch aus Sicht der Koalition genügen ansonsten die Ingerenzrechte des Staates nicht den Voraussetzungen einer - wenn auch nur einfachen - Bundesverwaltung. Im Ergebnis hieße dies aber, dass, solange es keine entsprechenden Vereinbarungen gibt, die Praxis in den grenznahen Regionen Deutschlands rechtswidrig bleibt. Durch die Grundgesetzänderung würde es danach zu keinerlei Vereinfachungen kommen. So hat sich Europa den Single European Sky sicherlich nicht vorgestellt. Dieses Dilemma kann verhindert werden, wenn auch Flugsicherungsverkehrsdienste als privatwirtschaftliche Dienstleistungen ausgestaltet werden. Auch kann ich nicht erkennen, warum die Flugsicherung sicherer sein soll, wenn sie eine hoheitliche Aufgabe darstellt. Der Vergleich mit dem Verkehrsträger Schiene beweist das Gegenteil. Der Fahrdienstleiter, der dem Lokpersonal zum Beispiel durch Signale die Streckenfreigabe erteilt und Anweisungen gibt, ist Angestellter der privatrechtlichen DB Netz AG. Er hat keinerlei Hoheitsgewalt. Trotzdem ist ein sicherer und reibungsloser Betriebsablauf auf der Schiene gewährleistet. Darüber hinaus würden Zwangsbefugnisse rein faktisch ins Leere laufen. Kein Fluglotse am Boden wäre in der Lage, seine Weisung mit staatlicher Gewalt an Bord des Flugzeugs durchzusetzen. Schon heute ist deshalb anerkannt, dass die Fluglotsen primär nicht regulierend, sondern unterstützend tätig sind. Und folgerichtig haben bereits heute nach § 3 Luftverkehrsordnung die Piloten das Recht der letzten Entscheidung. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt es sehr, dass das Thema Flugsicherung noch einmal am Ende dieser Legislaturperiode angepackt wurde. Dies darf aber nicht dazu führen, dass die Beratungen im Schweinsgalopp verlaufen und nicht genügend Zeit für die Klärung von entscheidenden Fragen bleibt. Wir werden das Verfahren jedenfalls konstruktiv begleiten und freuen uns auf die weiteren Diskussionen.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das, was die Koalition uns hier vorlegt, ist absurd. Während die CDU sich aus ihrer Sicht gerade mit dem Teufel einlässt und eine Bank verstaatlicht, bereiten Sie den Weg für einen Verkauf der Flugsicherung. Nachdem die Koalition mit der Privatisierung der Deutschen Bahn gescheitert ist, wird nun wieder die Flugsicherung ausgegraben, um kurz vor Geschäftsschluss, dem Ende der Legislatur, der Öffentlichkeit noch einen Erfolg vorweisen zu können. Werte Kolleginnen und Kollegen, es gibt bemerkenswerte Parallelen zwischen der Finanzkrise und dem, was zurzeit in der europäischen Flugsicherung passiert: Vor der Finanzkrise wurde jahrelang den Banken und Investmentgesellschaften absolutes Vertrauen geschenkt und Wünschen nach weniger Gesetzen und Regelwerken nachgegeben, statt eigene Kompetenzen bei der Bankenaufsicht aufzubauen. Die Quittung zahlen die Bürgerinnen und Bürger. Die Bundesregierung lernt nichts dazu. Sie vertraut nun in gleicher Weise den europäischen Flugsicherungsorganisationen, denen es in erster Linie auch nur ums Geldverdienen geht. Dabei weiß die Bundesregierung schon heute nicht mehr, was in ihrer bundeseigenen Flugsicherung passiert. Künftig wird sie noch weniger wissen! Wie sonst wäre es zu erklären, dass die Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke vom 24. November 2008 zu Cross-Border-LeasingGeschäften im Bereich des Bundes bzw. bundeseigener Unternehmen nicht antwortete? Die Flugsicherung ist heute schon privatrechtlich organisiert und damit juristisch in der alleinigen Verantwortung. Fakt ist jedoch, es besteht ein 1,4-MilliardenDeal der bundeseigenen Verwaltung Deutsche Flugsicherung GmbH mit der AIG zum technischen Equipment. Zu Protokoll gegebene Reden AIG, das ist der Konzern, der gerade den größten Quartalsverlust in der Wirtschaftsgeschichte eingefahren hat: 61,7 Milliarden Dollar! Zu Beginn dieser Legislaturperiode ist die Privatisierung der Flugsicherung am Bundespräsidenten aus verfassungsrechtlichen Gründen gescheitert. Die Linke stimmte damals als einzige Fraktion im Bundestag gegen dieses Gesetz, nicht nur, weil wir die Privatisierung für falsch hielten und halten, sondern weil wir verfassungsrechtliche Bedenken hatten. Auf den Satz „Die Luftverkehrsverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung geführt“ in Art. 87 d des Grundgesetzes hatte sich Bundespräsident Horst Köhler berufen, als er 2006 das Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung ablehnte. Diesen Satz wollen Sie nun ändern. Unter dem Deckmantel der Anpassung ans europäische Recht bereiten Sie den Boden für eine materielle Privatisierung der Flugsicherung. Natürlich verkaufen Sie die nicht gleich. Ich kann auch lesen, dass die Flugsicherung weiter zu 100 Prozent in Bundesbesitz befindlich bleibt. Das steht aber nur im Begleitgesetz. Das Grundgesetz sagt, folgt das Parlament Ihrem Antrag, bald etwas anderes. Das wollen Sie so ändern, dass die lästigen Hürden, die den Bundespräsidenten damals gezwungen haben, die Privatisierung zu stoppen, beseitigt werden. Ich möchte vier Sätze aus einem Bericht des Verkehrsministeriums vom 23. März 2007 zitieren: „Die Wörter ‚bundeseigener Verwaltung’ in Satz 1 werden ersetzt durch das Wort ‚Bundesverwaltung’. Die Bundesverwaltung erhält hiernach einen größeren Handlungsspielraum, indem sie private Dritte auch in Kernbereichen der Staatsverwaltung, insbesondere auch im Bereich der Gefahrenabwehr einsetzen kann. Der bisherige Satz 2 wird gestrichen. Für die beabsichtigte Kapitalprivatisierung der DFS ist der bisherige Satz 2 nicht ausreichend.“ Beide „Bedingungen“ für eine Kapitalprivatisierung erfüllen Sie mit dieser Grundgesetzänderung. Sie lassen damit zu, dass auch in den Kernbereichen der Luftsicherheit private Unternehmen agieren dürfen. Der Vorwand ist, dies wäre nötig, um in den Grenzregionen Verfassungskonformität herzustellen, aber ich sage: Das ist nur die halbe Wahrheit. Mit anderen Worten: Die SPD macht sich zum Wegbereiter für eine Kapitalprivatisierung der DFS trotz Hamburger Parteitagsbeschluss. Schwarz-Gelb, so das auf uns zukommt, kann in der nächsten Legislaturperiode in Ruhe vollenden. Die hätten dann natürlich keine Zweidrittelmehrheit, deswegen muss jetzt die SPD noch einmal den nützlichen Idioten spielen. Wollen Sie das wirklich? Wer der Meinung ist, die Deutsche Flugsicherung soll zu 100 Prozent in Bundesbesitz bleiben, der darf dieser Grundgesetzänderung nicht zustimmen! Ich appelliere an die Genossinnen und Genossen der SPD, das zu überdenken, anderenfalls könnte einem glatt die Idee kommen, es läge ein Deal vor. Der Anlass des Vorschlags zur Änderung des Grundgesetzes des gemeinsamen Luftraums in Zentraleuropa ist unbestritten. Auch die Linke setzt sich dafür ein, dass die gesetzlichen Grundlagen ans Europarecht angepasst werden. Wir haben dazu einen eigenen Antrag eingebracht: Drucksache 16/3803, ausdrücklich nicht zur Änderung des Grundgesetzes. Das muss man nicht verbiegen, um die europäischen Vorgaben im Luftverkehr einzuhalten! Für einen einheitlichen Luftraumblock in Zentraleuropa, der von den Pyrenäen bis zur Oder reicht, genügt eine zwischenstaatliche Organisation. Art. 24 des Grundgesetzes reicht sehr wohl aus! Das ist längst Praxis: Eurocontrol überwacht schon seit Jahrzehnten einen Luftraum, zu dem auch der Nordseeraum und Norddeutschland zählen. Und selbst wenn Sie das Grundgesetz ändern, müssen trotzdem zwischenstaatliche Einrichtungen geschaffen werden. Ansonsten bliebe nur der Weg, dass jeder Staat mit jedem anderen einen Vertrag abschließt. Ich möchte Ihnen Ihre angeblichen Sachzwänge einmal vor Augen führen: Für den einheitlichen europäischen Luftraumblock ist bislang lediglich eine Joint Declaration of Intent unterzeichnet worden, auf Deutsch: eine „Gemeinsame Absichtserklärung“! Das ist die niedrigste Stufe einer irgendwie gearteten Vereinbarung! Das nehmen Sie zum Anlass, das Grundgesetz zu ändern? Völlig ausgeblendet haben Sie anscheinend auch die Auswirkungen auf andere Luftverkehrsverwaltungen. Sie tun so, als ob die Flugsicherung der einzige Bestandteil der Luftverkehrsverwaltung wäre. Dem aber ist nicht so, und Sie wissen das! Auch das Luftfahrt-Bundesamt, LBA, die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung, BFU, und das zukünftige Bundesamt für Flugsicherungsaufsicht, BAF, sind Bestandteile der Luftverkehrsverwaltung. Darüber, was die Grundgesetzänderung für diese Verwaltungen bedeutet, haben Sie bisher wohl noch nicht nachgedacht, getreu der Devise: Hauptsache, die Koalition erweckt noch den Anschein der Handlungsfähigkeit. Hier sehen wir noch deutlichen Klärungsbedarf in den weiteren Beratungen. Wenn Flugsicherungsorganisationen anderer Staaten - nach entsprechender Zertifizierung künftig Bestandteil der nationalen deutschen Bundesverwaltung werden, dann muss gesichert sein, dass eine Institution vorhanden ist, die kontrolliert, ob diese Organisationen die zahlreichen Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Erlasse einhalten, die für Bundesverwaltungen nun einmal gelten. Das neue Aufsichtsamt für die Flugsicherung BAF mit seinen künftig etwa 80 Beamten wird mit diesen Angelegenheiten mit ziemlicher Sicherheit überfordert sein! Es ist in der Tat so, dass die Organisationseinheiten von AustroControl, die einen Teil der deutschen Regionalflughäfen kontrollieren, sich künftig in der Rolle einer Bundesverwaltung befinden werden und entsprechendes öffentliches Recht für ihren inneren Aufbau werden anwenden müssen! Die Frage ist jedoch, wer das kontrolliert. Wir sehen noch umfänglichen Klärungsbedarf für die weiteren Beratungen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir hatten uns als Verkehrspolitiker im Jahr 2006 auf ein Gesetz zur Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung, DFS, geeinigt und waren damals der Auffassung, zu einem guten Kompromiss gekommen zu sein. Das Gesetz sollte der Umsetzung der neuen AnforderunZu Protokoll gegebene Reden gen für einen einheitlichen und sicheren europäischen Luftraum dienen, die mit einer Reihe von EU-Verordnungen zum Single European Sky, SES, vorgegeben waren. Die zentralen Zielsetzungen des Gesetzes lauteten: Wahrung europäischen Rechts und des Grundgesetzes, Wahrung und Sicherung hoheitlicher Aufgaben, Schaffung optimaler Bedingungen für das international anerkannte Flugsicherungsunternehmen DFS im europäischen Wettbewerb sowie Garantie und Sicherung unabhängiger staatlicher Aufsicht. Der Bundespräsident hat gegen das Gesetz sein Veto eingelegt und dies mit der Verfassungswidrigkeit des DFS-Gesetzes begründet. Ohne eine Neuregelung konnten die europäischen Vorgaben bisher nicht umgesetzt werden. Auch die Probleme der Luftraumüberwachung in Grenzgebieten durch ausländische Flugsicherungsorganisationen, die man kaum als in „bundeseigner Verwaltung“ betrieben bezeichnen kann, wurden nicht gelöst, noch wurden die Fragen der Rechtmäßigkeit der Tätigkeit privater Flugsicherungsorganisationen an Regionalflughäfen beantwortet. Der Bundesregierung ist es lange Zeit nicht gelungen, aus dem gescheiterten Vorhaben Konsequenzen zu ziehen. Jetzt endlich - immerhin drei Jahre später - werden drei Regelwerke vorgelegt, die diesem Zustand abhelfen sollen. Mit dem ersten Gesetz soll Art. 87 d des Grundgesetzes geändert werden. Die Debatte wie auch verfassungsrechtliche Gutachten zu den Einwänden des Bundespräsidenten haben die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung nahegelegt. Die jetzt von der Bundesregierung vorgeschlagenen zentralen Änderungen sind: Die Formulierung „bundeseigene Verwaltung“, Art. 87 d GG derzeit, soll durch die Formulierung „Bundesverwaltung“ ersetzt werden, das heißt, die Aufgaben der Flugsicherung können sowohl öffentlich-rechtlich als auch durch private Organisationen, etwa durch Beleihung, ausgeübt werden. Ausländische Flugsicherungsorganisationen, die nach EU-Recht zertifiziert sind, sollen gemäß europäischer Vorgaben für Tätigkeit über deutschem Hoheitsgebiet zugelassen werden. Das zielt, so die Begründung, auf die Absicherung ausländischer Organisationen, die im Rahmen der Schaffung von FABs, Funktionaler Lufträume in der EU, zur Umsetzung des einheitlichen europäischen Luftraums über deutschem Gebiet tätig werden. Das Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften enthält die Ausführungsbestimmungen für die vorgeschlagene Grundgesetzänderung sowie Klarstellungen und Regelungen über jene technischen Bereiche der Flugsicherung - Unterstützungsdienste, Kommunikations-, Navigations- und Überwachungsdienste -, die nach europäischen Vorgaben nicht mehr als hoheitliche Aufgaben des Bundes wahrgenommen werden müssen. Eine Kapitalprivatisierung wie im Gesetz von 2006 vorgesehen wird ausdrücklich nicht angestrebt; die Deutsche Flugsicherung bleibt im Besitz des Bundes. Mit dem BAF-Gesetz soll das einzurichtende Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung, BAF, als unabhängige Aufsichtsbehörde auf den Weg gebracht werden. Die EU hatte mit den SES-Vorgaben die Mitgliedstaaten aufgefordert, eine Trennung von Flugsicherungsabwicklung und Kontrolle sicher zu stellen. Das BAF soll alle Kontrollaufgaben in Sachen Flugsicherung wahrnehmen und die Einhaltung von Standards sichern, umfassende Rechts- und Fachaufsicht. Die Einrichtung dieser Behörde ist längst überfällig; denn seit Jahren ist eine Art Übergangsbehörde mit unzureichender Personalausstattung allein für die Kontrolle, Genehmigung und Zertifizierung zuständig. Dieser Zustand muss dringend abgestellt werden. Unserer Auffassung nach müssen die beschriebenen Probleme mit der derzeitigen rechtswidrigen Flugsicherungspraxis rasch gelöst werden. Überdies drohen Vertragsverletzungsverfahren, wenn die europäischen Vorgaben nicht umgesetzt werden. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums soll - so ein erklärtes Ziel - zu mehr Effizienz im Flugverkehr führen. Wir meinen, dies ist ein wichtiger Baustein für mehr Klimaschutz im Luftverkehr und begrüßen daher die Umsetzung des einheitlichen europäischen Luftraums. Gleichwohl müssen wir jetzt im parlamentarischen Verfahren wohlüberlegt und mit großer Sorgfalt sicherstellen, dass mit den jetzt vorliegenden Gesetzentwürfen wirklich alle Fragen der momentan grundgesetzwidrigen Praxis in der Flugsicherung beim grenzüberschreitenden Flugverkehr und der Verfassungskonformität mit europäischen Anforderungen geklärt werden. Wir werden die Vorlagen in der nötigen Ruhe kritisch prüfen und im Rahmen der parlamentarischen Beratung wie auch der verabredeten Anhörung im Deutschen Bundestag auf transparente, eindeutige und rechtskonforme Regelungen drängen. Denn mit Blick auf die Historie - immerhin wurden schon durch zwei Bundespräsidenten Regelungen zum Flugverkehr aufgehalten - wollen wir darauf drängen, dass klare und unmissverständliche Regelungen getroffen werden, damit nicht erneut ein Scheitern am Ende steht. Für uns hat Sicherung hoheitlicher Aufgaben der Flugsicherung höchste Priorität. Die Verantwortung für den sicheren Luftraum muss beim Bund bleiben. So soll auch zukünftig die zivil-militärische Integration bei der Überwachung des Flugverkehrs eine höchstmögliche Sicherheit garantieren.

Ulrich Kasparick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003158

Wir behandeln heute ein umfangreiches Gesetzespaket zur Neuregelung der Flugsicherung, bestehend aus drei Gesetzen. Wir müssen unser nationales Recht aus verschiedenen Gründen weiterentwickeln und anpassen. Wir wollen mit dem BAF-Errichtungsgesetz das erste EU-Verordnungspaket über den einheitlichen europäischen Luftraum - SES I - umsetzen. Dies müssen wir schon deshalb tun, weil wir ein Vertragsverletzungsverfahren der EU und insbesondere auch Defizite in der Sicherheit durch eine unzureichende Aufsicht vermeiden wollen. Mit der Grundgesetzanpassung in der jetzt vorliegenden Form haben wir einen Weg gefunden, bei allen wichtigen EU-Vorhaben zur Weiterentwicklung eines gemeinsamen Luftraums mitwirken zu können. Das von uns sogenannte Begleitgesetz zur Flugsicherung ist die Zu Protokoll gegebene Reden Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick: logische und zwingende Folge der von mir eben vorgestellten Maßnahmen zu Grundgesetz und EU sowie SES. Bei allem spielt außerdem eine wichtige Rolle, dass wir den Herausforderungen eines kontinuierlich wachsenden Luftverkehrs sachgerecht begegnen können. Die Europäische Union hat bereits im Jahre 2004 reagiert. Mit dem Verordnungspaket zum Einheitlichen europäischen Luftraum soll ein grenzüberschreitender Single European Sky in Zentraleuropa geschaffen werden. Wir hinken nach wie vor hinterher. Nach wie vor ist unser Recht nicht auf den Single European Sky ausgerichtet. Deutschland als das Kernland in Europa kann sich hier aber nicht einfach heraushalten. Die besondere Herausforderung, vor der wir stehen, ist, die Flugsicherung grenzüberschreitend zu organisieren. Es gilt, eine weitgehend zersplitterte Flugsicherungslandschaft in der Europäischen Union zu vereinheitlichen und auf einen gemeinsamen Level zu bringen. Die Lenkung des Flugverkehrs soll sich künftig nicht mehr an Staatsgrenzen orientieren, sondern an den Verkehrsströmen. Flugzeuge sollen, insbesondere auch im Interesse des Umweltschutzes, auf möglichst direktem Weg an ihr jeweiliges Ziel geführt werden. Dazu sollen in ganz Europa grenzüberschreitende funktionale Luftraumblöcke eingerichtet werden. Unter Beteiligung Deutschlands, Frankreichs, der Benelux-Staaten und der Schweiz laufen die Arbeiten an der Errichtung eines solchen gemeinsamen Luftraums über Zentraleuropa: Functional Airspace Block Europe Central, FABEC. Es gilt daher, die aktive Beteiligung Deutschlands an diesem FABEC sicherzustellen. Wir brauchen insoweit die notwendige Flexibilität, um hier auf gleicher Augenhöhe mit den anderen Staaten gemeinsame Lösungen konzipieren und verwirklichen zu können. Diesen Freiraum, diese notwendige Flexibilität schaffen wir mit dem Gesetzespaket zur Neuorganisation der Flugsicherung in Deutschland. Lassen Sie mich kurz auf die einzelnen Regelwerke eingehen. Erstens: Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 87 d GG. Mit der Grundgesetzänderung wird die Luftverkehrsverwaltung neu ausgerichtet. Die bisherige bundeseigene Verwaltung des Luftverkehrs wird in eine Bundesverwaltung überführt. Der einfache Gesetzgeber hat so die Möglichkeit, sie als bundesunmittelbare, aber auch als mittelbare Verwaltung auszugestalten. Durch die Möglichkeit der Ausgestaltung als mittelbare Verwaltung wird insbesondere der Weg eröffnet, Dritte in die Bundesverwaltung einbeziehen zu können. Wir brauchen diesen Freiraum gerade in der Flugsicherung. Zum Beispiel haben wir Situationen an unseren Grenzen, wo es sich nicht vermeiden lässt, dass auch ausländische Flugsicherungsorganisationen mit ihrer Flugsicherungstätigkeit gleichsam von außen nach Deutschland hineinwirken. Kommt es zur Errichtung des FABEC, wird sich dieser Umstand noch beträchtlich ausweiten. Staatsgrenzen spielen dann keine Rolle mehr; entscheidend für die Ausrichtung und Ausgestaltung der internationalen Flugsicherungstätigkeit werden nur noch die Verkehrsströme sein. Bei Abfassung des Grundgesetzes waren diese Umstände nicht erkennbar. Der Gesetzgeber ging seinerzeit davon aus, dass die Luftverkehrsverwaltung und damit die Flugsicherung durch eigene Einrichtungen des Bundes darstellbar wären. Das ist aber heute in einem zusammenwachsenden Europa nicht mehr der Fall. Der grenzüberschreitende Flugverkehr fordert andere Lösungen. Das ist der Grund, warum wir unsere Verfassung anpassen müssen. Gleichzeitig - und das möchte ich hier besonders herausstellen - berücksichtigen wir bei der vorliegenden, an den Notwendigkeiten Europas wie der Praxis orientierten Verfassungsänderung auch Bedenken des Bundespräsidenten bezüglich der Bundesverwaltung, die er 2006 - wenn auch in anderem Zusammenhang - geäußert hat. Zweitens: Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften. Dieses Gesetz ist zur Umsetzung der neuen grundgesetzlichen Vorgaben notwendig. Mit dem Gesetz werden die von der Neufassung von Art. 87 d des Grundgesetzes geforderten einfachgesetzlichen Grundlagen geschaffen, um die deutsche Flugsicherung europarechtskonform auszurichten. Darüber hinaus werden die Voraussetzungen geschaffen, um Flugsicherungsaufgaben in Deutschland in bestimmten Ausnahmefällen durch ausländische Flugsicherungsorganisationen wahrnehmen lassen zu können. Lassen Sie es mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen: Es steht kein Ausverkauf der Flugsicherung an. Wir übertragen insbesondere auch keine Hoheitsrechte an Dritte. Die Flugsicherung in Deutschland bleibt weiterhin eine Aufgabe des Bundes. Keiner in Deutschland tätigen Flugsicherungsorganisation werden daher Kompetenzen des Bundes übertragen. Diese Organisationen sind nur befugt, die Hoheitsrechte des Bundes unter seiner Aufsicht und Kontrolle wahrzunehmen. Die Belange des Bundes müssen dabei in jedem Fall gewahrt werden. Dazu braucht der Bund aber entsprechende Steuerungsinstrumente. Es war gerade der Bundespräsident, der uns 2006 in besonders eindringlicher und anschaulicher Form noch einmal deutlich gemacht hat, welch bedeutende Rolle, Aufgabe und Verantwortung der Bund für eine sichere und ordnungsgemäße Flugsicherung trägt. Ohne wirksame Kontroll- und Durchsetzungsbefugnisse kann der Bund - wie der Bundespräsident betont hat - seiner Verantwortung nicht gerecht werden. Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf die herausragende Funktion und Stellung der DFS in der Flugsicherung sind wir nunmehr der festen Überzeugung, dass eine solche Aufgabe grundsätzlich nur von einer zu 100 Prozent in Bundeseigentum stehenden Flugsicherungsorganisation - sprich: DFS - wahrgenommen werden kann. Die Aufrechterhaltung des Alleineigentums an der DFS erscheint uns letztlich als die beste Lösung, um jedweden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegentreten zu können und um eine Gewähr für die Aufrechterhaltung des hohen Sicherheitsstandards Deutschlands in der Flugsicherung bieten zu können. Nach den vorgesehenen Neuregelungen wird daher die DFS als bundeseigenes, privatrechtliches Unternehmen auch weiterhin die hoheitlichen Aufgaben des Bundes in Deutschland wahrnehmen. Zu Protokoll gegebene Reden Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick: Nicht bundeseigene Flugsicherungsorganisationen lassen wir nur in Randbereichen der Flugsicherung zu, und zwar für die Flugsicherung an Regionalflughäfen. Hier handelt es sich nicht um die Kontrolle des An- und Abfluges oder des Streckenfluges, sondern nur um die Überwachung des Flugplatzverkehrs auf dem Flugplatz. Diese Dienste waren bislang einzelnen natürlichen Personen übertragen. Künftig können sie nur von Flugsicherungsorganisationen durchgeführt werden, die nach europäischem Recht zertifiziert sind. Bestimmte Dienste im Zusammenhang mit der Flugsicherung wollen wir allerdings gänzlich aus dem hoheitlichen Pflichtenkreis des Bundes herausnehmen. Es handelt sich hierbei um Kommunikations-, Navigations- und Überwachungsdienste - CNS-Dienste -, Flugberatungsdienste, AIS-Dienste sowie Flugvermessungsdienste. Diese Dienste werden zukünftig der Privatwirtschaft überlassen und der Aufsicht des noch zu errichtenden Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung unterstellt. Damit kommen wir europäischen Vorgaben nach. Künftig können auch zertifizierte ausländische Flugsicherungsorganisationen mit Sitz oder Niederlassung im Ausland im Bereich der grenzüberschreitenden Flugsicherung unter Kontrolle und Aufsicht des Bundes eingesetzt werden. Dazu schaffen wir die Voraussetzungen für eine Unterbeauftragung von ausländischen Flugsicherungsorganisationen durch die DFS. So erhalten wir eine wesentlich verbesserte rechtliche Basis für die Zusammenarbeit mit ausländischen Flugsicherungsorganisationen. Drittens: Gesetz zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung. Das dritte Gesetz im vorliegenden Paket setzt die zur Verbesserung der Flugsicherheit nach europäischen Vorgaben zwingend gebotene Trennung operativer und regulativer Aufgaben im Bereich der Flugsicherung um. Nachdem die DFS in der Vergangenheit als Rechtsnachfolgerin einer ehemaligen Bundesbehörde auch zahlreiche Hoheitsaufgaben des Bundes im Rahmen der Aufsicht und Regulierung wahrgenommen hat, wird sie durch dieses Gesetz von diesen Aufgaben befreit. Die vorhandenen und neu durch die Umsetzung des SES-Verordnungspakets entstandenen Aufgaben werden zukünftig auf eine neue Bundesbehörde verlagert: das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung. Als nachgeordnete Behörde des BMVBS soll dieses Amt als eigenständige nationale Aufsichtsbehörde für die Flugsicherung fungieren, wie sie in Art. 4 der EG-Verordnung 549/2004 vorgeschrieben ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/12280, 16/12279 und 16/11608 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition - Drucksache 16/12226 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Hans Raidel, CDU/CSU, Andreas Weigel, SPD, Florian Toncar, FDP, Inge Höger, Die Linke, Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit den 1990er-Jahren ist die Stärkung des humanitären Völkerrechts weit vorangekommen. Das Verbot der Antipersonenminen war ein erster Meilenstein. Der von Norwegen im Februar 2007 eröffnete Oslo-Prozess zu Streumunition gestaltet sich zu einer weiteren wichtigen Etappe. Streubomben sind scheußliche Waffen. Sie können nicht zuverlässig zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden. Noch Jahrzehnte nach dem Einsatz von Streubomben werden Menschen von Sprengkörpern getötet oder schwer verletzt. Das Erbe der nicht explodierten Streumunition verhindert auch nach Beendigung eines Krieges den Wiederaufbau eines Landes. Die Beseitigung von Streubomben ist ebenfalls eine Voraussetzung für die Normalisierung eines Landes nach einem Krieg, wie die Beseitigung von Antipersonenminen. Seit dem Einsatz von Streumunition im Nahen Osten im Sommer 2006 wird ein Verbot für diese Munition gefordert. Die damals eingesetzte Munition hatte nach Aussagen von Nichtregierungsorganisationen eine enorm hohe Blindgängerrate von weit über 15 Prozent. Allein im Libanon wurden über 3 000 Blindgänger entschärft, 60 Zivilisten sollen im Libanon durch Blindgänger ums Leben gekommen sein. Die Bundesrepublik Deutschland ist sich schon frühzeitig der Gefahren bewusst gewesen, die durch Gebrauch und hohe Blindgängerrate bestimmter Arten von Streumunition vor allem der Zivilbevölkerung drohen. Sie unterstützte daher von Beginn an aktiv den Verhandlungsprozess zu Streumunition, um die Zivilbevölkerung vor den Gefahren dieser Munition stärker zu schützen und das humanitäre Völkerrecht weiter zu entwickeln. Deshalb möchte ich den Vertretern der Bundesregierung für ihren Einsatz meinen Dank aussprechen. Die Bundesregierung war immer bemüht, möglichst viele Staaten mit ins Boot zu holen. Letztlich lässt sich ein stärkerer Schutz der Zivilbevölkerung nur dann erreichen, wenn diese Verpflichtungen von so vielen Staaten wie nur irgend möglich mitgetragen werden, insbesondere von den Staaten, die über große Streumunitionsarsenale verfügen. Unsere Verhandlungsführer zeigten diplomatisches Fingerspitzengefühl für das politisch Machbare, immer verbunden mit einem realistischen Schrittfolgekonzept. Ein langer Atem und die Bereitschaft zum Bohren dicker Bretter waren Voraussetzungen für den Erfolg. Wir wissen aus Erfahrung, wie mühsam es ist, Abrüstungserfolge zu erzielen. Betrachten wir nur das Ottawa-Minenprotokoll und das damit verbundene jahrelange Tauziehen. Auch dabei haben sich Deutschlands Regierung und Parlament besonders engagiert und Schrittmacherdienste geleistet. Es hat sich gelohnt: Heute ist das Ottawa-Protokoll in Kraft. Die Mitglieder des parlamentarischen Forums „Small Arms and Light Weapons“, dessen Vorstand ich angehöre, haben 2007 in einer Erklärung ihre Solidarität mit allen Opfern von Streubomben bekundet. Da Streubombenmunition Zivilisten in Konfliktgebieten großen Schaden zufügt, haben wir darin unsere tiefsten Bedenken zum Ausdruck gebracht. Die hohe Zahl an Toten und Verletzten sowie die Gefahr einer nachhaltigen Schädigung durch Blindgänger weit nach Ende des Konflikts werden von uns zutiefst bedauert. In der Erklärung wird gefordert, dass aufgrund der rücksichtslosen und nachhaltigen Gefährdung der Zivilbevölkerung ein internationales Instrument geschaffen wird, um gegen Streubomben vorzugehen. Das Forum favorisiert dabei eine Lösung, durch die jede Form von Streubombenmunition verboten werden soll. Hierin wird die Befürchtung zum Ausdruck gebracht, dass eine Abschmälerung dieses Verbotes dazu führen könnte, dass der Handel und die Produktion weitergehen könnten. Es wird darauf gedrängt, dass sich die produzierenden Länder dem Moratorium zu einem Verbot von Streubomben anschließen. Ziel sollte es sein, den Handel und die Produktion dieser Waffen einzustellen. Ein solches Moratorium soll auch für Artillerie und hochmoderne Waffentechnologien mit Selbstzerstörungseinrichtungen gelten. In der Berlin-Erklärung vom Februar 2009 begrüßen die Teilnehmer die im Dezember 2008 in Oslo von 94 Ländern unterzeichnete Konvention gegen den Einsatz von Streubomben. Die Implementierung dieses Dokuments wird als eine wichtige Errungenschaft angesehen, da es sich gegen die Produktion, den Gebrauch, den Besitz sowie den Handel dieser Waffen ausspricht. Die Staaten werden dazu ermuntert, sich für die Ratifizierung, die Teilnahme und die Umsetzung dieser Konvention einzusetzen. Die anhaltende Produktion, Weiterverbreitung und Lagerung solcher Waffen wird von den Parlamentariern kritisiert, da diese Waffen unendliches Leid über die Betroffenen in den Einsatzgebieten bringen. Die Bundeswehr hat Streumunition nie eingesetzt. Bereits 2001 hat die Bundeswehr damit begonnen, Streumunition aus ihren Arsenalen zu entfernen. Das deutsche frühzeitige Engagement, seit 2004 aktiv im Rahmen des VN-Waffenübereinkommens wie auch im Oslo-Prozess seit dessen Beginn Ende 2006, hat die diplomatischen Bemühungen für ein globales Einsatzverbot entscheidend mitgeprägt. Bereits im März 2006 hat die Bundesregierung mit einer „8-Punkte-Position“ erste konkrete Maßnahmen zu einem einseitigen Verzicht Deutschlands auf Streumunition beschlossen. Damals hat sich Deutschland verpflichtet, auf Neubeschaffungen zu verzichten und Modelle mit Blindgängerraten über einem Prozent zu vernichten. Dies gab einen wichtigen Impulse für die internationalen Verhandlungen. Der Oslo-Prozess zu Streumunition wurde im Februar 2007 von Norwegen außerhalb des VN-Kontextes eröffnete. 107 Teilnehmerstaaten, 21 Beobachterstaaten sowie 200 NGO-Vertreter nahmen daran teil. Das Übereinkommen wurde anschließend am 3. Dezember 2008 in Oslo von 94 Staaten, darunter auch Deutschland, unterzeichnet. Mit der Unterschrift Tunesiens am 12. Januar 2009 haben inzwischen 95 Staaten das Übereinkommen unterzeichnet. Ein großes Defizit des gesamten Prozesses ist, dass mehrere Länder mit großen Streumunitionsbeständen wie die USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Brasilien, Korea und Israel das Übereinkommen bisher nicht unterzeichnet haben. Es bleibt zu hoffen, dass durch den Regierungswechsel in den Vereinigten Staaten Präsident Obama auch in diesem wichtigen Politikfeld eine Wende in Amerika einleitet und damit auch die anderen Staaten, die das Abkommen noch nicht unterzeichnet haben, mitreißt und eine gemeinsame Lösung gefunden wird, die von allen akzeptiert wird. Das jetzige Abkommen ist sehr weitreichend. Das ist gut und notwendig. Nicht nur Einsatz, sondern auch Entwicklung, Herstellung, Lagerung sowie Import und Export von Streumunition aller Typen werden in dem neuen Übereinkommen untersagt. Das Verbot umfasst sämtliche bislang zum Einsatz gekommenen Streumunitionstypen. Die vorhandenen Bestände von Streumunition sind innerhalb von acht Jahren zu vernichten, in besonderen Fällen kann diese Frist zweimal um je vier Jahre verlängert werden. Die Hilfe für die Opfer früherer Einsätze und die Unterstützung betroffener Staaten werden gestärkt. Die Verhandlungen waren sehr schwierig, da die Vorstellungen der unterschiedlichen Staaten sehr verschieden waren, die Interessen stark auseinandergingen. Viele Regelungen des Verhandlungstextes sind teilweise identisch mit entsprechenden Bestimmungen der Ottawa-Antipersonenminen-Konvention von 1997 bzw. bauen hierauf auf. Dennoch musste in dem Übereinkommen eine Reihe komplexer Fragen gelöst werden, die sich, anders als bei den Antipersonenminen, hier in wesentlich kontroverserer Form stellten. Ich möchte einige Beispiele nennen. Interoperabilität: Wie kann und darf militärisch mit Nicht-Vertragsstaaten gemeinsam agiert werden? Definition: Welche alternativen Waffen dürfen genutzt werden? Rückwirkung von Räumverpflichtungen etc. Um die Ratifizierung noch in dieser Legislaturperiode sicherzustellen, hat die Bundesregierung in der Kabinettssitzung am 21. Januar 2009 einen entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen. Nach positivem Votum des Bundesrates am 6. März 2009 liegt der Gesetzesentwurf nun dem Bundestag vor. Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung. Sind wir damit schon am Ziel? Nein, leider noch nicht. Wir müssen den Verhandlungsprozess in die Vereinten Nationen tragen. Es muss uns gelingen, gemeinsam mit der großen Mehrheit der Vertragsstaaten des VN-Waffenübereinkommens, im VN-Rahmen für ein ambitioniertes Protokoll zu Streumunition zu kommen, das natürlich nicht im Widerspruch zum Oslo-Übereinkommen über Zu Protokoll gegebene Reden Streumunition stehen darf und eine klare Verbotsregelung enthalten muss. Es muss ein entsprechendes Protokoll als ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem letztendlich weltweiten Verbot von Streumunition gefunden werden. Auf der Basis eines entsprechenden Mandates aus dem Jahre 2007 fanden 2008 insgesamt sieben Verhandlungswochen zur dringlichen Frage der humanitären Auswirkungen von Streumunition statt. Da erhebliche Differenzen unter den Vertragsstaaten nicht ausgeräumt werden konnten, wurde von den Mitgliedstaaten Ende 2008 beschlossen, die Bemühungen um ein Zusatzprotokoll zum VN-Prozess zum Thema Streumunition 2009 fortzusetzen. Die erste Verhandlungsrunde hat bereits im Februar stattgefunden, allerdings ohne nennenswerte Fortschritte in der Sache. Die Aussichten, die weiterhin bestehenden Differenzen zu wesentlichen Elementen wie Definition und Verbotsumfang im April 2009 auszuräumen und zu einem für alle betreffenden Mitgliedstaaten akzeptablen Ergebnis zu gelangen, werden als eher gering eingeschätzt. Eine substanzielle Regelung zu Streumunition im VN-Prozess wäre jedoch insofern wichtig, als hier auch die oben genannten Staaten mit großen Streumunitionsbeständen eingebunden sind, die in Dublin nicht teilgenommen haben. Diese stehen einem umfassenden Verbot nach dem Modell von Dublin/Oslo leider weitgehend ablehnend gegenüber. Wir müssen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bei allen Nicht-Teilnehmerstaaten des Oslo-Prozesses aktiv für die Universalisierung des Übereinkommens werben. Am 25. und 26. Juni 2009 wird in Berlin in Kooperation mit Norwegen eine Fachkonferenz zu Art. 3 des Übereinkommens über Streumunition durchgeführt, der die Zerstörung vorhandener Bestände festlegt. Zu dieser Konferenz werden alle Besitzerstaaten von Streumunition, die das Übereinkommen gezeichnet haben, sowie weitere an dem Thema interessierte Zeichnerstaaten eingeladen werden. Die Konferenz in Berlin wird das wichtigste Zusammentreffen zum Thema Streubomben in diesem Jahr sein und eine gute Möglichkeit bieten, den Vertrag auf internationaler Ebene zu stärken. Ich hoffe, dass sie dazu beiträgt, den Ratifizierungsprozess in den Unterzeichnerstaaten zu beschleunigen. Ich möchte das Auswärtige Amt auffordern, die Konferenz auch für Staaten zu öffnen, die die Konvention nicht unterzeichnet haben, jedoch Streumunition lagern. Insbesondere eine Einladung an die Vereinigten Staaten könnte dazu beitragen, dass die Obama-Regierung dazu ermutigt würde, ihre bisherige ablehnende Haltung zu ändern.

Andreas Weigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003656, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„2009 muss ein Jahr des Aufbruchs sein für die internationale Sicherheits- und Abrüstungspolitik.“ Diese klare Richtungsvorgabe von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Münchener Sicherheitskonferenz Anfang Februar bezieht sich nicht zuletzt auf die angestrebte Inkraftsetzung und Universalisierung des Streumunitionsverbots. Die deutsche Vorreiterrolle und insbesondere die geschickte und geduldige Verhandlungsführung des Auswärtigen Amtes haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich im Mai 2008 rund hundert Staaten auf ein Verbot geeinigt haben, welches nicht nur den Einsatz, sondern auch die Entwicklung, Herstellung und Lagerung sowie den Im- und Export von Streumunition aller Typen umfasst. Das fortgesetzte intensive Werben des Ministers - insbesondere gegenüber Staaten, die dem Verbot noch nicht beigetreten sind - verdient die volle Unterstützung dieses Hauses. Internationale abrüstungspolitische Bemühungen waren seit Ende des Kalten Krieges nicht gerade erfolgsverwöhnt. Die im vergangenen Jahr erzielte Einigung auf ein umfassendes Verbot von Streumunition stellt da einen höchst erfreulichen und ermutigenden Wendepunkt dar. Zu Beginn des Jahres 2009 ist nun - auch dank des Amtsantritts der neuen US-Administration - viel Rückenwind für eine Wiederbelebung von Abrüstung und Rüstungskontrolle zu spüren. Diesen Rückenwind gilt es weiter zu verstärken. Das im vergangenen Jahr international ausgehandelte Verbot von Streumunition sollte schnellstmöglich in Kraft treten und Wirksamkeit entfalten. Das ist das Ziel des heute hier von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs. Der Bundesrat hat bereits Anfang März vorbehaltlos „grünes Licht“ für den Gesetzentwurf signalisiert. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier sollten ihn nun in den kommenden Wochen ebenfalls zügig beraten und mit breitem Rückhalt versehen. Entscheidend ist dabei gar nicht so sehr, dass wir damit das Streumunitionsverbot hierzulande gesetzlich verankern, sondern vielmehr die internationale Signalwirkung, die von einer raschen Ratifizierung Deutschlands ausgehen kann. Das im Mai 2008 in Dublin von rund 100 Staaten getroffene Übereinkommen tritt erst in Kraft, wenn es mindestens 30 Staaten ratifiziert haben. Eine zügige deutsche Ratifizierung im ersten Halbjahr 2009 hätte Vorbildcharakter und könnte so ganz wesentlich zu zweierlei beitragen: erstens dass das Streumunitionsverbot bis Ende des Jahres international Gültigkeit erlangt und zweitens dass weitere Staaten zu einem raschen Vertragsbeitritt ermutigt werden. National ist das umfassende Streumunitionsverbot in Deutschland ohnehin bereits seit vergangenem Mai wirksam. Noch vor Abschluss der internationalen Verhandlungen am 30. Mai wurden sämtliche Streumunitionsbestände der Bundeswehr per ministeriellen Erlass außer Dienst gestellt. Das Verbot von Streumunition wird zu Recht als bedeutender Meilenstein zur Weiterentwicklung humanitärer Rüstungskontrolle gewürdigt. Denn damit wird eine Waffe geächtet, deren Einsatz verheerende Auswirkungen hat und der bis in die jüngste Vergangenheit ganz überwiegend Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Splitterbomben verursachen weit verstreut Blindgänger und fordern so häufig auch lange nach Kriegsende noch zahlreiche unschuldige Menschenleben. Dass das Streumunitionsverbot von nahezu allen gewichtigen EU- und NATO-Staaten mitgetragen wird, sendet ein starkes Signal an diejenigen Länder aus, die noch Zu Protokoll gegebene Reden an einer Produktion und Verwendung von Streumunition festhalten. Die erhoffte stigmatisierende Wirkung auf Staaten, die auf Splitterbomben bislang nicht verzichten wollen, zeigt derweil erste Früchte. So bedrückend der neuerliche Kriegsausbruch im Gaza-Streifen rund um den Jahreswechsel auch war, so lässt sich zumindest festhalten, dass Israel, anders als zwei Jahre zuvor im Libanon, wenigstens auf den Einsatz von Streumunition verzichtet hat. Auch in den USA gibt es bezüglich einer Neupositionierung zur militärischen Notwendigkeit von Streumunition Bewegung. US-Präsident Obama hat vergangene Woche ein Gesetz unterschrieben, das den Export von in den USA produzierter Streumunition drastisch einschränkt und zudem die Vorrangigkeit humanitärer Erwägungen - also des Schutzes von Zivilisten - betont. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sieht dadurch sogar einen grundlegenden Wandel in der US-Position zu Streumunition heraufziehen. Präsident Obama sollte nun allerdings auch tatsächlich, so wie in seinem Wahlkampf angekündigt, weitere Einschränkungen für den Einsatz von Streumunition durch das US-Militär auf den Weg bringen. Der Erfolg des Streumunitionsverbots beruht - wie auch das Ottawa-Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen - auf einem richtungsweisenden Verhandlungsansatz. Wenn gleichgesinnte Regierungen, Parlamente und zivilgesellschaftliche Netzwerke in lange blockierten Rüstungskontroll- und Abrüstungsfragen ihre Kräfte bündeln, dann können Sie eine Menge bewegen und öffentlichen Druck erzeugen. In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich das beharrliche Engagement zivilgesellschaftlicher Organisationen würdigen, die sich auch weiterhin konstruktiv für eine Universalisierung des Streumunitionsverbots einsetzen. So haben etwa die Cluster Munition Coalition und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erst kürzlich umfassendes Material für Parlamentarier in denjenigen Ländern zusammengestellt, die dem Verbot bislang noch nicht beigetreten sind, damit diese gegenüber ihren jeweiligen Regierungen mit Nachdruck für eine Zeichnung eintreten können. Erst gestern hat zudem im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York eine Konferenz zur Ausweitung des Streumunitionsverbots stattgefunden. Unter Anwesenheit von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Vertretern aus 75 Staaten haben mit der Demokratischen Republik Kongo sowie Laos zwei der am meisten von Streumunition betroffenen Länder das Verbot unterzeichnet bzw. im Falle von Laos sogar bereits ratifiziert. Das Auswärtige Amt plant für Ende Juni eine Konferenz, die sich an sämtliche Vertragsstaaten des Streumunitionsverbots richtet und bei der konkrete Umsetzungsschritte wie die Vernichtung vorhandener Bestände beraten werden sollen. Es wäre dabei durchaus bedenkenswert, ob man zu dieser Konferenz nicht auch Nichtvertragsstaaten einlädt, die über signifikante Streumunitionsbestände verfügen. Vonseiten des Parlaments sollten wir uns jedenfalls unbedingt darum bemühen, die deutsche Ratifikation im Vorfeld dieser Konferenz abzuschließen. Im Bundestag haben wir die deutsche Verhandlungsführung zu Streumunition in den vergangenen Jahren intensiv begleitet und mit geprägt. Die schnelle Ratifizierung des Streumunitionsverbots wurde bereits im Dezember mit einem ohne Gegenstimme verabschiedeten Koalitionsantrag auf den Weg gebracht. Mit dem Antrag haben wir das Bundesverteidigungsministerium zudem dazu aufgefordert, die Fachausschüsse des Parlaments detaillierter über die Entwicklung und Erprobung von neuen Munitionstypen zu unterrichten. Wir werden als Abgeordnete auch künftig in der Pflicht stehen, dafür Sorge zu tragen, dass die mit dem Streumunitionsverbot etablierten Kriterien eingehalten und nicht verwässert werden.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die heutige Debatte behandelt ein Thema, das wir in diesem Hause regelmäßig in den letzten drei Jahren teils sehr kontrovers behandelt haben. Es geht um das Verbot von Streumunition. Streumunition ist eine Waffe, die großflächige Zerstörungen verursacht und wegen ihrer hohen Blindgängerquote auch nach dem Ende von Konflikten eine langfristige Bedrohung der ansässigen Bevölkerung darstellt. Vor allem spielende Kinder wurden in der Vergangenheit Opfer dieser heimtückischen Gefahr. Seit längerem schon haben wir auf nationaler wie internationaler Ebene über ein Verbot dieser grausamen Waffen debattiert. Umso mehr freut es mich, dass dieser Diskussionsprozess Früchte trägt und wir uns nun mit der konkreten Umsetzung des am 3. Dezember 2008 in Oslo unterzeichneten „Übereinkommens über Streumunition“ befassen. Dieses verpflichtet Deutschland als Unterzeichnerstaat, seine gesamte Streumunition zu entsorgen. Mit der heutigen Vorlage des Gesetzentwurfs wird ein wichtiger Schritt zur Ratifizierung des Abkommens durch Deutschland getan. Er schafft die Voraussetzung dafür, dass die notwendigen Schritte zur Umsetzung eingeleitet werden. Insbesondere wird ein Rahmen für die Finanzierung der Maßnahmen geschaffen. So sollen für die Vernichtung der deutschen Streumunition 40 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Diese Mittel werden im regulären Haushaltsplan des Bundesministeriums der Verteidigung eingestellt werden. Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages hat das Verteidigungsministerium gebeten, bis Ende Mai 2009 einen detaillierten Kosten-, Zeit- und Arbeitsplan zur Vernichtung der deutschen Streumunition auszuarbeiten und dem Parlament vorzulegen. Dann werden wir genauere Einzelheiten zu den konkreten Arbeitsschritten erfahren. Ferner sieht der jetzige Gesetzentwurf 500 000 Euro für den Haushalt des Auswärtigen Amtes vor, um einen Beitrag für die vorgesehenen Treffen der Vertragsstaaten zu leisten. Diese Kosten teilt Deutschland sich anteilsmäßig mit den anderen Staaten gemäß dem angepassten Beitragsschlüssel der Vereinten Nationen. Es ist insgesamt erfreulich, dass die Bundesregierung ausreichend Mittel zur Zu Protokoll gegebene Reden Verfügung stellt, um diese wichtigen Aufgaben zu erfüllen. Die FDP hat diesen nunmehr fast drei Jahre andauernden Prozess unterstützt und ist stets für ein umfassendes Verbot von Streumunition eingetreten. Von daher sind wir erfreut, dass jetzt konkrete Schritte erkennbar werden. Trotz dieser positiven Entwicklung möchte ich jedoch auch einige kritische Worte zur Rolle der Bundesregierung in diesem Prozess anbringen. In der Denkschrift zum Übereinkommen erweckt die Bundesregierung den Eindruck, dass sie von Beginn an zu den Vorreitern beim Verbot von Streumunition gezählt habe. Dies ist nicht der Fall. Das möchte ich an dieser Stelle klar unterstreichen. Die Bundesregierung sowie die Fraktionen von CDU/CSU und SPD waren bis zur entscheidenden Verhandlung im Mai 2008 in Dublin der Auffassung, dass nur „für die Zivilbevölkerung gefährliche“ Streumunition mit einer Blindgängerrate von über einem Prozent unter das Verbot fallen sollte. Die vermeintlich zuverlässigere Streumunition mit einer Blindgängerrate von unter einem Prozent sollte ausgenommen werden. Auch wenn es erfreulich ist, dass die Bundesregierung letztendlich von diesem Vorhaben abgerückt ist, wirkt es unglaubwürdig, wenn sie sich in der Denkschrift als Vorreiter darstellt. Vielmehr sah sie sich gezwungen, dem Druck anderer Regierungen sowie der Organisationen der Bürgergesellschaft nachzugeben und ihren Widerstand gegen ein umfassendes Streumunitionsverbot aufzugeben. Vom 25. bis 26. Juni 2009 wird in Berlin eine weitere Streumunitionskonferenz stattfinden. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn bis dahin die Ratifikation dieses Abkommens durch Deutschland erfolgt wäre. Die FDP wird sich für eine rasche Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages einsetzen. Da der vorliegende Gesetzentwurf auch die Aufwendung finanzieller Mittel vorsieht, ist nun die Bundesregierung am Zug, möglichst schnell einen Überblick über die tatsächliche Verwendung dieser Gelder zu liefern. Dies wird dem Parlament die Ratifikation des Übereinkommens zum Verbot von Streumunition erleichtern. Sobald die Ratifikation vollzogen ist, muss die Bundesregierung aktiv auf diejenigen Staaten zugehen, die dem Streumunitionsverbot noch nicht beigetreten sind. Dazu zählen derzeit auch noch acht NATO- bzw. neun EU-Staaten. Bundeskanzlerin Merkel und Bundesaußenminister Steinmeier stehen hier in der Pflicht, politisches Kapital zurückzuerlangen, welches in der Startphase des Verhandlungsprozesses leichtfertig von deutscher Seite verspielt wurde, als man Ausnahmen für vermeintlich ungefährliche Streumunition schaffen wollte. Die FDP wird genau beobachten, welches Engagement die Bundesregierung an den Tag legen wird, wenn es darum geht, für den Beitritt weiterer Staaten zum Streumunitionsverbot zu werben. Um es anderen Staaten zu erleichtern, dem Verbotsabkommen beizutreten, sollte die Bundesregierung darüber hinaus prüfen, in welchem Rahmen sie abrüstungswilligen Staaten helfen kann, die mit dieser Aufgabe jedoch technisch überfordert sind. Art. 6 des Verbotsvertrages sieht dafür umfangreiche Möglichkeiten vor. Deutschland hat bereits vergleichbare technische Unterstützung geleistet. Die fachgerechte Vernichtung großer Streumunitionsbestände aus militärischen Arsenalen stellt eine erhebliche technische Herausforderung dar. Deutschland kann hier seine umfangreichen technischen Kenntnisse bei der Entsorgung alter Munitionsbestände einbringen. Dies würde die Glaubwürdigkeit der deutschen Abrüstungspolitik stärken und wäre ein konkreter Beitrag für Frieden und Entwicklung in der Welt.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Streumunition ist eine der heimtückischsten Waffen, die moderne Rüstungsingenieure je entwickelt haben. Schon der Abschuss einer Salve Streumunition kann ein ganzes Dorf unbewohnbar oder das Bestellen von Gemüsegärten und Feldern zur tödlichen Falle machen. Dass die Streumunitionsblindgänger teilweise noch Jahrzehnte nach einem Konflikt explodieren können, macht diese Waffe zu einem ganz entscheidenden Hindernis für Wiederaufbau und Entwicklung nach Kriegen und Bürgerkriegen. Verstümmelte Menschen, Alte und Junge, Frauen und Kinder sind der sichtbare und spürbare Preis, den Menschen in den Einsatzgebieten von Streumunition für diese Form der Kriegsführung bezahlen. Deswegen ist es ein großer zivilisatorischer Fortschritt, wenn nun die Ächtung dieser Waffe einen rechtlich verbindlichen Charakter bekommt. Es ist ein Fortschritt, wenn am Sitz der Vereinten Nationen in New York nun ein Staat nach dem anderen durch seine Unterschrift die Konvention zum weltweiten Verbot von Streumunition unterzeichnen kann. Die Verabschiedung des „Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition“ ist die Voraussetzung, dass auch die deutsche Regierung das Verbot der Streumunition ratifizieren kann. Die Fraktion Die Linke begrüßt diesen längst überfälligen Schritt ausdrücklich. Dass wir überhaupt über ein verbindliches Verbot von Streumunition abstimmen können, ist das Verdienst zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteure, wie etwa „Handicap International“ oder das „Aktionsbündnis Landmine“, die in unermüdlicher Arbeit auf die Problematik der Streumunition hingewiesen und den OsloProzess zum Verbot der Munition zum Laufen gebracht haben. Die Dynamik, die durch diese Diskussionen ausgelöst wurde, kann niemand mehr rückgängig machen. Nun ist auch in den USA, wo die Administration bis jetzt gegen alle Einschränkungen bei Einsatz und Verkauf der tödlichen Waffensysteme opponiert hatte, ein Schwenk vollzogen worden. In einem Nachtragshaushalt, den US-Präsident Barack Obama in der letzten Woche unterzeichnete, ist eine Regelung enthalten, die künftig den Export von Streubomben aus den USA verbietet. Da die USA zu den wichtigsten Exporteuren dieser Waffe gehören, ist dies ein entscheidender Schritt. Es könnte deswegen nur eine Frage der Zeit sein, bis sich die Einsicht durchsetzt, dass Waffen, die zu grausam zum Exportieren sind, auch von der eigenen Armee nicht eingesetzt werden sollten. Zu Protokoll gegebene Reden All diese Entwicklungen sind wichtige Schritte in die richtige Richtung. Allerdings bleibt noch viel zu tun, bis eine vollständige und globale Ächtung sämtlicher Formen von Streumunition durchgesetzt ist. Die Regelungen der Streumunitionskonvention und des hier debattierten Gesetzes enthalten noch zahlreiche Lücken und Ausnahmeregelungen. Diese sind aus humanitären Erwägungen nicht akzeptabel. So wird Munition vom Verbot ausgenommen, wenn sie weniger als zehn explosive Submunitionen enthält, oder Munition, die mit einem elektronischen Selbstzerstörungsmechanismus ausgestattet ist. Dabei ist nicht gesichert, dass diese Selbstzerstörung auch wirklich unter allen Bedingungen zuverlässig funktioniert. Dass die Ausnahmeregelungen ihren Weg in die Gesetzestexte gefunden haben, ist maßgeblich die Schuld der deutschen Regierung. Die Bundesregierung hat in den Verhandlungen über das Oslo-Abkommen die Interessen der deutschen Rüstungsindustrie vertreten und mit massivem Druck solche Ausnahmeregelung durchgesetzt. Sogenannte Zielpunktmunition, deren Definition exakt auf das Diehl-Produkt „Smart 155“ zutrifft, gilt nicht als Streubombe. Der Bundesregierung geht es also explizit um den Erhalt von Absatzmöglichkeiten für die deutsche Rüstungsindustrie. In Österreich fällt sogenannte Zielpunktmunition bereits seit 2007 unter das Streubombenverbot. In den Verhandlungsdokumenten der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz wurde Zielpunktmunition unter dem Titel „Ausnahmen für weiterhin erlaubte Streumunitionstypen“ geführt. Diese umstrittene Definition hat nun auch zu juristischen Problemen für einen Journalisten geführt, der nach dem Urteil eines Münchner Gerichtes nun die Streumunition „Smart 155“ nicht mehr als „Streumunition“ bezeichnen darf. Internationale Militärexperten zweifeln zwar, dass Smart wirklich alle Bedingungen der Konvention erfüllt. Sie verweisen auf negative Erfahrungen mit vergleichbarer Munition im Irakkriegseinsatz, die Blindgänger hinterließ. Trotzdem vertraute das Münchner Gericht den Herstellerangaben. Die Linke erwartet von der Bundesregierung, dass sie endlich die Interessen der Menschen und nicht diejenigen der Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt. Dazu ist es notwendig, nicht nur schnell zu ratifizieren, sondern auch die Vernichtung der Lagerbestände in Angriff zu nehmen und die Beteiligung an Einsätzen, bei denen auch Streumunition eingesetzt wird, definitiv auszuschließen. Die Linke wird ebenfalls sehr genau und kritisch verfolgen, welche Pläne für sogenannte alternative Flächenmunition entwickelt werden. Es darf nicht sein, dass die eine grausame Waffe gegen andere grausame Systeme ausgetauscht wird. Wir treten gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr ein und sehen deswegen keinerlei Bedarf für Flächenmunition - welcher Art auch immer.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben nicht vergessen: Diese Bundesregierung war in der Frage der Streumunitionspolitik mit ihrer Hal- tung lange Zeit Bremser einer umfassenden und raschen Ächtung. Umso erfreulicher ist es, dass man sich im Mai vergangenen Jahres auf einen Kurswechsel eingelassen hat und im Dezember zu den 94 Unterzeichnern des Oslo- Abkommens gehörte. Die grüne Bundestagsfraktion be- grüßt, dass die Bundesregierung dem Parlament nun bin- nen vergleichsweise kurzer Zeit den Gesetzentwurf zur Ratifizierung des Osloer Streumunitionsabkommens vor- legt. Wir möchten, dass das Abkommen so schnell wie mög- lich in Kraft tritt. Obwohl es eine Reihe offener Fragen gibt, auf die ich später eingehen werde, sind wir an einer zügigen Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag in- teressiert. Wir werden der Bundesregierung keine Steine in den Weg legen, sondern konstruktiv mitwirken. Ich denke, es wäre ein gutes Zeichen, wenn die Bundesregie- rung, sozusagen beseelt vom Geist der Abrüstung, die Ur- kunde zu Pfingsten hinterlegen könnte. Das macht sich auch für den bevorstehenden Wahlkampf gut. Dann kann man von abrüstungspolitischen Sündenfällen, ich nenne hier nur den indischen Nukleardeal, die Nichtratifizie- rung des AKSE-Vertrags und die verheerende Rüstungs- exportpolitik, ein wenig ablenken. Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was wir in den vorangegangenen Debatten oder in unseren parla- mentarischen Anfragen und Anträgen zum Thema zu Pro- tokoll gegeben haben. Das kann man nachlesen. Lassen Sie mich zunächst nur noch einmal betonen, wie wichtig dieses Zeichen von Oslo auch über den Streumunitions- bereich hinaus ist. Im Abrüstungsbereich ist die weitge- hende Ächtung dieser besonders grausamen Waffe ein Licht in der Finsternis. Das Oslo-Abkommen stärkt die Hoffnung, dass auch hier ein Wandel möglich ist. Dass die größten Streumunitionsstaaten, wie die USA, Russland, China, Indien, Pakistan usw., nicht dabei sind und damit nur etwa 10 Prozent der weltweiten Bestände unter das Abkommen fallen, ist zweifellos ein Manko. Aber wir sind zuversichtlich, dass sich künftig kein Staat mehr erlauben kann, diese Waffen einzusetzen, ohne als Schurkenstaat an den Pranger gestellt zu werden. Wir ha- ben das schon im Georgienkrieg gesehen. Und wir wissen aus der Landminenerfahrung, dass solche Abkommen auch auf Nichtmitglieder eine hemmende Wirkung entfal- ten. Die Ankündigung der US-Administration, künftig eine restriktivere Exportpolitik im Bereich der Streumuni- tion verfolgen zu wollen, ist sicherlich eine erste, wenn auch nicht hinreichende Reaktion auf Oslo. Der von Norwegen eingeleitete Prozess zeigt uns: Der Ansatz, immer auf die USA oder andere zu warten, hilft uns oft nicht weiter. Die USA und andere führende Ak- teure mitzunehmen, ist zweifellos wichtig. Aber wir dür- fen uns, gerade wenn es um Fragen humanitärer Rüs- tungskontrolle geht, nicht ausbremsen oder elementare Standards verwässern lassen. Der Ottawa- und Oslo- Prozess zeigen, dass wir in bestimmten Bereichen mit ei- nem Avantgarde-Ansatz wesentlich erfolgreicher sind. Daraus müssen wir für die Zukunft - zum Beispiel im Be- reich von Uranmunition oder Atomwaffen - Lehren zie- hen. Und es wäre gut, wenn Deutschland mit zu den Vor- reitern und nicht zu den Bremsern gehören würde. Zu Protokoll gegebene Reden Zur Erinnerung sei nur gesagt: Wir Grüne haben uns immer gegen die Augenwischerei von vermeintlich unge- fährlicher Streumunition gewehrt und uns für eine rasche Ächtung jeglicher Streumunition ausgesprochen. Was uns hier die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen als ungefährliche Streumunition unterjubeln wollten, war haarsträubend. Und wir waren es auch, die - übrigens als einzige Fraktion im Bundestag - schon früh gefordert ha- ben, nicht nur auf den mühsamen Weg über die VN-Waf- fenkonvention zu setzen, sondern dem Ottawaer Modell zu folgen. Ziel muss es sein, das Oslo-Übereinkommen zu einem universell gültigen Abkommen mit größtmöglicher Mitgliedschaft zu machen. Die Standards sind jedenfalls gesetzt. Ein neues VN-Waffenprotokoll zu Streumunition kann und darf nicht hinter den Osloer Konsens zurückfal- len. Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einigen kriti- schen Punkten Stellung nehmen und unsere Erwartungen darlegen. Sie wissen, dass wir uns bei der Definition, ab wann man von Streumunition sprechen kann, für eine möglichst umfassende Lösung eingesetzt haben. Die Bundesregie- rung hat mit Erfolg durchgesetzt, dass wir jetzt eine wei- chere Definition haben, die die sogenannte Punktzielmu- nition wie die von Diehl und Rheinmetall hergestellte SMArt-Munition erlaubt. Die Bundesregierung ist nun in der Pflicht, zweifelsfrei nachzuweisen, dass diese Muni- tion auch unter ungünstigsten Bedingungen nicht den- noch wie Streumunition wirkt und das Leben von Zivilis- ten bedroht. Im Übrigen, das sei hier erlaubt, habe ich kein Verständnis dafür, dass ein Rüstungsunternehmen, das in nicht unerheblichem Umfang Mittel aus dem Bun- deshaushalt erhält, einen Journalisten vor Gericht zerrt, nur weil er eine Meinung vertritt, die dem Unternehmen nicht passt. Obwohl 18 der 26 NATO-Staaten und 19 der 27 EU- Staaten die Konvention unterzeichnet haben, hat sich die Bundesregierung für eine Ausnahmeklausel für Bündnis- partner eingesetzt. Wir haben große Bedenken, dass der „Artikel 21“ dazu führt, dass andere Staaten Streumuni- tion einsetzen und wir nichts dagegen unternehmen oder uns gar unterstützend beteiligen. Wir begrüßen, dass sich die Bundesregierung in der Denkschrift dafür einsetzt, dass die Bündnispartner auf den Einsatz von Streumuni- tion verzichten und dem Abkommen beitreten. Allerdings untergräbt die gleichzeitige Ankündigung, dass man im Rahmen der Befehlsstruktur Befehle zum Streumuni- tionseinsatz ohne Vertragsverstoß weitergeben könne, diese Zusicherung. Dies erschwert uns die Zustimmung zu dem Gesetzentwurf. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung sollten unmissverständlich klarstellen: Es ist nach dem Oslo-Abkommen kein Zeichen von Bünd- nisfähigkeit, wenn Bündnispartner weiterhin diese beson- ders verheerend wirkenden Streuwaffen einsetzen und wir wegschauen oder gar die Einsatzbefehle weitergeben. Die Bundesregierung muss in der NATO und in der EU darauf hinwirken, dass Streumunition nicht mehr zum zu- lässigen Waffenarsenal auch im Rahmen von bündnisge- meinsamen Operationen gehört. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung im Dezember unter anderem aufgefordert, das Oslo-Abkom- men in Deutschland binnen vier Jahren umzusetzen. Wir erwarten, dass die Bundesregierung die in Deutschland vorhandenen Streumunitionsbestände offenlegt, zügig vernichtet und auch anderen Staaten bei der Vernichtung ihrer Bestände und Opferfürsorge behilflich ist. Deutsche dürfen sich nicht mehr an der Entwicklung, Herstellung, Lagerung, dem Erwerb und dem Einsatz dieser Waffen beteiligen. Das heißt für uns: auch keine Zulieferung von streumunitionsrelevanten Komponenten. Wir erwarten, dass es auch hinsichtlich der Investmentpolitik klare Richtlinien gibt, sich nicht mehr an Projekten zu beteili- gen, die die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und den Einsatz von Streumunition unterstützen. Lassen Sie mich zum Schluss all jenen danken, die dazu beigetragen haben, dass es zu diesem Abkommen und zum Kurswechsel innerhalb der Bundesregierung ge- kommen ist. Unser Dank geht dabei ausdrücklich auch an Nichtregierungsorganisationen wie landmine.de und Handicap International, die sich beharrlich für dieses wichtige Thema eingesetzt und im besten Sinne Lobbyar- beit betrieben haben. Lassen Sie uns weiterhin gemein- sam und entschieden für die rasche und weltweite Umset- zung dieses Abkommens werben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/12226 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- gelung der abfallrechtlichen Produktverant- wortung für Batterien und Akkumulatoren - Drucksachen 16/12227, 16/12301 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen - Drucksache 16/11917 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Michael Brand, CDU/ CSU, Gerd Bollmann, SPD, Horst Meierhofer, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit der Umsetzung der Richtlinie der EU aus dem Jahre 2006 durch die Neuregelung des Gesetzes zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für Batterien und Akkumulatoren wird ein weiterer und ein wichtiger Schritt beim umweltschonende Umgang mit den für den Verbraucheralltag wie für die Industrie dynamisch an Bedeutung zunehmenden Einsatz von mobiler Versorgung mit elektrischer Energie durch Batterien und Akkus getan. Dass wir angesichts aktueller umweltrelevanter Debatten um Umweltprämien, Energiesparleuchten und Biokraftstoffe auch die kleinen und großen „Helferlein“ im privaten und wirtschaftlichen Alltag mit besonderer Sorgfalt im Blick auf deren Lebensende - oder neudeutsch „end of cycle“ - betrachten, gehört zu den Grundvoraussetzungen einer von der CDU/CSU verfochtenen Linie, die eine Fortentwicklung der auf Ressourcenschonung und ökologische Sensibilität ausgerichteten sozialen Marktwirtschaft verfolgt. Dazu zählt auch die weitere Reduzierung der Schadstoffgehalte in den Produkten, hier Cadmium, sowie die Kennzeichnungspflicht, die für die Käufer eine klare Angabe zu Schadstoffgehalt und Kapazität beinhaltet. Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden wir in diesem Zusammenhang ebenso im Ausschuss beraten. Wie nicht selten sind in diesen Anträgen prinzipiell richtige mit operativ falschen Ansätzen und Zielen vermischt worden. Doch dazu wird man sich im Ausschuss und bei den Schlussberatungen näher austauschen können. Da beim Stand der Technik bei der Produktion von Batterien und Akkus wertvolle, knappe sowie sehr umweltschädliche Ressourcen verbraucht werden, sollen mit der Umsetzung der EU-weit gültigen Richtlinie Abfallstoffe besser als bislang erfasst werden, um Ressourcen durch Rohstoffrückgewinnung zu schonen und hohe Umweltbelastungen deutlich zu reduzieren. So werden durch die vorgesehene Steigerung der Sammelquote bereits bis 2012 auf mindestens 35 Prozent sowie bis 2016 auf dann 45 Prozent weitere, zusätzliche regulatorische Anreize zur Sammlung und Wiederverwertung gegeben und eine die Umwelt belastende Entsorgung von Altbatterien weiter eingeschränkt. Dass wir in Deutschland dabei auf ein seit 10 Jahren erprobtes System der GRS aufsetzen können, in dem private Wirtschaft und kommunale Entsorgungsträger eine insgesamt gut funktionierende, wenn auch verbesserungsfähige Erfassungs- und Sammelstruktur für Altbatterien installiert und im Dauerbetrieb umgesetzt haben, kann in diesem Zusammenhang positiv verbucht werden. Wenn in der Umsetzung des Gesetzes nun Fragen seitens der Produzenten aufgeworfen werden und von dieser Seite eine Beibehaltung der von den Kommunen bzw. den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern heute erbrachten Leistungen im Zusammenhang mit der Sammlung von Altbatterien verlangt wird, ist dies eine interessante ordnungspolitische Einlassung, der wir in den Ausschussberatungen im Detail noch werden nachgehen müssen. Es ist aus Sicht der CDU/CSU zweifelsfrei so, dass die Leistungen der Kommunen bei der Erfassung und Sammlung von Altbatterien wie auch der von Elektroaltgeräten einen willkommenen, weil stabilisierenden Beitrag zum Umweltschutz wie zum Recycling und zur Ressourcenschonung in diesen Bereichen darstellen. Insofern ist die Haltung der beteiligten Wirtschaft, sich lieber mit den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern als mit dem Handel auseinandersetzen zu wollen, sehr nachvollziehbar. Dennoch wird zu prüfen sein, inwiefern Teile der systemisch bei den Herstellern zu verortenden Produktverantwortung von diesen auf Dauer auf die öffentliche Hand und somit auf die Allgemeinheit der Beitragszahler von kommunalen Entsorgungsgebühren übergewälzt werden sollen. Insofern ist sicher der Punkt einer verpflichtenden Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger an der Erfassung bzw. Sammlung trotz oder gerade wegen der anerkannten Erfolge der öffentlich-rechtlicher Entsorgungsträger genau zu prüfen. Es ist für die CDU/CSU nicht ausgemacht, dass die öffentliche Hand hier Aufwand und Kosten tragen soll, die angesichts der zu erwartenden weiteren Dynamik beim Einsatz von Batterien und Akkus eher steigen als sinken dürften. In den Beratungen der kommenden Wochen werden wir hier Fragen zu beantworten und zu entscheiden haben, die nicht mit dem Hinweis auf geringe Kostenanteile der Kommunen abgetan sein dürften. Wir erwarten die Darstellung der unterschiedlichen Positionen und der damit zusammenhängenden Erläuterungen zu den jeweiligen Kosten mit großem Interesse. Allerdings, und auch das wird in den Beratungen eine Rolle spielen, werden wir als CDU/CSU nicht tatenlos einem Konzentrationsprozess durch eine zu enge Auslegung der Produktverantwortung folgen können. Wir wollen Innovation in Logistik und Recycling durch wettbewerbsoffene Strukturen. Insofern ist beispielsweise die unternehmensinterne und Wettbewerb ausgrenzende Ausgabe und Rücknahme von Batterien zum Beispiel im KfzBereich nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir wollen einen differenzierten, qualitativ wettbewerbsfähigen und ökologisch verantwortbaren Mix an Lösungen und Marktbeteiligten. Dies scheint nicht immer im Interesse aller zu liegen, weswegen hier besonderes Augenmerk erforderlich erscheint. Wir übersehen dabei nicht, dass es im Rahmen von Internationalisierung und Globalisierung nicht nur Kostensenkungen für die Produkte, sondern eben auch Wettbewerbsverzerrungen zulasten qualitativer Produkte entstehen können. Wir wollen dezidiert nicht einer Überschwemmung des Marktes mit leistungsschwachen, unter zweifelhaften oder gar völlig indiskutablen Produktionsbedingungen und ökologisch katastrophalen Bedingungen hergestellten Batterien oder Akkus untätig zusehen. Dies wäre gegen die Interessen der Verbraucher, und es wäre eine ökologische Sünde, der wir durch sinnvolle und angemessene Regulierung einen Riegel vorschieben können. Dass der Bundesrat Änderungen am vorgelegten Gesetzentwurf wünscht und die Bundesregierung ihrerseits Zu Protokoll gegebene Reden gestern eine Gegenäußerung beschlossen hat, zeigt ebenfalls einen klaren Beratungsbedarf auf. Insofern bleiben die beteiligten Ressorts auf Bundesebene wie die Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern aufgefordert, den zuständigen Ausschüssen ihre Positionen und die entsprechenden Argumente vorzutragen. Die Situation nach der gestrigen Gegenäußerung der Bundesregierung ist Anlass zu weiteren Abstimmungsgesprächen, die wir als CDU/CSU wachsam und konstruktiv begleiten. Wir werden dabei sicherlich so zügig vorangehen, dass wir das Ziel des Inkrafttretens des neuen Gesetzes in diesem Jahr in jedem Falle erreichen werden. Den beteiligten Kreisen sei von dieser Stelle aus empfohlen, nicht nur den Dialog mit der Exekutive in Bund und Ländern zu pflegen. Sich mit guten Argumenten und natürlich auch kritischen Anmerkungen an das Parlament zu wenden, ist der Sache sicher selten abträglich. Die CDU/CSU für ihren Teil hat sich Rat von fachkundigen Beobachtern eingeholt, tut dies weiter und lädt herzlich dazu ein, auch in diesem Thema von weitreichender praktischer Konsequenz vertrauensvoll und offen den Dialog zu suchen. Am Ende sollte unserer Auffassung nach eine Regelung stehen, die - wie gute Batterien oder besser noch: gute, wiederverwertbare Akkus - eine lange Reichweite im operativen Dauerbetrieb ermöglicht. Die CDU/CSU begibt sich sozusagen frisch aufgeladen in die kommenden Beratungen, um mit der nötigen Energie und hoher Ausdauer zu beraten. Die Kapazität dafür haben wir sicherlich, und wir laden zum fachlichen Dialog ein.

Gerd Bollmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003508, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem heute eingebrachten Batteriegesetz wollen wir die umweltverträgliche Entsorgung von gebrauchten Batterien und Akkumulatoren neu regeln. Damit setzen wir die entsprechenden europäischen Richtlinien vom 6. September um. Nach Angaben der Bundesregierung wurden 2006 rund 1,5 Milliarden Gerätebatterien in Verkehr gebracht, dabei lag der Anteil an wiederaufladbaren Batterien bei ungefähr 10 Prozent. Zukünftig wird die Zahl neuer Batterien durch den steigenden Einsatz elektrischer und elektronischer Geräte stark ansteigen. Auch neue, von uns gewollte Anwendungsgebiete, wie die Energiespeicherung und Hybridfahrzeuge, wirken sich, vor allem im Bereich der Industriebatterien, verbrauchssteigernd aus. Dabei dürfte es jedem klar sein, dass gebrauchte Batterien nicht so einfach in die Hausmülltonne geworfen werden können. Altbatterien müssen vollständig und getrennt von anderem Müll gesammelt, abgeholt und umweltverträglich behandelt oder recycelt werden. In Deutschland haben wir bereits durch die Batterieverordnung, aber auch durch freiwillige Teilnahme von Kommunen, ein gut funktionierendes Rücknahmesystem. Ebenso sind infolge der technischen Innovation heutige Batterien weitgehend frei von Blei, Cadmium und Quecksilber. Bundesweit gibt es über 170 000 Sammelstellen. Insgesamt rund 400 000 Behälter stehen in Supermärkten, Universitäten, Unternehmen, öffentlichen Gebäuden und auf Recyclinghöfen zur Verfügung. Aber auch im Bereich der Batterieentsorgung sind Verbesserungen möglich. Mit dem vorliegenden Entwurf des „Gesetzes zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für Batterien und Akkumulatoren“ setzen wir nicht nur die Batterierichtlinie um, sondern wir verbessern Gesundheitsschutz, Sammlung und stoffliche Verwertung sowie die ordnungsgemäße Entsorgung alter Batterien. Dabei werden funktionierende Rücknahme- und Entsorgungsstrukturen beibehalten. Unser Ziel ist es, das bereits bestehende System zu schützen und weiter zu verbessern. Für den Bürger bleibt alles beim Alten. Der vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf ist meiner Meinung nach sehr gut. Insbesondere die weitere Einschränkung für den Einsatz gefährlicher Stoffe wie Cadmium und Quecksilber in Batterien ist sehr begrüßenswert. Sie dient sowohl dem Gesundheits- als auch dem Umweltschutz. Positiv ist ebenfalls, dass erstmals verbindliche Sammelziele für Altbatterien - 35 Prozent bis 2012 und bis 2016 45 Prozent - festgelegt werden. Verantwortlich für die Rücknahme und Verwertung sind die Hersteller. Die SPD begrüßt, dass mit diesem Gesetz Hersteller und Vertreiber eindeutig verpflichtet werden, Altbatterien zurücknehmen und umweltverträglich zu entsorgen. Die Vertreiber müssen für die Bürger deutlich sichtbar Sammelstellen in ihren Verkaufsstellen einrichten. Die Hersteller müssen dann die Altbatterien abholen und weitgehend stofflich verwerten. Diese Aufgabe können die Hersteller über das bereits bestehende gemeinsame Rücknahmesystem der Industrie oder über herstellerindividuelle Rücknahmesysteme, quasi Selbstentsorger, bewerkstelligen. Mit dieser Regelung wird für diesen speziellen Abfallbereich die ungeteilte Produktverantwortung von Herstellern und Vertreibern durchgesetzt. Eine Abwälzung der Verantwortung und Kosten auf Kommunen und Bürger wird verhindert. Damit ist ein sozialdemokratisches Ziel in der Abfallpolitik zumindest teilweise erreicht worden. Dies bedeutet aber nicht, dass die den Bürgern bekannten, von vielen Kommunen eingerichteten Rückgabemöglichkeiten nun verboten sind. Die Kommunen können freiwillig ihre bewährten Sammelsysteme beibehalten. Ich appelliere an die Kommunen, dies auch zu tun. Viele Bürger haben sich daran gewöhnt. Es ist ein Akt der Bürgerfreundlichkeit und des freiwilligen Umweltschutzes, der jeder Stadt gut zu Gesicht steht. Ein solches freiwilliges Engagement von Kommunen dürfen Hersteller und Vertreiber jedoch nicht zum Vorwand nehmen, ihre Aufgaben zu vernachlässigen. Forderungen aus der Wirtschaft, die Kommunen zum Sammeln zu verpflichten, lehnen wir ab. Die Einhaltung gesetzlicher Auflagen, Gebote und Verbote muss aber auch bezüglich der Durchführung kontrolliert werden. Dazu wird ein zentrales Melderegister für die Batteriehersteller beim Umweltbundesamt eingerichtet. Zugleich wird dem Umweltbundesamt die Verfolgung bestimmter Bußgeldbestände bei Verstößen gegen die Meldepflicht und bestimmte Grundpflichten der abfallrechtlichen Produktverantwortung übertragen. Eine Zu Protokoll gegebene Reden zentrale, länderübergreifende Verfolgung von Trittbrettfahrern wird so sichergestellt. Auch die betroffenen Wirtschaftskreise haben sich dafür eingesetzt. Diese Regelung ist notwendig. Denken Sie daran, welche Probleme die Trittbrettfahrer im Bereich der Verpackungsverordnung bewirkt haben. Nun hat der Bundesrat unter anderem folgende Änderung beschlossen: Die herstellerindividuellen Rücknahmesysteme, also Selbstentsorger, sollen nicht genehmigt, sondern nur angezeigt werden. Eine eigenständige Bußgeldnorm soll es nicht geben, also keine Bußgelder gegen Verstöße. Ich kann nachvollziehen, dass die Bundesländer Verwaltungsaufwand und Bürokratie gering halten wollen. Das darf aber nicht dazu führen, dass der Vollzug gar nicht kontrolliert und Verstöße nicht geahndet werden. Man stellt ja auch kein Verkehrsschild mit Tempobegrenzung auf und schreibt gleichzeitig daneben: Verstöße werden nicht bestraft. Gerade auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Verpackungsverordnung ist ein wirksames ordnungsrechtliches Instrument zur Erreichung unserer abfallpolitischen Ziele notwendig. Ich habe hier bereits mehrfach erwähnt: Bürokratieabbau darf nicht missverstanden werden. Bürokratieabbau ist kein Aussetzen der Vollzugskontrolle. Wir erleben es bei den Skandalen um illegale Abfallentsorgung in Ton- und Kiesgruben. In manchen Bereichen findet eine fatale Entwicklung statt. Lassen Sie es mich ganz drastisch sagen: Ohne Kontrollen beim Verzug brauchen wir uns nicht der Mühe einer Gesetzgebung zu unterwerfen. Ohne Überprüfung auf Einhaltung ist ein Gesetz nur Schein. Gesetzestreue Bürger und Firmen sind die Benachteiligten, in unserem Fall auch die Umwelt. Ich appelliere daher an die Vollzugsbehören und an die Länder, Bürokratieabbau nicht mit Personalabbau und völligem Verzicht auf Kontrollen zu verwechseln. In dem konkreten Fall stimme ich der Bundesregierung zu, die in ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates diesen Änderungswunsch ablehnt. Insgesamt bin ich der Meinung, dass der Gesetzentwurf der Weiterentwicklung der Kreislaufwirtschaft dient und mit unseren abfallpolitischen Zielen übereinstimmt.

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Sammlung und das Recycling von Altbatterien sind bei uns in Deutschland bereits heute eine Erfolgsgeschichte. Die Sammelquote alter Batterien liegt mit mehr als 41 Prozent schon heute höher, als die EU fordert, und auch der Schadstoffgehalt der Batterien wurde in den letzten Jahren drastisch reduziert. Hinzu kommt: Die gewerbliche Wirtschaft verfügt seit langem über gefestigte und leistungsfähige Strukturen zur Rücknahme alter Batterien. Kurz: Eigentlich gibt es bei uns keinen Änderungsbedarf. Doch, wie so oft in der Umweltpolitik, geht es auch bei dem Entwurf für das Batteriegesetz, den wir heute diskutieren, um die Umsetzung Brüssler Vorgaben, und die sind aus europäischer Perspektive durchaus zu begrüßen. Schließlich gibt es in einigen Mitgliedstaaten in puncto vernünftiger und umweltgerechter Entsorgung von Altbatterien noch einiges zu tun. Unsere Kritik richtet sich deshalb auch weniger gegen das Umsetzungsgesetz als solches. Im Gegenteil: Wir begrüßen vor allem, dass das Bundeskabinett, was die Übertragung der Herstellerpflichten auf den Handel anbelangt, noch einmal nachjustiert hat. Der ursprüngliche Vorschlag des BMU, dem Handel immer dann die Pflichten der Hersteller zu übertragen, wenn diese ihre Marktteilnahme nicht ordnungsgemäß anzeigen, wäre nicht nur über die Vorgaben des Europarechts, sondern auch weit über das politisch Vertretbare hinausgeschossen. Die jetzige Einschränkung auf vorsätzliches und fahrlässiges Handeln seitens der Händler ist unserer Ansicht nach weitaus sachgerechter. Auch begrüßen wir die Idee nach einer aussagekräftigen, eindeutigen und verständlichen Kennzeichnung von Batterien - so wie die FDP das ja generell für die Produktkennzeichnung fordert. Schließlich spielt für uns Liberale auch die souveräne Entscheidung der Konsumenten eine wichtige Rolle. Wir sind der Meinung, ökologische Produktverantwortung darf nicht nur einseitig als Produzentenverantwortung verstanden und mit dem Erlass möglichst strenger Vorschriften für bestimmte Produkte gleichgesetzt werden, wie dies zum Beispiel bei den Glühbirnen unlängst der Fall war, sondern muss auch den mündigen Verbraucher mit einbeziehen. Doch gerade vor diesem Hintergrund hätten wir uns die Kennzeichnung, wie sie in der Richtlinie und demzufolge eben auch im nationalen Umsetzungsgesetz vorgesehen sind, schon etwas transparenter gewünscht. Das bisher bestehende Kennzeichen der durchgestrichenen Mülltonne zukünftig um die chemischen Symbole „Hg“ bei mehr als 0,0005 Prozent Quecksilber, „Cd“ bei mehr als 0,002 Prozent Cadmium und „Pb“ bei mehr als 0,004 Prozent Blei zu ergänzen, ist für uns alles andere als verständlich. Im Gegenteil: Es geht an der Lebenswirklichkeit der Menschen und an ihren konsumrelevanten Entscheidungen vorbei. Doch auch hier sind die Würfel in Brüssel leider bereits gefallen, und die nationale Ebene muss umsetzen. Zum Antrag der Grünen: Wir Liberale halten es für falsch, für Batterien noch strengere Regulierungen oder gar eine Pfandpflicht einzuführen, wie Frau Kotting-Uhl fordert. Angesichts der geringen Preise herkömmlicher Haushaltsbatterien würde dies lediglich dem Handel eine ähnlich hübsche Zusatzeinnahme bescheren, wie wir dies schon vom Zwangspfand im Getränkebereich kennen, ohne dass das ökologisch etwas bringt.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn die Bundesregierung bei der Vorlage ihres Entwurfs eines Batteriegesetzes ({0}) betont, dieser Rechtsakt sei nur eine 1:1-Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie, so verzichtet sie in diesem Bereich der Abfall- und Produktpolitik auf eine Vorreiterrolle in der EU. Mehr noch: In zentralen Details ist der Entwurf sogar ein Rückschritt. Denn wie kann es sein, dass für Geräte-Altbatterien lediglich Rücknahmequoten von 35 Prozent bis zum Jahr 2012 gefordert werden, wo doch in der Praxis schon 2007 rund 40 Prozent erreicht wurden? Hier sind mindestens 70 Prozent gefordert. Die Zu Protokoll gegebene Reden Sammelquoten könnten noch weiter erhöht werden, indem die Pfandpflicht von Starterbatterien auf alle Batterien ausgedehnt würde - auch hier Fehlanzeige im Gesetzentwurf. Hohe Sammel- und Verwertungsquoten sind unter anderem deshalb wichtig, weil durch die Zunahme mobiler Endgeräte der Bedarf an ökologisch problematischen Einwegbatterien und Akkumulatoren rasant angestiegen ist - und wohl noch weiter steigen wird. Gefordert sind parallel energische Schritte, um den Einsatz von Einwegbatterien zugunsten von langlebigen wieder aufladbaren Akkumulatoren zu begrenzen. Schließlich vermindern zwei bis drei Prozent mehr Akkus in den entsprechenden Anwendungen circa 20 Prozent Einwegbatterien. Doch von solchen Regelungen ist im künftigen Gesetz nichts zu lesen. Zu einer verantwortungsvollen Abfall- und Produktpolitik gehört zudem, den Einsatz hochgiftiger Stoffe in Batterien und Akkus zu reduzieren und einen hohen Anteil stofflicher Verwertung anzustreben. Auch hier hat die Bundesregierung gepatzt: Ausnahmebestimmungen, etwa bei Knopfzellen oder schnurlosen Elektrowerkzeugen, durchlöchern das weitgehende Verbot des Einsatzes von Quecksilber bzw. Cadmium. Diese Ausnahmen sind nicht zu verstehen, denn es gibt bereits Alternativen für den Einsatz der gefährlichen und umweltbelastenden Stoffe. Bei der Verwertung fordert die Linke anspruchsvolle Quoten für die stoffliche Verwertung sowie - angesichts der hohen Schadstoffbelastung - die „bestverfügbare Technik“ als Standard bei den Verwertungsverfahren anstelle des vorgesehenen „Standes der Technik“. Kritisch zu sehen ist schließlich auch die Behandlung von Produkten mit fest eingebauten Altbatterien im Gesetz. Zwar ist nachvollziehbar, dass sich der Rücknahmeweg für Altbatterien für entsprechende Elektrogeräte nicht eignet. Allerdings wirkt die Freistellung von der Rücknahmeverpflichtung für eingebaute Batterien nach § 9 des Gesetzentwurfes wie eine Belohnung dafür, Akkus unsinnigerweise fest in Gehäuse zu integrieren. Sinnvollerweise müsste also hier ein grundsätzliches Verbot des festen Einbaus - etwa über eine Stichtagsregelung - die vorgesehene Lösung flankieren. In diesem Sinne unterstützen wir im Grundsatz den Antrag der Grünen. Über Details wird noch im Ausschuss zu reden sein.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Umweltdebatte ist seit Jahren von der Energiediskussion gekennzeichnet. Einige Verbesserungen bei der Energieeffizienz wurden auch erreicht. Aber ein Feld bereitet immer noch erhebliche Sorgen: die Energiespeicherung. Sie ist nur mit einem hohen Aufwand bei einer geringen Effizienz möglich. Das ist ja gerade auch das wesentliche Hindernis bei den erneuerbaren Energien und der Elektromobilität. Klassische Batterien und ihre wiederaufladbare Spielart, die Akkumulatoren, funktionieren auf der Basis der Elektrolyse und brauchen dazu eine Vielzahl von metallischen Stoffen. Von diesen Einsatzstoffen sind die meisten toxikologisch gefährlich, also giftig oder zumindest als sehr bedenklich eingestuft. Die zum Speichern notwendige Masse macht ebenfalls Probleme. Beispiel Elektrofahrzeuge: Die Batterien alleine sind oft schwerer als das Gesamtfahrzeug ohne Akku. Auch das mobile „Immer-und-Überall-ErreichbarSein“ braucht tragbare Energiespeicher. Seit dem Siegeszug der Informations- und Kommunikationstechnologien sind daher immer mehr kleine Batterien im Einsatz. In der Folge gab es einen Sinneswandel bei der ökologischen Folgeabschätzung. Galten Batterien in den 1980er-Jahren noch als harmlos, erklärte das Umweltbundesamt Ende der 1990er-Jahre die Batterien als d i e bedeutsame Quelle für den Schwermetalleintrag in den Hausmüll. Gerade Akkus weisen einen hohen Anteil von Nickel und Cadmium auf. Neben einer Reduzierung des Quecksilbergehaltes in Zink/Kohle- und Alkali/Mangan-Batterien zielte deshalb zunächst eine Selbstverpflichtung der Batteriehersteller und - als das nichts half - 2001 die Batterieverordnung auf die Getrenntsammlung von Batterien ab. Die Rücknahmepflicht haben die Hersteller in Eigenverantwortung über eine Stiftung geregelt - das Gemeinsame Rücknahmesystem Batterien ({0}). Sie funk- tioniert ähnlich wie die sogenannte EAR, die Stiftung für das „Elektro-Altgeräte Register“, die durch das Elektro- nikgerätegesetz 2005 nötig wurde. Diese industrielle Stif- tungskonstruktion ist übrigens deutlich fähiger als das komplizierte System bei der Verpackungsrücknahme. Nun liegt der Entwurf eines Gesetzes mit dem viel ver- sprechenden Titel „Zur Neuregelung der abfallrechtli- chen Produktverantwortung für Batterien und Akkumula- toren“ vor. Dieser Entwurf wird seinem Titel jedoch in keiner Art und Weise gerecht. Im Klartext: Er ist eine Farce. Schon das Ziel ist viel zu eng gefasst: Es beinhaltet keinen Vorschlag zur Umweltentlastung. Noch in der EU- Richtlinie zu Batterien - 91/157/EWG - heißt es: „Die Umweltbelastungen durch Batterien und Akkumulatoren sind auf ein Mindestmaß zu beschränken, um so zu Schutz, Erhaltung und Erhöhung der Qualität der Um- welt beizutragen.“ Demzufolge müsste das zu schaffende Gesetz den Rahmen für eine Reduktion von Umweltbelas- tungen stecken und damit Forderungen zur Energieeffi- zienz und zur Nutzungsintensität und -dauer beinhalten. Es ist völlig klar, dass das bloße Bekenntnis zum Sammeln und Verwerten von Altbatterien nicht reicht! Geradezu absurd ist es, wenn die geforderte Sammelquote unter- halb des Status quo liegt. Es wirkt lächerlich, wenn in dem Gesetzentwurf gefordert wird, bis zum Jahr 2012 eine Sammelquote von 35 Prozent zu erreichen. Nach An- gaben der GRS, dem Gemeinsamen Rücknahmesystem, wurden bereits 2007 über 40 Prozent der Altbatterien ge- sammelt und einer Verwertung zugeführt. Wozu brauchen wir ein Gesetz, das weniger fordert, als heute - bei aller Unvollständigkeit der Erfassung - bereits erreicht wird? Nicht viel anders sieht es bei der Schwermetallbegren- zung aus. Es macht keinen Sinn, Knopfzellen vom Verbot des Einsatzes von Quecksilber auszunehmen, weil gerade sie einen hohen Quecksilberanteil aufweisen. Die Aus- nahmeregelung vom Verbot des Cadmiumeinsatzes für schnurlose Elektrowerkzeuge ist ebenfalls kontraproduk- tiv, sind diese „Power Tools“ doch anteilsmäßig der größte Verwendungszweck von Cadmiumbatterien. Dabei gibt es bereits gleichartige Elektrowerkzeuge, deren Ak- Zu Protokoll gegebene Reden kumulatoren den Grenzwert von Cadmium einhalten. Seit Jahren kooperiert das Umweltbundesamt mit Batterie- herstellern, um Substitutionen schließlich auch für Spe- zialanwendungen zu realisieren. Bündnis 90/Die Grünen fordert deshalb, keine Ausnahmen von Schadstoffbegren- zungen im Batteriegesetz zuzulassen. Und: Wir wollen eine Begrenzung der mengenmäßig dominierenden Ein- wegbatterien mit derzeit 90 Prozent. Denn um die Spei- cherleistung einer Reduktion von Einwegbatterien um 20 Prozent zu kompensieren, ist lediglich ein Zuwachs von 2 bis 3 Prozent an wieder aufladbaren Batterien er- forderlich. Die Substitution von Einweg- durch Mehrweg- batterien ist zudem ganz im Sinne der EU-Richtlinie zur Vermeidung der Umweltverschmutzung, IVU, und des Konzeptes der Integrierten Produktpolitik. Beide Regel- werke sind darauf angelegt, Umweltbelastungen entlang der ganzen Herstellungslinie zu reduzieren. Alte Batterien sollen umweltverträglich verwertet wer- den. Dazu ist eine Verdoppelung der bisherigen Sammel- quote erforderlich. Deutschland kann das schaffen. Es lässt sich leicht erreichen, wenn ein Pfand erhoben wird, so wie wir es in unserem Antrag „Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen“, Drucksache 16/11917, vor- schlagen. Was die wirklich zweckdienlichen Schritte zur abfall- rechtlichen Produktverantwortung bei Batterien und Ak- kumulatoren wären, haben wir in dem hier zur Debatte gestellten grünen Antrag benannt. Den Entwurf des Bat- teriegesetzes lehnen wir in der vorgelegten Form ab. Die gröbsten Mängel am Gesetzentwurf werden die Grünen durch Änderungsanträge im Fachausschuss zu heilen versuchen, und ich freue mich auf eine hoffentlich inhalt- lich getragene parlamentarische Auseinandersetzung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/12227, 16/12301 und 16/11917 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 e auf: e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ - Drucksache 16/12230 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Die Reden nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika Grütters, CDU/CSU, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, SPD, Hans-Joachim Otto, FDP, Petra Pau, Die Linke, Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12230 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volkmar Uwe Vogel, Dirk Fischer ({1}), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ernst Kranz, Petra Weis, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programm „Stadtumbau Ost“ - Fortsetzung eines Erfolgsprogramms - Drucksache 16/12284 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt neh- men wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, CDU/ CSU, Ernst Kranz, SPD, Joachim Günther, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich, Bündnis 90/ Die Grünen.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12284 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. März 2009, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.