Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Ihnen einige Änderungen in der Tagesordnung mitteilen und davor noch einen kurzen Wahlvorgang durchführen.
Auf Vorschlag der SPD-Fraktion soll der Kollege
Dr. Carl-Christian Dressel anstelle des Kollegen
Dr. Hans-Ulrich Krüger Mitglied im Gremium nach
Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist der Kollege Dressel zum Mitglied dieses Gremiums
gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD:
Kinder, Jugendliche, Familien stärken - Konsequenzen nach dem Amoklauf
({0})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({1})
a)Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Regelung der Verständigung im Strafverfahren
- Drucksache 16/12310 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
b)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Maßnahmen zur effektiven Regulierung der
Finanzmärkte
- Drucksache 16/10876 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c)Beratung der Unterrichtung durch die Deutsche
Welle
Zweite Fortschreibung der Aufgabenplanung der Deutschen Welle 2007 bis 2010 mit
Perspektiven für 2010 bis 2013
und
Zwischenevaluation 2008
- Drucksache 16/11836 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d)Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Mitnahmefähigkeit von beamten- und soldatenrechtlichen Versorgungsanwartschaften
- Drucksache 16/12036 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({6})
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung
- Drucksache 16/12282 Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:
Umsetzung des Beschlusses der EU in
Deutschland für einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Dienstleistungen
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kai Gehring, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen
- Drucksache 16/12303 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volkmar
Uwe Vogel, Dirk Fischer ({8}), Dr. Klaus
W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Ernst Kranz, Petra Weis, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Programm „Stadtumbau Ost“ - Fortsetzung
eines Erfolgsprogramms
- Drucksache 16/12284 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Ahrendt, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Notleidenden Unternehmen Sanierungschancen durch effizientere Gestaltung der gesetzlichen Regelungen im Insolvenzplanverfahren
geben
- Drucksache 16/12285 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar
Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.
Sicherheit und Zukunft - Initiative für ein sozial gerechtes Antikrisenprogramm
- Drucksache 16/12292 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({12}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer,
Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verfahren vereinfachen, Bürger entlasten,
Rechtssicherheit schaffen - Notwendige Bedingungen für die Sinnhaftigkeit eines Projekts „Umweltgesetzbuch“
- Drucksachen 16/9113, 16/10393 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({13})
Dr. Matthias Miersch
Lutz Heilmann
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Flexibler Eintritt in die Rente bei Wegfall der
Zuverdienstgrenzen
- Drucksachen 16/8542, 16/12311 Berichterstattung:
Abgeordneter Anton Schaaf
ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften
- Drucksache 16/8100 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({15})
- Drucksache 16/12315 Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Hans-Michael Goldmann
Karin Binder
Ulrike Höfken
Dabei soll wie immer von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der ursprünglich ohne Debatte vorgesehene Tagesordnungspunkt 39 e soll nach dem Tagesordnungspunkt 30
aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 12 und
31 c werden abgesetzt.
Schließlich mache ich auf drei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
({16}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im patentanwaltlichen Berufsrecht
- Drucksache 16/12061 überwiesen:
Rechtsausschuss ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Verteidigungsausschuss ({18}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zwei Jahre Europa-Vereinbarung - Bundesregierung muss ihre Verpflichtungen unverzüglich vollständig erfüllen
- Drucksache 16/12109 überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({19})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Der in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20}) zur
Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Gewerkschaften in der Türkei stärken
- Drucksache 16/11248 überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({21})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auch hier stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 19./20. März 2009
in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 2. April
2009 in London
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie zwei Entschließungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Darüber besteht offenkundig Einvernehmen und ist damit so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({22})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Auswirkungen der Finanzmarktkrise haben die Weltwirtschaft - wir spüren das jeden Tag - mittlerweile voll erfasst. Überall gehen Investitionen und Produktion
zurück. Die Arbeitslosigkeit steigt. Der Internationale
Währungsfonds und die Weltbank erwarten für dieses
Jahr bestenfalls weltweit eine Stagnation, wahrscheinlich sogar einen Rückgang der Weltwirtschaftsleistung.
Von dieser Entwicklung sind alle Wirtschaftsräume der
Welt betroffen. Kein Land kann sich davon abkoppeln.
Dies stärkt eben auch das Bewusstsein für die Notwendigkeit gemeinsamer Antworten.
Das Motto heißt also Kooperation statt Abschottung.
Das ist der einzige Weg, wieder zu Wachstum und zu
Beschäftigung zu kommen. Wir alle erleben in unseren
internationalen Kontakten, dass diese Erkenntnis Schritt
für Schritt Eingang in konkretes Handeln findet. Dies
war so bei den Gipfeltreffen der vergangenen Wochen
und Monate, und ich hoffe, dies wird auch bei dem anstehenden EU-Gipfel heute und morgen und bei dem
G-20-Gipfel am 1. und 2. April in London so sein.
Die Bundesregierung setzt sich mit aller Kraft dafür
ein, diese Chance zum gemeinsamen Handeln zu nutzen.
Wir müssen dabei zwei Fragen in den Mittelpunkt stellen. Erste Frage: Wie können wir unsere nationalen
Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkrise noch besser abstimmen und bündeln, damit
die in den einzelnen Staaten getroffenen Maßnahmen
sich nicht gegenseitig behindern, sondern befördern; an
welchen Stellen benötigen wir dazu gemeinsame europäische Regeln; gibt es gemeinsame europäische Projekte,
die wir jetzt vorziehen oder zusätzlich durchführen können, die uns in Europa hinsichtlich unserer Innovationskraft wirklich voranbringen? Genau darüber werden wir
heute und morgen sprechen. Das Motto des Rates muss
und sollte lauten: Wir meistern die Krise gemeinsam,
und wir legen in dieser Krise den Grund, um aus ihr als
Europäische Union dauerhaft gestärkt hervorzugehen.
({0})
Die zweite Frage, die wir behandeln, ist: Was müssen
wir tun, um zu verhindern, dass eine solche Krise sich in
Zukunft wiederholt? Dieses Thema kann nur im globalen Zusammenhang betrachtet werden. Deshalb wird es
im Vordergrund des zweiten Weltfinanzgipfels Anfang
April in London stehen.
Es gibt beim Europäischen Rat weitere Themen, von
denen ich heute nur eines kurz anreißen möchte, nämlich
die Aussagen zur Vorbereitung der Klimakonferenz in
Kopenhagen. Wir haben neben den Finanz- und Wirtschaftsmaßnahmen in diesem Jahr einen entscheidenden
internationalen Schritt zu meistern: die Erarbeitung eines
Post-Kioto-Abkommens, also eines Folgeabkommens
für das Kioto-Protokoll. Die entsprechende Konferenz
wird Ende des Jahres in Kopenhagen stattfinden. Aber
schon heute ist absehbar, dass wir sowohl den Gipfel in
London als auch das G-8- und G-5-Treffen - also das
Treffen der G 13, Stichwort: Heiligendamm-Prozess im Sommer nutzen müssen, um die Weichen zu stellen,
damit die Umweltminister Ende des Jahres auch wirklich
zu belastbaren Ergebnissen kommen. An diesem Punkt
wird sich genauso wie an der Frage einer Finanzmarktarchitektur zeigen, ob die Welt bereit ist, auf die globalen Fragen auch globale Antworten zu geben.
({1})
Ich füge hinzu, dass Europa sich seiner Aufgabe bewusst ist, hier eine Führungsrolle einzunehmen. Ich will
allerdings auch sagen, dass wir unser Licht nicht dauernd unter den Scheffel stellen sollten. Die Europäische
Union ist die einzige Staatengruppe, die klare Zusagen
gemacht hat, was die Reduktionsziele anbelangt. Wir
sind natürlich bereit, den Entwicklungsländern in Fragen
des Klimaschutzes zu helfen. Aber schon jetzt alle Angaben zu machen, bevor zum Beispiel die Vereinigten
Staaten von Amerika überhaupt ein Ziel für die mittlere
Sicht - sagen wir für 2020 - erarbeitet haben, das halte
ich verhandlungstaktisch für falsch. Wir können als Europäer das Problem nicht alleine lösen, aber wir wollen
Vorreiter sein; das sage ich hier zu.
Meine Damen und Herren, das Zusammenwachsen
der europäischen Volkswirtschaften im gemeinsamen
Binnenmarkt ist die entscheidende Grundlage für Wohlstand und Wachstum unseres Kontinents. Jeder Mitgliedstaat handelt heute mit all seinen EU-Partnern mehr als
mit allen anderen Ländern außerhalb der Europäischen
Union. Die natürliche Folge ist, dass wir aufs Engste
verflochten sind und dass sich jede Maßnahme in einem
Land natürlich sofort auf die Situation in allen anderen
Mitgliedstaaten auswirkt.
Deshalb ist es zwingend notwendig, dass wir uns seit
Beginn der Krise laufend und intensiv im Kreis der Mitgliedstaaten - bei den Finanzministern, bei den Außenministern, auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs - abstimmen. Der französische Präsident und ich
hatten deshalb Anfang März zu einem Sondertreffen eingeladen. Es ist richtig, dass wir im Mai noch einmal zu
einem Sondertreffen der Europäischen Union zusammenkommen, um uns über die Beschäftigungschancen
in der Krise auszutauschen.
Wir haben beim Rat im Dezember, also beim zurückliegenden Rat, innerhalb der Mitgliedstaaten mit der
Kommission abgestimmt, dass wir unsere nationalen
Konjunkturpakete koordinieren. Die Europäische Union
hat für 2009 und 2010 einen Konjunkturimpuls von
über 400 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, einschließlich der automatischen Stabilisatoren. Das sind
3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen
Union. Deutschland hat daran mit 80 Milliarden Euro einen wesentlichen Anteil. Unser Beitrag ist ausweislich
der Zahlen der Kommission mit 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Jahre 2009 und 2010 beziffert.
Das heißt, wir sind in der Spitzengruppe. Wir leisten
Überdurchschnittliches. Ich finde das richtig, weil wir
als Exportnation natürlich ein Interesse daran haben,
dass die Weltwirtschaft wieder auf die Beine kommt.
Wir können dies selbstbewusst sagen und deutlich machen; das halte ich für ganz wichtig.
({2})
Unsere Maßnahmen fügen sich in das ein, was die Europäische Kommission vorgegeben hat. Sie sind Anreize
für zusätzliche Investitionen in Bildung und Forschung,
in Infrastruktur und in Klimaschutz. Wir helfen Unternehmen, die aufgrund der Finanzmarktkrise keine Kredite bekommen, mit unserem Bürgschaftsprogramm.
Wir stärken die private Nachfrage durch eine Senkung
von Steuern und Abgaben, und wir sichern Beschäftigung, zum Beispiel durch die Verlängerung der Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld. Das ist im Übrigen ein Modell, das jetzt in vielen europäischen Staaten
Nachahmung findet, weil es eine wirkliche Brückenfunktion im Zusammenhang mit der Krise erfüllt. Wir
erleben das jeden Tag in Deutschland.
({3})
Wir folgen damit auch komplett der sogenannten Lissabon-Strategie, also der Wachstumsstrategie der Europäischen Union, die traditionell Gegenstand der Beratungen
des Frühjahrsrates ist.
Elemente unserer Strategie sind Maßnahmen zur Förderung der Innovationsfähigkeit und zum Bürokratieabbau, der in Europa glücklicherweise vorankommt, sowie
weitere Schritte auf dem Weg zur kohlenstoffarmen
Wirtschaft. Über zusätzliche Anreize durch gemeinsame
europäische Projekte werden wir auf diesem Rat diskutieren. Deutschland hat allerdings deutlich gemacht, dass
wir - wir werden nur zustimmen, wenn dies Eingang in
die Beschlüsse findet - zusätzliche Maßnahmen nur akzeptieren können, wenn sie 2009 oder 2010 wirklich
substanziell begonnen werden; denn es macht keinen
Sinn, Geld für die Jahre 2013, 2014 oder 2015 auszugeben, weil die Krise dann - davon gehen wir aus - längst
überwunden sein wird. Das muss sicher sein. Dafür treten wir ein.
({4})
Es geht darum, dass wir jetzt nicht schon wieder die
nächsten Konjunkturmaßnahmen fordern.
({5})
Ich halte davon überhaupt nichts. Die jetzigen Maßnahmen müssen wirken;
({6})
sie müssen ihre Wirkung entfalten können. Ein Überbietungswettbewerb von Versprechungen wird mit Sicherheit keine Ruhe in die Entwicklung bringen. Deshalb
halte ich es für außerordentlich gefährlich, wenn jetzt
transatlantische Gegensätze aufgebaut werden. Ich bin
dem amerikanischen Präsidenten sehr dankbar dafür,
dass er seinerseits gesagt hat, dass es sich hierbei um
eine künstliche Diskussion handelt. Wir brauchen psychologisch gute Signale von London und keinen Wettbewerb um nichtrealisierbare Konjunkturpakete. Wir haben unseren Beitrag jetzt erst einmal geleistet, und der
muss wirken.
({7})
Deutschland ist in einer guten Lage, weil wir in den
letzten Jahren unsere Staatsfinanzen konsolidiert haben.
Dadurch haben wir haushaltspolitische Spielräume gewonnen, um in dieser Krise zu agieren. Es ist ganz wichtig, dass wir auf dem Rat, der heute und morgen stattfindet, das Signal setzen, dass wir nach der Krise zur
nachhaltigen öffentlichen Finanzpolitik zurückkehren.
Das ist aus meiner Sicht und aus Sicht der Bundesregierung unbedingt erforderlich, um sicherzustellen, dass
Vertrauen in die Märkte hineinkommt und das Vertrauen
der Bürger wächst; es wäre falsch, wenn die Angst vor
zukünftigen Steuererhöhungen schon heute das Konsumverhalten bestimmen würde.
Deshalb ist es ein elementarer Fortschritt, dass es in
der Föderalismuskommission II gelungen ist, im Grundgesetz eine Schuldenbremse zu verankern, über die wir
nächste Woche debattieren werden. Ich möchte mich
ganz herzlich bei Herrn Struck und bei Herrn Oettinger
dafür bedanken, dass sie diese Föderalismuskommission
zum Erfolg geführt haben.
({8})
Wir hätten vielleicht kein Ergebnis bekommen, wenn die
Zeiten ganz normal gewesen wären. Dass wir in dieser
Krise die Kraft aufgebracht haben, diese Maßnahmen zu
vereinbaren, ist etwas, was international sehr wohl registriert wird; es findet allerdings auf internationaler Ebene
leider noch nicht so viele Nachahmer, wie ich mir das
wünschen würde. Deutschland kann und sollte hierfür
wirklich werben.
({9})
Wir werden uns auf dem Europäischen Rat über die
verschiedenen Maßnahmen austauschen. Wir werden
noch einmal deutlich machen, dass die Abschottung von
Märkten oder die Diskriminierung im europäischen Binnenmarkt kontraproduktive Verhaltensweisen sind - das
sind die falschen Antworten auf die Krise - und dass es
in dieser Krise nicht um Subventionswettläufe gehen
kann, weil auch das das Vertrauen zerstört. Das heißt,
wir müssen die grundlegenden Ordnungsprinzipien
einhalten, die glücklicherweise durch die Europäische
Union vorgegeben sind. Die Europäische Kommission
ist die Hüterin der Verträge. Die Regeln des europäischen Binnenmarktes haben sich in den vergangenen
Jahrzehnten bewährt, und sie haben auch in der Krise
Gültigkeit.
Allerdings sage ich auch: Die Kommission tut gut daran, wenn auch sie auf diese krisenhafte Situation reagiert. Das gilt für Bearbeitungszeiträume, und das gilt
zum Teil für Lockerungen im Beihilferecht. Ich sage
ausdrücklich, dass dies befristet sein sollte.
({10})
Das gilt für Ausschreibungsmöglichkeiten, die beschleunigt werden müssen. Dabei müssen die Flexibilitätsinstrumente, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt vorsieht, genutzt werden.
Ein ganz wesentlicher Punkt, den Deutschland im
Ecofin-Rat schon eingebracht hat und auf dem Europäischen Rat noch einmal einbringen wird, ist, dass wir sicherstellen müssen, dass die prozyklischen Wirkungen
des Basel-II-Abkommens - verständlicher gesagt: die
Tatsache, dass sich die Kreditbedingungen in der Krise
immer weiter verschärfen, wenn eine Branche in einer
schwierigen Situation ist - befristet ausgesetzt werden,
damit wir nicht im Frühjahr oder Sommer in eine Kreditklemme geraten, die sozusagen durch Basel II selbst erzeugt ist.
({11})
Wir werden sehr dafür kämpfen, das durchzusetzen. Das
kann mehr wert sein als manch weiteres Konjunkturprogramm. Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass unsere
amerikanischen Partner Basel II nie vollständig umgesetzt haben und dass es dadurch einen extremen Wettbewerbsunterschied gibt. Das können wir uns in der jetzigen Situation nicht leisten.
Wir werden ein klares Bekenntnis zum Stabilitätsund Wachstumspakt abgeben. Wir werden von deutscher Seite die Kommission ermuntern, die öffentlichen
Haushalte in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr sorgfältig zu überprüfen und Wert darauf zu legen, dass nach
der Krise ein Ausweg zu soliden Finanzen gefunden
wird. Das Beispiel des europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakts zeigt ebenso wie die Regeln des Binnenmarktes, dass Europa uns einen gemeinsamen Handlungs- und Orientierungsrahmen bietet, den wir natürlich
nutzen wollen und der uns zu einem kohärenten und gemeinschaftlichen Verhalten und Handeln bringt.
Wir müssen konstatieren, dass einige Mitgliedstaaten
- nicht nur Unternehmen, nicht nur Banken, sondern
auch Mitgliedstaaten - in eine Notsituation geraten sind.
Diese Mitgliedstaaten können - das haben wir immer
wieder deutlich gemacht - auf unsere Solidarität zählen.
Wir haben uns bereits im Dezember des vergangenen
Jahres darauf verständigt, dass wir versuchen, die Strukturfonds insbesondere für die mittel- und osteuropäischen Länder schneller zur Umsetzung zu bringen.
Auch hier ist die Kommission gefordert, bürokratische
Hemmnisse abzubauen. Es liegt nicht immer nur an den
Mitgliedstaaten, sondern zum Teil auch an der Möglichkeit, diese Strukturfonds überhaupt anzuwenden. Den
Mitgliedstaaten, die finanziell in Not geraten sind, werden wir helfen. Wir haben dies bereits an den Beispielen
Ungarn und Lettland gezeigt; wenn es andere Mitgliedstaaten trifft, wird das auch dort der Fall sein.
Wir haben seitens der Bundesregierung verabredet,
dass wir gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Entwicklungsbank darüber
sprechen, wo und wie wir bei der Restrukturierung der
Bankenlandschaft in den mittel- und osteuropäischen
Ländern eventuell Hilfe leisten können. Denn die mittelund osteuropäischen Länder sind für uns ein wichtiger
Exportmarkt. Wenn dort die Kreditvergabe und die Finanzkreisläufe völlig zum Erliegen kommen, ist das
nicht nur ein Schaden für diese Länder, sondern dann
zeigt sich, dass es auch in unserem Interesse ist, dass wir
dort tätig werden. Deshalb wollen wir durchaus helfen.
Aber wir müssen - auch in Richtung der Länder, die
sich im Augenblick mit politischen Entscheidungen leider sehr schwer tun - sagen: Die wesentliche Verantwortung liegt bei den Mitgliedstaaten bzw. Ländern, denen
wir helfen. Ich denke, dass wir zum Beispiel in Bezug
auf die Ukraine alles unternehmen sollten, damit die notwendigen Handlungen dort erfolgen und das Land nicht
immer weiter in Schwierigkeiten gerät.
Meine Damen und Herren, neben dem aktuellen Krisenmanagement werden wir heute und morgen auch beraten, welche Lehren wir aus der Entstehung der derzeitigen Finanz- und Wirtschaftskrise ziehen. Denn es muss
uns gelingen, derartige Krisen in der Zukunft zu vermeiden. Es ist ganz offensichtlich, dass der bisherige Finanzmarktrahmen nicht mit der Globalisierung der Finanzmärkte Schritt gehalten hat. Es gibt dafür eine
Vielzahl von Ursachen: Regelungsdefizite und völlig
falsch gesetzte Anreize. Das alles hat zu einer verhängnisvollen Kettenreaktion geführt, die die gesamte Weltwirtschaft in diese Krise gestürzt hat. Zur Wahrheit gehört die Tatsache - es macht keinen Sinn, darum
herumzureden -, dass manche Fehlanreize und Regelungsdefizite zum Teil politisch unterstützt und nicht bekämpft wurden. Die Politik kann sich an dieser Stelle
nicht herausreden und sagen, dass sie von nichts gewusst
hat.
({12})
Deutschland gehörte zu denen, die in diesem Zusammenhang vieles angemahnt haben.
({13})
- Auch wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen,
({14})
kann ich Ihnen nur sagen, dass es so war. Aber Sie wissen es offenbar besser.
Meine Damen und Herren, was die Dimension der
Krise, die wir derzeit erleben, angeht, stelle ich fest: Es
geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Aufbau einer neuen, noch nicht existierenden internationalen Finanzmarktverfassung. Dies steht auch im Vordergrund des G-20-Treffens Anfang April dieses Jahres.
Der erste Weltfinanzgipfel im November vergangenen Jahres in Washington war ein Meilenstein. Dort
wurde zum ersten Mal ein Aktionsplan zur Neugestaltung der Finanzmärkte verabredet. Dieser Aktionsplan
ist sehr konkret und umfasst knapp 50 Punkte. Wir haben uns damals darauf geeinigt, den wirtschaftlichen
Ordnungsrahmen den globalen Bedingungen anzupassen
und für eine lückenlose Regulierung bzw. Aufsicht der
Finanzmärkte zu sorgen.
Der Londoner Gipfel wird natürlich ein Stück weit als
Beweis dafür dienen, ob wir wirklich in der Lage sind,
das, was wir uns vorgenommen haben, umzusetzen. Um
dieses Ziel zu erreichen, habe ich die europäischen G-20Teilnehmer eingeladen, um sich auf eine gemeinsame
europäische Position zu einigen. Wir werden das auf
dem Europäischen Rat noch einmal bekräftigen. Die Finanzminister haben erhebliche Vorarbeiten geleistet. Ich
glaube, man kann sagen, dass die Fortschritte sichtbar
sind, dass wir aber noch nicht am Ende dessen sind, was
wir in London erreichen wollen.
Wir haben uns darauf verständigt, dass Orte, Akteure
und Produkte der Transparenz und Überwachung bedürfen. Gerade im Hinblick auf Steueroasen sage ich, dass
es richtig und unabdingbar ist, Ross und Reiter beim Namen zu nennen. Allein diese Androhung hat bereits dazu
geführt, dass sich viele Staaten, insbesondere im europäischen Raum, zu Wort gemeldet und dazu beigetragen haben, dass die OECD-Standards anerkannt werden.
({15})
Ich hoffe, dass uns in London ein wesentlicher Schritt
gelingt. Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind.
Deutschland wird auf jeden Fall Wert darauf legen
- darüber habe ich neulich auch mit dem französischen
Präsidenten gesprochen -, dass auf dem Londoner Gipfel die Frage „Welche Lehren ziehen wir aus dieser
Krise?“ in den Mittelpunkt gerückt wird und man sich
nicht nur mit aktuellen Fragen der Krisenbekämpfung
beschäftigt. Das halte ich für sehr wichtig.
({16})
Meine Damen und Herren, wenn wir uns die Ursachen dieser Krise vergegenwärtigen, stellen wir fest: In
Wahrheit ist sie das Ergebnis langfristiger Entwicklungen, die immer wieder zugelassen haben, dass Länder
über ihre Verhältnisse gelebt haben. Deshalb halte ich
die deutsche Schlussfolgerung, eine Schuldenbremse zu
verankern, auch wenn dieser Weg mühevoll wird und
viele schon heute besorgt sind, welche Folgen sie in den
nächsten Jahren für unsere Haushalte haben wird, für
sehr wichtig.
({17})
Wir können nicht so weitermachen wie bisher und sozusagen von Krise zu Krise eilen. Wenn wir uns die Vergangenheit vor Augen führen, stellen wir fest: Ende der
90er-Jahre haben wir eine schwere Asien-Krise erlebt.
Anfang des 21. Jahrhunderts gab es die sogenannte
New-Economy-Krise. Jetzt befinden wir uns in einer
noch schlimmeren weltweiten Krise. Wir müssen alles
tun - das beschäftigt mich sehr, weil wir darüber kontroverse Auseinandersetzungen führen und manchmal vielleicht auch als diejenigen dastehen, die nicht bereit sind,
so viel auszugeben wie andere -, damit wir nicht geradezu gesetzmäßig in die nächste Krise laufen. Wir haben
inzwischen drei große Krisen erlebt. Wenn die Menschheit daraus nicht die richtigen Lehren zieht, dann hat sie
nichts verstanden. Die Folgen wären wirklich schwerwiegend.
({18})
Da unsere Aufgabe nicht nur darin besteht, Finanzprodukte und Finanzmärkte zu regulieren, habe ich vorgeschlagen, dass wir gemeinsam eine Charta des nachhaltigen Wirtschaftens entwickeln. Das hat bei den
europäischen G-20-Teilnehmern große Zustimmung gefunden. Ich hoffe, dass wir uns dies in London vornehmen können.
Nachhaltiges Wirtschaften heißt, Prinzipien festzulegen, die verhindern, dass wir dauerhaft über unsere Verhältnisse leben und dass wir Ressourcen in Anspruch
nehmen, die wir nicht regenerieren können. Nur wenn
sich die Welt gemeinsam auf einen solchen Anspruch
verständigt, wird es möglich sein, in der Zukunft Krisen
zu verhindern.
Globalisierung bedeutet, dass wir uns das nicht alleine vornehmen. Jedes Land muss natürlich seinen Beitrag leisten. Globalisierung bedeutet aber eben auch,
dass wir miteinander, international, verabreden müssen,
dass keiner von diesen Standards abweicht. Es reicht
nicht, zu sagen, dass kein Land eine Steueroase sein
darf. Darüber hinaus müssen sich alle zum nachhaltigen
Wirtschaften verpflichten.
({19})
Ich bin also der Meinung, dass wir alle Möglichkeiten
haben, statt Angst und Ohnmacht Zuversicht und aktives
Handeln zu gestalten. Es muss der Wille dazu da sein.
Ich sage für die Bundesregierung, dass dieser Wille da
ist. Ich sage auch, dass wir mit unserer Erfahrung im
60. Jahr der Bundesrepublik Deutschland und mit über
60 Jahren Erfahrung mit der sozialen Marktwirtschaft einen Beitrag dazu leisten können. Das heißt, dass der
Staat bereit ist, als Hüter der Ordnung aufzutreten, und
das heißt, dass sich Staaten in der globalen Welt gemeinsam darauf verständigen, Institutionen zu akzeptieren,
die überwachen und kontrollieren, ob die Staaten die gemeinsam verabschiedeten Prinzipien einhalten.
Die wesentliche Frage ist: Gibt es eine solche Bereitschaft? Die europäischen Mitgliedstaaten kennen sich
damit aus. Sie haben Aufgaben an die Europäische
Kommission und an das Europäische Parlament abgegeben. Es ist uns nicht immer leichtgefallen, aber es hat die
Grundlage dafür geschaffen, dass wir heute in der Europäischen Union gemeinschaftlich agieren können. Dieser
Prozess muss sich vollziehen, auch auf der internationalen
Ebene. Wir werden mit unseren nationalen Erfahrungen
mit der sozialen Marktwirtschaft und mit der Erfahrung
aus der europäischen Zusammenarbeit unseren Beitrag
dazu leisten. Ich glaube, dass wir dazu die Unterstützung
dieses Hohen Hauses haben.
Herzlichen Dank.
({20})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin
ist in weiten Teilen so allgemein gehalten, dass man ihr
nur zustimmen kann. Es ist kein Wunder, dass sie nicht
wirklich konkret wurde. Würde sie konkret, dann würde
offensichtlich, dass es in ihrer Regierungskoalition mehr
Streit als Einigkeit gibt.
({0})
Sie sagen, Sie glauben, dass Sie für Ihre Politik die
Unterstützung dieses Hohen Hauses haben. Der Glaube
soll bekanntlich Berge versetzen. Es ist aber mittlerweile
offensichtlich geworden, dass Sie sich nicht mehr einig
sind.
Diese Regierungserklärung findet vor dem Hintergrund eines Tiefpunkts in der Beziehung der Koalition,
die die Bundesregierung trägt, statt. Am heutigen Tage
ist zu lesen, dass der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei gesagt hat, Merkels internationale Auftritte
seien nicht glaubwürdig, wenn sie zulasse, dass im Inland Gesetze gegen die Steuerflucht blockiert würden.
Er sagt außerdem, Merkel sei nur noch Geschäftsführerin der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, wer
in Europa einigen will, sollte wenigstens in der eigenen
Bundesregierung zur Einigkeit fähig sein.
({1})
Nicht glaubwürdig, Schutzpatron der Steuerhinterzieher,
nicht mehr Kanzlerin, sondern Geschäftsführerin: Wie
soll Deutschland nach außen Führung zeigen, wenn es
nach innen nicht geführt wird?
({2})
Wir haben schon zu Beginn dieser Krise in zahlreichen Debatten auch in diesem Hohen Hause festgestellt,
dass wir uns im Grundsätzlichen - gerade auch was die
Europapolitik angeht - einig sind. Die Europäische
Union hat sich in der Finanz- und Wirtschaftskrise als
ein Glücksfall erwiesen. Wenn es sie nicht schon längst
gegeben hätte, dann hätte man sie spätestens jetzt erfinden müssen. Kein europäisches Land wäre in der Lage
gewesen, der Krise im Alleingang etwas entgegenzusetzen. Ohne den Euro beispielsweise hätte die Finanzkrise
schnell zur Währungskrise werden können mit fatalen
Folgen für unsere Exportwirtschaft.
Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank
und ihre Orientierung an der Geldwertstabilität haben ihren Wert bewiesen. Es hat sich auch gezeigt, wie wichtig
der gemeinsame Markt für Wohlstand und Stabilität in
Europa ist.
({3})
Klar ist aber auch, und das wissen wir alle auch am
heutigen Tage: Der Test ist noch nicht bestanden. Die
Europäische Union muss auch und gerade in der Krise
geschlossen und entschlossen handeln. Sie muss an ihren
Grundsätzen festhalten. Auch darin sind wir uns einig:
Es darf keinen Rückfall in überwunden geglaubtes Denken, in Protektionismus, in Abschottungspolitik und natürlich auch nicht in Subventionswettläufe geben.
Deswegen ist Ihre Bemerkung, Frau Bundeskanzlerin, angemessen und auch richtig, wenn Sie sagen, es
dürfe keinen Wettlauf hinsichtlich der neuen schuldenfinanzierten Milliardenpakete in Europa geben. Darum
geht es aber nicht. Es geht nicht darum, dass wir in
Deutschland noch ein Konjunkturpaket auflegen, das wir
wiederum durch höhere Steuern oder höhere Schulden
finanzieren, sondern es geht darum, dass in Deutschland
endlich strukturelle Veränderungen der Rahmenbedingungen vorgenommen werden müssen. Wir brauchen
kein Konjunkturpaket, das wieder durch Schulden finanziert wird. Was wir jetzt brauchen, ist ein Strukturpaket, mit dem die Rahmenbedingungen so verändert werden, dass in Deutschland investiert wird, dass der
Mittelstand eine Chance hat, Arbeitsplätze zu schaffen,
und dass die Menschen durch niedrigere Steuern und
Abgaben wieder Lust auf Leistung haben können. Das
ist die Aufgabe, die jetzt angegangen werden muss.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie sprechen von der
europäischen Bankenaufsicht. Sie sagen zu Recht,
dass es dafür in Europa Regeln geben muss. Welchen
Sinn macht es aber - an die Bundesregierung gefragt -,
dass Sie auf europäischer Ebene eine Bankenaufsicht
fordern, zu deren effektiver Gestaltung Sie im Inland
aber nicht fähig sind, weil Sie sich uneinig sind? In jeder
Debatte hören wir von den Kolleginnen und Kollegen
der Union - übrigens mit unserer Zustimmung -: Die
Bankenaufsicht muss neu organisiert werden. Die Zersplitterung war ungesund. Das ist eine der Ursachen dafür, warum vieles passieren konnte.
Es geschieht jedoch nichts. Sie gehen an die Zersplitterung der deutschen Bankenaufsicht nicht heran. Wer
die deutsche Bankenaufsicht nicht effektiv gestalten
kann, dem wird man dies auch nicht auf europäischer
Ebene zutrauen, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Was wir jetzt brauchen, sind strukturelle Veränderungen. Dazu zählen aus unserer Sicht neben dem großen
Thema eines gerechteren Steuersystems vor allen Dingen auch der Abbau der Bürokratie und die Beseitigung
von Investitionshemmnissen. Das wäre ein Strukturpaket, das beschlossen werden müsste und das den Staat
keinen einzigen Euro kostet.
Dieses Strukturpaket könnte beispielsweise darauf abzielen, die ideologische Energiepolitik zu beenden, auf
einen vernünftigen Energiemix zu setzen und dafür zu
sorgen, dass auch in Deutschland moderne, saubere und
effiziente Kraftwerke gebaut werden können, die alte
und schmutzige Kraftwerke ablösen. Wenn Sie das täten,
wenn Sie endlich in der Energiepolitik die ideologischen
Bremsen Ihrer Politik lösen würden, dann könnten etwa
40 Milliarden Euro private Mittel in den Wirtschaftskreislauf fließen.
Sie sagen, die SPD verhindere dies. Das ist aber zu
wenig. Sie führen unser Land. Jedenfalls ist dies das,
was in dem Wort „regieren“ der Wortwurzel nach enthalten ist. Sie können sich nicht immer hinter der Aussage
verstecken, dass Sie sich nicht durchsetzen können. Es
ist in diesen Zeiten der Krise Ihre Aufgabe, unser Land
strukturell so zu verändern, dass wir eine echte Chance
haben, aus der Krise herauszukommen.
90 Prozent der Investitionen in Deutschland werden
von Privaten getätigt. Sie können noch 1 000 Konjunkturpakete des Staates beschließen, wenn Sie die Investitionsbedingungen für die Privaten nicht verbessern,
({6})
indem Sie die Bürokratie und die Ideologie in diesem
Land endlich abschaffen.
({7})
Wir wissen, dass 20 Milliarden Euro darauf warten, in
Infrastruktur im Bereich der Energie investiert zu werden. Wir wissen beispielsweise auch, dass in die Flughafeninfrastruktur ebenfalls 20 Milliarden Euro investiert
werden könnten. Die Meinung, Konjunkturpakete müssten für den Staat teuer sein, ist falsch. Jetzt müssten
Strukturpakete geschnürt werden. Die Chance der Krise
kann man nutzen, indem man jetzt die strukturellen Veränderungen durchsetzt, die in Deutschland ohnehin dringend angegangen werden müssen; das ist überfällig.
({8})
Da wir mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondern
auch in Europa über die Steuerpolitik reden, ist es für
unsere Bürgerinnen und Bürger schon von einem gewissen Interesse, festzustellen, dass Sie die Harmonisierung des europäischen Steuerrechts in Deutschland
ausschließlich so verstehen, dass wir in Richtung der
Steuersätze der Länder harmonisieren, in denen sie höher als in Deutschland sind. Das ist keine Harmonisierung.
In der letzten Woche wurde auch durch unseren Finanzminister beschlossen, dass die europäischen Länder
ermäßigte Mehrwertsteuersätze einführen können. 22 europäische Staaten machen davon Gebrauch. Anschließend haben Sie in Deutschland erklärt: Wir in Deutschland tun das aber nicht, weil wir das nicht wollen. Damit vorenthalten Sie dem deutschen Mittelstand faire
Chancen. Den anderen geben Sie die Möglichkeit, Steuern zu senken, unseren Bürgern und unserem Mittelstand
verweigern Sie das. Das ist unfair, meine sehr verehrten
Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Nicht alle anderen sind die Geisterfahrer in Europa,
sondern wir sind es. Wir Deutschen sind in der Steuerpolitik die Geisterfahrer in Europa;
({10})
denn 22 europäische Staaten in der Europäischen Union,
also die überwiegende Mehrheit, gehen diesen Weg, den
Sie den deutschen Bürgerinnen und Bürgern verweigern.
Das halten wir für falsch.
Wer das Thema mit dem einfachen Wort „Steueroase“
angeht, der macht es sich natürlich zu einfach. Natürlich
müssen wir die Steuerkriminalität und die illegale
Steuerflucht bekämpfen. Natürlich ist es richtig, dass
wir auch in Europa und in der Welt die Regeln der
OECD anwenden wollen.
({11})
- Herr Steinbrück, weil Sie gerade „Aha“ gerufen haben:
Die Frage ist, ob man das mit der Peitsche tut bzw. indem man der Schweiz mit der Kavallerie gegen Indianer
droht. Sie können ja nicht einmal mit der Schweiz Frieden halten.
({12})
Herr Steinbrück, Herr Finanzminister, ich muss Ihnen
wirklich sagen: Diese Art und Weise des Umgangs mit
unseren Nachbarländern ist eine schlicht undiplomatische Unverschämtheit. Das wird auch hier zu einem
Thema gemacht werden müssen. Das ist eine schlichte
Unverschämtheit.
({13})
- Es ist sehr interessant, dass Sie das gutfinden.
({14})
- Jetzt wurde gerade ein schöner Zwischenruf zur Steueroase gemacht. Ich will Ihnen das einmal wie folgt erklären, Herr Kollege:
({15})
Für den normalen Bürger ist in der Regel weniger die
Oase, sondern vielmehr die Wüste drum herum das Problem.
({16})
Ich sage Ihnen: Dieselbe Energie, die Sie dafür aufwenden, Steueroasen auszutrocknen, sollten Sie dafür aufwenden, dass die deutsche Steuerwüste durch niedrigere
Steuern endlich wieder fruchtbarer wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, das ist das Mittel, das man
anwenden sollte.
({17})
Hinterher höre ich bestimmt wieder von Ihnen: „Schade,
dass wir bei euch nicht klatschen durften!“
({18})
Der entscheidende Punkt ist aber, Frau Bundeskanzlerin: Statt dass Sie als Regierungschefin Deutschlands ein
Wort der Diplomatie an unsere Nachbarn richten, sagen
Sie - ganz im Bild von Herrn Steinbrück bleibend -,
man müsse Ross und Reiter nennen, mit der Peitsche
drohen und die Kavallerie gegen die Indianer ins Feld
schicken.
({19})
Ich glaube, diese Art und Weise ist schlichtweg unverantwortlich. Sie haben Ihren Kompass in der Regierung
verloren. Sie sind zu einem wirklich kraftvollen und
machtvollen Führen in Europa nicht mehr fähig. Diese
Debatte zeigt, dass Sie auch inhaltlich nicht mehr einig
sind. Mittlerweile ist die Koalitionszerrüttung so weit
fortgeschritten, dass deutsche Interessen auch auf internationaler Ebene beschädigt werden.
({20})
Das ist schlecht für unser Land.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Joachim
Poß das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, ich freue mich, dass Sie für die Öffentlichkeit vernehmbar Ihre tiefe Sympathie für die
Staaten geäußert haben, die mit ihren Regelungen mit
dafür sorgen, dass den ehrlichen deutschen Steuerzahlern Milliarden entzogen werden.
({0})
Denn die Rechnung für diese systematische Steuerhinterziehung zahlen die ehrlichen Steuerzahler in Deutschland. Dass Sie, der sich dem Vernehmen nach in der Finanzszene der Schweiz gut auskennt, Herr Westerwelle,
das so unverhohlen sagen, trägt sehr zur Klarheit in der
deutschen Öffentlichkeit bei. Wir haben in den nächsten
Tagen und Wochen einiges zu diskutieren. Dann wollen
wir mal sehen, was die Umfragen ausweisen und wie
viele Menschen wirklich wollen, dass ein solches sozialschädliches Verhalten vom selbsternannten Oppositionsführer im Deutschen Bundestag unterstützt wird.
({1})
Sie haben Ihre Sympathie erklärt. Offen geblieben ist
dabei Ihre inhaltliche Position
({2})
zu den vom Bundesfinanzminister und anderen aufgeworfenen Fragen bezüglich der Schweiz.
({3})
- Nein. Er hat Sympathie für die Schweiz ausgedrückt,
offenkundig auch für das übersteigerte Bankgeheimnis
der Schweiz.
({4})
Wie ich gehört habe, lassen Sie sich auch gerne von den
Profiteuren dieser Steuerhinterziehung einladen, Vorträge zu halten, Herr Westerwelle. Sie kennen sich also
wirklich aus.
({5})
Darüber wird, wie gesagt, noch zu reden sein.
Sie sollten lieber über die Sache reden - nämlich über
die sozialschädlichen Steuerhinterzieher -, statt sich mit
der Stilkritik an einem Regierungsmitglied aufzuhalten,
dem man im Ergebnis attestieren muss, dass der Druck,
der in den letzten Wochen und Monaten vornehmlich unter dem Einfluss der Finanzkrise aufgebaut wurde, zum
Erfolg geführt hat. In die sogenannten Steueroasen ist
schließlich Bewegung gekommen. Die Frage ist aber, ob
das ausreicht, um weltweit und in Europa zu einem fairen Steuerregime zu kommen. Diese Frage muss hier
beantwortet werden.
({6})
Nach allem, was man bisher erkennen kann, reichen
die von der Schweiz und anderen angekündigten Schritte
unseres Erachtens nicht aus. Darüber wird in der Sache
zu reden sein. Das wird ein Thema auf dem nächsten
Treffen - ich nehme an, das ist der sehr wichtige G-20Gipfel - sein. Ich freue mich, dass sich die Frau Bundeskanzlerin heute Morgen so uneingeschränkt zugunsten
einer Einschränkung dieser Steuerfluchtmöglichkeiten
und gegen die Steueroasen geäußert hat, weil sie, wie wir
alle, weiß, dass wir nur dann zu einer fairen Finanzmarktregulierung für die Zukunft kommen können, wenn die
internationalen Fluchtpunkte des Geldes ausgetrocknet
werden.
({7})
Aber dabei muss man glaubwürdig bleiben. Dann muss
die nationale Politik auch dem entsprechen, was auf der
europäischen und der internationalen Ebene von uns gefordert ist. Deswegen herrscht bei uns ein solches Unverständnis, dass aus der Fraktion des Koalitionspartners
eine Blockade in einer so zentralen Frage errichtet wird.
Das erhöht nicht unsere internationale Glaubwürdigkeit.
({8})
Daher fordere ich den Koalitionspartner in aller Sachlichkeit und Friedlichkeit
({9})
- „Freundschaft“ ist ein so oft missbrauchtes Wort, Frau
Merkel, wie Sie wissen - sowie in aller Freundlichkeit
auf, diese Blockade aufzugeben; denn in der Tat stärkt
das weder unsere Glaubwürdigkeit im Innern noch unsere internationale Glaubwürdigkeit im Kampf gegen
Steueroasen.
International herrscht inzwischen eine große Übereinstimmung, was die Überschriften der notwendigen
Schritte in der Finanzmarktregulierung und im Kampf
gegen Steueroasen angeht. Glaubwürdig sind wir nur,
wenn wir das auch national unterfüttern. Ich füge mit
Blick auf manche Abstimmungen im Europäischen Parlament hinzu: Auch die deutschen Europaabgeordneten
sind im Rahmen der europäischen Rechtsetzung gefragt,
sich der Einflussnahme und den Interessen der Finanzindustrie zu entziehen. Da reichen gefällige Formulierungen hier im Deutschen Bundestag für eine Partei nicht
aus, wenn man sich dann bei der konkreten Entscheidung, wenn es darauf ankommt, anders verhält.
({10})
Deswegen sage ich für uns Sozialdemokraten ausdrücklich: Wir werden uns sehr intensiv mit dem Kleingedruckten befassen. Die Überschriften reichen uns nicht.
Natürlich freue ich mich, dass bei den Vorschlägen,
die jetzt in der Diskussion sind, die Vorarbeiten der Sozialdemokraten - namentlich das Papier von FrankWalter Steinmeier und Peer Steinbrück - eine wichtige
Rolle spielen. Ich finde, dass die „Finanzmarktgrundsätze“, über die auch in der letzten Runde des Koalitionsausschusses diskutiert wurde, die richtige und wichtige Grundlage für weitere Lösungen bei uns in
Deutschland, auf europäischer Ebene und weltweit darstellen.
Die Regulierung bisher unregulierter Marktbereiche,
Regeln für alle Produkte und alle Akteure, der Aufbau
einer effektiven grenzüberschreitenden Aufsicht über
Banken und andere Finanzakteure, eine bessere Kontrolle der Ratingagenturen, aber auch eine stärkere Bedeutung des Internationalen Währungsfonds und des Forums für Finanzstabilität - um nur einige Punkte zu
nennen -, das alles wird heute nicht nur vom sozialdemokratischen Teil des Kabinetts und der Regierungskoalition vertreten, sondern ist unter uns Konsens.
Ich habe aber die Wahrnehmung aus der praktischen
Arbeit in der Koalition und im Parlament, dass es noch
einiger Überzeugungsarbeit beim Koalitionspartner an
dieser oder jener Stelle bedarf, um wirklich durchzukommen. Dass beim Partner manche Erkenntnis nur unter dem Druck der Krise entstanden ist und nicht ganz so
freiwillig, finde ich nicht so erfreulich. Aber für die
SPD-Bundestagsfraktion möchte ich der Bundeskanzlerin und den anderen beteiligten Regierungsmitgliedern
volle Rückendeckung für die anstehenden Treffen in
Brüssel und London geben.
Bei allen Turbulenzen und Umstürzen müssen wir in
den nächsten Monaten Folgendes bedenken: Das ignorante Verhalten bei AIG, das ganz Amerika in Aufregung
versetzt hat, zeigt, wie vorsichtig man auf die Dinge
schauen muss. Der Einfluss der Finanzindustrie an der
Wall Street, in der Londoner City oder in Brüssel ist
nach wie vor nicht zu unterschätzen. Im Moment geht es
um das Überleben mit massiver staatlicher UnterstütJoachim Poß
zung. Sobald sich aber die Stürme etwas beruhigen, werden die guten Kontakte der Branche zu den jeweiligen
Administrationen wieder genutzt werden, um die anstehende Regulierung möglichst zu entschärfen und die
neue Weltfinanzarchitektur im Sinne der Branche zu gestalten. Da müssen wir gemeinsam Obacht geben, weil
diese Bemühungen zu registrieren sind. Auf dem Weltschattenfinanzmarkt haben eben zu viele über lange
Jahre zu gut gelebt und sich doof und dämlich verdient,
um es umgangssprachlich zu sagen. Diese geben nicht so
schnell auf, wie das Verhalten nicht nur bei AIG, sondern
auch anderswo zeigt.
({11})
Ihnen müssen wir klarmachen: Wir akzeptieren ein
solches Verhalten gesellschaftlich nicht mehr. So ähnlich
hat es auch Obama ausgedrückt: Dies kann nicht mehr in
Dollar oder Cent ausgedrückt werden, Herr Westerwelle.
Auch Sie sollten sich darüber einmal Gedanken machen.
Die Frage ist, mit welchem Geist und mit welcher Mentalität wir die soziale Marktwirtschaft in Deutschland
und weltweit leben wollen.
({12})
Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ExPost-Chef Klaus Zumwinkel hat sich 20 Millionen Euro
Pensionsgelder auszahlen lassen. Nach den Strapazen
seiner Steuerhinterziehung über die Steueroase Liechtenstein will er jetzt den wohlverdienten Ruhestand auf
seinem Schloss am Gardasee genießen. „Einen ganz normalen Vorgang“ nennt er das.
Gleichzeitig nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu, auch
die der Menschen, die von Kurzarbeit leben müssen oder
auf Hartz IV angewiesen sind. Viele Existenzen von
kleinen und mittleren Selbstständigen sind in Gefahr
oder bereits zerstört. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt den Menschen das hässliche Gesicht
der gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung: von maßlos übersteigertem Renditestreben und
mangelnder gesellschaftlicher Solidarität geprägt, ohne
demokratische Kontrolle und ohne wirkliche demokratische Mitentscheidung der Menschen über die wirtschaftlichen Abläufe.
({0})
Das empört, und zwar zu Recht. Ich weiß: Auch manche Kollegin und mancher Kollege aus den Koalitionsparteien teilen diese Empörung. Aber was folgt politisch
aus dieser Empörung für ihre Parteien und Fraktionen?
Was folgt daraus für die von ihnen getragene Bundesregierung? Wie reagiert die Bundesregierung angesichts
der Finanz- und Wirtschaftskrise? Sie macht vor allem
eines: Sie reist. Im November vergangenen Jahres ging
es mit kaum erkennbarem Gewinn zum Weltfinanzgipfel
in Washington. Am vorigen Wochenende gab es ein Ministertreffen in London, bei dem der Europäische Rat am
Donnerstag vorbereitet werden sollte. Der Europäische
Rat soll nun vor allem dazu dienen, die gemeinsamen
Positionen von EU und Mitgliedstaaten für den Finanzgipfel der G-20-Staaten in London vorzubereiten.
Aber was wird dabei herauskommen? „G20-Finanzminister beschließen nichts“, titelte die Financial Times
Deutschland am Montag. Ich zitiere:
Konkrete Verpflichtungen für die Regierung oder
genaue Größenordnungen für … weitere Konjunkturpakete wurden nicht beschlossen.
In der Sache kam es zu kaum mehr als Andeutungen.
Die Hedgefonds sollen nur registriert und Informationen
weitergegeben werden, den sogenannten Schrottpapieren
soll allein mit Leitlinien für die einzelnen Länder begegnet werden. - Das wird kaum helfen.
Wir von der Linken bleiben dabei: Wir wollen erstens
Hedgefonds verbieten,
({1})
zweitens Zweckgesellschaften verbieten, drittens Steueroasen wirksam austrocknen oder verbieten und viertens
Verbriefungen verbieten. Nur wenn diese vier Grundübel
an der Wurzel gepackt werden, haben wir überhaupt die
Chance, den Sumpf aus Gier und Spekulation trockenzulegen.
({2})
Heute und morgen tagt nun der Europäische Rat, der
unter anderem für den neuen G-20-Gipfel die Positionen
bestimmen soll. Die bisherige Tagesordnung lässt leider
nicht ahnen, welche gemeinsamen Ergebnisse zu erwarten
sind. Welche Vorschläge der hochrangigen LarosièreGruppe werden denn von den teilnehmenden Regierungen geteilt? Steht denn die Kommission, die die Arbeitsgruppe im Oktober des vergangenen Jahres eingesetzt
hat, überhaupt hinter dem Ganzen oder doch wenigstens
hinter einem Teil der Vorschläge? Wie bewertet die Bundesregierung den Bericht? Erst wenn wir von ihr
schwarz auf weiß haben, welche konkreten Vorschläge
sie für richtig hält, kann eine wirkliche parlamentarische
Debatte stattfinden.
({3})
Unabhängig davon fällt auf, wie einseitig die „hochrangige Arbeitsgruppe“ besetzt ist. Es sind auffällig
viele dabei, die den Finanzsektor mit seinen überhöhten
Renditeansprüchen und seinen Spekulationen geradezu
beispielhaft repräsentieren: Jacques de Larosière ist Mitvorsitzender der Finanzlobbyorganisation Eurofi und
war bis vor kurzem Berater der französischen Bank BNP
Paribas. Rainer Masera war Direktor einer europäischen
Tochter der Pleitebank Lehman Brothers. Onno Ruding
ist Berater der Citigroup. Otmar Issing, früher bei der
Deutschen Bundesbank und der Europäischen Nationalbank, ist Berater von Goldman Sachs. Für die vier anderen Beteiligten - natürlich auch Männer - gilt im
Wesentlichen die gleiche Ausrichtung. Eine Gewerkschafterin oder ein Gewerkschafter oder eine unabhän22722
gige Persönlichkeit aus dem Bereich der Wissenschaft
findet sich in der Arbeitsgruppe nicht. Dies ist nicht akzeptabel.
({4})
Die Einrichtung dieser „hochrangigen“ Gruppe zeigt
also deutlich: Weder die Bundesregierung noch die EUKommission sind bereit, die wahren Ursachen der Krise
zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, an ihre Beseitigung zu gehen. Sie machen weiterhin Politik im Interesse der Großbanken und Großkonzerne. Der Hunderte von Milliarden schwere Rettungsschirm ist für die
Garantierung von Höchstprofiten und nicht für die Erhaltung von Arbeitsplätzen der Beschäftigten bestimmt.
Die Empfehlung von EU-Finanz- und Haushaltskommissar Almunia an die EU-Mitgliedstaaten spricht genau
dafür: Die EU-Staaten dürfen nicht mit einer teuren und
verfehlten Sozialpolitik auf die steigende Arbeitslosigkeit antworten. Dann würden die Staatsschulden noch
mehr anschwellen. Dies ist eine Aufforderung zum
Sozialabbau.
Um einen nicht des Linksseins verdächtigen Zeugen
zu zitieren, trage ich vor, was der Wirtschaftsnobelpreisträger Krugman in seinem neuen Buch schreibt:
Frau Merkel und ihre Beamten glauben anscheinend noch immer, hier herrschten die normalen Regeln der Wirtschaft, die Regeln, die dann gültig
sind, wenn man mit Geldpolitik noch etwas ausrichten kann. Sie haben nicht begriffen, dass in Europa wie in Amerika mittlerweile ein Depressionsklima eingezogen ist, in dem die normalen Regeln
nicht mehr gelten.
({5})
Ich zitiere weiterhin Nobelpreisträger Krugman, einen
lesenswerten Mann:
Sobald wir wieder normale Verhältnisse haben,
werde ich denjenigen, die wie Herr Steinbrück fiskalische Disziplin predigen, gern die ihnen gebührende Ehre erweisen. Sich jetzt aber an die Orthodoxie zu klammern, ist hochgradig destruktiv für
Deutschland, Europa und die Welt.
({6})
Meine Damen und Herren, die Linke fordert kurzfristig einen Rettungsschirm für die Menschen und langfristig einen grundlegenden Wechsel in der Politik sowohl
der Bundesregierung als auch der EU. Wir müssen weg
von einer Politik für eine Minderheit der Reichen und
hin zu einer Politik, in der die Interessen der Bürgerinnen und Bürger und die Bewältigung der globalen Herausforderungen im Mittelpunkt stehen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Otto Bernhardt, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die internationale Finanzkrise zeigt, dass die
Rahmenbedingungen versagt haben, die die Politik gesetzt hat.
({0})
Sie zwingt uns, jetzt im politischen Bereich zu handeln.
({1})
Es gibt keine Regierung auf der Welt, die so schnell und
umfassend wie die deutsche reagiert hat. Dies sollte man
zunächst in aller Deutlichkeit feststellen.
({2})
Deutschland ist zwar immer noch eine der stabilsten
Volkswirtschaften in der Welt - und das ist gut so -, dennoch haben wir, was die Konjunkturpakete anbetrifft, absolut und relativ - relativ heißt, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt - mehr als alle anderen europäischen
Staaten gemacht. Was den Gipfel betrifft, so meine ich,
wir sollten zunächst einmal alle Maßnahmen wirken lassen und nicht ständig neue Maßnahmen fordern. Sonst
besteht die Gefahr, dass bestimmte Maßnahmen erst zu
einem Zeitpunkt wirken, zu dem sie eine sich dann vielleicht abzeichnende Inflation verstärken könnten.
({3})
Es gibt eine Reihe von Punkten, über die wir uns hier
im Hause einig sind. Ich sehe jetzt einmal von dem
Kampf von Reich gegen Arm ab - der Beitrag meines
Vorredners passte nicht in diese Debatte -, der löst die
Probleme nicht, sondern erzeugt höchstens Emotionen.
Wenn ich also diesen Beitrag weglasse, dann sind wir
uns alle darin einig, dass wir mehr Transparenz brauchen. Ich sage als Ordnungspolitiker: Wir brauchen leider auch mehr Reglementierung, aber nur im Bereich
der Finanzmärkte.
({4})
Es gibt jetzt eine allgemeine Stimmung auch in Deutschland, in vielen Bereichen mehr zu reglementieren. Wir
haben mit der sozialen Marktwirtschaft gute Chancen,
aus der Krise herauszukommen. Wenn wir aber jetzt
auch die Realwirtschaft, den internationalen Handel usw.
stärker reglementieren, dann wird der Weg schwieriger.
({5})
Deshalb sage ich: Wir haben keine Krise der Marktwirtschaft, wir haben keine Krise der Demokratie, sondern
wir haben eine internationale Finanzkrise, und wir sind
dabei, die Ursachen zu analysieren, um die richtigen
Konsequenzen zu ziehen.
Ich will einige Punkte aus dieser Debatte aufgreifen,
nicht zuletzt um sie richtigzustellen. Ich beginne mit der
Bankenaufsicht. Zunächst einmal stelle ich fest, dass
die Bankenaufsicht in Deutschland in der Krise insgesamt gut gehandelt hat. Das gilt für die Bundesbank, und
das gilt für die BaFin.
({6})
Die Bundesregierung hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, um all das zu überprüfen. Wir werden die Konsequenzen aus diesem Gutachten ziehen und einige Dinge
noch in dieser Legislaturperiode verändern. Das ändert
nichts an der Grundposition meiner Fraktion. Da unterscheidet sich unsere Auffassung von der der Sozialdemokraten. In dieser Hinsicht stimmen wir mit den Freien
Demokraten überein. Wir sind für eine Konzentration
der gesamten Bankenaufsicht bei der Deutschen Bundesbank.
({7})
Nur, in einer Krise wie dieser sollte man keine grundlegenden Veränderungen vornehmen. Wir haben zurzeit
andere Sorgen. Da das System im Grundsatz funktioniert, ist jetzt nicht der Zeitpunkt für eine grundlegende
Veränderung. Dennoch haben wir ein klares Ziel.
({8})
Ich greife einen zweiten Punkt auf, der Emotionen
hervorruft und zum Teil mit unfairen Vorwürfen verbunden ist. Es geht um die Steuerhinterziehung und die
Steueroasen. Ich finde es infam, wenn immer wieder
versucht wird, die Union als die Partei darzustellen, die
Spaß an den Oasen hat und die diejenigen Leute, welche
Steuern hinterziehen, schützen will. Nein, auch wir sind
dafür, dass Steueroasen trockengelegt werden. Für uns
ist Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt. Das, was
Herr Zumwinkel gemacht hat, ist für uns nicht akzeptabel, unabhängig von der rechtlichen Position.
({9})
Jetzt ein Wort zum Finanzminister. Viele wissen, dass
ich ihn schätze, aber es gibt einige Verhaltensweisen, die
ich nicht schätzen kann. In einer Hinsicht irrt der Finanzminister. Es ergibt keinen Sinn, Staaten, mit denen wir
seit Jahrzehnten hervorragende Kontakte haben - für
Bayern und Baden-Württemberg ist die Schweiz seit
Jahrzehnten ein ganz wichtiger Handelspartner -, öffentlich zu beschimpfen. Das bringt nichts, das ist nicht gut,
und das sollten wir nicht machen.
({10})
- Herr Kollege, man hat sie als Indianer bezeichnet. Sie
mussten Ihren Minister verteidigen. Wenn wir einen Minister hätten, der solche Fehler machen würde, würde
auch ich ihn verteidigen. Aber Gott sei Dank haben wir
keinen, der so etwas sagt. Die Art, wie der Minister mit
der Schweiz umgeht, ist nicht hinnehmbar.
({11})
Ich sage genauso deutlich: Der Ansatzpunkt in dem
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist falsch. 95 Prozent aller Deutschen, die mit
Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und vergleichbaren Staaten seit Jahrzehnten wirtschaftliche Beziehungen
haben, haben sie nicht, um Steuern zu hinterziehen.
({12})
Vor diesem Hintergrund ist es unangemessen - es ist
Ausdruck einer falschen Grundeinstellung zu diesem
Thema -, diejenigen, die mit diesen Ländern seit Jahrzehnten Kontakte haben, steuerlich bestrafen zu wollen.
Das ist der falsche Ansatz.
({13})
Weil wir diesen Ansatz für falsch halten, kann man uns
hier nicht als diejenigen hinstellen, die Steuerhinterziehung nicht bekämpfen wollen. Wir wollen sie bekämpfen. Wir haben klare Vorstellungen. Übrigens, wir haben
in der Großen Koalition einen gemeinsamen Antrag verabschiedet, zu dem in der nächsten Woche, so glaube
ich, eine Anhörung stattfindet. Dann erfahren wir die
Auffassung der Fachleute.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen weiteren
Punkt nennen, der für mich als Banker bei den jetzigen
Maßnahmen sehr wichtig ist: Viel Unheil ist von der
Verbriefung und Strukturierung ausgegangen.
({14})
Ich sage das, ohne dieses Thema zu vertiefen. Ich gehöre
zu denjenigen - ich bitte die Kanzlerin, diese Auffassung auf dem G-20-Gipfel intensiv zu vertreten -, die sagen: Wer in Zukunft Kredite verkauft, muss mit einem
bestimmten Anteil in der Haftung bleiben.
({15})
Nur dann werden wir sicherstellen, dass die Verbriefung
einer vernünftigen Begrenzung unterliegt.
Ich stelle abschließend fest: Die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen haben immer sehr schnell
alle notwendigen Entscheidungen getroffen, um gegen
die Finanzkrise gewappnet zu sein. Wir werden morgen
das SoFFin-Gesetz weiterentwickeln, in dem wir notwendige Anpassungen vornehmen. Wir werden morgen
etwas dafür tun - morgen steht die erste Lesung des Gesetzentwurfs auf der Tagesordnung -, dass sich Managergehälter in Zukunft nicht mehr an kurzfristigen Parametern orientieren. Dies zeigt: Die Große Koalition war
handlungsfähig, und sie wird auch bis zur Bundestagswahl handlungsfähig bleiben.
Danke schön.
({16})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich
wollte ich diesen Redebeitrag mit ein paar Worten zu
Frau Merkel beginnen. Frau Merkel, Sie rutschen bei mir
jetzt ausnahmsweise in die zweite Reihe. Ich finde nämlich, dass Guido Westerwelle heute wirklich den Vogel
abgeschossen hat.
({0})
- Na ja, ich wäre nicht so fröhlich. - Herr Westerwelle,
heute haben Sie wieder einmal für soziale Kälte gesorgt:
Bei Ihren Ausführungen zum Thema Steueroasen bzw.
den Oasen allgemein haben Sie gesagt, es gehe um die
Wüste drum herum. Ich sage Ihnen einmal ganz klar: In
den Oasen saufen die großen Kamele, und Sie haben
sich heute wieder einmal als Schutzheiliger der großen
Kamele, die den anderen das Wasser wegsaufen, betätigt.
({1})
- Herr van Essen, seien Sie nicht so verklemmt, auch
nicht in Ihren Bemerkungen.
({2})
- So habe ich es gar nicht gemeint, auch wenn ihr jetzt
lacht.
Herr Westerwelle, Sie äußern jetzt Mitleid mit der
Energielandschaft in Deutschland. Sie klagen über die
vielen bürokratischen und Investitionshemmnisse. Die
Sorge vor Korruption spielt bei Ihnen gar keine Rolle.
Wie erklären Sie sich bei all der Sorge über zu viel Bürokratie, die Sie hier zum Besten gegeben haben, dass Eon
im letzten Jahr 10 Milliarden Euro Reingewinn erzielt
hat? Das ist doppelt so viel wie im Vorjahr. Wer in der
Lage ist, seinen Reingewinn von einem Jahr zum anderen auf 10 Milliarden Euro zu verdoppeln, der ist nicht
bürokratisch gehemmt. Man sollte ihn vielmehr fragen,
was er für die Allgemeinheit zu tun bereit ist.
({3})
Nun zum G-20-Gipfel und den Vorbereitungen darauf. Ich muss sagen: Frau Merkel hat heute wieder wunderbare Geschichten darüber erzählt, was sie alles tun
würde, was alles in Vorbereitung sei. Aber am Ende ist
es doch wieder eine schöne Inszenierung, der eigentlich
nichts folgt.
Wo ist eigentlich der Text nach all den wunderschönen Überschriften? Es ist immer das Gleiche: Uns wird
erzählt, man müsse jetzt erst einmal in die Bankenkrise
investieren, sozusagen systemisch relevante Banken absichern, aber dann müsse man wieder zur sozialen
Marktwirtschaft zurück. Alle Welt redet vom Green
New Deal, nur Frau Merkel und die CDU/CSU - von Ihnen da mal ganz zu schweigen - haben mal wieder nicht
gemerkt, wo die Probleme der Welt liegen.
({4})
Es gibt viele Ankündigungen, etwa die, man wolle
die IWF-Mittel verdoppeln. Wo eigentlich ist die Entscheidung dazu? Eine Ankündigung lautet, die Europäische Union wolle mit einer Stimme sprechen. Ich sehe
aber nur, dass Deutschland in der Europäischen Union
ständig und immer wieder der Bremser ist, zuletzt beim
Konjunkturpaket der EU: Es wird gebremst bis zur letzten Sekunde, und am Ende, nach Sonderregeln für die
Telekom und noch einem Extra für die deutschen Milchbauern, weil Sie ihre alten Versprechungen nicht gehalten haben, wird Ja gesagt. So, meine Damen und Herren,
sieht keine treibende gute Rolle Deutschlands in der Europäischen Union aus.
({5})
Alles Überschriften, kein Text! Ein bisschen Registrierung von Hedgefonds. Schauen wir uns einmal die
Schrottpapiere an! Dazu gibt es nur sehr allgemeine
Leitlinien, mit denen nicht viel umgesetzt wird.
Man kann eines sagen, auch wenn Sie versuchen, sich
hier so groß darzustellen: Deutschland blockiert in der
Europäischen Union auch und gerade Regeln für die Finanzmärkte. Das ist die Wahrheit.
({6})
Wo ist die europäische Ratingagentur, die wirklich reguliert und beaufsichtigt - das wäre Verbraucherschutz! -,
über die Sie immer reden, für die Sie bisher aber weder
international noch national irgendetwas angeboten haben? Wo ist die EU-Finanztransaktionssteuer, die Spekulationen abbaut und Märkte wirklich stabilisiert? Herr
Steinbrück möchte sie gern ins Wahlprogramm schreiben. Warum handeln wir gerade an der Stelle eigentlich
nicht jetzt, statt bis zum nächsten Jahr zu warten?
({7})
Alle reden über die Schließung von Steueroasen - außer Guido Westerwelle. Es gibt überall Bewegung, aber
die Regierung ist unfähig, auch nur ein Gesetz gegen
Steuerhinterziehung in Deutschland zu beschließen.
Wieder diese Uneinigkeit Guttenberg und Steinbrück!
Auch an der Stelle muss man sagen, dass die CDU/CSU
im Ergebnis blockiert, um Steuerhinterzieher zu schützen. Das ist die ganze Wahrheit, meine Damen und Herren.
({8})
Wo sind eigentlich - um noch einen Punkt zu nennen Ihre Aktivitäten gegenüber deutschen Banken, die Dependancen auf den Cayman Islands, in Singapur, in Luxemburg haben? Allen voran ist hier die Commerzbank
zu nennen, der wir gerade die Steuergelder hinterherwerfen. Wenn Sie so handlungsfähig sind, wie Sie sich darstellen, dann sagen Sie hier und jetzt, was Sie an dieser
Stelle eigentlich Positives erreicht haben!
({9})
Mein Vorredner hat gesagt, man werde wunderbare
Regeln hinsichtlich der Gehälter von Managern schaffen. Sie bieten uns hier an, dass die Haltefrist für Aktienpakete von zwei auf vier Jahre erhöht werden soll. Das
sind Peanuts! Heute sind die meisten Unternehmen aufgrund freiwilliger Vereinbarungen schon bei einer Frist
von drei Jahren. Sie bieten also faktisch eine Erhöhung
von drei auf vier Jahre an. Zehn Jahre, das wäre der Einstieg in langfristiges Denken. Dazu haben Sie nicht den
Mut.
({10})
Wie wenig mutig Sie an der Stelle sind, sieht man
auch an all den Rettungspaketen, die wir hier verabschieden müssen. Das erste Rettungspaket ist gescheitert.
({11})
Morgen findet die Abstimmung über das zweite Rettungspaket statt. Das ist eine Lex Hypo Real Estate. Im
Ausschuss war auf Einladung der FDP auch Herr Flowers
von Hypo Real Estate. Da konnte man sehen, was deren
Vorstellungen von marktwirtschaftlicher Ordnung sind.
Die denken immer noch: Der Profit gehört uns, ansonsten
werden Steuergelder eingesetzt und die Steuerzahler faktisch enteignet. - Das ist Ihre Art von Finanzpolitik.
Ich sage Ihnen: Die Zeit der Spielereien muss zu Ende
sein, auch für den smarten Herrn Guttenberg, der am
Times Square herumturnt und von dem wir alle nun wissen, dass er gut Englisch kann. Wir brauchen jetzt wirklich eine Verstaatlichung der HRE und nicht irgendein
Herumerzählen oder noch eine Umdrehung nach dem
Motto, man könnte vielleicht irgendwann einmal das Insolvenzrecht verändern. Jetzt, meine Damen und Herren,
brauchen wir Aktionen.
({12})
Eine Sekunde lang hat mich nachdenklich gemacht,
({13})
was Frau Merkel zu dem Beitrag gesagt hat, den sie zusammen mit Herrn Balkenende für die FAZ verfasst hat.
Auch sonst hört man von Frau Merkel ja immer wieder
den Satz, man müsste jetzt Regeln für eine neue Art des
Wirtschaftens aufstellen. Im gemeinsam mit Herrn
Balkenende verfassten Text heißt es - heute wurde es
ähnlich formuliert -, dass die internationale wirtschaftspolitische Zusammenarbeit mit der Globalisierung der
Wirtschaft nicht Schritt gehalten hat. Das hat sie ja heute
auch wieder gesagt.
Meine Damen und Herren, ich finde es schon putzig,
wie geschichtsvergessen Frau Merkel ist. Es ist ja nicht
wahr, dass die internationale Wirtschaftspolitik nicht
Schritt gehalten habe, sondern die Wahrheit ist, dass gerade die Unionsparteien und ihre Fraktion hier im Bundestag sich jahrelang dagegen gewehrt haben, dass der
Freiheit der Wirtschaft ein Rahmen mit ökologischen
und sozialen Aspekten für den globalen Handel entgegengesetzt wird, damit nicht auf Kosten der Bürgerinnen
und Bürger gewirtschaftet wird.
Wenn ich mir jetzt anschaue, was Frau Merkel anbietet, dann finde ich nur den Verweis auf eine Charta für
nachhaltiges Wirtschaften bzw. die Forderung - das
hat sie an anderer Stelle gesagt - nach Einsetzung eines
Weltwirtschaftsrates. Einige aus meiner Fraktion haben
sich nun die Mühe gemacht, über Kleine Anfragen herauszubekommen, was eigentlich dahintersteckt. Wissen Sie, was wir festgestellt haben? Keiner weiß, worum
es dabei gehen soll. Die verschiedenen Ressorts antworten entweder, sie wüssten es nicht, oder, sie verträten
diese Position nicht. Wenn ich mich nun entgegenkommenderweise darum bemühe, herauszubekommen, was
hinter diesem Angebot steckt, dann komme ich zu dem
Schluss, dass Ihr Weltwirtschaftsrat bzw. Ihre Charta für
nachhaltiges Wirtschaften, Frau Merkel, eher vom Alten
ist. Sie beweisen an der Stelle, dass Sie nichts ändern
wollen, sondern nur jetzt über die Konjunkturpakete
Geld investieren, um später wieder zu den alten Regeln
der Marktwirtschaft zurückkehren zu können. Das ist
unverantwortliche Politik.
({14})
Statt solche Wolkenkuckucksheime zu errichten, wäre es
doch hilfreicher, international für die Einführung einer
Rechnungslegung über ökologische und soziale Indikatoren zu sorgen; das wäre ja ganz simpel zu machen.
Dann hätte man Kriterien, anhand derer man Politik ausrichten könnte.
Die Absichten von Frau Merkel werden in Gänze
sichtbar, wenn man die von ihr verfassten Texte zu Ende
liest. In dem gemeinsam mit Herrn Balkenende verfassten Text wird zum Beispiel am Ende deutlich, was sie
wirklich will, nämlich kein nachhaltiges Wirtschaften,
sondern - dieser Satz steht auch hier wieder als Erstes
im Zusammenhang mit der internationalen Wirtschaft Freiheit der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Wir haben genug von Freiheit der Wirtschaft. Das wurde nämlich immer als Freiheit von Verantwortung für das Gemeinwesen ausgelegt. Wir brauchen jetzt ein Bekenntnis
dazu, dass jeder, der wirtschaftet, auch Verantwortung
für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen hat.
({15})
Frau Merkel hat auch gesagt, wir bräuchten jetzt dringend eine weitere Liberalisierung des Handels, sprich
Fortschritte bei den Doha-Verhandlungen und einen entsprechenden Abschluss bei der nächsten Welthandelsrunde. Meine Damen und Herren, genau das brauchen
wir jetzt definitiv nicht. In der Vergangenheit wurde der
Handel schon zu stark liberalisiert. Die WTO erlaubt der
Wirtschaft, Raubbau auf Kosten der Menschen und der
Umwelt zu betreiben. Wenn Frau Merkel nun fordert, in
diesem Jahr zu einem entsprechenden Abschluss bei der
WTO zu kommen, entlarvt sie ihre Absicht, dass es ihr
doch eher um mehr Liberalisierung für einige wenige
geht als um den Schutz des Klimas und der Finanzmärkte.
({16})
Wenn Frau Merkel in der Stimmung und mit den Aussagen, die sie hier an den Tag gelegt hat, heute zum
Europäischen Gipfel oder am 2. April nach London
fährt, dann steht zu befürchten, dass Europa jetzt die Gelegenheit verpatzt, eine Führungsrolle zu übernehmen.
Genau diese wollen wir aber. Wir wollen, dass eine neue
Art zu wirtschaften die Oberhand gewinnt, die nicht
mehr auf Kosten anderer geht. Europa hätte dabei die
Aufgabe, Frau Merkel, dabei voranzugehen, sich nicht
vor Kopenhagen zu drücken, sondern dieses Thema auf
die Tagesordnung zu setzen, entsprechende Vorschläge
zu entwickeln und zu sagen, was Europa selber will.
Frau Kollegin.
Sofort. - Die anderen sind nicht unsere Verhandlungsgegner bzw. unsere Gegenspieler, mit denen wir zocken
müssen, sondern die Europäische Union hat die Aufgabe, zu zeigen, wie national und international auf den
Feldern der Finanzen und des Klimas etwas erreicht werden kann.
({0})
Gunther Krichbaum ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Entschuldigung, das stimmt. Frau Kollegin SchwallDüren, Sie haben das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt doch noch ein paar Differenzen zwischen unserem
Koalitionspartner und uns. Deswegen ist es schon richtig, dass ich - und nicht Herr Krichbaum - für die SPD
spreche.
Der Frühjahrsgipfel ist traditionell der Gipfel, auf
dem die Finanz- und Wirtschaftspolitik auf der Tagesordnung steht, insbesondere die Lissabon-Strategie.
Noch nie hatten wir einen Frühjahrsgipfel, auf dem wir
mit einer derartigen Krise konfrontiert waren wie in diesem Jahr.
Was brauchen wir in dieser Krise? Wir brauchen zunächst einmal entschlossenes Handeln der Politik. Denn
eines ist inzwischen klar geworden: Die Rolle des
starken und handlungsfähigen Staates ist wieder in
den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Nicht der Nachtwächterstaat und auch nicht der Staat des Laisser-faire
werden gebraucht, sondern der Staat, der als Regulator,
Stimulator und Garant für öffentliche Güter da einschreitet, wo die Marktkräfte versagt haben. Das hören wir
interessanterweise auch von den Marktradikalen und
Apologeten der Deregulierung.
Ich bin ganz froh, dass wir es in der Koalition geschafft haben, das auf Initiative von Frank-Walter
Steinmeier vorgelegte Konjunkturpaket umzusetzen, um
Investitionen in Bildung, Innovation und Nachhaltigkeit
zu tätigen und, Herr Westerwelle, um die Kaufkraft der
Geringverdiener, der Rentner und der Familien zu stärken, statt Steuern für diejenigen zu senken, die hohe und
höchste Einkommen beziehen.
({0})
Wir investieren in den Arbeitsmarkt, um damit in Übereinstimmung mit der Lissabon-Strategie nachhaltig etwas für die Zukunft zu tun, damit Fachkräfte die Innovationen und die neuen Ideen umsetzen können, die wir
brauchen.
Diese Krise ist nicht national entstanden. Deswegen
kann sie auch nicht national bewältigt werden. Für internationales Krisenmanagement und Krisenverhinderung
ist zunächst einmal eine Übereinstimmung in der Europäischen Union nötig. Wir brauchen gemeinsame Maßnahmen und eine Abstimmung auf europäischer Ebene.
Angesichts dieser wirtschaftlich schwierigen Zeiten erwarten die Bürger mehr denn je, dass die Europäische
Union hier tätig wird und dass Anstrengungen unternommen werden, damit es nicht zu Massenarbeitslosigkeit und nicht zu einer sozialen und politischen Krise
kommt. Nur dann können wir das Vertrauen stärken.
Deswegen brauchen wir neben Sozial- und Globalisierungsfonds insbesondere Maßnahmen zum Erhalt der
Arbeitsplätze. Wir brauchen eine besser abgestimmte
und besser koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik
in der EU. Dann haben wir Chancen für die Zukunft.
({1})
Wir brauchen zweitens europäische Solidarität; sie
ist nötiger denn je. Wir reden oft davon, dass die EU eine
Wertegemeinschaft ist. Dazu gehört vorrangig Solidarität.
Was heißt das in dieser Krise? Solidarität heißt in der
Tat: kein Protektionismus, keine nationalen Egoismen.
Ich möchte ganz deutlich sagen: Wenn wir erwarten,
dass sich die Bürger und Bürgerinnen am 7. Juni an der
Europawahl beteiligen, dann können wir nicht sagen:
Wir müssen erst einmal das eigene Hemd retten; die anderen sind uns egal. - Das ist nicht nur ein Verstoß gegen
die europäischen Werte, sondern auch ökonomisch und
volkswirtschaftlich unvernünftig. Denn wenn wir nicht
gemeinsam dazu beitragen, dass unsere Volkswirtschaften diese Krise überstehen, dann sind wir jeweils mitbetroffen.
({2})
Wir haben das am Beispiel der Abwrackprämie durchdiskutiert. Wir können das auch durchdeklinieren angesichts der Frage, was mit Opel geschieht. Auch hier
muss es eine europäische Lösung geben.
Solidarität heißt außerdem, dass wir in der EU keine
sich widersprechenden Maßnahmen beschließen könDr. Angelica Schwall-Düren
nen. Es darf, wie die Frau Bundeskanzlerin gesagt hat,
nicht zu einem Unterbietungs- oder Überbietungswettlauf in Bezug auf Subventionen, aber auch in Bezug auf
Lohn-, Sozial- und Steuerstandards kommen.
Solidarität heißt auch: Unterstützung der Nicht-EuroMitgliedstaaten in der EU. Wir haben Lettland und
Ungarn bereits geholfen und müssen vielleicht noch anderen helfen.
({3})
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen: Am 15. März dieses Jahres hat sich zum 20. Mal
der Tag gejährt, an dem die Opposition anlässlich des
ungarischen Nationalfeiertages den Siegeszug in Ungarn
begonnen hat. Wenige Wochen zuvor fand die erste Sitzung des runden Tisches in Polen statt. Dem Mut unserer
europäischen Freunde haben wir unsere Freiheit und
Einheit zu verdanken. Ich glaube, es ist nicht mehr als
recht und billig, dass sich in dieser Krise ein Teil unserer
Dankbarkeit in europäischer Solidarität zeigt.
({4})
Da auf diesem Frühjahrsgipfel weitere Themen auf der
Tagesordnung stehen, will ich unter dem Stichwort der
Solidarität die europäische Nachbarschaftspolitik und
insbesondere die Östliche Partnerschaft ansprechen.
Denn es ist dringend notwendig, dass wir die Transformationsprozesse bei unseren Nachbarn in Richtung Demokratie, wirtschaftlichen Erfolg und Rechtsstaatlichkeit erst recht in der Krise unterstützen.
({5})
Ich glaube zutiefst, dass Investitionen in die Energieinfrastruktur, die im Rahmen des europäischen Konjunkturprogramms angedacht sind - auch wenn noch
keine Einigkeit im Detail besteht -, im Zusammenhang
mit dem Klimaschutz unerlässliche Maßnahmen sind
und dass wir im europäischen Verbund die Effizienzsteigerung, den Einsatz erneuerbarer Energien und den
Netzausbau solidarisch voranbringen müssen.
Nicht zuletzt bedeutet Solidarität aber auch, dass wir
im Rahmen der G 20 die Entwicklungsländer nicht vergessen dürfen, die in dieser Krise am meisten leiden.
Wir müssen drittens gemeinsam dafür sorgen, dass in
Zukunft eine derartige Krise von vornherein verhindert
wird. Das heißt, der G-20-Gipfel muss die weltweite
Regulierung politisch voranbringen. Das wird uns nur
dann gelingen, wenn wir Europäer gemeinsam auftreten.
Wenn die Forderung von Frau Merkel und Herrn
Sarkozy, die sie auf dem Ministerrat in Frankreich erhoben haben, nämlich dass konkrete Ergebnisse erfolgen
sollen, wirklich Realität werden soll, dann müssen sich
die Europäer auf diesem Frühjahrsgipfel einigen, damit
sie überzeugend wirken und die USA sowie andere Staaten auf dem Weg zu einer entsprechenden Finanzmarktregulierung mitnehmen können.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesbezüglich hege
ich aber doch den einen oder anderen Zweifel. Es reicht
nämlich nicht, davon zu sprechen, dass wir bei den Ratingagenturen einen Verhaltenskodex brauchen. Wir brauchen eine europäische gesetzliche Regelung. Es reicht
ebenfalls nicht - das ist mehrfach angesprochen worden -,
dass wir uns bei den Steueroasen nach dem Motto „blaming and shaming“ verhalten, sondern auch hier brauchen wir Regelungen. In diesem Zusammenhang appelliere ich, auch was die Managergehälter anbelangt, an
unseren Koalitionspartner. Vergleichbares könnte man zu
dem Thema „Selbstbehalt bei Verbriefungen“ sagen, wo
die Sozialdemokraten 20 Prozent fordern, die Konservativen und die Liberalen aber allenfalls 5 Prozent zugestehen wollen.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wann soll die
EU einig sein, die Herausforderungen anpacken und die
Probleme lösen, wenn nicht jetzt? Die EU ist weiterhin
wirtschaftlich stark. Jetzt braucht es den politischen Willen. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück haben
mit ihren Finanzmarktgrundsätzen gute Voraussetzungen
geschaffen. Frau Merkel, liebe Bundeskanzlerin - ich
weiß nicht, wo Sie gerade sind -,
({7})
nutzen Sie dieses Potenzial! Motivieren Sie Ihre europäischen Kollegen und Kolleginnen, einen gemeinsamen
Standpunkt zu finden und weitreichende Vorschläge zu
entwickeln, die auch die USA und andere Staaten überzeugen, damit wir gemeinsam zukünftigen Krisen vorbeugen können. Ich wünsche der Kanzlerin und der Bundesregierung bei diesem Vorhaben viel Erfolg.
Danke schön.
({8})
Nun hat der Kollege Gunther Krichbaum das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Finanzmarktkrise hat die Welt verändert, und sie wird sie
weiter verändern. Doch wir haben jetzt die Möglichkeit,
diese Veränderung mitzugestalten. Der bevorstehende
Europäische Rat bietet hierfür eine große Chance. Diese
kann aber nur dann genutzt werden, wenn Europa mit einer Stimme spricht; denn nur dann wird es gelingen, unsere Überlegungen und Vorstellungen auf dem bevorstehenden G-20-Gipfel Anfang April weltweit zum Standard
zu machen.
Ich denke, es war ein ermutigendes Signal, dass von
Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Initiative
ausging. Das ist unter anderem auch ein wichtiger Impuls für das deutsch-französische Verhältnis. Solche Impulse haben gerade in der letzten Zeit gefehlt. Deswegen
ist die Bedeutung dieser Initiative für die Wiederbele22728
bung des deutsch-französischen Verhältnisses nicht zu
unterschätzen. Wenn wir es jetzt noch schaffen, unsere
britischen Freunde und Partner mit ins Boot zu nehmen,
dann wird es uns gelingen - davon bin ich überzeugt -,
die Leitplanken einzuziehen, die wir auf den Finanzmärkten brauchen. Eines ist wichtig: Wir müssen jetzt
Standards setzen. Wir müssen jetzt ein Immunsystem
schaffen, damit sich eine derartige Krise nicht wiederholen kann.
Weil mein Kollege Bernhardt auf die Aufsichtssysteme, die hierfür notwendig sind, hinlänglich eingegangen ist, möchte ich einige andere Aspekte ansprechen.
Wenn es darum geht, Krisen vorzubeugen, brauchen wir
zweierlei: zum einen eine Stärkung des IWF, des Internationalen Währungsfonds, und zum anderen eine Stärkung der Europäischen Zentralbank. Hier sind die Potenziale bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Angesichts
der Tatsache, dass Produkte die Grenzen überschreiten,
muss auch die Aufsicht Grenzen überschreiten.
Beim Konjunkturpaket hätten wir uns sicherlich einiges mehr vorstellen können. Richtig ist, dass die Verantwortung bei den Mitgliedstaaten liegt. Bei einem Konjunkturpaket in einer Größenordnung von 5 Milliarden
Euro, wie es die Europäische Union schnürt, können die
Wirkungen nur begrenzt sein. Da die Bundesrepublik
Deutschland davon immerhin circa 1 Milliarde Euro tragen wird, sollten wir darauf hinwirken, dass diese konjunkturellen Maßnahmen schnell wirksam werden, vor
allem aber auch dem Mittelstand zugutekommen. Denn
gerade der Mittelstand ist bei alledem besonders gebeutelt und bedarf unserer Unterstützung.
({0})
Ein Wort zu Ihnen, Herr Westerwelle: Wer jetzt hier
mit Mehrwertsteuersenkungen und ermäßigten Mehrwertsteuersätzen operieren möchte, streut den Bürgern
Sand in die Augen.
({1})
Ganz nebenbei: So viel Sand, wie Sie den Bürgern in die
Augen streuen, gibt keine Wüste dieser Welt her.
({2})
Auch Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen, dass
niedrige und ermäßigte Mehrwertsteuersätze nur sehr
begrenzt an die Verbraucher weitergegeben werden.
({3})
Herr Kollege Krichbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Die Frage des Herrn Kollegen Westerwelle wird
wahrscheinlich durch meine Ausführungen beantwortet.
({0})
Nehmen Sie als Beispiel Großbritannien. Dort wurde
genau das gemacht. Das hatte aber die Folge, dass die
Verbraucher davon nicht profitiert haben, weil Preissenkungen nicht an die Verbraucher weitergegeben wurden
({0})
und die Profite woanders geblieben sind. Deswegen ist
es richtig, dass die Bundesregierung dies nicht machen
wird.
({1})
Ich möchte noch auf weitere Aspekte zu sprechen
kommen, die beim Europäischen Rat nicht unter den
Tisch fallen sollten. Das sind die Lissabon-Strategie
und die Östliche Partnerschaft. Bei der Lissabon-Strategie befinden wir uns im sogenannten zweiten Dreijahreszyklus zwischen 2008 und 2010. Ich denke, es hat schon
heute Sinn, über die Zukunft der Lissabon-Strategie
nach 2010 nachzudenken. Deswegen muss an dem Kernanliegen, für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen, festgehalten werden. Die Strategie sollte aber insoweit neu ausrichtet werden, als dass in Zukunft stärker
auf stabiles, nachhaltiges Wachstum Wert gelegt wird.
Genau diese qualitative Komponente beim Wachstum
muss in Zukunft stärker betont werden.
Die Östliche Partnerschaft wurde bereits von Kollegin Schwall-Düren angesprochen. Ich denke, es hat
Sinn, dass wir diese Östliche Partnerschaft auch von
deutscher Seite forcieren und unterstützen. Ich möchte
an dieser Stelle allerdings auch darauf hinweisen, dass es
noch offene, klärungsbedürftige Punkte gibt. Zum einen
betrifft dies die Finanzierung. Zum anderen ist es wichtig, dass wir kein Konkurrenzverhältnis zur Schwarzmeersynergie aufbauen und die Prozesse und Mechanismen, die wir bereits haben, aufeinander abstimmen. Wir
alle wollen, so denke ich, keine Duplizierung der Strukturen; dies wäre teuer und ineffektiv.
({2})
Ein weiterer Punkt ist die europäische Integration.
Wir können diese aktuelle Krise nur bewältigen, weil wir
diesen Stand der europäischen Integration haben. Deswegen muss die europäische Integration weitergehen.
Das betrifft auch die Staaten, mit denen wir Beitrittsverhandlungen führen. Aber man muss auch nüchtern konstatieren, dass es bei einzelnen Beitrittsländern nur sehr
schleppend vorangeht. Wir unterstützen Kroatien. Mazedonien aber hat noch sehr viele Aufgaben vor sich.
Im Hinblick auf die Türkei muss ein klärendes Wort
erlaubt sein - ich sage dies ohne Schaum vor dem Mund -:
Die jüngsten Bestrebungen der türkischen Regierung
hinsichtlich der Begrenzung der Pressefreiheit sind nicht
akzeptabel.
({3})
Denn die Repressalien, mit denen vor allem die DoganGruppe konfrontiert wird, zielen darauf ab, dass ein Unternehmen vom Markt verschwinden soll. Man muss auf
Folgendes hinweisen: Ohne Pressefreiheit keine Meinungsfreiheit, ohne Meinungsfreiheit keine Demokratie;
aber ohne Demokratie ist ein Beitritt in die Europäische
Union völlig undenkbar. Wir müssen die Vertreter der
türkischen Regierung an ihre Verantwortung erinnern.
Die Reformen müssen zunächst einmal den Bürgerinnen
und Bürgern im eigenen Land dienen. Sie dürfen nicht
nur durchgeführt werden, um der Europäischen Union
zu gefallen. Hier muss nachgebessert werden. Die Türkei muss gewissermaßen auf den Pfad der Tugend zurückkehren.
({4})
Die europäische Integration ist eine Erfolgsgeschichte. Ohne sie gäbe es weder den Euro noch den
Schengen-Raum. Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall
muss man darauf hinweisen, dass die eigentlichen Errungenschaften der europäischen Integration für die Bürger
erst mit der Kreierung des Schengen-Raums greifbar
wurden. Der Eiserne Vorhang war zwar gefallen, die eisernen Gardinen, wenn man so will, aber noch nicht. Wir
müssen den Schengen-Raum sukzessive erweitern; denn
hiervon profitieren die Bürgerinnen und Bürger am
meisten. Dabei spielen auch Visaerleichterungen eine
Rolle.
({5})
Wir müssen den jungen Menschen, insbesondere in Osteuropa, die Möglichkeit geben, das - in Anführungszeichen - alte Westeuropa kennenzulernen. Nur wer diese
Möglichkeit hat, kann auch die Werte der Europäischen
Union teilen.
({6})
Diese Aspekte dürfen nicht in Vergessenheit geraten.
Last, not least: Der Londoner Gipfel bietet die
Chance, eine neue Finanzmarktarchitektur zu kreieren.
Die anderen Themen, die von Bedeutung sind, dürfen
dabei aber nicht in Vergessenheit geraten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Guido
Westerwelle das Wort.
Herr Kollege, da Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, möchte ich Ihnen meine Fragen im Rahmen einer Kurzintervention stellen. Sie haben die FDP
und meine Person dafür kritisiert, dass wir uns für reduzierte Mehrwertsteuersätze ausgesprochen haben.
({0})
Sie haben gesagt, mit dieser Forderung würden wir den
Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen streuen.
({1})
Tut das auch der Bundeswirtschaftsminister, der dasselbe sagt wie ich?
({2})
Tut das auch die CSU, ein immerhin nicht unmaßgeblicher Teil Ihrer Fraktionsgemeinschaft, die dasselbe sagt
wie ich? Tut das auch der bayerische Ministerpräsident,
der dasselbe sagt wie ich?
Außerdem hätte ich gerne von Ihnen gewusst:
({3})
Wie erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern, dass - mit
einer einzigen Ausnahme, nämlich mit der Ausnahme
Dänemarks - alle Nachbarländer Deutschlands einen
niedrigeren Mehrwertsteuersatz für Hotels und Gastronomie haben? Von europäischer Ebene wurde das als
Möglichkeit ausdrücklich bestätigt. In Österreich, der
Schweiz, den Niederlanden, in Frankreich und in Luxemburg beträgt der Mehrwertsteuersatz für Hotels und
Gastronomie 3 Prozent, in Belgien 6 Prozent, und auch
in Tschechien und Polen ist er geringer als in Deutschland. Mit anderen Worten: Mit einer Ausnahme, nämlich
mit der Ausnahme Dänemarks, ist Deutschland in der
gesamten Europäischen Union das einzige Land, das bei
Hotels und Gastronomie den vollen Mehrwertsteuersatz
erhebt.
({4})
Finden nicht auch Sie, dass das eine enorme Wettbewerbsverzerrung zulasten unseres Mittelstandes ist?
Zum Schluss möchte ich auf das Thema Medikamente zu sprechen kommen. Medikamente sind etwas,
was die Menschen wirklich brauchen. Der normale Bürger kann, wenn er krank ist, nicht auf Medikamente verzichten. Ist Ihnen bekannt, dass neben Deutschland nur
vier Länder in ganz Europa, nämlich Bulgarien, Dänemark, Österreich und Schweden, den vollen Mehrwertsteuersatz auf Medikamente erheben?
({5})
Vor diesem Hintergrund würde ich gerne von Ihnen wissen: Ist es nicht so, dass Deutschland das Land ist, das
seine Position überprüfen muss, wenn 22 von 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen anderen Weg
gehen und das tun, was die FDP vorschlägt?
({6})
Zur Erwiderung Herr Kollege Krichbaum.
Werter Kollege Westerwelle, ich wehre mich gegen
den grenzenlosen Populismus, den Sie in diesem Hohen
Hause betreiben.
({0})
Bei den Bürgerinnen und Bürgern im Land erwecken Sie
den Eindruck, als würde eine Reduzierung der Mehrwertsteuersätze automatisch die Konjunktur beleben.
Das ist ein Irrglaube. Andere Länder - siehe Großbritannien - haben bereits unter Beweis gestellt, dass reduzierte Mehrwertsteuersätze nicht in Form von niedrigeren Preisen an die Verbraucher weitergegeben werden.
Das, was Sie hier machen, ist populistisch.
({1})
Populistisch ist auch, dass Sie einzelne Steuersätze
herauspicken, so zum Beispiel den reduzierten Mehrwertsteuersatz in manchen Bereichen in Dänemark. Es
gehört dann aber zur Ehrlichkeit dazu, auch zu erwähnen, dass der normale Mehrwertsteuersatz in Dänemark
weit über dem bundesdeutschen liegt.
({2})
Deswegen funktioniert Ihre Rosinenpickerei nicht,
Herr Westerwelle. Deutschland liegt, was die Steuerbelastung der Bürger angeht, im Mittelfeld der Europäischen Union. Man muss immer wieder darauf hinweisen,
dass dem Staat die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden müssen, wenn man Schulen, Bildungsinfrastruktur und Straßenbau finanzieren möchte.
({3})
Ein weiterer Punkt betrifft die Gastronomie. Ich
komme aus Baden-Württemberg - das kann man unschwer an meinem Zungenschlag heraushören -, einem
Bundesland, in dem es auf Fläche und Dichte bezogen
die meisten Zwei- und Drei-Sterne-Restaurants gibt.
Kein Mensch fährt ins nur wenige Kilometer entfernte
Elsass, nur weil dort vielleicht die eine oder andere
Speise 1 Euro weniger kostet.
({4})
Ich kann nur empfehlen, die Gastronomie im Elsass, die
exzellent ist, einmal kennenzulernen. Sie werden dort
aber eher mehr Geld lassen als in den hervorragenden
baden-württembergischen Restaurants. Das kann ich mit
Sicherheit auch in Bezug auf viele andere Restaurants im
restlichen Deutschland behaupten.
Ihr Populismus, mit dem Sie hier versuchen, den
Menschen etwas vorzugaukeln, gehört gebrandmarkt. Es
ist also dienlich, diese offenen Punkte einmal zu benennen, was Ihnen ganz offensichtlich nicht gefallen hat.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Alexander Ulrich
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Linke hat beantragt, dass der verringerte Mehrwertsteuersatz auch für Medikamente gelten soll. Herr
Westerwelle, die FDP hat damals nicht zugestimmt - so
viel zur Ehrlichkeit.
({0})
Die massive Umverteilung von Arm zu Reich, der
massive Sozialabbau, der mit der Lissabon-Strategie verbunden ist, die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Daseinsvorsorge waren
wichtige Ursachen der jetzigen Wirtschaftskrise.
Deutschland wurde durch seine wachstums- und europafeindliche Lohndrückerei Exportweltmeister.
Wenn man sich die heutige Regierungserklärung anhört, denkt man sich: Die Bundeskanzlerin sollte nicht
die Letzte sein, die einsieht, dass Europa und Deutschland nicht Opfer, sondern Mitverursacher der jetzigen
Krise sind. Die Schröder- und die Merkel-Regierungen
haben diesen gescheiterten Finanzmarktkapitalismus
massiv gefördert und mit verursacht.
({1})
Die Bundesregierung hat daher eine besondere internationale Verantwortung zur Belebung der Konjunktur. Die
Bundesregierung tritt aber weiter auf die Bremse. Ich zitiere die Worte vom Wirtschaftsnobelpreisträger Paul
Krugman aus dem Stern der letzten Woche:
Deutschland war bislang nur ein riesiger Stolperstein, ein gewaltiges Hindernis.
Weiter wird er in dem Artikel zitiert:
Finanzminister Peer Steinbrück scheine mit koordinierten Konjunkturprogrammen „ein echtes Problem“ zu haben.
Außerdem sagte Krugman, manchmal glaube er - ich zitiere -,
in Deutschland begreift man das ungeheure Ausmaß der Krise immer noch nicht ganz.
Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die Krise
in ihrer Dimension zu erkennen. Sie ist nicht in der
Lage, die richtigen Antworten zu finden. Die Bundesregierung versagt auf Kosten von Wohlstand und Arbeitsplätzen in unserem Land. Wie wollen Sie die internationalen Ungleichgewichte mit dieser Politik verringern?
Die Linke fordert, wie Jean-Claude Juncker, eine EuroAnleihe, um die öffentliche Kreditbeschaffung in Europa
zu verbilligen.
({2})
Ein Staatsbankrott wird auf jeden Fall teurer. Doch
die Bundesregierung zeigt wieder ihr antieuropäisches
Gesicht und beharrt auf nationalen Anleihemärkten.
An dieser Politik ist aber eines ganz besonders
schlimm: Viele Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz.
Die Opel-Beschäftigten erwarten zu Recht schnelle Hilfe
der Bundesregierung. Was wird gemacht? Der Wirtschaftsminister reist zu PR-Zwecken in eigener Sache in
die USA, erreicht gar nichts und will das auch noch als
Erfolg verkaufen. Die Bundesregierung kennt scheinbar
zwei Klassen von Menschen: Arbeitnehmer und Bankmanager. Deshalb braucht die Bundesregierung den außerparlamentarischen Druck. Die Linke unterstützt die
Forderungen und den Protest am 28. März in Berlin und
Frankfurt unter dem Motto: Wir zahlen nicht für eure
Krise.
({3})
Frau Bundeskanzlerin, reisen Sie nicht als Lobbyist
der Finanzwirtschaft auf den Gipfel und zu G 20! Es
reicht nicht aus, nur für mehr Transparenz zu sorgen.
Das Kasino muss endgültig geschlossen werden. Es
muss verboten werden, mit Währungen, Rohstoffen und
Lebensmitteln zu zocken. Die Finanzmärkte müssen unter demokratische Kontrolle gebracht werden. Wir brauchen eine Transaktionssteuer. Hedgefonds müssen verboten und Steueroasen geschlossen werden.
({4})
Ich finde es sehr interessant - wir erleben ja zurzeit in
Deutschland den Vorwahlkampf -: Trittin, Frau Künast,
Müntefering, Steinbrück, Steinmeier, alle schwadronieren von der Ampel. Heute Morgen haben wir festgestellt,
dass man Steueroasen zusammen mit dem Oasen-Guido
schließen will.
({5})
Deshalb wird von Rot-Grün jetzt schon die nächste
Wahlkampflüge vorbereitet.
({6})
Wie wollen Sie ernsthaft Mindestlöhne einführen, wie
wollen Sie Steueroasen schließen, wie wollen Sie den
Finanzmarktkapitalismus regulieren, wenn Sie eine Koalition mit der FDP wollen?
({7})
Das ist unglaubwürdig, und das nimmt Ihnen niemand
mehr ab.
({8})
Ihr Problem ist nicht Guido, sondern Ihre Inhaltsleere.
Sie wollen nur regieren, unabhängig davon, welche Inhalte dabei herauskommen.
({9})
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine Bundesregierung, die ihrer Verantwortung für die Menschen gerecht wird und nicht weiter kläglich versagt.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort erhält die Kollegin Nina Hauer, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Westerwelle, wenn man der Meinung ist,
dass die Leute lieber im Ausland essen gehen, weil dort
die Mehrwertsteuer etwas geringer ist, dann ist es nur
folgerichtig, Steueroasen zu verteidigen.
({0})
Es geht nicht allein darum, dass wir eine bessere Kooperation der europäischen Staaten bei der Bekämpfung
der Steuerhinterziehung erreichen. Vielmehr geht es darum, dass wir verhindern, dass es Staaten gibt, die auf
Dauer einen Teil ihrer Wertschöpfung dadurch erzielen,
dass sie Steuerflüchtlingen Zuflucht bieten. Es geht auch
nicht allein darum, in der Finanzmarktkrise mit Konjunkturprogrammen an einzelnen Punkten zu helfen.
Darüber sollten wir es aber nicht versäumen, unser System mit neuen Regeln neu aufzustellen.
Wer diese Krise bewältigen und für die Zukunft vorsorgen will, der muss jetzt dafür sorgen, dass wir Regeln
bekommen, an die sich auf dem Finanzmarkt alle halten. Ich finde, bei dem Vortreffen ist schon einiges erreicht worden. Dass die Ratingagenturen beaufsichtigt
und registriert werden, das ist ein großer Fortschritt.
Frau Künast, es geht nicht darum, ob sie europäisch oder
amerikanisch sind, sondern es geht darum, wer kontrolliert, was sie eigentlich machen. Wer nimmt ihr Geschäftsmodell unter die Lupe? Wer bewertet, wie sie ihre
Bewertungen aufstellen? Wenn wir schon vor ein paar
Jahren Regelungen geschaffen hätten, die außerbilanzielle Zweckgesellschaften verhindern, dann wäre uns
viel geholfen.
Immerhin - ich weiß nicht, wie der Finanzminister
dies erreicht hat, vielleicht mit Diplomatie, offensichtlich aber auch mit Durchsetzungskraft - haben wir erreicht, dass die USA mit uns darüber reden wollen, wie
wir die Hedgefonds beaufsichtigen und regulieren. Ich
finde, das ist ein großer Fortschritt. Das wäre vor zwei
Jahren noch nicht ohne Weiteres möglich gewesen.
({1})
Es geht aber - das hat mich etwas an der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin enttäuscht - nicht nur darum, zu sagen, dass wir neue Regeln wollen. Wir wollen
auch ein Leitbild für den Finanzmarkt entwerfen. Dabei
geht es darum, dass diejenigen, die ein hohes Risiko eingehen - das muss man auch weiterhin am Finanzmarkt
dürfen -, dafür auch die Verantwortung tragen. Risiko
und Verantwortung müssen sich also die Waage halten.
({2})
Das war bisher aber nicht der Fall. Wenn jemand Papiere kauft, die zu Paketen geschnürt worden sind, die
Kredite enthalten, die nicht zurückgezahlt werden können oder bei denen das Risiko groß ist, dass sie aufgrund
der Zinsbedingungen nicht zurückgezahlt werden können, dann muss derjenige einen Teil des Risikos tragen,
wenn er diese Papiere weiterverkauft.
Deshalb finde ich den Vorschlag unseres stellvertretenden Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten
Frank-Walter Steinmeier richtig, dass ein Teil des Risikos bei denjenigen bleiben soll, die die Pakete schnüren.
Bei einem Selbstbehalt von 20 Prozent bei Verbriefungen beispielsweise, die wir am Finanzmarkt ja brauchen
- wir wollen sie nicht abschaffen -, wird sich der eine
oder andere schon überlegen, was darin enthalten ist, bevor er verkauft und bevor am Ende niemand mehr nachvollziehen kann, wohin eigentlich verkauft worden ist.
({3})
Genauso finde ich, dass es beim Risiko und bei der
Verantwortung darum geht, wie viel Eigenkapital ein
Unternehmen bereithält. Wir wollen mit unseren Eigenkapitalstandards nicht prozyklisch dann reagieren, wenn
wir sehen, dass in Europa die Bereitschaft sinkt, Kredite
für die Wirtschaft zu vergeben. Für die Zukunft wollen
wir, dass diejenigen, in deren Bilanzen große Risiken
stehen, diese auch mit dem entsprechenden Eigenkapital
unterfüttern müssen. Hier müssen dann eben alle mitmachen. Ausgerechnet die USA setzen Basel II nicht um.
Ausgerechnet jetzt, da wir es am dringendsten gebrauchen könnten, haben sie gesagt: Wir machen das an dieser Stelle nicht mit.
Wir wollen mit diesen Anforderungen an Eigenkapital erreichen, dass Stresstests durchgeführt werden können und überprüft werden kann, ob die nötige Liquidität
vorhanden ist, um ein Risiko im Geschäft auszugleichen.
Dazu gehört auch, dass wir dafür sorgen, dass diejenigen, die Geschäfte tätigen, nicht nur dann immer hoch
belohnt werden, wenn das Risiko und die Verantwortung
möglichst weit auseinanderklaffen. Ich finde schon, dass
jemand, der ein Risiko eingeht, belohnt werden sollte,
aber das muss an Regeln gebunden sein, und es muss
klar sein: Wenn ich nachhaltig wirtschafte - das ist auch
am Finanzmarkt notwendig -, dann ist meine Vergütung
am Ende höher, als wenn ich ein Risiko eingehe, für das
hinterher die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen aufkommen müssen. - Diese Regeln wollen wir am Finanzmarkt verankern.
({4})
Ich finde, dass wir hier schon große Schritte weitergekommen sind. Dass wir überhaupt international darüber
reden, dass wir alle Produkte, Akteure und Finanzmärkte
beaufsichtigen müssen, und dass dort Vorschläge gemacht werden, ist schon ein erheblicher Fortschritt. Bis
vor Kurzem gab es noch viele Staaten - übrigens auch
viele Politiker und Politikerinnen hier in Deutschland -,
die gesagt haben: Der Finanzmarkt braucht gar keine Regeln. Er hat ganz eindeutig das Interesse, die Rendite zu
maximieren. Wenn das nach diesem Prinzip geht, dann
läuft das schon.
Das ist falsch und auch nicht die Aufgabe des Finanzmarktes. Seine Aufgabe ist es, Kapital für Ideen von Unternehmen hier und anderswo in der Welt zur Verfügung
zu stellen und es zu ermöglichen, dass wir Verbraucherinnen und Verbraucher unser Geld für das Alter, zur
Vorsorge und für alles andere dort anlegen können. Dabei müssen wir natürlich auch nachvollziehen können,
was mit dem Geld passiert.
Das sind die Leitlinien, an denen wir uns orientieren
sollten. Ich bin froh, dass wir als SPD schon sehr früh
Vorschläge zu diesen Leitlinien eingebracht haben.
Vielen Dank.
({5})
Nun erhält der Kollege Thomas Silberhorn für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind uns einig, dass aufgrund der globalen
Dimension dieser Finanzmarktkrise auch globale Lösungsansätze erforderlich sind. Ich finde es gut, dass wir
an uns den Anspruch stellen, dass der Globalisierung aus
diesem Anlass ein politischer Ordnungsrahmen gegeben
werden muss.
Die Europäische Union kann mit dem Gipfel, der jetzt
bevorsteht, eine Pilotfunktion wahrnehmen, weil es daThomas Silberhorn
rum geht, dass wir internationale Standards setzen, die
auf der Grundlage demokratischer Vorbilder und auf der
Grundlage der sozialen Marktwirtschaft zustande kommen. Wir sind uns über das Ob einig, aber wir müssen
über den richtigen Weg streiten.
Als beispielsweise schnell der Vorschlag gemacht
wurde, jetzt eine zentralisierte europäische Aufsichtsbehörde für den Finanzmarkt zu errichten, wurde ich
doch sehr skeptisch. Kann es wirklich zielführend sein,
eine europäische Behörde einzurichten, wenn es um eine
Finanzkrise globalen Ausmaßes geht? Eine Insellösung
der Europäischen Union wird dieser Herausforderung
nicht gerecht und die strukturellen Schwächen auf dem
Finanzsektor weltweit ganz sicher nicht beseitigen.
Ich halte ein solches Modell auch nicht unbedingt für
praktikabel; denn Aufsicht findet immer lokal statt.
Wenn man Regulierungsstandards setzt, über die wir uns
gerne international verständigen können, dann muss die
Beachtung dieser Regulierungsstandards vor Ort kontrolliert und durchgesetzt werden.
Es ist auch nicht unbedingt verantwortungsbewusst,
wenn man europäische Behörden einrichten will, aber
im Krisenfall die Folgen von den Mitgliedstaaten getragen werden müssen. Ich glaube, dass eine Lehre dieser
Finanzkrise darin bestehen muss, Handeln und Haften
zusammenzuführen. Insofern mahne ich, dies nicht
durch neue Institutionen oder Organisationsfehler auseinanderfallen zu lassen.
({0})
Ich halte es auch für riskant, eine Krise, die möglicherweise durch kollektives Versagen vieler Beteiligter
entstehen konnte, dadurch lösen zu wollen, dass man
jetzt die Entscheidungen, die bisher viele getroffen haben, in einer Behörde zentralisiert. Wenn dann eine Fehlentscheidung getroffen wird, ist die Wirkung umso
schlimmer. Die spanische Finanzaufsicht beispielsweise
hat den spanischen Banken untersagt, diese vergifteten
Finanzprodukte aufzulegen. Wir müssen uns die Frage
stellen, weshalb die kritische spanische Aufsicht, die
sich letzten Endes als richtig erwiesen hat, nicht europaweit die nötige Aufmerksamkeit gefunden hat. Mein
Vorschlag ist, die Aufsicht international zu koordinieren.
Wir dürfen sie aber nicht zentralisieren, sondern müssen
die nationalen Aufsichtsbehörden besser miteinander
vernetzen.
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu diesem
Punkt. Wenn man sich in Brüsseler Fluren darüber streitet, wo der Sitz einer solchen europäischen Finanzaufsichtsbehörde sein könnte, dann ist das ein verdammt
kleines Karo vor dem Hintergrund der globalen Krise.
Ich rate uns dazu, von solchen Kuhhandeln Abstand zu
nehmen und durch eine Vernetzung der bestehenden nationalen Einrichtungen eine globale Lösung in Angriff
zu nehmen.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der aus
meiner Sicht in der gesamten Debatte über die Wirtschafts- und Finanzkrise zu kurz kommt, nämlich die
persönliche Verantwortung der Akteure, die die Ursachen für diese Krise geschaffen und unternehmerische
Fehlentscheidungen getroffen haben. Es kann doch nicht
angehen, dass wir eine Art Softkriminalität in Vorstandsetagen hinnehmen, die dadurch zustande kommt, dass
man mit dem System von Bonuszahlungen Handeln im
Eigeninteresse fördert und unternehmerische Entscheidungen letztlich nicht im Interesse des Unternehmens,
der Kunden und schon gar nicht der Beschäftigten getroffen werden.
({1})
Wenn wir solche Fehlentscheidungen dadurch korrigieren, dass wir Steuergelder der kleinen Leute einsetzen,
dann liegt es nahe, dass das Vertrauen in das Funktionieren der sozialen Marktwirtschaft untergraben wird. Deswegen rate ich dazu, dass wir dort, wo die Gelegenheit
besteht, die Akteure in Haftung nehmen.
Vorstände von Aktiengesellschaften sind schadenersatzpflichtig. Sie haften mit ihrem vollen Privatvermögen für ihr Tun.
({2})
Es ist nicht hinnehmbar, dass unternehmerische Fehlentscheidungen mit Abfindungen, Bonuszahlungen und
Auszahlungen der Rente in Millionenhöhe belohnt werden und dies zum Teil noch gerichtlich eingeklagt wird.
Stattdessen sollten wir den Spieß umdrehen und die
Handelnden in Haftung nehmen.
Wenn man das angehen will, braucht es einen Kläger.
Wenn der Bund in die Verlegenheit kommen sollte, sich
an Aktiengesellschaften wie der Hypo Real Estate zu beteiligen, dann ist die Gelegenheit, ernsthaft zu prüfen, inwieweit die Handelnden in Form von Schadenersatzleistungen herangezogen werden können, und damit dafür
zu sorgen, dass Handeln und Haften wieder zusammengeführt werden. Ich bitte darum, dass die Bundesregierung in diesem Sinne tätig wird, bevor wir entsprechende Anträge vorlegen müssen.
({3})
Darin liegt für uns durchaus die Chance, insoweit auch
in der Europäischen Union stilbildend und vertrauensbildend zu wirken und zu versuchen, das, was an Vertrauen
zerstört worden ist, so weit wie möglich wiederherzustellen.
Erlauben Sie mir noch eine kritische Anmerkung zu
den bevorstehenden Verhandlungen in der Europäischen
Union. Ich glaube, wir haben alles getan, was in unseren
Möglichkeiten steht. Wir sind bis an die Grenzen unserer
Leistungsfähigkeit gegangen. Deswegen muss jetzt wieder ein Konsolidierungskurs eingeschlagen werden.
Ich rate dazu, diese Krise nicht dazu zu missbrauchen,
neue Sünden zu begehen, von einem Sonderfonds für
osteuropäische Staaten über Euroanleihen, die Ausweitung des Globalisierungsfonds bis hin zum Aufschnüren
der Finanziellen Vorausschau und allem, was das Sündenregister sonst noch umfasst. Im Zweifel sollte das
Beichtstuhlverfahren, für das die europäischen Gipfeltreffen berühmt sind, wieder zur Anwendung kommen,
aber es sollte keine Absolution erteilt werden, wenn man
nicht von diesen Sünden lassen will.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Kurt Bodewig für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In einer Debatte soll man auch auf die Redebeiträge der anderen eingehen. Eine kurze Anmerkung
zur Rede des Kollegen Silberhorn: Das Haftungsrecht
besteht; wir müssen es nur anwenden. Das ist keine gesetzgeberische Frage, sondern eine Frage der Kultur in
den Unternehmen. Auf diese können wir gemeinsam
einwirken.
({0})
Ich gehe gerne noch auf die populistische Kurzintervention ein. Ich möchte den Bundeswirtschaftsminister
ausdrücklich in Schutz nehmen. Eine solche Rede, Herr
Westerwelle, wie Sie sie gehalten haben, würde er niemals halten; das ist eine wichtige Grundvoraussetzung.
Ihre sehr eigenartige, unverhohlene Sympathie für Steueroasen - diese sind nichts anderes als der Zufluchtsort
für Steuerhinterzieher - teilt niemand in der Bundesregierung und der Koalition; das sollten wir ausdrücklich
feststellen. Ich glaube, Sie haben sich Ihren neuen Spitznamen zu Recht erarbeitet.
({1})
- Ihre Egopflege dürfen Sie selbst betreiben.
({2})
Ich fahre fort und gehe auf die Bemerkungen des
Bundesfinanzministers ein. Ich glaube mich richtig zu
erinnern, dass er die Schweiz mit keinem Wort erwähnt
hat. Er hat von den Instrumentarien der OECD gesprochen. Die heftige Reaktion in der Schweiz dokumentiert
- das ist sehr interessant -, dass man sich dort offenbar
angesprochen fühlt. Auch das sollten wir wahrnehmen.
({3})
Ich möchte eigentlich noch auf einen anderen Punkt
eingehen, der heute und morgen eine besondere Rolle
spielt, nämlich das Zusammenwirken der europäischen
Staaten bei der Energieversorgungssicherheit; die
Bundeskanzlerin hat das bereits angesprochen. Das wird
ein Thema sein, in der Zeit bis zur Klimakonferenz in
Kopenhagen.
Wir sollten uns die Barroso-Vorschläge sehr genau
anschauen; denn das, was er im Moment macht, ist
nichts anderes als eine Reise der Wahlgeschenke, die seiner Wiederwahl als Kommissionspräsident dient. Er
macht Programmvorschläge, die das Thema Konjunkturprogramm in keiner Weise berühren. Seine vorgeschlagenen Programme sind nicht geplant und stehen zurzeit
nicht an. Sie werden daher auch keine konjunkturelle
Wirkung haben. Das alles passt nicht an diese Stelle. Sicherlich handelt es sich um wichtige Projekte; aber sie
gehören in das ganz normale Haushaltsverfahren der
EU. Es dürfen aber nicht infolge der Krise Geschenke
verteilt werden, da sonst nur Mitnahmeeffekte erzielt
würden. Da diese Projekte trotzdem wichtig sind, müssen wir neben der konjunkturellen Wirkung darüber
nachdenken - dabei geht es nicht um neues Geld -, was
wir nach der Überwindung der Krise in der Konsolidierungsphase tun werden. Dann können diese Projekte
wieder eine Rolle spielen. Aber sie dürfen nicht verzerrend wirken. Nabucco ist genauso wichtig wie Nord
Stream. Interkonnektoren sind in den Ostseeanrainerstaaten genauso wichtig wie in Südosteuropa. All das
führt dazu, dass wir die künstliche Trennung etwa im
Energieversorgungsbereich zwischen Ost und West in
Europa aufheben können. Darüber sollten wir schon
heute nachdenken; das ist mir sehr wichtig. Die BarrosoVorschläge dürfen nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung
führen. Das Problem ist, dass dann bereits geplante Investitionen zurückgestellt würden, weil man sich Mitnahmeeffekte erhofft.
Wir sollten das fortsetzen, wofür Deutschland steht
und was wir seit zehn Jahren sehr intensiv betreiben.
Energieeffizienz stellt eine Haupteinsparquelle dar. Wir
wollen die erneuerbaren Energien und Energieformen,
die nicht belastend wirken. Deswegen ist Offshore ein
ganz wichtiges Thema. Hierbei handelt es sich übrigens
um eine der Technologien, die im Obama-Programm mit
3,2 Milliarden US-Dollar Forschungsmitteln begleitet
wird. Wir haben hier Planungen und eine entsprechende
Technologie. Wir sollten daher auch zur Anwendung
kommen. Ich glaube, wir Europäer haben große Chancen, die Meinungsführerschaft auszuüben. Voraussetzung ist aber, dass wir Geschlossenheit zeigen. In
diesem Sinne dienen die Barroso-Vorschläge eher der
Ablenkung als der Konzentration und Fokussierung auf
dieses Thema.
Ich möchte noch andere Bereiche ansprechen. Wir
brauchen in der Konsolidierungsphase Investitionen, die
sich rechnen und gleichzeitig den neuesten Stand der
Technologie abbilden. Ein Beispiel ist die betriebsoptimierte Anlagetechnologie in der deutschen Braunkohleindustrie. Diese Technologie könnte in China den Wirkungsgrad bei der Steinkohleverwertung verfünffachen,
vielleicht sogar versiebenfachen. Das wäre eine Investition für den Klimaschutz. Gleichzeitig hätte diese große
Technologie eine Anreizfunktion und würde sich auf die
deutsche Wirtschaft, an der mir sehr gelegen ist, positiv
auswirken. Wir haben also etwas vorzuweisen; auch
CCS und andere Verfahren sind in diesem Bereich außerordentlich zukunftsträchtig.
Ich würde mich freuen, wenn der Europäische Rat die
Gelegenheit nutzen würde, strategisch über die Initiierung von zukunftsfähigen Investitionen zu sprechen, anstatt länderausgewogen alle Teile Europas mit kleinen
100-Millionen-Euro-Projekten zu unterstützen. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Diese Form der
Unterstützung müssen wir auf den Prüfstand stellen.
Gleichzeitig muss ein Appell des ganzen Hauses erfolgen, Europa so zu entwickeln, dass wir selber die Zukunft gestalten können.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am Schluss dieser Debatte zeigt sich, dass keiner von uns wirklich sagen kann, ob wir am Anfang oder
am Ende dieser Krise stehen und welche Herausforderungen wir noch bewältigen müssen. Doch eines möchte
ich zu Beginn meiner Ausführungen klarstellen: Ich
glaube, dass wir diesen Herausforderungen in einer Position der Stärke gegenüberstehen. Deutschlands Volkswirtschaft ist so stark wie seit langem nicht mehr. Wir
haben eine starke handlungsfähige Regierung,
({0})
auch aufgrund dessen, dass wir drei Jahre lang Haushaltskonsolidierung betrieben haben.
({1})
Wir haben ein starkes dreigliedriges Bankensystem.
Trotz aller Probleme sorgt es dafür, dass auch in der Fläche Kredite vergeben werden. Außerdem haben wir nach
drei Boomjahren eine starke deutsche Wirtschaft. Wir
befinden uns also in einer Position der Stärke. Das ist gerade in der jetzigen Zeit für uns enorm wichtig.
({2})
Heute, am Tag des Zusammentreffens des Europäischen Rates, und wenige Tage vor dem G-20-Treffen in
London müssen wir die richtigen Schlussfolgerungen
ziehen. Viele meiner Vorredner gingen auf diese
Schlussfolgerungen ein. Ich möchte nur einen Punkt herausgreifen, der mir besonders wichtig ist: Ein Hauptauslöser der Krise war eine maßlose und oftmals auf
Schulden basierte Ausgaben- und Liquiditätspolitik
aller Finanzmarktteilnehmer: der Zentralbanken, der Regierungen, der Wirtschaft und auch der Privathaushalte.
Diese maßlose Politik hat dazu geführt, dass eine Blase,
größtenteils in den USA, entstanden ist. Als diese Blase
geplatzt ist, hat dies die Volkswirtschaften der Welt in
die Krise gestürzt. Ich nehme deshalb diejenigen, die
jetzt besorgt vor weiteren größeren Ausgaben warnen,
ernst. Ich habe heute gelesen, dass die Fed 1 Billion USDollar in den Markt pumpen will. Das erfüllt mich persönlich mit Sorge. Vor einem solchen Handeln auch in
Europa müssen wir warnen. Deshalb bin ich dankbar,
dass die Bundeskanzlerin und der Finanzminister Forderungen nach weiteren Konjunkturprogrammen aus den
USA, England und Japan eine klare Absage erteilt haben. Eine solide Haushalts- und Finanzpolitik ist ein Garant für das Vertrauen, das wir so dringend brauchen.
({3})
Ich finde es besorgniserregend, dass entgegen allen
Beteuerungen seit dem G-20-Gipfel in Washington im
November letzten Jahres 17 der dort vertretenen Staaten
insgesamt 47 neue Handelsbeschränkungen verfügt
haben. Wichtiger denn je ist deshalb ein Fortführen und
Aktivieren der Doha-Runde und der WTO-Gespräche.
Protektionistischen Tendenzen muss vor allem in dieser
Krise Einhalt geboten werden. Davon profitiert Deutschland.
({4})
- Frau Künast, davon profitieren vor allen Dingen auch
die Schwellen- und Entwicklungsländer, die aus einem
fairen und freien Welthandel großen Nutzen ziehen.
Aber nicht nur die Doha-Runde und die WTO-Gespräche sind eine wichtige Komponente. Auch die
Märkte, insbesondere der europäische Binnenmarkt und
der US-Markt, sind ein Motor der Weltwirtschaft. Diese
beiden Märkte machen 60 Prozent der weltweiten Einkommen aus und vereinen über 70 Prozent der weltweiten Direktinvestitionen auf sich. Allein diese beiden
Märkte nehmen 40 Prozent aller Exporte der Entwicklungs- und Schwellenländer auf. Daraus entsteht eine
enorme Wirtschaftskraft, aber auch eine enorme Verantwortung für diese beiden Wirtschaftszweige.
Aus diesem Grund ist der von Bundeskanzlerin
Angela Merkel initiierte Transatlantische Wirtschaftsrat wichtiger denn je. Er sorgt dafür, dass Handelshemmnisse abgebaut werden und der Welthandel wieder
funktioniert.
({5})
Wer die Warenströme kennt, weiß, dass dies sowohl für
unsere Automobil- und Chemieindustrie als auch für die
Energie- und Umwelttechnologien wichtig ist. In diesen
Bereichen können wir ebenso wie im Sicherheits- und
im Umweltbereich Standards in der Welt setzen und damit zu einem Vorreiter für andere Länder werden. Eine
erfolgreiche Fortsetzung der Gespräche im Transatlantischen Wirtschaftsrat hat deshalb nicht nur für Europa,
sondern auch für das Weiße Haus und die Obama-Administration oberste Priorität. Dies stimmt mich zuversichtlich. Dieses Instrument stellt zugleich eine ganz wichtige
Antwort auf die derzeitige Krise dar.
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt die
Chance, zu einem entscheidenden Durchbruch zu kommen. Dass wir global handeln und diese Chance nutzen
müssen, liegt auf der Hand. Die Weltwirtschaft kann aus
dieser Krise gestärkt hervorgehen. Für die EU und die
USA ist dies von besonderer Bedeutung. Lassen Sie
mich zum Schluss dieser Debatte betonen, dass auch wir
in Europa für mehr Handelsfreiheit sorgen müssen.
Diese Gunst der Stunde sollten wir jetzt nutzen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen über die
Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/12296? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12297? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsan-
trag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/12298 soll zur federfüh-
renden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an
den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis g auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Fritz Kuhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Energiewende vorantreiben - Atomausstieg
fortsetzen
- Drucksache 16/12288 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verantwortlichkeiten für die Zustände im
Endlager Asse II benennen und Konsequenzen
für die Endlagersuche ziehen
- Drucksache 16/10359 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Bärbel
Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz nehmen
- Drucksachen 16/6319, 16/7882 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Angelika Brunkhorst
Hans-Kurt Hill
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia
Kotting-Uhl, Cornelia Behm, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Sicherheit geht vor - Besonders terroranfäl-
lige Atomreaktoren abschalten
- Drucksachen 16/3960, 16/8469 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Angelika Brunkhorst
Hans-Kurt Hill
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({4}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia
Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraft-
werke in Osteuropa
- Drucksachen 16/11764, 16/12312 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Hirte
Angelika Brunkhorst
Hans-Kurt Hill
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({5})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia KottingUhl, Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Schließung des Forschungsendlagers
Asse II unter Atomrecht und eine schnelle
Rückholung der Abfälle
- Drucksachen 16/4771, 16/12270 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer ({6})
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Cornelia Pieper
Priska Hinz ({7})
g) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Angelika Brunkhorst, Cornelia Pieper, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Informations-Materialien der Bundesregierung zum Thema „Fakten und Kontroversen
zum so genannten Ausstieg aus der friedlichen
Nutzung der Kernenergie“ für Kinder und
Heranwachsende
- Drucksachen 16/9509, 16/11343 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Sie
sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir Grünen haben diese Debatte über die Energiewende
und den Atomausstieg beantragt, weil unser Land vor einer energiepolitischen Richtungsentscheidung steht. Es
geht darum, wie die Energie der Zukunft aussehen soll:
Wollen wir auf erneuerbare Energien oder auf die Renaissance der Atomkraft setzen? Wir Grüne setzen auf
erneuerbare Energien und sagen: Eine Renaissance der
Atomkraft und erneuerbare Energien - beides zusammen
geht nicht; wir müssen uns entscheiden.
({0})
Warum geht das nicht? Man denkt ja zuerst einmal, es
könnte sein. Auch die Bundesregierung sagt, dass der
Anteil der erneuerbaren Energien im Jahr 2020 30 Prozent betragen soll, wir Grünen wollen mehr, nämlich
über 40 Prozent, und die Unternehmen im Sektor erneuerbare Energien sprechen sogar von 47 Prozent. Wir
wissen, dass davon ein großer Anteil Windenergie sein
wird. Auch wenn wir immer besser prognostizieren können, wann der Wind weht, und auch wenn die großen
Windkraftanlagen auf dem Meer kontinuierlicher Strom
liefern, so wissen wir doch, dass es Zeiten gibt, in denen
der Wind nicht weht. Das heißt, dass wir zusätzlich zu
den erneuerbaren Energien Kraftwerke brauchen, die
schnell und flexibel hoch- und heruntergefahren werden
können und die erneuerbaren Energien ergänzen können.
Dazu taugen Atomkraftwerke nicht.
({1})
Sie sind langsam, sie sind schwerfällig, und sie sind unflexibel. Wenn man sie hoch- und herunterfahren würde,
würden sie auch noch ein erhebliches Sicherheitsrisiko
darstellen. Das funktioniert nicht.
Dass das nicht nur unsere Meinung ist, haben wir gerade erfahren. Die Briten setzen bekanntlich auf Atomkraft. Deshalb haben sie bei den großen Energiekonzernen eine Stellungnahme darüber angefordert, wie sich
der Ausbau der erneuerbaren Energien in Großbritannien
darstellt. Eon und EDF sagen, dass Großbritannien den
Ausbau der erneuerbaren Energien beschränken müsse,
wenn der Ausbau der Atomkraft gewünscht werde. EDF
spricht von einer Deckelung bei 20 Prozent, Eon geht etwas darüber hinaus. Das heißt, nicht nur wir Grünen,
sondern auch die Energiekonzerne sind der Meinung,
dass der Ausbau der erneuerbaren Energien mit dem
Ausbau der Atomkraft nicht zusammengeht. Deshalb
muss doch die Alternative heißen: Ja zu den erneuerbaren Energien.
({2})
Wir sind aber auch für den Atomausstieg, weil Atomkraft lebensgefährlich ist. Sichere Atomkraftwerke gibt
es nicht. Je älter ein Atomkraftwerk ist, desto gefährlicher ist es. Kein Atomkraftwerk der Welt wäre vor einer
Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl in der damaligen
Sowjetunion oder in Harrisburg in den USA gefeit. Wer
von uns hätte gedacht, dass wir vor drei Jahren in dem
Land mit der größten Sicherheitskultur, in Schweden,
fast einen GAU in einem Atomkraftwerk gehabt hätten?
Das war in Forsmark. Der Chef dieses AKWs hat gesagt:
Ich hätte das nicht für möglich gehalten. - Es war aber
doch möglich, und es bleibt möglich. Weil wir diese
Möglichkeit ausschließen wollen, wollen wir raus aus
der Atomkraft. Wir wollen dieses Risiko nicht.
({3})
Wir sind für den Atomausstieg, weil Atomkraft
schmutzig ist. Ich wundere mich immer über Plakate, auf
denen steht, Atomkraft sei saubere Energie. Das, finde
ich, ist absurd und unverfroren. Eine Technik, die Atommüll produziert, der für Hunderttausende von Jahren gefährlich ist, von dem wir nicht wissen, wo er gelagert
werden kann, erzeugt keine saubere Energie. Diese Behauptung ist falsch.
({4})
Atommüll ist giftig, Atommüll strahlt, und wir wissen
nicht, wohin damit. Wir haben das Problem der Endlagerung überhaupt nicht gelöst. Wenn man sich den Skandal
bei dem Versuchslager Asse anschaut, dann sieht man:
Strahlenmüll kann nicht sicher eingeschlossen werden.
In Asse ist in einem Bergwerk, das für Hunderte von
Jahren als sicher galt, Müll ausgesifft. Das funktioniert
also nicht. Das Atommüllproblem ist nicht gelöst. Die
Endlagerfrage ist nicht beantwortet. Wir wollen deshalb
mit dem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke die Probleme mit dem Atommüll nicht verstärken. Wir fordern
den Atomausstieg, damit das Problem des Atommülls
endlich ein Ende hat.
({5})
Wir sind für den Atomausstieg, weil Atomkraft teuer
ist. In Finnland sind die Kosten des Reaktorbaus von
3 Milliarden Euro auf mittlerweile 4,5 Milliarden Euro
gestiegen. Wer zahlt das? Es sind der deutsche und der
französische Steuerzahler. Eine halbe Milliarde Euro
zahlt Siemens - damit hat Siemens weniger Gewinn -,
und 1 Milliarde Euro zahlt der französische Steuerzahler,
weil EDF an dem Kraftwerksbau beteiligt ist. Es ist also
keinesfalls so, dass Atomkraft billig ist. Sie ist günstig
für die Konzerne, aber nicht günstig für die Gesellschaft;
denn alle Kosten, zum Beispiel die, die mit der Endlagerung verbunden sind, muss am Ende der Steuerzahler
tragen. So verschlingen zum Beispiel die Asse oder
Morsleben Milliarden. Diese wird am Ende der Steuerzahler zahlen müssen. Atomkraft kommt uns also teuer
zu stehen. Deshalb wollen wir die Atomkraft nicht.
({6})
Atomkraft ist aber auch überflüssig. Wir brauchen
keine Atomkraft. Die Atomkraftwerke Brunsbüttel,
Krümmel, Biblis A und Biblis B waren in den letzten
zwei Jahren im Schnitt neun Monate am Netz, also nur
in etwas mehr als einem Drittel der Zeit. Das heißt, diese
Atomkraftwerke wurden in einem Großteil der Zeit
überhaupt nicht betrieben. Teilweise waren sieben
Atomkraftwerke gleichzeitig abgeschaltet. Haben Sie irgendwo gesehen, dass eine Lampe geflackert hat? Haben
Sie irgendwo gesehen, dass ein Kühlschrank ausgefallen
ist? Nein, im Gegenteil: Deutschland hat in dieser Zeit
enorm viel Strom exportiert. Deshalb gilt: „Stromlücke“
ist eine Stromlüge. Wir haben genug Strom, auch ohne
die Atomkraftwerke.
({7})
Das ist in vielen Studien, die von der Bundesregierung
selbst in Auftrag gegeben worden sind, bewiesen. Das
heißt, wir haben genug Strom. Es geht ohne Unfallrisiken, ohne Terrorgefahren und ohne Strahlenmüll. Deshalb sagen wir: Wir wollen raus aus der Atomkraft.
Wir werden die Debatte darüber in den kommenden
Monaten führen. Die Menschen haben ein Recht darauf,
die Argumente zu hören. Sie sollen wissen, dass wir an
der Weggabelung stehen. Sie sollen wissen: Wir müssen
uns entscheiden, ob wir eine Renaissance der Atomkraft
oder ob wir erneuerbare Energien wollen. Wir als Grüne
sagen: Wir gehen den Weg der erneuerbaren Energien.
Wir wissen: Die Mehrheit der Bevölkerung wird uns folgen.
Vielen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Christian Hirte.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist zwar bald Ostern; die Anträge der Grünen erinnern
aber eher an das alte Weihnachtslied „Alle Jahre wieder“: Jahr für Jahr legen uns die Grünen Anträge zum
Atomausstieg oder zumindest zur Fortsetzung des Atomausstiegs vor,
({0})
jeweils in leicht abgewandelter Form, um ihnen einen
neuen Anstrich zu geben. Indes bleiben die Anträge die
alten - so wie die Sachlage. Geändert hat sich vielleicht
nur die Auffassung der Bevölkerung. Dort ist nämlich
eindeutig eine Trendwende hin zur Kernenergie zu bemerken.
({1})
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts
Emnid sprechen sich mittlerweile 48 Prozent der Deutschen für eine Verlängerung der Laufzeiten aus, nur
42 Prozent dagegen.
({2})
Das Bundesumweltministerium hatte auf seiner Homepage die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, in der
sich immerhin 57 Prozent der Teilnehmer für eine Verlängerung der Laufzeiten ausgesprochen haben.
({3})
Diese Ergebnisse haben dort bekannterweise nicht lange
gestanden. Das DIW konstatiert, dass sich dieser Trend
zu einem Ja für längere Laufzeiten noch verstärkt.
Der Neuaufguss der Grünen-Anträge ist durchaus
nachvollziehbar - Frau Höhn hat das gerade ausgeführt -:
Uns steht ein Wahlkampf bevor, und die Grünen hoffen
natürlich, ihre bei diesem Thema abtrünnige Klientel im
Wahljahr wieder auf Kurs zu bringen.
({4})
Dieses Thema ist allerdings zu ernst, um es für rein
wahlkampftaktische Manöver zu missbrauchen. Wir alle
sind uns dem Grunde nach darin einig, dass Kohlendioxid einen wesentlichen Anteil am vom Menschen
verursachten Treibhauseffekt hat. Deutschland ist mit
knapp einem Viertel der größte Treibhausgasproduzent
in der Europäischen Union. Daher stellt sich für uns die
He-rausforderung einer schnellen CO2-Reduktion in besonderer Weise und Verantwortung.
Zentrales politisches Anliegen der Energiepolitik
muss aber sein - obwohl es leider keine SelbstverständChristian Hirte
lichkeit mehr ist -: eine sichere Energieversorgung bei
möglichst geringer Importabhängigkeit für die Bürger
und für die Wirtschaft zu bezahlbaren Preisen - und dies
alles mit möglichst niedrigen CO2-Emissionen.
({5})
Aus diesem Spannungsfeld ergibt sich sodann die grundlegende Frage: Wie können wir unsere Klimaziele erreichen, ohne dabei die Versorgungssicherheit und die
Wirtschaftlichkeit zu vernachlässigen?
Bei der Energieerzeugung gibt es sicherlich keinen
Königsweg. Aus diesem Grunde ist es nach wie vor vernünftig, auf ein breites Fundament zurückzugreifen.
Auch die Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung
und der Liberalisierung“ erwartet, dass die Kraftwerkskapazitäten in den nächsten Jahren weiter erhöht werden
müssen. Es wird sogar davon ausgegangen, dass in den
kommenden Jahren bis 2020 ein Ersatzbedarf bei der
Kraftwerksleistung von etwa 40 Gigawatt vorliegt; das
ist mithin ein Drittel der derzeitigen Kraftwerkskapazitäten. Das verdeutlicht die Brisanz und auch die Dimension, vor der die deutsche Energiewirtschaft steht.
Die Anträge der Opposition enthalten zwar jede
Menge Forderungen, eine konkrete Antwort auf die
Frage, wie Deutschland diesen immensen Energiebedarf
decken soll, aber leider nicht.
({6})
Deutschland braucht also zumindest mittelfristig einen vielfältigen Energiemix. Entgegen dem, was Frau
Höhn gesagt hat, geht doch beides, sowohl erneuerbare
Energien als auch Kernkraft. Ich meine sogar: Beides
bedingt einander, weil die Kernkraft kostenbewusst ermöglicht, die erneuerbaren Energien zu unterstützen.
({7})
Wenn die erneuerbaren Energien dem Ziel der Bundesregierung entsprechend bis 2020 etwa 20 bis
30 Prozent der Stromerzeugung leisten, heißt das im
Umkehrschluss, dass 70 bis 80 Prozent der Stromerzeugung weiter aus konventionellen Kraftwerken kommen
müssen.
({8})
Wir brauchen in Deutschland also auch künftig neue und
effiziente Kraftwerke, das heißt auch Gas- und Kohlekraftwerke.
Einerseits wehrt man sich gegen konventionelle
Kraftwerke. Andererseits sind wir uns darüber im Klaren, dass kurzfristig die erneuerbaren Energien noch
nicht den gesamten Energiebedarf decken können. Wir
müssen uns also Alternativen überlegen.
Wir wissen, dass die Stromerzeugung überwiegend
aus Gas erfolgt, das wir importieren. Wenn wir nur auf
Gas setzten, weil konventionelle Kohlekraftwerke abgelehnt werden, würde das dazu führen, dass wir in relativ
kurzer Zeit über 70 Prozent des importierten Gases aus
Russland beziehen müssten.
({9})
Was eine derartig große Importabhängigkeit von ausländischem Gas bedeuten kann, haben wir am Beispiel der
Ukraine vor einiger Zeit erlebt.
Ich will jetzt gar nicht auf die Nachteile des Methans
eingehen - dieser Hauptbestandteil von Erdgas ist selbst
ein Treibhausgas -, sondern nur kurz darauf verweisen,
ohne das näher erläutern zu wollen, dass die russischen
Pipelines, auch was die Dichtigkeit angeht, sicherlich
nicht den deutschen Maßstäben entsprechen und damit
die Energiebilanz von Gas nicht so positiv ist, wie sie
manchmal dargestellt wird.
({10})
Aus diesen Gründen halte ich eine Energieversorgung
für richtungsweisend, die die Abhängigkeit von anderen
Staaten auf ein erträgliches Maß reduziert.
({11})
Ich erspare mir an dieser Stelle weitere Ausführungen.
Ich habe aber den Eindruck, dass die Opposition keine
eigenen Optionen liefert.
({12})
- Moment! - Es ist nach wie vor die Auffassung der
Union, dass wir derzeit, auch als Überbrückung, auf die
Kernenergie nicht verzichten können. Die Kernenergie
ist nämlich die einzige sofort verfügbare Energieform,
die praktisch keine klimaschädlichen Abgase produziert.
({13})
Ich will dieses Mal nicht umfangreich auf die Kernkraft eingehen - dazu wird die weitere Debatte sicherlich
noch Gelegenheit bieten -, aber abschließend Stephen
Tindale, den ehemaligen Direktor von Greenpeace,
wörtlich zitieren:
Es war ein wenig wie eine religiöse Bekehrung. Gegen die Kernkraft zu sein war lange Zeit eine essentielle Position, wenn man Umweltschützer war.
Aber nun, wenn ich mit anderen Umweltschützern
darüber spreche, ist die Ansicht tatsächlich ziemlich weit verbreitet, dass die Kernkraft zwar nicht
ideal, aber immer noch besser als der Klimawandel
sei.
Vielen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kollegin Angelika Brunkhorst.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns liegen sechs Anträge der Grünen vor, Frau Höhn,
aus dem von Ihnen auserkorenen Lieblingsfeld Kernenergie. Es ist immer wieder dieselbe Predigt, es sind immer wieder dieselben von Ihnen auch gerade wieder beschriebenen Angstszenarien. Liebe Grüne, die Menschen
im Lande haben eine sehr viel differenziertere Meinung
zur Energiepolitik, als Ihnen lieb sein dürfte. Sie erkennen nämlich an, dass wir in Zukunft weiter einen Energiemix brauchen, auch im Hinblick auf Versorgungssicherheit und Qualitätssicherung, und dass der
Energiemix uns bezahlbare Energie liefert.
({0})
Viele wissen schon, dass wir den Energiemix technologisch hoch anspruchsvoll und umweltschonend ausgestalten können.
({1})
Was die Akzeptanz der Kernenergie im Lande angeht, so möchte ich gern, auch wenn Herr Hirte das
schon getan hat, auf die Onlinebefragung des BMU zu
sprechen kommen, und zwar wonnevoll. 57 Prozent der
Befragten - immerhin waren das mehr als 14 700 - haben sich zum Ausstieg aus dem Ausstieg bekannt, und
nur 28 Prozent wollten am Ausstieg festhalten. Aber die
Umfrage ist ja ganz schnell wieder von der Internetseite
des Umweltministeriums heruntergenommen worden.
Sie von den Grünen versuchen nun auch in Ihrem aktuellsten Antrag, den Nutzen der Kernenergie ganz bewusst kleinzureden. Sie sprechen davon, dass sie nur
ganz wenig Energie bereitstelle, nämlich nur 6 Prozent,
vergessen dabei aber, zu erwähnen, dass die Kernenergie
zumindest zur Grundlaststromversorgung 45 Prozent
beiträgt, also eine der Hauptsäulen darstellt.
({2})
- Das steht in einer neuen Broschüre des Bundeswirtschaftsministeriums. Ich kann sie Ihnen gerne geben.
Die Kernenergie produziert CO2-freien Strom.
({3})
Immerhin 150 Millionen Tonnen CO2 werden gespart.
Das ist ein Segen für unser Klima.
Auch die FDP setzt auf den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Deren Anteil wird auf jeden Fall
steigen. Wir erkennen auch die technologische Leistung
an; das ist gar keine Frage.
({4})
Wir wünschen uns aber, dass die erneuerbaren Energien
passgenau und umweltverträglich ausgebaut werden - da
gibt es Probleme; das wissen auch Sie -, und wir wollen
vor allen Dingen, dass sie nicht zulasten anderer Nutzungsoptionen, jedoch zu möglichst günstigen und
marktfähigen Preisen ausgebaut werden. Das ist uns
ganz wichtig; das ist nämlich auch eine soziale Frage.
Ihre Vision einer Energieversorgung überwiegend aus
erneuerbaren Energien ist ambitioniert. Die können Sie
gerne vertreten; das ist Ihre Sache. Mich stört aber der
Absolutheitsanspruch, mit dem Sie sie vertreten: nur Erneuerbare und nichts anderes. Ich sehe das etwas anders.
Ich glaube, dass wir heute und auch zukünftig noch eine
lange Weile einen Dreiklang aus erneuerbaren Energien,
aus konventionellen und hoffentlich modernisierten
Kraftwerken sowie aus Kernenergie haben werden.
Diese drei werden also noch länger Schwestern im Netz
bleiben. Darauf setzt die FDP.
Schauen wir einmal, was unsere europäischen Nachbarn machen. Nur einige Beispiele: In Finnland ist der
EPR-Reaktor im Bau, weitere sind geplant. Auch Italien
steigt jetzt wieder in den Bau von Kernkraftwerken ein.
({5})
Schweden hat seinen Ausstiegsbeschluss von 1980 zurückgenommen und will nun wieder in die Kernenergie
einsteigen, und auch viele osteuropäische Länder wollen
alte Reaktoren durch neue Reaktoren ersetzen. Just in
diesem Moment fordern Sie den Ausstieg aus der Europäischen Atomgemeinschaft. Ich finde, das Verbleiben
in EURATOM ist gerade jetzt so wichtig wie nie zuvor.
Weil so viele Reaktoren in west- und osteuropäischen
Ländern hinzukommen, ist EURATOM wichtiger denn
je. Wir brauchen nämlich den Austausch technologischen Wissens, wir brauchen die gemeinsame Forschung, und wir brauchen vor allen Dingen eine gemeinsame, hochambitionierte Sicherheitsarchitektur. All das
kann man gut über EURATOM erreichen. Der Vertrag
über EURATOM könnte sicherlich modifiziert werden;
dagegen hätten wir nichts.
({6})
Konkret zu Ihrem aktuellsten Antrag: Sie beklagen
darin ungeniert Zustände, die Sie in den sieben Jahren
von Rot-Grün, in denen Sie mitregierten, hätten ändern
bzw. bei denen Sie Veränderungen hätten in Gang setzen
können.
({7})
Sie beschwören insbesondere immer wieder die ungelöste Endlagerfrage.
({8})
Sie haben damals den AK End installiert. Dessen Bericht
wurde nie ausgewertet. Herr Trittin hat diverse Gutachten in Auftrag gegeben, die nie veröffentlicht, sondern
gleich immer wieder einkassiert wurden, weil die Ergebnisse nicht so ganz passten.
({9})
Herr Trittin, Sie haben ein zehnjähriges Moratorium für
Gorleben verfügt, Ihre Kollegen schreiben nun aber im
aktuellsten Antrag - ich zitiere -:
Die umstrittene Erkundung am Standort Gorleben
beruht nicht auf dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik.
Ja, was denn? Das Moratorium lässt nichts anderes zu.
Dann fordern Sie auch noch, das Moratorium zu verlängern. Das ist Politik aus dem Tollhaus.
({10})
Das Thema nukleare Sicherheit, Frau Höhn, ist uns
Liberalen auf jeden Fall sehr wichtig. Wir wollen aber
Erkenntnisgewinn, der zu konkreten und vor allen Dingen auch zeitnahen Lösungen führt. Ein solches Bestreben konnte ich bei Ihnen bislang überhaupt nicht erkennen.
({11})
Ich habe eher den Eindruck, die Grünen leben davon,
eine nukleare Unsicherheit zu beschwören, weil ihnen
das hilft, eine möglichst gute Argumentationskette für
den Ausstieg in der Hand zu haben.
Abschließend möchte ich zu den Anträgen, die Sie
hier heute vorgelegt haben, Folgendes sagen: Sie haben
eine Kleine Anfrage zur nuklearen Sicherheit gestellt.
Diese erweckt bei mir persönlich und wohl auch bei einigen anderen den Eindruck, dass es Ihnen wiederum nur
darum geht, quantitativ möglichst viele Unsicherheitsfragen aufzuwerfen und damit zu suggerieren, diese Fragen seien nicht zu lösen. Aber wir wollen sie lösen.
({12})
Sie wissen ganz genau, dass die Asse II einen neuen Betreiber hat und in einer neuen Zuständigkeit liegt. Wir
sind zuversichtlich, dass man jetzt ernsthaft die Endlagerfrage angehen will. Ich bin Herrn Gabriel durchaus
dankbar, dass er sich - zumindest vorübergehend - dafür
sehr eingesetzt hat. Ich hoffe, dies bleibt auch so.
Ich mache einen Schnitt und komme noch auf unsere
Große Anfrage zu den Unterrichtsmaterialien „Einfach
abschalten?“ des Bundesumweltministeriums zu sprechen. Ich möchte vorab sagen, dass es gewisse Grundsätze gibt, wie man politische Bildungsarbeit zu gestalten hat. Dazu gehört der sogenannte Beutelsbacher
Konsens von 1976. Darin ist ein Überwältigungsverbot
enthalten. Das heißt, politische Bildung soll nicht indoktrinieren. Weiter heißt es:
Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist,
muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen …
Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine
politische Situation und seine eigene Interessenlage
zu analysieren …
Heranwachsende sollen also unterstützt werden, eine eigene Meinung bilden zu können. Sie sollen hierzu umfassend informiert und nicht beeinflusst werden. Da sind
wir uns, glaube ich, alle einig.
Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zu
dem Beutelsbacher Konsens. Wir wundern uns allerdings sehr, dass in den Unterrichtsmaterialien „Einfach
abschalten?“ dieses Bekenntnis untergraben wird. Einleitend steht darin:
Mit Hilfe der vorliegenden Materialien sollen die
Schülerinnen und Schüler den Sachstand zur Problematik der Nutzung der Atomenergie ({13}) erfassen.
Es ist überhaupt kein positives Element der Kernenergie
enthalten wie Klimafreundlichkeit, Wirtschaftlichkeit
und Versorgungssicherheit.
Herr Gabriel wird dann weiter zitiert mit dem Satz:
Die Atomkraft ist eine Technologie des letzten
Jahrhunderts …
Ich muss schon sagen: Das ist jetzt nicht unbedingt neutral, Herr Minister.
({14})
Von Neutralität in der Darstellung keine Spur!
Ich komme zum Schluss. Ich appelliere an das Bundesumweltministerium - Herr Minister Gabriel, das hat
Ihr ehemaliger Ministerkollege Glos auch getan -, die
Indoktrination unserer Schüler zu stoppen
({15})
und die Unterrichtsmaterialien entweder zu überarbeiten
oder aber aus dem Netz zu nehmen.
({16})
Ich bitte Sie, sich in Zukunft wieder an den Beutelsbacher Konsens zu halten.
Vielen Dank.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum
wiederholten Male in dieser Legislaturperiode über den
Atomausstieg. Es liegen uns sechs Anträge und die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage vor.
Die zur Abstimmung vorliegenden Anträge der Grünen
sind - das sage ich trotz unserer Sympathie - in einigen
Punkten entweder überholt, durch Regierungshandeln
erledigt oder nicht umsetzbar. Wir lehnen sie daher ab.
In meinen Ausführungen möchte ich heute exemplarisch auf zwei Schlagworte eingehen. Sie fassen symbolisch die Diskussion über die Atomenergie der vergangenen Jahre zusammen. Da ist zunächst die angebliche
Renaissance der Atomenergie, wie sie von der Atomlobby im Verbund mit Union und FDP propagiert wird.
Die Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des
Hauses behaupten seit Jahren: Der Atomausstieg ist das
Werk ideologisch verblendeter Technologiefeinde. Die
Große Anfrage der FDP zielt genau darauf. Sie behaupten ferner: Die Atomenergie ist weltweit auf dem Vormarsch, und Deutschland isoliert sich durch den Atomausstieg. - Sehr geehrte Damen und Herren, das sind
Märchen.
({0})
Wir sagen: Atomenergie ist aus ökologischen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Gründen nicht verantwortbar. Wir sagen: Atomenergie ist eine Form der
Energieerzeugung des letzten Jahrhunderts. Wir sagen:
Deutschland ist nicht der isolierte Nachzügler einer weltweiten Atomrenaissance. Deutschland ist vielmehr Vorreiter beim Aufbau einer modernen Energieversorgung.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
abgesehen vom radioaktiven Abfall strahlt Atomkraft
nur in den Hochglanzbroschüren der Lobbyverbände.
Wer deren aktuelle Ausbaupläne liest, fühlt sich unweigerlich an die Luftschlösser der 70er-Jahre erinnert. Die
Prognose der Internationalen Atomenergie-Organisation damals: Im Jahre 2000 würden weltweit Atomkraftwerke mit einer Leistung von 4 500 Gigawatt installiert
sein. Die Realität im Jahr 2008: 372 Gigawatt. Die bestehenden 436 Reaktoren decken gerade einmal 2,5 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs.
({2})
Das Fazit: Gemessen an den Erwartungen ist Atomenergie immer Ankündigungsenergie geblieben.
({3})
Nun wenden die Kolleginnen und Kollegen von
Union und FDP ein, überall würden bald neue Atomkraftwerke gebaut.
({4})
Das stimmt - allerdings nur auf dem Papier.
({5})
Die Realität sieht folgendermaßen aus: Im Jahr 2008
ging zum ersten Mal seit 42 Jahren kein einziges Atomkraftwerk ans Netz. Selbst ein Vertreter der Internationalen Atomenergie-Organisation stellte in der Süddeutschen Zeitung zum angeblichen Atomboom fest, eine
Renaissance bei der Atomkraft gebe es lediglich - ich zitiere - „beim theoretischen Interesse“. Wie so ein theoretisches Interesse aussieht, möchte ich am Beispiel Südafrika verdeutlichen. Im August 2007 brach dort laut
n-tv die Atomära aus. 15 Milliarden Euro sollten in fünf
Jahren in den Ausbau der Atomenergie investiert werden. Diese Ära dauerte genau 15 Monate. Bereits im Dezember 2008 erklärte der staatliche Energiekonzern Eskom, der Neubau eines Druckwasserreaktors werde aus
finanziellen Gründen aufgegeben.
Dieses Schicksal wird vor dem Hintergrund der Finanzkrise auch zahlreiche Neubauankündigungen in
Europa ereilen. In Polen ist keineswegs klar, woher das
Land 16 bis 18 Milliarden Euro für seine geplanten
Atomkraftwerke nehmen soll. Ob in Schweden wirklich
neue Atomkraftwerke als Ersatz für Altanlagen entstehen, bleibt ebenfalls abzuwarten; denn die Anlagen müssen komplett privatwirtschaftlich finanziert werden.
Derartige Bedingungen haben bisher noch jedem hochfliegenden Atomprogramm zur Bruchlandung verholfen.
Es gibt aber auch Lichtblicke in der Atomdebatte.
Selbst Union und FDP sind sich ihrer Sache nicht wirklich sicher. Deshalb kleiden sie ihre Befürwortung der
Atomenergie derzeit in den Begriff der Übergangstechnologie. Dazu sagen wir: Herzlichen Glückwunsch! Sie
haben die Beschlusslage der SPD von 1986 erreicht.
({6})
Ich meine das gar nicht negativ, lehrt doch der Blick in
die Vergangenheit, dass die bürgerlichen Parteien bei
vielen Themen etwas länger gebraucht haben.
({7})
Denken wir zum Beispiel an das Frauenwahlrecht, an die
Finanzmarktkontrolle oder die Familienpolitik.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
möchte aber auch noch auf das eingangs angekündigte
zweite Schlagwort der Atomdebatte eingehen, auf die
sogenannte Renaissance des Widerstands. Es ist uns allen klar, dass dieses Schlagwort vor allem der Absicherung des grünen Wählerpotenzials dient. Das ist erlaubt.
Ihr aktueller Antrag zeigt aber wieder einmal deutlich,
dass Sie krampfhaft versuchen, die SPD in der Frage des
Atomausstiegs zu übertrumpfen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in
Ihrem Interesse rate ich Ihnen: Verkohlen Sie die Bürgerinnen und Bürger nicht! Nicht alles, was moralisch oder
politisch wünschbar wäre, ist auch rechtlich umsetzbar.
Versprechen Sie nichts, was Sie am Ende nicht halten
können! Beim Kohlekraftwerk Moorburg sind Sie schon
einmal als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet.
({10})
Noch eines: Wir werden Ihnen auf jeden Fall nicht
durchgehen lassen, die SPD als Handlanger der Atomindustrie abzustempeln, Frau Höhn.
({11})
In der Frage des Atomausstiegs brauchen wir uns vor
niemandem zu verstecken. Wir haben in den vergangenen drei Jahren nicht gewackelt - trotz einer beispiellosen PR- und Öffentlichkeitskampagne der Atomlobby,
trotz Drohungen, Gerichtsverfahren und populistischen
Lockangeboten. Die Standfestigkeit von Sigmar Gabriel
und der SPD-Bundestagsfraktion müssen andere erst
einmal unter Beweis stellen.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD steht für
die Renaissance der Vernunft in der Energiepolitik.
({13})
Eine vernünftige Energiepolitik ist langfristig angelegt.
Sie löst Probleme und schafft keine neuen. Mit dem
Atomausstieg haben wir einen gesellschaftlichen Konflikt gelöst, der dieses Land 25 Jahre lang gespalten und
energiepolitisch gelähmt hat. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien, mit Energieeinsparung und einer
Steigerung der Energieeffizienz legen wir die Grundlagen für die Energieversorgung der Zukunft. Mit unserer
ökologischen Industriepolitik schaffen wir die Basis für
wirtschaftliches Wachstum und den Wohlstand unserer
Kinder. Lassen Sie uns gemeinsam auf diesem Weg voranschreiten, statt unsere Energie mit der fruchtlosen
Fortführung von Kämpfen aus der Vergangenheit zu vergeuden.
Danke, dass Sie mir zugehört haben.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothée Menzner
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Als Linke begrüßen wir diese Debatte. Sie ist überfällig.
Ich erinnere nur an den 26. Februar 2009, als ungefähr
15 000 Menschen Braunschweig, Asse und Schacht
Konrad - das ist eine Wegstrecke von 52 Kilometern durch eine Lichterkette unter dem Motto „Wir bringen
Licht ins Dunkel“ miteinander verbanden.
Ich zitiere aus dem Antrag der Grünen:
Der Statusbericht zu den Zuständen im Forschungsendlager Asse II hat unsere schlimmsten Vermutungen noch übertroffen.
Das spiegelt die Stimmung in der Region wider, und
zwar nicht nur der Menschen, die sich seit Jahrzehnten
gegen Atomkraft engagieren, sondern auch der ganz normalen Bürgerinnen und Bürger, der ganz normalen Anwohnerinnen und Anwohner. Ihre Befürchtungen sind
übertroffen worden, und jede Woche ereilen sie neue
Hiobsbotschaften.
Was hören diese Menschen hier oder auch sonst im
politischen Raum? Ich zitiere die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Katherina Reiche, die am
26. Februar im Inforadio Berlin gesagt hat, der Vergleich
zwischen Asse und Gorleben sei „ein durchsichtiges politisches Manöver“.
({0})
Im Gegensatz zu Asse verfüge Gorleben über einen intakten Salzstock. Außerdem sei Gorleben in den vergangenen 25 Jahren systematisch untersucht worden.
({1})
Ich zitiere wörtlich:
Über einen langen, transparenten und wissenschaftsgeleiteten Prozess ist man zu dem Schluss
gekommen, Gorleben sei geeignet.
({2})
Das lässt Schlimmes erahnen. Die Menschen fühlen
sich verhöhnt und bedroht. Das, was ich hier von den
möglichen Koalitionspartnern einer möglichen Ampel
höre, beruhigt die Menschen meiner Ansicht nach nicht.
({3})
Die Menschen fühlen sich von CDU/CSU, FDP und
Atomindustrie für dumm verkauft. Ihnen wird immer
wieder erzählt, die Atomkraft sei sicher; vor der Haustür
erleben sie aber das Gegenteil. Es werden Märchen erzählt, die sie selber als Horrorgeschichten empfinden.
Das erste Märchen lautet, Atomstrom sei billig. Das
haben wir auch hier heute wieder gehört. Die mehreren
Milliarden, die je nach gewählter Option für die Asse
fällig werden und die für den Steuerzahler zur Zahlung
anstehen, werden nicht erwähnt. Auch die über 2 Milliarden Euro, die zur Schließung des Endlagers Morsleben anfallen, werden nicht erwähnt; von Gorleben,
Schacht Konrad und den Kosten für die Transporte einmal ganz zu schweigen.
Wir wissen auch, dass Uran nicht unbegrenzt vorrätig
ist. Wir merken, dass sich das Vorkommen seinem Ende
nähert. Die Wissenschaftler sagen, dass es noch rund
50 Jahre reichen wird. Das wird auch an der Preisentwicklung deutlich: Während 1 Pfund Uran 2001 noch
ungefähr 7 US-Dollar kostete, kostete es 2007 140 USDollar.
Von dem Kollegen Hirte und der Kollegin Brunkhorst
haben wir eben wieder einmal gehört, Atomstrom sei
klasse, um CO2 zu sparen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass Strom aus südafrikanischem Uran heute je Kilowattstunde 126 Gramm CO2 verursacht.
Auch über die Unverzichtbarkeit hören wir immer
wieder vieles. Das lässt sich trefflich widerlegen.
Wichtig ist eine transparente und umfassende Kostenbeteiligung der Konzerne. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Dafür werden wir streiten.
({4})
Einen Vorwurf kann ich den Kolleginnen und Kollegen der Grünen, die in ihren Anträgen viel Richtiges
schreiben, nicht ersparen: Bündnis 90/Die Grünen hat in
der Vergangenheit Vertrauen zerstört, und zwar nicht nur
Vertrauen in die eigene Partei, sondern in die Politik insgesamt:
({5})
mit dem sogenannten Atomkonsens, der eine Betriebsgarantie für die Konzerne war, dem Wegschauen und
dem Aussitzen bei Asse II, Gorleben und Schacht
Konrad, solange man in der Koalition war, und zwar sowohl in Niedersachsen als auch im Bund.
Es ist zwar lobenswert, jetzt in der Opposition gute
Anträge zu schreiben - wir werden gerne mit Ihnen streiten und versuchen, gemeinsam aktiv zu werden -, aber
es könnte sehr nach Wahlkampfgeklingel aussehen,
({6})
wenn man nicht deutlich macht: Die Macht der vier großen Energiekonzerne, von K+S und anderen DAX-Konzernen ist groß. Dagegen müssen wir angehen; aber das
schaffen wir nicht allein.
({7})
Das schaffen wir nur gemeinsam mit den Menschen,
wenn wir die nötige Transparenz herstellen und wenn
wir mit ihnen, die sie sich seit Jahren und Jahrzehnten
engagieren und Kompetenz angeeignet haben, streiten.
Ich glaube, nur so kommen wir in der Frage des Atomausstiegs weiter, also gemeinsam mit den Menschen und
nicht, indem wir Parlamentarier sagen, dass wir alles lösen können. Vielmehr brauchen wir den Druck der
Straße, den Druck der Bewegung und die entsprechende
Kompetenz.
Ich danke.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im Zentrum dieser Debatte heute Morgen steht
wieder einmal die Schachtanlage Asse II. Von 1909 bis
1964 wurde dort Salz abgebaut mit der Folge, dass dieser Salzstock durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse.
Nach heutigen Maßstäben würde niemand mehr auf die
Idee kommen, dort Atommüll einzulagern.
Die Asse wurde 1965 als Forschungsbergwerk vom
Bund übernommen. Bis 1978 - in dem Jahr stoppte Ernst
Albrecht die Einlagerung - wurden 126 000 Fässer
schwach- und mittelradioaktiven Abfalls eingelagert.
Betreiber der Asse war das GSF, das Forschungszentrum
für Umwelt und Gesundheit, aufgegangen im HelmholtzZentrum München. Es erforschte im Auftrag des Bundes
im Salzstock die Einlagerung radioaktiver Abfälle.
Die Einlagerung erfolgte nicht etwa geordnet, sondern man kippte nach ersten Versuchen den Müll einfach
in die Schächte und überdeckte ihn mit Salzgrus, was
eine mögliche Rückholung heute so schwierig macht.
Dazu kommt - das ist seit vielen Jahren bekannt -, dass
ausgebeutete Salzbergwerke dazu neigen, abzusaufen.
Das heißt, die durchlöcherten Salzstöcke fallen unter
dem Druck des Deckgebirges zusammen, und Grundwasser findet seinen Weg in den Berg. Genau das geschieht seit 1988. Täglich fließen 12 Kubikmeter Salzlauge in das Bergwerk. Bislang kommt das Wasser nicht
in Kontakt mit den radioaktiven Abfällen. Genau das
muss dauerhaft verhindert werden, damit Radioaktivität
nicht durch das Wasser in die Biosphäre gelangt und
Mensch und Umwelt schädigt.
Erschwerend kommt hinzu, dass einige der ausgebeuteten Kammern, die sich in der Nähe der Kammern mit
dem Atommüll befinden, mit feuchtem Versatz verfüllt
worden sind, um ein Zusammenbrechen zu verhindern.
In der Folge ist das so in den Berg eingebrachte Wasser in
die Kammern mit dem Atommüll eingedrungen. Seit
Juni letzten Jahres ist bekannt, dass es in der Asse Laugen gibt, die mit Cäsium 137 kontaminiert sind und zudem ohne Wissen und Genehmigung der Überwachungsbehörden innerhalb des Schachtes umgelagert worden
sind.
Das Vertrauen der Bevölkerung in den Betreiber
GSF war - das ist aus meiner Sicht absolut nachvollziehbar - erheblich gestört. Die nicht genehmigte Umlagerung brachte das Fass zum Überlaufen. Seit dem
1. Januar dieses Jahres wurde ein Betreiberwechsel vorgenommen. Nun ist das Bundesamt für Strahlenschutz
zuständig.
Wichtigste Aufgabe ist es nun, unter Einbeziehung
der Bevölkerung und mit höchstmöglicher Transparenz
die Anlage geordnet zu schließen. Die GSF hatte vorgeschlagen, einen Teil des Bergwerks zu fluten. Das traf
angesichts der Ungewissheit, ob der radioaktive Müll
zurückgeholt werden kann, auf absolutes Misstrauen der
Bevölkerung. Um neues Vertrauen aufzubauen, hatten
bereits im Herbst 2007 das niedersächsische Umweltministerium als Kontrollbehörde, das Bundesforschungsministerium, das Bundesumweltministerium und die
GSF im Zuge erweiterter Öffentlichkeitsbeteiligung vereinbart, die Vertreter der Bevölkerung in der Region eng
in die Prüfung unterschiedlicher Konzepte einzubeziehen. Genau das halten wir als Union für richtig. Seit
März 2008, also seit gut einem Jahr, prüft die Arbeitsgruppe Optionenvergleich Stilllegungskonzepte, entwiDr. Maria Flachsbarth
ckelt Maßnahmen zur Verbesserung der Grubenstabilität
und untersucht mithilfe externer Sachverständiger die
Möglichkeit, die radioaktiven Abfälle aus der Asse zurückzuholen.
Ich führe das deshalb so ausführlich aus, um zu dokumentieren, dass die Probleme nicht neu sind, dass man,
wenn man sich interessiert hätte, sehr wohl von diesen
Problemen hätte wissen können und dass diese Bundesregierung - ganz anders als die Vorgängerregierung mit
ihrem grünen Umweltminister - die Probleme in der
Asse beherzt angeht,
({0})
auch wenn die Grünen heute versuchen, in ihren Anträgen einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken.
({1})
Der optimale Schutz von Anwohnern und Umwelt
und eine zeitnahe und sichere Schließung der Asse sind
- das habe ich bereits gesagt - das vordringliche Anliegen der Union. Allerdings müssen wir tatsächlich zügig
handeln. Gutachten besagen, dass das Bergwerk nur
noch bis Mitte des nächsten Jahrzehnts standfest ist. Im
Januar dieses Jahres hat unter der Obhut des Bundesamtes für Strahlenschutz ein Expertengespräch stattgefunden. Man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass wir doch
noch bis zum Jahr 2020 Zeit haben, allerdings nur, wenn
sich die Laugenzuflüsse nicht erhöhen. Genau das ist allerdings die Gretchenfrage, die niemand beantworten
kann. Daher muss zügig gehandelt werden.
Die Arbeitsgruppe Optionenvergleich hat im Februar
dieses Jahres einen Zwischenbericht vorgelegt. Sie legt
sich aber noch nicht fest, welche Methoden sie beim
Umgang mit dem Atommüll und bei der Stilllegung der
Anlage favorisiert. Vielmehr werden Machbarkeitsstudien und Auswirkungsstudien angefordert. Eine abschließende Bewertung soll bis Ende des Jahres vorliegen. Das muss es dann aber auch sein. Wir müssen zügig
handeln,
({2})
damit wir nicht in die Situation kommen, im Rahmen der
akuten Asse-Gefahrenabwehr unüberlegt und plötzlich
handeln zu müssen.
Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Wir haben in den Haushalt des BfS des letzten Jahres über 70
zusätzliche Stellen eingestellt. Wie schon gesagt, sind
das Zurückgewinnen von Vertrauen und verantwortliches Handeln erforderlich. Es dürfen keine politischen
Spielchen stattfinden; das betone ich.
Es war kontraproduktiv, dass gerade der Bundesumweltminister während seiner Sommerreise im letzten
Jahr den Verdacht geschürt hat, die von mir bereits erwähnten Laugenzuflüsse von 12 Kubikmetern pro Tag
seien radioaktiv kontaminiert und ihr Verbringen in andere stillzulegende Salzbergwerke in Niedersachsen gefährde möglicherweise die dortige Bevölkerung. Es hilft
wenig, das im Nachhinein zurückholen zu wollen. Im
Celler Kreistag führte dieser längst aufgeklärte Sachverhalt noch vor wenigen Wochen zu erheblichen Diskussionen.
Herr Minister, es ist auch kontraproduktiv, dass sich
Ihre Meinung zur Finanzierung der erheblichen Kosten
der Asse-Stilllegung wie eine Fahne im Wind dreht. Der
Deutsche Bundestag hat am 30. Januar dieses Jahres im
Rahmen der Änderungen des Atomgesetzes auch den
Wechsel der Betreiber der Asse beschlossen; das wissen
wir alle. Der Entwurf dieses Gesetzes kam aus Ihrem
Hause.
In diesem Gesetzentwurf und in einer Formulierungshilfe zum Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen hat
das Ministerium die Möglichkeit, die Kernkraftwerksbetreiber an der Sanierung der Asse finanziell zu beteiligen, aus rechtlichen Gründen ausdrücklich ausgeschlossen. Dazu wurden im Umweltausschuss Fragen gestellt.
Außerdem haben Sie, Herr Minister, dem ZDF drei Tage
vor der Beschlussfassung in diesem Hause ein Interview
zu diesem Thema gegeben.
In diesem Interview haben Sie, wie es auch Ihr Staatssekretär im Umweltausschuss getan hat, erklärt, eine Beteiligung der Kernkraftwerksbetreiber an den Kosten der
Sanierung der Asse sei aus rechtlichen Gründen nicht
möglich. Nur eine Woche nach der Verabschiedung des
Gesetzentwurfs des BMU in diesem Hause haben Sie
Ihre Auffassung plötzlich geändert und sich dafür ausgesprochen, dass die Betreiber der Kernkraftwerke nun
doch an der Sanierung der Asse finanziell beteiligt werden sollten. Nun ging es Ihnen angeblich nicht mehr um
rechtliche Notwendigkeiten, sondern vielmehr um politische Beweggründe.
Man könnte es als Irreführung des Parlaments bezeichnen, wenn ein Minister, eine Woche nachdem der
Deutsche Bundestag seinen Gesetzentwurf verabschiedet hat, politische Forderungen erhebt, die er ohne Weiteres in seinen eigenen Gesetzentwurf hätte einfließen
lassen können. Dass Sie sich nicht getraut haben, kann
sich bei Ihnen wirklich niemand vorstellen.
Ich rufe uns alle auf, auch in Zeiten des herannahenden Wahlkampfes nicht zu versuchen, durch die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger vermeintliche politische Vorteile zu erlangen. Aufgabe der Politik ist es,
keine Angst zu schüren. Aufgabe der Politik ist auch, die
Sorgen und Ängste der Menschen ernst zu nehmen, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und diese offensiv und
transparent zu kommunizieren.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns über
die Kosten und über die Mär von der billigen Atomkraft
reden. Billig ist Atomstrom nur für die Betreiber abge22746
schriebener Atomkraftwerke. Volkswirtschaftlich ist
Atomstrom so teuer wie kein anderer Strom.
({0})
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. Beginnen wir
ganz am Anfang, beim Uran. Die „billige“ Ressource
Uran kommt normalerweise von weiter her; so viel zum
Stichwort Importunabhängigkeit. Aber auch in Deutschland gab es einmal den Uranabbau, und zwar in Wismut.
Für die Sanierung des Uranabbaus in Wismut sind bisher
6,4 Milliarden Euro von der Bundesregierung eingestellt
worden. Wer zahlt das? Der Steuerzahler.
Sehen wir uns das Ende der Geschichte an. Beispiel
Morsleben: Ihren angehäuften schwach- und mittelaktiven Müll loszuwerden, kostete die westdeutschen Atomkraftwerksbetreiber in den 90er-Jahren gerade einmal
183 Millionen DM. Die Entsorgung dieses Mülls ermöglichte die damalige Umweltministerin; das war übrigens
Angela Merkel. Allein für die Stabilisierung des einsturzgefährdeten Lagers wurden bis heute 2,2 Milliarden
Euro veranschlagt. Wer zahlt das? Der Steuerzahler.
Beispiel Asse: Forschung für die sichere Endlagerung
mit Atommüll, billigst oder auch umsonst eingelagert.
Die Sanierung der Katastrophe Asse ist nun öffentliche
Aufgabe, schließlich kommen 90 Prozent des radioaktiven Potenzials in der Asse aus der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe. In die WAK kam es aber aus den
AKWs. 70 Prozent dieses radioaktiven Potenzials kamen
alleine aus dem Atomkraftwerk Obrigheim.
Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe funktionierte wie eine Waschanlage. Die schmutzige Hinterlassenschaft der Atomstromproduktion wurde zu öffentlichem Forschungsmaterial. Das war für die
ursprünglichen Verursacher des Mülls sehr bequem. Die
Kosten sind heute noch überhaupt nicht abzuschätzen,
aber sie werden mindestens die Größenordnung der Kosten für die Sanierung von Morsleben haben. Wer zahlt
das? Der Steuerzahler.
Herr Gabriel, ich kann Ihnen an dieser Stelle ausnahmsweise nicht ersparen, Frau Flachsbarth recht zu
geben; das passiert selten in diesen Debatten. Ja, Sie haben einen Schlingerkurs betrieben. Erst hieß es, die
AKW-Betreiber sollen sich beteiligen. Dann hieß es
während der Novellierung des Atomgesetzes: Es ist
reine Aufgabe der öffentlichen Hand. Nun heißt es wieder, sie sollen sich beteiligen. - Sie wollen dafür die ursprünglich von uns geforderte Brennelementsteuer verwenden. Das ist löblich. Wenn wir aber die Option der
Rückholung des Mülls aus der Asse tatsächlich wahrmachen, werden Sie mit 1,6 Milliarden Euro nicht weit
kommen.
Das System der privatisierten Gewinne und der sozialisierten Kosten zieht sich durch alles, was mit Atomkraft zu tun hat: die Deckelung der Haftpflichtversicherungen, die steuerfreien Rückstellungen und auch die
jahrtausendelange Überwachung des Atommülls. Atomkraftbefürworter argumentieren gern mit dem so teuren
Fotovoltaikstrom, den die Bezieher mit 31 bzw.
43 Cent über ihren Strompreis subventionieren. Wenn
man die volkswirtschaftlichen Kosten und die
40 Milliarden Euro an Subventionen einrechnet, stellt
man fest, dass der billige Atomstrom überhaupt nicht
marktfähig ist.
({1})
Vor allem handelt es sich um eine Technologie, die
der Devise folgt: Risiken und Nebenwirkungen trägt die
Bevölkerung. Dies gilt nicht nur für diejenigen, die heute
leben, sondern auch für diejenigen, die noch gar nicht
geboren sind. So ist das Stichwort Nachhaltigkeit nicht
gemeint.
({2})
Lassen Sie uns aber auch über Vertrauen und Verantwortung reden. Jahrelang hat man uns erzählt, die Asse
sei ein Forschungsendlager. Heute wissen wir, dass sich
quer durch die Genehmigungsbescheide für die Atomkraftwerke bis Ende der 70er-Jahre die Asse als ausgewiesenes Endlager hindurchzieht. Das hört sich zum
Beispiel so an: 1972 erste Teilgenehmigung für Isar 1:
Für die BRD wird das stillgelegte Salzbergwerk Asse bei
Wolfenbüttel als Endlagerstätte für radioaktive Abfälle
hergerichtet.
Es gab auch eine Ausnahme: 1974 zweite Teilgenehmigung für Krümmel: Seit April 1967 wird das ehemalige Salzbergwerk Asse II in der Nähe von Braunschweig für die Lagerung hochradioaktiver Abfälle
vorbereitet. In den 80er-Jahren ändert sich die Tonlage.
Da ist dann nur noch von der in der Asse erprobten Einlagerungstechnologie und davon, dass die Asse für die
Endlagerung vorgesehen ist, die Rede. In den Teilgenehmigungen für Brokdorf heißt es, das Bergwerk solle in
erster Linie als Versuchsanlage für Gorleben dienen.
Wer alles - die Helmholtz-Gemeinschaft, das Forschungsministerium und die Kolleginnen und Kollegen
von FDP und Union - hat uns nicht erzählt, die Asse
habe mit Gorleben nichts zu tun. Sie haben einen Untersuchungsausschuss zur Asse abgelehnt, obwohl als vertrauensbildende Maßnahme nichts notwendiger wäre als
die Aufklärung und Benennung der verfehlten Verantwortlichkeit.
({3})
Der ehemalige Umweltminister Trittin hat, ganz anders
als Sie, überhaupt nichts gegen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, sondern er hat ihn ausdrücklich
befürwortet.
Die Asse ist inzwischen nicht nur der GAU der Endlagerfrage. Die Asse wird zum Symbol der Unzuverlässigkeit
der Atomtechnik samt ihrer ganzen Betreibergemeinde. In
dieser Situation wollen Sie die Laufzeitverlängerung der
Atomkraftwerke und die unverzügliche Inbetriebnahme
von Gorleben.
Sie sind immer noch nicht in der Lage, bis drei zu
zählen. Volkswirtschaftlich viel zu teuer, energetisch
völlig überflüssig und der Vertrauens-GAU, das ist
Atomkraft. Zum Glück hat Deutschland den Atomausstieg beschlossen.
({4})
Für die Bundesregierung hat Herr Bundesminister
Sigmar Gabriel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich zunächst einmal etwas zu dem angeblichen
Schlingerkurs sagen. Meine Frage an die Grünen ist:
Warum haben Sie sich eigentlich sieben Jahre lang nicht
um die Sanierung der Asse gekümmert?
({0})
Warum haben Sie eigentlich sieben Jahre lang keinen
Gesetzentwurf erarbeitet, mit dem Sie den Versuch unternehmen, die deutsche Atomindustrie 30 Jahre rückwirkend an der Finanzierung der Sanierung von Morsleben oder der Asse zu beteiligen? Warum haben Sie das
nicht gemacht?
({1})
Sie haben das deshalb nicht gemacht, weil Sie damals,
als Ihr Minister noch in der Regierung war - er ist gerade draußen - ({2})
- Ich weiß, bei Ihnen sind immer die Sozis schuld, wenn
Sie etwas nicht hinbekommen, nur Sie selbst nicht.
({3})
Sie haben das deshalb nicht gemacht, weil Sie wussten, dass dies rechtswidrig gewesen wäre. Einige derjenigen, die mir jetzt im Blickfeld sitzen, haben einmal etwas mit Regierungstätigkeit zu tun gehabt. Sie wussten,
die Verfassung verbietet es uns, die Atomindustrie rückwirkend an der Finanzierung zu beteiligen.
Deswegen kann man das nicht in einem Gesetz machen, mit dem wir die Asse sanieren. Deshalb können
wir keine rückwirkende Finanzierung beschließen. Man
kann aber sehr schnell ein Gesetz auf den Weg bringen,
mit dem die Atomindustrie dadurch an der Finanzierung
beteiligt wird, dass der Staat Steuern im Bereich der
Kernbrennstoffe einnimmt. Das ist der richtige Weg.
Das ist kein Schlingerkurs.
({4})
Wenn Sie schon darüber reden, Frau Kotting-Uhl,
dann bitte unter Beherrschung der Grundrechenarten.
Dies sind Einnahmen von 1,6 bis 2 Milliarden Euro pro
Jahr. Sie haben gemeinsam mit uns einen Atomkonsens
beschlossen, der ein sukzessives Aussteigen vorsieht.
Sie können sich ausrechnen, dass sich die Einnahmen
auf einen zweistelligen Milliardenbetrag belaufen werden, die Sie nutzen können, damit nicht der Steuerzahler
die Sanierung von Asse, Morsleben und anderer Standorte bezahlt. Damit würde die Atomindustrie endlich angemessen an den katastrophalen Hinterlassenschaften
beteiligt, die sie uns vor die Füße oder besser gesagt: unter die Füße gekippt hat.
Das ist mein Vorschlag. Sie haben während Ihrer Regierungszeit nichts unternommen, um sich diesem
Thema zu widmen oder um die Finanzierung sicherzustellen.
({5})
Es gibt zwei pharisäerhafte Umgänge mit der Asse.
Das sind einerseits diejenigen, die dort billig entsorgt haben, und andererseits die Grünen, die derzeit die Asse
entdecken.
Vielleicht liegt es daran, dass ich dort wohne. Deshalb
brauchen Sie mir nicht zu erzählen, was dort los ist. Ich
hätte es aber besser gefunden, Sie hätten während Ihrer
Regierungszeit im Bundesumweltministerium nicht alles
unternommen, um die Zuständigkeit des Bundesumweltministeriums zu verhindern.
({6})
Ich hätte es gut gefunden, Sie hätten in Ihrer Regierungszeit nicht die Stellen im Bundesumweltministerium
gestrichen, die für die Beobachtung der Asse mit zuständig gewesen sind. Ich hätte mir außerdem gewünscht,
Sie hätten Anträge wie diesen eingebracht, die richtig
sind. Hätten Sie wesentlich früher mit der Sanierung der
Asse begonnen, dann hätten wir heute nicht derartig dramatische Probleme.
({7})
Ich finde, was Sie hinsichtlich der Asse machen, ist
hochgradig pharisäerhaft.
({8})
Sie haben nichts unternommen. Sie wollten das nicht.
Sie haben sich der Politik gebeugt, das so zu belassen,
wie es ist. Sie wollten nicht hinschauen, und heute regen
Sie sich darüber auf.
Ich muss bei aller kollegialen Wertschätzung der Antiatompolitik ganz offen sagen: So einfach kommen Sie
vor Ort nicht davon. Sie sind mitverantwortlich für das
Handeln.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?
Sehr gern.
Frau Höhn, bitte sehr.
Herr Umweltminister, können Sie bestätigen, dass das
Umweltministerium im Jahr 1998, als Jürgen Trittin in
die Regierung eingestiegen ist, überhaupt nicht für die
Asse verantwortlich war, sondern dass die Kollegin
Bulmahn als Bundesforschungsministerin die Verantwortung für die Asse getragen hat? All das, was Sie jetzt
über die Asse sagen, lag also in der Zuständigkeit Ihrer
SPD-Kollegin Bulmahn.
({0})
Ich kann bestätigen, dass in mehreren Vermerken des
Bundesumweltministeriums die Rechtsauffassung des
Bundesforschungsministeriums durch Ihren Minister bestätigt wurde, dass es richtig sei, die Asse nicht unter
Atomrecht zu bringen, und dass es richtig sei, die Asse
in der Verantwortung des Forschungsministeriums zu
belassen, und dass es keine weiteren Anmerkungen zu
diesen Vorstellungen des Forschungsministeriums gegeben hat. Sie haben all das also wissentlich unterstützt,
und Sie haben sogar noch eine Stelle gestrichen, durch
die die Asse bei uns im Ministerium mit unter Beobachtung stand.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage: der Kollegin Kotting-Uhl?
Da sie sich anscheinend getroffen fühlen, gerne. So ist
das Leben.
Bitte sehr.
Ich diskutiere gerne mit Ihnen, Herr Minister. - Erinnern Sie sich, dass auch Sie bis zum Sommer 2008 der
Meinung waren, die Zuständigkeit für die Asse liege
besser beim Forschungsministerium, wie Sie das jetzt
rückblickend dem Minister Trittin zuschreiben? Erinnern Sie sich, dass Sie die gleichen Worte benutzt haben? Erinnern Sie sich auch, dass Sie auch nicht durch
unseren Antrag, sondern erst durch die Macht der Fakten, als nämlich die radioaktiven Laugen auftauchten,
dazu bewegt werden konnten, die Asse unter Ihre Aufsicht zu stellen?
Ich erinnere mich gut, dass ich gesagt habe, wir werden dieses Problem gemeinsam lösen. Die Kollegin Frau
Schavan war die Erste, die das Bundesumweltministerium einbezogen hat. Ich erinnere mich gut, dass ich gesagt habe, das Bundesumweltministerium ist zuständig,
wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit eintritt.
Dafür war damals nach § 19 des Atomgesetzes zu sorgen.
Ich habe dann gesagt, es ist sinnvoller, dass wir beide
uns einigen und mit der Asse beschäftigen, als dass wir
ein rechtsförmliches Verfahren beginnen. Dann haben
wir etwas gemacht, was Sie nie getan haben, wir haben
dann nämlich einen Statusbericht in Auftrag gegeben,
um zu wissen, was dort eigentlich los ist. Als der Statusbericht vorlag, erwies sich, dass ein Irrtum vorlag, was
wir bis dahin nicht vermutet hatten: Die niedersächsischen Behörden unter Leitung von Herrn Umweltminister Sander von der FDP - einschließlich der Bergbehörden - waren nicht in der Lage, das Verfahren rechtmäßig
zu führen.
Das ist übrigens auch die Antwort auf den Einwurf
von Frau Flachsbarth hinsichtlich des nicht sachgemäßen Umgangs mit Laugen. Ich habe niemals gesagt,
dass die Strahlenbelastung zu hoch ist.
({0})
- Nein, ich habe gesagt, sie hätten gegen geltendes
Strahlenschutzrecht verstoßen. Das ist damals auch getan worden.
({1})
Wir haben das alles aufgeklärt. Wir haben kooperativ
zusammengearbeitet, statt uns diese Dinge immer hinund herzuspielen.
Ich will gar nicht rechtfertigen, was dort auch unter
früheren SPD-Regierungen gemacht worden ist. Es geht
mir nur darum, dass Sie sich hier jetzt aufspielen, als
seien Sie der Retter der Asse. Sie haben die Leute dort
sieben Jahre lang alleingelassen.
({2})
Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ich finde einfach, darüber muss man öffentlich reden, wenn Sie so mit dem
Thema anfangen.
Herr Bundesminister, es gibt jetzt noch einen
Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen, nämlich den des
Kollegen Fell.
Ich muss mich einmal nach der Geschäftsordnung erkundigen und fragen, ob ich eigentlich noch die Chance
habe, meine Rede zu halten.
Ich habe die Uhr angehalten. Sie haben noch jede
Menge Gelegenheit dazu.
Dann gerne.
Herr Kollege Fell, bitte sehr.
({0})
Herr Minister, danke, dass Sie mir die Gelegenheit
geben. - Sie haben so sehr hervorgehoben, dass Sie aus
der Umgebung der Asse kommen und bestens über die
Probleme, die es dort seit vielen Jahren gibt, Bescheid
wissen. Ich frage Sie: Warum haben Sie von diesen
Missständen eigentlich nicht auch als Ministerpräsident in Niedersachsen richtig Kenntnis gehabt, und warum haben Sie nicht eingegriffen, sodass diese Missstände beseitigt wurden?
Ich will diese Frage gerne beantworten:
In der Tat war ich zum ersten Mal als 16-Jähriger und
später als Abgeordneter mehrfach in der Asse. Die niedersächsische Landesregierung unter dem damaligen
Ministerpräsidenten Gerhard Schröder hat als erste Landesregierung damit begonnen, Sanierungsmaßnahmen in
der Asse durchzuführen - übrigens mit der Umweltministerin Monika Griefahn, einer sozialdemokratischen
Kollegin hier im Deutschen Bundestag. Damals wurde
damit begonnen, die Südflanke, so meine ich, zu stabilisieren, nachdem vorher dort jahrzehntelang nichts passiert war.
Danach ist der Antrag durch das Forschungsministerium gestellt worden, mit der Planfeststellung zu beginnen. Ab diesem Moment waren wir an der Debatte über
die Sicherungsmaßnahmen beteiligt. Wir haben sie so
kritisch bewertet, wie Sie das auch heute von uns hören.
Wir waren aber die Ersten in Niedersachsen, die Stützungsmaßnahmen in der Asse veranlasst haben. Vorher
hat sich niemand darum gekümmert.
Das ist die Antwort. Sie können aber gerne noch ein
paar Fragen stellen.
({0})
Verstehen Sie mich richtig: Ich bin doch nicht der
Überzeugung, dass nur die Atomwirtschaft dort Fehler
gemacht hat. Mich regt aber die pharisäerhafte Debatte
auf. Ich sage Ihnen: Die Sozialdemokraten haben das
nicht unter die Verantwortung des Umweltministeriums
gestellt, die Christdemokraten haben das nicht getan, die
Grünen haben nicht darum gekämpft, sondern alles beim
Alten belassen, und die Linkspartei hat sozusagen die
Gnade der späten Geburt. Für das Erbe ihrer Vorläuferorganisation SED sind wir in Morsleben allerdings auch
zuständig.
Wir alle haben dort also politisch unser Päckchen zu
tragen. Ich wehre mich aber gegen diese pharisäerhafte
Debatte, die Sie hier lostreten, wonach Sie das alles besser gemacht hätten und wonach es bei uns einen Schlingerkurs hinsichtlich der Finanzierung gebe. Das alles ist
- seien Sie mir nicht böse - Kokolores. Daran stimmt
nichts. Wir haben das endlich in den Griff bekommen
und versuchen, mit großer Intensität weiter daran zu arbeiten. Die Menschen vor Ort erwarten von uns, dass wir
diesen Zirkus nicht fortsetzen,
({1})
- hört doch auf! -, sondern in der Art und Weise, in der
wir uns in der Sache einig sind, arbeiten.
Es gibt zwei Dinge, die nicht gehen. Frau Kollegin
Flachsbarth, es ist nicht möglich, mit dem Hinweis auf
die angeblichen Sicherheitsbedenken das zu tun, was
der Kollege Sander in Niedersachsen will, nämlich möglichst schnell alles zu verfüllen, Deckel drauf und Ende,
ohne zu wissen, was sich darin befindet und ob es langzeitsicher ist. Das machen wir nicht. Wir können das
nicht einfach nur deshalb, weil wir keine Lust mehr haben, uns damit zu befassen, zulasten unserer Urenkel
vergraben. Das ist unmöglich.
({2})
Zweitens geht es nicht an - das sage ich kritisch an
die Grünen gerichtet -, dass wir den Fehler wiederholen,
den die Atomindustrie gemacht hat. Die Atomindustrie
hat politische Vorgaben machen wollen, wie mit der
Asse umzugehen ist. Das hat dazu geführt, dass dieses
Chaos entstanden ist. Jetzt sagt Ihr Landstagskollege in
Niedersachsen: „Der Gabriel muss das jetzt alles vor der
Bundestagswahl entscheiden; sonst glauben wir ihm
nicht, dass das notfalls herausgeholt wird.“
({3})
- Tun Sie mir einen Gefallen, Frau Pothmer: Lassen Sie
uns mit den Leuten reden, die etwas von der Sache verstehen. Sie gehören nicht dazu.
({4})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Flachsbarth?
Nein, ich würde gerne fortfahren. - Sie fordern „Alles
raus, aber schnell!“. Das ist ein Motto für den Winterschlussverkauf. Für die Asse ist es nicht geeignet. Die
kritischen Wissenschaftler aus der Region sagen, dass
wir Zeit brauchen. Genauigkeit geht vor Schnelligkeit.
Es darf keine Schlampigkeit geben, nur weil die Bundestagswahl bevorsteht. Das werden wir durchhalten. Was
immer Sie vor Ort sagen, wir werden nichts am Konzept
der Langzeitsicherheit ändern, und wir werden nicht,
nur weil Sie gerne politischen Wahlkampf machen wollen, Maßnahmen vorschlagen, die die Menschen dort auf
lange Sicht gefährden werden. Das werden wir nicht machen, Frau Pothmer, auch wenn Sie es öffentlich fordern.
({0})
Ich möchte noch einige wenige Bemerkungen zum
Thema Kernenergie machen. Ich finde, es macht Sinn,
den Blick darauf zu richten, wie in der Vergangenheit argumentiert worden ist. Dazu habe ich eine schöne Anzeige gefunden. Das, was heute zu diesem Thema gesagt wurde, scheint wieder in dieselbe Richtung zu
führen. Der Wiedergänger in dieser Debatte, Frau
Brunkhorst - das immer wieder auftauchende Thema -,
ist die Kernenergie selber. Es sind nicht diejenigen, die
vor den Gefahren warnen. Ich zitiere:
Strom aus Wind: Ja, aber …
- Das entspricht ein bisschen Ihrer Debatte. Die Dänen sind europäischer Spitzenreiter bei der
Nutzung der Windenergie: 1988 wurde in Dänemark fast jede hundertste Kilowattstunde aus Wind
erzeugt - das entspricht einem Anteil von
0,9 Prozent am gesamten Stromverbrauch.
Jetzt kommt es:
Eine vergleichbar intensive Nutzung der Windkraft
ist in der Bundesrepublik wegen anderer klimatischer Bedingungen nicht möglich … Fragen zur
Kernenergie beantwortet gerne: Informationskreis
Kernenergie
Dieselbe Debatte erleben wir heute. Sie wollen den
Leuten weismachen, man brauche die Atomenergie in
der Grundlast, weil die erneuerbaren Energien nicht ausreichten. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist richtig. Wer
öffentlich erklärt, man brauche wegen der fluktuierenden
Energie im Netz aus Wind oder Sonne die Atomenergie
in der Grundlast, der hat entweder nicht verstanden, wie
ein Elektrizitätsnetz oder ein Atomkraftwerk funktioniert, oder er sagt der Öffentlichkeit bewusst die Unwahrheit.
({1})
Atomenergie und erneuerbare Energien sind nicht zu
kombinieren. Wer wissen will, was dabei herauskommt,
wenn man es versucht, konnte dies gerade beim Abfahren von Biblis A erleben. Man kann Atomkraftwerke
nicht als Regelkraftwerke nutzen. Deswegen funktioniert die Kombination Atomenergie und erneuerbare
Energien nicht.
({2})
- Es tut mir leid, dass Sie sich jetzt getroffen fühlen.
Aber ich meinte Sie auch.
({3})
Diese Kombination funktioniert nicht. Allerdings
braucht man Regelkraftwerke aus anderen Energieformen. Selbst wenn wir - wie es die Grünen wollen - bis
2020 den Anteil der erneuerbaren Energien an der
Stromversorgung auf 40 Prozent erhöhen, brauchen wir
Regelkraftwerke. Das sind dann unter den Bedingungen
des Emissionshandels Kohle- und Gaskraftwerke.
Dass die Grünen den Ausstieg aus Atomenergie und aus
der Kohleenergie fordern und dann als einzige Regelenergie die Gasverstromung zur Verfügung steht, ist
nicht möglich. Das ist zu teuer. Deswegen ist eine Debatte über die Nutzung im Rahmen des Emissionshandels für Kohle notwendig.
Die Atomenergie ist weltweit bei weitem nicht auf
dem Vormarsch, wie es öffentlich behauptet wird. Es
gibt 436 Atomkraftwerke. 200 davon sind so alt, dass sie
in den nächsten Jahren erneuert werden müssten. Es liegen um die 40 Bauanträge vor. Einige davon sind
20 Jahre alt.
Vielleicht will man sich nicht auf politische Ausstiegsbeschlüsse verlassen. Auf den Kapitalismus kann
man sich in der Regel eher verlassen. Es geht um Kosten
in Höhe von 3 bis 5 Milliarden Euro. Es dauert 15 Jahre,
bis man das Geld zurückbekommt. Ich bin gespannt, wie
sexy dieses Investment nach den Erfahrungen des Finanzmarktes beim Wiederanspringen der weltweiten
Konjunktur ist. In Europa befindet sich de facto ein
Atomkraftwerk im Bau, und zwar in Finnland. Das wird
gerade vor die Wand gefahren. 700 Millionen Euro hat
dort ein deutsches Unternehmen versenkt, glaube ich.
Die Mehrkosten belaufen sich auf über 1 Milliarde Euro.
Die Bauzeit verlängert sich um zwei Jahre. Wenn man so
etwas als Wirtschaftsförderung in Deutschland einführen
will, dann kann ich nur gute Besserung wünschen.
({4})
Völlig unterschätzt wird die Proliferationsgefahr.
Wenn wir den Leuten weltweit sagen: „Die Atomenergie
ist das Richtige“, dann machen wir das, was die Inder
tun: Sie setzen nicht auf Uran - Frau Kotting-Uhl hat
recht, wenn sie sagt, das Uranvorkommen sei begrenzt -,
sondern gleich auf Plutonium. Das bedeutet, die Verbreitung waffenfähigen Nuklearmaterials nimmt weltweit
auf dramatische Weise zu, wie wir es uns zur Zeit des
Kalten Krieges nicht hätten vorstellen können. Wer der
Welt erklärt, allein die Atomenergie sei die Energie der
Zukunft, der darf sich nicht wundern, wenn ein paar Verrückte in dieser Welt zuhören und sie auch haben wollen.
({5})
- Unter anderem Sie mit Ihrer Propaganda und der Behauptung, es gebe eine Renaissance der Kernenergie.
({6})
Frau Reiche, es war nicht der Bundesumweltminister,
der erklärt hat, Atomenergie sei Bioenergie. Das waren
doch Sie von der CDU/CSU. Für Sie ist wahrscheinlich
die Asse eine Biotonne; das nehme ich stark an.
({7})
Wir jedenfalls setzen weiterhin auf Effizienz und erneuerbare Energien.
({8})
- Herr Kollege, ich habe nicht erwartet, dass meine Rede
auf ungeteilten Beifall stößt; das wollte ich auch nicht.
Ich möchte Ihnen nicht die Umfragen ersparen, die
Sie so nett zitiert haben. Das war zwar sehr freundlich,
aber ich muss Sie leider korrigieren. Wir haben auf der
BMU-Homepage eine Onlinebefragung - auf diese haben
Sie verwiesen - durchgeführt. Es gab 14 726 Votings. Allerdings waren Mehrfachabstimmungen zugelassen. Das
Ergebnis ist: 57 Prozent sind gegen den Atomausstieg.
Nun hat die Welt, die sich solchen Umfragen offensichtlich sehr verbunden fühlt, diese Umfrage fortgeführt.
Man hat wahrscheinlich gedacht: Wir ärgern jetzt den
Umweltminister, führen seine Umfrage fort - da so viele
Menschen für die Kernenergie sind - und zeigen, wie
das geht. - Bei der fortgeführten Umfrage gab es 59 734
Votings. Dabei waren Mehrfachabstimmungen ausgeschlossen. Nun raten Sie einmal, wofür es eine Mehrheit
gab? 51 Prozent waren für den Atomausstieg.
({9})
- Sie irren sich. Die Ergebnisse finden Sie weiterhin auf
unserer Homepage.
Es wird noch besser. Unabhängig von dieser gekaperten Umfrage bietet diese Zeitung seit dem 18. Februar
ihren Lesern ein weiteres Onlinevoting zum Atomausstieg an. Auf die Frage: „Sollen alle deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet werden?“
({10})
- Sie haben das in Ihrer Rede eingeführt, ich zitiere nur
die Umfragen, die Sie auch zitiert haben; mehr mache
ich nicht - erklären 84 Prozent derjenigen, die an dieser
Umfrage teilgenommen haben: Ja, sofort aussteigen. Das
Pünktchen auf dem I in Sachen Umfragen setzt die gleiche Zeitung mit einem Bericht vom 1. März 2009, in
dem sie auf eine repräsentative Umfrage der GfK im
Auftrag der Welt am Sonntag - nun dürften alle im Saal
beruhigt sein - hinweist. Unter der Überschrift „Mehrheit will den Atomausstieg“ heißt es:
Das Ergebnis zeigt, dass die Vorbehalte gegen
Kernenergie in der Bevölkerung noch immer überwiegen: 53,2 Prozent der Befragten plädierten dafür, am deutschen Atomausstieg wie geplant festzuhalten. Nur 29,7 Prozent hielten es dagegen für
richtig, die gesetzlich begrenzten Laufzeiten der
deutschen Meiler doch wieder zu verlängern.
Fazit: Die Debatte über die Renaissance der Kernenergie wird von den Marketingabteilungen der Unternehmen getriggert. Diejenigen, die sich hier missbrauchen lassen, machen sich zu Lobbyisten der vier großen
Energieversorger, die 1 Million Euro pro Tag an einem
weiterlaufenden, abgeschriebenen alten Atomkraftwerk
verdienen. Darum geht es, und nicht um Klimaschutz.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über einen Antrag der Grünen; dort heißt
es: Atomkraft ist lebensgefährlich. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, Sie haben sieben Jahre
lang den Umweltminister gestellt. Wenn Anlagen lebensgefährlich sind, dann muss man sie abschalten, und
dann macht man keinen Kompromiss. Ein Bundesumweltminister muss unsichere Anlagen abschalten.
({0})
Sie waren aber offensichtlich nicht so unsicher, dass sie
lebensgefährlich waren. Sie machen diese PR-Show
rechtzeitig vor der Bundestagswahl, damit Sie ein Thema
haben, weil Ihnen sonst im Bundestagswahlkampf nichts
einfällt. Das ist ein wirklich durchsichtiges Manöver.
({1})
Die FDP-Bundestagsfraktion strebt langfristig eine
vollständig regenerative Energieversorgung an. Aber
mittelfristig werden wir weiterhin einen Energiemix
brauchen. Alles andere ist Wunschdenken. Man kann es
nicht so machen, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern.
Dort steht: „ … bis 2020 können es 30 - 50 % sein.“ Der
Hintergrund ist: Die Grünen sind sich doch selber nicht
einig, wie schnell der Umstieg auf die regenerativen Energien erfolgen kann. Sie haben auf ihren Parteitagen immer wieder die Debatte gehabt, ob die vollständige Versorgung durch regenerative Energien bis 2020 möglich
ist. Herr Fell sagt das eine, Herr Loske das andere. Das
ist Chaos. So kann man keine verantwortliche Energiepolitik in Deutschland machen.
({2})
Wir als FDP-Bundestagsfraktion glauben, dass eine
Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke nötig
ist. Ich sage ganz eindeutig: Die Kernenergie ist für uns
eine Übergangsenergie. Deshalb bedeutet die Forderung
nach einer Laufzeitverlängerung nicht die Forderung
nach einem Neubau von Kernkraftwerken. Wir glauben
aber, dass wir die Grundlastversorgung für den Wirtschaftsstandort Deutschland eben nicht zu einem vernünftigen Preis sicherstellen können, wenn wir nur auf
Gas setzen. Nur auf Gas setzen bedeutet auch die Abhängigkeit von nur wenigen Quellen. Das ist eben nicht
verantwortbar. Wir können die Energiepolitik nicht ausschließlich nach einigen wenigen Kriterien machen, die
Sie sich wünschen, sondern wir müssen darauf achten,
dass die Energieversorgung zu einem vernünftigen Preis
auch für unsere Industrie gesichert ist.
({3})
Wir haben hier viel über die Asse gesprochen. Wir
sollten aber auch Folgendes in den Blick nehmen: Was
ist falsch gelaufen, und was machen wir in der Zukunft?
Unabhängig davon, ob wir die Kernkraft weiter betreiben oder nicht und wie lange wir sie weiter betreiben:
Klar ist, dass wir in den letzten 50 Jahren Atommüll
produziert haben. Daran sind wir alle beteiligt. Meine
Damen und Herren von den Grünen, viele von Ihnen waren früher in anderen Parteien, waren zum Teil auch in
politischen Jugendorganisationen tätig, zum Teil bei uns
- Ihre Vorsitzende etwa war bei den Jungdemokraten oder bei den Sozialdemokraten. Sie können sich hier
nicht reinwaschen und so tun, als sei Ihre Bewegung völlig frei von irgendwelchen historischen Verantwortungen. Sie haben sieben Jahre lang den Umweltminister
gestellt. Dieser Umweltminister hat sieben Jahre lang
nichts getan, um den Atommüll unter die Erde oder wohin auch immer zu bringen.
({4})
Sie haben kein Konzept. Sie können nur kritisieren. Aber
Sie haben nichts geleistet.
({5})
Wir wollen nicht - wie hier gerade behauptet wurde,
um eine neue Gorleben-Lüge aufzubauen - Gorleben als
Endlager in Betrieb nehmen. Wir wollen, dass geforscht
wird. Wir wollen im Übrigen auch, dass Konzepte einer
rückholbaren Lagerung von Atommüll geprüft werden,
aber nicht so, wie das der Umweltminister will, um das
Ganze auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben,
sondern um tatsächlich eine seriöse Abschätzung zu erreichen: Welches Konzept ist für kommende Generationen von der historischen Verantwortung her, die wir hier
alle zu tragen haben, am ehesten zu verantworten?
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva
Bulling-Schröter das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn die Dinge schlecht laufen, werden wir im Herbst
eine Regierung haben, die den Atomausstieg zurücknehmen will. Wie das dann läuft, haben wir gerade erfahren.
Im Übrigen: Wer brüllt, hat nicht immer recht.
({0})
Leider könnte dann Schwarz-Gelb die Früchte einer
Taktik ernten, die darin bestand, das Abschalten von
AKWs in dieser Legislaturperiode zu verhindern. Obwohl der sogenannte Atomkompromiss unter Rot-Grün
bereits 2000 beschlossen wurde, gingen seitdem gerade
einmal zwei AKWs vom Netz, unter der jetzigen Koalition kein einziges.
Der Begriff Atomausstieg verbietet sich eigentlich;
denn durch ewig lange Stillstandszeiten und andere
Tricksereien wurde ermöglicht, Restlaufzeiten zu bunkern und die Abschaltung in die nächste Wahlperiode zu
verschleppen - natürlich in der Hoffnung, unter einer anderen Regierung den Ausstieg endlich zu kippen. Dies
haben wir heute bis zum Erbrechen gehört. Es bewahrheitet sich die damalige Prognose der Linken: Die garantierten Restlaufzeiten sind nicht nur eine Verstromungsgarantie für AKW-Betreiber, die sie vorher nie hatten,
sondern sie verhindern auch, dass der Ausstieg unumkehrbar wird. Wir aber wollen einen unumkehrbaren
Ausstieg.
({1})
Seit Monaten hören wir nun ein Trommelfeuer der
Stromkonzerne, Union und Liberalen, sekundiert von
RWE-U-Booten bei der Deutschen Energie-Agentur. Es
wird behauptet, wir bräuchten in Deutschland neue
Atom- und Kohlekraftwerke sowie längere Laufzeiten,
da es bald eine Stromlücke geben werde. Das ist falsch.
Ich wiederhole: Deutschland hat keine Strom-, sondern
eine Handlungslücke.
({2})
Hier nützt auch die Imagekampagne der Energiekonzerne nichts, die explizit für Frauen Überzeugungsarbeit
leisten soll. Frauen sind nicht so dumm; sie wissen, was
Zukunftsfähigkeit heißt.
({3})
Gerade in der letzten Woche wurde auf dem Jahreskongress der Erneuerbaren Energien die Ausbauprognose bis 2020 bekanntgegeben. Stimmen die politischen Rahmenbedingungen, so ist bis dahin mit einem
Ökostromanteil von 47 Prozent zu rechnen. Anfang der
90er-Jahre war noch allgemeine Lehrmeinung, dass es
niemals mehr als 4 Prozent erneuerbare Energien im
Netz geben werde. Seitdem sind regelmäßig alle Prognosen übertroffen worden, nicht nur die der Bundesregierung und der Wissenschaft, sondern auch die der Erneuerbaren-Branche selbst.
Interessanterweise hat die jetzige Prognose den
Stromverbrauch vorsichtshalber fast konstant gelassen.
Dies ist angesichts der fehlenden politischen Impulse zur
Senkung des Energieverbrauchs - man könnte auch sagen: angesichts der Blockade - kein Wunder. Das Energieeffizienzgesetz - Sie wissen, wovon ich spreche; wir
streiten im Umweltausschuss gerade darüber - ist längst
überfällig und wird vom neuen Wirtschaftsminister torpediert. Erstaunlich ist aber, dass das CCS-Gesetz, das
jetzt auch als Kohleverstromungsgarantiegesetz bekannt
ist, innerhalb von wenigen Monaten nach Erlass der EURichtlinie ins Kabinett kommt. In der nächsten Woche
soll dies so weit sein. Die Milliarden für die riskante
Technik stehen auch schon bereit, obwohl es gesellschaftlich und wissenschaftlich höchst umstritten sein
dürfte, ob es sinnvoll ist, Milliarden an Tonnen KohlenEva Bulling-Schröter
dioxid unter die Erde zu pressen. Das Energieeffizienzgesetz hingegen, das nach EU-Recht schon seit fast einem Jahr umgesetzt sein sollte, liegt immer noch auf Eis.
Man hat gelegentlich den Eindruck, als sei die Koalition auf der Suche nach einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: bloß keine wirklichen Fortschritte beim Energiesparen, damit das Märchen von der Stromlücke Wahrheit werden kann.
Für interessant halte ich die Aussage von Minister
Gabriel im Spiegel, mit einer Großen Koalition sei eine
stimmige Energie- und Umweltpolitik nicht zu machen.
Wahre Worte!
({4})
Meine Frage ist jetzt, ob es mit einer Ampel funktioniert.
Angesichts der heutigen Reden wage ich dies zu bezweifeln.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Union will nun
tatsächlich mit der Legende in den Wahlkampf ziehen,
Atomstrom senke die Strompreise. Man glaubt offenbar, dass Eon und Co. die Preise jemals unter den Großhandelspreis senken würden. Warum sollten sie das tun?
Atomstrom ist in der Herstellung gegenwärtig vielleicht
noch preiswert, auch weil die Risiken und Nachfolgekosten nicht eingepreist sind. Die Konzerne brauchen
auch keine Versicherungsprämien zu bezahlen, weil
keine Versicherung sie annimmt. Sie verkaufen den
Atomstrom zum Großhandelspreis an der Börse. Das
heißt natürlich, dass die Preise nicht sinken. Deshalb
sind Atomkraftwerke - übrigens auch Braunkohlekraftwerke - Gelddruckmaschinen. Jeder Tag Laufzeitverlängerung bringt den AKW-Betreibern rund 1 Million Euro
Profit. Diese Zahl wurde schon genannt. Ich denke, das
müssen wir den Wählerinnen und Wählern noch viel öfter sagen. So viel zum Thema soziale Preise, von denen
Sie, Frau Brunkhorst, reden.
Ich wiederhole: 1 Million Euro Profit pro Tag. Um
diesen Profit abzukassieren, wäre vielleicht die Brennelementesteuer geeignet, die Herr Minister Gabriel
schon seit Monaten plant, die er aber leider nicht durchsetzen kann. Ich habe schon in den Haushaltsberatungen
gesagt, dass wir eine Brennelementesteuer unterstützen.
Das wäre der einzige Weg, irgendwie an die absurd hohen Gewinne heranzukommen, die den AKW-Betreibern
aus dem Emissionshandel zusätzlich zufließen; denn
durch die Zertifikatekosten steigt der Großhandelspreis
noch ein Stück an. Ich meine, in dieser Beziehung muss
wesentlich mehr getan werden.
Zum Schluss kann ich sagen: Wer wie die Union die
Laufzeiten der Kernkraftwerke um weitere 30 Jahre verlängern will, ist ein verantwortungsloser Lakai der
Atomverstromer;
({6})
denn das bedeutet nicht nur 30 Jahre mehr Risiko und
zusätzliche Berge von Atommüll, sondern das bedeutet
auch 30 Jahre mehr Extraprofite in Milliardenhöhe aus
dem Zertifikatehandel. Dann wird es nichts mit sozialen
Preisen. Da geht es nur noch um die Gewinne der Konzerne. Vielleicht verspekulieren sie dieses Geld, und
dann müssen wir ihnen Zuschüsse geben wie jetzt vielen
anderen.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die
heutige Debatte ist zum einen dem Bundestagswahlkampf geschuldet, zum anderen habe ich den Eindruck,
dass insbesondere bei den Grünen allmählich ankommt,
dass sich das Blatt in Sachen Kernenergie wendet. Der
Kollege Hirte hat den früheren Greenpeace-Direktor
Stephen Tindale zitiert. Das Bemerkenswerte an dem Zitat ist nicht, dass er von seiner Meinung gesprochen hat,
sondern das Entscheidende ist, dass er auf die wachsende Zahl von Umweltschützern hingewiesen hat, die
sagen, Kernkraft sei vielleicht nicht ideal, aber besser als
der Klimawandel.
({0})
Es lassen sich eine ganze Reihe von Zeugen aus diesem
Umfeld finden. Da gibt es zum Beispiel Chris Goodall,
ein britischer Grüner, also einer von Ihrer Couleur, und
etliche andere.
({1})
- Mir war klar, dass Sie jetzt diesen Zwischenruf bringen.
Ich führe aber jetzt einen ganz anderen an, weil der
Herr Bundesumweltminister dazu einige Bemerkungen
gemacht hat, nämlich den Ausstiegskanzler Gerhard
Schröder. Er hat am 21. Februar 2009 gesagt, der Iran
habe das Recht auf die friedliche Nutzung der Kernenergie. Jetzt frage ich mich, wie das mit dem kompatibel ist,
was vorhin der Bundesumweltminister in Bezug auf
Schurkenstaaten und zum Thema atomwaffenfähiges
Material gesagt hat. Wie geht denn das zusammen?
({2})
Schröder war immerhin der Kanzler der rot-grünen Koalition. Dass Ihnen das nicht gefällt, meine Damen und
Herren, ist mir klar. Frau Höhn sagte vorhin, Schweden
habe kurz vor dem Super-GAU gestanden;
({3})
deshalb müsse Deutschland aus der Atomenergie aussteigen. Da frage ich mich, warum die Konsequenz aus
diesem angeblichen Super-Gau in Schweden der Wiedereinstieg ist. Das ist doch etwas, was man sich beim
allerbesten Willen nicht erklären kann.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höhn?
Ja.
Herr Nüßlein, Sie haben eben auf Schweden hingewiesen und gesagt, Schweden habe die Konsequenz gezogen,
nach dem Fast-Super-GAU wieder in die Atomkraft einzusteigen. Können Sie bestätigen, dass Schweden eine
schwarz-gelbe Regierung hat, und damit der Bevölkerung
hier deutlich machen, was kommen würde, wenn wir
nach der Bundestagswahl Schwarz-Grün hätten, nämlich
ein Einstieg in die Atomkraft?
({0})
- Schwarz-Gelb natürlich.
Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, was uns
Schwarz-Grün an dieser Stelle bringen würde. Dieses
Szenario hier auszubreiten, würde - so gern ich es tun
würde - den Rahmen sprengen.
Natürlich ist das eine energiepolitische Entscheidung
einer solchen Koalition. Die Koalition dort vertritt die
Bevölkerung. Wenn das, was Sie behauptet haben, wahr
wäre - dass man dort tatsächlich vor einem GAU gestanden hat -, dann wäre es - da bin ich mir sicher - völlig
egal gewesen, welche politische Farbe eine Koalition
hat. Sie würden unter solchen Umständen nichts zustande bringen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich glaube
nicht, dass das mehrheitsfähig wäre; es wäre hier wie
dort nicht durchsetzbar. Damit möchte ich nur zeigen,
wie sehr Sie mit dem, was Sie an dieser Stelle immer behaupten, überzeichnen.
({0})
Das zeigt sich durchgängig auch in Ihren Anträgen. In
Bezug auf Krümmel und Brunsbüttel sprechen Sie, die
Grünen, tatsächlich von Störfällen, obwohl Sie genau
wissen, dass das, was dort geschehen ist, nach der internationalen achtstufigen INES-Skala der Stufe 0 entsprach,
({1})
also einem Ereignis ohne Bedeutung; das ist klipp und
klar festzustellen. Sie wollen das Ganze natürlich interessegeleitet hochstilisieren, um Stimmung zu machen.
({2})
Das ist ein Unding. Die politische Institution ist das eine.
Menschen in diesem Land komplett zu verunsichern, sie
in Angst und Schrecken zu versetzen, und zwar nur aus
einem Interesse, nämlich daraus politisches Kapital zu
schlagen, ist das andere. Das, was Sie dort tun, ist unverantwortlich.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höhn?
Wenn die Frau Kollegin einen Dialog wünscht, dann
gern.
Frau Höhn, bitte sehr.
Herr Nüßlein, Sie haben eben Krümmel angesprochen. In Krümmel hat der Trafo gebrannt. Wollen Sie
hier ernsthaft behaupten, dass diesem Trafobrand die
Sicherheitsstufe 0 entsprach? Das hätten wir gerne im
Protokoll.
Gemäß der internationalen INES-Skala entsprach das
der Stufe 0.
({0})
So ist meine Auskunft.
({1})
So muss ich das an dieser Stelle weitergeben. So haben
wir es recherchiert. Dass Ihnen das nicht gefällt, ist kein
Grund, die INES-Skala zu ändern, Frau Höhn.
({2})
Es stimmt doch, dass sich Ihr Sprachschatz in diesem
Zusammenhang aus Wörtern wie „Risiken“, „Terror“,
„Lebensgefahr“ und „unverantwortlich“ zusammensetzt.
Ich muss an das anknüpfen, was der Kollege Kauch vorhin schon gesagt hat. All das, was Sie jetzt sagen, haben
Sie schon gesagt, bevor Sie in Regierungsverantwortung
kamen. Dann haben Sie beschlossen, dass die Kernreaktoren in diesem Land noch maximal 20 Jahre laufen dürfen. Ihr Beschluss! In Ihrer Regierungszeit waren Sie
also plötzlich der Meinung: Die Kernenergie ist für die
nächsten 20 Jahre ungefährlich und akzeptabel.
({3})
- Kompromiss oder nicht Kompromiss: Wenn wir der
Meinung wären, dass das Ganze tödlich, lebensgefährlich, von Terrorrisiken nicht abschirmbar ist, dann würden wir dort sofort aussteigen.
Im Übrigen haben Sie mit der „Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000“ - ich habe sie
da; vielleicht wollen Sie sie noch einmal anschauen - etwas anderes unterschrieben. In dieser Vereinbarung wird
den deutschen Kernkraftwerken explizit ein hohes Sicherheitsniveau attestiert. Ich wiederhole: Sie haben
diese Vereinbarung unterzeichnet.
Herr Kollege, Herr Kollege Kauch von der FDP-Fraktion würde gern eine Zwischenfrage stellen. Gestatten
Sie diese?
Gern.
Herr Kollege, bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung möchte ich Sie fragen, ob es nicht hilfreich wäre
- auch im Hinblick darauf, die Akzeptanz der Kernenergie als Übergangsenergie zu sichern -, sich mit Fragen
der Reaktorsicherheit aktiv auseinanderzusetzen. Wir
können nicht so tun, als gäbe es keine Gefahren, als gäbe
es keine Störfälle in deutschen Kernkraftwerken. Es ist
wichtig, dass wir uns mit diesen Fragen seriös auseinandersetzen und diese Punkte nicht in diesen Schlagabtausch einbinden.
Niemand sagt, dass wir das nicht tun. Wir tun es auch.
Wir haben immer gesagt: Kernenergie muss ein hohes
Sicherheitsniveau einhalten. Das ist ganz entscheidend.
Im Umweltausschuss haben wir zum Beispiel den Ausstieg aus Euratom abgelehnt - den die Grünen gefordert
haben -, weil wir der Meinung sind: Angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Staaten um uns herum wieder für die Kernenergie entscheiden, müssen wir das koordinieren. Dass dabei die nationale Sicherheit ein
Thema ist, ist klar. Aber das, was um uns herum passiert,
muss uns auch deshalb bewegen - das ist an der Stelle
ganz wesentlich -, weil wir nicht sagen können:
Deutschland ist die Insel der Glückseligen; bei uns ist
das Sicherheitsniveau hoch, und was mit einem Kernkraftwerk auf der anderen Rheinseite ist, ist uns letztendlich egal.
Das ist auch die Problematik, über die wir hier diskutieren: Was bringt unter Sicherheitsgesichtspunkten der
deutsche Ausstieg aus der Kernenergie? Gar nichts,
meine ich. Wenn um uns herum Kernkraftwerke en
masse existieren und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch noch neue gebaut werden, dann wird sich
an der Sicherheitslage für die Bürgerinnen und Bürger
nichts, aber auch gar nichts ändern.
({0})
In Deutschland sind nur Anlagen zulässig, von denen
keine Gefahren für Leben und Gesundheit ausgehen.
Das ist Atomrecht, das auch schon unter Rot-Grün gegolten hat. Damals haben Sie gemeint, dass die existierenden Anlagen diesem Sicherheitsgrundsatz entsprechen. In der Opposition sind Sie, liebe Kollegen von den
Grünen, offenkundig anderer Meinung. Das gilt entsprechend für die Linken.
Die Frage ist: Was hat sich seitdem getan? Sie führen
jetzt Terrorgefahren an. Der große Terroranschlag in den
USA war am 11. September 2001. Danach haben Sie
noch vier Jahre regiert. Da fand sich bei Ihnen kein Satz
zu diesem Thema.
Sie sagen: Keiner der heute betriebenen Reaktoren
könnte dem gezielten Angriff mit einem vollgetankten
Großraumjet standhalten; das bestätigten sogar die Reaktorbetreiber übereinstimmend.
Mir sagen die Reaktorbetreiber etwas anderes.
({1})
Abgesehen von der Frage, ob man die an der Stelle als
Kronzeugen nehmen soll: Wenn Sie sie als Zeugen anführen, dann bitte nicht auch noch falsch und nur zu Ihren Zwecken!
Bei Ihnen, meine Damen und Herren, gilt der Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel. Deshalb argumentieren Sie mit Störfällen so, wie Sie es brauchen. Das ärgert
mich persönlich.
Mich als glühenden Anhänger der erneuerbaren Energien ärgert besonders, dass hier ein Gegensatz konstruiert wird. Das ist falsch. Herr Bundesumweltminister,
wenn Sie sagen, erneuerbare Energien und Kernenergie
gingen nicht miteinander, dann verkennen Sie die Realität. Es funktioniert doch. Wir haben die erneuerbaren
Energien ausgebaut, beginnend mit dem Stromeinspeisegesetz unter der Regierung Kohl über das EEG - ein großes Verdienst von Rot-Grün; unbestritten - bis hin zu
dessen aktueller Novellierung. Wir brauchen aber auch
grundlastfähige Kraftwerke. Grundlast liefern nun einmal die Kernenergie und die Kohle. Wenn man gegen
beides ist, muss man sagen, wofür man ist.
In nur einem Jahr haben die Bürgerinnen und Bürger
in diesem Land erlebt, wie nacheinander jeweils eine
Ecke des Zieldreiecks, das wir hier immer beschwören,
wichtiger geworden ist: zunächst der Klimaschutz, dann
der Preis, als nämlich die Wirtschaft geboomt hat, und
dann die Verlässlichkeit, als Russland den Gashahn zugedreht hat. Das sensibilisiert die Leute. Wir werden erleben - davon bin ich überzeugt -, dass ein Umdenken
einsetzt und zu Umfrageergebnissen führt, die dem Bundesumweltministerium nicht passen.
Vielen, herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege
Marco Bülow.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Wir brauchen einen nachhaltigen Umbau unseres
Energiesystems. Am Ende muss stehen: Unser Energiesystem ist höchst effizient und basiert zu 100 Prozent auf
erneuerbaren Energien. Ich glaube, das ist die wichtigste
Botschaft; diese sollte man immer wieder an den Anfang
setzen. Alles andere wäre klimaschädlich und umweltschädlich. Aber nicht nur das: Es wäre auch wirtschaftlich und sozial nicht verträglich.
({0})
Wir alle wissen ja, dass die fossilen Ressourcen - das
gilt übrigens auch für Uran - endlich sind, sogar sehr
endlich, wenn wir in Zukunft mehr davon verbrauchen.
Wir wissen auch, dass wir von vielen dieser Ressourcen
abhängig sind und eine Abhängigkeit von Ländern, in
denen Risikoregierungen herrschen, auch für uns ein Sicherheitsrisiko darstellt.
Die Frage ist also eher: Wie lange brauchen wir für
den Umstieg auf ein anderes Energiesystem, und aus
welchem Energieträger steigen wir zuerst aus? Die Sozialdemokratie beantwortet den zweiten Teil der Frage
damit, dass wir insbesondere aus der hochriskanten
Atomtechnologie aussteigen sollten. Ich erinnere daran,
dass es sich bei der Vereinbarung zum Atomausstieg,
die ja gerade auch von Ihnen, Herr Nüßlein, noch einmal
dargestellt worden ist, um einen Kompromiss handelt.
Ich gehörte zu denjenigen, die früher aussteigen wollten,
und viele in meiner Partei ebenso.
({1})
Wir haben uns aber zusammengesetzt, weil wir einen
friedlichen Übergang haben wollten, und haben einen
Kompromiss geschlossen. Wir stehen so lange zu dem
Kompromiss, wie das die Atomindustrie auch tut. Sie ist
jedoch diejenige, die jeden Monat, fast sogar jede Woche
mit Sprüchen und Ankündigungen versucht, einen Beitrag zur Aufkündigung dieses Kompromisses zu leisten.
Wenn sie ihn aufkündigt, werden auch wir ihn aufkündigen. Das steht so fest wie das Amen in der Kirche. Das
werden wir immer wieder deutlich machen.
({2})
Ich bin es auch leid, immer wieder dagegen anzureden, wenn diese falschen Versprechungen, diese Lügen,
die von der Atomlobby vorgebracht werden, für bare
Münze genommen werden. Herr Minister Gabriel hat ja
gerade ein gutes Beispiel gebracht. 1990 - so lange ist
das ja noch nicht her - hat der Informationskreis Kernenergie verlautbaren lassen, dass ein Anteil der Windenergie an der Stromerzeugung in Deutschland von mehr
als 0,9 Prozent technisch unmöglich sei. Deren Anteil
beträgt jetzt 7 Prozent. Das haben wir in kurzer Zeit geschafft. Wir werden noch viel mehr schaffen.
Dann kommt die nächste Lüge gegen die erneuerbaren Energien, nachdem sie jetzt einen gewissen Anteil
haben und man sie nicht mehr ganz verteufeln kann.
Mittlerweile gibt es ja auch in der Union viele glühende
Verehrer, wie wir vernehmen konnten. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Zustimmung zum EEG
vonseiten der Union schon in der letzten Wahlperiode
noch höher ausgefallen wäre.
({3})
Es ist aber gut, dass sich da etwas verändert hat.
Nun wird also gegen die Erneuerbaren vorgebracht:
Ja, aber der Wind weht nicht immer, die Sonne scheint
nicht immer; eine sichere Versorgung bekommen wir nur
hin, wenn wir auf Atomenergie zurückgreifen können.
Auch das stimmt nicht. Es gibt zum einen viele Kraftwerke auf Basis fossiler Energieträger, die dazu ihren
Beitrag leisten können, und zum anderen - darauf hat
noch kein Redner hingewiesen - gibt es die Möglichkeit,
verschiedene Arten erneuerbarer Energien in Kombikraftwerken zusammenzuschließen.
({4})
Wenn wir das fördern, werden wir sehen, dass durch das
Zusammenwirken verschiedenster erneuerbarer Energien auch der Grundlaststrombedarf abgedeckt werden
kann. Darüber müssen wir eine Diskussion führen; denn
dabei geht es um Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit.
({5})
Ich könnte noch auf viele weitere Geschichten eingehen. Über Asse ist ja schon viel diskutiert worden. Es
handelt sich natürlich auch um eine typische Atomlüge,
wenn gesagt wird, die Asse sei sicher. Diese Reihung
könnte man noch deutlich weiterführen. Aber zur Asse
ist, wie ich denke, genügend gesagt worden.
Herr Kollege Bülow, darf ich Sie unterbrechen? Herr
Kollege Fell hätte gerne eine Zwischenfrage gestellt.
Bitte schön.
Herr Kollege Bülow, ich fand es sehr bemerkenswert,
wie vehement Sie für erneuerbare Energien sprechen
und dass Sie dargestellt haben, dass im Zusammenhang
mit erneuerbaren Energien nicht wirklich ein Grundlastproblem besteht. Ich stimme Ihnen völlig zu, dass man
dieses Problem auch innerhalb des Systems der erneuerbaren Energien lösen kann, da deren Wachstumsgeschwindigkeit ja sehr hoch ist.
Ich möchte Sie nun fragen: Warum spricht Ihr Minister Gabriel nicht solche Worte? Er spricht davon, dass
der Anteil erneuerbarer Energien bis 2020 maximal
20 Prozent betragen könne, obwohl wir wissen, dass deren Wachstumsgeschwindigkeit wesentlich höher liegt.
Er spricht weiterhin davon, dass man im Rahmen des
Ausbaus erneuerbarer Energien Kohlekraftwerke, obwohl diese das Klima zerstören, zur Abdeckung der
Grundlast bräuchte. Ich bin verwirrt über diese Darstellungen vonseiten eines SPD-Ministers. Welcher wirklichen Erkenntnis folgt denn nun die SPD?
Die Erkenntnis der SPD und genauso die des Ministers ist, dass wir die Erneuerbaren immer weiter fördern
und ausbauen. Ich denke, es ist wichtig, auch das noch
einmal zu erwähnen. Viele von den Grünen haben ja befürchtet, dass es unter einer Großen Koalition zu einem
Abbruch bei der Entwicklung der Erneuerbaren komme.
Genau das ist nicht der Fall. Die Erneuerbaren sind weiter ausgebaut worden, und zwar unter Schwarz-Rot, und
dieser Ausbau wird fortgeführt.
Wir diskutieren gerade darüber - übrigens zusammen
mit dem Ministerium; hier gibt es schon in weiten Teilen
Einigkeit -, einen Kombikraftwerkbonus zu installieren,
um erstens die Marktintegration der Erneuerbaren zu
fördern und zweitens dazu beizutragen, dass auf diese
Weise auch Grundlast bereitgestellt wird. Es gibt an dieser Stelle eine große Einigkeit in der SPD und auch eine
Annährung von SPD und Union. Die Große Koalition ist
also auf einem guten Weg, den wir gemeinsam mit dem
Bundesministerium weitergehen werden.
({0})
Ich möchte jetzt auf das Argument „Atomenergie ist
so billig“ - auch das ist schon angesprochen worden eingehen. Dieses Argument lässt sich mit einem Satz
wegwischen. Ich frage mich: Wenn Atomkraft so billig
ist, warum haben dann die Bürgerinnen und Bürger
nichts davon? Die Atomenergie hat in Baden-Württemberg den höchsten Anteil an der Stromerzeugung, nämlich 55 Prozent. Der Strompreis in Baden-Württemberg
müsste also besonders günstig sein. Das ist er aber nicht.
Das Gleiche lässt sich für Bayern sagen. Daran erkennt
man: Atomkraft macht den Strompreis nicht günstiger.
Das sollte man als Fakt festhalten.
Als nächsten Fakt sollte man festhalten, dass bis jetzt
- die Zahl ist je nach Rechenweise verschieden; gehen
wir einmal von der untersten Grenze aus - 45 bis
100 Milliarden Euro an Investitionen und Subventionen
der öffentlichen Hand in die Atomenergie geflossen
sind. Wenn in anderen Bereichen diese Summe mit solch
geringem Erfolg investiert worden wäre, hätte sich das
betreffende Thema schnell erledigt.
Es gibt keine Brennstoffsteuer. Für die Atomenergie
gibt es die Möglichkeit, steuerfreie Rückstellungen in
beliebiger Höhe zu bilden. Außerdem wird nicht die eigentlich notwendige Versicherungssumme abgedeckt.
Das sind versteckte Subventionen, die wir einmal offenlegen müssen. Erst dann lassen sich die eigentlichen
Kosten berechnen.
Lassen wir einmal - das ist auch gefordert worden die ganze Sicherheitsdiskussion beiseite. Tun wir einmal
so, als wäre die Atomenergie supersicher und als würde
nie etwas passieren, obwohl Herr Kauch gerade dankenswerterweise zugegeben hat, dass dem sicherlich
nicht so ist. Seit 50 Jahren wird geforscht, gefördert,
subventioniert, lobbyiert und alles dafür getan - in
Deutschland sind, wie gesagt, 45 bis 100 Milliarden
Euro in die Atomenergie geflossen; weltweit sind es Billionen -, dass die Atomenergie zu einem großen Erfolg
wird. Was ist das Ergebnis nach 50 Jahren? Es gibt
435 Atomkraftwerke, die aber nur einen Anteil von
2,5 Prozent am Endenergieverbrauch haben.
Das Uran wird knapper. In den letzten Jahren - das
zur Renaissance der Atomkraft - sind mehr Atomkraftwerke abgeschaltet als neue gebaut worden. Die Terrorgefahr ist gewachsen. Weltweit werden weiterhin Steuergelder bereitgestellt. Diese müssen auch bereitgestellt
werden, weil die Endlagerfrage immer noch nicht gelöst
ist. Und das alles nach 50 Jahren! Die Atomenergie ist
für mich der größte Technikflop der letzten Jahrzehnte.
Es ist überfällig, einmal darüber zu sprechen.
({1})
Die Atomenergie ist vor allem eines nicht: generationengerecht. Im Zusammenhang mit den Finanzen und
mit vielen anderen Themen wird viel über Generationengerechtigkeit gesprochen. Ich denke, das ist zum Teil gerechtfertigt. Aber was ist generationengerecht daran,
wenn wir bestimmen, dass die Atomenergie genutzt wird
und so der strahlende Müll viele kommende Generationen belasten wird? Die Generationen, die zukünftig
durch die Kosten und den Atommüll belastet werden,
werden vorher nie die Chance gehabt haben, darüber zu
entscheiden, ob sie Atomkraft haben wollen oder nicht.
Das ist nicht nur nicht nachhaltig, sondern die größte
Ungerechtigkeit, die man den zukünftigen Generationen
antun kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten lieber
über das diskutieren, worüber es jetzt zumindest Ansätze
von Einigkeit gibt. Wir müssen unsere Effizienz deutlich
steigern. Das ist aber bis jetzt nur ein Lippenbekenntnis,
weil wir in diesem Punkt in der Großen Koalition nicht
zusammenkommen. Der alte Wirtschaftsminister - ich
fürchte, das wird auch beim neuen Wirtschaftsminister
so sein - hat uns Energieeffizienzgesetze vorgelegt, die
uns keinen Schritt weiterbringen. Wir brauchen aber eine
Steigerung der Energieproduktivität von 3 Prozent pro
Jahr, die wir im Augenblick leider nicht erreichen. Dieses Potenzial müssen wir stärker ausnutzen.
Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien
vorantreiben. Da sind wir in der Großen Koalition ein
Stück weitergekommen. Wir dürfen an dieser Stelle
nicht nachlassen. Gerade im Wärmebereich sind die Potenziale sehr groß. Wir müssen außerdem dafür sorgen,
dass immer mehr Energie eingespart wird, die im Moment noch nutzlos verpulvert wird. Diesen Weg müssen
wir weiterverfolgen. Wir müssen effizienter werden,
Energie einsparen und die erneuerbaren Energien ausbauen. Wenn wir das erreichen, haben wir eine sehr gute
Chance, ein Energiesystem auch ohne Atomenergie zu
schaffen, das Sicherheit garantiert und zukunftsfähig ist.
Damit können wir weltweit zeigen, dass das der Weg ist,
den man beschreiten kann und den auch andere einschlagen können. Dies sollte der Weg im Hinblick auf eine
nachhaltige Energiewende sein.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat Philipp Mißfelder für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal möchte ich, ähnlich wie es
schon andere Redner getan haben, auf den eigentlichen
Grund dieser sehr ausführlichen Debatte am heutigen
Tage eingehen. Sie, Frau Kollegin Höhn, sowie Ihre
Kolleginnen und Kollegen versuchen hier, Ihre Sammlung von vielen Anträgen, über die wir schon seit Jahren
diskutieren und zu denen Sie und wir schon oft hier im
Hause gesprochen haben, im Vorwahlkampf zu platzieren. Um nichts anderes geht es hier. Es geht Ihnen nicht
um die Sache,
({0})
sondern darum, die schlechten Umfragewerte der Grünen dadurch zu konterkarieren, dass Sie zu Ihren Wurzeln zurückkehren. Deshalb tragen Sie heute diese vielen
Anträge vor.
({1})
Am erstaunlichsten finde ich dabei, dass das nicht nur
für uns offensichtlich ist, sondern auch für jeden anderen
dadurch sichtbar wird, dass nur noch eine sehr erlesene
Schar von Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion anwesend ist. Wenn Ihnen das alles so wichtig ist, wie Sie
sagen, dann frage ich mich: Wo sind die alle von den
Grünen? Warum sind nur so wenige da, wenn ihnen das
Thema so am Herzen liegt, wie Sie es die ganze Zeit in
Ihren Reden behauptet haben und wie es an Ihren Zwischenrufen deutlich wird?
({2})
Vielleicht haben sie Besseres zu tun, als an dieser Debatte teilzunehmen.
({3})
Das Zweite, was ich im Verlauf dieser Debatte sehr
interessant fand, war die Richtung, in die der Bundesumweltminister argumentiert hat. Man wusste gar nicht,
wohin er wollte. Wohin er in der Sache will, daran habe
ich keinen Zweifel; das ist bekannt. Man wusste aber
nicht, welche Richtung er im Hinblick auf die Farbenspiele einschlagen wollte. Es ist nicht überraschend, dass
er die CDU/CSU - ich nehme meine liebe Kollegin
Reiche in Schutz, die der Bundesumweltminister in seinen Schlussausführungen explizit angesprochen hat angegriffen hat. Ein bisschen mehr überrascht mich, dass
auch die FDP trotz der Anwerbeversuche der SPD gegenüber den Liberalen ihr Fett abbekommen hat.
({4})
Sie werden ja ansonsten von der SPD bei jeder sich bietenden Gelegenheit umgarnt. Es wurde also der Großen
Koalition eine Absage erteilt, und die Ampel wackelte.
Noch mehr erstaunt hat mich das Feuerwerk, das gegen die Positionierung der Grünen abgebrannt worden
ist. Das kann nun wirklich nicht auf taktischen Überlegungen beruhen, sondern nur auf rein sachlichen Überlegungen.
({5})
Dem möchte ich mich anschließen; denn ich bin wie der
Bundesumweltminister dezidiert der Meinung, dass Sie
Polemik betrieben und keinen Schritt in Richtung einer
stärkeren Versachlichung der Debatte gemacht haben.
({6})
Ich möchte auf einiges eingehen, was Sie in Ihren Anträgen dargestellt haben; Sie sind darauf sehr wenig eingegangen. Zum Beispiel schlagen Sie anderen Ländern
vor, Energie zu sparen, um den Klimawandel abzumildern. Dabei nennen Sie explizit auch die osteuropäischen Länder. Ich frage Sie ganz konkret: Wie soll das
denn bitte vonstattengehen? Sie sagen, sie sollten die
Kernkraftwerke abschalten. Dadurch würden sie aber in
hohem Maße auf ihren erreichten Lebensstandard verzichten. Wissen Sie eigentlich, wie sich insbesondere in
Osteuropa die wirtschaftliche Situation angesichts der
internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise darstellt?
Es ist eine Katastrophe, was gerade in diesen Ländern
passiert.
({7})
Sie sagen dann mit der Arroganz des Wohlstands: Das ist
kein Problem. Das interessiert uns nicht; sollen die doch
Energie sparen. - Dazu muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: An dieser Stelle verstehe ich Ihre Argumentation
überhaupt nicht mehr.
({8})
Ich möchte den Bogen direkt zur innenpolitischen
Debatte in Deutschland schlagen. Sie sagen immer wieder:
({9})
Wir müssen mehr in erneuerbare Energien investieren. Das tun wir auch. Das tut die Regierung. Da haben wir
sehr viel erreicht, im Übrigen auch im Konsens mit fast
allen Fraktionen. Aber es ist trotzdem so, dass dies zunehmend auch eine soziale Qualität bekommt; denn es
ist immer noch nicht geklärt, wer die Kosten dafür letztPhilipp Mißfelder
endlich tragen soll. Wer soll den Ausbau der erneuerbaren Energien um jeden Preis bezahlen?
({10})
Ich kann nicht verstehen, warum Sie sich da festbeißen und nur in Richtung einer Verteuerung der Energiepreise in Deutschland argumentieren, was besonders die
Menschen in unserem Land treffen würde, die wenig
verdienen, aber noch zu viel, um vom Staat alimentiert
zu werden.
({11})
Das kann ich einfach nicht unterstützen. Für mich ist das
eine soziale Frage. Wir müssen auch in Zukunft Energiepreise haben, die für Bezieher niedriger Einkommen bezahlbar sind.
({12})
Von mehreren Rednern wurden hier prominente Vertreter der grünen Bewegung aus der ganzen Welt angeführt. Der frühere Greenpeace-Chef ist hier schon mehrfach zitiert worden; auch ich will das tun.
({13})
Herr Mißfelder, wollen Sie vielleicht, bevor Sie das
tun, Frau Bulling-Schröter Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?
Ja, sehr gern.
Bitte schön.
Herr Mißfelder, Sie haben über soziale Energiepreise
gesprochen. Ich denke, das ist ein wichtiges Thema. Damit müssen wir uns wesentlich mehr beschäftigen. Es
freut mich, dass Sie das angesprochen haben.
Meine Frage an Sie lautet: Wir haben uns ja schon des
Öfteren über Windfall Profits unterhalten. Die Energiekonzerne erhalten 91 Prozent der Zertifikate kostenlos.
Sie preisen sie allerdings ein, geben die Preise also weiter.
({0})
Das wird vonseiten der Bundesregierung nicht bestritten.
Das sind Sonderprofite. Einen Teil davon könnten wir
nutzen, um die sozialen Energiepreise zu gestalten. Von
unserer Seite gab es dazu eine ganze Reihe von Anträgen, die leider nie eine Mehrheit fanden. Jetzt höre ich
von Ihnen, dass Sie sich auch um die ärmeren Menschen
in diesem Land kümmern wollen. Wie könnte eine solche Regelung Ihrer Meinung nach ausschauen? Sind Sie
bereit, einen Teil dieser Profite abzuschöpfen, um diese
Menschen zu unterstützen?
In den vergangenen Wochen und Monaten mag der
Eindruck entstanden sein, der Staat könne wirklich alles
regeln und müsse auch an jeder Stelle eingreifen. Ich
aber glaube, Frau Kollegin, dass die Zukunft einer sicheren, klimafreundlichen und preisgünstigen Energieversorgung in Deutschland vor allem davon abhängt, ob wir
in Zukunft genügend Investitionen in unserem Land haben. Deshalb glaube ich, dass der Markt in diesem Zusammenhang nicht das Schlechteste ist.
({0})
Ich wünsche mir natürlich mehr Wettbewerb und einen
stärkeren Markt, auch im Bereich der Energieversorgung.
({1})
Ich sage aber auch, dass wir Investitionen nicht durch
eine falsche Gesetzgebung verhindern dürfen. Es wäre
falsch, wenn wir in der Politik die Richtung einschlagen
würden, die Sie fordern. Wir müssen vielmehr für unseren Standort werben und dafür sorgen, dass dieser Standort so attraktiv ist und die Investitionshürden so gering
sind, dass wir in Deutschland das Bestmögliche und das
technologisch Wirksamste haben. Wir brauchen tatsächlich die beste Technologie im Bereich der Energie.
({2})
Ich glaube, dass das sozialer ist, als eine Umverteilungsmaschinerie in Gang zu setzen. Eine solche Forderung
ist angesichts der Geschichte Ihrer Partei allerdings nicht
verwunderlich. Sie überraschen mich damit kaum.
({3})
Jetzt möchte ich mich aber doch noch einmal mit dem
Antragsteller, den Grünen, beschäftigen. Frau Höhn, Sie
haben hier gerade aktiv für eine schwarz-grüne Kooperation geworben. Anscheinend ist Ihr Herz von dieser vermeintlichen Option so voll, dass Ihnen das rausgerutscht
ist. Ich muss Sie aber enttäuschen: Das wird so nicht
funktionieren. Dafür müssten Sie realitätsnäher werden.
Sie müssten sagen, wie Sie die Energiepolitik in Zukunft
gestalten wollen.
({4})
Ich rate Ihnen, sich in den von Ihnen bevorzugten Urlaubszielen einmal umzuschauen. Ich meine nicht Sie
persönlich. Ich weiß nicht, wohin Sie in Urlaub fahren,
und ich will es auch nicht wissen. Sie sollten aber einmal
genau hinschauen, was die bevorzugten Urlaubsdomizile
der Grünen sind. Lieblingsurlaubsziele der Grünen sind
- die Toskana nenne ich jetzt nicht - Schweden und
Finnland.
({5})
Schauen Sie sich in diesen Ländern einmal an, was dort
passiert. Dort gibt es eine Renaissance der Kernenergie,
weil diese Länder keine Abhängigkeit vom Gas aus
Russland wollen, weil sie eine sichere und preisgünstige
Energieversorgung wollen und weil sie auch in Zukunft
gegen den Klimawandel angehen wollen. Das geht nun
einmal nur, wenn Sie die Kernenergie als Option erhalten - nicht ausschließlich; aber sie darf nicht vernachlässigt werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Damit ist die Aussprache geschlossen.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen
auf den Drucksachen 16/12288 und 16/10359 an die
Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung auf-
geführt sind. - Damit sind Sie offensichtlich einverstan-
den. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz neh-
men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/7882, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6319
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung der
Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion und Gegen-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Sicherheit geht vor - Besonders terroranfäl-
lige Atomreaktoren abschalten“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/8469, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 16/3960 abzulehnen. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem
gleichen Stimmverhältnis wie die vorherige angenom-
men.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraftwerke
in Osteuropa“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/12312, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/11764 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussemp-
fehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? -
Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der
Koalitionsfraktionen angenommen. Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke haben da-
gegen gestimmt. Die Fraktion der FDP hat sich enthalten.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Für eine Schließung des Forschungs-
endlagers Asse II unter Atomrecht und eine schnelle
Rückholung der Abfälle“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12270,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/4771 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthal-
tungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenom-
men bei Zustimmung von SPD, CDU/CSU und FDP und
Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 d
und 39 f bis 39 r sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes
- Drucksache 16/12117 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Gefahrgutbeförderungsgesetzes
- Drucksache 16/12118 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Freihäfen Emden und Kiel
- Drucksache 16/12228 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer
Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland, Bonn
- Drucksache 16/12229 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Technikfolgenabschätzung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Durchführung der
Gemeinsamen Marktorganisationen und der
Direktzahlungen
- Drucksache 16/12231 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung behördlicher Aufgaben und Kompetenzen
im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes
- Drucksache 16/12232 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Vorsorge für
Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ ({6})
- Drucksache 16/12233 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Zweiten Protokoll vom 26. März 1999 zur
Haager Konvention vom 14. Mai 1954 zum
Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten
- Drucksache 16/12234 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Ausschuss für Kultur und Medien
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Bosnien und Herzegowina andererseits
- Drucksache 16/12235 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksache 16/12257 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung medizinprodukterechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/12258 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
m)Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Horst Friedrich ({11}), Joachim
Günther ({12}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Verkehrsschilder reduzieren - Verkehrssicherheit bewahren
- Drucksache 16/10612 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Sicherheit auf deutschen Straßen - Masterplan Vision Zero
- Drucksache 16/11212 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael
Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ausbauziele der Offshore-Windenergie nicht
gefährden - Raumordnungsplanung des Bundes überarbeiten
- Drucksache 16/11214 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bahnstrom auf erneuerbare Energien umstellen
- Drucksache 16/11930 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({16})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
q) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2008
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 16/12091 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
r) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({17}), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stärkung des europäischen Haischutzes
- Drucksache 16/12290 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({18})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({19})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren
- Drucksache 16/12310 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({20})
Innenausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, CarlLudwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Maßnahmen zur effektiven Regulierung der
Finanzmärkte
- Drucksache 16/10876 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({21})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung der Unterrichtung durch die Deutsche
Welle
Zweite Fortschreibung der Aufgabenplanung
der Deutschen Welle 2007 bis 2010 mit Perspektiven für 2010 bis 2013
und
Zwischenevaluation 2008
- Drucksache 16/11836 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({22})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Mitnahmefähigkeit von beamten- und soldatenrechtlichen Versorgungsanwartschaften
- Drucksache 16/12036 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({23})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 j sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 40 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung Erweiterung des Beschlagnahmeschutzes bei
Abgeordneten
- Drucksache 16/10572 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({24})
- Drucksache 16/12314 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({25})
Jörg van Essen
Wolfgang Nešković
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12314, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/10572 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Ich komme zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, aufzustehen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Montenegro andererseits
- Drucksache 16/12064 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({26})
- Drucksache 16/12305 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Uta Zapf
Dr. Werner Hoyer
Marieluise Beck ({27})
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12305, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12064
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei Zustimmung der CDU/CSU, der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP und bei Ablehnung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({28}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der Altfahrzeug-Verordnung
- Drucksachen 16/12106, 16/12181, 16/12313 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Horst Meierhofer
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12313, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 16/12106 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der Linken und der FDP und bei
Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen ohne Gegenstimmen angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 40 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 536 zu Petitionen
- Drucksache 16/12123 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 537 zu Petitionen
- Drucksache 16/12124 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 538 zu Petitionen
- Drucksache 16/12125 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Koalitionsfraktionen, der FDP und des Bündnisses 90/
Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
ohne Gegenstimmen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 539 zu Petitionen
- Drucksache 16/12126 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/
Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 540 zu Petitionen
- Drucksache 16/12127 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Koalitionsfraktionen, der Linken und des Bündnisses 90/
Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 541 zu Petitionen
- Drucksache 16/12128 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Koalitionsfraktionen und der FDP und bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 542 zu Petitionen
- Drucksache 16/12129 Wer stimmt dafür? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Koalitionsfraktionen, bei Gegenstimmen der Fraktionen
der FDP und der Linken und bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung
- Drucksache 16/12282 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Umsetzung des Beschlusses der EU in
Deutschland für einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Dienstleistungen
Der Kollege Ernst Burgbacher hat für die FDP-Fraktion das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der letzten Woche haben die Finanzminister der EU
beschlossen, dass bei arbeitsintensiven Dienstleistungen
jedes Land selbst den reduzierten Mehrwertsteuersatz
einführen kann. Der Finanzminister der Bundesrepublik
Deutschland hat dieser potenziellen Steuersenkung auf
europäischer Ebene zugestimmt, gleichzeitig aber gesagt, dass er sie dem eigenen Land vorenthalten will.
Das ist für uns ein unglaublicher Vorgang.
({0})
Es kann nicht sein, dass ein deutscher Finanzminister auf
europäischer Ebene so handelt.
({1})
Das ist allerdings genau der Stil des Bundesfinanzministers: Wenn die Großen etwas wollen, werden sie mit
offenen Armen empfangen. Wenn die kleinen und mittelständischen Familienbetriebe etwas wollen, wird die
Tür zugeschlagen. Exakt das ist hier der Fall. Wenn Sie
1 000 Familienbetriebe in Hotellerie und Gastronomie
mit durchschnittlich 20 Arbeitskräften pro Betrieb nehmen, kommen Sie auf 20 000 Beschäftigte. Die stehen
dann auf der Straße, und es kümmert sich niemand. Um
die Großen aber kümmert man sich.
({2})
Ich will mich aufgrund der mir zur Verfügung stehenden Zeit in der Argumentation auf Hotellerie und Gastronomie beschränken und Ihnen an ganz konkreten Beispielen aufzeigen, worum es geht. Früher sind viele
Deutsche über den Rhein nach Frankreich, vor allem in
das Elsass, gefahren, um dort essen zu gehen. Durch
enorme Qualitätssteigerungen in der deutschen Gastronomie hat sich das mittlerweile nahezu ausgeglichen.
Der Trend geht eher in die andere Richtung. Bisher lag
der Mehrwertsteuersatz in Frankreich im Gastronomiebereich bei 19,6 Prozent. Jetzt wird er, und zwar sehr
schnell, auf 5,5 Prozent gesenkt. Deutschland aber bleibt
bei 19 Prozent. Das ist unglaublich.
({3})
Was bedeutet das konkret? Wenn eine Familie in
Deutschland essen geht und dafür 100 Euro bezahlt,
dann bleiben dem deutschen Wirt davon 84 Euro. Wenn
dieselbe Familie über den Rhein nach Frankreich fährt
und dort 100 Euro bezahlt, bleiben dem französischen
Wirt 94,80 Euro, also knapp 95 Euro. Das sind 11 Euro
mehr. Für den deutschen Gastronomen bedeutet das,
dass er entweder die Preise erhöhen oder die Qualität reduzieren muss, sei es in der Küche oder beim Service. Er
ist dann aber nicht mehr wettbewerbsfähig. Genau das
ist der Punkt.
In 22 von 27 Ländern der Europäischen Union gilt der
reduzierte Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie. In 11
von 27 Ländern gilt der reduzierte Mehrwertsteuersatz
für die Gastronomie. Sie können nach den Ecofin-Beschlüssen davon ausgehen, dass diese Zahl ebenfalls auf
22 steigt. Das heißt, heutzutage ist der reduzierte Mehrwertsteuersatz in Europa der Normalfall. Der Finanzminister aber sagt: Mit mir gibt es in Deutschland keine
Änderungen. - Wer so argumentiert, der setzt die Arbeitsplätze von Hunderttausenden Menschen und auch
von weit über einhunderttausend Auszubildenden aufs
Spiel. Er nimmt nicht nur in Kauf, dass keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden - was durchaus möglich
wäre -, sondern auch, dass bestehende Arbeitsplätze gefährdet werden. Das alles tut er als Sozialdemokrat.
({4})
Die Menschen draußen werden sich sehr gut überlegen, wie sie das zu bewerten haben.
Angesichts der Wettbewerbssituation in Europa und
der Verpflichtung des Gesetzgebers, unseren Unternehmen durch die Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen zu helfen, fordert die FDP klipp und klar die Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozent
für Hotellerie und Gastronomie.
({5})
Liebe Freunde von der Union, was Sie hier gerade liefern, ist kein wohlschmeckendes Gericht. Der Herr
Seehofer kündigt eine Bundesratsinitiative für diese Woche an und zieht sie wieder zurück.
({6})
Der Tourismusbeauftragte reist mit dieser Forderung
durch das Land, hat aber im eigenen Lager noch nicht
einmal eine Mehrheit. Der baden-württembergische Finanzminister Stächele spricht sich für den reduzierten
Mehrwertsteuersatz aus,
({7})
der baden-württembergische CDU-Abgeordnete Krichbaum
lehnte ihn heute Morgen strikt ab. Wir erwarten jetzt von
Ihnen eine Positionierung,
({8})
und wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich den mittelständischen und kleinen Familienbetrieben helfen und
dass Sie heute klar signalisieren, dass der reduzierte
Mehrwertsteuersatz eingeführt werden wird!
({9})
Sie müssen das jetzt tun. Ich sage ganz deutlich: Wir
werden es Ihnen nicht durchgehen lassen,
({10})
dass Sie ein paar Leute vorschicken, die sagen dürfen,
was sie wollen, und alle anderen zurückgepfiffen werden. Es geht um kleine mittelständische Familienunternehmen. Es geht um viele Hunderttausend Menschen,
die in diesem Bereich Arbeit finden. Sie haben es in der
Hand, ob in diesem Bereich neue Arbeitsplätze entstehen oder ob bestehende vernichtet werden.
Für die FDP erkläre ich klipp und klar: Die FDP steht
dazu. Wir wollen die Einführung dieser reduzierten
Mehrwertsteuersätze,
Herr Kollege, klipp und klar: Ihre Redezeit ist zu
Ende.
- und zwar möglichst nicht erst nach der Wahl, sondern jetzt; denn die Probleme stellen sich nicht erst später, sondern jetzt.
Herzlichen Dank.
({0})
Es spricht der Kollege Eduard Oswald für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gleich vorweg: Im gemeinsamen Wahlprogramm von
CDU und CSU werden wir für den Bereich der Steuerpolitik unter anderem drei Punkte darstellen:
Erstens. Wir werden die Ungereimtheiten im System
der Mehrwertsteuer beseitigen.
({0})
Zweitens. Wir werden an der Reform der Lohn- und
Einkommensteuer arbeiten, sodass die Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land wieder mehr Geld in der Tasche
haben werden.
({1})
Drittens. Im Rahmen der Unternehmensteuerreform
werden wir Hemmschwellen beseitigen, die die wirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens heute
blockieren. Damit werden wir den Standort Deutschland
stärken.
({2})
Übrigens, Kollege Burgbacher: Eine Umsetzung in
deutsches Recht kann bekanntlich erst im Rahmen einer
Änderung der Mehrwertsteuerrichtlinie erfolgen.
Der Ecofin-Rat ist übrigens dem sehr viel weiter reichenden Vorschlag der tschechischen Ratspräsidentschaft nicht gefolgt, den ermäßigten Umsatzsteuersatz
generell auf Lieferung, Bau, Renovierung, Umbau und
Instandhaltung von Wohnungen zur Anwendung zuzulassen. Auch dies muss erwähnt werden.
Die Forderung verschiedener Branchen nach einer
Aktualisierung des Mehrwertsteuerkatalogs - dieser ist
umfassender, als dies Herr Kollege Burgbacher dargestellt hat - ist für mich gut nachvollziehbar, da die überwiegende Zahl der aktuell geltenden Mehrwertsteuerer22766
mäßigungen auf das Jahr 1968 zurückgeht und
zwischenzeitlich das eine oder andere heute nicht mehr
nachvollziehbar ist.
Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir das
Thema angehen müssen. Einzelne Beispiele machen dies
deutlich. Dass Pralinen und Gänseleber mit 7 Prozent
besteuert werden, Mineralwasser jedoch mit dem vollen
Mehrwertsteuersatz, versteht man ebenso wenig wie die
Regelung, dass man auf Futter für Haustiere 7 Prozent,
für Babynahrung jedoch 19 Prozent entrichten muss.
({3})
Äpfel zum Essen werden ermäßigt besteuert. Der
Fruchtsaft - wenn man sie durch die Presse schickt wird voll besteuert. Für Kaffee gilt Ähnliches. Kaffeepulver wird mit 7 Prozent versteuert. Handelt es sich um
Kaffee, dann ist der volle Steuersatz fällig. Weitere Beispiele könnte man erwähnen.
Wir brauchen - und dafür steht unsere Fraktion - eine
für jeden Bürger verständliche Lösung, ein schlüssiges
Konzept, das auch logisch ist. Der Bürger darf nicht erst
im Katalog nachschauen müssen, wie nun versteuert
wird. Es muss steuersystematisch richtig sein. Es wird
doch wohl zu schaffen sein, dass wir im Steuerrecht etwas hinbekommen, was nicht kompliziert ist.
({4})
Im Gastronomiebereich zeigen sich heute schon Wettbewerbsverzerrungen in grenznahen Regionen. Durch
einen Mehrwertsteuersatz von nur 10 Prozent in Österreich und einem noch niedrigeren in der Schweiz werden
Gaststätten, die gerade in den grenznahen Tourismusregionen in einem harten Wettbewerb stehen, unzumutbar
benachteiligt. Das steht außer Frage. Für mich persönlich gilt auch: Wer es den EU-Nachbarn gestattet, die
Mehrwertsteuer zu senken, muss auch für das eigene
Land eine Lösung erarbeiten.
({5})
Deshalb ist selbstverständlich auch die Frage nach
den Auswirkungen auf den Haushalt zu stellen. Wir haben in dieser Periode vieles geleistet, auch bei der Sanierung des Haushaltes. Manches, was heute in der Finanzund Wirtschaftskrise getan werden muss, wäre ohne
diese Sanierung nicht möglich.
Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, zu sagen, dass wir
bei einer Absenkung des Steuersatzes im Bereich der
Gastronomie Steuerausfälle in Höhe von rund 3 Milliarden Euro zu verzeichnen hätten. Nimmt man den Bereich Beherbergung dazu, fallen die Steuerausfälle vermutlich um 1 Milliarde höher aus. Arzneimittel würden
mit fast 4 Milliarden Euro, Mineralwasser mit 0,3 Milliarden Euro, Kinderbekleidung und Schuhe mit 1 Milliarde
Euro, Kinderspielzeug mit 0,5 Milliarden Euro zu Buche
schlagen. Damit habe ich einige der Felder beschrieben,
bei denen von der Politik zu Recht etwas erwartet wird.
Die Aufgabe ist also etwas umfassender, als vorhin dargestellt wurde.
Ich will, dass eine Mehrwertsteuerermäßigung über
Preissenkungen tatsächlich an die Verbraucher weitergegeben wird. Darum geht es uns.
({6})
Das Problem ist aber, dass dies leider niemand sicherstellen kann, da die Mehrwertsteuer nur ein Preisbestandteil von vielen ist.
Wir werden also ein schlüssiges Gesamtkonzept erarbeiten
({7})
- dabei werden wir sorgfältig vorgehen - und eine tragfähige und umfassende Lösung entwickeln, durch die die
Menschen überzeugt werden und die zudem auch solide
finanzierbar ist.
({8})
In den verbleibenden sieben Sitzungswochen bis zur
Wahl einen Schnellschuss abzugeben, wäre auch angesichts der Herausforderungen, die wir im Rahmen der
Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen haben, wirklich die falsche Antwort.
({9})
Wir werden das richtig machen, ohne einen Schnellschuss abzugeben. Hier können Sie uns beim Wort nehmen.
({10})
Jetzt spricht die Kollegin Dr. Barbara Höll für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An Ihren Taten sollt Ihr sie messen. Zum 1. Januar 2007
wurde der allgemeine Regelsatz der Mehrwertsteuer
durch SPD und CDU/CSU von 16 Prozent auf 19 Prozent erhöht. Das war die größte Steuererhöhung in der
Geschichte der Bundesrepublik
({0})
und eine der unsozialsten Maßnahmen. Das sind Ihre Taten.
({1})
Skandalöserweise haben Sie Teile der Mehreinnahmen durch die Steuererhöhung dann auch noch für Steuererleichterungen für Vermögende und Unternehmen
verwendet. Die Linke sagt: Erhöhungen der Mehrwertsteuer sind sozial ungerecht. Die dadurch verursachte
Steuerbelastung ist natürlich umso stärker, je geringer
das Einkommen der Menschen ist.
Um die unsoziale Wirkung Ihrer Steuererhöhung abzumildern, haben wir Ihnen hier bereits Vorschläge unterbreitet, und zwar nicht für die letzten sieben Sitzungswochen, sondern schon vorher. Wir haben Ihnen für
diese Wahlperiode den Vorschlag unterbreitet, den
Mehrwertsteuersatz auch für folgende drei Produktgruppen bzw. Dienstleistungen zu ermäßigen: Waren und
Dienstleistungen für Kinder, apothekenpflichtige Medikamente und - das haben wir immer gefordert - arbeitsintensive Handwerksdienstleistungen.
Es liegt doch auf der Hand: Eine solch große Senkung
des Mehrwertsteuersatzes von 19 Prozent auf 7 Prozent,
die natürlich bei den Menschen auch ankommen muss,
stellt gerade für die Bezieherinnen und Bezieher von
Transferleistungen eine Entlastung dar. Sie wissen, dass
über 2 Millionen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik von Hartz IV und Sozialhilfe leben müssen. Für
sie wäre das eine Entlastung.
({2})
Es wäre auch gut, die Kosten für arbeitsintensive
Handwerksdienstleistungen zu verringern, um auch von
der Ideologie der Wegwerfgesellschaft wegzukommen,
sodass es sich wieder lohnt, Produkte reparieren zu lassen. Das ist eben arbeitsintensiver als einfach etwas
wegzuschmeißen und neu zu kaufen bzw. durch etwas
Neues zu ersetzen.
({3})
Wir haben das auch für die apothekenpflichtigen Medikamente gefordert. Wie haben Sie sich verhalten? Ich
greife nur einmal unseren Antrag bezüglich der Produkte
für Kinder heraus, über den hier im Februar des vergangenen Jahres namentlich abgestimmt wurde. Alle hier im
Hause - bis auf zwei Abgeordnete von der CDU/CSU,
die sich enthalten haben - waren nicht unserer Meinung
und haben mit Nein gestimmt, und jetzt wird groß getönt.
({4})
Um noch einmal darauf zurückzukommen, dass Sie
sich an Ihren Taten messen lassen sollen: Bereits die
PDS war auf diesem Gebiet aktiv.
({5})
Sie werden es nicht glauben, aber lesen Sie das bitte einmal nach. Bereits im Jahr 1998 haben wir einen Antrag
mit dem Titel „Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Leistungen“ in den Bundestag - damals
noch in Bonn - eingereicht und gefordert, dass der damalige Finanzminister auf europäischer Ebene aktiv
werden sollte. Das haben wir nach der Neuwahl wiederholt, nämlich gleich zu Beginn der 14. Wahlperiode.
Auf EU-Ebene ist dann etwas geschehen. Unser
Druck hier im Land hat leider nicht ausgereicht. Auf
EU-Ebene wurde aber zumindest ein Modellversuch gestartet. Im Februar 2000 wurden die Teilnehmerstaaten
festgelegt. Deutschland wollte nie mitmachen. Ich habe
keine Stimmen der FDP im Ohr, dass sie damals dafür
gewesen ist. Nein, wir haben das gefordert, Sie haben
das alles immer abgelehnt.
Schauen wir uns das noch einmal an, um vielleicht ein
wenig zu illustrieren, wie Sie als FDP argumentiert haben. Ich habe mir einige Zitate herausgesucht, zum Beispiel von Frau Frick aus der 13. Legislaturperiode oder
auch von Herrn Wissing, der gesagt hat: Wer sich so verhält und einen solchen Antrag stellt, der verhält sich chaotisch und betreibt Flickschusterei.
({6})
Schau an, was Sie heute tun! Sie sagten, es sei chaotisch und eine Flickschusterei. Nein, Sie als FDP verhalten sich heute zu dem Thema einfach wie ein Trittbrettfahrer. Sie haben in den vergangenen Jahren weder als
Sie in der Regierung waren noch in der Opposition tatsächlich in dieser Richtung gehandelt,
({7})
sondern immer nur nebulös gefordert, man müsse das
Ganze noch einmal neu betrachten.
Warten Sie nicht ewig, bis Sie eine Gesamtbetrachtung vornehmen! Werden Sie jetzt endlich aktiv! Die EU
gestattet uns das. Ich finde, wir sind dann auch in der
Pflicht, tatsächlich zu handeln. Wenn wir uns verständigen, dass wir etwas tun wollen, dann können wir uns
auch verständigen, was wir tun. Wir haben Ihnen unsere
Vorschläge unterbreitet. Darin sind auch die arbeitsintensiven Handwerksdienstleistungen enthalten. Man muss
unter den Gegebenheiten, die sich jetzt neu entwickeln,
auch diskutieren, wie mit dem Hotel- und Gaststättenwesen und der Gastronomie zu verfahren ist. Eine Aufrechnung von 100 Euro hier gegen 100 Euro da ist mir ein
bisschen zu platt. Ich glaube, wir müssen in diesem Zusammenhang Schwerpunkte setzen.
Am besten wäre es, Sie hätten Ihre große Mehrwertsteuererhöhung gar nicht erst vorgenommen. Dann hätten die betroffenen Bürgerinnen und Bürger einige Probleme weniger.
Ich danke Ihnen.
({8})
Die Kollegin Lydia Westrich spricht jetzt für die SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Frau Höll, ich will nicht drum herumreden: Die Umsetzung der Mehrwertsteuerermäßigung in
Deutschland würde allein für diesen Bereich mehr als
6 Milliarden Euro kosten.
({0})
Mehr als die Hälfte davon entfällt auf die Restaurantleistungen. Herr Burgbacher hat dies bereits angesprochen.
Ich habe sehr viel Verständnis dafür, dass eine Branche, die Sie hier so gut vertreten haben, darauf hinweist,
dass ihr die Finanzspritze gut täte. Ihr Fraktionsvorsitzender Westerwelle hat heute früh festgestellt, dass die
Ermäßigung auch eine gute Hilfe für den Mittelstand bedeuten würde.
({1})
Die Mehrwertsteuer ist aber - vielleicht wissen Sie oder
weiß er das nicht - eine Verbrauchsteuer. Ermäßigungen
sollten dort spürbar werden, wo die Belastungen wirklich auftreten, nämlich beim Verbraucher. Als Pfälzerin
fahre ich ebenso wie Sie ab und zu über die französische
Grenze, um im Elsass essen zu gehen. Das Essen ist dort
aber nicht billiger, im Gegenteil.
({2})
Inzwischen kommen auch viele Franzosen über die
Grenze in unsere pfälzischen Restaurants, um dort hervorragend und günstig zu essen.
({3})
Das Beispiel McDonalds mit den gleichen Preisen für
die mit ermäßigtem Steuersatz belegte Ware außer Haus
oder der mit normalem Steuersatz belegten dort verzehrten Ware ist bekannt. Sicherlich würde McDonalds auch
noch das Geld einstreichen, das es bei einer Mehrwertsteuerermäßigung für die im Lokal verzehrte Ware zusätzlich einnehmen würde. Das Unternehmen hat die
Mehrwertsteuerermäßigung bisher nicht an die Kunden
weitergegeben. Warum sollte es dies jetzt tun?
({4})
Alle Untersuchungen der Wirkungen ermäßigter
Mehrwertsteuersätze auf die Wirtschaftsaktivität, die Ihnen so sehr am Herzen liegt, zeigen, dass dies nicht die
wirksamste Maßnahme ist, aber den Staatshaushalt stark
belastet. Die Schaffung eines Arbeitsplatzes - selbst in
der Gastronomie - durch die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes kostet den Steuerzahler sage und schreibe
60 000 Euro. Andere Fördermaßnahmen sind da sinnvoller.
Einer Untersuchung zufolge haben zum Beispiel in
Belgien bei Reparaturleistungen 87 Prozent der Dienstleister die Steuerermäßigung als Gewinn einbehalten,
statt sie an die Verbraucher weiterzugeben. In Griechenland ist die Preisentwicklung in den ermäßigten Branchen mit der Preisentwicklung in anderen Sektoren Hand
in Hand gegangen. Die Ermäßigung hat sich nicht auf
die Verbraucherpreise ausgewirkt.
In Spanien sind die Preise für Instandhaltung und Reparaturen an Wohnungen, die eigentlich sinken sollten,
sogar mehr als allgemein gestiegen.
({5})
Bei Friseurleistungen ist die Entwicklung im Grunde
ähnlich verlaufen.
Die Untersuchung der Wirkung ermäßigter Mehrwertsteuersätze bei häuslichen Pflegeleistungen in
Frankreich hat ergeben, dass sie keine oder nur sehr begrenzte Auswirkungen haben. In diesem Bereich betrug
die Preisdifferenz bei einer Dienstleistung ohnehin zwischen 44 und 165 Prozent, sodass selbst eine Mehrwertsteuerermäßigung um 12,5 Prozentpunkte bei der Preisfindung nicht zu Buche geschlagen ist. Bei der
Instandhaltung und Reparatur von Wohnungen in Frankreich sind die Preise im ersten Jahr tatsächlich um
5 Prozent gefallen. Im nächsten Jahr sind sie aber wieder
um 8 Prozent gestiegen. Das gilt auch für die Niederlande und Portugal.
Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen. Überall dort,
wo eine Mehrwertsteuerermäßigung vorgenommen
wurde, kam es zu ähnlichen Ergebnissen. Dabei handelt
es sich nicht um die erste und einzige Untersuchung, die
die Senkung der Mehrwertsteuersätze auf ihre Wirksamkeit überprüft hat. Alle Untersuchungen sind bislang
zum gleichen Ergebnis gekommen. Eine Mehrwertsteuersenkung ist nicht das am besten geeignete Instrument,
um die Wirtschaftstätigkeit anzukurbeln - selbst nicht
im Restaurantbereich -, Arbeitsplätze zu schaffen und
die Schattenwirtschaft einzudämmen. Dafür verursacht
dieses Instrument im Verhältnis zu seiner Wirksamkeit
hohe Kosten, in diesem Fall 7 Milliarden Euro. Natürlich wachsen dann die Begehrlichkeiten in anderen
Branchen; das hat Herr Oswald schon erklärt.
Finanzminister Steinbrück hat im Interesse Deutschlands richtig gehandelt, als er dieses Instrument in Brüssel abgelehnt hat.
({6})
Es handelt sich hier um eine reine Subventionierung bestimmter Branchen. Das haben Sie auch deutlich gesagt.
Das kann man wollen. Auch unsere Tourismuspolitiker
liebäugeln hin und wieder mit einer solchen Maßnahme.
Aber Sie von der FDP lehnen sonst Subventionen vehement ab. Herr Westerwelle hat das heute erneut lautstark
erklärt. Gleichzeitig hat er aber eine Mehrwertsteuerermäßigung, also eine Subventionierung, gefordert. Entweder kennt er die Gutachten nicht, die einer Mehrwertsteuerermäßigung negative Auswirkungen bescheinigen,
oder diese Wendung in zwei, drei Sätzen - einmal gegen
Subventionen und dann wieder dafür - zeigt das ganze
Wirrwarr der Lösungsversuche der FDP, wenn es um die
Bewältigung der Wirtschaftskrise geht. Ich gehe von
Letzterem aus.
Wir von der Koalition haben für die steuerliche Absetzbarkeit haushaltsnaher Dienstleistungen gesorgt und
die Möglichkeit eröffnet, Handwerkerrechnungen steuermindernd geltend zu machen. Wir haben damit zielgerichtet gehandelt. Den größten Effekt hat die von uns
durchgesetzte Senkung der Arbeitskosten. Ich nenne des
Weiteren die Umweltprämie und das Konjunkturprogramm zur Verbesserung der Infrastruktur. Die haben ein
Vielfaches an Wirkung.
Frau Kollegin, Sie müssen dringend zum Schluss
kommen.
Noch einen Satz. - Frau Höll, das Schulbedarfspaket
für finanzschwache Familien, das wir bis zum 13. Schuljahr gewähren und auf Familien mit Kinderzuschlag ausweiten, kurbelt den Konsum direkt an. Das hilft den Familien. Das ist der richtige Weg und nicht eine
Mehrwertsteuerermäßigung; denn man weiß nicht, wem
sie zugutekommt.
({0})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist interessant, wie Herr Burgbacher Mittelstandspolitik definiert. Offensichtlich besteht der deutsche Mittelstand aus Hotellerie und Handwerk.
({0})
Sie sagen nicht, wie eine Mehrwertsteuerermäßigung gegenfinanziert werden soll. Das bedeutet dann aber, dass
das aus dem allgemeinen Steueraufkommen bestritten
werden muss. Dann müssen viele andere kleine und
mittlere Unternehmen die Last tragen. Ihnen geht es nur
um die Begünstigung einer kleinen Gruppe. Sie haben
keinen systematischen Ansatz. Wenn ihre Mittelstandspolitik so aussieht, dann sollten wir mit Ihnen über Wettbewerb und Mittelstand noch einmal gründlicher diskutieren.
({1})
Vielleicht kann der neue Wirtschaftsminister, der sich
als ordnungspolitischer Leuchtturm und Erbe Ludwig
Erhards geriert, etwas zum System der Marktwirtschaft
sagen. Für meine Fraktion kann ich nur sagen: Wir verstehen unter Marktwirtschaft etwas anderes als die Privilegierung einzelner Gruppen.
({2})
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben im
Oktober 2006 einen Antrag - Drucksache 16/3013 - eingebracht, in dem Sie auf das komplizierte Mehrwertsteuersystem verweisen. Sie stellen darin fest, dieses
sei laufend verändert und verkompliziert worden. Sie
fordern den Bundestag auf, eine Vereinfachung des
Mehrwertsteuersystems zu beschließen. Wunderbar! So
weit Zustimmung. Interessanterweise fordert Ihr Parteivorsitzender Ostern 2008 die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes auf die Energieprodukte, also eine Verkomplizierung. Nun wollen Sie eine weitere Ermäßigung
- und damit eine weitere Verkomplizierung - durchsetzen; denn eine Abgrenzung ist bei Handwerksleistungen
sehr schwierig. Sie wollen eine weitere Ermäßigung einführen, obwohl Sie keinen Gesamtansatz haben. Das
halte ich für ziemlich schwach.
({3})
Ich möchte aus einer Rede zitieren, die der Kollege
Wissing am 14. Februar des vergangenen Jahres, also
vor gut einem Jahr, gehalten hat. Damals ging es um einen Antrag der Linken. Was war der Vorwurf des Kollegen Wissing? Ich zitiere:
Sie brauchen eine vernünftige, systematische Vorstellung des Ganzen. Einfach hinzugehen und Symbolpolitik in die Welt zu blasen, das hilft doch keinem … Wie das abgegrenzt und … ausgestaltet
werden soll, sagen Sie aber nicht.
Genau das könnte man heute zu Ihrem Vorschlag sagen.
Ich sage Ihnen: Messen Sie sich selber einmal an Ihren
eigenen Ansprüchen.
({4})
Ein weiterer Punkt ist Europa. Sie haben auf die anderen europäischen Länder verwiesen. Entschuldigung, wir
erleben doch gerade in der Finanzmarktkrise, dass es
höchst problematisch gewesen ist, in den einzelnen
Punkten immer wieder auf die anderen zu hören und genau das nachzumachen, was die anderen machen, auch
wenn es schlecht ist. Genau damit sind wir an vielen
Stellen auf die Nase gefallen. Es wäre doch gut gewesen,
wenn unser Finanzmarkt besser reguliert gewesen wäre
und wir nicht ständig auf Luxemburg oder Irland verwiesen hätten.
Das gilt auch für das Steuersystem. Bloß weil andere
ihr Steuerrecht verkomplizieren, heißt das doch nicht,
dass wir das auch machen müssen. Schauen Sie sich
doch bitte noch einmal die Studie von Copenhagen Economics an. Darin steht sehr deutlich, dass man natürlich
in einem Bereich, in dem der Anteil der Schwarzarbeit
sehr hoch ist, steuerrechtlich eingreifen kann. In der Studie steht aber auch: Prüfen Sie bitte die Alternativen.
Dieser Punkt hat in Ihrer Argumentation wieder völlig
gefehlt. Ich möchte nur daran erinnern, dass dieses Haus
vor ganz kurzer Zeit im Konjunkturpaket I beschlossen
hat, dass Handwerkerleistungen in einem größeren Umfang steuerlich absetzbar sein sollen - diese Forderung
haben wir schon seit längerem erhoben -, damit in diesem Bereich gerade die energetische Modernisierung
stattfinden kann und dies auf legalem Wege erfolgt. Sie
haben nichts dazu gesagt, dass genau in diesem Bereich
schon etwas gemacht worden ist und was die sonstigen
Alternativen wären. Das war eine schwache Leistung.
Eine Frage ist auch: Gibt es eine weiter gehende Perspektive, die allgemein für die Märkte gilt? Wir Grüne
schlagen vor, gezielt im unteren Einkommensbereich die
Sozialabgaben zu senken. Das würde nicht nur einer bestimmten Gruppe, die gerade der FDP auffällt, sondern
allgemein der deutschen Wirtschaft eine Verbesserung
bringen und die Schwarzarbeit wirksam bekämpfen. Ich
wäre dankbar, wenn wir mehr ans Ganze denken würden
und nicht nur Teilbereiche im Blick haben.
Ich würde mich auch freuen - das richtet sich jetzt an
die Kollegen der Großen Koalition -, wenn man nicht
erst nach dreieinhalb Jahren Regierungsverantwortung
anfängt, große Ansagen für die Zukunft zu machen, Herr
Kollege Oswald, sondern sich einmal fragt, was in den
dreieinhalb Jahren gemacht wurde. Wir haben in einem
Arbeitsprozess angefangen, fraktionsübergreifend an
Fortschritten zur Änderung der Mehrwertsteuer zu arbeiten. Dieser Prozess ist leider etwas eingeschlafen. Ich
möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, daran weiterzuarbeiten, damit wir zu einer guten Reform des Gesamtsystems Mehrwertsteuer kommen.
Danke schön.
({5})
Manfred Kolbe spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Burgbacher, das war eine klassische
Lobbyrede,
({0})
mit der Sie der betroffenen Gruppe wahrscheinlich keinen großen Gefallen getan haben, weil dieses Manöver
zu durchsichtig war. Sogar der Kollege Wissing, der jetzt
neben Ihnen sitzt, machte ein etwas gequältes Gesicht
und hielt sich auch beim Beifall merklich zurück. Ich
habe das genau beobachtet. Das spricht für dich, Volker
Wissing.
({1})
Was wir brauchen, Herr Burgbacher, ist eine Gesamtkonzeption, statt jedes halbe Jahr - wenn auch vernünftige - Einzelanträge zu stellen.
({2})
Ich sage ja nicht, dass Ihr Antrag unvernünftig ist. Es hat
auch Anträge der Linken gegeben, den Mehrwertsteuersatz auf Waren und Dienstleitungen für Kinder sowie
Arzneimittel zu senken. Auch diese waren im Kern nicht
unvernünftig. Mir fallen Dutzende von Dingen ein, bei
denen der ermäßigte Mehrwertsteuersatz berechtigt
wäre. Aber am Ende müssten wir dann allen den ermäßigten Mehrwertsteuersatz mit der Konsequenz gewähren, dass wir diesen dann auf 19 Prozent erhöhen müssten. Damit wäre niemandem gedient. Wir brauchen also
ein Gesamtkonzept.
Wir geben zu, dass die bestehende Kasuistik nicht
mehr hinnehmbar ist. Ich zitiere nur einmal Nr. 22 dieser
20-seitigen Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände:
Johannisbrot und Zuckerrüben, frisch oder getrocknet, auch gemahlen; Steine und Kerne von Früchten
sowie andere pflanzliche Waren ({3}) der hauptsächlich zur
menschlichen Ernährung verwendeten Art, … ausgenommen Algen, Tange und Zuckerrohr
({4})
Das ist nur ein Auszug aus der Liste der Produkte mit ermäßigtem Mehrwertsteuersatz.
({5})
Es gibt ein Schreiben vom BMF, Frau Kressl, wonach
genießbare getrocknete Schweineohren, auch wenn als
Tierfutter verwendet, dem ermäßigten Umsatzsteuersatz
unterliegen, während getrocknete Schweineohren, die
nicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind,
({6})
unter den vollen Satz fallen. Das ist eine wahre Glanztat
Ihres Hauses. Das ist Stoff für Büttenredner im Karneval. Das müssen wir beenden.
({7})
Es bestehen auch gravierende Bewertungswidersprüche in dieser Liste: Warum werden Musik-CDs niedriger
besteuert als Babywindeln? Warum wird Tierfutter niedriger besteuert als Arzneimittel? Warum werden Hummer und Trüffel niedriger besteuert als Mineralwasser?
({8})
Dies gibt alles keinen Sinn mehr, und wir sind hier gefordert, zumal sich die Problematik laufend verschärft.
Jede Mehrwertsteuererhöhung - wir haben eine beschließen müssen - bedeutet natürlich eine Vergrößerung des Abstandes zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz.
Herr Burgbacher, nicht neue Ausnahmeregelungen
sind das Gebot der Stunde, sondern ein einfacheres und
leistungsgerechteres Steuersystem und auch Mehrwertsteuersystem.
({9})
Darüber müssen wir uns in der Tat ernsthaft Gedanken
machen. Einzelfalllösungen führen uns nicht weiter, so
berechtigt sie auch sein mögen. Die Gastwirte haben natürlich sehr gute Gründe.
({10})
Aber ich denke nur an die letzte Änderung, die wir hier
beschlossen haben. Seinerzeit haben wir den Mehrwertsteuersatz für Seilbahnen und Skilifte ermäßigt.
({11})
- Ich darf hier einmal ein Geheimnis ausplaudern: Das
war in der Großen Koalition nicht ganz unumstritten.
Aber hat uns dies weitergeführt? Ich glaube nicht, dass
wir die Probleme, die unser Mehrwertsteuersystem mit
sich bringt, dadurch gelöst haben.
Wenn wir jetzt die Mehrwertsteuer für Gaststätten senkten, bekämen wir neue Probleme; dann stünden uns Debatten über den ermäßigten Steuersatz für Luxusrestaurants im Gegensatz zum vollen Mehrwertsteuersatz bei
Medikamenten ins Haus. Dies ergäbe keinen Sinn, Herr
Burgbacher, das müssen auch Sie zugeben.
Wir brauchen also eine Gesamtlösung. Es ist allerdings an der Zeit, dass wir sie angehen. Das muss in der
nächsten Legislaturperiode passieren. Als Erstes sollten
wir darüber nachdenken, ob ein Katalog noch die richtige Lösung ist, Frau Kressl, oder ob es nicht andere Lösungen als diesen Katalog gibt. Ich sage Ihnen voraus,
dass jeder Katalog Wertungswidersprüche provozieren
wird. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch darüber
nachdenken, ob wir den ermäßigten Steuersatz wieder auf
den ursprünglichen Ansatz von 1968 zurückführen, nicht
mehr als das Existenzminimum zu privilegieren. Dann
könnten wir vielleicht sogar den allgemeinen Mehrwertsteuersatz senken. Eine konzeptionelle Gesamtlösung
muss in der nächsten Legislaturperiode gefunden werden, und dazu wünsche ich allen Fraktionen viel Erfolg.
Danke.
({12}) - Lothar
Binding [Heidelberg] [SPD]: Am besten, wir
fangen gleich an!)
Jetzt hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Besten Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Situation ist etwas anders, als Sie,
Herr Schick, sie dargestellt haben. Richtig ist natürlich,
dass unser Mehrwertsteuersystem keine Logik hat; dies
haben wir hier schon oft besprochen. Richtig ist auch,
dass das Ganze keinem sozialen Sinn mehr folgt. Wir haben schon gehört, dass Babywindeln voll besteuert,
Trüffel und Gänsestopfleber aber steuerlich subventioniert werden. Dies kann niemand ernsthaft wollen, und
die Bürgerinnen und Bürger fragen sich, warum so etwas
immer noch im Gesetz steht.
({0})
Herr Schick sagt, es könne nicht sein, dass Liberale
jetzt einen Einzelpunkt aufgriffen, wo doch die FDP immer gesagt habe, sie wolle eine Gesamtlösung.
({1})
Ich erläutere Ihnen, wie die Situation ist, im Übrigen
auch, was es mit der Wettbewerbssituation und der
Marktwirtschaft auf sich hat:
Nicht die FDP hat auf europäischer Ebene einen Finanzminister losgeschickt, der sich eines Sachverhalts
annimmt, den die Franzosen als ein Problem ansehen,
sondern es war ein sozialdemokratischer Finanzminister.
Er hat durch die Absenkung der Mehrwertsteuer für die
französischen Gastronomen eine Wettbewerbsverzerrung geschaffen. Die FDP fragt sich, ob man der deutschen Gastronomie diese Ungleichbehandlung zumuten
muss.
({2})
Ist es nicht eine patriotische Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass in der Wirtschaftskrise mittelständische Unternehmen von solchen Wettbewerbsverzerrungen befreit werden? Weil nicht wir, sondern Sie auf europäischer Ebene
verhandeln können - Sie stellen die Bundesregierung -,
fordern wir dasselbe Recht für Gastronomen in
Deutschland, das Sie auf europäischer Ebene geschaffen
haben. - Dies ist gemeint, Herr Kollege Schick, wenn
von fairen Wettbewerbsbedingungen gesprochen wird.
({3})
Sie sagen zu Recht, dass in dieser Legislaturperiode
in Sachen Reform des Mehrwertsteuersystems nichts
passiert sei. Das liegt an der Großen Koalition.
({4})
- Sie wissen, dass dies nicht stimmt. Wir haben im Finanzausschuss darauf gedrängt, dass es eine Selbstbefassung geben soll. Allerdings stand sie unter einem
schlechten Stern, weil die Koalition gesagt hat, man
könne zwar darüber reden, aber sie werde in dieser Legislaturperiode nichts ändern. Das liegt daran, dass Sie
sich auf nichts verständigen können. Die Wahrheit ist
doch, dass Sie auch in diesem Bereich reformunfähig
sind, weil Sie sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner
einigen können. Das muss man doch den Leuten in
Deutschland sagen.
({5})
Es tut sich nichts an einer wichtigen Reformbaustelle,
weil CDU/CSU und SPD nicht in der Lage sind, zusammen eine vernünftige Steuer- und Finanzpolitik zu machen. Das ist doch das Problem.
({6})
- Frau Kollegin Westrich, Sie haben gemeinsam mit Ihren SPD-Kollegen Ihr Wahlversprechen gebrochen und
der Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte
zugestimmt. Jetzt haben Sie auch noch gesagt, dass Steuersenkungen Subventionen seien. Damit entlarven Sie
im Grunde genommen Ihre Handlung und sagen, dass
Sie die Steuererhöhung gerne vorgenommen haben.
({7})
Die Wahrheit ist doch, dass dieses Mehrwertsteuersystem dringend reformiert werden muss. Man muss
doch ein klares System vorschlagen. Als die Vertreter
der Mineralbrunnen seinerzeit zu der Vorgängerin von
Frau Kressl kamen und gefragt haben, warum Mineralwasser nicht ebenso wie Lebensmittel mit einem verminderten Satz besteuert werden könnten, antwortete Frau
Hendricks damals: Dann sollen die Leute doch Milch
trinken. - Da versteht man, dass den Leuten in Deutschland irgendwann die Galle hochkommt; denn so viel
Milch verträgt man gar nicht.
({8})
Man muss eine klare Linie haben. Das bedeutet, dass
man sich nicht für eine volle Besteuerung der Gastronomie in Deutschland ausspricht, aber auf europäischer
Ebene dafür plädiert, die Gastronomie mit einem verminderten Steuersatz zu besteuern.
({9})
Wir fordern: Ein Konzept, das man in Deutschland
durchhalten will, muss auch auf europäischer Ebene gelten. Dieses Mindestmaß an Fairness muss man gegenüber den Menschen wahren. Das müssen sie erwarten
können.
Es ist schön, dass die Bundesregierung ihr Herz für
Frankreich entdeckt hat. Das ist ein schönes Land. Man
kann aber auch in der Pfalz gut essen, Frau Kollegin
Westrich, man muss nicht über die Grenze fahren. Aber
die Menschen in Deutschland fragen sich doch, wieso in
der Krise durch die Steuer- und Finanzpolitik unsere
französischen Nachbarn unterstützt werden und nicht
eine steuerliche Entlastung in der Bundesrepublik
Deutschland erfolgt. Das können Sie nicht erklären. Da
können Sie so tolle Reden halten, wie Sie wollen.
({10})
Wir fordern nichts anderes, als dass die Bundesregierung
die Wohltaten, die sie auf europäischer Ebene an mittelständische Betriebe verteilt - der Bundesfinanzminister
tut das für die französische Wirtschaft und die französische Gastronomie; anscheinend geht er gerne dort essen -,
({11})
auch in Deutschland verteilt. Das ist nicht durchzuhalten. Wir fordern gleiches Recht für alle. Wir fordern,
dass diese Bundesregierung nicht nur ein Herz für die
europäischen Nachbarn, sondern in erster Linie ein Herz
für Deutschland hat und dass sie sich um die Probleme
des deutschen Mittelstandes kümmert. Das haben Sie
versäumt. Die FDP fordert das ein.
({12})
Die Kollegin Gabriele Frechen hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich verstehe die Debatte über das, was unser
Finanzminister im Ecofin gemacht hat, überhaupt nicht.
Ob man einer Forderung des Europäischen Rates folgt
und den Weg dafür freimacht, dass die Länder selber entscheiden können, welchen Weg sie gehen wollen, ist
doch etwas anderes, als hier im Inland gezielt eine Maßnahme zu ergreifen, die man für unsinnig hält. Es kann
doch keiner verlangen, dass ein Finanzminister das
macht. Auch wir möchten das nicht. Im Ecofin-Rat
wurde den Ländern, die es wollen, jetzt die Möglichkeit
eingeräumt, die Mehrwertsteuer auf bestimmte Dienstleistungen und in bestimmten Sektoren zu ermäßigen.
Aber kein Land muss jeden Unfug, den andere Länder
wollen, mitmachen. Da hat Herr Schick völlig recht. Das
kann doch nicht gewünscht sein.
({0})
Wir haben bereits heute in den 27 Mitgliedstaaten
völlig unterschiedliche Mehrwertsteuersätze, völlig unterschiedliche ermäßigte Steuersätze und völlig unterschiedliche Handhabungen der Mehrwertsteuersätze.
Das rührt zum Teil aus alter Zeit, weil die Ermäßigungen
bzw. die Steuersätze Bestandskraft haben. Zum Teil hat
das eine oder andere Land auch von einer Übergangslösung Gebrauch gemacht, die in der Zwischenzeit angeboten wurde.
Aber bereits 2003 hat die Europäische Kommission
unsere, die deutsche Haltung bestätigt, dass die Weitergabe der steuerlichen Ermäßigung an die Verbraucher
keinesfalls gesichert werden kann, eher im Gegenteil.
Wie Frau Westrich zu Recht gesagt hat, subventionieren
wir damit den Umsatz und entlasten nicht den Verbraucher. Von einer positiven Lenkungswirkung ist ebenfalls
nicht auszugehen.
Jetzt komme ich auf die hiesige Mehrwertsteuer zu
sprechen. Nachdem wir eine Debatte darüber geführt haben, ob es sinnvoll ist, die Mehrwertsteuer auf Energiekosten zu senken, ob sie der Preistreiber in dem ganzen
Spiel ist, muss doch gerade die Entwicklung der Energiekosten wirklich auch dem letzten denkenden Menschen klargemacht haben, dass die Mehrwertsteuer das
Allerletzte ist, was bei der Preisbildung eine Rolle spielt.
({1})
Es gibt andere Dinge, die deutlich wichtiger sind, nämlich die Spanne zwischen „Das kann ich noch erzielen“
und „Das geht nicht mehr“. Diese Spanne ist bei der
Preisbildung wichtig, deutlich wichtiger als der Mehrwertsteuersatz.
Stichwort „rezeptfreie Medikamente/Arzneimittel“: Es
hat sich doch eindeutig gezeigt, dass Ihre Theorie nicht
stimmt. An dem Tag, an dem Ministerin Schmidt angekündigt hat, dass die preiswertesten Generika künftig
von der Zuzahlung befreit sind, purzelten die Preise; die
Anbieter übertrafen sich gegenseitig. Warum? Weil jedes
Pharmaunternehmen ein Stück vom Kuchen haben
wollte, zur Not unter Inkaufnahme einer geringeren Gewinnspanne. Was hat das mit der Mehrwertsteuer zu tun?
Die Mehrwertsteuer ist bei allen Generika die gleiche.
Ich spreche nur von Dingen, die im Inland gehandelt
werden. Für das gleiche Schmerzgel zahlt man zwischen
6,41 Euro und 13,48 Euro, und das bei einem gleichen
Mehrwertsteuersatz.
Wir haben die Handwerksleistungen auf eine ganz andere Art und Weise gefördert. Dazu brauchten wir keine
Mehrwertsteuersenkung. Bei uns können die Kosten für
handwerkliche und haushaltsnahe Leistungen direkt von
der Steuer abgezogen werden. Finden Sie etwas Vergleichbares im europäischen Ausland! Unsere Lösung
hat für mich den zusätzlichen Charme, dass sie Schwarzarbeit verhindert, was durch eine Senkung der Mehrwertsteuer nicht erreicht wird.
({2})
Wenn der Handwerker die berühmte Frage stellt: „Brauchen Sie eine Rechnung?“, und der Kunde das verneint,
dann merkt er doch nicht, ob ihm 7 Prozent oder 19 Prozent Mehrwertsteuer nachgelassen werden. Ich halte unsere Lösung also für besser. Gegen Vorlage der Rechnungen einen Steuerabzugsbetrag von maximal 4 000
oder 1 200 Euro gewährt zu bekommen, das ist wie bares
Geld. Keine Rechnung zu erhalten, ist etwas anderes.
Zu den Restaurants. Wir haben eben spekuliert, ob
Nachmittagsflüge von Berlin nach Frankreich angeboten
werden, weil das Mittagessen dort preiswerter ist, wenn
dort die Steuern gesenkt werden.
({3})
- Doch, ich habe Ahnung. Ich komme aus Süddeutschland.
({4})
- Genau, mit gutem Essen kenne ich mich aus. Ich
komme aus Süddeutschland.
({5})
Sie glauben doch nicht, dass jemand aus dem Rebland
zum Essen 100 Kilometer nach Colmar und wieder zurück fährt, weil in Colmar der Steuersatz niedriger ist.
Ich möchte den Badener sehen, der zum Essen statt ins
Rebland nach Colmar fährt.
({6})
Wegen der Beseitigung von Wettbewerbsnachteilen
wollen Sie die Steuerermäßigung zugegebenermaßen eigentlich nur für Gastronomen in grenznahen Bereichen.
Ich meine, der Gastronom in Mecklenburg-Vorpommern
braucht keine Steuerermäßigung, weil das Essen in
Straßburg preiswerter ist.
({7})
Erzählen Sie mir nichts! Aber was machen wir denn mit
der Konkurrenz zwischen Straßburg und Karlsruhe? Die
Baden-Badener sind näher an der Grenze als die Karlsruher. Es könnte also zu einem innerdeutschen Wettbewerbsnachteil kommen.
Zum Schluss möchte ich noch etwas zu den Hotels sagen. Eine Ferienwohnung in Zinnowitz kostet im Februar 273 Euro und im Dezember 511 Euro. Der Preisunterschied liegt nicht an der Mehrwertsteuer und auch
nicht an den Heizkosten; in Zinnowitz muss im Februar
und im Dezember gleichermaßen geheizt werden.
Frau Kollegin!
Eltern mit schulpflichtigen Kindern wissen, woran es
liegt: Es liegt nicht an der Mehrwertsteuer, sondern an
der Gewinnspanne in der jeweiligen Saison; ich habe
eben darauf hingewiesen.
({0})
Frau Kollegin, Sie hatten Ihre Rede bereits beendet.
Entschuldigung, noch einen Satz von Heinz Erhardt
in Richtung FDP:
Manche Menschen wollen glänzen, obwohl sie keinen blassen Schimmer haben.
({0})
Der Kollege Klaus Brähmig hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2008 hatte der Bundeshaushalt ein Volumen von 288 Milliarden Euro. Auf der Einnahmeseite
standen 94 Milliarden Euro Mehrwertsteuer; das sind
etwa 28 Prozent. In der aktuellen Diskussion wird mir
manchmal schwummerig, wenn ich so höre, was wir alles auf breiter Front senken wollen, ohne dass einmal offen darüber gesprochen wird, dass wir das letztendlich
gegenfinanzieren müssen, also entsprechende Einnahmen generieren müssen. Das dürfen wir nicht außer Acht
lassen.
Das Thema, über das wir heute debattieren - es ist
nicht das erste Mal; ich bin ganz sicher, dass es für die
nächsten Wochen und Monate auch nicht das letzte Mal
sein wird -, eignet sich nicht für Populismus. Wichtig
wird sicherlich sein, dass es nach dem Ende dieser Legislaturperiode zu einem Kassensturz kommt und die
dann Regierenden eine Bewertung vornehmen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich in den
letzten Jahren immer für den Abbau von Wettbewerbsverzerrungen eingesetzt, auch von solchen in den Bereichen Tourismus, Gastronomie und Hotellerie, und sich
ganz massiv für die Harmonisierung innerhalb Europas
engagiert. Ich bin sehr froh darüber, dass im Augenblick
diese Diskussion stattfindet; denn das gibt uns die Möglichkeit - es setzt uns natürlich auch unter Druck -, etwas in dieser Richtung zu tun, nicht nur darüber zu sprechen, sondern auch konstruktive Vorschläge vorzulegen
und dann umzusetzen.
Ich kann mich gut daran erinnern, Frau Kressl, dass
wir vor nicht allzu langer Zeit mit Frau Faße bei Ihnen
im Ministerium waren. Die Branche animiert uns Fachpolitiker ja ständig, Vorschläge zu unterbreiten. Ich hätte
mir gewünscht, dass der Finanzminister, wenn er in
Brüssel schon zustimmt - wie uns allen bekannt ist, ist ja
Einstimmigkeit notwendig -, für Deutschland vorgibt,
wie wir es mit den ausgewählten Branchen halten wollen. Der Anspruch der Branche, der Hotellerie und Gastronomie, ist durchaus berechtigt. Es geht nämlich darum, die Wettbewerbsverzerrungen innerhalb Europas,
lieber Ernst Burgbacher, abzubauen
({0})
und den Standort Deutschland nicht zu benachteiligen.
Wir werden uns in der Diskussion und in den Beratungen der nächsten Wochen und Monate etwas einfallen
lassen müssen. Ich bin sehr sicher, dass wir beide Ansprüche berücksichtigen können.
Man muss wissen, dass die Mehrwertsteuer gerade für
die Preiskalkulation in der Gastronomie ein ganz wichtiger Punkt ist. Die Waren werden mit 7 Prozent Mehrwertsteuer eingekauft und mit 19 Prozent Mehrwertsteuer
weitergegeben. Deshalb kann man einen Gastronomiebetrieb fast als kleines Finanzamt ansehen; denn man leistet
dort durchaus eine wichtige Arbeit für den Staat.
Da bin ich durchaus bei der Position der FDP. Wir als
Tourismuspolitiker haben gemeinsam mit Ernst Hinsken
in den letzten Wochen immer wieder vorgebracht, dass
wir das vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Ich
schließe mich da meinen Vorrednern an. Dieser Katalog
bringt Kuriositäten mit sich, und das macht überhaupt
keinen Sinn. Das ist einer der ersten Punkte, die so
schnell wie möglich in Ordnung gebracht werden müssen.
Ich will ergänzend nur noch einige Beispiele anführen: ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Hausschweine,
normaler Mehrwertsteuersatz für Wildschweine; ermäßigter Satz für Kartoffeln aller Art, normaler Satz für
Süßkartoffeln; ermäßigter Satz für Tomatenmark und
Tomatensaft, normaler Satz für Tomatenketchup und Tomatensoße. Ein ganz tolles Beispiel ist folgendes: Pilze
und Trüffel, ohne Essig haltbar gemacht: ermäßigter
Mehrwertsteuersatz; Pilze und Trüffel, mit Essig haltbar
gemacht: normaler Mehrwertsteuersatz.
({1})
Diese Liste ließe sich unendlich fortführen.
Meine Vorredner haben deutlich gemacht, dass in vielfältiger Weise dringender Handlungsbedarf besteht und
entsprechende politische Maßnahmen getroffen werden
müssen.
Ich will noch ganz kurz auf Folgendes eingehen: Die
Regierungschefs werden ja heute oder morgen in Brüssel
eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung treffen. Ich denke, sie wird derjenigen ähneln, die die Finanzminister getroffen haben. Danach muss von Brüssel
die entsprechende Richtlinie erarbeitet werden. Erst
dann beginnt bei uns die Umsetzung im Parlament, sofern wir die Mehrheiten dafür organisieren.
Ich selber werde mich im Rahmen der Arbeitsgruppe
Tourismus mit den Branchenvertretern in den nächsten
Wochen zusammensetzen, damit es - das ist ganz wichtig - nicht nur dazu kommt, dass wir die Lippen spitzen,
sondern auch dazu, dass wir pfeifen.
({2})
Herr Kollege!
Das Thema muss in die Wahlprogramme der Parteien
aufgenommen werden; nur dann besteht die Chance,
dass es Eingang in einen Koalitionsvertrag findet und im
Jahre 2010 auch in die Praxis umgesetzt werden kann.
Vielen Dank.
({0})
Für die Bundesregierung erteile ich das Wort der Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette Kressl.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zuerst kurz auf einige wenige Beiträge aus
der bisherigen Debatte eingehen.
Erstens will ich noch einmal ganz deutlich machen,
wie dieser Kompromiss zustande gekommen ist: Alle
konnten im Dezember nachlesen, dass nach sehr langer
Debatte auf europäischer Ebene die Kanzlerin und Herr
Sarkozy bei einem Treffen der Regierungschefs miteinander vereinbart haben, in dieser Frage einen Kompromiss zu schließen. Wir stehen zu diesem Kompromiss.
Ich halte es aber nicht für zulässig, den Anteil daran nur
einem Teil der Regierung zuzuordnen, wie es gerade
teilweise passiert ist.
Zweitens. Herr Kolbe, Sie haben ja recht, dass es sich
einem, wenn man sich den Inhalt der Schreiben des
BMF vor Augen führt, geradezu aufdrängt, dass es zu
Veränderungen kommen muss. Sie haben dann weiterhin
gesagt, das sei eine Glanzleistung unseres Hauses gewesen. Hier möchte ich einem Missverständnis vorbeugen:
Ich weiß zwar, dass der Begriff „BMF-Schreiben“ immer den Eindruck vermittelt, es handle sich um ein
Schreiben des Bundesfinanzministeriums. Das ist aber
nicht so. Das wissen Sie wahrscheinlich. Hier geht es um
eine Verwaltungsanordnung, die auf der Zustimmung einer Mehrheit der Bundesländer beruht. Ich will das nur
noch einmal deutlich machen, damit nicht falsche Töne
in die Debatte kommen. Das bedeutet also nicht, dass
wir alles inhaltlich richtig finden,
({0})
sondern vielmehr, dass wir uns darum kümmern müssen,
hier zu einer noch größeren Vereinheitlichung zu kommen.
Meine dritte Anmerkung betrifft die Ehrlichkeit in
dieser Debatte, insbesondere vonseiten der FDP: Wer
mehr Vereinheitlichung fordert, aber nicht zugleich alles
mit dem halben Mehrwertsteuersatz belegen will, darf
nicht den Parteien und Fraktionen, die sich für eine entsprechende Vereinheitlichung einsetzen, vorwerfen, sie
erhöhten die Steuern. Ich ahne, wie Sie im Zweifel den
Parteien, die sich auf diesen Weg machen, die Worte im
Mund umdrehen. Die Ehrlichkeit gebietet es, in einer
Debatte nicht nur schön über Systematik zu reden, sondern auch zu sagen, auf was man sich einlässt.
({1})
Es ist so - wir haben es gehört -, dass das Experiment
„ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensive
Dienstleistungen“ auf europäischer Ebene für all die
Mitgliedstaaten dauerhaft nutzbar wird, die es wollen.
Nicht ohne Grund hat sich mittlerweile aber eine zunehmende Zahl von Mitgliedstaaten der Protokollerklärung
angeschlossen und gesagt, dass sie das Instrument nicht
nutzen werden. Das macht, wie ich glaube, auch Sinn.
Hier vorschnell zu entscheiden - bei manchen Redebeiträgen hatte ich diesen Eindruck -, wäre unüberlegt. Da
bin ich mir sicher.
Die Prüfung der Mitgliedstaaten, ob sie diesen Weg
mitgehen, sollte dabei unter dem Motto stehen: Bedenke
die Wirkung! Manche sagen ja, dass die einzige Wirkung, die in diesem Fall sicher ist, die ist, dass es zu
Steuermindereinnahmen kommt. Die Auswertung der
europäischen Experimente hat doch gezeigt - ich sage
dazu in Klammern: das deutet sich ja offensichtlich auch
bei den Bergbahnen an -,
({2})
dass die Vorteile von im Laufe der Zeit reduzierten
Mehrwertsteuersätzen so gut wie nie dauerhaft an die
Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden.
({3})
Herr Burgbacher und Herr Wissing, bis heute hatte
ich noch geglaubt, dass auch Sie der Meinung sind, dass
die Einsparung an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben werden sollte.
({4})
Davon haben Sie aber in keinem Ihrer Redebeiträge gesprochen. Sie haben ausschließlich über den Gewinn in
der Gastronomie gesprochen. Wir sollten noch einmal
genau nachlesen, was Sie heute hier gesagt haben.
({5})
Die Aussage, dass noch nie eine Steuerersparnis an
die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben
worden ist, ist nicht einfach nur dahergesagt. Es gibt
mehrere Studien dazu. Ich will nur kurz auf zwei eingehen. Die Europäische Kommission konnte 2003 in ihrer
Evaluierung dieser „Experimente“ weder eine positive
Wirkung auf die Arbeitsplätze noch eine Eindämmung
der Schwarzarbeit feststellen. In der gleichen Studie
wird ergänzt, dass mit einem Einsatz von Haushaltsmitteln, die beispielsweise zur Senkung von Arbeitskosten
verwendet werden, eine deutlich bessere Wirkung auf
die Arbeitsplätze erzielt werden kann als mit reduzierten
Mehrwertsteuersätzen.
Herr Schick hat es schon erwähnt: 2007 gab es auf
europäischer Ebene die Studie des Kopenhagener Økonomisk Instituts, in der deutlich festgestellt wird, dass
ermäßigte Mehrwertsteuersätze das am wenigsten geeignete Mittel zur Verfolgung von Lenkungs- oder Entlastungszielen sind
({6})
und dass eine direkte Förderung in jedem Fall besser ist.
Das lässt mich den Bogen schlagen zu der Tatsache,
dass die Bundesregierung und die beiden Koalitionsfraktionen genau diesen Weg beispielsweise bei der Absetzbarkeit von Handwerksleistungen von der Steuerschuld
- in dieser Legislaturperiode wurde der entsprechende
Betrag verdoppelt - gegangen sind. Dies hat eine doppelte zielgenaue Wirkung: Zum einen bekommen die
Handwerker mehr Aufträge - alle Beteiligten haben gesagt, dass diese Maßnahme zu einer Verbesserung der
Auftragslage geführt hat -, und zum anderen werden die
Menschen nachvollziehbar und von uns überprüfbar entlastet. Das wäre bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen völlig anders.
Lassen Sie mich noch kurz auf die Steuermindereinnahmen eingehen, die sich mit Sicherheit ergeben würden. Sie würden im Bereich der kleinen Reparaturleistungen 230 Millionen Euro betragen, 640 Millionen Euro
bei Friseurdienstleistungen und geschätzte 3,7 Milliarden Euro im Bereich der Restaurantdienstleistungen.
({7})
In einem ersten logischen Denkschritt können wir davon
ausgehen, dass die Steuerersparnis nicht weitergegeben
wird. In einem zweiten logischen Denkschritt können
wir erwarten, dass es Steuermindereinnahmen gibt. Dies
führt uns zu einem dritten logischen Denkschritt, nämlich dass wir diese Mindereinnahmen an anderer Stelle
kompensieren müssen. Das belastet aber auch die Menschen, die nicht entlastet worden sind.
({8})
Das ist eine doppelte Bestrafung und somit nicht der
richtige Weg.
({9})
Ich will ganz deutlich sagen: Die Erkenntnis, dass
branchenbezogene Ausnahmen nicht der richtige Weg
sind - auch die Bundeskanzlerin hat deutlich gemacht,
dass sie es für falsch hält, in dieser Legislaturperiode
noch ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen -,
hat sich in der Bundesregierung durchgesetzt. Diese Einsicht ist aber nicht nur in der Bundesregierung vorhanden. Ich freue mich darüber, dass der Deutsche Industrie- und Handelskammertag eine differenzierte
Stellungnahme dazu abgegeben hat. Er ist der Meinung,
dass dies kein Weg ist, den man wirklich gehen sollte.
Ich bin der Überzeugung: Wenn man auf Schnellschüsse verzichtet, ehrlich ist und die von mir vorhin erwähnten logischen Denkschritte geht, dann kommen wir
am Ende der Debatten sicherlich zu dem Ergebnis, dass
der von Ihnen vorgeschlagene Weg zur Entlastung des
Mittelstandes und der Verbraucher, die wir wollen,
falsch ist.
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Eckhardt Rehberg spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Wenn man ernst nimmt, was die Europäische
Union zum Thema Mehrwertsteuer beschlossen hat,
dann stellen sich neue Fragen: Was sind kleinere Reparaturdienstleistungen an Fahrrädern? Was umfasst die Renovierung von und Reparaturen in Privatwohnungen mit
Ausnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil
des Wertes der Dienstleistung ausmachen? Herr Kollege
Burgbacher, schaffen wir hier das nächste Problem? Herr
Kollege Burgbacher, wenn Sie die Gastronomiee im
Blick haben, dürfen Sie das Beherbergungsgewerbe
nicht vergessen.
({0})
Wir schaffen damit für weitere Bereiche Bedingungen,
wie es sie heute zum Beispiel im Fleischerfachgeschäft,
im Bäckerladen oder bei McDonald’s gibt. Derjenige,
der bei McDonald’s mit dem Auto vorfährt, zahlt eine
Mehrwertsteuer von 7 Prozent, derjenige, der innen isst,
eine Mehrwertsteuer von 19 Prozent. Ich weiß nicht, wo
an dieser Stelle die Differenz von 12 Prozent bleibt.
({1})
Wenn wir uns diesem Thema ernsthaft widmen wollen,
eine Regelung das Hotel- und Gaststättengewerbe umfassen soll und keine neue Bürokratie aufgebaut werden
soll, dann muss man an dieser Stelle beides ohne Wenn
und Aber zusammenpacken.
({2})
Herr Kollege Burgbacher, Sie haben sehr stark auf die
europäische Gastronomie abgehoben. Im Süden gibt es
- das gebe ich zu - ein ungeheueres Problem. Ich möchte
aber nicht, dass in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen der gleiche Mehrwertsteuersatz wie in Dänemark und Schweden gilt. Dieser
liegt nämlich in diesem Bereich bei 25 Prozent. Wenn
wir uns dieses Themas annehmen - das ist meine klare
Position als Wirtschaftspolitiker -, dann müssen wir das
gesamtheitlich und ohne Schnellschüsse regeln.
({3})
Wir müssen insbesondere die Dummheiten, die es beim
Thema Mehrwertsteuer gibt - ich habe einige beschrieben; man könnte weitere beschreiben -, beseitigen. Das
Grundprinzip muss sein: weniger Bürokratie.
({4})
Frau Staatssekretärin, ich bin völlig Ihrer Meinung: Es
wird eine spannende Debatte geben, zum Beispiel zum
Stichwort „Tierfutter“. Was machen wir mit den dort
geltenden 7 Prozent, wenn wir ein Gesamtkonzept angehen?
Ich will aber die Baustellen des Mittelstandes beschreiben, die den Mittelstand im Augenblick besonders
bedrücken. Das ist das Thema Zinsschranke.
({5})
Das ist die Anrechnung der Kosten für Mieten, Leasing
und Pachten bei der Gewerbesteuer.
({6})
Das ist das Thema Verlustvorträge. Hier kann ich an die
Kolleginnen und Kollegen der SPD nur appellieren, ihre
Blockadehaltung aufzugeben; denn das sind gerade in
dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit Baustellen für den
Mittelstand.
({7})
Diese Baustellen müssen wir beheben. Die eine oder andere Unwucht, die es bei der Unternehmensteuerreform
gegeben hat, müssen wir noch vor der Sommerpause beheben;
({8})
denn wir werden danach keine Zeit mehr haben. Ich sage
Ihnen voraus - jetzt komme ich wieder zum Gastronomie- und Hotelbereich -: Gerade die Anrechnung der
Kosten für Mieten, Leasing und Pachten im Gewerbesteuerbereich ist ein wesentliches Problem, auch für den
Einzelhandel.
({9})
Die Herabsetzung auf eine Anrechnung von 65 Prozent
bei Immobilien ist nicht ausreichend. Da müssen wir
deutlich unter 50 Prozent gehen.
({10})
Für die Zukunft ist auch die Frage berechtigt, was die
Ansatzpunkte sind, um Nachfrage zu generieren. Wir haben in dieser Legislaturperiode einiges getan, gerade
beim Konjunkturpaket II. Ich möchte an die Aufstockung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von handwerklichen Leistungen, aber auch von haushaltsnahen Dienstleistungen und Kinderbetreuungskosten erinnern. Ich
erinnere an die degressive AfA. Wenn man dies alles betrachtet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass wir
eine Menge getan haben, um den Mittelstand zu stärken.
Wir alle sollten uns darüber klar sein - dies möchte ich
betonen -, dass all dies Steuermindereinnahmen bewirkt.
Aber volkswirtschaftlich gesehen rechnet es sich langfristig.
Ich bin sehr dafür - ich sage das für die Wirtschaftspolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion -:
({11})
- Die gibt es schon. - Wir brauchen ein Gesamtkonzept,
was die Mehrwertsteuer betrifft. Wir brauchen insbesondere weniger Bürokratie. Wir brauchen eine Vereinfachung. Ich sage ausdrücklich: Arbeitsintensive Dienstleistungen dürfen nicht mit einem ermäßigten
Mehrwertsteuersatz belegt werden, während möglicherweise auf der Gegenseite die steuerliche Abzugsfähigkeit von handwerklichen Dienstleistungen wegfällt. Wir
müssen uns sehr gut überlegen, was wir machen.
Wir sollten uns vor Schnellschüssen, vor Aktionismus
hüten. Herr Kollege Burgbacher, es wird nicht auf fruchtbaren Boden fallen, wenn man nur eine Branche - und
dann noch selektiv die Gaststätten und nicht die Hotels im Blick hat.
Danke schön.
({12})
Die letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde ist die
Kollegin Simone Violka für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Manchmal staunt man ja: Die FDP hat endlich
die richtungsweisende Kompetenz Europas entdeckt! Ich
hätte mir gewünscht, dass die FDP genauso vehement
für die Einführung der Antidiskriminierungsrichtlinie in
Deutschland eingetreten wäre. Auch das war eine europäische Entscheidung. Damals hat die FDP aber mit Vehemenz dafür geworben, dass man sie nicht umsetzt. Sie
hat gesagt: Man sollte das nicht machen. Man sollte sich
ein Hintertürchen offen lassen.
Nun hat die FDP plötzlich die richtungsweisende
Kompetenz von Europa entdeckt. Dabei stimmt das an
dieser Stelle noch nicht einmal. Es geht lediglich darum,
einen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen jedes Mitgliedsland nach eigenem Ermessen entscheiden kann,
was es umsetzen will und was nicht. Aber es müssen
Rahmenbedingungen gesetzt werden. Dann darf man
auch keine Rosinenpickerei betreiben, wie es die FDP
tut.
Ich nehme Frankreich einmal als Beispiel. Natürlich
muss man fragen, ob die Höhe der Mehrwertsteuersätze
zukünftig der einzige Unterschied zu Deutschland sein
soll oder ob auch andere Rahmenbedingungen zu beachten sind. Ich würde mir wünschen, dass die FDP sagt:
Frankreich hat den Mindestlohn. Lasst ihn uns in
Deutschland einführen, damit alle die gleichen Möglichkeiten haben. - Das sehe ich noch nicht.
({0})
Dieses Verhalten passt zur FDP. Im Landtag von
Sachsen hat die FDP in der letzten Woche noch vehement dafür geworben, den Schülerverkehr kostenlos anzubieten. In dieser Woche hat die FDP im Kreistag von
Zwickau aber selbst dagegen gestimmt.
({1})
Das war ein SPD-Antrag. Wenn die FDP das möchte,
dann muss sie das auf allen Ebenen durchhalten, dann
kann sie nicht da, wo sie in der Opposition ist, Forderungen aufstellen, und sich dort, wo sie die Möglichkeit hat,
etwas zu entscheiden, zurückziehen, weil das Geld kostet. So kann man doch keine Politik machen.
({2})
Herr Wissing, Sie haben recht: Das Steuersystem ist
nicht logisch. Aber woran liegt das denn? Als es eingeführt wurde, hatte es noch eine gewisse Logik. Dank des
Lobbyismus ist es in vielen Jahren und Jahrzehnten zu
dem geworden, was es heute ist: eine recht unlogische
Geschichte, die an vielen Stellen hinkt. Die FDP war
viele Jahre lang an der Regierung beteiligt und ist daher
mit dafür verantwortlich, dass Lobbyisten ihre Vorstellungen durchsetzen konnten.
({3})
Das darf man doch nicht vergessen.
Natürlich entwickelt sich die Welt weiter, auch
Deutschland. Als man die Regelungen eingeführt hat,
gab es verschiedene Dinge noch nicht. Deshalb konnten
sie nicht aufgeführt werden. Mein Lieblingsbeispiel in
diesem Zusammenhang ist der Vergleich zwischen Hörbuch und Buch. Als der ermäßigte Mehrwertsteuersatz
bei Büchern eingeführt wurde, gab es noch keine Hörbücher. Ich gebe Ihnen recht: Das sollte man auf den Prüfstand stellen und vergleichen, was vergleichbar ist. Dabei kann man durchaus zu der Erkenntnis kommen, dass
man einiges ändern muss. Zum Beispiel kann man zu der
Erkenntnis kommen, dass Hörbücher wie Bücher besteuert werden sollen. Dafür bin ich offen.
Eine Harmonisierung bedeutet aber, dass es Plus und
Minus gibt. Man darf also nicht sagen, dass alles, was
von Lobbyisten bisher erkämpft worden ist, sozusagen
eine Eule auf der Stirn trägt und nicht angefasst werden
darf, dass also nur neue Sachverhalte aufgenommen
werden dürfen. Dann muss ich vielmehr auch bereit sein,
die Eulen abzunehmen und die Dinge neutral zu betrachten.
({4})
Als das versucht worden ist, war es aber die FDP, die
hier lautstark von Steuererhöhungen gesprochen hat.
({5})
- Nein, das ist nicht richtig. Es ging darum, zu schauen,
ob die Regelung im Sinne des Gesetzgebers ist.
({6})
- Nein, das war kein Überraschungsei. Dabei ging es um
viele Punkte. - Damals hat uns die FDP als erste vorgehalten, der Staat wolle durch die Hintertür Steuererhöhungen durchsetzen.
({7})
Sie können doch nicht sagen: Wir wollen Harmonisierung - aber nur dann, wenn der Steuersatz nach unten
geht.
Wenn man so etwas vorhat - diesbezüglich bin ich
mit vielen Kolleginnen und Kollegen d’accord -, muss
auch die eine oder andere politische Entscheidung getroffen werden. Viele meiner ostdeutschen Kolleginnen
und Kollegen aus der SPD zum Beispiel haben gesagt:
Jawohl, wir möchten, dass bei der Schulspeisung der ermäßigte Steuersatz zur Anwendung kommt, weil die
Schulspeisung eben nicht in Konkurrenz zu den Gaststätten steht, sondern eher zu der Streuselschnecke vom
Bäcker, für die der ermäßigte Steuersatz gilt. Wenn wir
für unsere Kinder und Jugendlichen etwas machen wollen, dann gehört dazu, dass wir ein bezahlbares, gesundes und möglichst abwechslungsreiches Mittagessen anbieten. Ich glaube, das ist eine wichtige Forderung.
Da Sie so extrem auf den Einfluss der Mehrwertsteuer
auf die Preisfindung im Gaststättenbereich abstellen,
muss ich fragen, warum es in Berlin bei einer Tasse Kaffee eine Preisspanne von etwa 1 Euro bis 2,70 Euro - der
Preis kann auch etwas darunter oder darüber liegen gibt. Mir ist nicht bekannt, dass es in Berlin nach Bezirken geordnet verschiedene Mehrwertsteuersätze gäbe.
Diese Preisspanne hängt vielmehr mit Verdienst, mit
Miete, mit Nebenkosten und mit dem Standort zusammen und erst an letzter Stelle mit der Mehrwertsteuer,
zumal dann, wenn der Rahmen vergleichbar ist.
Man kann nicht einfach nur auf Frankreich verweisen; der Kollege hat es gesagt. Schauen wir einmal, wie
es in den skandinavischen Ländern gehandhabt wird. Diese Beispiele nennen Sie komischerweise nicht; die
lassen Sie außen vor.
({8})
Ich glaube, dass wir alle uns zusammensetzen und völlig
emotionslos und unabhängig von Lobbyismus oder sonst
etwas darüber reden müssen.
({9})
Wenn man ein vernünftiges System einführen möchte,
sollte dies ohne Lobbyismus und vor allen Dingen ohne
eine Gewinnoptimierung auf Staatskosten, wie Sie es
heute eingefordert haben, geschehen.
({10})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen ({0})
- Drucksache 16/12254 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Hierzu ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2008 entschieden, dass Beiträge zu privaten Kranken- und Pflegeversicherungen bei der Einkommensteuer berücksichtigt werden müssen. Das ist heute noch nicht der Fall.
Die Bundesregierung legt daher den Entwurf eines Bürgerentlastungsgesetzes vor. Durch die Neuregelung werden die Menschen in unserem Land ab 2010 um knapp
9,5 Milliarden Euro zusätzlich steuerlich entlastet. Die
hiermit freigesetzte Kaufkraft wird unsere Wirtschaft neben den beiden bereits verabschiedeten Konjunkturpaketen zusätzlich stimulieren können.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass alle Aufwendungen
des Steuerpflichtigen für eine normale Kranken- und
Pflegepflichtversicherung künftig steuerlich berücksichtigt werden. Angesetzt werden allerdings nur diejenigen
Krankenversicherungsbeiträge, die für eine medizinische Grundversorgung mit modernen und wissenschaftlich anerkannten Behandlungs- und Heilmethoden gezahlt werden. Diese Beitragsanteile sind künftig
unbegrenzt abziehbar.
Die Beitragsanteile für eine Komfort- oder Luxusversorgung hingegen können nicht steuerlich berücksichtigt
werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht gefordert, und wir haben ausdrücklich entschieden, dass
wir das aus gutem Grunde nicht tun. Denn es liegt auf
der Hand, dass der Allgemeinheit der Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler nicht zugemutet werden darf, für teure,
medizinisch nicht notwendige Zusatzleistungen in den
gemeinsamen Steuertopf einzahlen zu müssen.
({0})
Von dieser finanzwirtschaftlichen Sichtweise einmal abgesehen wäre es auch sehr ungerecht; denn begünstigt
würden nur diejenigen, die sich die zum Teil sehr hohen
Beiträge für solche Tarife leisten können. Das will die
Bundesregierung nicht. Daher sieht der Gesetzentwurf
vor, dass eine Aufteilung der Beiträge erfolgen muss.
Auch wenn der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts sich ausschließlich auf die Beiträge eines privat
Versicherten bezogen hat, gelten diese Neuregelungen
gleichermaßen für gesetzlich wie privat Kranken- und
Pflegeversicherte. Es war eine für uns selbstverständliche politische Entscheidung, zu sagen, dass auch die
Beiträge zu gesetzlichen Krankenversicherungen steuerlich entsprechend berücksichtigt werden.
Wir wollen ausdrücklich, dass auch die Beiträge des
Steuerpflichtigen für seinen in der gesetzlichen Krankenversicherung mitversicherten Ehegatten bzw. seinen
eingetragenen Lebenspartner und seine Kinder erfasst
werden. Insoweit sieht der Gesetzentwurf keine Begrenzung der Beiträge vor. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass gerade Familien für ihre Absicherung oft höhere Beiträge leisten müssen. Wie bei der
Berücksichtigung von Beiträgen zum Aufbau einer Basisversorgung im Alter werden nur die vom Steuerpflichtigen tatsächlich geleisteten Beiträge angesetzt.
Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich
hohe Belastungen auch durch entsprechend hohe Abzugsbeträge auswirken müssen.
Damit es im Vergleich zum geltenden Recht in Einzelfällen nicht zu Benachteiligungen kommt, ist im Gesetzentwurf bis zum Jahr 2019 eine Günstigerprüfung
vorgesehen. Insgesamt ist für den Steuerpflichtigen mindestens der Betrag als Vorsorgeaufwendungen absetzbar,
der auch nach geltender Rechtslage angesetzt werden
kann.
({1})
Durch die Günstigerprüfung wird das bisherige
Recht, vereinfacht gesprochen, konserviert. Es wird in
jedem Einzelfall geprüft, ob für den Steuerpflichtigen
die Anwendung des bisherigen oder des neuen Rechts
günstiger ist. Diese Prüfungen nimmt das Finanzamt von
Amts wegen vor. Der Steuerpflichtige muss in seiner
Einkommensteuererklärung lediglich die Höhe der von
ihm geleisteten Vorsorgeaufwendungen angeben.
Sehr geehrte Damen und Herren, natürlich wird diese
Neuregelung auch im Lohnsteuerverfahren berücksichtigt. So können entsprechende Beiträge ab dem 1. Januar
2010 bei der Ermittlung der Lohnsteuer angesetzt werden. Die Lohnsteuerpflichtigen werden also sofort steuerlich entlastet.
Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass das Bürgerentlastungsgesetz zu Entlastungen der Bürgerinnen und
Bürger in einem Umfang von rund 9,5 Milliarden Euro
führt. Begünstigt werden zu einem großen Teil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; das Volumen ihrer Entlastung beträgt rund 7,2 Milliarden Euro. Das ist, wie ich
finde, ein wichtiger Hinweis, weil oft der Eindruck entstanden ist - er ist falsch -, als würde dieses Gesetz nur
zu Entlastungen beispielsweise für Selbstständige führen.
({2})
Auch Beamte und Selbstständige werden deutlich
entlastet, Beamte im einem Umfang von 0,5 Milliarden
Euro, Selbstständige um rund 1,6 Milliarden Euro. So
viel weniger Steuern müssen sie in Zukunft zahlen bzw.
so viel mehr Geld haben sie dann zur Verfügung. Ich
hoffe, dass wir nach den Beratungen im Parlament, nach
dem parlamentarischen Verfahren und nach der Anhörung in der zweiten und dritten Lesung zu einer großen
Mehrheit für diese Entlastungen für die Menschen im
Land kommen werden.
Vielen Dank.
({3})
Carl-Ludwig Thiele spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Dieses Gesetz trägt das Wort
„Entlastung“ in seinem Titel. Es führt aber nicht für alle
Bürger zu der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Entlastung. Aus meiner Sicht ist es ein Steuererhöhungsgesetz zulasten Vorsorge treibender Bürger.
({0})
Karlsruhe hat Entlastungen gefordert. Diese Entlastungen werden aber nur unzureichend gewährt; auf die Einzelheiten gehe ich gleich ein.
Aus meiner Sicht setzt die Große Koalition mit diesem Gesetz ihre Steuererhöhungspolitik fort, allerdings
klammheimlich. Insofern kann ich nur sagen: Die Große
Koalition ist wieder einmal Weltmeister in Sachen
Sprachschöpfung. Warum sie von einem „Bürgerentlastungsgesetz“ spricht, obwohl dieses Gesetz unter anderem vorsieht, dass Arbeitslosenversicherungsbeiträge in
Zukunft nicht mehr steuerlich berücksichtigt werden
können, ist ihr großes Geheimnis.
Die Anforderungen, die Karlsruhe an die Entlastung
der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge gestellt
hat, sind klar. Die Antwort der Großen Koalition lautet:
Wenn wir auf der einen Seite entlasten müssen, dann
müssen wir auf der anderen Seite streichen. Streichen
bedeutet in diesem Fall konkret: Steuererhöhungen für
andere.
({1})
- Eine Günstigerprüfung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil überhaupt nicht vorgesehen, Herr
Kollege Krüger.
({2})
Daran, dass Sie eine Günstigerprüfung vorsehen, wird
aus meiner Sicht eines deutlich: Bislang konnten Krankenversicherungsbeiträge nicht steuerlich berücksichtigt
werden. Auf Basis des geltenden Rechts hätte man sie
allerdings zusätzlich berücksichtigen müssen. Das ist im
Grunde genommen das, worum es geht.
Um einige Grundsätze klarzustellen: Das Existenzminimum muss steuerfrei sein. Es gibt einen weiteren verfassungsrechtlichen Grundsatz: Die erwerbsnotwendigen Aufwendungen, die Kosten zur Einnahmeerzielung,
müssen steuerlich abgesetzt werden; das objektive
Nettoprinzip muss also durchgesetzt werden.
Es gibt einen weiteren Grundsatz: das subjektive Nettoprinzip. Er besagt, dass existenznotwendige Ausgaben
steuerlich berücksichtigt werden müssen. Das sind Ausgaben, denen ein Steuerpflichtiger nicht ausweichen
kann.
Jetzt möchte ich dem Hohen Hause und der Öffentlichkeit erklären, was alles durch dieses Gesetz gestrichen wird:
Erstens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosenversicherung
ist eine notwendige Vorsorge für die Arbeitslosigkeit. Es
ist eine Zwangsabgabe, die entrichtet werden muss. Deshalb können sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieser Abgabe überhaupt nicht entziehen. Die Begründung für die Streichung des Sonderausgabenabzugs
- wenn man Arbeitslosengeld beziehe, sei dies steuerfrei
und unterliege nur dem Progressionsvorbehalt - ist doch
hanebüchen; denn zum Glück wird nicht jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin in unserem Land arbeitslos. Das heißt, die Großzahl derjenigen, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge leisten, erhält nie einen Cent
aus der Arbeitslosenversicherung.
({3})
Diese Kosten können in Zukunft nicht einmal steuerlich berücksichtigt werden; daran ändert das Vergleichsverfahren überhaupt nichts.
Zweitens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur
Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsversicherung.
Was heißt das denn? Jeder, der erwerbstätig wird - ich
sage das auch meinen Kindern -, muss sich gegen Berufsunfähigkeit versichern, schon aus Verantwortung für
sich, aber umso mehr - wenn man eine Familie hat -, um
das Einkommen der Familie zu sichern.
Drittens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur
Unfallversicherung. Gerade junge Familien brauchen
aber eine Unfallversicherung, weil sie es sich nicht leisten können, dass nach einem Unfall kein Einkommen
mehr zur Verfügung steht.
Viertens: der Sonderausgabenabzug der Prämien zur
Haftpflichtversicherung. Jeder verantwortungsvolle Mensch
muss sich doch gegen Missgeschicke, die jedem passieren können, absichern; denn die finanziellen Folgen eines Missgeschicks können sehr groß sein - sowohl für
den Schädiger als auch für den Geschädigten.
Fünftens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge der
Risikoversicherung für den Todesfall. Wenn Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land Eigentum bilden wollen,
das aber nur schaffen, wenn sie am Anfang Schulden aufnehmen, dann müssen im Laufe des Erwerbslebens natürlich Kreditzinsen gezahlt und die Schulden getilgt
werden. Wenn dann aber eine Berufsunfähigkeit eintritt
oder ein Erwerbstätiger verstirbt, dann muss doch sichergestellt sein, dass die Familie nicht mit Schulden belastet
wird, die sie gar nicht mehr tragen kann, weil das Einkommen nicht mehr vorhanden ist. Auch dieser Sonderausgabenabzug wird durch den Gesetzentwurf gestrichen.
Auf der einen Seite wird gesagt: Sorgt vor! Auf der
anderen Seite wird gesagt: Wenn ihr vorsorgt, dann
müsst ihr das aus dem versteuerten Einkommen finanzieren. Das kann doch überhaupt nicht richtig sein.
({4})
Das regt mich wirklich auf.
Bei der Krankenversicherung soll der Sonderausgabenabzug der Beitragsanteile der Krankenversicherungsprämien, die das Krankengeld absichern, gestrichen werden. Wer erhält denn Krankengeld? Das bekommt man
doch nur, weil man krank ist und keine Einkünfte mehr
erzielt. Auch dort wird der Sonderausgabenabzug gestrichen.
Ich weiß gar nicht, ob das allen Mitgliedern dieses
Hohen Hauses bekannt ist. Was die Arbeitslosenversicherung anbelangt, gehe ich angesichts der verblüfften
Gesichter der SPD-Fraktion davon aus, dass die meisten
davon gar nichts wissen. Auch die anderen Punkte sind
hier nicht bekannt.
Frau Staatssekretärin, ich habe noch nie in einem Gesetzentwurf so ein ärmliches Finanztableau gesehen wie
in diesem. Sie weisen nur aus, wo entlastet wird. Sie
weisen mit keinem Cent aus, wo gestrichen wird, wo gegenfinanziert wird, wo Bürger belastet werden, die Vorsorge betreiben. Das ist unsäglich. Das muss diskutiert
werden. Ich hoffe, dass im Rahmen der Diskussion viele
erkennen, dass hier bei den Krankenversicherungs- und
Pflegeversicherungsbeiträgen zwar Vorgaben des Verfassungsgerichts umgesetzt werden, das Gesetz aber in
Kombination mit dem, was gestrichen wird, für viele
schlecht ist und die nächsten verfassungsrechtlichen Probleme hervorruft.
Natürlich muss man sich gegen Arbeitslosigkeit versichern. Warum das zukünftig aus versteuertem Einkommen erfolgen muss, ist überhaupt nicht einzusehen. Das
muss grundlegend überarbeitet werden. So kann das
überhaupt nicht bleiben.
({5})
Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Thiele, ich schätze Sie als Kollegen sehr.
Was Sie aber hier abgeliefert haben, ging weit an der
Wirklichkeit vorbei. Sie haben sehr überzogen.
Hier wird ein Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die
Bürger ab dem 1. Januar 2010 um 9,3 Milliarden Euro
entlastet werden. Sie aber reden von Steuererhöhungen.
Das kann wirklich nicht wahr sein.
({0})
Mit diesem Bürgerentlastungsgesetz werden wir die
Menschen mit 9,3 Milliarden Euro bezuschussen, damit
sie wieder mehr Geld in der Tasche haben und mehr die
Konjunktur ankurbeln können.
({1})
Das ist ein Impuls für die Wirtschaft. Das passt genau in
die jetzige Lage.
Im vergangenen Jahr hat es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben. Danach muss das Existenzminimum neu definiert werden.
({2})
Derzeit liegt das Existenzminimum bei 7 834 Euro.
Hinzu kommen steuerfreie Pauschalen wie die Werbungskostenpauschale, der Altersentlastungsbetrag und
der Sparerpauschbetrag.
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Auch die
Beiträge für eine Krankenversicherung müssen steuerfrei gestellt werden, sofern diese Beträge das sozialhilfegleiche Niveau erreichen. - Das machen wir mit diesem
Gesetz. Weil wir dies machen, kommen 9,3 Milliarden
Euro mehr bei den Bürgern an.
Heute sieht die Situation so aus, Herr Thiele: Derzeit
können Beiträge zur Krankenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung, für eine Berufsunfähigkeitsversicherung, für eine Haftpflichtversicherung und für eine Risikolebensversicherung in einer Größenordnung von
1 500 Euro im Jahr geltend gemacht werden. Wenn die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt
werden, wird dies anders sein.
Nehmen Sie beispielsweise einen Arbeitnehmer, der
im Monat 3 675 Euro und somit 44 100 Euro im Jahr
verdient. Dies entspricht einem Einkommen in der Höhe
der Beitragsbemessungsgrenze. Heute kann dieser Arbeitnehmer 1 500 Euro absetzen. Ab dem nächsten Jahr
wird er 4 024 Euro absetzen können. Er wird also
2 524 Euro mehr absetzen können. Das bedeutet, dass er
etwa 1 000 Euro netto mehr in der Tasche hat. Somit
werden die Bürger durch unseren Gesetzentwurf entlastet.
({3})
Dies ist auch kein Steuergeschenk, wie ich verschiedentlich gehört habe. Vielmehr wird deutlich festgehalten, dass einige zu viel Steuern zahlen. Das ist also etwas, was wir den Bürgern zurückgeben, aber kein
Steuergeschenk.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unterscheiden zwischen dem Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Bereich der privaten Krankenversicherung. Die gesetzliche Krankenversicherung
erhebt Beiträge nach dem Einkommen der Versicherten.
Außerdem gibt es eine Mitversicherung für Ehepartner,
für Kinder und für Lebenspartner. In der privaten Krankenversicherung ist das anders. Für jedes versicherte
Mitglied muss ein eigener Beitrag gezahlt werden, der
sich nach dem Alter, nach dem Gesundheitszustand und
nach dem Geschlecht richtet.
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Es müssen
in Zukunft alle Beiträge, die Beiträge der gesetzlich Versicherten, aber auch die Beiträge der privat Versicherten,
anerkannt werden. Auch für die private Krankenversicherung gilt, dass ein sozialhilfegleiches Niveau der Versorgung sichergestellt sein muss.
Besonders begrüße ich an diesem Gesetzentwurf, dass
damit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts gefolgt wird, dass Familien mit Kindern, die privat versichert sind, die Beiträge für ihre Kinder absetzen können
müssen. Das war bisher nicht der Fall. Das heißt, gerade
Familien mit vielen Kindern werden eine deutliche Entlastung erfahren.
Wir haben hier also eine neue Kinderkomponente, die
bisher nicht vorhanden war. Bisher konnten nur in der
gesetzlichen Krankenversicherung Kinder ohne einen eigenen Beitrag mitversichert werden. An dieser Stelle erfolgt also eine Kompensation der privat Versicherten.
Zudem ist in der privaten Krankenversicherung von
Bedeutung, dass der sogenannte Basistarif abgesetzt
werden kann. Das ist der Tarif, der den Leistungen der
gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Es gibt
aber natürlich viele, die sich nicht für den Basistarif,
sondern für eine private Vollversicherung entschieden
haben. Hierbei gibt es in Deutschland über Zehntausend
verschiedene Tarife. Es gab Überlegungen, nicht nur für
jeden Tarif, sondern für jeden einzelnen Versicherten herauszurechnen, was dem sozialhilfegleichen Niveau entspricht und was Zusatzversicherung ist.
Ich glaube, hier wurde in dem Gesetzentwurf eine
sehr gute Lösung gefunden. Wir unterstützen es seitens
der Union ausdrücklich, dass bei den Privatversicherten
ein pauschaler Abzug für alle vorgenommen wird. So
können wir nämlich eindeutig Bürokratie verhindern.
Ansonsten hätte dieser Gesetzentwurf eine Bürokratie
ohne Grenzen geschaffen. Das konnten wir Gott sei
Dank verhindern.
Insgesamt müssen wir zunächst einfach einmal festhalten, dass 60 Prozent der Bürger durch diesen Gesetzentwurf um 9,33 Milliarden Euro entlastet werden. Das
sind Menschen, die bisher zu viele Steuern für ihre
Krankenversicherungsbeiträge gezahlt haben.
Eines gefällt mir allerdings nicht - das will ich noch
einmal ausdrücklich erwähnen -, dass nämlich der bisherige Abzugsbetrag für die Haftpflichtversicherung, die
Unfallversicherung und die Berufsunfähigkeitsversicherung gar keine Berücksichtigung mehr finden soll.
({4})
Wir müssen bedenken, dass gerade die Haftpflichtversicherung - so sagen es übrigens alle Verbraucherschützer,
Verbraucherzentralen und auch die unabhängigen Berater im Versicherungsbereich - eine der wichtigsten Versicherungen ist,
({5})
weil zum einen der Schädiger geschützt wird, damit er
die Leistung überhaupt erbringen kann, und weil zum
anderen vor allem auch der Geschädigte geschützt wird;
denn wenn der Schädiger keine Versicherung hat, dann
kann der Geschädigte seinen Anspruch auf Leistung
nicht geltend machen - es sei denn, der Staat tritt ein.
Deswegen gibt es in solchen Fällen Folgekosten für den
Staat.
({6})
Das Zweite ist die Berufsunfähigkeitsversicherung.
Sie wird als die wichtigste individuelle Versicherung angesehen. Warum ist das so? - In Deutschland beträgt das
diesbezügliche Durchschnittsniveau etwa 700 Euro.
Wenn ein junger Mensch berufsunfähig wird, dann muss
lebenslang eine Leistung für ihn erbracht werden. Hat er
eine private Versicherung, so kann er dies kompensieren.
Gerade der Abzugsbetrag von bisher nur 1 500 Euro
kam insbesondere Geringverdienern zugute. Sie konnten
auch noch Teile - teilweise natürlich auch nur mit dem
Eingangssteuersatz - absetzen. Für sie war es einfach
wichtig, dass sie gerade in jungen Jahren - insbesondere
auch Ledige - diesen Betrag absetzen konnten.
({7})
Bisher gibt es die Möglichkeit der Berücksichtigung dieser Versicherung nur im Rahmen der Riester- bzw.
Rürup-Rente, wenn man eine Altersversorgung einbezieht. Das können junge Leute normalerweise nicht, und
das können vor allen Dingen diejenigen mit einem niedrigen Einkommen nicht.
Deshalb sollten wir dieses Thema im Rahmen der Beratungen noch einmal aufgreifen und prüfen, ob wir gerade hinsichtlich der Haftpflichtversicherung, der
Berufsunfähigkeitsversicherung und der Unfallversicherung hier nicht doch noch eine neue Lösung finden können.
({8})
Es ist natürlich nicht unproblematisch, dass die rechtlichen Grundlagen für die Altersversorgung und für die
Krankenversicherung mit diesem Gesetzentwurf zum
dritten Mal in den letzten fünf Jahren geändert werden.
Sie wissen, dass es dann ab 2010 ein neues Recht geben
wird. Mit dem Alterseinkünftegesetz haben wir ein spezielles Recht, und es besteht auch noch das alte Recht
von 2004, weil es beispielsweise im Bereich der Krankenversicherung und vor allen Dingen im Bereich der
Altersversorgung langfristige Verträge gibt.
Wir begrüßen es seitens der Union ausdrücklich, dass
hier die sogenannte Günstigerprüfung eingeführt wird,
das heißt, dass diese Gesetzesänderungen nicht zu einem
Nachteil des Steuerpflichtigen führen dürfen. Deshalb
gibt es automatische Prüfungen seitens des Finanzamtes,
und für den einzelnen Steuerpflichtigen wird genau ausgerechnet, welcher Weg für ihn der günstigste ist. Wir
begrüßen das außerordentlich.
Diese Entlastung um 9,33 Milliarden Euro wird durch
ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgegeben.
Ich glaube, das passt gut in die aktuelle konjunkturelle
Situation. Auch bei den anderen Konjunkturpaketen haben wir über dieses Thema diskutiert. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein, um den Menschen zu
zeigen, dass sie nicht nur belastet, sondern auch entlastet
werden.
Wir unterstützen die Bundesregierung seitens der
Union, damit diese Entlastung zum 1. Januar 2010 wirksam wird.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom
Februar vergangenen Jahres das Grundprinzip bestätigt,
dass alle Aufwendungen, die die Menschen zur Sicherstellung ihres Existenzminimums brauchen, nicht besteuert werden dürfen, also steuerfrei zu stellen sind.
({0})
Dazu gehören auch die Aufwendungen für die private
Krankenversicherung und Pflegeversicherung. Allerdings - das wurde schon betont - schließt das nicht alle
Aufwendungen ein, sondern nur die Leistungen, die dem
Katalog der gesetzlichen Krankenkassen zur Erlangung
des sozialhilferechtlich gleichen Lebensstandards entsprechen. Chefarztbehandlung und Einzelzimmer gehören also nicht dazu. Zum Glück folgt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf genau dieser Logik.
Gleichzeitig zeigen sich aber die Schattenseiten des gesetzlichen Leistungskatalogs und damit die unsoziale
Gesundheitspolitik von rot-grüner und Großer Koalition:
Die Menschen müssen Brillen komplett selbst bezahlen;
sie sind nicht mehr im Leistungskatalog enthalten. Hörhilfen und Zahnersatz müssen zu großen Teilen selbst
bezahlt werden und sind nicht einmal voll steuerlich absetzbar.
Wir als Linke begrüßen ausdrücklich, dass die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung in vollem
Umfang steuerlich berücksichtigt werden. Allerdings
- damit komme ich zum Knackpunkt, um den Sie herumgeredet haben - wird die Neuregelung zu erheblichen Steuerausfällen in Höhe von 9 Milliarden Euro pro
Jahr führen. Sie brüsten sich bereits damit. Aber ich
frage mich, wie das gegenfinanziert werden soll. Dazu
sagen Sie bisher sehr wenig.
In einer Pressemitteilung des Finanzministeriums
vom 16. Juli vergangenen Jahres heißt es:
Daher werden wir prüfen, welche Instrumente uns
zur Verfügung stehen und wo Handlungsspielräume
bestehen, um eine gerechte Finanzierung zu gewährleisten. Dies führt dazu, dass die Entlastung im
Bereich der höheren Einkommensbezieher kleiner
ausfällt, während sie bei den unteren und mittleren
Einkommen wenn möglich nicht von der Gegenfinanzierung betroffen werden soll.
Wo ist das geblieben? Es ist nicht mehr zu finden. Im
Gegenteil: Herr Steinbrück sprach auch mal davon, dass
nur 6 Milliarden Euro Steuerausfälle zu erwarten wären.
Sie haben keine einzige Maßnahme zur Gegenfinanzierung zulasten der Bezieherinnen und Bezieher höherer
Einkommen vorgeschlagen. Diese Gruppe profitiert natürlich stärker von der Neuregelung; denn wer höhere
Beiträge zahlt, kann auch höhere Beiträge steuerlich geltend machen, und durch die Progression fällt die Entlastung deutlich höher aus.
Hinzu kommt das Problem, das sowohl Herr Thiele
als auch Herr Flosbach angesprochen haben. Sie haben
durch Ihre Formulierung im Gesetzentwurf versucht, das
still und heimlich zu kaschieren. Es wird darauf verwiesen, dass § 10 des Einkommensteuergesetzes geändert
wird. Der bisherige Sonderausgabenabzug gelte jetzt
eben nur noch für Krankheit und Pflege. Die Bürgerinnen und Bürger achten in der Regel nicht darauf, worauf
er sich vorher bezogen hat. Man muss auch erst einmal
blättern, bis man die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und zur Berufsunfähigkeitsversicherung vermisst.
Ich meine, vor Jahren gab es noch eine Berufsunfähigkeitsrente für gesetzlich Rentenversicherte. Auch diese
gibt es nicht mehr.
Insofern ist man gezwungen, privat vorzusorgen. Als
Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist man gezwungen,
in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen.
Die von Ihnen vorgesehene Regelung führt konkret
dazu, dass in einzelnen Fällen die Bezieherinnen und
Bezieher von niedrigen Einkommen gar nichts oder nur
wenig steuerlich geltend machen können; denn wir haben in Deutschland leider keinen Mindestlohn, und die
Löhne sind - insbesondere für Frauen - sehr niedrig.
Bisher konnten sie einen Betrag von bis zu 1 500 Euro
steuerlich geltend machen. In Zukunft gilt das nur noch
für die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung;
der Rest fällt weg. Sie können deshalb nur noch einen
geringeren Betrag geltend machen und werden real stärker belastet. Das geht nicht. Ich bin gespannt, wie sich
die CDU/CSU für diesen Punkt starkmachen wird.
Das alles zeigt, dass eine stärkere Entlastung der Besserverdienenden erfolgt und dass Ihr gesamtes Gesundheitssystem krankt. Wir fordern in einem ersten Schritt
die sofortige Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze.
({1})
Das ist doch wohl machbar; dem steht nichts im Wege.
Wir fordern die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung
und zu einem umfassenden Leistungskatalog, in dem
auch die notwendige Sehhilfe enthalten ist. Man darf
auch nicht an den Zähnen erkennen, ob jemand viel oder
wenig Geld hat.
Wir fordern einen Weg hin zu einer solidarischen
Bürgerversicherung; das ist die Anforderung unserer
Zeit. Eine steuerliche Neuregelung muss sich auf alle
Fälle hieran orientieren.
({2})
Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht fordert den Gesetzgeber
- man muss sagen: leider - wieder auf, etwas Sinnvolles
für die Bürgerinnen und Bürger zu tun. Es ist im Hinblick auf die aktuelle schwierige wirtschaftliche Lage
absurd, dass die Große Koalition das Ganze als Bestandteil des Konjunkturpakets verkauft.
Zum Inhalt: Mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt,
werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
umgesetzt. Wir begrüßen viele Stellen dieses Gesetzentwurfs, vor allem die Steuerfreiheit der Beiträge zur
Kranken- und Pflegeversicherung. Wir meinen, dass das
eine gerechte Lösung ist, weil nur das Einkommen besteuert wird, das tatsächlich zur Verfügung steht. Das ist
auch in steuersystematischer Hinsicht eine gute Lösung,
weil das Prinzip der Besteuerung nach der steuerlichen
Leistungsfähigkeit berücksichtigt wird. Wir, Grüne und
SPD, hatten schon im Zusammenhang mit der Rentenversicherung an eine Steuerfreiheit gedacht. Wir Grüne
haben immer eine Gleichbehandlung von Privatversicherten und gesetzlich Versicherten bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit gefordert. Dabei muss man sich
auf das Niveau der Sozialhilfe und die geleisteten Beiträge beziehen. Das wird nun umgesetzt.
Die Vorrednerinnen und Vorredner haben aber bereits
deutlich gemacht, dass man nun für die Menschen eine
schwierigere Situation schafft, wenn es um die Haftpflichtversicherung, die Berufsunfähigkeitsversicherung und die Unfallversicherung geht; das muss man sehen. Wenn man das umsetzt, was vorgeschlagen ist, wird
es sehr teuer. Der Regierungsentwurf sieht ein Steuerentlastungsvolumen von 9,5 Milliarden Euro vor. Ich hoffe
sehr, dass wir uns in den Ausschussberatungen genau anschauen, wie sich das im Kontext mit den angesprochenen Versicherungen verhält, die - da hat Kollegin
Dr. Höll recht - in der heutigen Zeit notwendig sind.
Deswegen müssen wir uns Gedanken darüber machen,
inwieweit diese Versicherungsbeiträge steuerlich absetzbar gemacht werden können. Darüber müssen wir gemeinsam diskutieren. Ich habe vernommen, dass sich die
Union hier durchaus bewegt.
Ein solches Gesetz kann aber kein Ersatz für eine vernünftige Gesundheitspolitik sein.
({0})
Es handelt sich hier um eine rein steuerliche Regelung.
Viele Bürgerinnen und Bürger erfahren aufgrund einer
verfehlten Gesundheitspolitik - Stichwort „Gesundheitsfonds“ - erst einmal eine höhere Belastung. Die vorgesehene steuerliche Entlastung kompensiert die höhere Belastung durch den Gesundheitsfonds zum Teil überhaupt
nicht. Das heißt, einige, die höhere Beiträge aufgrund
des Gesundheitsfonds zahlen müssen, werden trotz steuerlicher Entlastung unter dem Strich höher belastet. Man
muss das gesamte System berücksichtigen und darf nicht
isoliert die Steuerfrage betrachten.
Das Bundesfinanzministerium selbst schätzt, dass nur
57 Prozent der Steuerpflichtigen, also jeder Zweite, in
nennenswerter Weise durch das Gesetz entlastet werden.
Wer gut verdient, spart viele Steuern. Wer wenig verdient, spart wenig oder gar nichts. Das ist die praktische
Konsequenz. Dies hängt mit unserer Steuersystematik
und unserem Sozialversicherungsrecht zusammen. Paradoxerweise verhält es sich bei der Belastung der Bürgerinnen und Bürger mit Sozialversicherungsbeiträgen genau andersherum: Bei einem Bruttoeinkommen von
beispielsweise 1 700 Euro machen die Beiträge zur
Krankenversicherung und Pflegeversicherung 9 Prozent
aus; bei einem Bruttoeinkommen von beispielsweise
6 700 Euro machen diese Beiträge aber nur noch
5 Prozent aus. In absoluten Zahlen heißt das: Wer
20 000 Euro brutto verdient, wird um 100 Euro entlastet.
Wer 60 000 Euro brutto verdient, wird um 1 000 Euro
entlastet.
Aus diesem Grund ist es für uns Grüne immer wichtig
gewesen, die Sozialversicherungsbeiträge für Bezieher
von geringen Einkommen ganz gezielt zu senken. Damit
soll der von mir genannte Effekt vermieden werden. Bezieher niedriger Einkommen sollen nicht in die Situation
kommen, dass die Sozialversicherungsbeiträge wie ein
Fallbeil zuschlagen, sondern sie sollen langsam und stufenlos ansteigen, so wie wir das auch im Steuerrecht haben. Das wäre eine vernünftige Lösung.
({1})
Wir nennen diese Lösung Progressivmodell. Sie ist sehr
gut und würde diese Problematik an der Wurzel bekämpfen. Darüber werden wir im Ausschuss weiter diskutieren können.
Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! So manche Rede hier kommt mir so vor, als
sei sie nach dem Motto „Was ich schon immer einmal
sagen wollte“ gehalten worden. Viele dachten wohl:
Jetzt rede ich nicht zum Bürgerentlastungsgesetz, sondern mauschel irgendetwas vor mich hin, was vielleicht
besser ankommt und was sich hier gut verkaufen lässt.
Frau Dr. Höll, durch die Günstigerprüfung wird sichergestellt, dass genau das nicht passiert, was Sie beschrieben haben. Wenn jemand aufgrund seines geringen
Einkommens nur geringe Beiträge zur Krankenversicherung zahlt und daher nach neuem Recht weniger steuerlich geltend machen kann, dann wird geprüft, ob die Regelung nach altem Recht für ihn steuerlich günstiger
ausfällt, und diese angewandt. Niemand wird nach dem
neuen Recht schlechter gestellt.
({0})
Viele werden besser gestellt, aber niemand schlechter.
Das möchte ich als Kernbotschaft festhalten.
({1})
Herr Flosbach, wenn ich auf das Schmierentheater
von Herrn Thiele hätte eingehen müssen, dann wäre
meine Reaktion sicherlich nicht halb so moderat ausgefallen wie Ihre. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.
Herr Thiele hat sich hier hingestellt und alle Versicherungen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, aufgezählt und so getan, als ob irgendjemand alle diese
Versicherungen gleichzeitig steuerlich geltend gemacht
hätte.
({2})
Er hat darüber hinaus so getan, als ob bisher alle diese
Versicherungen unbegrenzt abzugsfähig gewesen wären.
Das stimmt doch gar nicht. Die meisten haben die Beiträge für ihre Versicherungen treu und brav jedes Jahr in
ihr Steuererklärungsformular eingetragen.
({3})
Diese Beiträge hatten aber überhaupt keine Auswirkungen, weil die Krankenkassenbeiträge ausgereicht haben,
um den Höchstbetrag der steuerlichen Absetzbarkeit
auszuschöpfen.
({4})
Frau Kollegin, Herr Kollege Thiele möchte gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Klar.
Frau Kollegin Frechen, mich überrascht schon, dass
Sie sagen, alles Mögliche könne geltend gemacht werden. Nach der derzeitigen Rechtslage kann nicht alles
Mögliche geltend gemacht werden. Aber der Arbeitslosenversicherungsbeitrag kann geltend gemacht werden,
ebenso die Beiträge für die Erwerbsunfähigkeits- und
Berufsunfähigkeitsversicherung, die Unfallversicherung
und die Haftpflichtversicherung. Das ist doch nicht „alles Mögliche“.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat dem
Gesetzgeber mit keinem Wort vorgegeben, diese Regelung zu streichen. Das Bundesverfassungsgericht hat
dem Gesetzgeber nur vorgegeben, dass die Einschränkung bei der Berücksichtigung von Krankenversicherungsbeiträgen, wie es das geltende Gesetz vorsieht,
nicht erfolgen darf. Warum verschwiegen wird, dass all
das gestrichen wird, was ich vorgetragen habe, können
Sie mir als Antwort auf meine erste Frage erklären. Warum Sie diese zu berücksichtigenden Ausgaben nicht kumulativ behandeln, sondern ausschließen wollen, können Sie mir als Antwort auf meine zweite Frage sagen.
Bei Ihrer Zwischenfrage habe ich erst einmal auf die
Uhr geschaut, um zu wissen, warum Sie das Gleiche fragen, was Sie vorhin gesagt haben.
({0})
Aber vielleicht hat sich in der Zwischenzeit das Publikum geändert. Auch die neuen Besucher müssen all die
Versicherungen kennen, die Sie vorhin genannt haben.
({1})
- Auch das kann sein. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie
auch die Präsidentin ins Bild setzen. Wir führen heute
die erste Lesung durch.
({2})
Herr Flosbach, haben Sie verschwiegen, dass die sonstigen Vorsorgeleistungen gekürzt werden?
({3})
Herr Thiele hat gerade gesagt, Sie hätten das verschwiegen. Ich habe das gehört.
({4})
- Aber warum stellen Sie jetzt die Frage mit demselben
Tenor noch einmal?
({5})
- Er hat es nicht verschwiegen, wir werden es nicht verschweigen, und auch ich werde es sagen.
Selbstverständlich hat das Bundesverfassungsgericht
nicht gesagt, dass irgendetwas gestrichen werden müsse.
({6})
So etwas macht das Verfassungsgericht auch nicht. Aber
wir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass bei Menschen,
die nach dem neuen Gesetz schlechter gestellt würden,
die alte Regelung mit den anderen Versicherungsleistungen wieder auflebt. Ich weiß jetzt nicht, wo Sie mir etwas - ({7})
Herr Kollege Thiele, die Rednerin beantwortet Ihre
Frage. Es wäre schön, wenn Sie zuhörten.
({0})
Solange die Uhr angehalten ist, dürfen Sie fragen,
was Sie wollen.
({0})
Wir haben schon gehört, dass das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass die steuerliche Behandlung
der Krankenversicherungsbeiträge von Privat-Versicherten mit Kindern nicht verfassungsgemäß war. Dies wird
mit diesem Gesetz geändert. Das Urteil bezog sich im
Einzelfall auf Beiträge für Privat-Versicherte. Dass die
Umsetzung in gleicher Weise für gesetzlich Versicherte
gilt, ist selbstverständlich. Eine wie auch immer geartete
einseitige Regelung ist mit uns natürlich nicht zu machen.
Die Neuregelung wird zu Steuermindereinnahmen in
Höhe von 9,3 Milliarden Euro führen. Dies bedeutet, untechnisch gesprochen, dass die Bürgerinnen und Bürger
ab dem kommenden Jahr diese Summe zusätzlich im
Geldbeutel haben werden. Wie Herr Thiele darauf
kommt, dass es Steuererhöhungen sein sollen, bleibt sein
Geheimnis. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass er
die FDP immer als Steuersenkungspartei bezeichnet. In
Wirklichkeit ist die FDP nichts weiter als eine Steuersenkungsankündigungspartei.
({1})
Immer dann, wenn sie in der Opposition ist, fordert sie
Steuersenkungen. In den vielen Jahren, in denen sie an
der Regierung beteiligt war, ist nicht einmal eine Steuer
gesenkt worden. Schwups, kaum in der Opposition, fordert sie schon wieder Steuersenkungen.
({2})
Das war jetzt nur ein kleiner Ausflug in die Historie von
Herrn Thiele.
({3})
- Doch, das war genau zutreffend. Ich fertige einmal ein
Buch mit allen Steuersenkungen an, die die FDP in der
Zeit ihrer Regierungsbeteiligung mitbeschlossen hat. Da
werden wir sehr viel Papier sparen, weil in diesem Buch
kein einziges Blatt sein wird.
({4})
- Nein, das ist nicht an der Realität vorbei. Aber ich
habe vorausgesehen, dass Sie auch bei diesem Gesetz
wieder ein Haar in der Suppe finden und es ganz genüsslich spalten werden. Sie haben mich nicht enttäuscht,
was für mich natürlich auch eine Genugtuung ist.
Fakt ist, dass 80,2 Prozent der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer von diesem Gesetz profitieren. Allein
sie bekommen 7,2 Milliarden Euro zurück. Bei den
Selbstständigen sind es 1,6 Milliarden Euro, bei den Beamten 560 Millionen Euro. Die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer sind damit die großen Gewinner der Reform.
Für mich sind alle Menschen Leistungsträger, die sich
aktiv am erfolgreichen Miteinander unserer Gesellschaft
beteiligen, egal ob sie -
Frau Kollegin, Herr Kollege Spieth möchte gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Sie sprachen davon, dass 80 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet würden. Das ist,
steuerrechtlich betrachtet, möglicherweise richtig; ich
will dies gar nicht kritisieren. Mit der steuerlichen Absetzbarkeit von Krankenversicherungsbeiträgen entsteht
aber ein verteilungspolitisches Problem bei der Beitragsfinanzierung. Als Bundestagsabgeordnete zahlen wir einen Arbeitnehmeranteil von 8,2 Prozent in die Krankenversicherung. Das sind 301 Euro, der Höchstbetrag bis
zur Beitragsbemessungsgrenze. Unser volles Einkommen wird nicht verbeitragt, was dazu führt, dass wir real
nur 3,93 Prozent unseres Einkommens zahlen. Wenn uns
relativ gut Verdienenden nun noch eine steuerliche Entlastung in Höhe von rund 120 Euro entsteht, zahlen wir
Bundestagsabgeordneten nur noch 2,36 Prozent. Ein
verheirateter Arbeitnehmer ohne Kinder, der 1 500 Euro
verdient, zahlt den vollen Krankenversicherungsbeitrag,
also 8,2 Prozent seines Einkommens.
Ihre Fraktion hat zu Beginn dieser Debatte gesagt, wir
müssten dieses Problem lösen. Meine Kollegin Höll hat
vorgeschlagen, deshalb die Beitragsbemessungsgrenze
entfallen zu lassen, weil diese - quasi wie eine Guillotine wirkend - genau diesen Effekt erziele. Sind Sie bereit, in den weiteren Beratungen genau dieses Thema zu
problematisieren? Im steuerlichen Teil liegen Sie richtig;
was die beitragspolitische Seite betrifft, liegen Sie nach
meiner Auffassung daneben, wenn Sie das nicht tun.
({0})
Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege Spieth. Frau
Höll hat das Thema in ihrem Redebeitrag schon angesprochen. Ich weiß nicht, ob Sie da noch nicht anwesend
waren.
({0})
Das ist die erste Lesung zum Bürgerentlastungsgesetz. Es geht um die steuerliche Behandlung der Krankenversicherungsbeiträge, egal ob die Leute gesetzlich
oder privat krankenversichert sind, egal ob sie viel oder
wenig Gehalt beziehen. Die Frage, die Sie gerade gestellt haben, geht knapp am Thema vorbei.
({1})
- Es geht um die steuerliche Behandlung von Krankenversicherungsbeiträgen. Sie haben doch gesagt, in steuerlicher Hinsicht hätte ich recht. Somit bin ich für den
Moment zumindest zufrieden.
({2})
- Ich glaube, Sie haben meine Antwort nicht verstanden,
oder Sie wollten sie nicht verstehen. Wir sollten etwas
höflicher miteinander umgehen.
({3})
- Ich kann Ihnen vielleicht nicht folgen, verstehen kann
ich Sie schon. Also das können Sie mir schon zutrauen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Höll, Frau Kollegin?
Ja.
Liebe Frau Kollegin Frechen, das hat schon alles etwas mit unserem Problem zu tun; denn es geht auch um
die Frage der Gegenfinanzierung und zugleich um die einer sozial gerechten Verteilung von Be- und Entlastung.
Auf die Frage der sozial gerechten Verteilung der Belastung konnten oder wollten Sie nicht antworten. Ich
möchte Sie fragen, welche Vorstellungen überhaupt zur
Gegenfinanzierung dieses Steuerentlastungspakets vorhanden sind; denn bei anderen Diskussionen, die wir in
den vergangenen Jahren hatten, wurde uns erklärt, dass
zum Beispiel weder eine Erhöhung des Kindergeldsatzes
auf 200 Euro noch eine Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze auf mindestens 435 Euro möglich ist, weil dafür
das Geld fehlt. Jetzt beschließen wir ein Gesetz mit einem Entlastungsvolumen von 9 Milliarden Euro, und
plötzlich ist das Geld da. Das verwundert mich etwas.
Darauf hätte ich gerne eine Antwort.
Liebe Frau Kollegin Höll, wir haben von Anfang an
gesagt, dass eine Gegenfinanzierung nicht vorgenommen wird. Es war vielleicht kein von uns forciertes und
auch nicht ein von uns gewünschtes Konjunkturpaket,
aber in der jetzigen Situation halten ich, die Bundesregierung und die Kolleginnen und Kollegen in der
Fraktion es für sinnvoll, für 2010 dieses von uns nicht
propagierte, aber jetzt von uns umzusetzende Konjunkturprogramm wirken zu lassen.
({0})
Im Einzelnen heißt das: Ein verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kindern und einem Einkommen von
70 000 Euro, der 3 950 Euro für sich und seine Familie
bezahlt, erhält eine Entlastung von 274 Euro. Gehen
beide Ehegatten arbeiten, zahlen sie bei gleichem Einkommen 6 213 Euro Krankenversicherung, und sie werden mit 996 Euro entlastet. Das ist ein Zeichen dafür,
dass wirklich die mittleren Einkommen mit diesem Gesetz entlastet werden. Der ledige Arbeitnehmer mit einem Einkommen von 40 000 Euro wird mit 722 Euro
entlastet.
Jetzt komme ich zu dem Problem, das von allen schon
angesprochen worden ist: Der Selbstständige mit gleichem Einkommen wird mit dieser Änderung nicht entlastet. Er bezahlt einen Krankenversicherungsbeitrag in
Höhe von 4 360 Euro. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die sonstigen Vorsorgeaufwendungen nicht
oder nicht mehr in gleicher Höhe wie zuvor zum Abzug
zugelassen werden. Das ist die geringe Gegenfinanzierung, die ich eben angesprochen habe. Deshalb gibt es
die Günstigerprüfung. Ich sage aber ganz offen: Darüber,
inwieweit diese Vorsorgeaufwendungen gestrichen oder
gekürzt werden, werden wir selbstverständlich in den
anstehenden Beratungen sprechen müssen. Es gilt das
Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz kommt so aus dem
Bundestag heraus, wie es hineingekommen ist. Ich weiß
also gar nicht, was die ganze Aufregung hier soll.
({1})
- Das muss ich noch gar nicht. Es ist nämlich ein Regierungsentwurf, Herr Thiele. Aus ganz grauer Vorzeit wissen Sie vielleicht noch, was das bedeutet.
({2})
Ich möchte jetzt gern einen ganz anderen Punkt vertreten - er liegt mir sehr am Herzen -: Wir werden gemeinsam - das steht noch nicht im Regierungsentwurf das Schulstarterpaket ausweiten, und zwar auf die Zeit
vom 11. bis zum 13. Schuljahr.
({3})
- Ja, ich konnte Sie überraschen. Das freut mich jetzt. Für uns war nie verständlich, warum dieses Paket nur bis
zum 10. Schuljahr angeboten wurde.
({4})
- Frau Höll, Sie sehen doch: Steter Tropfen höhlt den
Stein. Man kommt auch dann zum Ziel, wenn man nicht
so laut brüllt.
Wir weiten dieses Paket jetzt aus.
({5})
- Genau. - Durch dieses Gesetz werden auch die Kinder
von Geringverdienern, die die Schulklassen 11 bis 13 besuchen, mit dem Schulstarterpaket ausgestattet.
({6})
Darüber bin ich sehr erfreut. Das sind immerhin 250 000
Schülerinnen und Schüler. Der Kreis der Empfangsberechtigten wird auf die sogenannten Aufstocker ausgeweitet. Damit haben wir einen weiteren Beitrag zur sozialen
Gerechtigkeit geleistet. Ich freue mich auf konstruktive
Beratungen.
Herzlichen Dank.
({7})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Mitmachen statt Miesmachen“ heißt das Motto unserer
Jugendorganisation. Die heutige Debatte zeigt wieder,
dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, das Miesmachen für Ihr politisches Programm
halten.
({0})
Das finde ich bedauerlich. Das wird uns aber nicht daran
hindern, diesen Gesetzentwurf als gute Grundlage in die
Debatte einzubringen.
({1})
Herr Thiele hält Steuersenkungen in Höhe von
9,5 Milliarden Euro für ein Steuererhöhungsprogramm.
Die Linken haben den üblichen Beißreflex. Dass Leute,
die höhere Beiträge zahlen, auch höher entlastet werden,
kann aus ihrer Sicht natürlich nur unsozial und ungerecht
sein. Ich bin froh, dass die Grünen ihre Position sehr
ausgewogen dargestellt haben, Frau Kollegin Scheel.
Aus unserer Sicht ist dieser Gesetzentwurf eine sehr gute
Diskussionsgrundlage.
Wir beginnen heute mit der Beratung hier im Parlament; allerdings hat sich auf dem Weg vom Referentenentwurf zum Gesetzentwurf schon einiges getan: Wir
haben den Kreis derjenigen, deren Krankenversicherungsbeiträge begünstigt werden können, ausgeweitet.
Neben den Ehepartnern und den Kindern sind jetzt auch
die Lebenspartner aufgenommen. Für Geschiedene können Krankenversicherungsbeiträge künftig über den Unterhaltsfreibetrag hinaus geltend gemacht werden. Ich
danke dem Ministerium dafür, dass dieses Ergebnis einer
Beratung zum Referentenentwurf so schnell in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde.
Liebe Kollegen von der Linken, wir haben uns in dieser Legislaturperiode sehr ausführlich mit den Beziehern
von kleineren und mittleren Einkommen beschäftigt.
Wir haben den Kinderbonus eingeführt. Wir haben das
Kindergeld erhöht. Wir haben den Grundfreibetrag erhöht. Wir haben den Eingangssteuersatz gesenkt. Wir
haben die Regelleistungen für 6- bis 13-Jährige erhöht.
Von der Rentenerhöhung zum 1. Juli dieses Jahres werden 7,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger profitieren,
die Arbeitslosengeld II und Grundsicherung im Alter
bzw. Sozialhilfe erhalten. Wir haben für die Bürgerinnen
und Bürger mit kleinen und niedrigen Einkommen Beträge ausgegeben, die viel höher sind als diejenigen, die
heute zur Debatte stehen.
({2})
Heute diskutieren wir ein Gesetz, das denjenigen zugute kommt, die all diese Sozialleistungen durch ihre
Steuern finanzieren: die Steuerzahler, die wir in dieser
Legislaturperiode bisher nicht entlastet haben, jedenfalls
bei weitem nicht in dem Umfang, in dem wir die sozial
Schwächeren entlastet haben. Das zum Anlass für eine
Ungerechtigkeitsdebatte zu nehmen, ist schon weit hergeholt.
Ich will Ihnen an zwei Beispielen erklären, warum
dieses Gesetz überhaupt nicht ungerecht ist. Erstens. Ein
Selbstständiger mit mittlerem Einkommen und zwei
Kindern zahlt über seine Steuern die Zuschüsse zur gesetzlichen Krankenversicherung mit, um die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu sichern.
Sie erinnern sich: Der Steuerzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung wird mit Blick auf die beitragsfreie Mitversicherung in ebendieser Versicherung
von 3,2 Milliarden Euro in 2009 bis 2014 auf
14 Milliarden Euro aufgestockt.
Dieser mittelverdienende Selbstständige, der das alles
über seine Steuern mitfinanziert, bekommt weder zu den
Beiträgen für seine beiden Kinder in der privaten Krankenversicherung einen Zuschuss, noch kann er die Beiträge steuerlich geltend machen. Es kann doch auch aus
Ihrer Sicht nicht gerecht sein, dass bei demjenigen, der
mit seinen Steuern andere unterstützt, die Beiträge für
die eigenen Kinder steuerlich gar nicht berücksichtigt
werden können.
({3})
Das wird in diesem Gesetzentwurf geändert. Das finden
wir richtig und gerecht.
Zweites Beispiel. Ein besserverdienender Angestellter zahlt nur deshalb so hohe Krankenversicherungsbeiträge, weil er mit seinen Beiträgen diejenigen unterstützt, die sich aufgrund niedrigen Einkommens die
Beiträge nicht leisten können. Das ist richtig. Das ist solidarisch. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, dass
Sie meinen: Weil er hohe Krankenversicherungsbeiträge
zahlt - in Klammern: aus solidarischer Gesinnung und
weil wir es gesetzlich so vorgesehen haben -, soll er sie
nicht steuerlich geltend machen dürfen. Wir können
nicht erst Solidarität einfordern und dann denjenigen,
von dem wir die Solidarität einfordern, im Regen stehen
lassen.
({4})
Das wird durch diesen Gesetzentwurf geändert. Das ist
gerecht und solidarisch. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass jemand, der hohe Beiträge zahlt, diese Beiträge
in voller Höhe steuerlich geltend machen kann.
Frau Kollegin Frechen hat darauf hingewiesen, dass
wir den vorliegenden Gesetzentwurf nutzen werden, um
auch in einem anderen Fall, in dem es um finanziell
schwächere Familien geht, nachzubessern, nämlich beim
Schulstarterpaket. Ja, es ist so: Wir haben dafür länger
gebraucht. Wir wollten das auch für diejenigen vernünftig regeln, die nicht unter die Hartz-IV-Regelungen fallen. Wir wollten das Schulstarterpaket auch den Familien zugutekommen lassen, die ein bisschen mehr als
Hartz IV haben, nämlich denjenigen, die den Kinderzuschlag bekommen. Wir werden das mit diesem Gesetz
umsetzen. Auch damit werden wir wieder diejenigen
fördern, die keine Steuern oder nur ganz geringe Steuern
zahlen.
In diesem Gleichgewicht von Sozialleistungen - solche haben wir in dieser Legislaturperiode schon in hinreichendem Maße auf den Weg gebracht - und Entlastung derjenigen, die unseren Sozialstaat finanzieren,
steht der Gesetzentwurf. Wir werden ihn in den kommenden Wochen beraten und natürlich darüber sprechen
- Herr Kollege Flosbach hat es gesagt -, ob wir nicht an
der einen oder anderen Stelle auch bei anderen Versicherungsbeiträgen, die jetzt nicht begünstigt werden, nachbessern müssen.
Dem Grunde nach stehen wir zu diesem Gesetzentwurf. Wir finden, dass hier Gerechtigkeit hergestellt
wird. Bisher - so sagt das Verfassungsgericht - besteht
sie ganz offensichtlich nicht.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12254 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes
- Drucksache 16/12273 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Opferentschädigungsgesetz
regelt eine Einstandspflicht des Staates für unschuldige
Opfer von vorsätzlichen Gewalttaten, die der Staat mit
seinen Polizeiorganen vor einer solchen Tat nicht schützen konnte. Juristen sprechen hier vom sogenannten
Aufopferungstatbestand.
Da ich vermute, dass nicht jedem hier im Hause die
Materie dieses Gesetzes in gleicher Weise vertraut ist,
will ich hier in aller Kürze die wesentlichen Punkte der
bisherigen Rechtslage konkretisieren:
Ziel des Opferentschädigungsgesetzes - kurz „OEG“
genannt - ist seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1976 eine
eigenständige staatliche Entschädigung der Betroffenen,
das heißt eine Entschädigung über die allgemeinen sozialen Sicherungssysteme und die Sozialhilfe hinaus. Anspruch auf Entschädigung haben Opfer eines Überfalls
oder einer Vergewaltigung genauso wie die Betroffenen
eines Terroranschlags im Inland, bei dem unschuldige
Passanten getötet oder schwer verletzt worden sind. Die
Voraussetzungen für einen solchen Anspruch liegen außerdem vor, wenn es sich um einen tätlichen Angriff
auf Leib und Leben der Betroffenen handelt und der
Täter - unabhängig von seiner Motivation - zumindest
mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Umfang und Höhe
der zu erbringenden Entschädigungsleistungen richten
sich nach dem Bundesversorgungsgesetz.
An den Prinzipien und der Intention des OEG hat sich
seit seinem Inkrafttreten nichts geändert. Gewandelt haben sich aber die Anforderungen, die im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen an eine möglichst umfassende Opferentschädigung gestellt werden. Bereits
mehrfach ist deshalb das OEG in der Vergangenheit erweitert und den Verhältnissen angepasst worden.
So ist zum Beispiel der Schutz ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland vor allem durch
die Gesetzesnovelle im Jahre 1993 erheblich verbessert
worden. Nach den furchtbaren Anschlägen von Solingen
und Mölln wurde bereits damals auch darüber diskutiert,
den Kreis der im Inland geschützten Personen weiter zu
fassen, als es schließlich geschehen ist.
Fraktionsübergreifend erörtert wird seit der letzten
Legislaturperiode darüber hinaus die Überlegung, den
Anwendungsbereich des OEG auf Auslandstaten auszudehnen. Trauriger Anlass dieser Überlegung sind die leider vermehrt aufgetretenen Fälle, dass deutsche Touristen und Geschäftsreisende im Ausland Opfer einer
Gewalttat geworden sind. Ich erinnere hier nur an den
entsetzlichen Anschlag in Djerba 2002. Bislang konnten
in solchen Fällen Entschädigungen häufig nur über einen
Härtefonds, gewissermaßen als Notlösung, geregelt werden. Es ist deshalb gut, dass sich die Koalitionsfraktionen nach intensiven Beratungen und zahlreichen interfraktionellen Gesprächen nun auf einen Gesetzentwurf
verständigt haben, der den erwähnten und anderen Erweiterungsvorschlägen in angemessener Weise Rechnung trägt: quasi von einer Notlösung zu einer transparenten gesetzlichen Lösung.
Besonders herausstellen möchte ich dabei, dass besonders dann, wenn Opfer zu beklagen sind - das wissen
wir ja alle -, schnelle Hilfe nottut. Schnelle Hilfe hilft
doppelt, heißt es ja. Insofern wollen wir mit diesem Gesetzentwurf Rechtsklarheit in einer Situation schaffen, in
der schnelle Hilfe angesagt ist.
Die Kernpunkte des Dritten OEG-Änderungsgesetzes, bei dem das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Formulierungshilfe geleistet hat, möchte ich hier
deshalb kurz vorstellen.
Der Gesetzentwurf sieht erstens vor, bei Inlandstaten
den Kreis der Anspruchsberechtigten auf ausländische
Verwandte dritten Grades zu erweitern, die eine Person
ohne deutsche Staatsangehörigkeit besuchen, die sich in
Deutschland rechtmäßig und nicht nur vorübergehend
aufhält. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
begrüßt diese Neuregelung, zumal weiterhin eine Abgrenzung zu Touristen und Geschäftsreisenden ohne
deutsche Staatsangehörigkeit getroffen wird, die auch
zukünftig nur von einer Härteregelung erfasst werden
können.
Weiterhin sieht der Gesetzentwurf die Einbeziehung
geschädigter ausländischer Lebenspartner vor. Diese erfolgt mittelbar über eine Gesetzesverweisung auf das
Bundesversorgungsgesetz. Diese Ergänzung ist nicht nur
direkt aus dem OEG heraus erforderlich, sondern auch
aus europa- und verfassungsrechtlichen Gründen zwingend.
Der zweite Schwerpunkt des Änderungsgesetzes ist
die Ausdehnung des Geltungsbereichs des OEG auf Gewalttaten im Ausland. Über diesen Punkt ist in den fraktionsübergreifenden Gesprächen lange diskutiert worden, aber nicht über das Ob, sondern über das Wie. Der
vorliegende Gesetzentwurf sieht nun vor, auch bei Gewalttaten im Ausland sogenannte Regelleistungen zu ermöglichen. Sie werden wissen: Die Bundesregierung hat
in den Beratungen hierzu anfänglich durchaus Bedenken
geäußert.
Da es bei Gewalttaten im Ausland an dem eingangs
erwähnten Aufopferungstatbestand fehlt, können diese
Taten aus rechtssystematischen Gründen nicht ohne
Weiteres mit Inlandstaten gleichgesetzt werden; denn
grundsätzlich kann der Staat wirksamen Opferschutz nur
für sein Hoheitsgebiet garantieren. Die jetzt vorliegenden Regelungen sind aus Sicht der Bundesregierung jedoch durchaus vertretbar und zustimmungsfähig. Durch
die im Gesetzentwurf vorgesehenen Einmalzahlungen
sowie die Anrechnungs- und Ausschlusstatbestände wird
hinreichend deutlich, dass die Rechtsgrundlage für die
Entschädigung bei Auslandstaten nur in staatlicher Fürsorge, nicht aber in einem Aufopferungstatbestand liegen kann.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Fazit
ziehen. Ziel des Opferentschädigungsgesetzes ist und
bleibt es, den Opfern tätlicher Gewalt einen möglichst
umfassenden Schutz in Form staatlicher Entschädigung
zu gewähren. Ob und wie dieses Ziel erreicht werden
kann, muss sich, geeicht an einer sich verändernden
Wirklichkeit, immer wieder neu erweisen. Ich bin überzeugt, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf genau
das getan und in angemessener Weise nachgesteuert
wurde. Deshalb würde ich mich freuen, wenn dieser Gesetzentwurf nicht nur bei den Regierungsfraktionen, sondern fraktionsübergreifend verdientermaßen eine breite
Mehrheit finden könnte.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort Jörg van
Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will am Anfang das aufgreifen, was Sie, Herr Staatssekretär, soeben gesagt haben. Ich war eigentlich davon
ausgegangen, dass wir diesen Gesetzentwurf quer durch
alle Fraktionen voranbringen. Ich erinnere mich an ein
Berichterstattergespräch - ich glaube, es war Ende
2007 -, in dem wir eigentlich so verblieben waren, dass
dieses Vorhaben in den Koalitionsfraktionen wie auch in
den Oppositionsfraktionen vorangetrieben werden sollte.
Deswegen war ich überrascht, dass dieser Kontakt nicht
gesucht worden ist. Wir von der FDP - das will ich ganz
deutlich sagen - wären gerne bei den einbringenden
Fraktionen dabei gewesen, weil wir die Zielsetzungen,
die Sie, Herr Staatssekretär, vorgetragen haben, ausdrücklich teilen.
({0})
Ich will am Anfang jedoch ein paar kritische Bemerkungen machen. Im Jahre 2002 hat die FDP-Bundestagsfraktion zum ersten Mal auf die Problematik mit Blick
auf die Opfer von Terroranschlägen im Ausland hingewiesen. Es hat sieben Jahre gedauert, bis ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt wurde. Wie dringlich
er ist, hat der Anschlag in Bombay gezeigt, bei dem auch
deutsche Staatsangehörige zu Schaden gekommen sind.
Dass wir hier dringend eine Regelung schaffen müssen,
ist für jedermann offenkundig. Ich spreche die Hoffnung
aus, dass wir bis zur Bundestagswahl zu einem Ergebnis
kommen. Für die FDP-Bundestagsfraktion signalisiere
ich, dass wir dazu beitragen werden, dass es dazu
kommt.
Die zweite Bemerkung, die ich gerne vorweg machen
möchte: Es fällt mir auf, wie viele Anstrengungen unternommen werden, den Begriff der Lebenspartnerschaft
im Gesetzestext nicht zu erwähnen. Ich ahne, wer dafür
verantwortlich ist. Meine Gefühl ist, dass Sie, meine
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es nicht sind.
Liege ich da richtig?
({1})
Wir sollten auch da der gesellschaftlichen Wirklichkeit
Rechnung tragen und eine klare Gesetzessprache verwenden. All diejenigen, die gemeint sind, sollten auch
tatsächlich benannt werden und nicht etwa durch einen
Verweis auf das Bundesversorgungsgesetz erfasst werden. Das müsste in den Beratungen, die vor uns liegen,
eigentlich möglich sein.
Was den Inhalt anbelangt, teile ich beide Zielrichtungen, die von Staatssekretär Brandner hier vorgestellt
worden sind. Es hat sich spätestens in Mölln gezeigt,
dass es sinnvoll ist, dass Personen, die in Deutschland zu
Besuch sind und hier Opfer eines Terroranschlags werden, wie es beispielsweise bei einer türkischen Familie
der Fall war, von den Bestimmungen erfasst werden.
Dieses Ziel wird von uns ausdrücklich unterstützt.
({2})
Anschläge werden in einigen Urlaubsregionen verübt,
weil sie dort aufgrund der geringeren Sicherheitsvorkehrungen leichter durchgeführt werden können. Das war in
Djerba, auf Bali und zuletzt in Bombay der Fall. Wenn
deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Opfer eines
solchen Anschlages werden, dann handelt es sich um
eine Art Aufopferung, auch wenn es rechtlich gesehen
nicht der Fall ist. Deshalb haben wir die Pflicht - schon
in unserem Antrag aus dem Jahr 2002 haben wir dieses
Anliegen geäußert -, uns um diese Menschen zu kümmern.
Ich habe immer ein schlechtes Gewissen gehabt, dass
nach einer Härtefallregelung vorgegangen wurde und
dass es keinen tatsächlichen Rechtsanspruch gab. Viele
Opfer hatten das Gefühl, dass sie ein zweites Mal zum
Opfer wurden, weil sie auf staatliche Nachsicht angewiesen waren und keinen wirklich begründeten Rechtsanspruch hatten.
Herr Staatssekretär, Sie haben natürlich zu Recht darauf hingewiesen, dass es komplizierte Fragestellungen
durchaus auch an Stellen gibt, wo, wie ich finde, der
Staat nicht eintreten muss. Wir alle erinnern uns - die
meisten sind ja in einem Alter, dass man sich daran noch
erinnern kann -, dass ein sehr bekannter bayerischer Politiker bei einem Besuch im New Yorker Nachtleben zu
Schaden gekommen ist.
({3})
Es ist ganz selbstverständlich, dass die Bundesrepublik
Deutschland nicht einzustehen hat, wenn man sich in
eine solche gefahrengeneigte Situation begibt, wie das
damals der Fall war. Wie dem auch sei, es ist vollkommen klar: Der deutsche Steuerzahler kann nicht in Anspruch genommen werden, wenn sich jemand selbst in
Gefahr begibt und dann dabei Schaden erleidet.
({4})
- Bitte sehr, Herr Kollege, wenn die Frau Präsidentin es
gestattet.
Ich gestatte es, Herr van Essen.
Herr Kollege Kauder, ich weiß, Sie müssen immer
eine Zwischenfrage stellen. Deshalb sage ich sofort immer Ja.
Herr Kollege Kauder, Sie reden ja danach und könnten in Ihrer Rede auf Herrn van Essen eingehen.
Zumal er frei redet.
Ich lasse die Zwischenfrage trotzdem zu.
Das wäre dann aus dem Zusammenhang gerissen.
Herr Kollege van Essen, können wir uns darauf einigen, dass auch bei Inlandstaten Ausschlusstatbestände
für denjenigen gegeben sind, der sich in Gefahr bringt?
Bei der Auslandstat, die wir jetzt in das OEG einbeziehen, gilt also nichts anderes.
So ist es. Sie haben es richtig dargestellt. Aber, wie
gesagt, Sie hätten dies auch in Ihrer Rede tun können.
Ich weiß ja, wie gerne Sie Zwischenfragen stellen, wenn
ich rede. Deshalb wollen wir es bei dieser Tradition
gerne belassen.
Es ist gut, dass wir jetzt einen Rechtsanspruch in das
Opferentschädigungsgesetz aufnehmen. Das findet unsere Unterstützung. Wir sollten uns - das ist mein
Wunsch - in den Beratungen insbesondere darüber Gedanken machen, wie wir das Ganze lesbarer ausgestalten. Aber, wie gesagt, die Zielrichtung des Gesetzentwurfes ist richtig. Das ist ein erneutes Beispiel dafür,
dass im Bundestag nicht nur gestritten wird, sondern
dass man auch an einem Strang ziehen kann, wenn dies
für die Menschen gut ist. Gerade wer Opfer einer Straftat
oder Opfer eines Terroranschlages geworden ist, hat Anspruch darauf, dass wir uns gemeinsam Gedanken machen, zu guten Lösungen zu kommen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Jahr für Jahr werden in
der Bundesrepublik Deutschland etwa 700 000 Menschen Opfer schwerer Straftaten, Opfer von Attentaten,
Opfer von Vergewaltigungen, Opfer von Körperverletzungen, Opfer von Freiheitsberaubungen und, wie wir es
am 11. März 2009 in Winnenden erlebt haben, Opfer von
Amokläufen. Diese Menschen sind schwer traumatisiert.
Das gilt auch für die Hinterbliebenen der Opfer von
Straftaten. Sie brauchen Hilfe, sie brauchen Unterstützung, die sie - darüber sind wir sehr dankbar - teilweise
von ehrenamtlichen Helfern, von Institutionen wie der
des Weißen Ringes bekommen.
({0})
Das allein reicht aber nicht aus. Auch der Staat ist in
der Pflicht. So wie bei der heute anstehenden Änderung
war es schon in den 70er-Jahren. Die Diskussion, ob der
Staat eine staatliche Entschädigung an Opfer zahlen
sollte, entbrannte im Jahr 1971 und dauerte bis zum Jahr
1976. Die Diskussion war durchaus kontrovers. Noch
immer geistert das Dogma durch die Diskussion, das
Opferentschädigungsgesetz sei geprägt von dem Gedanken, dass der Staat dann einzustehen habe, wenn es ihm
nicht gelinge, innere Sicherheit zu gewährleisten, und
wenn deshalb, weil das Gewaltmonopol nicht ziehe, ein
Bürger Opfer einer Straftat werde. Dieses Dogma gab es
nie. Wenn man in den Gesetzentwürfen der CDU/CSUBundestagsfraktion aus dem Jahr 1971 nachliest, kann
man schon in den ersten einleitenden Sätzen feststellen,
dass die Intention des Opferentschädigungsgesetzes der
Umstand war, dass man Menschen, die durch eine Straftat in eine Notlage geraten sind, helfen solle. Deswegen
ist es auch kein Paradigmenwechsel, wenn wir heute sagen, wir wollen auch die Auslandstat einbeziehen.
Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Lücke
schließen, die man schon 1976 beim Erlass des OEG
hätte schließen können. Es ist eine etwas paradoxe Situation, über die wir zu diskutieren haben: Eine deutsche
Frau, die in Spanien vergewaltigt wird, bekommt nach
deutschem Opferentschädigungsrecht keine Opferrente.
Wird aber eine spanische Frau zum Beispiel von einem
Italiener in Deutschland vergewaltigt, bekommt diese
spanische Frau in Deutschland wegen des europaweit
geltenden Diskriminierungsverbotes eine Opferentschädigung. Das heißt, die deutsche Frau, das deutsche Opfer
steht im Ausland schlechter da, als das ausländische Opfer im Inland. Wir sind aufgerufen, dieses Problem zu lösen, diese Lücke zu schließen. Genau dazu ist dieser Gesetzentwurf vorgesehen.
Herr Kollege van Essen, ich verhehle nicht, dass ich
gerne alle Fraktionen bei diesem Entwurf eingebunden
hätte. Aber es gab - Sie haben das schon angesprochen gewisse Friktionen, die ich nicht wieder entstehen lassen
wollte, weil uns die Zeit davonläuft. Bis zum Ende der
Legislaturperiode haben wir nur noch wenige Sitzungswochen. Deswegen mussten wir handeln. Ich bitte, das
nicht als Affront zu verstehen. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages sind eingeladen, sich in den Ausschussberatungen einzubringen. Ich freue mich, wenn
dieser Gesetzentwurf einen breiten Konsens im Deutschen Bundestag herbeiführen wird; denn - das sage ich
gerne - das Thema Opferschutz gehört keiner Fraktion
und keinem Abgeordneten, Opferschutz ist vielmehr
eine Aufgabe, die das gesamte Parlament verantwortungsvoll wahrnehmen sollte. Es nimmt diese Aufgabe
erkennbar wahr.
({1})
Für uns war es außerordentlich wichtig, im Bereich
der Entschädigung bei Auslandstaten etwas Beispielhaftes einzuführen, über das wir genauer nachdenken müssen: Ein Opfer, das traumatisiert ist, braucht sofort Hilfe.
Es braucht eine psychotherapeutische Begleitung. Das
Opfer muss wissen, wer diese psychotherapeutische Begleitung bezahlt. Es gibt Fälle, in denen ein traumatisiertes Opfer für den Weg durch alle Instanzen sieben Jahre
brauchte, ehe über die Entschädigung befunden wurde.
Das ist ein untragbarer Zustand. Deswegen müssen wir
dazu beitragen, dass die Verfahren unbürokratischer
werden und schneller abgewickelt werden können.
({2})
Wir haben in diesem Gesetzentwurf daher vorgesehen,
dass es bei Auslandstaten als Entschädigung Pauschalbeträge gibt. Das Opfer kann ins Gesetz schauen und feststellen: Dieser Betrag steht mir zu. Auf diesen Betrag
habe ich einen Anspruch. Wir hoffen, dass dies zu einer
deutlich schnelleren Abwicklung führen wird.
Wenn wir diesen Gesetzentwurf in zweiter und dritter
Lesung verabschiedet haben, erleben wir eine Sternstunde des Opferschutzes. Das finde ich gut. Es kommt
nicht von ungefähr, dass wir gerade heute in erster Lesung über dieses Gesetz beraten. In wenigen Tagen, am
22. März 2009, findet, wie jedes Jahr, der Tag des Kriminalitätsopfers statt. An diesem Tag sind wir aufgerufen,
darüber nachzudenken, was wir für die Opfer von Straftaten noch zu tun haben. Mit der Entscheidung über das
OEG ist die Debatte über Hilfen, die wir den Opfern angedeihen lassen müssen, noch lange nicht abgeschlossen. Opferschutz ist immer in Bewegung. Wir werden
uns weiterhin Gedanken darüber machen müssen, wie
man die Privatsphäre eines Opfers in der Gerichtsverhandlung und gegenüber der Presse besser schützen
kann. Wir werden uns auch Gedanken darüber machen
müssen, wie man die Videografie verbessern kann. Es
gibt also viele Felder des Opferschutzes, auf denen wir
uns betätigen können.
Ich bin froh, dass die Politik den Blick viel stärker als
in früheren Jahren auf das Opfer richtet. Wir sind auf einem guten Weg.
({3})
Alle sind eingeladen, mitzumachen.
Vielen Dank.
Siegfried Kauder ({4})
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen,
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Mit dem Entwurf der Koalitionsfraktionen ereilt das Hohe Haus in dieser Legislaturperiode
die dritte Vorlage zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes. Doch die Linke findet, es hat sich bisher
nichts Substanzielles geändert. Die Opferinteressen lagen bislang anscheinend außerhalb des großkoalitionären Blickfeldes. Nichts anderes bleibt mir als Schlussfolgerung übrig, vor allen Dingen in Anbetracht der
Tatsache - das hat mein Vorredner deutlich gemacht -,
dass man kurz vor Toresschluss einen Rumpfvorschlag
einbringt, der vor allen Dingen auf der betagten Initiative von Bündnis 90/Die Grünen basiert.
Die Linke hat Initiativen zur Fortentwicklung der
Entschädigung von Opfern von Gewaltstraftaten jedes
Mal ausdrücklich begrüßt. Jedes Mal haben wir aber
- das kann man nachlesen - die gleichen Lücken feststellen und beklagen müssen. Die Opfer bzw. deren Hinterbliebene warten bis heute vergeblich auf eine substanzielle Regelung.
Was bringt der vorliegende Entwurf? Er enthält detaillierte Regelungen zur Entschädigung unschuldiger
Opfer vorsätzlicher Angriffe im Ausland sowie etwaiger
Hinterbliebener. Das mag in der Sache ein Fortschritt
sein, allerdings wohl eher motiviert durch die Erkenntnis, dass deutsches Engagement im Kampf gegen den
sogenannten internationalen Terrorismus auch zu einem
erhöhten Risiko für deutsche Staatsangehörige im Ausland führt. Der richtige Grundgedanke dabei ist: Wenn
der Staat durch sein Tun die Bevölkerung gefährdet, soll
er für das erhöhte Risiko einstehen.
Aber für nichtdeutsche Gewaltopfer, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, bleibt alles beim
Alten. Der Vorschlag wächst nicht über den Entwurf der
Grünen hinaus. Zum Beispiel wird die Ungleichbehandlung von Opfern in Ost und West aufrechterhalten.
({0})
Hinsichtlich der Einbeziehung von Lebenspartnern - das
wurde auch schon vom Kollegen van Essen beklagt fällt der Entwurf durch beredtes Schweigen hinter den
Entwurf der Grünen zurück.
({1})
Die Linke lehnt diese beschränkte Sicht auf die Opfer
ab.
Lassen Sie mich dazu einige Anmerkungen machen.
Ungleichbehandlung ausländischer Gewaltopfer: Außerhalb des privilegierten Kreises derjenigen, die bis
zum dritten Grad mit einem Deutschen verwandt sind,
erhalten diese keinen Anspruch oder nur unter den sehr
verschraubten Voraussetzungen des bestehenden Gesetzes. Das führt dazu, dass vor allen Dingen Opfer rassistischer Gewalt, die ohnehin schon mit einem diskriminierenden und überkommenen Ausländer- und Asylrecht zu
kämpfen haben, als Opfer zweiter Klasse behandelt werden und ohne einen Anspruch dastehen.
Die Ungleichbehandlung von Opfern in Ost und
West: Rund 20 Jahre nach dem Fall der Mauer werden
Opfer von Gewalttaten aus den fünf ostdeutschen Bundesländern bei der Höhe der Entschädigungsleistung immer noch benachteiligt. Das ist für die Linke eine ungerechtfertige Ungleichbehandlung.
({2})
Das Opferleid Ost ist nicht geringer zu schätzen als das
Opferleid West. Eine ökonomisch begründete Differenzierung findet auch nicht beim Verhältnis Stadt und Land
oder im Hinblick auf Einkommensunterschiede zwischen einzelnen Regionen der alten Bundesländer statt.
Gleiches gilt für die Lebenspartnerschaften. Die Situation von Lebenspartnern als Opfer von tätlichen Angriffen unterscheidet sich doch nicht von der von Eheleuten.
Auch dies ist eine Ungleichbehandlung, die abgeschafft
werden muss.
({3})
Die Linke fordert deshalb eine klarstellende diskriminierungsfreie Regelung, die - nebenbei gesagt - auch
zur Entbürokratisierung beitragen könnte.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauder?
Ja.
Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
dass die Lebenspartnerschaft bei Inlandstaten durch die
Verweisung auf das BVG ohnehin schon immer einbezogen war und dass der Gesetzentwurf, über den wir jetzt
diskutieren, auch bei Auslandstaten die Verweisung auf
das BVG enthält? Ihr Problem ist gelöst. Sie haben es
nur nicht erkannt.
({0})
Das sagen Sie, Herr Kollege Kauder. Das Problem ist
noch nicht gelöst, weil es keine richtige Klarstellung für
Opfer von tätlichen Angriffen gibt. Sonst hätte das hier
gerade erwähnt werden können.
({0})
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Jeder, der in
Deutschland Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat wird,
muss den gleichen Anspruch auf Entschädigung haben.
Die Ungleichbehandlung bei der Opferentschädigung
- nach Staatsangehörigkeit und vor allen Dingen nach
Wohnsitz - muss beendet werden. Denn der Schutzanspruch gegenüber dem Staat ist meines Erachtens unteilbar. Der Anspruch auf Fürsorge bei Staatsversagen muss
es auch sein; auch er gilt als unteilbar.
({1})
Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort dem
Kollegen Jerzy Montag.
Danke sehr, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 29. Mai 1993 haben feige Mordbrenner in
Solingen ein Haus angezündet. Bei diesem Brandanschlag, der zu einem Mordanschlag wurde, sind Gürsün
Ince, 27 Jahre alt, Hatice Genç, 18 Jahre alt, Hülya
Genç, 9 Jahre alt, Saime Genç, 4 Jahre alt, und Gülüstan
Oztürk, 12 Jahre alt, verbrannt. Der damalige Bundeskanzler Kohl hat sich geweigert, die Überlebenden in
Solingen zu besuchen, und hat stattdessen den Außenminister hingeschickt. Denn es waren Ausländer; sie hatten
mit Deutschland scheinbar nichts zu tun.
Was hat das mit dem Opferentschädigungsgesetz zu
tun? Sehr viel. Denn die Hinterbliebenen dieser Frauen,
Mädchen und Kinder haben Anträge nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt. Das oberste deutsche Gericht
hat diese Anträge abgewiesen, mit der Begründung, dass
das Opferentschädigungsgesetz für diese Personen nicht
einschlägig ist.
Herr Staatssekretär Brandner, ich bin etwas anderer
Auffassung als mein Kollege Kauder. Ich glaube, dem
Aufopferungsanspruch liegt die Überlegung zugrunde,
dass der Staat das Gewaltmonopol hat und zumindest im
Inland für den Schutz der Menschen einzustehen hat;
denn er ist die letzte Instanz. Die Tatsache, dass er für den
Schutz aller Menschen - ich betone: aller Menschen -, die
sich in Deutschland befinden, zuständig ist, würde es eigentlich erforderlich machen, dass wir mit dieser Kaskade der Ausschlüsse im OEG endlich Schluss machen.
Wir sollten mit einem einfachen Satz erklären: Der Staat
zahlt Opferentschädigungsansprüche unter den Voraussetzungen des OEG an alle, die Opfer einer Straftat in
Deutschland geworden sind.
({0})
Dass die Koalitionsfraktionen nur einen ersten Schritt
machen, haben sie in ihrem Gesetzentwurf mit fiskalischen Argumenten - das steht dort ausdrücklich so drin -,
also mit Haushaltsargumenten, begründet. Ich gestehe:
Auch wir Grüne haben mit unserem Gesetzentwurf nur
einen ersten Schritt gemacht und das Gesetz so weit ausgeweitet, dass der Fall von Solingen davon umfasst wird.
Wir wollen nämlich den Erfolg dieses Gesetzes.
Herr Kollege Kauder, in Zukunft müssen wir nicht
nur über die Aspekte des Opferschutzes, die Sie angesprochen haben, diskutieren, sondern auch über die
Frage, ob das Opferentschädigungsgesetz nicht für alle
Menschen, die in Deutschland Opfer einer Straftat werden, gelten muss.
Vor fast genau 13 Jahren, am 4. September 1996, hat
ein deutscher Röntgenarzt seine beiden deutschen Kinder, seine achtjährige Tochter und seinen sechsjährigen
Sohn, auf Mallorca getötet. Die Mutter hat Ansprüche
nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend gemacht.
Das höchste deutsche Gericht hat diese Anträge in letzter
Instanz zurückgewiesen. Auch hier besteht seit nunmehr
13 Jahren Nachbesserungsbedarf. Dabei geht es nicht
nur um die Opfer terroristischer Gewalttaten, zum Beispiel um die Opfer der Anschläge in Mumbai oder
Djerba, sondern auch um Fälle, die sich quasi im zivilen,
privaten Bereich abspielen, die sich aber nur auf deutsche Staatsangehörige beziehen. Das Opferentschädigungsgesetz muss auf Gewalttaten im Ausland ausgeweitet werden.
An dieser Stelle will ich deutlich machen: Frau Kollegin Dağdelen, es ist absurd, zu sagen, aufgrund seiner
Außenpolitik sei es die Schuld des deutschen Staates,
dass deutsche Staatsangehörige im Ausland gefährdet
werden. Diese Aussage war erkennbar neben der Sache.
({1})
Zum Schluss will ich noch eines erwähnen: Es gibt einen Gesetzentwurf mit identischem Inhalt: den Gesetzentwurf der Grünen vom 28. März 2006. Die Koalition
hat viel Gehirnschmalz darauf verwendet, aus der in unserem Gesetzentwurf vorgesehenen Formulierung von
§ 10 b OEG in ihrem Gesetzentwurf einen § 3 a zu formulieren und den Schutz der Lebenspartner hinter einer
Kaskadenverweisung zu verstecken.
Herr Kollege Kauder, Sie haben recht: Die Lebenspartner sind nach Ihrem Gesetzentwurf so geschützt wie
Verheiratete. Sie sind nur nicht erwähnt. Das ist ein bisschen beschämend und kleinlich, ebenso wie ihr Vorgehen, den Gesetzentwurf alleine und nicht mit uns
gemeinsam einzubringen, obwohl unser grüner Gesetzentwurf schon seit drei Jahren auf dem Tisch liegt.
({2})
Wenn es der Wahrheitsfindung dient: Wir werden Ihrem
Gesetzentwurf zustimmen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Amann,
SPD-Fraktion.
({0})
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Am vergangenen Wochenende hat die Internationale Tourismus-Börse in Berlin geschlossen. Die
Deutschen reisen gerne und viel, und das ist auch gut so.
Reisen bildet. 99 Prozent aller Deutschen, die privat
oder beruflich ins Ausland fahren, kehren wohlbehalten
nach Deutschland zurück, reicher an Erfahrung und Erkenntnissen, vielleicht auch mit neuen Freundschaften.
Das Fernweh der Deutschen ist einer der Gründe für die
Novellierung des Opferentschädigungsgesetzes. Ich
möchte vorweg sagen: Ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf für notwendig, aber auch für gut und sinnvoll.
Ein beliebtes Ziel deutscher Touristen ist die tunesische Insel Djerba. Es gibt dort Sonne, Strand und Meer,
und man kann die berühmte Al-Ghriba-Synagoge besichtigen. Am 11. April 2002 jagte ein Selbstmordattentäter der Terrororganisation Al-Qaida einen mit Gas beladenen Tankwagen vor dieser Synagoge in die Luft.
21 Menschen, darunter 14 Deutsche, wurden getötet.
17 Menschen erlitten schwere Verbrennungen.
In unserer heutigen Medienwelt jagt eine Sensation
die andere. Schon wenige Tage nach einem solchen Anschlag gehen die Medien auf die Suche nach neuen Sensationen. Ein grausamer Anschlag wie der in Djerba hinterlässt aber auch Opfer sowie die Hinterbliebenen und
Angehörigen, deren Leben sich durch ein solches Ereignis für immer verändert. Die Überlebenden sowie die
Hinterbliebenen und Angehörigen sind dann meist für
den Rest ihres Lebens durch physische und psychische
Verletzungen gekennzeichnet. Sie brauchen Fürsorge
und Hilfe, auch vonseiten des Staates.
Die deutschen Opfer von Djerba bzw. ihre Hinterbliebenen und Angehörigen hatten keinen Anspruch auf Entschädigung, der über die normalen Leistungen unserer
sozialen Sicherungssysteme hinausgeht. Das Opferentschädigungsgesetz - Staatssekretär Brandner hat es bereits erläutert - regelt die eigenständige staatliche Entschädigungspflicht für Opfer von Gewaltdelikten, die
der Staat nicht vor dieser Tat schützen konnte. Insoweit
ist das Opferentschädigungsgesetz ein wichtiges Sozialstaatselement, auf das wir stolz sein können.
Das bisherige Gesetz basiert allerdings auf dem Territorialprinzip. Das heißt, es gilt bisher nur in Fällen, in
denen eine Gewalttat auf deutschem Staatsgebiet verübt
wurde. Es gewährt auch keinen Schutz für Personen, die
sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten und
nicht mit Deutschen oder hier dauerhaft lebenden Ausländern verheiratet oder unmittelbar verwandt sind.
Nach dem Attentat in Djerba, dem 11. September
2001 in New York, aber auch den beschämenden ausländerfeindlichen Anschlägen in Mölln und Solingen - Herr
Montag, Sie haben es schon erwähnt - ist endgültig klar:
Auch bei Gewalt und Verbrechen hat eine Globalisierung stattgefunden. Wir müssen hier über nationale
Grenzen hinaus denken. Terrorismus ist international.
Deutsche können weltweit zu Zielen von Terrorismus
und Verbrechen werden. Leider können auch in Deutschland internationale Gäste, die beispielsweise ihre hier lebenden Verwandten besuchen, zu Opfern von Gewalttaten werden.
Deshalb legen die Koalitionsfraktionen heute einen
Gesetzentwurf vor, der eine Regelung für die deutschen
Opfer von Gewalttaten außerhalb des deutschen Staatsgebietes und eine Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten vorsieht. Ich glaube, das ist sinnvoll, gut und notwendig; das sagte ich schon am Anfang.
Die Debatte zeigt, dass der Entwurf eine große Mehrheit
im Haus finden wird.
Wir hätten das eigentlich schon vor einem Jahr beschließen können. Denn - der Kollege von der FDP
sagte es - bereits vor 14 Monaten haben sich SPD,
CDU/CSU, FDP und Grüne auf einen entsprechenden
Entwurf des BMAS geeinigt. Dass wir diesen Entwurf
erst heute in erster Lesung vorlegen, liegt in der Tat daran - liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich
kann Ihnen das nicht ersparen -, dass wir bei der Anpassung des Opferentschädigungsgesetzes an heutige Realitäten neben den Ehepartnern als Anspruchsberechtigte
auch Betroffene, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben, einbeziehen wollten. Das ist heute
selbstverständlich - dachte ich zumindest.
Dennoch hat genau das zu einer über einjährigen Verzögerung geführt. Denn unser Koalitionspartner - zumindest einzelne davon - weigerte sich, die Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in die
Opferentschädigung aufzunehmen. Ich finde das sehr
traurig. Herr Montag nannte es beschämend und kleinlich. Dem kann ich nur zustimmen. Ich bin davon enttäuscht. Aber am Ende haben wir einen Kompromiss gefunden, und es wurde mir gesagt, dass Sie, Herr Kauder,
entscheidend dazu beigetragen haben, dass es zu diesem
Kompromiss kommen konnte.
({0})
Die eingetragenen Lebenspartnerschaften sind im Gesetz nicht wörtlich erwähnt, aber über den Bezug auf das
Bundesversorgungsgesetz sind sie doch einbezogen. Wir
haben bei der Gleichstellung von Schwulen und Lesben
in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht,
was die Pflichten angeht. Wir sind aber noch nicht sehr
gut, was die Rechte angeht.
Wir Sozialdemokraten glauben, dass alle Menschen
unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung die gleichen Rechte haben sollten. Das muss auch für die Opferentschädigung gelten.
({1})
Ich glaube, unser Gesetzentwurf ist auf der Höhe der
Zeit. Das Opferentschädigungsgesetz wird zu einem Gesetz, das Ansprüche von Opfern und Hinterbliebenen
vernünftig regelt, und zwar in dem Umfang, der heute
erforderlich ist. Hoffen wir, dass wir es möglichst wenig
anwenden müssen.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul
Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf der Tribüne
und an den Fernsehgeräten! Heute Morgen auf dem Weg
in mein Büro bin ich an einem großflächigen Plakat vom
Weißen Ring vorbeigekommen, das an einer S-BahnStation hing und auf dem sinngemäß stand: Wenn alle
den Täter verfolgen, wer kümmert sich dann um das Opfer? - Genau um dieses Thema geht es heute in der Debatte über das Opferentschädigungsgesetz, das wir reformieren wollen.
Zunächst ein paar Richtigstellungen, Herr Kollege
Amann, Herr Kollege Montag. Bei Ihnen kann ich es
verstehen, Herr Kollege Amann. Sie gehören ähnlich
wie ich in dieser Legislaturperiode zum ersten Mal diesem Hohen Hause an. Herr Montag, Sie aber müssten
doch wissen, dass wir bereits in der bisherigen Form des
Opferentschädigungsgesetzes den Verweis auf das BVG
haben, wo genau diese Frage der Lebenspartnerschaften
bereits mit Verweis geregelt ist.
({0})
- Frau Präsidentin, er hat vorhin selber gesprochen.
Wenn Sie Wert auf seine Frage legen, würde ich sie zulassen. Aus meiner Sicht ist dies aber nicht erforderlich.
Wir sind eh schon genug im Verzug.
({1})
Ich frage Sie trotzdem: Lassen Sie die Zwischenfrage
des Kollegen Montag zu?
Ich bin nett und lasse sie zu, weil er gesagt hat, dass er
bei dem Gesetz mitmacht.
Ganz herzlichen Dank, Frau Präsidentin und Herr
Kollege Lehrieder. - Ich möchte Sie fragen, ob Sie die
Zeit finden und die Lust haben, sich mit mir nach dieser
Debatte für 15 Minuten zusammenzusetzen, damit ich
Ihnen erklären kann, dass es an einer Stelle im Opferentschädigungsgesetz einen Verweis auf das Bundesversorgungsgesetz gibt, dass aber die Bezugnahme, die wir
zurzeit haben, genau die beiden Fälle bisher nicht abgedeckt hat, in denen Lebenspartner nicht wie Verheiratete
behandelt worden sind, und dass deswegen eine weitere
Bezugnahme an zwei Stellen notwendig ist, die in diesem Gesetzentwurf zusätzlich hinzugekommen ist, damit es eine volle Angleichung gibt?
Sind Sie damit einverstanden, dass ich Ihnen das noch
einmal privatissime erkläre?
Selbstverständlich, Herr Kollege Montag. Erstens bin
ich ein netter Kerl. Zweitens habe ich ein geringes
Quäntchen Hoffnung, dass es meiner Wissensmehrung
dienen könnte, mit Ihnen noch einmal darüber zu sprechen. Wir machen das.
({0})
In den Ausführungen der Vorredner ist bereits sehr
deutlich geworden, dass uns allen gemeinsam ist, den
Opfern von Gewalttaten auch dann zu helfen, wenn es
nach der bisherigen Form des Opferentschädigungsgesetzes nur unzureichend möglich war.
Wie bereits gehört, gilt das Opferentschädigungsgesetz nicht für Menschen, die im Ausland Opfer von
Gewalttaten wurden. Auch für die Personen, die sich nur
vorübergehend in Deutschland aufhalten und weder mit
Deutschen noch mit dauerhaft hier lebenden Personen
verheiratet oder in gerader Linie verwandt sind, bietet
das bisherige Opferentschädigungsgesetz keinen ausreichenden Schutz. Daraus ergeben sich zwingend folgende
Fragen:
Erstens. Ist es gerade vor dem Hintergrund der veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen noch richtig, dass das Opferentschädigungsgesetz im Hinblick auf
sein Territorialprinzip diese Opfer ausklammert?
Zweitens. Ist es richtig, dass Opfer nur auf die bisher
schon möglichen Härtefallleistungen verwiesen werden?
Drittens. Muss die staatliche Opferentschädigung hier
nicht weiterentwickelt werden?
Gerade die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in den
vergangenen Jahren im Sinne der Opfer nach Antworten
auf diese Fragen gesucht und tragfähige Lösungen angeboten. Umso mehr freut es mich, dass wir nun gemeinsam mit unserem Koalitionspartner - wie ich gehört
habe, auch mit der FDP und mit den Grünen - ein Gesetz
auf den Weg bringen können, das die bisherige Lücke im
Opferentschädigungsgesetz schließen wird.
Ich möchte kurz die Regelungen im Einzelnen beleuchten. Zunächst zu den Deutschen, die im Ausland
Opfer von Straftaten wurden. Bei den zu erbringenden
Leistungen steht die schnelle medizinische Hilfe zusammen mit der psychotherapeutischen Betreuung im Vordergrund. Bei den vorgesehenen Geldzahlungen handelt
es sich um Einmalzahlungen.
Die Höhe der Einmalzahlung ist nach dem Grad der
Schädigungsfolgen gestaffelt. Bei einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 Prozent bis 40 Prozent entspricht
sie beispielsweise dem Jahresbetrag der bei Inlandstaten
bei gleichem Schädigungsgrad gezahlten Grundrente,
also 1 428 Euro. Bei einem Grad der Schädigungsfolgen
von 50 Prozent bis 60 Prozent beträgt die Einmalzahlung
5 256 Euro. Es geht hoch bis zu einem Schädigungsgrad
von 100 Prozent, bei dem die Einmalzahlung 14 976 Euro
beträgt.
In § 3 a des Gesetzentwurfs zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes werden die Leistungen für HinPaul Lehrieder
terbliebene geregelt. Hinterbliebene - einschließlich der
Eltern, deren minderjährige Kinder an den Folgen einer
Gewalttat im Ausland verstorben sind - sollen einen Anspruch auf notwendige psychotherapeutische Maßnahmen haben. Davon abgesehen haben sie Anspruch auf
eine Einmalzahlung von bis zu 4 488 Euro. Auch das
muss gesagt werden: Zu den Beerdigungs- und Überführungskosten wird ein Zuschuss von bis zu 1 506 Euro
gewährt. Leistungsansprüche aus anderen öffentlichen
und privaten Versorgungssystemen sind auf die Leistungen nach Abs. 2 und 3 anzurechnen.
Nun zu den Menschen, die sich nur vorübergehend in
Deutschland aufhalten. Von meinen Vorrednern wurde
bereits auf den Fall Solingen hingewiesen. Der Schutzbereich in § 1 Abs. 6 des Opferentschädigungsgesetzes
wird vor allem auf Verwandte bis zum dritten Grad ausgedehnt, die ihre dauerhaft in Deutschland lebenden
Angehörigen besuchen. Bislang konnten diese Gruppen
lediglich einen Härtefallausgleich nach § 10 b des Opferentschädigungsgesetzes erhalten. Es war zwar schon damals möglich, eine Entschädigung zu erhalten, allerdings gab es keinen Rechtsanspruch darauf. Herr Kollege Montag, Sie haben zutreffend darauf hingewiesen.
Jetzt ist sichergestellt, dass Geschädigte bei der Versorgung gegenüber Hinterbliebenen nicht schlechter gestellt werden. Allerdings soll der Schutzbereich des
Opferentschädigungsgesetzes aus Gründen der Finanzierbarkeit gerade nicht generell für alle Touristen und
Geschäftsreisenden gelten. Gerade der letztgenannte
Personenkreis dürfte oft schon anderweitig, zum Beispiel durch eine private Versicherung, abgesichert sein.
Ich freue mich, dass die Gesetzesberatungen in den
Ausschüssen, die nach dieser heutigen ersten Lesung erfolgen werden, offensichtlich von der großen Mehrheit
der Oppositionsfraktionen mitgetragen werden. Von zwei
Fraktionen habe ich schon Zustimmung signalisiert bekommen, bei der dritten Oppositionsfraktion habe ich
noch meine Zweifel. Man wird sich überraschen lassen,
ob Sie auch zustimmen können, liebe Freunde von den
Linken.
({1})
Ich wünsche uns gute Beratungen und hoffe, dass wir
noch in dieser Legislaturperiode das Gesetz auf den Weg
bringen können.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/12273 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({0}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Moratorium für die elektronische Gesundheitskarte
- Drucksache 16/11245 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald
Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bei der Einführung der elektronischen
Gesundheitskarte gewährleisten
- Drucksache 16/12289 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Daniel Bahr, FDP-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eingangs dieser Debatte will ich ausdrücklich festhalten,
dass die FDP die Chancen, die im Einsatz der Informationstechnologie für das Gesundheitswesen liegen, ausdrücklich begrüßt.
Grundsätzlich eröffnet die Telematik im Gesundheitswesen gute Perspektiven für eine bessere Versorgung
und bessere Abläufe. Jedem hier im Hause ist doch völlig klar, dass die moderne Informationstechnologie auch
Eingang ins Gesundheitswesen erhalten muss, wodurch
der Ablauf und die Zusammenarbeit verbessert werden
können, weil nicht mehr nur auf Papier und alten Wegen
gearbeitet wird.
Gerade im Gesundheitswesen müssen wir aber besonders die Risiken berücksichtigen, die nun einmal damit
verbunden sind, erst recht wenn es sich um solch sensible Daten wie die Gesundheitsdaten handelt. Dabei
darf man die Risiken nicht außer Acht lassen.
Im Rahmen der damaligen Gesundheitsreform Seehofer/
Schmidt haben CDU/CSU, SPD und Grüne mit einer
ganz großen Koalition und gegen die Bedenken der FDP
bereis 2003 im Gesundheitsmodernisierungsgesetz die
Einführung der elektronischen Gesundheitskarte beschlossen. Die Realisierung, die mehrfach angekündigt
wurde, lässt noch auf sich warten, da ein solch umfas22798
Daniel Bahr ({0})
sendes System der elektronischen Gesundheitskarte allein technisch, aber auch aus Datenschutzgründen eben
nicht so einfach einzuführen ist.
({1})
Wenn es um die Speicherung von Gesundheitsdaten
geht, sollte besondere Vorsicht gelten. Ich will niemandem im Hause in Abrede stellen, dass damit keine guten
Ziele verfolgt werden. Man stelle sich nur einmal vor,
der Arbeitgeber bekäme Kenntnis über die Gesundheit
seiner Mitarbeiter oder wüsste von der Erkrankung eines
Bewerbers, die potenziell dessen Leistungsfähigkeit einschränkt. Es ist wohl klar, dass Bürger nicht wollen, dass
Unbefugte Zugriff auf ihre Gesundheitsdaten erhalten.
Ich möchte noch ein anderes Beispiel nennen. Als
Union und SPD den Behörden unter bestimmten Bedingungen den Zugriff auf die Computer der Bürger ermöglichten, war der Aufschrei in der Bevölkerung zu Recht
groß. Die Möglichkeit des Einblicks in intimste Daten
der Gesundheit eines Menschen ohne dessen Wissen und
Einwilligung dürfte noch eine Steigerung darstellen.
Deshalb muss man bei einem so umfassenden System
der elektronischen Gesundheitskarte besonders aufmerksam und skeptisch werden, wenn ich auch weiß, dass der
Datenschutzbeauftragte bisher die hohen Kriterien des
Datenschutzes immer wieder angesprochen hat und auch
in die Umsetzung eingebunden ist.
Für uns als Liberale ist das Ziel: Wir wollen keinen
gläsernen Patienten.
({2})
Für die FDP ist Voraussetzung, dass der Versicherte stets
Herr über seine eigenen Daten ist und bleibt. Er soll darüber entscheiden, wer welche seiner Gesundheitsdaten
zu welchem Zweck nutzen darf. Die Speicherung der
Notfalldaten sowie in weiteren Ausbauschritten die elektronische Arzneimitteldokumentation und die elektronische Patientenakte müssen dabei auf Freiwilligkeit beruhen. Der Versicherte kann, muss aber nicht entsprechende
Daten zu diesen Zwecken speichern lassen.
Ich sage Ihnen eines voraus: Ohne die Freiwilligkeit
wird dieses Projekt wohl kaum die zum Gelingen erforderliche breite Akzeptanz finden. Das sehen wir an dem
Unmut, der bei den Leistungserbringern und Patienten
derzeit bei der Umsetzung der elektronischen Patientenakte in Deutschland festzustellen ist.
Studien haben aber gezeigt, dass sich das gesamte
Projekt um die elektronische Gesundheitskarte erst dann
rechnet, wenn diese freiwilligen Zusatzanwendungen
auch genutzt werden. Ansonsten übersteigen nämlich die
Kosten des Aufbaus einer geeigneten Infrastruktur den
aus dem Projekt entstehenden Nutzen, wie die Studien
darlegen.
Schon häufig konnte man in anderen Bereichen erleben, wie hohe Datenschutzstandards aufgeweicht wurden. Freiwillige Anwendungen können schnell zu Pflichtanwendungen werden, wenn damit in einem finanziell
stets auf Kante genähten Gesundheitssystem Kosten eingespart werden sollen. Genau das ist unsere Sorge. Versicherten und Behandlern könnten mehr oder weniger
zwingende Anreize gesetzt werden, sich entsprechend zu
beteiligen. In einem Gesundheitswesen, das immer stärkere zentralistische und dirigistische Züge aufweist, darf
der nächste Schritt jedoch nicht darin bestehen, den
Schutz sensibelster und intimster Daten gegen vermeintliche finanzielle Vorteile auszuspielen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Versicherten vor die Wahl zwischen
finanziellem Vorteil und Wahrung ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte gestellt werden. Dann wäre es in der Tat
nicht mehr weit zum gläsernen und vor allem staatlich
steuerbaren Patienten.
Die bisherigen Tests haben mehr Fragen aufgeworfen
als Antworten gegeben. Ich möchte einige Probleme
nennen. In Schleswig-Holstein bzw. in Flensburg, wo
Tests durchgeführt wurden, gab es Probleme mit der Geheimnummer, der sechsstelligen PIN. Sobald die Probleme zutage traten, kam der Vorschlag vonseiten der
Politik, der Exekutive und vieler anderer Bereiche, auf
die Eingabe der Geheimnummer zu verzichten. Das
zeigt, wie schnell es dazu kommt und wie gefährlich es
ist, dass hohe Datenschutzstandards, die ursprünglich
vorgegeben worden sind, in der praktischen Umsetzung
sehr schnell aufgeweicht werden können.
Die hohen Datenschutzstandards müssen auch weiterhin gewährleistet werden. Große Mengen sensibelster
Daten quasi in einer Hand zu bündeln, birgt ohne Zweifel Gefahren. Deswegen meinen wir: Nach dem gläsernen Bankkunden und dem gläsernen Internet-User darf
jetzt nicht auch noch der gläserne Patient drohen.
({3})
Es wurde angesprochen, dass das Vorhaben nicht zu
zusätzlicher Bürokratie führen soll. Das Ausstellen eines
Rezepts dauert nach Aussage eines am Test teilnehmenden Internisten nun dreimal und das Einlesen der Karte
viermal so lange wie bisher.
Was wir derzeit als Umsetzung erleben, betrifft bei
weitem noch nicht die elektronische Gesundheitskarte,
auch wenn das wahrscheinlich gleich wieder so verkauft
wird, sondern es ist, wenn überhaupt, nur eine Vorstufe
dessen, was noch alles kommen soll. Schon hierbei werden Probleme deutlich. Die AOK Rheinland will, wie sie
jetzt in der Öffentlichkeit kundgegeben hat, die Karten
erst dann ausgeben, wenn sichergestellt ist, dass die
Ärzte zur Teilnahme am Onlinebetrieb verpflichtet sind.
Die privaten Krankenversicherungen - das war vorgestern zu lesen - steigen mittlerweile aus dem Projekt
aus. Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen lassen
sich in Zeitungen ohne Namen mit der Feststellung zitieren, die elektronische Gesundheitskarte sei politisch tot.
Für uns ist deshalb eines ganz wichtig: Wir wollen das
Prinzip der Freiwilligkeit für Versicherte, Ärzte und
Krankenhäuser bei der Nutzung der Gesundheitskarte
gewährleistet haben. Wir wollen nicht, dass ein Druck
zur schnellen Umsetzung dieses umfassenden Konzepts
der elektronischen Gesundheitskarte entsteht, das immer
noch viele Fragen und Sorgen aufwirft. Deswegen haben
wir von der FDP einen Antrag eingebracht, der ein MoraDaniel Bahr ({4})
torium für die elektronische Gesundheitskarte vorsieht.
Die Einführung muss so lange zurückgestellt werden, bis
wirklich sichergestellt ist, dass die Voraussetzungen der
Datensicherheit erfüllt sind. Das ist aus unserer Sicht
noch nicht gegeben. Deswegen darf hier nicht mit Druck
an der Umsetzung gearbeitet werden. Wir sollten uns
vielmehr so viel Zeit für die Umsetzung lassen, bis alle
offenen Fragen geklärt sind.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Koschorrek,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, vom
Volksmund kurz als E-Card bezeichnet, gilt sicherlich
weltweit als eines der anspruchsvollsten Vorhaben der
Informationstechnik im Gesundheitswesen, jedenfalls
was die Größe der betroffenen Population angeht. Es besteht nun offenbar bei der FDP-Fraktion die Sorge, dass
die E-Card zu schnell - in Ihrem Antrag heißt es: übereilt - eingeführt wird.
({0})
Die Fraktion der Grünen nutzt die Gelegenheit, kurzfristig einen Antrag zur elektronischen Gesundheitskarte
nachzuschieben. Im Wesentlichen wird darin gefordert,
was bereits in dem von Ihnen geforderten Sinne geregelt
bzw. selbstverständlich ist. Nur ein Beispiel: Sie finden
lobende und anerkennende Worte für die Vorkehrung zur
Datensicherheit bei der E-Karte. Sie fügen hinzu: So
muss es bleiben. - Neu ist allerdings die absolut unrealistische Forderung, dass es den Leistungserbringern,
den Arztpraxen, freigestellt sein soll, an der Nutzung der
E-Card teilzunehmen. Es liegt auf der Hand, dass das so
nicht funktionieren kann.
Die zentrale Forderung der FDP lautet, die Einführung der E-Card auf Eis zu legen, weil - so befürchten
Sie - die Erfüllung zentraler Anforderungen wie die Datensicherheit, die Freiwilligkeit und die Gewährleistung
eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses nicht
garantiert sei. Ich kann Ihnen versichern, dass die Union
die in Ihrem Antrag geäußerten Anliegen und Sorgen
sehr ernst nimmt. Für uns, die CDU/CSU, haben die Datensicherheit bei der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und die Selbstbestimmung des Patienten
über seine Daten absolut oberste Priorität.
({1})
Es ist auch für uns eine Selbstverständlichkeit, dass
die Alltagstauglichkeit der E-Card eine unverzichtbare
Voraussetzung für die Einführung in die ärztliche Praxis
ist. Wir wissen aber auch und sollten es ehrlich eingestehen, dass anspruchsvolle und hochkomplexe technische
Neuerungen nur selten von heute auf morgen perfekt
funktionieren. Es liegt in der Natur eines so hochkomplizierten und anspruchsvollen technischen Projektes wie
der E-Card, dass sie immer weiterentwickelt, verbessert
und an neue, zusätzliche Anforderungen angepasst wird.
Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern,
dass auch bei Toll Collect die Startschwierigkeiten extrem waren. Heute haben wir ein - unstrittig - im internationalen Vergleich einmalig gut funktionierendes System implementiert.
({2})
- Das ist ein gutes Beispiel, das auch durch Zwischenrufe nicht schlecht gemacht werden kann.
Der Vorwurf einer übereilten und unbedachten Einführung mutet in dieser Situation nahezu absurd an. Es
ist Ihnen doch bekannt - falls nicht, möchte ich es noch
einmal in Erinnerung rufen -, dass die bundesweiten Organisationen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen
bereits seit Ende der 90er-Jahre als Aktionsforum „Telematik im Gesundheitswesen“ mit dem Thema der elektronischen Gesundheitskarte und den möglichen Inhalten
telematischer Anwendungen befasst sind. Schon vor
fünf Jahren, im Jahre 2004, wurde bereits die rechtliche
Grundlage für die E-Card mit dem Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung gelegt.
Die Anforderungen an die Datensicherheit und die Funktionen der E-Card sind im SGB V verankert. Die ursprünglich für das Jahr 2006 geplante flächendeckende
Einführung der E-Card wurde verschoben. Die Testergebnisse zeigten damals noch viele Unzulänglichkeiten, die zwischenzeitlich behoben sind.
Die flächendeckende Einführung erfolgt jetzt schrittweise, über einen längeren Zeitraum gestreckt. Im ersten
Quartal 2009 hat der sogenannte Roll-out der elektronischen Gesundheitskarte in der KV-Region Nordrhein
begonnen. Die Einführung der E-Card wird sich in mehreren Etappen vollziehen. Die verschiedenen Kartenfunktionen werden in verschiedenen Ausbaustufen erst
nach und nach zum Einsatz kommen. Die letzte Stufe
wird die umfassende elektronische Patientenakte sein.
Bei allen Stufen vorher geht es überhaupt nicht darum,
dass sensible Patientenakten öffentlich verfügbar gemacht werden. Es ist sichergestellt, dass die Patienten
selber und in eigener Verantwortung darüber entscheiden, in welchem Umfang Daten gespeichert oder gelöscht werden sollen und wem sie diese Daten zugänglich machen wollen.
({3})
Es gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Jeder Versicherte
muss wissen, dass es allein seine persönliche und freiwillige Entscheidung ist, welche Daten gespeichert werden und wer sie lesen kann. Es besteht kein Anlass, die
Versicherten und Patienten zu verunsichern; denn die
verpflichtend auf der E-Card hinterlegten Daten stimmen im Wesentlichen mit den Informationen überein, die
auf der bisherigen Krankenversichertenkarte gespeichert
sind:
({4})
Name, Geburtsdatum, Geschlecht, Anschrift und Krankenversicherungsnummer. Als zusätzliche verpflichtende Funktion kommt das elektronische Rezept hinzu.
Darüber hinaus können die Versicherten und Patienten freiwillig persönliche Gesundheitsdaten speichern
lassen. Es ist sichergestellt, dass für diesen freiwilligen
Bereich strenge Datenschutzregeln gelten. Der Zugriff
auf die Daten ist nur mit der Kombination aus persönlicher Geheimnummer des Patienten und elektronischem
Heilberufeausweis möglich, der zentraler Bestandteil
des Sicherheitskonzepts der E-Card ist. Nur mit dieser
Legitimation ist es möglich, Daten von der Gesundheitskarte zu lesen oder elektronische Rezepte und medizinische Daten zu speichern bzw. zu lesen.
Wer trotz aller Vorkehrungen und Maßnahmen zum
Schutz der Daten gleichwohl Bedenken hat, wird in eine
Speicherung seiner Gesundheitsdaten sicherlich nicht
einwilligen. Für diejenigen bleibt hinsichtlich der Kommunikation, Dokumentation, Bereitstellung und Nutzung ihrer Gesundheitsdaten alles wie bisher. Das Prinzip der Freiwilligkeit ist in diesem System elementar; es
wird auch künftig nicht infrage gestellt.
({5})
Für die Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens, für die Patienten und Leistungserbringer bringt die
Vernetzung von Gesundheitsdaten, wie sie mit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte möglich
ist, eine ganze Reihe von Vorteilen. Belastende und teure
Mehrfachuntersuchungen wie doppeltes Röntgen oder
doppelte Laboruntersuchungen können vermieden werden. Ärzte und Patienten haben einen schnelleren und
besseren, vollständigen Überblick über den Gesundheitsstatus, zum Beispiel hinsichtlich Grunderkrankungen, Impfungen, Allergien, Vorsorgeuntersuchungen,
des Verlaufs chronischer Erkrankungen und individueller Risiken des Patienten. Das mühsame und zeitaufwendige Dokumentieren bzw. Suchen von Vorbefunden entfällt. Die Behandlungsqualität kann verbessert werden,
wenn die Behandlungen besser aufeinander abgestimmt
werden und sich sinnvoll ergänzen. Mit der Arzneimitteldokumentation werden Kontraindikationen und Doppelverordnungen vermieden. Im Notfall sind wichtige
Daten deutlich schneller verfügbar.
({6})
Wir sind als Politiker dafür verantwortlich, dass die
neuen technischen Möglichkeiten mit all ihren Vorteilen
für die Bürger genutzt werden. Zugleich setzen wir uns
für größtmögliche Datensicherheit ein und verfolgen
konstruktiv und kritisch die Aktivitäten der gemeinsamen Selbstverwaltung, die in der Gesellschaft Gematik
gebündelt sind. Weil wir die Kritik und die Sorgen hinsichtlich der Datensicherheit ernst nehmen, tun wir alles
dafür, dass der Schutz und die technische Sicherheit der
sensiblen Gesundheitsdaten höchsten Anforderungen
entsprechen.
Die E-Card wurde in enger Abstimmung mit dem
Bundesbeauftragten für den Datenschutz entwickelt; er
wird auch die weitere Entwicklung und Anwendung der
elektronischen Gesundheitskarte beeinflussen, sie unterstützen und kritisch begleiten. Datensicherheit und Datenschutz sind im Rahmen unserer gesetzlichen Möglichkeiten voll gewährleistet.
Die Nutzung der E-Card ist nicht zuletzt auch eine
Basis dafür, dass die Nutzung der Telematik im Gesundheitswesen in breitere Bevölkerungskreise Einzug hält.
Ich bin sicher, dass es bald eine Selbstverständlichkeit
sein wird, die Vorteile der Telematik zu nutzen.
Gestatten Sie mir zum Schluss einige ganz persönliche Gedanken zur Telematik, nicht aus Sicht des Politikers, sondern des Versicherten und Patienten. In einem
Land wie der Bundesrepublik Deutschland, einem Hightechland, erwarte ich im Jahr 2009 vom Gesundheitswesen eine Plattform, bei der ich, egal wo ich in Deutschland einen Arzt oder eine Klinik aufsuche, mit meiner
Einwilligung, meinem Schlüssel, zusammen mit meinem
Behandler Zugang zu meinen vollständigen medizinischen Daten, zu Dokumenten, Bildern, Untersuchungsergebnissen und Befunden habe, egal von wem, wann
und wo sie erhoben worden sind.
({7})
Ich weiß - verschiedene neue Umfragen belegen dies
eindeutig -, dass diese Erwartung von einer überwiegenden Mehrheit unserer Bürger und vor allem der Patienten
geteilt wird. Dieses Thema ist zu wichtig für die Menschen, als dass man es um den Preis einer Schlagzeile
mit populistischen Phrasen wie „Angst vor dem gläsernen Patienten“ belegen sollte. Lassen Sie uns die Einführung neuer Technologien zum Wohle der Patienten konstruktiv gestalten!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth, Fraktion die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Ziele, die Herr
Koschorrek eben erneut formuliert hat, kann man in der
Tat zum großen Teil unterstreichen. Die gemeinsame
Selbstverwaltung hat es nach Einbringung des Gesetzes
nicht geschafft hat, die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen für die Einführung der Gesundheitskarte zu
erfüllen. Daher musste das Bundesgesundheitsministerium im Oktober 2006 eine Verordnung erlassen, in der
festgelegt wurde, dass die Gesundheitskarte vor ihrer
Einführung einem vierstufigen Testverfahren unterzogen
werden muss. Dieses Verfahren ist jetzt geltendes Recht
und unbedingt einzuhalten. Offenkundig wird sich aber
die Betreibergesellschaft Gematik nicht daran halten.
Der 100 000er-Test soll offenbar nicht durchgeführt werden. Dennoch wird schon jetzt mit der flächendeckenden
Ausgabe der Karten in Nordrhein begonnen. Das ist
rechtswidrig. Wenn die Bundesregierung ihre eigene
Verordnung ernst nimmt, müsste sie eingreifen. Tut Sie
es nicht, macht sie einen schweren Fehler.
Nicht nur rechtlich, sondern auch fachlich kritisieren
wir dieses Vorgehen. Die einzige Technik, die überhaupt
getestet wurde, waren zentrale Onlinespeicherserver, die
über Internet erreichbar sind.
({0})
Überall, wo auf zentralen Servern viele sensible Daten
gespeichert sind, wachsen natürlich Begehrlichkeiten.
Durch die Onlinevariante wird es bei allem Datenschutz
möglich, darauf zuzugreifen. Der Schlüssel dazu wird
bei der Ausgabe der Karte von der Krankenkasse erzeugt
und an den Kartenhersteller ausgeliefert. Er wird zudem
für den Fall des Verlustes der Karte bei einem sogenannten Treuhänderdienst hinterlegt. An diesen drei
Stellen - Kassen, Kartenhersteller und Treuhänderdienst - finden sich Angriffspunkte für Interessenten an
den Daten. Aber zumindest Krankenkassen, Arbeitgebern und Versicherungen darf man durchaus ein gewisses wirtschaftliches Interesse an diesen Daten unterstellen.
Am Horizont sehe ich auch schon Herrn Schäuble
auftauchen, der diese Daten möglicherweise zur Terrorbekämpfung haben möchte.
({1})
Mit dem jetzt vorhandenen Gesetz ist nach meiner Auffassung nicht gewährleistet, dies zu verhindern. Die Vorratsdatenspeicherung der Telefon- und E-Mail-Verbindungsdaten zeigt schon jetzt, wie einfach es ist, Daten,
die zunächst für Rechnungszwecke gespeichert wurden,
nun zur Bekämpfung von Kriminalität heranzuziehen.
Wenn man an der Onlinevariante der Gesundheitskarte festhält, dann muss nach meiner Auffassung wenigstens der Schutz der Daten Verfassungsrang haben.
Dieses Problem könnte mit einer dezentralen Offlinevariante der Karte, zum Beispiel einem USB-Stick, gelöst
werden. Die Firma Gematik hat im Oktober 2008 der
Ärzteschaft zugesagt, diese dezentrale Speichermöglichkeit zu erproben. Das ist bislang nicht geschehen. Ich
vermute, dass eine ernsthafte Prüfung auch nicht mehr
stattfinden wird; andernfalls schaffte man in Nordrhein
keine vollendeten Tatsachen.
({2})
Für die gesetzlich vorgesehenen Funktionen der Karte
benötigt man keine zentralen Onlineserver. Aber man
will sie durchsetzen, weil man sie für die sogenannten
Mehrwertdienste nutzen will. Dahinter verbergen sich
viele Anwendungen, mit denen private Firmen Gewinn
erzielen können. Ob diese Anwendungen der Gesundheit
nutzen, ist nach meiner Auffassung sehr fraglich.
Die Linke fordert deshalb: Die geltenden Datenschutzregelungen müssen ohne Wenn und Aber eingehalten werden.
({3})
Die informationelle Selbstbestimmung der Patienten
muss gewahrt werden. Die Gesundheitskarte, die von
den Beitragszahlern mit Milliarden vorfinanziert wird,
darf nicht zur privaten Profiterzielung nutzbar gemacht
werden. Der staatliche Zugriff auf Gesundheitsdaten
muss kategorisch ausgeschlossen werden. Die
100 000er-Tests müssen durchgeführt werden.
({4})
Außerdem muss die dezentrale Offlinelösung tatsächlich
getestet werden. Erst danach darf über eine flächendeckende Ausgabe der Gesundheitskarte verhandelt werden.
({5})
Nächste Rednerin ist die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich muss schon ein bisschen über die Einlassungen staunen, die vonseiten der FDP und vonseiten Herrn Spieths
für die Linke vorgetragen wurden. Wir haben doch über
Jahre hinweg darüber diskutiert, dass die Missbrauchsmöglichkeiten der jetzigen Karte enorm sind. Gerade im
Fachausschuss wurde immer wieder kritisiert, dass die
Datenunsicherheit der jetzigen Krankenversichertenkarte, die nicht spezifisch gesichert ist, groß ist
({0})
und dass wir aus diesem Grunde eine neue elektronische
Gesundheitskarte brauchen, die einen deutlichen Mehrwert hat. Darin waren wir uns einig.
Interessant ist doch, dass selbst die Dinge, die im
Fachausschuss klar waren - der Datenschutzbeauftragte
war doch bei uns -, von Ihnen überhaupt nicht mehr dargestellt werden. Ich zitiere Ihnen gerne aus dem jüngsten
Brief des Datenschutzbeauftragten an Frau Pfeiffer vom
Spitzenverband Bund der Krankenkassen, in dem er
schreibt:
Im Zusammenhang mit der Roll-out-Planung sind
in den letzten Wochen einige Fragen mit erheblicher datenschutzrechtlicher Brisanz diskutiert worden. Vor allem die Frage der Verbesserung des
Schutzniveaus der Versichertendaten durch die
elektronische Gesundheitskarte war Gegenstand
zahlreicher Schreiben. Dabei habe ich deutlich gemacht, dass mein Anliegen die schnellstmögliche
Beseitigung des technologisch begrenzten Schutzniveaus der derzeitigen Krankenversichertenkarte
ist. Ich sehe durch die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte sowohl in diesem konkreten Fall als auch in anderen Fällen eine große
Chance, eine generelle Verbesserung des Datenschutzniveaus zu erreichen.
Das rückt die Dinge doch wieder zurecht.
Die neue Karte hat ein höheres Schutzniveau, und sie
löst die alte Karte mit einem niedrigeren Schutzniveau
ab. Was will die FDP? Sie will ein innovations- und fortschrittsfeindliches Moratorium. Sie springen von einem
fahrenden Zug ab, nur um sich Überschriften zu sichern.
({1})
Das kann von uns auf keinen Fall gutgeheißen werden.
({2})
Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann muss man
Folgendes feststellen: Sie haben auf der einen Seite - ({3})
- Herr Bahr, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. Das verlängert meine Redezeit. Ich bin dazu bereit.
Herr Kollege Bahr, überwiegend hat in einer Debatte
die Rednerin das Wort. Wenn Sie etwas sagen wollen,
dann stellen Sie eine Zwischenfrage.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne.
Frau Staatssekretärin, Sie erwecken den Eindruck, als
ob alles fantastisch läuft. Ich möchte nur einmal an die
Nachrichten der letzten Tage erinnern. Der Verband der
privaten Krankenversicherung hat öffentlich gesagt, dass
er aussteigt. Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen
lassen sich mit der Aussage in den Zeitungen zitieren,
das Projekt der elektronischen Gesundheitskarte sei politisch tot. Die AOK Rheinland weigert sich, in Nordrhein, wo die erste Umsetzung dieses Projektes stattfinden soll, die Karten weiter auszugeben, weil wesentliche
Fragen aus Sicht der AOK Rheinland noch nicht geklärt
sind. Sie tun so, als ob alles funktioniert und die FDP nur
einen Schauantrag stellt. Das entspricht doch überhaupt
nicht der Nachrichtenlage der letzten Tage.
Herr Kollege Bahr, das, was Sie sagen, ist falsch. Erstens. Die AOK Rheinland ist nicht gegen die Ausgabe
der Versichertenkarte; sie möchte vielmehr weitere Prüfungen, was die Fragen der Onlinenutzung und des Rollouts angeht. Aber die Karten werden planmäßig ausgeteilt.
Zweitens. Die privaten Krankenversicherungen möchten gerne mitmachen, sie möchten aber eine klare Basis,
um auf dieser Grundlage ihre Entscheidung weiterhin
vertreten zu können.
Drittens. Wenn Sie sich die Geschichte der elektronischen Gesundheitskarte anschauen, dann stellen Sie fest,
dass wir immer dafür sorgen mussten, dass diese Innovation überhaupt voranging, und dass immer wieder einmal Sperrfeuer von Einzelnen kam, die sich vor der
Transparenz fürchten, die die neue Karte bietet. Das ist
der eigentliche Grund. Die Kreise, die das verhindern
wollen, bedienen Sie noch mit Ihrem Antrag.
({0})
Überhaupt nicht begreifen kann ich, dass Sie das
Thema PIN noch einmal problematisieren. Gerade die
PIN und der doppelte Schutz durch die beiden Zugangsschlüssel war der Grund, warum der Datenschutzbeauftragte von einem hohen Schutzniveau sprach. Jetzt problematisieren Sie die PIN, die sich eigentlich überall
bewährt hat. Ich kann Sie da nicht ganz verstehen. Was
wollen Sie denn nun: ein höheres oder ein niedrigeres
Schutzniveau?
({1})
Frau Kollegin Bender, Sie haben nach mir die Gelegenheit, uns den Gesinnungswandel der Grünen ausführlich zu erläutern.
({2})
Ich muss mich schon sehr wundern: Die einen sagen, wir
brauchen ein Moratorium, weil noch gar nicht klar ist, zu
wie vielen Anwendungen es wirklich kommt und ob es
sich rechnet, und Sie sagen jetzt, die Anwendungen sind
bei den Leistungserbringern freiwillig. Bei Freiwilligkeit
der Nutzung der Versichertendaten sind die Kosten des
technologischen Projektes überhaupt nicht effizient zu
berechnen. Was ist das für eine Haltung?
({3})
Schließlich haben Sie an der Einführung mitgewirkt.
Man staunt schon über die verschiedenen Roll-backs, die
wir bei der elektronischen Gesundheitskarte zu verzeichnen haben.
({4})
Ich bleibe dabei: Das ist ein wichtiges Projekt, das mit
Innovationen für Patientinnen und Patienten verbunden
ist. Wir können nicht zurück in die technologische Steinzeit, sondern wir müssen dahin kommen, dass der Patient und die Patientin letztlich darüber entscheiden, wie
ihre Daten verwendet werden. Sie müssen in die Lage
versetzt werden, zum Beispiel ihre elektronische Patientenakte einzusehen oder dafür zu sorgen, dass die Informationen zwischen den einzelnen Arztgruppen fließen.
Dieser Mehrwert für die Patientinnen und Patienten kann
einfach nicht hoch genug angesetzt werden.
({5})
Ich muss Sie jetzt fragen, ob der Kollege Spieth noch
eine Zwischenfrage stellen darf?
Ich habe meine Redezeit schon überschritten.
Nein, Sie sind noch in Ihrer Redezeit; sonst würde ich
die Zwischenfrage nicht zulassen.
Dann gerne.
Herzlichen Dank für die Zulassung meiner Zwischenfrage.
Frau Staatssekretärin, zwei konkrete Fragen. Erstens.
Das BMG hat 2006 ein vierstufiges Testverfahren festgelegt, das vor der flächendeckenden Einführung der
Gesundheitskarte zu realisieren ist. Der letzte Test, genauer: drei Tests mit 100 000 Versicherten, die in drei
Regionen in Deutschland durchgeführt werden sollten,
werden offenkundig nicht mehr durchgeführt. Ist das
richtig oder falsch?
({0})
Zweitens. Ist die Zusage der Selbstverwaltung gegenüber der deutschen Ärzteschaft, dass eine USB-StickLösung, also eine Lösung, die eine dezentrale Speicherung vorsieht, gefunden werden soll, eine Zusage, die
vor einer flächendeckenden Ausrollung der Gesundheitskarte eingehalten werden muss und wird, ja oder
nein?
Herr Kollege Spieth, gerne beantworte ich Ihnen
diese Fragen. Sie hatten bereits Gelegenheit, mit der
Fachabteilung unseres Hauses genau diese beiden Fragen zu erörtern. Vor 14 Tagen fand dazu ein Treffen mit
dem zuständigen Referatsleiter statt.
({0})
Ich beantworte diese Fragen aber gern noch einmal im
Plenum.
({1})
Zur ersten Frage. Wir haben Ihnen schon damals erläutert, dass die 100 000er Testphase durchgeführt und
in die Roll-out-Phase integriert wird.
({2})
Deswegen liegt unseres Erachtens kein Rechtsverstoß
vor.
Zur zweiten Frage. Das Thema USB-Stick wird bewertet werden. Es gibt grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit. Deshalb ist die Frage der
Anwendung anders als die Frage der Bewertung von
Chancen und Risiken. Eine solche Bewertung wird
selbstverständlich vorgenommen. Auch das habe ich Ihnen bereits vor 14 Tagen erläutert.
Schönen Dank.
Frau Kollegin, mir liegt ein weiterer Wunsch nach einer Zwischenfrage vor, und zwar des Kollegen Ströbele.
Gerne.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, dass ich noch die
Gelegenheit zu dieser Frage bekomme.
Ich bestreite nicht, dass es Überlegungen gibt, die dafür sprechen, eine solche Gesundheitskarte einzuführen.
({0})
Was sagen Sie zu dem sogenannten Mautdateien-Argument - es spielt in der öffentlichen Diskussion eine ganz
erhebliche Rolle, gerade bei den Datenschützern, bei besorgten Initiativen -, dass dann, wenn Daten in einer Datei gespeichert und verfügbar sind, immer wieder Begehrlichkeiten geäußert werden, diese Daten für alle
möglichen anderen Zwecke zu nutzen,
({1})
und dass das Vertrauen der Bevölkerung darauf, dass ein
solcher Missbrauch, also eine Nutzung dieser Daten für
anderweitige Zwecke, durch ein Gesetz ausdrücklich
ausgeschlossen ist, zutiefst erschüttert ist, seitdem der
Umgang der Bundesregierung mit der Mautdatei bekannt geworden ist?
({2})
Nachdem der entsprechende Gesetzentwurf verabschiedet und diese Datei angelegt worden war, hat die Bundesregierung das Gesetz geändert, um die zu einem ganz
anderen Zweck - zum Erheben von Gebühren - erhobenen Daten anderen Zwecken zuführen.
({3})
Seitdem ist nicht mehr das nötige Vertrauen in die Politik und in den Gesetzgeber vorhanden, dass einmal angelegte Dateien sicher sind. Was sagen Sie dazu?
Sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, das gibt mir Gelegenheit, Ihnen noch einmal zu erläutern, dass seit 2004
ein Zugriffsverbot gesetzlich geregelt ist.
({0})
Dieses Verbot kann nicht umgangen werden. Wer illegalerweise auf Daten zugreift, macht sich strafbar. Weil es
sich um sensible Patientendaten handelt, haben wir das
im Gesetzgebungsverfahren mit einem hohen Sicherheitsniveau verankert. Ich bin Ihnen für die Frage wirklich sehr dankbar. Mit dieser Patientendatenstruktur haben wir ein hohes Schutzniveau sichergestellt. Man
braucht zwei Schlüssel, um an die Daten heranzukommen, nämlich vom Patienten und vom Leistungserbringer, der den elektronischen Heilberufsausweis hat. Mit
der PIN gibt es einen zusätzlichen Schutz. Wir haben im
Gesetzgebungsverfahren geregelt, dass die Daten nicht
für andere Zwecke an Dritte, weder an Arbeitgeber noch
an staatliche Stellen, weitergegeben werden dürfen. Damit haben wir sehr frühzeitig und in enger Kooperation
mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten für ein hohes
Datensicherheitsniveau gesorgt.
({1})
Herr Kollege Ströbele, das geht jetzt nicht mehr.
({0})
Das Wort hat die Staatssekretärin Caspers-Merk. Oder
sind Sie mit Ihrer Rede am Ende?
Ja. Das war eigentlich keine Zwischenfrage, sondern
eine Frage am Ende meiner Rede. Ich habe natürlich
sehr gern die Gelegenheit genutzt, die Redezeit zu verlängern. Vielen Dank, Herr Kollege Ströbele.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie
man die elektronische Gesundheitskarte gegen die Wand
fahren kann, hat vor wenigen Wochen der Vorstandsvorsitzende einer großen westdeutschen Krankenkasse vorgeführt; davon war schon die Rede. Wenn man sagt, wir
machen das mit der Karte nur, wenn Ärztinnen und
Ärzte verpflichtet werden, am späteren Onlinebetrieb
der Karte teilzunehmen, dann wird man die Karte gegen
die Wand fahren.
({0})
Es scheint noch nicht bei allen Beteiligten angekommen zu sein - Frau Staatssekretärin, das ist auch eine
Mahnung an Sie -, dass es sich nicht um ein herkömmliches Großprojekt handelt, bei dem man vielleicht hoffen
kann, es einfach so durchdrücken zu können. Bei der
elektronischen Gesundheitskarte ist klar: Sie ist auf die
Akzeptanz ihrer potenziellen Anwenderinnen und Anwender angewiesen; denn die Funktionen, die über die
Speicherung der Verwaltungsdaten und das elektronische Rezept hinausgehen, lassen sich - richtigerweise nur mit Zustimmung der Patienten und Patientinnen aktivieren. Wenn Sie sie dafür nicht gewinnen, dann wird
die E-Card nichts anderes bleiben als eine Krankenversicherungskarte mit Foto. Eine solche hätte man deutlich
schneller und billiger haben können.
Ob sich Patienten und Patientinnen für oder gegen die
Gesundheitskarte entscheiden, wird auch davon abhängen, wie sich die sie behandelnden Ärzte und Ärztinnen
sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe dazu verhalten. Wie sie sich aufstellen werden, wenn sie zur
Onlineanwendung der Karte gezwungen werden, kann
man sich vorstellen, wenn man daran denkt, was Ärztinnen und Ärzte sonst so tun, wenn sie Kritik vorzubringen
haben. Das Freiwilligkeitsprinzip muss also auch für sie
gelten.
({1})
Es gibt für die E-Card viele gute Argumente. Sie
schafft die informationstechnische Grundlage für mehr
Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Sie kann für
mehr informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten sorgen. Sie kann insbesondere zum
Patientenschutz beitragen, indem sie einen Damm gegen
die drohende Kommerzialisierung elektronischer Patientenakten errichten hilft.
({2})
Angebote privater Firmen, die durch ihre Anbindung an
das Internet höchst unsicher sind und keine Gewähr dafür bieten, dass die Patientendaten nicht kommerziell
weiterverwendet werden, wollen wir nicht. Im Vergleich
dazu sind die Regelungen für die E-Card unter datenschutzrechtlichen Aspekten nahezu vorbildlich.
({3})
Das ändert aber nichts daran - daran kann man politisch
nicht vorbeigehen -, dass es in Teilen der Ärzteschaft
und auch unter Bürgerrechtlern Befürchtungen im Hinblick auf den Datenschutz gibt.
({4})
Die notwendige Akzeptanz für die Karte wird deshalb
nur zu erreichen sein, wenn die Bundesregierung wirklich glaubhaft machen kann, dass die gesetzlichen Garantien für den Datenschutz strikt eingehalten werden.
({5})
In diesem Zusammenhang, lieber Herr Kollege
Koschorrek, war Ihr Vergleich mit dem Mautgesetz nicht
passend. Da war es doch genau so, dass der liebe Herr
Schäuble, kaum dass die Datei existierte, schon Zugriff
auf die Daten nehmen wollte.
({6})
Für die Gesundheitsdaten muss daher gelten: Sie müssen
für alle Zeiten vor der Datenkrake Schäuble sicher sein.
Dafür werden wir kämpfen.
({7})
Datenschutz ist eben keine unzulässige Zumutung gegenüber dem reibungslosen Betrieb der Informationstechnik, sondern ein Grundrecht der Bürgerinnen
und Bürger.
In der Diskussion um diese Karte dominieren bisher
technische, gesundheitspolitische, auch industriepolitische Aspekte. Wenn die Gesundheitskarte aber tatsächlich das halten soll, was sich viele von ihr versprechen,
muss für ihre weitere Ausgestaltung die Patientenperspektive zu einem entscheidenden Kriterium werden.
Dann müssen sich auch verschiedene Gruppen von Patientinnen und Patienten darin wiederfinden können,
nicht nur der junge IT-Freak, der mit einer solchen Karte
sicherlich gut zurechtkommt, sondern auch ältere oder
behinderte Menschen. Vor diesem Hintergrund muss
auch der Grundsatz der Barrierefreiheit beachtet werden.
Probleme mit der praktischen Handhabbarkeit der
Karte, die wir bereits erlebt haben, müssen vor der Onlineschaltung der Karte ausgeräumt werden. Die Patientinnen und Patienten müssen Beratungsangebote erhalten. Die Patientenverbände müssen einbezogen werden.
Kurzum, hier wird ein dialogischer Prozess mit den betroffenen Gruppen stattfinden müssen. Diese meine Auffassung unterscheidet sich allerdings deutlich, Herr Kollege Bahr
Frau Kollegin Bender.
- vorletzter Satz -, von Ihrer. Sie vertrauen offenbar
darauf, dass es dann, wenn man den Prozess jetzt einfach
stoppt und Experten beauftragt, sich damit zu beschäftigen, besser wird.
({0})
Gerade so sehen wir das nicht. Wir wollen, dass es unter
Einbeziehung der betroffenen Gruppen weitergeht, damit aus der E-Card etwas Gutes wird, was den Patienten
nützt.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Eike
Hovermann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte mich zuerst an die wenden, die die
Datensicherheit beklagen. Als einer der größten Kenner
in puncto Datensicherheit weiß ich, wie viele Millionen
und Milliarden Daten ungeschützt vagabundieren oder
auf Datenfriedhöfen liegen. Das gilt insbesondere auch
für das alte System. Wenn nun ein Kollege beklagt, dass
es Interesse daran gibt, auf die Daten des neuen Systems
zuzugreifen, hat er offensichtlich in seiner jahrelangen
parlamentarischen Arbeit nicht begriffen, dass das bisherige System - ich wiederhole es - so löchrig war wie ein
Schweizer Käse und bisher im Grunde genommen allen
möglichen Interessen offengestanden hat.
({0})
Zweite Bemerkung zu diesem Thema: Wir sollten
eine möglichst produktive Diskussion führen. Ich habe
aber das Gefühl - es wäre schön, wenn mich an dieser
Stelle mein Gefühl trügen würde -, dass sie mittlerweile
schon in den Strudel des Wahlkampfes der Wahl im September 2009 gerät.
Dritte Anmerkung: Die Datensicherheit im neuen
System wird dank der Chipkarte und der anderen Instrumente, die hier schon geschildert worden sind, um ein
Vielfaches höher liegen als früher; aber man kann natürlich nicht sagen, dass es überhaupt nicht anfällig ist.
({1})
Es wird immer entsprechende Interessen geben. In Anhörungen wurde uns ja von Verbänden mitgeteilt, dass
Hackerklubs, zum Beispiel in Dortmund, bisher fast jedes System geknackt haben. Es besteht natürlich auch
jetzt ein hohes Interesse, dieses System mit seinen vielen
Daten zu knacken.
Im Rahmen der Diskussion ist etwas Wertvolles geschehen: Wir haben mit den Patientenbeauftragten, den
Datenschützern - ein Vertreter eines Hackerklubs war
übrigens auch dabei - und Vertretern von verschiedenen
Spitzenorganisationen die Frage diskutiert, wie wir die
Daten in einem sich immer weiter verbessernden Prozess
so schützen können, dass der Zugriff auf diese nicht so
fürchterlich leicht möglich ist, wie es bisher der Fall
war; ich könnte dafür mehrere Beispiele bringen.
Herr Bahr, Sie lesen die Welt sicherlich mehr als ich.
({2})
- Diese Zeitung ist Ihnen geneigter als vielleicht die taz. Ich will auf die Anzeige eingehen, die dort in der Ausgabe vom Montag dieser Woche abgedruckt war. Lesen
Sie sie einmal nach. Der Spitzenverband Bund vergrößert die Abteilung, die sich mit diesem Thema befasst,
extensiv, und zwar in dem Wissen, dass in Richtung Modellverträge und Strukturverträge - beides wollen Sie und im Hinblick auf § 140 a SGB V, Integrierte Versorgung, diese Chipkarte ein unverzichtbares Instrument ist,
um das Ziel, die Segmentierung in ambulant und stationär zu überwinden - auch das wollen Sie -, auch nur annähernd zu erreichen.
({3})
- Da haben Herr Hess, die Vertreter des Spitzenverbandes Bund und der Deutschen Krankenhausgesellschaft
wohl unrecht. Herr Bahr, wir nehmen Ihre Meinung zur
Kenntnis.
Frau Kollegin Bender, Sie haben vorhin die Finanzierung angesprochen und das Schlagwort vom „gläsernen
Patienten“ benutzt.
({4})
- Dann war es Herr Bahr.
({5})
- Irgendeiner hat es mit „gläsernem Arzt“ verwechselt.
Aber lassen Sie mich diesen Gedanken zu Ende führen,
weil ich nicht mehr so viel Redezeit habe.
Die Diskussion außerhalb der Verbände zeigt sehr
deutlich, dass im Zuge einer E-Card Behandlungspfade
verfolgt werden können und nachgewiesen werden kann,
was im Rahmen einer Behandlung vielleicht falsch gelaufen ist. Das haben manche Ärzte nicht so gerne und
wollen dies verhindern, indem sie - aus Angst vor dem
„gläsernen Arzt“ - vor dem „gläsernen Patienten“ warnen, also die Argumentation verdrehen.
Die anderen Argumente gegen die E-Card haben einen etwas tieferen Hintergrund. Sie betreffen nämlich
die Frage der Finanzierung. Es ist wohl richtig, dass im
ambulanten Bereich ein übergroßer Anteil der Finanzierung von den Ärzten in den einzelnen Praxen aufgebracht werden muss. Dagegen wird im stationären Bereich - wir sollten offen darüber reden; es sei denn, Sie
legen darauf keinen Wert - ein Großteil des Equipments
über andere Quellen - Stichwort: duale Finanzierung finanziert.
Herr Kollege!
Dadurch entsteht an dieser Stelle die Angst, dass es
eine ungleiche Belastung für die freien Berufe gibt, für
die Sie ständig auf allen möglichen Podiumsdiskussionen eintreten.
Herr Kollege!
Bin ich schon fertig?
({0})
Ziemlich.
Ich halte es daher für wünschenswert, weiter nach Lösungen zu suchen, auch im Hinblick auf die Entwicklung
einer europäischen Chipkarte. Mit Blick auf die Sicherheit der Patienten nicht nur in unserem Land wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ab Oktober - dann hat
sich die Koalition wieder gebildet - mit uns an einem
Strang ziehen würden.
Zur PKV nur noch dies:
Herr Kollege, ich bin jetzt auch fertig.
Die PKV ist nicht ausgestiegen. Der Verband hat gesagt, dass Einzelne so weitermachen. Ich sage Ihnen:
Diese werden alle in die elektronische Gesundheitskarte
investieren.
Vielen Dank für die Geduld.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/11245 und 16/12289 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Offenbar sind Sie damit einverstanden. Dann ist das so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale
- Drucksache 16/12099 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/12299 Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/12302 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider ({2})
Otto Fricke
Alexander Bonde
Hierbei ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist auch
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Nicht zum ersten Mal, sondern zum wiederholten Mal - vielleicht aber abschließend für diese
Wahlperiode - steht uns eine spannende Debatte zur
Pendlerpauschale ins Haus. Wir haben sie schon des Öfteren geführt. Es gibt zwar nicht mehr viel Neues, was
man dazu sagen kann. Aber man kann bestimmte Dinge
durchaus noch einmal herausstreichen.
Wenn man sich mit der Geschichte der Pendlerpauschale beschäftigt und antizipiert, welche Positionen
meine nachfolgenden Rednerinnen und Redner vertreten
werden, muss man sich vergegenwärtigen: Was war
2005? Was war die Ausgangslage?
Die CDU und die CSU haben ein gemeinsames Wahlprogramm vorgelegt. Darin stand die deutliche Kürzung
der Pendlerpauschale. Ein gewisser Erwin Huber hat an
diesem Wahlprogramm wesentlich mitgewirkt.
Die FDP redet immer von „Steuersenkungen“ und hat
„tolle steuerpolitische Konzepte“; die Anführungszeichen und die Ironie bitte ich zur Kenntnis zu nehmen.
({0})
- Überhaupt nicht. - Mit dem Stichwort der Steuervereinfachung ist die Absicht verbunden, den kleinen Leuten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - sei es
bei der Steuerfreiheit der Zuschläge für Nachtschichten
und für Sonntagsarbeit, sei es bei der Pendlerpauschale an den Geldbeutel zu gehen.
({1})
Als Sozialdemokraten haben wir in dieser Frage eine
klare Position gehabt. Wir waren für die Beibehaltung
der Pendlerpauschale in der bisherigen Form.
({2})
Die Grünen haben zur Pendlerpauschale die Vorstellung entwickelt, sie um die Hälfte zu reduzieren. Auch
dies war verfassungswidrig, weil diese die tatsächlichen
Kosten nicht mehr abgedeckt hätte. Dieser Grundsatz ist
jedoch bei der Gewährung einer Pauschale einzuhalten.
Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung sind
dann die letzten Bundestagswahlen bestritten worden.
In der Koalitionsverhandlung zwischen CDU/CSU
und SPD haben sich die Sozialdemokraten an verschiedenen Punkten durchgesetzt. Bei der Pendlerpauschale
hat sich überwiegend die CDU/CSU durchgesetzt.
({3})
- Das kann jeder nachlesen.
({4})
- Sie kennen offenbar die Geschichte nicht. Man braucht
sie nicht zu klittern, sondern muss sie einfach so erzählen, wie sie ist.
Dann hatten wir im Finanzausschuss des Deutschen
Bundestages eine Anhörung,
({5})
in der kein Einziger der dort anwesenden Fachleute sich
für die Lösung ausgesprochen hat, die die CDU/CSU in
der Koalition durchgesetzt hat. Dann haben wir von der
SPD den Versuch unternommen, die geplante Regelung
zu ändern. Dies ist vehement abgelehnt worden, insbesondere von der CSU. Dann haben wir die Lösung der
CDU/CSU in Treue zur Koalitionsverabredung in das
Gesetz übernommen.
({6})
- Sie wissen schon, wer der Gesetzgeber ist, Frau Kollegin Scheel.
({7})
Die Verantwortung müssen natürlich wir als Gesetzgeber
auf uns nehmen. Das haben wir in diesem Fall gemacht.
Trotz großer Bedenken haben wir diese Lösung dann in
das Gesetz geschrieben.
Dann gab es die ersten Urteile der Finanzgerichte. Sie
waren unterschiedlich. Seitens der sozialdemokratischen
Fraktion haben wir dann noch einmal einen Anlauf unternommen und gesagt: Lasst uns nicht das Bundesverfassungsgerichtsurteil dazu abwarten, sondern lasst uns
die Regelung gleich ändern. Das alles ist dokumentiert;
das kann man nachlesen.
({8})
Dann ist es leider wieder an unserem Koalitionspartner
gescheitert.
({9})
- Nein, an ihm ist es nicht gescheitert. Das steht alles in
der Zeitung. An anderer Stelle können Sie die Fakten,
die Sie brauchen, immer sehr gut herausfinden. Vielleicht lesen Sie auch einmal das, was Ihnen nicht in den
Kram passt und was die Wahrheit ist. In diesem Fall ist
das alles sehr gut dokumentiert. In den Veröffentlichungen vom November 2007 kann man das alles nachlesen.
Nach der bayerischen Kommunalwahl wurde es auf
einmal spannend. Derselbe Erwin Huber, der vorher der
Totengräber der Pendlerpauschale war,
({10})
hat sich als Voodoo-Priester geriert und wollte sie wieder
zum Leben erwecken. Das war ein durchaus spannender
und erhellender Moment.
({11})
Aber es war wiederum die Führung der CDU/CSU-Fraktion, die das Ansinnen der Sozialdemokraten, die Regelung sofort zu ändern und das Bundesverfassungsgerichtsurteil nicht mehr abzuwarten, abgelehnt hat.
({12})
Als das Bundesverfassungsgerichtsurteil vorlag, war
die spannende Frage: Was machen wir jetzt? Greifen wir
das Thema auf und regeln es sozusagen für die Vergangenheit, um absolute Rechtssicherheit zu schaffen, oder
schaffen wir diese Rechtssicherheit im Zuge der Neuregelung einer Pendlerpauschale, die angesichts der unterschiedlichen Ansichten in diesem Haus und innerhalb
der Koalition im Hinblick auf die Zukunft nicht hinzubekommen ist? Wir Sozialdemokraten haben dazu gesagt:
Lasst nicht zu, dass die Steuerbescheide vorläufig ergehen. Dazu hieß es wiederum: Das ist alles ganz klar; die
Rückwirkung brauchen wir nicht zu regeln; lasst uns ein
Eilgesetz machen; wenn wir das für die Zukunft regeln,
dann lasst uns das auch für die Vergangenheit regeln; die
Leute bekommen ihr Geld. - Dieselben Kollegen von
der CSU, die es in der Finanz-AG abgelehnt haben, diese
Sache zu regeln, haben über Herrn Seehofer eine Bundesratsinitiative eingebracht, um Rechtssicherheit zu
schaffen.
({13})
Obwohl die Kollegen es in der Finanz-AG abgelehnt haben, das so zu regeln, wie wir das wollten, hat Herr
Seehofer einen gleichlautenden Antrag eingebracht.
Die entscheidende Frage ist eigentlich nicht: Pendlerpauschale - ja oder nein?, sondern: Wer hat den Schwarzen Peter? In diesem Fall gibt der Name einen Hinweis
darauf, wo er hingehört. Wer sich die Entwicklung anschaut - angefangen beim Wahlprogramm -, stellt fest,
dass der Schwarze Peter bei den Schwarzen ist.
({14})
Heute beenden wir diese Debatte und schaffen
Rechtssicherheit.
({15})
Wir sorgen dafür, dass die Menschen, die lange Wege
auf sich nehmen, um zum Arbeitsplatz zu kommen, wieder die Pendlerpauschale erhalten. Debatte hin, Debatte
her, das ist ein gutes Ende, über das sich alle freuen können.
Herzlichen Dank.
({16})
Volker Wissing hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, was wir uns
von der Großen Koalition bieten lassen müssen.
({0})
Die einen behaupten, die CDU/CSU hätte die Pendlerpauschale abgeschafft; gleich werden wir von den anderen hören, dass die SPD die Pendlerpauschale abgeschafft hat.
({1})
Sie waren das beide! Sie haben beide zugestimmt. Sie
waren beide anwesend, als alle Sachverständigen im
Finanzausschuss unisono - auch die, die Sie benannt haben - erklärt haben, dass Ihre Regelung mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar
ist, dass sie keinen Bestand haben kann.
({2})
Wenn man die Sachverständigen der Koalition gefragt
hat, ob das verfassungskonform ist - ich erinnere mich
noch genau daran -, dann lautete die Antwort: Natürlich
nicht! Es gab nur einen in Deutschland, der wieder einmal alles besser wusste, und das war der sozialdemokratische Finanzminister, der darauf bestanden hat, dass die
Regelung verfassungskonform sei, und sie durchgesetzt
hat, und zwar auch mit den Stimmen der SPD, Herr
Pronold. Sich jetzt hier hinzustellen und so zu tun, als
habe man das gar nicht gewollt, das finde ich schon sehr
scheinheilig.
({3})
- Dieser Einwand ist richtig. Roland Koch hat mitgemacht. Auch die CSU hat mitgemacht. Es ist doch so:
Ohne die CSU hätte es die Kürzung der Pendlerpauschale nie gegeben. Die Wiedereinführung der vollen
Pendlerpauschale erfolgt jetzt allerdings ohne die CSU,
nämlich auf dem Umweg über das Bundesverfassungsgericht. Das finde ich äußerst bedauerlich, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen.
Diese Regierung ist eine Regierung der Superlative.
Nach der größten Steuererhöhung in der Geschichte unseres Landes kommt jetzt der größte Schuldenberg. Wir
beraten heute den größten anzunehmenden Unfug, einen
Super-GAU dieser Großen Koalition.
In der Öffentlichkeit ist bekannt, dass unser Bundesfinanzminister eine Vorliebe für Nashörner hat. So betreibt er auch Finanzpolitik: Kopf runter und losstürmen
statt innehalten und nachdenken. Wir haben umfangreiche Sachverständigenanhörungen durchgeführt und gehört, dass das nicht verfassungskonform ist. Ich meine,
das war relativ leicht nachzuvollziehen. Aber nein, Sie
wollten das unbedingt. Diese Nashornfinanzpolitik mag
ja unterhaltsam sein; im Interesse der Bürgerinnen und
Bürger unseres Landes ist sie aber nicht. Während der
Bundesfinanzminister seinen Egotrip locker fortgesetzt
hat, haben die Finanzgerichte - eines nach dem anderen die Regelung nicht angewandt. Sie haben Vorlagebeschlüsse gefasst und erklärt, dass das auf dem Boden
des Grundgesetzes so nicht machbar sei. Auch wir haben
Ihnen das vorher gesagt.
Diese Politik ist äußerst bedauerlich. Wenn wir heute
schon darüber reden, will ich dieses schöne Beispiel nutzen, um zu zeigen, wo wir am Ende dieser Legislaturperiode der Großen Koalition stehen: Diese Koalition,
diese Regierung hat unser Land nicht einen Millimeter
vorangebracht. Wir führen jetzt genau das wieder ein,
was wir hatten, bevor wir Sie hatten.
({4})
Wir erleben in diesen Tagen auch auf internationaler
Ebene Steinbrück’sche Nashornpolitik. Die Schweiz bekommt es diesmal ab. Dort werden die siebte Kavallerie
von Yuma oder die Peitsche angedroht. Ich finde das,
ehrlich gesagt, peinlich.
({5})
- Nein. Ihr Zwischenruf, Herr Kollege Pronold, ist auch
peinlich.
({6})
Ich finde diese Wortwahl des Bundesfinanzministers für
die Bundesrepublik peinlich, und ich finde auch Ihren
Zwischenruf peinlich.
({7})
Denn man kann auch gegen Steuerhinterziehung sein
und sich auf internationalem Parkett wie ein normaler
Mitteleuropäer benehmen und nicht wie ein Nashorn,
das anderen Ländern Vorwürfe unter Niveau macht.
({8})
Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland diese Brachialrhetorik des Finanzministers langsam leid sind.
({9})
Man kann sie auch nicht gutheißen.
Das Hickhack um die Entfernungspauschale war genauso peinlich wie unnötig, aber auch lehrreich. Die
Bürgerinnen und Bürger konnten erfahren, wie schnell
aus einer Regierungspartei in Berlin eine Oppositionspartei in München werden kann. Die CSU hat sich hier
nicht mit Ruhm bekleckert. Ich erinnere mich noch, dass
Sie im Wahlkampf in Bayern Unterschriften gesammelt
haben mit dem Hinweis: Unterschreiben Sie gegen die
Kürzung der Pendlerpauschale, sie ist verfassungswidrig! Kurze Zeit davor hatten Sie im Deutschen Bundestag die Hand für die Kürzung gehoben. Das ist eine peinliche Veranstaltung, die heute beendet wird.
({10})
- Ja, es ist für Sie vielleicht unangenehm, das zu hören.
Sie stehen da wie begossen. Das muss man einmal sehen.
({11})
Sie führen jetzt das wieder ein, vor dessen Abschaffung
wir immer gewarnt haben. Erst schaffen Sie etwas ab,
dann führen Sie es wieder ein. Am Ende dieser Legislaturperiode kommen wir zurück auf den Anfang. Schade,
denn es ist vertane Zeit für dieses Land. Wir haben hier
im Deutschen Bundestag unnötige Debatten geführt.
({12})
Sie haben ohne Grund die Finanzverwaltung belastet.
Sie hatten unrecht. Genauso haben Sie auch in den anderen finanzpolitischen Positionen, die der Bundesfinanzminister mit Vehemenz und der ihm eigenen Selbstgefälligkeit vertritt, schlicht und einfach unrecht.
({13})
Wir werden noch vieles abwickeln müssen, was Sie als
Große Koalition auf den Weg gebracht haben. Schön,
dass wir heute einen Schritt weiter sind. Wir sind da, wo
wir ohne Sie schon einmal waren.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat als Nächster der Kollege Olav Gutting
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und
Kollegen! Seit das Bundesverfassungsgericht über die
Verfassungswidrigkeit der gekürzten Pendlerpauschale
entschieden hat, ist ungefähr ein gutes Vierteljahr vergangen. In dieser Zeit hat es bei den über 15 Millionen
Pendlerinnen und Pendlern immer wieder viel unnötige
Verwirrung und Aufregung gegeben.
({0})
Dies lag vor allem an dem Vorläufigkeitsvermerk, der
in den geänderten Steuerbescheiden gedruckt war.
({1})
Rein formal ist dieser Vermerk nicht zu beanstanden.
Man muss dazu sagen, dass in den Bescheiden versucht
wurde, die Vorläufigkeit zu erklären. Die Ursachen der
Vorläufigkeit waren abgedruckt. Trotzdem hat dieser
Vermerk bei vielen Menschen die Angst geweckt, dass
die Finanzämter die mit den neuen Steuerbescheiden
ausgezahlten Steuererstattungen später wieder eintreiben
könnten. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu
Recht, dass der Bundestag nun ein Gesetz verabschiedet,
welches die vor dem 1. Januar 2007 bestehende Regelung aufgreift und formal Rechtssicherheit schafft.
({2})
Die punktgenaue und unbefristete Wiederherstellung
der alten Entfernungspauschale ist nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts der richtige und konsequente
Schritt. Es war die Große Koalition - es waren die SPD
und die Union; es war der SPD-Finanzminister -, die vor
dem Bundesverfassungsgericht verloren hat. Ich meine,
das sollten wir akzeptieren. Ich bedaure wirklich, dass
die SPD jetzt versucht, sich davonzuschleichen.
({3})
Erlauben Sie mir den Hinweis, dass die im Jahr 2006
beschlossene unpopuläre Änderung der Pendlerpauschale niemandem aus meiner Fraktion leichtgefallen ist.
Das will ich auch der SPD unterstellen. Aber aus damaliger Sicht waren diese Änderungen dringend notwendig;
({4})
denn wir mussten den Bundeshaushalt, den wir von RotGrün geerbt hatten, sanieren.
({5})
Das strukturelle Defizit betrug damals fast 60 Milliarden Euro.
Manch einer wirft uns jetzt eine gewisse Einfallslosigkeit vor: Wie langweilig und unspektakulär, dass wir
einfach die alte Rechtslage wiederherstellen; wir drücken sozusagen auf den Reset-Knopf. Das ist aber genau
das, was die Menschen wollen. Genau das halten wir in
dieser Situation für richtig. Denn die Wahrheit ist: Wir,
die Union, haben bereits kurz nach der Urteilsverkündung die Wiederherstellung der alten gesetzlichen Regelung verlangt.
({6})
Es geht darum, die vorläufige Regelungslage zur Entfernungspauschale in Anbetracht des Urteils des Bundesverfassungsgerichts durch eine gesetzlich klar festgelegte Regelung zu ersetzen. Das erwarten die Menschen
in diesem Land. Sie erwarten von der Politik zu Recht,
dass sie für Rechtssicherheit und Planbarkeit sorgt. Jede
andersgeartete Neugestaltung der Pendlerpauschale hätte
vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nur für noch mehr Verwirrung und Unsicherheit gesorgt.
({7})
Von einer isolierten Überarbeitung der Pendlerpauschale halte ich sowieso nichts. Was wir brauchen, ist
kein weiteres Herumbasteln und Herumdoktern am bestehenden System, sondern ein einfaches, transparentes
und damit gerechteres Einkommensteuerrecht.
({8})
Das ist auch die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts:
Einen zulässigen Systemwechsel kann es ohne ein
Mindestmaß an neuer Systemorientierung nicht geben.
So äußerte sich das Bundesverfassungsgericht wörtlich.
Außerdem stellte das Gericht fest, dass eine Änderung
der Einbettung in ein Grundkonzept bedarf.
Die Union will in der nächsten Legislaturperiode eine
Reform der Einkommensteuer durchführen. Sie soll einfacher, transparenter, gerechter und damit unter dem
Strich auch niedriger werden.
({9})
Es ist gut, dass wir bis zur Wiederherstellung der alten
Regelung zumindest diejenigen entlasten bzw. denjenigen etwas zurückgeben, die jeden Morgen früh aufstehen, um teilweise weite Strecken zu ihrer Arbeitsstätte
auf sich zu nehmen, und die mit der Lohnsteuer, die sie
zahlen, einen entscheidenden Beitrag zur Finanzierung
unseres Gemeinwesens leisten.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesfinanzminister, SPD, im Dezember letzten Jahres die Leviten
gelesen: Die 2006 beschlossene Abschaffung der alten
Pendlerpauschale ist verfassungswidrig. Das war eine
schallende Ohrfeige für den Mann, der versucht hat, ein
bestätigtes Steuerprinzip, wonach alle beruflich bedingten Kosten vom Einkommen der Steuerpflichtigen abzuziehen sind, zu untergraben. Nicht zu vergessen ist auch
das Hickhack in der Großen Koalition im Hinblick auf
die Pendlerpauschale: Keiner wollte und will für ihre
Abschaffung verantwortlich sein, die SPD nicht, die
CDU nicht und die CSU erst recht nicht. Alles in allem
ist das ein Armutszeugnis für die Große Koalition.
({0})
Auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
halten sich die Koalitionsparteien offen, die Pendlerpauschale nach der nächsten Bundestagswahl abzuschaffen
oder zu kürzen. Noch am Tag der Urteilsverkündung
stellte der Bundesfinanzminister sofort klar:
Wir werden uns das Geld nicht an anderer Stelle zurückholen. Das verträgt die derzeitige Konjunkturlage nicht.
Was heißt das für die Zukunft? Dass zu Beginn des
Jahres nur vorläufige Bescheide erlassen wurden, spricht
eine deutliche Sprache.
({1})
Am 6. Februar dieses Jahres verlautbarte das Bundesfinanzministerium:
… eine gesetzliche Neuregelung … ist auch für
diese Legislaturperiode nicht vorgesehen … Wie
eine künftige endgültige Regelung der Pendlerpauschale aussieht, hängt von den Entscheidungen des
nächsten Bundestages ab.
Damit wären die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
rechtlich weiterhin im Unklaren gelassen worden - als
ob die Menschen aufgrund der dramatischen Wirtschafts- und Finanzkrise nicht ohnehin verunsichert genug wären.
({2})
Immerhin haben Sie die alte Pendlerpauschale jetzt
auf öffentlichen Druck hin wieder eingeführt. Damit erfüllen Sie eine alte Forderung der Fraktion Die Linke.
({3})
Herr Pronold, Sie haben vorhin die Position der anderen Fraktionen aufgezählt. Uns haben Sie beschämenderweise weggelassen.
({4})
Seit Juni 2006 haben wir Ihnen in diesem Hause dreimal
die Möglichkeit gegeben, gegen die verfassungswidrige
und ungerechte Abschaffung zu stimmen. Wir haben das
dreimal gefordert, auch in namentlicher Abstimmung.
Obwohl die CSU vorher so laut getönt hat, hat sie im
vergangenen Jahr gegen ihre eigene Unterschriftensammlung gestimmt. Auch Sie von der SPD sind dem
Koalitionsduktus gefolgt.
Jetzt bestünde die Chance für eine gerechte und verfassungsmäßige Neuregelung. Von der alten Pendlerpauschale profitieren besonders Steuerpflichtige mit hohem
Einkommen. Das ist bei der Progression nun einmal so.
Ich stelle dies anhand eines Beispieles dar: Ein alleinstehender Maurer hatte 2008 einen Weg von 40 Kilometern
zur Arbeit zurückzulegen. Er arbeitete an 220 Tagen im
Jahr. Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von
20 000 Euro erhält er eine Erstattung von 736 Euro.
({5})
Wäre er Journalist mit einem Jahreseinkommen von
60 000 Euro, würde er 1 108 Euro sparen.
An diesem Beispiel sehen wir, dass die Entlastung
nicht gleichmäßig ist. Wer so wenig verdient, dass er gar
keine Steuern zahlt, hat sowieso nichts von der Pendlerpauschale. Die Besserverdienenden wären hiermit bevorzugt. Deshalb schlagen wir Ihnen eine andere Regelung
vor, und zwar den direkten Abzug von der Steuerschuld.
({6})
Damit bekäme jeder Steuerpflichtige, unabhängig von
seinem Einkommen, den gleichen Betrag pro Kilometer
erstattet.
({7})
Für eine wirklich gerechte Lösung wäre das ein erster
Schritt.
Aber eines ist klar: Ohne eine Neuregelung, die dafür
sorgt, dass die Menschen für die Arbeit, die sie leisten,
ordentlich bezahlt werden, ohne einen Mindestlohn
- wir fordern einen Mindestlohn von 8,71 Euro -,
({8})
vernünftige Löhne und ordentliche Lohnsteigerungen
wird es an den notwendigen Stellen keine Entlastung geben. Die Pendlerpauschale ist kein Ruhmesblatt der Großen Koalition, besonders nicht des Bundesfinanzministers. Wir sind aber froh, dass heute wenigstens in diesem
Punkt eine gewisse Klarheit erzielt wird.
Ich danke Ihnen.
({9})
Jetzt spricht die Kollegin Christine Scheel für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Es ist schon bedauerlich, dass es innerhalb der Großen
Koalition ein monatelanges Schauspiel gegeben hat,
dass es Schuldzuweisungen bei der Frage gab, wer denn
das eine oder das andere fordert - Herr Pronold hat gerade wieder ein Beispiel dafür gegeben -, und dass diese
ganze Auseinandersetzung dazu geführt hat, dass das
Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in eine ernsthafte
Politik ziemlich erschüttert wurde. Die Leute haben die
permanenten Schuldzuweisungen einfach satt. Sie wollen eine Politik, die verfassungskonform ist, die keine
verfassungswidrigen Entscheidungen trifft, und sie wollen auch nicht, dass man sich gegenseitig den Schwarzen
Peter zuschiebt. Die Bürger sehen das Ganze eher als
peinlich an.
Dieses Schauspiel ist am Ende so ausgegangen - das
haben wir gerade gehört -, dass das Bundesverfassungsgericht einschreiten musste, obwohl viele der Beteiligten
sehr wohl wussten, dass diese Regelung verfassungswidrig ist. Es ist schlimm, wenn man immer wieder abwarten muss, bis das Verfassungsgericht die Anweisung
gibt, wie denn zu handeln ist, nur weil in der Großen Koalition keine Einigung herrscht.
({0})
Dies ist heute schon der zweite Tagesordnungspunkt, auf
den das zutrifft. Ich finde, das ist nicht gerade ein gutes
Zeugnis für die politische Arbeit dieser Großen Koalition.
Die Bürgerinnen und Bürger haben jetzt Rechtssicherheit; das begrüßen wir. Wir sehen auch, dass das
Chaos, das Sie an den Finanzämtern angerichtet haben,
endlich beendet ist. Auch die Verunsicherung von Millionen von Berufspendlern ist jetzt beendet. Sie haben
aber in der Konsequenz im Hinblick auf die Haushaltslage etwas ausgelöst, was sich für die gesamte Politik als
sehr schwierig gestaltet. Wir haben nämlich im Jahr
2009 ungeplante Steuerausfälle für Bund, Länder und
Gemeinden in einer Größenordnung von bis zu
6 Milliarden Euro. Dies war in der gesamten Finanzplanung so nicht vorgesehen. Das heißt, dass aufgrund Ihrer
chaotischen Politik die Neuverschuldung in diesem Jahr
noch einmal ansteigt. Das ist eine Belastung für die
nächsten Generationen, die Sie mit zu verantworten haben.
({1})
Wir haben immer wieder darüber diskutiert, welche
verfassungskonforme Lösung es geben könnte. Es gibt
viele Vorschläge. Der Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht uns als politisch Verantwortliche eingeräumt hat, ist relativ groß. Wir hätten es als Fraktion
richtig gefunden, wenn Sie nicht erst im Wahlkampf
Vorschläge unterbreitet hätten. Herr Kollege Gutting hat
gesagt, eine Reform der Einkommensteuer stehe an. Es
solle alles sozialer, gerechter und einfacher werden. Die
Union hatte einmal vorgeschlagen, die Pendlerpauschale
ganz abzuschaffen. Das war Herr Professor Kirchhof mit
seinem einfachen Steuerrecht. Die FDP hat vorgeschlagen, die Pendlerpauschale ganz abzuschaffen. Die SPD
hat aktuell vorgeschlagen, die Pendlerbelastungen von
der Steuerschuld abzuziehen. Die Linken haben sich
jetzt auch dazu geäußert. Bei uns wird über ein Mobilitätsgeld diskutiert.
Ich hätte es für richtig gehalten, dass die Große Koalition nicht nur dafür sorgt, dass der alte Rechtszustand
wiederhergestellt wird, was unausweichlich ist, sondern
dass Sie jetzt auch sagen, was denn danach passiert. Das
sollte nicht wieder auf die lange Bank geschoben werden. Wir fordern mehr Ehrlichkeit in der Sache ein. Die
Koalitionsfraktionen sollten sich klar dazu bekennen,
welche Regelungen sie anstreben, und zwar jede Fraktion für sich.
({2})
Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab, weil
er den Bürgerinnen und Bürgern eine zukunftsfähige Regelung vorenthält und wir dieses politische Spiel nach
dem Motto „Im Wahlkampf wird alles Mögliche versprochen“ nicht unterstützen wollen.
Danke schön.
({3})
Als nächstes hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Heute
ist ein guter Tag für unsere Pendler und für unsere leistungsbewussten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Ich freue mich, dass die Gesetzeslage von 2006 hinsichtlich der Entfernungspauschale wieder gilt. Das ist ein
richtiger Weg. Ich betone, dass die CSU für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer geworben hat.
({0})
Wir haben auch dafür gekämpft. Nach Inkrafttreten des
Gesetzes wurden anhand vieler Beispiele die BenachteiDr. h. c. Hans Michelbach
ligung und der Verlust der Leistungsgerechtigkeit für
Pendler deutlich. Es war in der Tat ein Fehler, die Pendlerpauschale derart zu gestalten.
({1})
- Herr Pronold, es gehört zur politischen Kultur, zugeben zu können, dass man einen Fehler begangen hat. Es
nützt Ihnen deshalb nichts, Ablenkungsmanöver, Geschichtsklitterung und Märchenstunden zu veranstalten.
({2})
Tatsache ist, dass jetzt eine Lösung gefunden wurde.
Bundesfinanzminister Steinbrück, der dafür zuständig
ist, hat damals gesagt: Ich halte das Werkstorprinzip für
die einzig richtige Bewertung. - Die Betrachtung des
Haustürprinzips ist richtig.
({3})
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
9. Dezember vergangenen Jahres, das die Neuregelung
der Pendlerpauschale ab 2007 für verfassungswidrig erklärt hat, war gesetzgeberisches Handeln noch in dieser
Legislaturperiode geboten.
({4})
Ich muss ganz deutlich sagen: Wir hatten der Argumentation des Bundesfinanzministers Glauben geschenkt, dass die Veränderung der Pendlerpauschale verfassungsgemäß sei. Alle Bedenken wurden im
Finanzausschuss immer wieder vom Tisch gewischt.
({5})
Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht.
({6})
Mit der gesetzlichen Wiederherstellung der alten
Pendlerpauschale wird heute ein unnötig lange andauernder Unsicherheitsfaktor beseitigt. Wir schaffen heute
Rechtssicherheit für die vielen Berufspendler in unserem
Land. Der wesentliche Punkt ist, dass wir hier wieder an
einem Grundprinzip festhalten.
({7})
Dieses Grundprinzip ist für uns gerade in der Steuer- und
Finanzpolitik unabdingbar und muss immer lauten: Leistung muss sich lohnen.
({8})
Wir haben hier leistungswillige Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer nicht leistungsgerecht behandelt. Das
ist eine Tatsache. Deswegen sollten wir jetzt gemeinsam
erkennen, dass es einen besseren Weg gibt, nämlich den,
über den wir heute entscheiden.
({9})
Als Gebot der Stunde muss natürlich noch ein weiteres Grundprinzip realisiert werden: mehr Netto vom
Brutto.
({10})
Wir müssen hinsichtlich der Einkommen- und der Lohnsteuer eine weitere Reform auf den Weg bringen, weil es
nicht sein kann, dass man nach einer Lohnerhöhung um
1 Prozent 2 Prozent mehr Steuern zahlen muss. Ich
glaube, dass wir mit der Pendlerpauschale auf einem guten Weg hin zu mehr Leistungsgerechtigkeit sind.
({11})
Wir alle müssen jetzt dafür arbeiten, dass zwingend
mehr Netto vom Brutto übrig bleibt, damit die Leistungsträger in unserem Land motiviert anpacken und
Vertrauen in unser Gemeinwesen zurückgewinnen. Das
ist die entscheidende Frage.
Die Menschen wollen jetzt keinen Wahlkampf. Sie
haben einen Anspruch auf Sacharbeit und erfolgreiches
Krisenmanagement. Das ist der entscheidende Punkt.
Krisenmanagement jetzt erfolgreich gestalten: Dazu gehört die Entlastung bei Steuern und Abgaben. Das ist der
richtige Weg. Deswegen sollten wir stolz auf die heutige
Entwicklung sein.
Meinen herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Gesetzentwurf zur Fortführung der Gesetzeslage 2006
bei der Entfernungspauschale.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12299, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/12099 anzunehmen. Wer stimmt für diesen Gesetzentwurf? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung der Großen Koalition, der FDP
und der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf ist,
der möge sich bitte erheben. - Die Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung bei gleichem Stimmenverhältnis wie vorher
angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck ({1}), Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durchsetzung der Entgeltgleichheit von
Frauen und Männern - Gleicher Lohn für
gleichwertige Arbeit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke,
Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit Für eine tatsächliche Chancengleichheit von
Frauen und Männern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Kirsten Tackmann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern wirksam durchsetzen
- Drucksachen 16/8784, 16/11175, 16/11192,
16/12265 Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Caren Marks
Jörn Wunderlich
Es ist vorgesehen, hierüber eine halbe Stunde zu
debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist die
Kollegin Dr. Eva Möllring für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Woran liegt es, dass Frauen
in Deutschland so viel weniger verdienen als Männer?
Ich sage Ihnen erst einmal, woran es nicht liegt, nämlich
nicht daran, dass Frauen weniger arbeiten als Männer.
({0})
Ich finde es nicht in Ordnung, dass manche Damen
und Herren von den Sozialdemokraten und auch von den
Grünen in trauter Übereinstimmung mit Wirtschaftsvertretern immer wieder sagen: Wenn die Frauen nur halbtags arbeiten, dann sind sie selbst daran schuld. Sollen
sie doch Vollzeit arbeiten!
({1})
Das ist unredlich.
({2})
- Hören Sie zu! Das scheint ja zu sitzen.
({3})
Der Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männern von 23 Prozent bezieht sich auf den Vergleich von
Vollzeitstellen und steigt beim Stundenlohn noch an.
Deswegen ist es eine Unverschämtheit, was Sie erklären.
Neulich bin ich bei einem Interview mit einer Kollegin
von Ihnen zusammengetroffen, Frau Scheel, die genau
das gesagt hat. Ich nenne jetzt ihren Namen nicht, aber
später kann ich das gerne tun.
Es ist eine Unverschämtheit, den Frauen zu sagen:
„Jetzt arbeitet mal ordentlich! Dann verdient ihr auch ordentlich Geld.“ Die Gründe liegen woanders. Ich nenne
drei entscheidende Punkte.
Erstens die Berufswahl von Frauen einerseits und
Männern andererseits.
({4})
- Hören Sie einfach einen Moment zu! Das kann Ihnen
nicht schaden.
({5})
Gerade im Bereich der Berufswahl von Frauen und Männern ist in letzter Zeit Erhebliches erreicht worden.
({6})
Denn wer sich damit befasst, was in den Kommunen in
den Kindertagesstätten, in der frühkindliche Erziehung,
in den Schulen, bei der Expo und der CeBIT dafür getan
wird, um Frauen für technische Berufe zu begeistern, der
sieht, dass wir erhebliche Fortschritte gemacht haben.
({7})
Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich der CDU-Bundesbildungsministerin, Frau Schavan, die diese Maßnahmen finanziell und ideell sehr stark unterstützt.
({8})
Zweitens die Arbeitsbewertung. Dabei sind die Gewerkschaften gefragt. Es ist eine erhebliche HerausforDr. Eva Möllring
derung, zu einem gerechten Bewertungssystem zu kommen, weil auch in den Gewerkschaften sehr wenige
Frauen an der Spitze sind.
Drittens Frauen in Führungspositionen. Rollenklischees sind durch das Elterngeld und die Partnermonate
gebrochen worden. Das ist ein hervorragender Ansatz
von unserer Ministerin von der Leyen, der in der nächsten Wahlperiode noch verstärkt werden muss.
({9})
- Genau. Sie haben mitgestimmt.
Auch das Vergaberecht richtet sich an der Förderung
von Frauen aus. Die entscheidende Baustelle ist noch die
Förderung von Führungspositionen in Teilzeit. Dafür
muss einiges getan werden. Der Arbeitgeber muss in die
Pflicht genommen werden, mit den Teilzeit arbeitenden
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Gespräche zu
führen, um zu testen, wie man Frauen noch besser in
Verantwortung bringen und vor allem nach Auszeiten
wieder in den Beruf und in verantwortliche Positionen
hineinbringen kann.
Ihre Lösungen scheinen dagegen nicht weiterzuführen. Dazu zählt erstens die Quote. Über die Quote von
Aufsichtsräten können wir gerne diskutieren.
({10})
Aber was hilft es der Frau am Schreibtisch, die nicht die
Chance hat, in einem Aufsichtsrat zu landen, sondern die
selber nur eine Position höher kommen will?
({11})
Ihr zweiter Lösungsansatz ist der Mindestlohn. Das
Land in Europa, in dem die geringsten Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern bestehen - er
beträgt 4,4 Prozent -, ist Italien. Italien hat keinen Mindestlohn. An zweiter Stelle steht Malta, das im
Januar 2009 einen Mindestlohn von 3,67 Euro festgesetzt hat. Das dritte Land ist Polen. Polen hat im Januar
dieses Jahres einen Mindestlohn von 2,10 Euro festgesetzt.
Nun können Sie selber die Frage beantworten, ob der
Mindestlohn Frauen in Führungspositionen bringt.
({12})
- Also wirklich, Sie können überhaupt nicht mehr zuhören.
({13})
Ihre dritte Lösung betrifft das Verbandsklagerecht.
Das Problem bei den Klagen um einen besseren Lohn ist
nicht die Tatsache, dass die Frauen keine juristischen
Möglichkeiten haben, sondern dass ihr persönlicher Fall
offenkundig wird und sie dann im Arbeitsverhältnis
große Schwierigkeiten bekommen werden. Dieses Problem werden Sie auch nicht durch das Verbandsklagerecht lösen, weil auch bei einem Verbandsklageverfahren immer der Einzelfall deutlich gemacht werden muss.
Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber Sie
mussten es sich jetzt anhören.
Ich danke für Ihre große Aufmerksamkeit. Vielen
Dank für Ihr Zuhören.
({14})
Die Kollegin Ina Lenke ist die nächste Rednerin für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Kollege hat zu mir gesagt: Wenn die Damen doch weniger
streiten und mehr regieren würden! - Ein bisschen
Wahrheit steckt darin.
({0})
Ich will nun zu unserem Thema kommen. Sehr geehrter Herr Rix, gleiche Leistung, weniger Lohn: Wie wir
alle wissen, verdienen Frauen im Durchschnitt circa
25 Prozent weniger als Männer. Studien der OECD, der
EU und des Statistischen Bundesamtes belegen das sehr
deutlich. Es ist traurig - das muss uns alle ärgern -, dass
Deutschland im europäischen Vergleich beim Entgeltunterschied zwischen Männern und Frauen auf dem
viertletzten Platz liegt. Ein Bankkaufmann erhält durchschnittlich 4 125 Euro, während eine Bankkauffrau
3 049 Euro verdient. Ähnliche Unterschiede gibt es auch
zwischen Verkäuferinnen und Verkäufern, Büroleiterinnen und Büroleitern. Überall werden Frauen schlechter
bezahlt als Männer und verdienen durchschnittlich
25 Prozent weniger.
Warum ist das so? Ich möchte gerne auf Ihren Vorschlag zu sprechen kommen, meine Damen und Herren
von SPD und Grünen. Sie wollen ein Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft. Nach Meinung der FDP ist das
nicht die Lösung. Auch das Bundesgleichstellungsgesetz
für die Bundesverwaltung und die Gerichte des Bundes
hat nicht immer, wie wir alle wissen, zu gleicher Bezahlung geführt; darüber gibt es Berichte. Hier wurde zum
Beispiel die Möglichkeit der Teilzeitarbeit erweitert, um
auch Vätern Teilzeitarbeit schmackhaft zu machen. Genutzt haben diese Möglichkeit im Ergebnis nur weibliche Angestellte. Die Teilzeitrate stieg bei ihnen stetig an.
Wenn die Quote von 92 auf 93 Prozent steigt, dann frage
ich mich, ob ein solches Gesetz der richtige Weg ist.
Wir alle wissen, dass die Lohnungleichheit in
Deutschland viele Ursachen hat. Frau Möllring hat richtigerweise das fehlende Angebot der Kleinkindbetreuung in Krippen und das mangelnde Angebot an Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten für unter Dreijährige
genannt. Wenn Kinder 70 Arbeitstage Schulferien haben, während die Arbeitnehmer nur 30 Tage Urlaub haben, dann führt das in der Regel dazu, dass die Ehepartner nie zur gleichen Zeit Urlaub machen können. In
meinem Wahlkreisbüro hat eine Dame 14 Tage unbe22816
zahlten Urlaub genommen, damit sie einmal drei Wochen zusammen mit ihren Kindern Urlaub machen kann.
Das muss man sich einmal vorstellen! Besonders für Alleinerziehende ist das ein Jobkiller. Karrieren sind dann
natürlich ausgeschlossen.
Ich möchte noch etwas anderes wiederholen, was
Frau Möllring gesagt hat, weil das für die Öffentlichkeit
wirklich wichtig ist. Junge Frauen sehen für sich nur ein
enges Berufsspektrum: Arzthelferinnen, Friseurinnen,
Verkäuferinnen, Büroangestellte. Hier lassen junge
Frauen sehr oft außer Acht, dass das Gehalt in diesen
Berufen niedrig ist und die Aufstiegsmöglichkeiten
gleich null sind. Information und Aufklärung in Schule
und Elternhaus sind daher - wir kennen keine andere Lösung - sehr wichtig. Das müssen wir vonseiten der Politik unterstützen.
Ein weiterer Punkt ist die sogenannte Teilzeitfalle. Jemand, der Teilzeit arbeitet, hat wenige Aufstiegschancen. In diesem Zusammenhang ist auch das veraltete
Lohnsteuerklassensystem zu sehen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, egal welcher Couleur, in der nächsten Legislaturperiode muss die Steuerklasse V abgeschafft
werden.
({1})
Wer auch immer von der SPD gleich redet, kann gerne
etwas gegen meine Argumente sagen. Aber ich finde, es
soll jetzt endlich etwas passieren.
Ein weiterer Punkt ist die fehlende Familienfreundlichkeit in den Betrieben. Flexible Arbeitszeiten sind
wichtig. Elterngeld und Elternzeit muss es auch für
junge Väter geben. Die Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit bei den Kinderbetreuungskosten muss auch für
den öffentlichen Dienst gelten; das ist bisher nicht der
Fall. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag
hat in einer Broschüre super Vorschläge gemacht.
({2})
Diese können umgesetzt werden, Frau Schewe-Gerigk.
Oft ohne finanziellen Mehraufwand können die Betriebe
für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Dort
werden wirklich gute Beispiele genannt, die einfach sind
und die jeder versteht.
Die Baustellen in Deutschland bei der Schaffung echter Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern sind
von den Tarifparteien, insbesondere von der Politik und
der Wirtschaft sowie manches Mal - das will ich deutlich sagen - von den Frauen selbst zu beseitigen. Heute
hat die Familienministerin einen Vorschlag aus der
Schweiz übernommen und zum Einsatz des Selbsttestinstruments Logib in Deutschland aufgefordert.
({3})
Mit diesem Selbsttest können die Unternehmen die
Lohnschere zwischen den Geschlechtern überprüfen. Ich
hoffe, dass sich dadurch einiges ändern wird.
Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Schluss. Die
FDP fordert die Bundesregierung unter anderem auf,
sich mit den Unternehmen und Sozialpartnern sowie im
öffentlichen Dienst für eine Dienststrukturerhebung und
Überprüfung von Stellenbeschreibungen einzusetzen,
um auf dieser Grundlage Lohnfindungssysteme und gegebenenfalls unterschiedliche Verfahren bei der Arbeitsbewertung auch im Hinblick auf die Entgeltgleichheit zu
überprüfen, das Steuerrecht auf Geschlechtergerechtigkeit abzuklopfen, das Elterngeldgesetz zu überarbeiten
usw. Ich kann das leider nicht weiter ausführen; denn ich
habe meine Redezeit um eine Minute überzogen.
Genau.
Ich hoffe, wir finden andere Beispiele dafür, wie wir
uns im Bundestag dafür einsetzen können, mehr Geschlechtergleichheit im Arbeitsleben herzustellen.
Danke.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Gradistanac
für die Fraktion der SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Der
Schauspieler Mario Adorf sagte:
Ein erfolgreicher Mann ist ein Mann, der mehr verdient, als seine Frau ausgeben kann. Eine erfolgreiche Frau ist eine, die so einen Mann findet.
({0})
Man sollte meinen, dass solch eine verstaubte Äußerung als schlechter Witz belächelt wird, aber von wegen!
Die Vorsitzende der Gruppe der Frauen der CDU/CSUFraktion, Frau Fischbach, meinte kürzlich:
Die männlichen Kollegen sehen sich eher in der Ernährerrolle und können nicht alles mittragen.
({1})
Frau Fischbach, es wird Zeit, dass Sie und Ihre Kollegen von der CDU/CSU die verstaubten Rollenbilder modernisieren. Frauen wollen keine Anhängsel ihrer Männer sein; Frauen wollen ihren Lebensunterhalt selbst
verdienen.
({2})
Frau Möllring und ich haben ein Dreivierteljahr lang
- ich wiederhole: ein Dreivierteljahr - intensiv über einen Antrag zum Thema Entgeltgleichheit verhandelt.
Dann wurde nicht einmal ein minimaler Konsens gefunden. Ihre Rede heute war natürlich auch für die Katz.
({3})
- Da hätte ich schon mehr erwartet, nachdem wir uns in
Teilen einig waren.
({4})
Herr Singhammer, Sie waren als frauenpolitischer
Sprecher der CDU/CSU nicht bereit, für diesen Antrag
zu kämpfen, und haben kläglich versagt. Ich bin da auch
persönlich sehr enttäuscht.
({5})
Ihr Versagen zeigt sich auch in Ihrem Fraktionsbeschluss
zur Bekämpfung der Entgeltungleichheit. Appelle und
freiwillige Vereinbarungen - das haben wir jetzt wirklich
gelernt - führen nicht zum Erfolg.
({6})
Bei der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen in New York haben wir über die für Männer und
Frauen unterschiedlichen Auswirkungen der Finanz- und
Wirtschaftskrise gesprochen. Die Internationale Arbeitsorganisation, ILO, geht davon aus, dass Frauen gegenüber Männern eine schwächere Position haben, wenn es
darum geht, sich der Finanz- und Wirtschaftskrise zu widersetzen. Ursachen hierfür sind die geringe Erwerbsquote von Frauen, ihre schwächere Kontrolle über Eigentum und Ressourcen und die Konzentration von
Frauen in informeller und gefährdeter Beschäftigung mit
geringeren Verdiensten und geringerem sozialem
Schutz.
Für den sozialdemokratischen EU-Kommissar Spidla
ist die Angleichung der Löhne von Frauen und Männern
nicht nur in der Krise ein moralisches und ökonomisches
Gebot. Deshalb brauchen wir verbindliche Regelungen
und Gesetze. Zu dieser Ansicht kommt übrigens auch
der CEDAW-Ausschuss.
({7})
Nur durch eine aktive Gleichstellungspolitik können
wir die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern endlich schließen. Es gibt genügend Berichte und Analysen
zu den Ursachen des Unterschiedes von circa 23 Prozent. Deswegen bekommen Frauen übrigens auch deutlich weniger Rente als Männer und haben im Alter ein
höheres Armutsrisiko.
Wir von der SPD-Fraktion fordern deshalb erstens die
Veränderung von Strukturen mit den Instrumenten Gender Mainstreaming und Gender Budgeting.
({8})
- Wenn Sie die Verhandlungen zwischen Frau Möllring
und mir verfolgt hätten, wüssten Sie, wo ich stehe. Leider sind Gender Mainstreaming und Gender Budgeting
für viele immer noch Fremdwörter.
Zweitens fordern wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, drittens ein Gleichstellungsgesetz
für die Privatwirtschaft und viertens eine Quote von
40 Prozent für die Besetzung von Aufsichtsräten.
({9})
Um gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit
durchzusetzen, fordern wir fünftens einen Diskriminierungscheck für Lohnverträge
({10})
und sechstens - dies wird Sie jetzt nicht verwundern ein schärferes Antidiskriminierungsgesetz.
({11})
Angesichts des morgigen Equal Pay Days, bei dem
die Frauenministerin ihren großen Auftritt hat, gebe ich
Ihnen ein Zitat von Abraham Lincoln mit auf den Weg
- dies ist besonders an Sie gerichtet, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU -:
Wenn du nur das tust, was du immer getan hast,
wirst du auch nur das bekommen, was du schon immer bekommen hast.
({12})
Dass Frauen im Jahr 2009 in unserem Land im
Durchschnitt fast ein Viertel weniger verdienen als Männer, ist eine Schande.
Danke schön.
({13})
Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat nun das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und
Herren! Bis zum Jahr 1957, in dem ich geboren wurde,
mussten sich Frauen in der Bundesrepublik Deutschland
ihren Arbeitsvertrag von ihrem Ehemann genehmigen
lassen. Bis zum Jahr 1977 waren Frauen verpflichtet,
sich um das Hauswesen zu kümmern. Heim und Herd
waren eine Domäne der Frau, Arbeit war eine Domäne
des Mannes. So war das Familien- und Ehebild in der
Bundesrepublik: eine heterosexuelle Idylle unter dem
Regime des Mannes. Schön, nicht, Herr Singhammer?
Sie nicken so.
({0})
1957 besann man sich zum Glück auf den Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes. Die Bundesrepublik
verpflichtete sich in jenem Jahr zur Entgeltgleichheit
von Mann und Frau. Man kann es kaum glauben:
52 Jahre später sind wir von diesem Ziel weit entfernt.
Konkret heißt dies beispielsweise, dass in die Bewertung
der Arbeit einer Altenpflegerin ihre körperliche Belastung nicht mit einfließt, in die Bewertung der Arbeit eines Hausmeisters sehr wohl; er erhält mehr Entgelt. Tätigkeiten, die zumeist selbstverständlich von Frauen
ausgeübt werden, werden nicht in gleicher Weise bewertet und damit auch nicht in gleicher Weise entlohnt wie
die Tätigkeiten ihrer männlichen Kollegen. Im Jahr 2009
ist dies immer noch die bittere Wahrheit.
Fakt ist, die Lohnschere zwischen Frauen und Männern ist in den letzten Jahren sogar noch weiter auseinandergegangen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand:
Viele Frauen arbeiten in ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, viele Frauen arbeiten in Teilzeitjobs, viele
Frauen werden in ihrer Karriere benachteiligt, und viele
Frauen arbeiten im Niedriglohnsektor.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition
- dies gilt auch für die Vorgängerregierung, die rot-grüne
Koalition -, Sie sind an dieser Entwicklung mitschuldig:
({1})
Ihre Arbeits- und Sozialpolitik führte zum Ausbau des
Niedriglohnsektors. Ihre Einführung von Hartz IV hat
das Lohnniveau in den unteren Beschäftigungsverhältnissen nach unten gedrückt.
({2})
Ihre Politik hat zu einer Umgehung des Kündigungsschutzes und zu einem Ausbau ungesicherter Arbeitsverhältnisse geführt. Ihre Sozialpolitik ging und geht zulasten von Frauen. Sie haben die Lohnschere weiter
geöffnet.
({3})
Frau Möllring, Sie haben sich heute nicht einmal
mehr die Mühe gemacht, irgendwelche Ansätze zu formulieren. Ich habe darauf gewartet, dass Sie Appelle an
die Wirtschaft richten, freiwillige Vereinbarungen abzuschließen, oder Ähnliches. Nichts.
({4})
Ihre Bundesregierung hat sich im Vorjahr zur nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie und dazu verpflichtet, den Entgeltabstand bis zum Jahr 2010 auf 15 Prozent zu verringern. Bis zum Jahr 2015 soll er nur noch 10 Prozent betragen. Wie denn, bitte schön? Antworten gehören auf
den Tisch.
({5})
Wir brauchen endlich einen gesetzlichen Mindestlohn
von mindestens 8,71 Euro,
({6})
der bald auf 10 Euro angehoben werden muss. Wir brauchen ein sogenanntes proaktives Gesetz, das die Tarifparteien zu einer diskriminierungsfreien Entgeltbewertung verpflichtet. Die Tätigkeiten müssen tatsächlich
diskriminierungsfrei bewertet werden.
({7})
Wir brauchen ein Verbandsklagerecht im Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz, damit das AGG nicht weiter
ein zahnloser Tiger bleibt. Wir benötigen eine Antidiskriminierungsstelle, die vom Familienministerium abgekoppelt wird und ihrer Aufgabe tatsächlich gewachsen
ist.
({8})
Heute liegen drei Anträge der Opposition vor. Die
SPD hat verkündet, was sie will. Ich frage Sie: Mit wem
wollen Sie das umsetzen? Dieser Frage müssen Sie sich
stellen. In den letzten Jahren sind Sie hier Antworten
schuldig geblieben. Sie haben es in Ihrer Koalition nicht
geschafft, etwas durchzusetzen, im Gegenteil. Heute hätten Sie die Möglichkeit, unserem Antrag zuzustimmen.
Das wäre ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung.
Danke.
({9})
Jetzt spricht Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frau Ministerin ist nicht da, sie will dieser wichtigen
Debatte fernbleiben.
({0})
Anlässlich des Equal-Pay-Day demonstrieren morgen
Frauen mit roten Taschen gegen rote Zahlen und dagegen, dass Frauen im 21. Jahrhundert immer noch 23 Prozent weniger Geld bekommen als Männer. Mit dem
Motto „Wer etwas ändern will, muss auch handeln“ sind
wir angesprochen, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber
ganz besonders die Regierung. Das Regierungshandeln
beschränkt sich auf das Schreiben von Pressemitteilungen und auf das Erstellen von Computerprogrammen. Es
ist gut, dass die Grünen nicht mehr die Einzigen sind, die
das Thema Entgeltgleichheit immer wieder auf die Tagesordnung bringen.
({1})
Auch EU-Arbeitskommissar Spidla wiederholt es geradezu gebetsmühlenartig: Die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern liegen in der EU bei
17 Prozent. Deutschland schafft es auf einen der hintersten Plätze mit 23 Prozent. Jetzt endlich will die EU gesetzliche Regelungen prüfen. Überfällig, kann ich da nur
sagen.
({2})
Auf Initiative der Grünen hatten wir im Januar eine
Ausschussanhörung zu unserem Antrag zur Entgeltgleichheit. Dabei wurde deutlich, dass die extremen
Lohnunterschiede in Deutschland nicht nur eine Ursache
haben. Darum brauchen wir eine Vielzahl von Maßnahmen. Aber klar ist: Ohne gesetzliche Regelungen, wie
wir sie fordern, wird es nicht gehen. Darum muss die
Bundesregierung endlich aktiv werden. Wir Grünen fordern, die Eingruppierungskriterien in den Tarifverträgen
auf Diskriminierung zu prüfen.
({3})
Hier muss der öffentliche Dienst eine Vorbildfunktion
übernehmen.
({4})
Wir stehen zur Tarifautonomie, aber so kann es nicht
weitergehen. Arbeitgeber wie Gewerkschaften müssen
diese Aufgabe endlich ernst nehmen. Gleichstellung auf
dem Arbeitsmarkt kann nur durch die Zusammenarbeit
aller Verantwortlichen erreicht werden. Da muss ich eine
traurige Bilanz in diesem Hause ziehen: Die letzten vier
Jahren waren frauenpolitisch eine verlorene Zeit.
({5})
Es gab nicht ein Gesetz zum Thema Frauenrechte, Sie
haben nicht einen Gesetzentwurf vorgelegt. Unsere Anträge haben Sie ständig abgelehnt. Ein gesetzlicher Mindestlohn wäre ein sinnvoller Schritt zur Verringerung des
Lohngefälles. Immerhin würde davon jede vierte Frau
profitieren. Das heißt, jede vierte Frau verdient weniger
als 7,50 Euro. Wir brauchen aber auch ein Verbandsklagerecht, damit Arbeitnehmerinnen gegen kollektive
Lohndiskriminierungen nicht immer nur individuell klagen müssen. All diese Forderungen haben Sie am Mittwoch im Ausschuss abgelehnt. Von Ihnen kam nicht ein
einziger Vorschlag.
Es gibt noch einen anderen Ursprung der Schieflage:
Bei uns hapert es schlicht und einfach an der Veränderung der Geschlechterrollen. Auch im Jahr 2009 ist die
Forderung nach einer gerechten Aufteilung von Hausund Familienarbeit zwischen Frauen und Männern so aktuell wie eh und je. Der europäische Mann arbeitet im
Schnitt sechs Stunden im Haushalt, die Frau 25 Stunden.
Deutschland hat einen extrem hohen Anteil von Frauen,
die Teilzeit arbeiten. Warum? Weil unsere Kinderbetreuung, unser Schulsystem und selbst unsere Versorgung
der alten Menschen darauf basieren, dass Frauen einspringen.
In diesem Zusammenhang werde ich bei einem Blick
in die USA ganz neidisch. Das erste Gesetz, das Präsident Obama nach seinem Amtsantritt unterzeichnete, der
Fair Pay Act, soll dort eine faire Bezahlung sicherstellen.
Es wäre schön, wenn so etwas auch bei uns zustande
käme.
({6})
In unserem Land scheint das Thema Geschlechtergerechtigkeit nur in Zeiten des Wahlkampfs auf der
Agenda zu stehen. Ich muss jetzt die Kollegin von der
SPD ansehen: Dass Franz Müntefering im Wahlkampfgetöse fordert, dass die Entgeltgleichheit sogar ins
Grundgesetz geschrieben wird, ist bestenfalls scheinheilig. Dass morgen der SPD-Generalsekretär vor dem
Brandenburger Tor gegen ungleiche Löhne demonstrieren wird, das halte ich nun wirklich für eine Dreistigkeit.
Demonstriert er eigentlich gegen sich selbst? Sie sind in
der Regierung, Sie hätten etwas machen können, und
jetzt demonstrieren Sie da.
Die Ministerin hat heute ein Computerprogramm vorgestellt, das die Firmen freiwillig anwenden können. Ich
glaube, mit diesem Computerprogramm werden wir
nicht für Lohngerechtigkeit sorgen können. Wir sehen
kein konkretes Handeln. So kann es nicht weitergehen.
Regieren via Pressemitteilung ist zu wenig. Tun Sie endlich Ihre Arbeit!
({7})
Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich jetzt am Fernseher oder hier oben auf der Besuchertribüne sitzen würde, würde ich mich fragen: Was
ist das eigentlich für eine Debatte?
({0})
Es geht um Frauen, es geht um berechtigte Anliegen
der Frauen, und bis jetzt habe ich nur Gezank und Gezeter gehört.
({1})
- Ich werde es jetzt präzisieren, Frau Lenke. Frau
Gradistanac, Ihre Rede bestand aus nichts anderem als
Gezeter und einer 50-sekündigen Aufzählung. Da Sie
sich erlaubt haben, sich zur Rede der Kollegin zu äußern,
darf ich das ebenfalls, obwohl ich das eigentlich nicht
gut finde, und deswegen beende ich das jetzt auch.
Mich hat gewundert, dass Sie so genau wissen - Frau
Schewe-Gerigk hat gerade in das gleiche Horn gestoßen -, was alles richtig und was falsch war. Als Sie zusammen in der Regierung waren, hätten Sie etwas tun
können. Ich muss mich fragen: Haben Sie es damals
nicht ernst gemeint, oder haben Sie heute neue Erkenntnisse? Das würde bedeuten, dass man erst einmal
schauen muss, was woanders passiert, und dass man daraus Lehren für das eigene Handeln ziehen muss.
({2})
- Wir sind an der Regierung, und deshalb werden wir,
Frau Schewe-Gerigk, uns dazu äußern; wir haben es bereits getan.
({3})
Die heutige Debatte findet auch aufgrund des Equal Pay
Days, den wir eingeführt haben, statt.
({4})
- Wenn Sie eine Frage haben, dann melden Sie sich zu
einer Zwischenfrage. Ich kann dann ein bisschen länger
reden. Bis jetzt muss ich meine Redezeit auf vier Minuten beschränken.
Ihre Antwort, „Ein Gleichstellungsgesetz wird es
bringen“, bringt es nicht auf den Punkt; denn die Ursachen sind vielfältig. Das haben Sie alle gesagt. Wir wissen, dass es in der finanziellen Bewertung der Arbeit
ganz unterschiedliche Ansätze gibt. Angesichts dessen
muss das uns und vor allen Dingen den Tarifparteien ein
Anliegen sein. Hier spreche ich die Gewerkschaften an,
die sich immer für Arbeitnehmerinteressen einsetzen;
wahrscheinlich tun sie es nur für Arbeitnehmerinteressen
und nicht für Arbeitnehmerinneninteressen. Es ist an der
Zeit, dass auch in ihrer Spitze mehr Frauen sind, die sich
dafür einsetzen, dass das Gefälle bei den Löhnen der
Frauen beseitigt wird. Das wäre wichtig.
({5})
Warum wird die Pflege schlechter bezahlt als eine
körperliche Tätigkeit auf dem Bau? Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn dieser Unterschied beseitigt wird, dann hätten wir schon einmal eine zentrale
Baustelle weniger.
Sie haben gerade das Computersystem Logib lächerlich gemacht. Wenn Sie sich in anderen Ländern ein wenig umhören - das haben Sie auch bei der Quote getan;
Sie nehmen Norwegen als Beispiel -, dann erfahren Sie,
dass die Schweiz freiwillige Lohntests eingeführt hat.
Diese Tests haben sehr gut eingeschlagen.
Das heißt, die Unternehmen haben sich beteiligt. Diejenigen, die sich da noch nicht beteiligt haben, kamen so
unter Druck, dass sie es tun mussten. Das ist ein Weg,
den auch wir einschlagen müssen. Das ist richtig und
wichtig.
({6})
Wir müssen an zwei weiteren Punkten ansetzen. Erstens geht es um den Fall, dass junge Frauen ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, weil sie Kinder bekommen.
Ich war erstaunt, dass Sie, Frau Gradistanac, wissen, was
die Frauen alles wollen. Ich erfahre bei meinen Reisen
durchs Land - sie sind sehr vielfältig -, dass die jungen
Frauen sehr wohl arbeiten wollen, aber in den ersten Jahren nach der Geburt in Teilzeit. Warum fangen wir nicht
an, einmal die Diskrepanzen aufzulisten? Warum wird
Teilzeit unterbewertet? Warum ist Teilzeit in unserem
Land für die Frauen auch heute noch ein Schritt zurück
auf der Karriereleiter? Warum können wir Unternehmen
nicht dazu bringen, dass Teilzeitarbeit höher bewertet
wird, sodass sie keinen Karriereknick bedeutet?
({7})
Der zweite Aspekt, der hier eine Rolle spielt, ist das
Potenzial der Frauen, die um die 30 oder 40 sind und die
bisher ein anderes Lebensmodell hatten. Wie schaffen
wir es, dieses Potenzial zu aktivieren, das heißt, ihnen
den Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen?
Frauen in dem Alter haben noch 20 bis 25 Jahre vor sich,
in denen sie aktiv arbeiten können. Deshalb ist das Ministerium sehr gut aufgestellt gewesen, als es das Programm für Frauen zum Wiedereinstieg in den Beruf auf
den Weg gebracht hat.
Das sind zwei Punkte, bei denen wir ansetzen müssen.
({8})
Ich möchte einen Satz zur Quote sagen. Wir von der
CDU/CSU-Fraktion sind sehr dafür - das wird auch unsere Forderung sein, die wir in der nächsten Zeit noch
thematisieren werden -, dass in den Corporate-Governance-Kodex eine Bestimmung aufgenommen wird, die
diese „Aufsichtsratsquote“ beinhaltet.
({9})
- Anders als Sie, Frau Schewe-Gerigk - Sie bölken immer dazwischen -, werden wir uns die Anwendung dieses Kodexes anschauen, wenn dieser Punkt aufgenommen ist.
({10})
Wir werden zur gegebenen Zeit reagieren; wir werden
nicht Jahre warten wie Sie, um etwas zu verändern.
Wenn die Zahl der Frauen nicht entsprechend erhöht
wird, werden wir sicherlich ganz schnell andere Regelungen treffen.
Herzlichen Dank.
({11})
Liebe Frau Fischbach, ich bin mir nicht ganz sicher,
dass das Wort „dazwischenbölken“ ein parlamentarischer Ausdruck ist. Ich nehme einmal an, Sie wollten so
etwas wie „rufen“ oder „brüllen“ zum Ausdruck bringen.
({0})
- Gut.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich erteile das Wort dem Kollegen Sönke Rix für die
SPD-Fraktion.
({1})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Lenke, weil Sie mich vorhin so nett gleich als Erstes angesprochen haben, mache ich das jetzt umgekehrt auch.
Frau Lenke, Sie haben betont, Ihre Redezeit sei zu kurz;
sonst wären die Antworten auf die Frage, die auch ich
Ihnen jetzt stellen muss, gekommen.
({0})
- Ich weiß. Ich habe ihn auch gelesen. Darin sind sehr
viele Appelle und sehr viele Maßnahmen, die auf Freiwilligkeit der Arbeitgeber und der Tarifparteien setzen.
Das haben wir seit Jahren gefordert. Das haben wir seit
Jahren praktiziert. Trotzdem sind wir im EU-Vergleich
immer noch auf einem der letzten Plätze.
({1})
Deshalb glaube ich, dass freiwillige Lösungen nicht
mehr tragen.
({2})
Sehr geehrte Frau Höll, Sie haben gesagt, dass die
SPD keine Lösungen vorgeschlagen hat, bzw. gefragt,
warum wir das, was wir vorgeschlagen haben, nicht machen. Ich muss dazu sagen: Es gibt Zeiten, da sind Gemeinsamkeiten in einer Koalition aufgebraucht. Das haben wir bei der Debatte heute deutlich gemerkt. Die SPD
hat klar Position bezogen. Sie haben gefragt, wann wir
das machen wollen. Wir machen das nach der nächsten
Bundestagswahl, wenn wir mit den Grünen - da haben
wir nämlich viele Gemeinsamkeiten - die Mehrheit haben.
({3})
Wir haben schon in der vergangenen Legislaturperiode ein Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen
Dienst auf den Weg gebracht.
({4})
Ich glaube, dass es tatsächlich nicht an allen Stellen etwas gebracht hat, aber für die freie Wirtschaft wäre ein
solches Gesetz ein kleiner, aber wichtiger Schritt, um
auch hier Lohngleichheit und mehr Gleichberechtigung
zu erreichen.
({5})
Frau Fischbach, Sie haben gesagt, dass meine Kollegin Gradistanac keine Punkte genannt hat. Sie hat angeblich nur - ich will diesen Begriff jetzt nicht noch einmal
gebrauchen - irgendwie negativ gerufen; so will ich es
einmal bezeichnen. Tatsächlich wurden sechs Punkte
aufgezählt.
({6})
Die habe ich in Ihrer Rede vermisst. Sie haben zwar die
Vorredner kritisiert und zwei Punkte angeführt. Bei diesen setzen Sie jedoch auch wieder auf Freiwilligkeit. Ich
frage mich da, was das soll. Wir sind hier das Parlament
und dazu da, Gesetze zu verabschieden.
({7})
Deshalb wäre es ganz sinnvoll, nicht nur Appelle zu verbreiten, weil morgen ein besonderer Tag ist, und für die
entsprechenden Aktionen zu werben, sondern auch die
Verantwortung als Gesetzgeber deutlich wahrzunehmen
und entsprechende Maßnahmen umzusetzen.
({8})
Wir sollten bei all dem, was wir schon gemeinsam auf
den Weg gebracht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Frau Möllring hat zwar das Elterngeld erwähnt, aber die Initiative hierzu Frau von der Leyen
zugeschrieben. Ich will jetzt nicht noch einmal dieses
Fass aufmachen, sondern halte nur fest: Die Idee dazu
kam eigentlich von der Sozialdemokratin Renate
Schmidt. Ich bin ja ganz dankbar, dass die Union diesen
Ansatz trotz Widerstandes aus den eigenen Reihen mitgetragen hat. Auch der gemeinsam auf den Weg gebrachte Ausbau der Kinderbetreuung ist ein wichtiger
Punkt. Von daher sollten wir angesichts der Maßnahmen,
die wir gemeinsam ergriffen haben, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Ich würde mir wünschen, wir
würden noch mehr Dinge gemeinsam umsetzen, aber ich
glaube, das ist in dieser Legislaturperiode nicht mehr
möglich.
({9})
So bleibt aber wenigstens ein bisschen Vorfreude auf die
nächste Legislaturperiode.
Schönen Dank.
({10})
Hiermit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/12265. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/8784 mit dem Titel: „Durchsetzung der Ent-
geltgleichheit von Frauen und Männern - Gleicher Lohn
für gleichwertige Arbeit“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der
Koalitionsfraktionen und der FDP, Gegenstimmen in der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11175
mit dem Titel: „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit -
Für eine tatsächliche Chancengleichheit von Frauen und
Männern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange-
nommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11192 mit
dem Titel: „Entgeltgleichheit zwischen den Geschlech-
tern wirksam durchsetzen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der
Koalitionsfraktionen, der FDP und Bündnis 90/Die Grü-
nen und Ablehnung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Carola Reimann, Detlef Parr, Frank Spieth
und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur diamorphingestützten
Substitutionsbehandlung
- Drucksache 16/11515 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die diamorphingestützte Substitutionsbehandlung
- Drucksache 16/7249 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Spahn, Maria Eichhorn, Dr. Hans Georg Faust
und weiterer Abgeordneter
Ausstiegsorientierte Drogenpolitik fortführen Künftige Optionen durch ein neues Modellprojekt zur heroingestützten Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger evaluieren
- Drucksache 16/12238 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dr. Carola Reimann für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit der heutigen ersten Lesung des Gesetzentwurfes zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung machen wir einen wichtigen Schritt hin zu einer
dauerhaften und auch langfristig tragfähigen Regelung
für Schwerstopiatabhängige. Hinter diesem Entwurf, der
sich inhaltlich eng an die Bundesratsinitiative anlehnt,
stehen zahlreiche Abgeordnete von SPD, FDP, den Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Das freut mich, weil
durch die breite Unterstützung aus fast allen Fraktionen
hoffentlich zügig eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die diamorphingestützte Substitutionsbehandlung geschaffen werden kann.
({0})
Darauf warten die betroffenen Schwerstabhängigen und
diejenigen, die sich in den Projekten engagieren und
gute Arbeit leisten. Es wird deshalb höchste Zeit, dass
ein solches Gesetz kommt.
({1})
Die Modellprojekte und die damit verbundene klinische Studie haben klar nachgewiesen, dass die Diamorphinbehandlung den Gesundheitszustand und die Lebensumstände von Schwerstopiatabhängigen verbessert,
und zwar mit signifikant besseren Ergebnissen als bei
der Methadonbehandlung. Bei den Betroffenen - das
will ich an dieser Stelle sagen - handelt es sich um langjährig schwerstabhängige Menschen in äußerst kritischem Gesundheitszustand. Durch die jahrelange Heroinabhängigkeit ist ihr Körper schwer gezeichnet. Für sie ist
die Behandlung mit Diamorphin die letzte Therapieoption, eine allerletzte Chance, in ein geregeltes Leben zurückzukehren. Es besteht kein Zweifel: Durch die Modellprojekte haben Schwerstabhängige wieder zurück ins
Leben gefunden.
({2})
Wir brauchen jetzt eine gesetzliche Grundlage, damit
diese Versorgung auch fortgesetzt werden kann. Mit dem
Gesetzentwurf wollen wir die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Diamorphin, also künstliches
Heroin, im Falle seiner Zulassung als Arzneimittel zur
Behandlung von Schwerstopiatabhängigen eingesetzt
werden kann. Dazu ist es notwendig, dass erstens Diamorphin als verschreibungsfähiges Betäubungsmittel
eingestuft wird und zweitens strenge Kriterien für die
Verwendung von Diamorphin zur Substitution eingeführt werden.
Uns ist völlig klar, dass es sich hier um eine besondere Substanz und Behandlungsmethode handelt. Deshalb befinden sich im Entwurf für die kontrollierte Abgabe auch strikte Vorgaben zum Personenkreis:
({3})
Die Diamorphinbehandlung kommt nur für Schwerstopiatabhängige infrage. Das heißt, eine Abhängigkeit
muss seit mindestens fünf Jahren bestehen, verbunden
mit schwerwiegenden körperlichen und psychischen
Störungen. Vor Beginn einer solchen Behandlung müssen mindestens zwei andere Therapien versucht worden
sein, die erfolglos waren. Außerdem muss der Patient
mindestens 23 Jahre alt sein. Die an den Projekten Beteiligten sind häufig sehr viel älter. Hinzu kommt, dass die
Behandlung nur in bestimmten Einrichtungen und Zentren vorgenommen werden darf, die besondere Anforderungen erfüllen müssen, insbesondere im Hinblick auf
die Sicherheit. Weitere Maßnahmen sind ein Sondervertriebsweg und eine entsprechende Qualifikation der
Ärzte.
Der Gesetzentwurf trägt also den Bedürfnissen der
Schwerstabhängigen Rechnung und enthält zugleich die
notwendigen strengen Sonderregelungen, die wir beim
Umgang mit dieser besonderen Substanz brauchen.
({4})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, kann ich nicht nachvollziehen, warum Sie sich so
vehement gegen diesen Gesetzentwurf sträuben.
({5})
Ihr Antrag, den Sie nach langem Zögern - besser gesagt:
nach langem Verzögern - vorgelegt haben, wiederholt
alte und unzutreffende Zweifel an den Studienergebnissen
({6})
und erweckt in unverantwortlicher Art und Weise den
Eindruck, dass künftig Zehntausende von Abhängigen
für die Substitutionsbehandlung Schlange stehen werden. Das ist nicht wahr. Er belässt außerdem Betroffene
wie auch Mitarbeiter in den Projekten in unsicheren Provisorien.
({7})
Dieser halbherzige und unzureichende Antrag verstärkt bei mir den Eindruck, dass Ihre Ablehnung nicht
aus fachlichen, sondern aus rein ideologischen Gründen
erfolgt.
({8})
Überzeugende und stichhaltige Argumente, die gegen
unseren Gesetzentwurf sprechen, kann ich in Ihrem Antrag nicht entdecken. Stattdessen sprechen Sie blumig
von offenen Fragen, die noch geklärt werden müssen.
Nach jahrelangen Modellprojekten, mehrjährigen Studien, positiven Ergebnissen auch aus anderen Ländern
und guten Erfahrungen mit den Projekten hier vor Ort
sind alle Fragen, die zu klären waren, geklärt.
({9})
Jetzt ist es Zeit, dass wir endlich eine sichere gesetzliche
Grundlage zur Weiterführung der Projekte schaffen.
({10})
Der Gesetzentwurf wird durch eine breite Unterstützung interfraktionell getragen. Er wird von zahlreichen
Experten, Verbänden und Politikern vor Ort - im Übrigen auch von CDU-Kollegen - unterstützt. Er wird
ebenfalls unterstützt von Praktikern und Fachleuten in
den Einrichtungen vor Ort, ja mehr noch: seit vielen Wochen und Monaten gefordert. Deshalb werbe ich dafür,
den Gesetzentwurf nun zügig zu beraten, damit wir noch
in diesem Frühjahr eine sichere gesetzliche Grundlage
zur Weiterführung dieser Versorgung schaffen.
Danke.
({11})
Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Detlef Parr für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jobcenter gestern: Union gegen Union; Hilfe für
Schwerstabhängige heute: Union gegen Union. Die
CDU/CSU ist dabei, nur noch Eigentore zu schießen.
({0})
Lassen Sie mich kurz erklären, warum. Wir beraten
heute unter anderem einen Gesetzentwurf, der auf Antrag der Länder Hamburg, Hessen, Niedersachsen, des
Saarlandes und des Landes Nordrhein-Westfalen im
Bundesrat beschlossen wurde. Ich brauche Ihnen nicht
zu sagen, wer in Hessen, Niedersachsen und NordrheinWestfalen mit der FDP regiert. Die Zusammenarbeit
zwischen den Ländern und dem Bund funktioniert offenbar nicht mehr.
Die CDU/CSU setzt noch einen obendrauf, nämlich
einen eigenen Antrag, der die guten und richtigen Vorschläge sowohl im Gesetzentwurf des Bundesrates als
auch in unserem interfraktionellen Gesetzentwurf, endlich die schon lange fälligen Regelungen für die Aufnahme der diamorphingestützten Substitutionsbehandlungen in die gesundheitliche Regelversorgung zu
schaffen, konterkariert. In einigen Städten und Ländern,
zum Beispiel in Karlsruhe, hat die CDU dagegen bewiesen, dass sie aus den dort seit 2002 durchgeführten Modellprojekten die richtige Schlussfolgerung gezogen hat,
den therapeutischen Weg für eine Diamorphinbehandlung für Schwerstabhängige freizumachen.
({1})
Es geht nicht darum - wie uns die Union im Bundestag glauben machen möchte -, großflächig Manna an
Drogenabhängige zu verteilen. Vielmehr geht es darum,
einer kleinen Gruppe von Menschen - sie wird nicht ins
Unermessliche wachsen, weil wir eine vernünftige
Sucht- und Drogenpolitik machen, die, Frau Drogenbeauftragte, natürlich noch ein bisschen verbessert werden
könnte; wir haben viele Gemeinsamkeiten in diesem Bereich -, die heroinabhängig ist und die mit den bisherigen Hilfsangeboten nicht erreicht werden konnte, zu helfen, in den Alltag des Lebens zurückzufinden.
Der Bundesrat hat bereits am 21. September 2007 für
den Gesetzentwurf gestimmt. Weil die CDU/CSU diesen
blockiert hat, befassen wir uns erst heute, eineinhalb
Jahre später, mit dieser Initiative. Das ist eine lange Zeit,
die ungenutzt verstrichen ist und die die Betroffenen in
große Unsicherheit versetzt hat.
({2})
Leider verweigert sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach wie vor der uneingeschränkten Unterstützung von Menschen, bei denen eine herkömmliche Substitutionsbehandlung nicht erfolgreich verläuft oder die
von anderen Maßnahmen der Suchtbehandlung gar nicht
mehr erreicht werden
({3})
- Entschuldigung, Herr Kollege, das alles sind Fakten -,
({4})
von Langzeitabhängigen, deren Alter über zehn Jahre
höher ist als das eines durchschnittlichen Drogenabhängigen in Deutschland, und von Schwerstbetroffenen, für
die es oft nur noch ums nackte Überleben geht.
({5})
Sie wollen die gesicherten Ergebnisse nicht zur Kenntnis
nehmen, wie die deutliche Verbesserung des gesundheitlichen Zustands der Patienten.
({6})
- Je lauter Sie rufen, umso weniger überzeugend sind
Ihre Argumente, Herr Kollege.
({7})
Sie wollen den Rückgang des illegalen Drogenkonsums,
die sinkende Quote der Beschaffungskriminalität, die
Abnahme der Prostitution, die von 11 Prozent auf
27 Prozent gestiegene Zahl der regelmäßig Arbeitenden,
die Delinquenzrate, die sich innerhalb eines Jahres von
70 Prozent auf 27 Prozent zurückentwickelt hat, nicht
zur Kenntnis nehmen. Diese Haltung, die Sie nach wie
vor gegenüber den Modellprojekten und diesen Ergebnissen einnehmen, ist nicht nachvollziehbar.
({8})
Deshalb bin ich der SPD dankbar, liebe Frau
Reimann, dass wir einen Gruppengesetzentwurf auf den
Weg bringen konnten, der interfraktionell großen Zuspruch fand und noch immer findet. Wer ihn genau liest,
stößt immer wieder auf Brücken, die wir der Union gebaut haben.
({9})
Es sind zahlreiche Sonderregelungen vorgesehen. So
darf Diamorphin ausschließlich zur Substitutionsbehandlung verschrieben werden und nicht zur Schmerzbehandlung. Der Vorwurf, es gebe Heroin auf Krankenschein, läuft also ins Leere.
({10})
Die Behandlung darf nur in bestimmten Einrichtungen
vorgenommen werden, die einer Erlaubnis der Landesbehörde bedürfen und die eine besondere personelle und
sächliche Ausstattung vorweisen müssen. Auch die Sicherheitsbedingungen sind sehr hoch angesetzt. Das benötigte Diamorphin darf nur auf einem Sondervertriebsweg geliefert werden; um einige Beispiele zu nennen.
Die Bundesärztekammer, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, hat so viel Vertrauen in diese Behandlungsmethode, dass sie sie in ihre Substitutionsrichtlinien und ihr Fortbildungsprogramm einarbeiten will.
({11})
Bedenkenträger bleibt allein die CDU/CSU. Sie kann
sich nur zu einer müden Fortführung des Modellprojekts
durchringen. Damit spielt sie weiter auf Zeit und lässt
schwerstabhängige Menschen im Stich. Das Gewissen
wird scheinbar beruhigt, aber die Probleme bleiben ungelöst.
({12})
Das wollen wir nicht mitmachen. Wir brauchen die
Aufnahme in die Regelversorgung jetzt. Das duldet keinen Aufschub mehr.
({13})
250 Kolleginnen und Kollegen haben den Gesetzentwurf
bis heute unterschrieben.
({14})
Es fehlen nicht mehr viele bis zur Mehrheit. Machen Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, die
Überlebenshilfe auch zu Ihrer Sache! Folgen Sie Ihrer
inneren sozialen Stimme
({15})
und lassen Sie endlich einmal Fraktionszwang Fraktionszwang sein!
Danke.
({16})
Jetzt hat Maria Eichhorn das Wort für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dieser Rede ist es schwer, sachlich zu bleiben. Ich
werde mich trotzdem darum bemühen, auch wenn Sie
diese Sachlichkeit haben vermissen lassen.
({0})
In Deutschland leben zurzeit schätzungsweise
140 000 Opiatabhängige. Das sind 140 000 Menschen,
die nicht mehr von der Droge loskommen und daher unserer Hilfe bedürfen. Von den 140 000 Abhängigen befinden sich 60 000 in Behandlung, 90 Prozent davon in
Substitutionsprogrammen. Das ist kein schlechter Wert,
wenn man das mit der Versorgungslage bei anderen Abhängigkeiten vergleicht. Studien belegen zum Beispiel,
dass nur 5 bis 10 Prozent der Alkoholabhängigen behandelt werden.
1998 vereinbarte die rot-grüne Bundesregierung im
Koalitionsvertrag einen Modellversuch zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger. Dadurch sollte
überprüft werden, ob sich der Gesundheitszustand der
Patienten verbessert, wenn ihnen Heroin statt Methadon
verabreicht wird. Auch die Auswirkung der Heroinsubstitution auf den Konsum von Straßenheroin war Untersuchungsgegenstand.
Im vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe um die
Kollegen Reimann, Parr und andere sowie im Gesetzentwurf des Bundesrates wird nun gefordert, im Zuge dieses Modellprojekts die Diamorphinbehandlung in die
Regelversorgung zu überführen. Die Bundestagsfraktion
der CDU/CSU hat sich mit Beschluss vom 26. November 2007 aus guten Gründen dagegen ausgesprochen.
Stattdessen haben wir vorgeschlagen, die Heroinbehandlung im Rahmen eines neuen Modellvorhabens mit dem
Ziel weiterzuführen, die offenen Fragen zu klären. Viele
Fachleute unterstützen uns in dieser Haltung.
({1})
Die SPD und das Bundesgesundheitsministerium haben
unseren Vorschlag aus nicht nachvollziehbaren Gründen
abgelehnt.
({2})
Für die Entscheidung der Union waren schwerwiegende fachliche Argumente gegen die Heroinsubstitution ausschlaggebend.
({3})
Diese wurden von Sachverständigen der Wissenschaft,
der Ärzte und der Krankenversicherungen - Sie waren
selbst dabei - im September 2007 in einer Anhörung im
Deutschen Bundestag zum Ausdruck gebracht. Für viele
Experten lassen die Ergebnisse der Studie keinen sicheren Schluss auf eine Überlegenheit von Heroin gegenüber Methadon bei Schwerstabhängigen zu. Bei der Verbesserung des Gesundheitszustandes der Patienten und
dem Rückgang des illegalen Drogenkonsums ergaben
sich zwar statistisch signifikante Unterschiede zugunsten
der Heroinsubstitution; diese sind jedoch so gering, dass
sie nach Meinung der Experten
({4})
für die Praxis kaum von Bedeutung sind und eine erhebliche Zunahme der Heroinsubstitution zulasten der Methadonsubstitution nicht rechtfertigen.
({5})
- Ich komme darauf noch zu sprechen.
Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund einer unterschiedlichen Erwartungshaltung bei den Patienten.
Erfahrene Substitutionsärzte weisen darauf hin, dass Patienten oft bereits in Erwartung der Behandlung von einem besseren Gesundheitszustand berichten, wenn
Behandlungsmethode und Behandlungsziel ihren Wünschen entsprechen.
Vergessen werden darf auch nicht, dass die starke
Giftwirkung des Heroins zu einer erheblichen Komplikationsrate führt, die es bei Methadon nicht gibt. Atemdepressionen sind die häufigste Todesursache bei
Opiatsüchtigen. Sie traten im Modellprojekt bei 23 Heroinpatienten und nur bei einem Patienten der Methadongruppe auf. Krampfanfälle gab es bei 63 Heroin-,
aber nur bei einem Methadonpatienten. Die Liste ließe
sich fortsetzen.
Auch der Beikonsum illegaler Drogen wie Kokain hat
sich im Vergleich zur Methadonsubstitution nicht wesentlich verändert. So stellt sich die Frage, warum jeder
dritte Heroinpatient weiterhin illegal Drogen konsumierte, obwohl ihm Heroin legal zur Verfügung gestellt
wurde. Dies geschieht - zugespitzt gesagt - ganz nach
dem Motto: Eine Ration vom Staat und eine Ration vom
Dealer.
({6})
- Herr Parr, da Sie ständig unsachlich waren, darf auch
ich einmal einen etwas emotionaleren Satz sagen.
({7})
Damit bleibt - entgegen den Behauptungen der Vertreter des Modellprojektes - trotz Heroinsubstitution ein
großer Teil der Patienten in der Drogenszene.
Darüber hinaus sind weitere Aspekte ungeklärt. Fachleute weisen darauf hin, dass die Kriterien für die Aufnahme der Diamorphinbehandlung zu ungenau sind. Die
meisten der heute in Behandlung befindlichen Methadonpatienten würden die vorgegebenen Kriterien zur
Heroinbehandlung erfüllen.
Die Zahlen gehen weit auseinander. Wer sich für die
Heroinsubstitution ausspricht, redet die Zahl möglichst
klein. In der Anhörung dagegen haben die Krankenkassen - Sie haben es selbst gehört - von einer Zahl von bis
zu 80 000 Personen gesprochen.
({8})
Damit bestünde nicht nur die Gefahr einer unsachgemäßen Ausweitung der Behandlung mit Heroin, sondern
auch die Kosten für die Krankenkassen würden in eine
für die Beitragszahler nicht zumutbare Größenordnung
steigen.
({9})
Eine Heroinbehandlung kostet dreimal so viel wie eine
Behandlung mit Methadon. Die Möglichkeiten, die weitaus günstigere Methadonbehandlung auszubauen, sind
längst nicht ausgeschöpft.
({10})
So werden in der Schweiz zwei Drittel der Heroinabhängigen mit Methadon behandelt, bei uns nur ein Drittel
bis zur Hälfte. Das ist Tatsache.
Frau Eichhorn.
Sofort. - Deswegen fordern wir in unserem Antrag
eine klare Definition der Aufnahmekriterien, damit die
Behandlung mit Diamorphin tatsächlich nur als Ultima
Ratio durchgeführt wird. - Bitte sehr.
Der Kollege Nouripour würde gerne eine Zwischenfrage stellen. - Bitte schön.
Frau Kollegin, wären Sie bereit, mit mir in meinen
Wahlkreis nach Frankfurt zu kommen und ein Gespräch
mit der Dezernentin für Gesundheit in der Stadt, Frau
Rottmann,
({0})
und vor allem mit der Oberbürgermeisterin der Stadt,
Frau Petra Roth - meines Wissens
({1})
CDU-Mitglied -, zu suchen, um sich darüber zu erkundigen, ob das, was Sie hier berichten, irgendetwas mit der
Realität zu tun hat?
({2})
Wären Sie, wenn es zwischen Ihrer Rede und der Situation vor Ort tatsächlich eine Differenz geben sollte, bereit, sich überzeugen zu lassen, dass wir vor Ort tatsächlich andere Argumente gelten lassen müssen?
({3})
Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, dass ich
meine Arbeit so verstehe, dass ich mich vor Ort, dort, wo
die Praxis die Tagesordnung bestimmt, immer informiere. So habe ich mich zum Beispiel in München, wo
ein Heroinsubstitutionsmodellprojekt betrieben wird, erkundigt und mit den Abhängigen gesprochen. Ich habe
aber auch erfolgreiche Einrichtungen zur Methadonsubstitution besucht.
({0})
Ich habe festgestellt - das ist klar -: Derjenige, der Heroin bekommt, will es weiterhin haben. Ich habe auch
festgestellt, Herr Kollege, dass diejenigen, die vom Heroin losgekommen sind und es geschafft haben, wieder
ein eigenständiges Leben zu führen, darüber todfroh waren.
({1})
Ich gestehe Ihnen zu, dass mich das sehr bewegt hat.
({2})
Ich habe die Entscheidung meiner Fraktion nicht auf die
leichte Schulter genommen. Es geht darum, den Menschen zu helfen, ein Leben ohne Heroin führen zu können; die meisten wollen das auch. Das können wir auch
durch eine gute Methadonbehandlung erreichen. Hier
sind viele Möglichkeiten noch nicht vollständig ausgeschöpft.
({3})
Oberstes Ziel jeder Drogentherapie ist und bleibt
- das ist nicht nur die Auffassung unserer Fraktion - der
Ausstieg aus dem Drogenkonsum. Jeder Heroinabhängige wird Ihnen, wenn sie ihn fragen, bestätigen, dass er
von der Droge loskommen will. Nach § 5 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung dient die Substitutionsbehandlung dem Ziel der schrittweisen Wiederherstellung der Abstinenz einschließlich der Besserung und
Stabilisierung des Gesundheitszustands.
Durch die Diamorphinvergabe im Rahmen des Modellprojekts konnten nur 8 Prozent der teilnehmenden
Drogenabhängigen in eine Abstinenztherapie überführt
werden. Daher fordern wir, dass eine neue Studie durchgeführt wird, in der es auch um die Frage geht, inwieweit sich die Gabe von Diamorphin mit dem Ziel des
Ausstiegs aus der Sucht vereinbaren lässt.
Im vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe um Frau
Reimann wird behauptet, es gebe zur Diamorphinbehandlung keine Alternative. Dies sehen viele Experten
und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion anders. Viele
Sachverständige vertreten die Meinung, dass mit psychosozialer Betreuung bei der Methadonsubstitution
ähnlich gute Erfolge erzielt werden können wie mit der
Heroinsubstitution; davon habe ich mich vor Ort überzeugt. Daher fordern wir den Ausbau der Methadonbehandlung und der psychosozialen Betreuung, und zwar
im gleichen Umfang, wie sie im Rahmen der Studie bei
der heroingestützten Behandlung erfolgt ist.
Meine Damen und Herren, für übereilte Entscheidungen besteht keine Veranlassung.
Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage, diesmal von Frau Caspers-Merk.
Bitte.
Liebe Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass im Rahmen des Modellprojekts, das eine
klare Überlegenheit im Hinblick auf die Überlebensrate
({0})
und im Hinblick auf die gesundheitliche Struktur der
Abhängigen zum Ergebnis hatte,
({1})
je zur Hälfte klassische Methadonsubstitution und Diamorphinsubstitution durchgeführt wurde
({2})
und dass in beiden Fällen dieselbe psychosoziale Behandlung stattgefunden hat,
({3})
sodass Ihre Forderung, die Methadonbehandlung mit einer verbesserten psychosozialen Behandlung zu kombinieren, unsinnig ist?
Das Interessante ist doch, dass es sich um eine klinische Studie handelt, bei der die gleichen Randbedingungen vorherrschten und die so angelegt war, dass wir, falls
es sich hier um die Zulassung eines Medikaments gehandelt hätte, ein solches nach unseren Regelungen hätten
zulassen müssen.
({4})
Das war einer der Gründe, warum diese Studie zu diesen
Ergebnissen führte. Das können auch Sie nicht kleinreden.
({5})
Frau Abgeordnete, natürlich weiß ich, dass die Methadon- und die Heroinsubstitution unter gleichen Bedingungen durchgeführt wurden. Wie ich bereits dargelegt habe, waren die Unterschiede aber nicht so groß,
dass es gerechtfertigt wäre, die Diamorphinbehandlung
in die Regelversorgung zu überführen;
({0})
das ist der erste Aspekt. Hier setzen wir an.
Der zweite Punkt, den ich betonen will, ist, dass bei
der Methadonsubstitution in der heutigen Praxis in den
meisten Fällen keine psychosoziale Betreuung stattfindet. Aus diesem Grunde kommen viele Betroffene in
eine schwierige Lage. In diesem Fall verlangen sie eine
Heroinsubstitution, obwohl ihnen schon vorher mit einer
guten Methadonbehandlung hätte geholfen werden können.
({1})
Für übereilte Entscheidungen besteht keine Veranlassung. Auch ohne Mitfinanzierung durch den Bund ist die
Versorgung der bisherigen Heroinpatienten durch die
Städte gesichert; auch das Bundesgesundheitsministerium hat dies bestätigt.
({2})
Die Patienten werden seit dem 1. Januar 2007 und auch
weiterhin auf der Basis einer Ausnahmeerlaubnis mit
Diamorphin behandelt. Kein einziger Patient musste auf
seine Behandlung verzichten.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Karlsruhe, Köln und Frankfurt haben sogar Genehmigungen für die Aufnahme neuer Patienten erhalten. Deswegen ist es ungeheuerlich, wenn gesagt wird, dass aus
christlicher und moralischer Perspektive die Haltung der
Union nicht vertretbar sei.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Wir wollen in erster Linie den Ausstieg aus der
Droge. Das ist die beste Hilfe für die Heroinsüchtigen.
({0})
Der Kollege Frank Spieth hat jetzt für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über
250 Kolleginnen und Kollegen haben den Gesetzentwurf
zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung unterstützt und unterschrieben. Zugegebenermaßen hat er
einen sperrigen Titel, der sich nicht ohne Weiteres erschließt. Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob die Damen und Herren hier und die Zuschauer neben den taktischen Geschichten, die hier im Plenum deutlich werden,
nachvollziehen können, um was es geht.
Ich möchte anhand eines ganz konkreten Falles versuchen, dem Ganzen ein Gesicht zu geben: Der 48-jährige
Herbert S. wurde von den Mitarbeitern der Studienambulanz in der Grünen Straße in Frankfurt am Main buchstäblich von der Straße aufgelesen. 20 Jahre lang war er
heroinsüchtig und die letzten fünf Jahre obdachlos. Er ist
1,81 Meter groß, wog aber zu Beginn der Therapie nur
41 Kilogramm. Sein Gesundheitszustand war miserabel.
Bei der Aufnahmeuntersuchung zeigte sich, dass er
seine Schuhe nicht mehr ausziehen konnte. Das hatte einen Grund: Er trug mehrere Socken übereinander; die
Füße waren voller Wunden, und das unterste Paar Socken klebte an diesen Wunden fest. Herbert S. war äußerst kontaktscheu, ein typischer Einzelgänger, von der
Straße gezeichnet. Bisher hatte er aus Angst vor dem
Entzug jede Therapie abgelehnt.
Eine Methadontherapie, die den Entzug lindern kann,
kam für ihn nie infrage. Denn er hatte sich auf dem
Schwarzmarkt bereits illegal Methadon beschafft und
wusste, wie es wirkt. Unter Methadon fühlte er sich
schlecht, antriebslos und depressiv. Methadon führte bei
ihm dazu, dass er immer wieder maßlos Schnaps und
Wein trank. Da aber die Kombination Alkohol und Methadon die Atmung lähmen kann - dies wird von den
meisten Therapeuten bestätigt -, kommt es beim Betroffenen zu problematischen Folgen: Die mit Heroinkonsum verbundenen Entzugserscheinungen haben solche
Auswirkungen, dass er letztendlich aus der Entzugsmaßnahme aussteigt und in der letzten Konsequenz wieder
an der Nadel hängt. Es handelt sich also um einen Teufelskreis.
Für den schwerstabhängigen Herbert S., der ohne die
Hilfe der Studienambulanz wahrscheinlich nicht mehr
leben würde, war die Diamorphinbehandlung der einzige
Ausweg. Die Aussicht auf eine Therapie ohne Entzugserscheinungen machte ihn neugierig, und er stimmte zu.
Zunächst kümmerten sich die Mitarbeiter der Studienambulanz um ein Obdach. Als das gefunden war, begann
die psychische Behandlung.
Ein großer Unterschied zwischen Diamorphin und
Methadon ist die Halbwertszeit im Körper. Sie beträgt
bei Methadon 24 Stunden, während Diamorphin schon
nach drei Stunden zur Hälfte abgebaut ist. Daher muss
Herbert S. die Studienambulanz auch morgens, mittags
und abends aufsuchen. Diese Regelmäßigkeit hilft ihm,
seinen Tag zu strukturieren. Den Therapeuten gibt dies
die Möglichkeit, regelmäßig mit ihm zu sprechen. Mittlerweise wiegt er 64 Kilogramm. Die Wunden haben
zwar ihre Narben hinterlassen, sind aber geheilt.
Vor vier Monaten hat dieser ehemals todgeweihte
Mann sogar eine Arbeit gefunden. Es ist zwar nur ein
1-Euro-Job, aber er freut sich, wieder gebraucht zu werden. Nun geht er dreimal die Woche für die Stadt Frankfurt in die Parks und sammelt Müll auf. Er freut sich
über diese Arbeit; denn durch sie hat er sein Einzelgängerdasein überwunden und ein stabilisierendes soziales
Umfeld gefunden. Herbert S. ist nicht der einzige Abhängige, dem die Diamorphintherapie geholfen hat. Wir
könnten dies durch zahlreiche weitere Beispiele belegen.
({0})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, meine ich, dass die Erkenntnisse aus den Untersuchungen und die konkreten praktischen Erfahrungen
eine andere Behandlung für diesen begrenzten Kreis von
Personen - im Sinne einer Ultima Ratio - überhaupt
nicht mehr zulassen. Dem muss endlich gefolgt werden.
Ich unterstelle Ihnen überhaupt nichts. Ich weiß, dass
sehr viele von Ihnen sehr starke christliche und soziale
Wurzeln haben. An dieser Stelle habe ich aber erhebliche Zweifel; denn die Forderungen, die Sie hier aufstellen, sind in sich nicht schlüssig. Ihr Antrag ist im Kern
nichts anderes als ein taktisches Reagieren auf diesen
Gesetzentwurf. Das finde ich nicht erträglich.
({1})
Sie müssten jetzt bitte zum Ende kommen.
Ich bin sofort fertig.
Ich kann mich insofern nur meinen Vorrednerinnen
und Vorrednern anschließen. Heben Sie den Fraktionszwang auf und machen Sie diese Entscheidung zur Gewissensentscheidung!
({0})
Das Wort hat nun Dr. Harald Terpe für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Chancen stehen gut, dass wir endlich zu einer
gesetzlichen Regelung die Diamorphinbehandlung für
schwerkranke Opiatabhängige betreffend kommen. Betroffene Patientinnen und Patienten werden dankbar dafür sein und aufatmen, genauso wie die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in den Drogenambulanzen der betroffenen Kommunen.
Mit unserem breit unterstützten Gesetzesvorschlag
werden im Gegensatz zum Antrag der Union die richtigen Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen des Modellprojektes gezogen. Ich will die Ergebnisse nicht in
allen Einzelheiten wiederholen. Der Gesundheitsausschuss hat sich mit gebotener Gründlichkeit mit den wissenschaftlichen Ergebnissen beschäftigt.
Ich will einen kleinen Ausflug in die Wissenschaft
machen. In der Argumentation von Frau Eichhorn haben
wir immer wieder von den vielen Experten gehört. Ich
kenne aus dem Kinderreim: Eins, zwei, viele. Wenn es
aber darum geht, signifikante Ergebnisse anzuerkennen,
ist bei Ihnen offenbar Fehlanzeige.
({0})
„Signifikanz“ ist ein Begriff aus der Wissenschaft.
Deshalb kann man nicht einfach argumentieren, dies sei
kein Ergebnis. Das ist ein signifikantes Ergebnis.
({1})
Die Ergebnisse der Studie sind durchweg positiv und
sprechen eindeutig dafür, dass die Behandlung in die Regelversorgung für den kleinen Kreis schwer Opiatabhängiger übernommen werden muss.
Wenn man den vorliegenden Antrag der Unionsabgeordneten liest, bekommt man das Gefühl, als hätten die
Autoren dieses Antrags eine völlig andere Studie gelesen
oder an einer anderen Anhörung teilgenommen.
({2})
Obwohl die Studienergebnisse eindeutig sind, bezweifeln oder leugnen die Unionsabgeordneten in ihrem
Antrag die Vorteile der Diamorphinbehandlung. Sie behaupten auch, dass es einen Ansturm von 80 000 Abhängigen auf die neue Behandlungsform geben werde, obwohl in der Anhörung nahezu alle Sachverständigen
gerade das ausgeschlossen haben.
Es muss noch einmal festgehalten werden: 80 Prozent
der Patientinnen und Patienten haben sich in ihrer gesundheitlichen Situation verbessert. Bei 70 Prozent der
Patientinnen und Patienten wurde der illegale Drogenkonsum verringert. Die Diamorphinbehandlung soll im
Übrigen keine der bestehenden Therapieoptionen ersetzen.
({3})
Sie führt auch nicht zur Abstinenz, aber sie schafft es,
die zwingenden Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
die Patientinnen und Patienten für eine weiterführende
Substitutions- und Abstinenztherapie erreichbar werden, nämlich die gesundheitliche und soziale Stabilisierung - das hat Herr Kollege Spieth sehr eindrucksvoll
anhand eines Patientenfalls geschildert - und die Loslösung aus der Drogenszene.
Allein in der Stadt Frankfurt wechselten 50 Prozent
der Studienteilnehmer in eine weitergehende Substitutions- oder gar Abstinenztherapie.
Nun fordern die Unionsabgeordneten in ihrem Antrag
ein weiteres Modellprojekt. Dabei gehört die Diamorphinbehandlung national wie international zu den am
besten untersuchten Therapien in der Suchtmedizin. Neben der deutschen Studie kommen vier große Studien
zur Diamorphinbehandlung in der Schweiz, in den Niederlanden, in Spanien und in Großbritannien ebenfalls
zu durchweg positiven Ergebnissen. Ich wäre froh, wenn
es für alle Teile des Leistungskatalogs der gesetzlichen
Krankenkassen gelingen würde, eine derart gute Evidenz
nachzuweisen.
({4})
Herr Kollege, obwohl die Redezeit fast abgelaufen
ist, haben Sie die einmalige Chance, eine Zwischenfrage
von Herrn Dr. Eisel zuzulassen.
Ja, gern.
Bitte schön.
Herr Kollege, gerade weil ich aus einer der betroffenen Städte komme, nämlich aus Bonn, stelle ich Ihnen
die Frage, ob Sie nicht bereit sind, anzuerkennen, dass es
sowohl von den Experten bei dem Expertenhearing als
auch von Ärzten - übrigens auch von Ärzten aus meinem Wahlkreis in Bonn - unterschiedliche Bewertungen
der Ergebnisse dieser Studie gab bzw. gibt.
Akzeptieren Sie nicht, dass es vor diesem Hintergrund auch eine verantwortliche Haltung sein kann, zunächst die unbeantworteten Fragen durch eine weitere
Studie beantworten zu lassen, bevor man eine umstrittene Behandlungsmethode zur Regelbehandlungsmethode macht, und dafür zu sorgen, dass, wenn diese weitere Studie stattfindet, all diejenigen, die sich jetzt in der
Behandlung befinden, auch künftig in der Behandlung
verbleiben können?
Herr Kollege, ich muss darauf Folgendes antworten:
Mir ist durchaus bekannt, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher, evidenzbasierter Studien häufig in Zweifel
gezogen werden, und zwar meistens von den Leuten, die
beispielsweise den Begriff „Signifikanz“ nicht anerkennen.
({0})
Es ist also kein ausreichendes Argument, dass es Leute
gibt, die das nicht so sehen.
({1})
- Solche gibt es auch unter den Ärzten.
({2})
- Herr Spahn, wir sind hier jetzt nicht in der Schule und
erklären uns nicht den Begriff „Signifikanz“.
({3})
Das ist meine Antwort darauf: Es gibt immer wieder
Leute, die wider besseres Wissen Studienergebnisse in
Zweifel ziehen.
({4})
Ich glaube, der wesentliche Irrtum der Unionsabgeordneten besteht darin, dass sie die Opiatabhängigkeit in
erster Linie noch immer als moralische Angelegenheit
und nicht als eine schwere chronische Erkrankung betrachten.
({5})
Genau genommen verwundert mich die Haltung der
Union auch nicht mehr sonderlich; denn seit Mitte der
90er-Jahre, seitdem der Bundesrat erstmalig ein Modellprojekt für die Diamorphinbehandlung gefordert hat,
laufen Sie Sturm gegen diese Diamorphinbehandlung,
und zwar mit allen Kräften, aber auch, wie man eben von
Ihnen gehört hat, mit schlechten Argumenten.
({6})
Ich hoffe jedenfalls, dass sich die Mehrheit des Bundestages davon nicht beirren lässt und die Chance zur
Einführung der Diamorphinbehandlung nutzt; denn nichts
spricht ernsthaft dagegen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Sabine Bätzing spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich als letzte Rednerin der Debatte noch einmal zusammenfassen, um was es bei diesem Gesetzentwurf eigentlich geht. Es geht um das Leben von schwerstkranken Menschen.
({0})
Es geht um langjährig Heroinabhängige, die trotz vielfältiger Versuche keinen Ausstieg aus dem Teufelskreis
der Sucht geschafft haben - weder durch drogenfreie
Therapien noch durch eine Methadonbehandlung.
Was sind das für Menschen? Es handelt sich um Menschen, die über 20 Jahre heroinabhängig sind, zahlreiche
Begleiterscheinungen aufweisen und zum Teil mit
Hepatitis C oder HIV infiziert sind. Viele haben posttraumatische Gewalterfahrungen gemacht oder haben
mehrfache psychische Erkrankungen.
Bei dieser Gruppe von Schwerstabhängigen schlagen
die gängigen Substitutionsmedikamente nicht an, oder
sie haben das Hilfesystem bislang überhaupt noch nicht
in Anspruch genommen.
({1})
Genau für diese Patienten werden durch die Diamorphinbehandlung eindeutig wissenschaftlich-signifikant
bessere Ergebnisse erzielt.
({2})
Den Menschen werden dadurch wieder Perspektiven gegeben. Durch die Diamorphinbehandlung wird das
Überleben dieser Menschen gesichert.
An die Kolleginnen und Kollegen von der Union:
Auch wenn es um die Abstinenz geht, kann die Diamorphinbehandlung sehr gute Ergebnisse vorweisen.
({3})
Von allen Patienten, die nach vier Jahren die diamorphingestützte Behandlung beendet haben, wechselte
rund ein Drittel in eine andere Substitutionsbehandlung.
Weitere 13 Prozent dieser Patienten, die wir früher nicht
erreicht haben, haben eine abstinenzgestützte Behandlung aufgenommen.
({4})
Frau Bätzing, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Widmann-Mauz zulassen?
Ja, gerne, Frau Widmann-Mauz.
Frau Kollegin Bätzing, Sie haben uns gerade erklärt,
dass die Schwerstabhängigen nicht durch gängige Methadonbehandlungen und -substitution erreichbar gewesen seien. Wie erklären Sie es sich dann, dass in der
Kontrollgruppe zu den mit Diamorphin Behandelten im
Modellvorhaben - nämlich der Kontrollgruppe, die mit
Methadon weiterbehandelt wurde - zu 75 Prozent dieselben Erfolge erreicht wurden wie mit Heroin? Kann es
nicht daran liegen, dass nicht der Stoff - in dem Fall Heroin - den Erfolg bringt, sondern mehr die psychosoziale
Betreuung, die in diesem Modellvorhaben so elementar
gut ist, dass es dann auch mit Methadon zu den entsprechenden Erfolgen kommt? Wenn Ihre Grundannahme
richtig wäre, hätte doch in der Methadonkontrollgruppe
kein Erfolg mehr erzielt werden können.
({0})
Nein, liebe Kollegin Widmann-Mauz, das kann nicht
daran liegen. Frau Caspers-Merk hat das vorhin sehr
deutlich gemacht. Die psychosoziale Begleitung war in
beiden Gruppen gleich. Wir können selbstverständlich
die Methadonbehandlung verbessern,
({0})
- das schließt ja nicht aus, dass wir das tun -, aber es
sind immer noch 25 Prozent, die überhaupt nicht erreicht
werden. Sind Ihnen diese 25 Prozent egal? Uns sind sie
nicht egal. Wir wollen auch diesen Menschen das Überleben sichern.
({1})
Frau Kollegin, es gibt noch eine Zwischenfrage der
Kollegin Monika Knoche.
Gerne, Frau Knoche.
Sehr verehrte Frau Kollegin, glauben Sie nicht auch,
dass es der Versachlichung der Debatte auch im Sinne
Ihrer Argumentation dienlich wäre, dem Plenum und der
Öffentlichkeit darzulegen, dass es sich um eine Arzneimittelstudie handelt und dass es um die Frage geht, welches Präparat aus ärztlicher Sicht das geeignete und
beste für die betroffenen Personen ist, und dass wir als
Politiker und Politikerinnen insbesondere dann, wenn signifikante Ergebnisse für ein solches Präparat sprechen,
die Pflicht haben, uns um die Zulassung eines Medikaments zu bemühen, wenn es einem bestimmten Personenkreis besser helfen kann als ein gängiges Präparat?
Stimmen Sie mir zu, dass diese Information in der Debatte einen großen aufklärerischen Wert haben könnte?
Liebe Kollegin Knoche, ich stimme Ihnen sehr gerne
zu. Es handelt sich in der Tat um eine Arzneimittelstudie, es geht um ein Arzneimittel. Ich bin Ihnen sehr
dankbar für diese Information, die noch einmal deutlich
macht, dass es um Hilfe, Therapie und ein Medikament
für schwerstkranke Menschen geht. Herzlichen Dank dafür.
({0})
Ich habe viele abhängige Menschen vor Ort kennengelernt und habe fast alle Ambulanzen besucht. Man
kann es nicht hoch genug einschätzen, wie positiv sich
das Leben dieser Menschen verändert hat. Eindrucksvoller als Kollege Spieth kann man das sicherlich nicht darstellen.
Wir wollen, dass diesen schwerstkranken Menschen
eine Möglichkeit geboten wird, wieder menschenwürdig
zu leben
({1})
und, auch wenn es nicht einfach ist, ihre Sucht zu überwinden. Die Unionsfraktion, die den alternativen Antrag
eingebracht hat, befürchtet dagegen - das hat sie heute
mehrfach wiederholt -, dass die Nachfrage nach Diamorphinbehandlungen sprunghaft zunimmt. Diese Angst
ist völlig unbegründet.
({2})
Die Horrorzahl von bis zu 80 000 Diamorphinpatienten
geistert schon seit Monaten durch die Medien. Sie ist
aber eine reine Erfindung der Union.
({3})
Realistisch ist - das bestätigen die Erfahrungen aus der
Schweiz -, von 2 000 bis 3 000 Schwerstabhängigen
auszugehen, die die Behandlung in Anspruch nehmen
könnten und denen nicht anders geholfen werden kann.
Es gibt also für uns keinen Grund, jetzt ein positiv abgeschlossenes Modellprojekt fortzuführen und weiter
abzuwarten. Was soll mit einer Verlängerung eines Modellprojektes erreicht werden? Die Forschungsergebnisse sind eindeutig, auch was die angeblich offenen
Fragen der Union angeht.
({4})
Die Fortsetzung des Modells ist weder durchdacht noch
finanzierbar; denn die Antragsteller haben sich bislang
noch nicht einmal um zusätzliche Finanzmittel gekümmert. Das ist unredlich und unseriös.
({5})
Wir brauchen für die betroffenen Schwerstabhängigen eine langfristige Perspektive, ihr Leben wieder in
den Griff zu bekommen. Deshalb ist jetzt die Übernahme der erfolgreichen diamorphingestützten Substitutionsbehandlung in die Regelversorgung notwendig. Ich
appelliere abschließend an die Kolleginnen und Kollegen der Union: Geben Sie Ihrem Gewissen Freiheit! Entscheiden Sie sich auch aus christlicher Nächstenliebe für
diese schwerkranken Menschen und unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf!
Danke schön.
({6})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Jens Spahn
das Wort.
Frau Kollegin Bätzing, wir können darüber streiten,
wie wir den Menschen helfen. Aber eines lasse ich mir
persönlich und lassen wir uns als Fraktion nicht absprechen, nämlich dass wir genau das gleiche Bemühen an
den Tag legen, wenn es darum geht, Schwerstabhängigen eine Perspektive zu geben. Wir haben genau das
gleiche Ziel, diesen Menschen eine Chance zu geben
und den Weg zurück in die Unabhängigkeit zu ermöglichen, damit sie ihr Leben selber gestalten können. Wir
streiten nicht über das Ziel, sondern über das Wie. Etwas
anderes sollten Sie nicht unterstellen.
({0})
Herr Kollege Terpe, ich möchte aufgreifen, was Sie
gesagt haben; das hat auch die Kollegin Bätzing angesprochen. Wir bestreiten nicht die Ergebnisse der Studie.
Wir ziehen aber andere Schlussfolgerungen aus der Studie als Sie. Es gibt noch zahlreiche offene Fragen, wie
die Frage des Beikonsums - warum also weiterhin Kokain, Alkohol und Cannabis konsumiert werden - und
die Frage der Ausstiegsorientierung.
Frau Kollegin Bätzing, die Zahl 80 000 wurde nicht
von der Union erfunden, sondern von der KBV und den
Krankenkassen, also von den Kostenträgern und der versammelten Ärzteschaft, in der Anhörung genannt. Die
Kostenträger und die versammelte Ärzteschaft - man
kann sie auch Experten nennen - haben gesagt, gemäß
der von ihnen definierten Kriterien kämen 80 000 Menschen - und nicht, wie Sie gesagt haben, 1 000 - in Betracht.
Was mich am meisten stört, ist der Eindruck, den Sie
hier erwecken. Wenn es um Ideologie, um Irreales ginge,
würden wir mit unserem Antrag sicherlich nicht ein
Kompromissangebot machen. Wenn man das Modellprojekt mit einer anderen Schwerpunktsetzung fortführt
- ich verweise noch einmal auf den Beikonsum, die Ausstiegsorientierung und die psychosoziale Betreuung hin;
es ist zu untersuchen, inwieweit sie zu den Ergebnissen
beiträgt - und wenn es zu entsprechenden Ergebnissen
kommt, sind wir bereit, über eine Gesetzesänderung
nachzudenken. Wenn Sie wirklich ein Interesse daran
haben, dass es zu einer vernünftigen Lösung kommt, wie
Sie in Ihrer Rede gesagt haben, und dass die betroffenen
Städte möglichst schnell zusätzlich Menschen aufnehmen können, dann können wir am morgigen Tag die wenigen Millionen Euro im Haushalt des Bundesministeriums für Gesundheit einstellen, die wir brauchen, um
dieses Modellprojekt fortzusetzen. Wir reichen die Hand
dazu, dass das schnell geht. Nehmen Sie diese Hand im
Interesse der Betroffenen und im Hinblick auf gute Erkenntnisse an! Wir streiten über das Wie, aber nicht über
das Ziel.
({1})
Zur Erwiderung hat die Kollegin Bätzing das Wort.
Herr Kollege Spahn, ich möchte nur auf einen Punkt
eingehen. Ich glaube, die Debatte hat gezeigt, dass wir
stichhaltige Argumente haben, die wissenschaftlich belegt sind. Die Ergebnisse kann man auch nicht anders
auslegen; denn die Fakten sprechen eine klare Sprache.
({0})
Ich möchte lediglich etwas zu Ihrem Kompromissangebot sagen. Ich halte es für einen faulen Kompromiss,
den Sie uns anbieten. Sie hatten vier Jahre Zeit.
({1})
So lange liegt das endgültige Ergebnis der Studie vor.
Wir haben zu zahlreichen Gesprächsrunden und Besuchen vor Ort eingeladen. Wir haben mit Ihnen über Gesetzentwürfe diskutieren wollen. Aber nie gab es ein
Kompromissangebot. Jetzt, wo es nicht mehr anders
geht, bringen Sie einen Antrag ein. Aber Sie machen
keine Finanzierungsvorschläge. Das ist nichts anderes
als reine Verzögerungstaktik. Für uns ist das ein fauler
Kompromiss, dem wir uns nicht anschließen werden.
({2})
Nun hat noch der Kollege Terpe das Wort.
Herr Kollege Spahn, Sie haben eben gesagt, Sie würden die Ergebnisse der Studie nicht bestreiten, nur andere Schlussfolgerungen daraus ziehen. Das deckt sich
nicht ganz mit dem, was Frau Kollegin Eichhorn gesagt
hat.
({0})
Von ihr habe ich nur gehört, dass beispielsweise das Signifikanzkriterium in Zweifel gezogen wird. Wir können
uns natürlich noch einmal darüber unterhalten, was ich
unter Signifikanz verstehe. Ich habe als Arzt damit gearbeitet und eine Menge an Erfahrungen gesammelt. Ich
nehme Ihnen Ihr Argument nicht ab, dass Sie die Studienergebnisse zwar anerkennen, aber andere Schlussfolgerungen ziehen.
Sie haben gerade etwas zur Ideologie gesagt. Ich kann
mich an die Bemerkung „Kiffen auf Krankenschein“ erinnern. Ich weiß nicht, ob eine solche Formulierung
nicht zur Ideologisierung einer Diskussion beiträgt, bei
der es ganz konkret um Patienten geht, die zu behandeln
sind, und zwar um schwerkranke Patienten.
({1})
- Ja, das haben wir gehört.
({2})
- Die Argumente waren ja scheinheilig.
({3})
- Wenn man an anderer Stelle ganz andere Äußerungen
hört, dann fragt man sich, ob die Argumente in sich
schlüssig sind.
({4})
- Das liest man in der Zeitung. Jeder weiß es.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/11515, 16/7249 und 16/12238 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kai Gehring, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen
- Drucksache 16/12303 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Agenden der Gipfeltreffen sowohl in
der EU als auch auf internationaler Ebene anschaut,
dann erkennt man, dass ein Element, das nach unserer
Überzeugung nicht fehlen darf, bisher nicht Gegenstand
der Verhandlungen ist.
({0})
Wir wollen dieses Element heute voranbringen und hoffen, dass Sie mitziehen; wir werben um Ihre Unterstützung.
Es geht um die Finanzumsatzsteuer, die wir auf europäischer Ebene einführen wollen. Das ist ein Projekt,
über das auch in anderen Ländern Europas diskutiert
worden ist. Wir glauben, es ist notwendig, dass es nicht
nur politische Meinungsäußerungen dazu gibt - zum
Beispiel des Außenministers und des Finanzministers;
die können wir in dem Papier, das die beiden Minister
vorgelegt haben, nachlesen -, sondern dass dieses Projekt auf europäischer Ebene auch wirklich vertreten
wird.
({1})
Wir wollen uns für eine EU-weite Finanzumsatzsteuer einsetzen. Natürlich müssen wir uns darüber unterhalten - wir sollten das im Ausschuss tun -, welche
die bessere Variante ist: eine Börsenumsatzsteuer oder
eine allgemeine Finanzumsatzsteuer. Notwendig ist auf
jeden Fall, dass wir zu einer sinnvollen Besteuerung von
Umsätzen auf den Finanzmärkten kommen.
Warum? Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit und der
Fairness. Die Umsetzung unseres Vorschlags würde dazu
führen, dass die Gewinner des Finanzbinnenmarktes,
also diejenigen, die hohe Umsätze generieren, de facto
einen Teil der Ausgaben tragen, die auf europäischer
Ebene - über den Sozialfonds und die Regionalmittel getätigt werden, um die Verlierer der Entwicklung zu
kompensieren. Das sollte in einem sinnvollen Verhältnis
stehen. Häufig wird das Argument vorgetragen, dies
führe zu Belastungen bei der Altersvorsorge und im Aktienhandel. Im Gegensatz zur Börsenumsatzsteuer bezieht sich eine allgemeine Finanzumsatzsteuer nur zu
6 Prozent auf Umsätze mit Aktien und zu 94 Prozent auf
Derivate, Optionen und Futures verschiedener Arten.
Das heißt, das Gros der Belastung betrifft nicht denjenigen, der sich Aktien kauft, um für das Alter vorzusorgen. Es soll vielmehr auf die Teile des Finanzmarkts abgezielt werden, wo ein sehr schneller Umschlag herrscht.
Alle beklagen, dass das Verhältnis von Realwirtschaft
und Finanzwirtschaft nicht mehr stimmt. Das muss wieder hergestellt werden. Es handelt sich daher um eine
sinnvolle Steuer, die auch stabilisierend wirkt. Klar, die
Steuer hätte die jetzige Krise nicht verhindert. Dieser
Einwand gilt aber für jeden einzelnen Vorschlag. Aber
sie wirkt stabilisierend auf die Finanzmärkte, weil es
sich nicht mehr lohnt, minimale Preisunterschiede auszunutzen.
({2})
Es wird manchmal gesagt, das gehe rechtlich nicht.
Das stimmt nicht. Es ist auf europäischer Ebene durch
eine Richtlinie festgelegt, dass das machbar ist.
({3})
Wir sollten das tun. Das, was wir vorschlagen, ist auch
keine Steuererhöhung. Unser Vorschlag geht dahin, dass
im Gegenzug die Mitgliedsbeiträge in die nationalen
Haushalte zurückgeführt werden. Damit hätten wir eine
sinnvolle Finanzierung der europäischen Aufgaben über
ein europäisches Finanzierungsmodell.
({4})
Andere europäische Staaten haben uns vorgemacht,
dass nationale Parlamente diese Diskussion anstoßen
können. Frankreich und Belgien haben entsprechende
Beschlüsse gefasst. Sie sind bereit, wenn andere Staaten
mitziehen, so etwas europaweit zu realisieren.
({5})
Es ist an der Zeit, das Deutschland nicht nur allgemeine
Meinungsäußerungen dazu abgibt, sondern als größte
Volkswirtschaft mitzieht und diesen Vorschlag weiterverfolgt. Es gibt ein gutes Vorbild, das sich die Große
Koalition anschauen sollte. In einer Studie des Wirtschaftsinstituts in Wien wurde eine Finanzumsatzsteuer
auf europäischer Ebene in der Form, die wir aufgegriffen
haben, vorgeschlagen. Nehmen Sie sich ein Vorbild an
der Großen Koalition in Österreich. Es gibt auch Große
Koalitionen, die Sinnvolles in die europäische Diskussion einbringen. Wir hoffen, dass wir in den Ausschussberatungen zu einer gemeinsamen Position kommen.
Dann müssen die europäischen Regierungen gemeinsam
so etwas voranbringen; denn eines ist klar: Es darf nicht
passieren, dass für die Belastungen der jetzigen Krise
wieder alle Menschen über die Erhöhung der Mehrwertsteuer - das haben Sie schon einmal gemacht - bezahlen.
Wir wollen, dass die Gewinner an den Finanzmärkten
die Verlierer entschädigen. Wir wollen zu einer fairen
Entwicklung an den Finanzmärkten beitragen und vor allem für mehr Stabilität an den Finanzmärkten sorgen.
Danke schön.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Nina
Hauer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Na ja, wenn Österreich das vorschlägt, dann sind eigentlich alle großen Finanzmärkte der Welt dabei, oder?
({0})
Ich glaube, Ihre Überlegung, dass eine Steuer, wenn
wir sie in diesem Bereich brauchen, nicht nur die Produkte umfassen darf, die an der Börse gehandelt werden,
ist gar nicht falsch. Darüber kann man reden. Die Frage
ist nur, wie Sie das machen wollen. Woran wollen Sie
das festmachen? Was nehmen Sie alles mit hinein? Nehmen Sie Überweisungen dazu, Schuldverschreibungen
und alles, was dazu gehört? Sie haben in Ihrem Antrag,
der in dieser Beziehung sehr dünn ist, Aktien und Derivate aufgeführt. Es gäbe noch mehr. Diejenigen, die die
Börsenumsatzsteuer fordern, tun das meiner Meinung
nach deshalb, weil sie wissen, dass es schwierig genug
sein wird, diese Steuer letztendlich einzuziehen.
Sie wollen große Finanzmärkte und Akteure kontrollieren. Trotzdem enthält Ihr Vorschlag eine Steuer von
nur 0,01 Prozent. Man kann dafür oder dagegen sein,
man kann sich für 1 Prozent oder 0,01 Prozent aussprechen, aber, ehrlich gesagt, viel werden Sie damit am Finanzmarkt nicht bewegen. Sie werden diejenigen, die
kurzfristige und risikoreiche Spekulationen durchführen,
nicht bremsen können. Sie werden auf der anderen Seite
auch nicht die Einnahmen, die Sie sich versprechen, erzielen, wenn Sie es technisch überhaupt hinbekommen,
diese Steuer einzuziehen. Die Einnahmen werden nicht
besonders hoch sein. 70 Milliarden Euro verteilt auf
27 Mitgliedsländer sind nicht viel. Sie wollen das Geld
gleich bei der EU belassen. Dazu muss ich sagen: Worin
besteht denn dann der Anreiz für die Länder, diese
Steuer zu erheben? Jedes Land, das eine höhere Wertschöpfung als Österreich hat, wird das sein lassen, weil
es auf die Einnahmen verzichten kann und über die EU
ohnehin Gelder fließen.
Kollegin Hauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schick?
Ja.
Unser Antrag enthält einen Hinweis darauf, dass das
österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut in Wien in
einer Studie von einem Steuersatz von 0,01 Prozent ausgeht; daraus ergebe sich ein EU-weites Steueraufkommen von gut 70 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist sehr
konservativ geschätzt. Wir haben als Benchmark für die
Diskussion ganz bewusst die vorsichtigste Schätzung genommen. Wir sind gern bereit, darüber zu diskutieren,
welcher der richtige Satz ist.
Sie haben auch gesagt, das sei wenig Geld. Wenn Sie
diesen Betrag ins Verhältnis setzen zum Haushalt der
Europäischen Union, sind Sie dann bereit, anzuerkennen, dass diese 70 Milliarden Euro mehr als die Hälfte
des derzeitigen Volumens des europäischen Haushaltes
sind und dass dieser Betrag angesichts dessen keine geringe, sondern eine sehr relevante Größe ist?
Herr Dr. Schick, welche Zahl größer ist, kann man
leicht feststellen. Die Frage lautet allerdings: Bekommt
man diese Einnahmen überhaupt? Dazu steht in Ihrem
Antrag überhaupt nichts. Wie soll die rechtliche Grundlage für das Erheben dieser Steuer aussehen?
({0})
Auf welche Produkte soll diese Steuer erhoben werden?
Wer soll das kontrollieren?
Das, was Sie im Hinblick auf den EU-Haushalt vorhaben, ist, wie ich finde, politisch schwierig zu erklären.
({1})
Gerade in der jetzigen Situation - wir geben Finanzunternehmen Bürgschaften, um deren Existenz zu sichern ist den Leuten schwer zu erklären, dass sie von diesen
Steuereinnahmen nichts haben sollen, weil sie in den
EU-Haushalt fließen. Da Sie das offensichtlich wissen,
haben Sie gleichzeitig den Vorschlag gemacht, diese
Einnahmen wieder an die Mitgliedstaaten zu verteilen.
Wie soll das gehen? Das hat mit der eigentlichen Steuer
am Ende überhaupt nichts mehr zu tun.
({2})
- Wir reden hier aber über die Finanzumsatzsteuer. So
wie dieser Antrag formuliert ist, kann eine solche Steuer
doch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden.
Das Bemerkenswerte ist, dass auf unserem Finanzmarkt nicht nur Hedgefonds und kurzfristige Spekulanten agieren. Auf unserem Finanzmarkt geht es vor allen
Dingen darum, den Unternehmen Kapital zur Verfügung
zu stellen und es Anlegern zu ermöglichen, Altersvorsorge und Vermögensbildung zu betreiben.
({3})
Wie soll das funktionieren, wenn die Finanzprodukte
verteuert werden?
Sie schreiben, das würde sich auf die Altersvorsorge
über Kapitalanlagen unwesentlich auswirken.
({4})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich mir das kaum
vorstellen kann. Wenn jemand eine Kapitalanlage wie einen Fonds wählt, dann hat er ein Interesse daran, dass
dieser Fonds wächst; sonst ist sein Geld am Ende nichts
mehr wert. Dieser Fonds wächst aber nur, wenn man
schnell auf den Kapitalmarkt reagieren kann. Wenn man
eine zusätzliche Steuer schafft, dann wird das Ergebnis
sein, dass es Fonds für diejenigen gibt, die sich nicht viel
leisten können. Sie werden diesen Steuersatz zahlen. Ein
Kursgewinn von 3 Prozent würde nach Steuern nur eine
Rendite von 2 Prozent bringen; nach Ihrer Rechnung
wären es 2,9 Prozent, aber das ist nicht viel mehr. Sie
wollen diejenigen, von denen wir, die Politik, glauben,
dass sie einen Finanzmarkt brauchen, der gut funktioniert und sicher ist - ich meine die ganz normalen Anleger und Anlegerinnen -, die Zeche zahlen lassen. Sie
wollen, dass die für sie gedachten Produkte verteuert
werden. Sie bewirken, dass diese Menschen in Kapitalanlagen investieren, deren Fondsmanager wenig Interesse daran haben, möglichst viel zu handeln, weil sie
dafür viel bezahlen müssen.
({5})
Aber diejenigen, die international agieren, die ganz
schnell aussteigen und an einer anderen Börse, auf einer
anderen Plattform oder außerhalb von beidem handeln
können, lassen Sie heraus. Diese Personen werden die
Steuer am Ende nicht zahlen; sie werden nicht zu den
von Ihnen geplanten Einnahmen beitragen, sondern ihre
Papiere schlicht und ergreifend woanders handeln.
Ich sage gar nicht, dass wir das aus grundsätzlichen
Überlegungen nicht wollen. Die ganze Debatte über
diese Art der Besteuerung dreht sich um die Fragen: Wie
bekommen wir diese Steuereinnahmen? Welche Effekte
löst das aus? Sind das volkswirtschaftliche Effekte, die
wir erzielen wollen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass
unser Finanzmarkt von beiden Teilen leben muss? Er
muss davon leben, dass sich Unternehmen Geld besorgen. Er soll in diesen schwierigen Zeiten und auch in Zukunft davon leben, dass die Leute einen Teil dessen, was
sie an Vermögen bilden wollen, am Finanzmarkt zu fairen
Preisen sicher anlegen können, und zwar so, dass sie erwarten können, dass ihre Produkte gut gemanagt werden. Das würden wir mit dem von Ihnen vorgeschlagenen Vorgehen kaputtmachen. Würden wir Ihrem Antrag
folgen, ließen wir diejenigen außen vor, die diese Steuer
eigentlich zahlen könnten, und würden am Ende dafür
sorgen, dass der Finanzmarkt für normale Anleger nicht
mehr zu erreichen ist.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Frank Schäffler für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Den Worten von Ihnen, Frau Hauer, kann ich eigentlich nur zustimmen.
({0})
Alles, was Sie gesagt haben, ist richtig. Nur, Ihr eigener
Kanzlerkandidat fordert eine Börsenumsatzsteuer und
will den Finanzmarkt stärker mit Steuern überziehen.
Von daher haben Ihre Worte in Ihrer eigenen Partei sicherlich nicht so richtig eine Mehrheit gefunden.
Ich möchte auf den Antrag der Grünen zu sprechen
kommen. Herr Schick, ich glaube, Sie haben die Lehren
aus der Finanzkrise noch nicht richtig durchdrungen. Ich
glaube, die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er-Jahre
wurde im Wesentlichen dadurch verschärft, dass die
Länder dieser Welt damals die Steuern erhöht und
gleichzeitig die Zölle angehoben haben. Das war letztendlich die Ursache dafür, dass die Weltwirtschaftskrise
über so lange Zeit eine verheerende Wirkung zeigen
konnte. Wenn Sie jetzt genau das Gleiche fordern, dann
haben Sie aus der Geschichte nichts gelernt.
({1})
Sie haben auch aus den internationalen Erfahrungen
mit Börsenumsatzsteuern - so sage ich jetzt einmal nichts gelernt.
({2})
Wir haben international im Kern eigentlich eine sehr erfreuliche Entwicklung. Überall wird die Börsenumsatzsteuer oder die Besteuerung von Aktienumsätzen abgeschafft. Dänemark hat die Börsenumsatzsteuer 1999
abgeschafft. Deutschland hat 1991, als wir in der Koalition noch Steuern gesenkt haben, die Börsenumsatzsteuer abgeschafft. Italien hat 2008 die Börsenumsatzsteuer abgeschafft, die Niederlande
({3})
1990, Österreich 2000,
({4})
Schweden 1991, Spanien 1988. Überall auf dieser Welt
wird die Börsenumsatzsteuer abgeschafft, und Sie von
den Grünen wollen wieder eine neue Steuer einführen.
Das passt nicht ins Bild.
({5})
Die internationalen Erfahrungen, die wir dazu haben,
sind verheerend. Schweden hat die Börsenumsatzsteuer
1985 eingeführt. Daraufhin ist der Markt für festverzinsliche Wertpapiere um 85 Prozent eingebrochen. Das
Handelsvolumen bei anderen Produkten an der Börse ist
um 98 Prozent zurückgegangen. Die Einnahmen, die
Schweden damals unterstellt hat, nämlich etwas über
165 Millionen Euro, sind nicht erzielt worden. Innerhalb
von wenigen Jahren sind sie auf 9 Millionen Euro gesunken. Wenn Sie also Arbeitsplätze in diesem Land vernichten wollen, auch am Finanzstandort Frankfurt, dann
müssen Sie die Finanzumsatzsteuer einführen.
({6})
Lassen Sie mich direkt auf Ihren Antrag eingehen.
Wenn man einen Antrag formuliert und wissenschaftliche Quellen nennt, auf die man sich bezieht, dann sollte
man wenigstens ordentlich abschreiben. Sie haben in Ihrem Antrag auf das österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO verwiesen - Sie haben es gerade
wieder getan -, haben einen Steuersatz von 0,01 Prozent
erwähnt und Steuereinnahmen in Höhe von 70 Milliarden Euro pro Jahr prognostiziert. Es ist immer ganz
schön, wenn man einmal nachschaut, ob alles das, was
da hineingeschrieben wurde, auch zutrifft.
Ich habe mir vorhin erlaubt, diese Studie herunterzuladen. Auf Seite 71 können Sie das gern noch einmal
nachlesen. Da ist genau beschrieben, welche Annahmen
getroffen worden sind. Es ist beispielsweise angenommen worden, dass bei diesem Steuersatz die Aktienumsätze oder Börsenumsätze um 15 bis 35 Prozent zurückgehen. Es wird tendenziell das dargestellt, was ich für
Schweden gerade vorgetragen habe. Unterstellt werden
nicht Steuereinnahmen in Höhe von 70 Milliarden Euro,
wie Sie geschrieben haben, sondern von 28,6 Milliarden
US-Dollar. Das ist wesentlich weniger als das, was Sie
angenommen haben. Das passt wieder zu dem Bild, das
ich für Schweden gezeichnet habe. Zwischen dem, was
man ursprünglich annimmt, und dem, was dann tatsächlich eintritt, besteht ein himmelweiter Unterschied.
({7})
Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie davon Abstand! Ziehen Sie die Lehren aus der Finanzkrise! Diese
wird eben nicht dadurch bewältigt, dass man Steuern
und Zölle erhöht sowie Mauern aufbaut, sondern dadurch, dass man Mauern abbaut und Freihandel zulässt.
Das ist die richtige Antwort auf diese Finanzkrise.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schick, es
wäre vielleicht sinnvoller gewesen, wenn Sie zu diesem
Tagesordnungspunkt Ihren ursprünglichen Antrag mit
dem Titel „Finanzmärkte besser regulieren - Krisen
künftig verhindern“ eingebracht hätten. Da hätte es viele
Schnittmengen gegeben; da wären wir in vielen Punkten
durchaus gemeinsamer Auffassung gewesen und hätten das
auch gemeinsam nach vorne bringen können. Sie haben
sich - aus nachvollziehbaren Gründen - jetzt rein auf die
Einführung einer Finanzumsatzsteuer konzentriert, weil
Sie mit Ihrem Finanzmarktpapier wahrscheinlich auch
eine Antwort auf die SPD-Forderung nach Einführung
einer Börsenumsatzsteuer geben wollten.
Vor Wochen zumindest lehnte Finanzminister Steinbrück
die Einführung einer Börsenumsatzsteuer ab. Die jetzt
im Finanzmarktpapier der SPD erhobene Forderung ist
wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass er mehr in
seiner Eigenschaft als stellvertretender SPD-Vorsitzender
und weniger als zuständiger Finanzminister agiert. Das
sollte Sie, Herr Schick, nicht veranlassen, die durchaus
guten Vorstellungen, die Sie in Ihrem Finanzmarktpapier
entwickelt haben, nicht mehr weiterzuverfolgen und sich
einseitig auf eine unnötige Belastung des Finanzmarktes
durch Einführung einer solchen Finanzumsatzsteuer zu
konzentrieren.
Ich habe mit Respekt und in gewisser Weise auch
überrascht die Ausführungen der Kollegin Hauer gehört,
die sich im Grunde genommen nicht nur gegen die Einführung einer Finanzumsatzsteuer ausgesprochen hat,
sondern indirekt auch gegen die im Finanzmarktpapier
der SPD geforderte Einführung einer Börsenumsatzsteuer. Vor diesem Hintergrund gibt es in dieser Debatte
zwischen uns durchaus einige Gemeinsamkeiten.
Wenn Sie, Herr Schick, sagen, mit Ihrem Vorhaben
ginge keine Belastung der privaten Altersvorsorge einher,
dann muss ich Ihnen entgegnen - darauf hat sich Frau
Kollegin Hauer auch schon bezogen -: Wenn eine Belastung da ist, wird sie sich in kleinen Schritten kumuliert
über die Zeit negativ auf die Rendite des Anlegers auswirken. Wenn eine Anlage auf diese Weise über 20 Jahre
belastet wird, dann hat das durchaus nennenswerte Auswirkungen auf den Anlageprozess zur Folge.
Die Einführung einer solchen Steuer muss auch im
Hinblick auf Aktienkultur und Aktienanlagen gesehen
werden: Aktien, die durch die Abgeltungsteuer jetzt
schon stärker als beispielsweise Inhaberschuldverschreibungen oder Anleihen belastet sind, würden zusätzlich
belastet. Das würde dazu führen, dass vernünftige Unternehmensfinanzierungen über den Aktienmarkt immer
schwieriger würden.
({0})
Weiterhin würde eine solche Steuer eine Störung der
Mobilität des Finanzkapitals mit sich bringen. Sie würde
in einer Krise darüber hinaus prozyklisch wirken.
({1})
Wenn Sie, wie Sie schreiben, durch die Belastung mit einer
solchen Steuer erreichen wollen, dass gerade die kurzfristigen Geschäfte am Finanzmarkt erschwert würden,
dann sollten Sie bedenken, dass es auch einige Finanzinstrumente kurzfristiger Natur gibt, die durchaus stabilisierende Wirkungen gegenüber den Grundgeschäften haben.
Wenn Sie diese zusätzlich belasten, würden Sie den gesamten Apparat der Sicherungsgeschäfte auf den Finanzmärkten erschweren. Hier sollte man immer das Ende
bedenken.
Weiter sagen Sie in Ihrem Antrag, die Finanzumsatzsteuer sorge für mehr Finanzmarktstabilität. Schauen wir
uns einmal an, in welchen Ländern es Strukturen gibt, die
einer Börsenumsatzsteuer oder einer Taxation anderer
Art entsprechen. Da wären zum Beispiel das Vereinigte
Königreich oder die USA zu nennen. Aber von diesen
Ländern gingen doch überwiegend die Krisen, die auch
uns erreicht haben, aus. Wenn eine solche Steuer Finanzmärkte stabilisieren würde, dann hätte es in diesen Ländern
gar nicht zu diesen Vorkommnissen kommen dürfen.
Von daher gehen Sie auch mit dieser Annahme in Ihrem
Antrag fehl.
Im internationalen Vergleich erkennen wir, dass im
Vereinigten Königreich und in den USA nicht alle Elemente des Finanzmarktes in die Besteuerung einbezogen
sind. Wenn Sie sagen, Obama werde das jetzt machen,
dann sage ich: Gut, dann soll er einmal vorangehen. Ob
dann andere Länder nachziehen, ist eine andere Frage.
Herr Kollege Schäffler hat schon dargestellt, wie es im
europäischen Vergleich ausschaut. Sie von den Grünen sagen ebenfalls, dass Sie keinen Alleingang wollen. Ich
wünsche Ihnen viel Erfolg dabei, die Länder, die bisher
diese Finanzinstrumente wohlweislich und aus nachvollziehbaren Gründen abgelehnt haben, dazu zu bringen,
einer europäischen Grundlage für eine solche Steuer
zuzustimmen. Wir müssen uns fragen, ob wir die Europäische Union als eine Einheit ansehen, die selbstständig
Steuern erhebt. Das haben wir bisher, Herr Kollege
Schick, immer abgelehnt. Ich glaube, wir fahren gut damit, dass dies auch in Zukunft so bleibt.
({2})
Sie widersprechen sich in Ihrem Antrag selbst, indem
Sie fordern, dass die Anteile im jeweiligen Land einen
gewissen Stellenwert haben sollen und dass ein bestimmter Teil der Einnahmen in den Ländern verbleiben
muss, weil sie sonst kein Interesse daran haben, diese
Steuer zu erheben.
({3})
Das ist ein Widerspruch. Wenn Sie eine solche Steuer
auf europäischer Ebene einheitlich erheben wollen, dann
können Sie die nationale Zuständigkeit für bestimmte
Bereiche nicht beibehalten. Daher der Hinweis: Ihr ursprünglicher Antrag war in diesem Punkt sehr viel besser.
Heute Morgen gab es - auch von unserer Kanzlerin hervorragende Debattenbeiträge dazu, welche Erfordernisse sich für die Finanzmarktstabilisierung auf internationaler und auf europäischer Ebene in den nächsten Monaten
ergeben werden. Darauf sollten wir uns konzentrieren.
Wir sollten - ausgehend von den G-20-Beschlüssen vom
15. November - die fünf Leitprinzipien, die bis zu 47 Einzelmaßnahmen im Hinblick auf den internationalen Finanzmarkt und seine Stabilisierung nach sich ziehen, nicht
nur als Ankündigung sehen, sondern auch dafür sorgen,
dass sie in den nächsten Monaten Schritt für Schritt umgesetzt werden.
Wir sollten einen Teilbereich besonders beachten. Angesichts der europäischen Einigkeit, was Elemente der
Finanzmarktstabilisierung betrifft, sollten wir gemeinsam mit den USA und dem gesamten angelsächsischen
Bereich diese Beschlüsse umsetzen, weil jetzt das Zeitfenster gegeben ist. Wenn diese Krise in einigen Jahren
überstanden ist, dann werden wir uns in einem Zustand
wiederfinden, den es vor zwei bis zweieinhalb Jahren
gegeben hat, als in diesem Bereich wenig Sensus für
Regulierung und für Elemente der Finanzmarktstabilisierung vorhanden war.
Es geht um Transparenz, um mehr Rechenschaftspflichten und um die Verbesserung der Regulierung. Es
muss das Ziel sein, dass es weltweit keine weißen Flecken
mehr gibt, was die Regulierung von Finanzmarktprodukten anbelangt. Dazu gehört auch die Austrocknung von
Steueroasen. Dies muss aber in gegenseitigem Respekt
geschehen und nicht mit dem Einsatz von verbalen
Machtinstrumenten. Dazu gehört auch die Forderung,
die Integrität des Finanzmarktes zu wahren, die internationale Zusammenarbeit zu stärken und Institutionen wie IWF
und das Financial Stability Forum mit den Kompetenzen
auszustatten, die es ihnen ermöglichen, die angestrebten
Ziele zu erreichen.
Deshalb sind für uns - im Gegensatz zu Ihnen - die
Stabilisierung und Weiterentwicklung der internationalen Finanzarchitektur eine sinnvolle Zielsetzung. Darauf
sollten wir uns konzentrieren und nicht auf eine zusätzliche Belastung der Finanzmärkte durch die von Ihnen
vorgeschlagene Steuer. Wenn es Europa auf dem Londoner Gipfel gelingt, mit einer Stimme zu sprechen, dann
bietet sich damit eine hervorragende Grundlage, internationale Vereinbarungen zu treffen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der uns vorliegende Antrag ist gewissermaßen
ein Symbol für eine sehr interessante momentane Entwicklung. Ich will sie mit folgenden Worten beschreiben:
Wir müssen etwas gegen den Finanzkapitalismus tun;
aber das darf ihm nicht wehtun. - Wir halten das ausdrücklich für falsch. Wenn Union und FDP gar einem
finanzpolitischen Weiter-so, wie es soeben erfolgt ist,
das Wort reden, ist das eine besonders fatale Entwicklung, die uns nicht aus der Krise herausführt, sondern in
das nächste Chaos hinein.
({0})
Begonnen hat das alles heute Morgen. Die Frau Bundeskanzlerin hat ja nicht in erster Linie als Kanzlerin
geredet, sondern als CDU-Vorsitzende. Das mag sich die
CDU gewünscht haben. Aber für eine konsequente Politik, die uns aus der Krise herausführt, ist das natürlich
der falsche Weg. Beschwichtigen, zurückrudern - eine
solche Politik können wir nicht hinnehmen.
({1})
Natürlich geht der Vorschlag der Grünen in die richtige
Richtung. Er ist eine aktuelle Einladung an Finanzminister
Steinbrück. Auch der proeuropäische Ansatz ist unterstützenswert. Es wäre sogar, wie wir wissen, eine Mehrheit
im Bundestag vorhanden, diesen Antrag zu beschließen.
Aber den bei diesem Ausmaß der Krise notwendigen
Schritten wird auch dieser Antrag nicht gerecht.
Sie hatten bereits - daran muss ich Sie erinnern - im
ersten Halbjahr 2007 die Möglichkeit, einem nicht gleichen, aber ähnlichen Antrag der Fraktion Die Linke
zuzustimmen. Vor zwei Jahren wurden wir für diesen
Vorschlag in der Debatte - ich habe sie mir noch einmal
angeschaut - bestenfalls verlacht. Dabei haben wir damals - da waren wir noch nicht mutig genug - noch
nicht einmal Karl Marx, sondern die Ökonomen Keynes,
Tobin und Stiglitz zitiert.
Der Antrag der Grünen im Wandel - dies ist schon
von meinem Vorredner angesprochen worden. Er hieß
nämlich bis vorgestern: „Finanzmärkte besser regulieren Krisen künftig verhindern“. Ich hielte das für weitaus
mutiger. Der jetzige Antrag war in diesem enthalten.
({2})
Ich hoffe, dass dabei nicht die Analyse Pate stand,
dass die Partei der Grünen die Wählerinnen und Wähler
mit den höchsten Einkommen hat, inzwischen Empfängerin von Spenden aus der Finanzwirtschaft ist - ebenso
wie CDU, CSU, FDP und SPD ({3})
und nur 1 Prozent der Bevölkerung sagt, dass sich die
Grünen in der Krise um sozial Benachteiligte kümmern.
Auch ist immer noch das Wort Ihres Übervaters Joschka
Fischer aus dem Jahre 2003 nachzulesen, der seiner Partei meinte ins Stammbuch schreiben zu müssen: Wir
können nicht Politik gegen die Finanzmärkte machen.
In dem vorliegenden Antrag gibt es ein sehr großes
praktisches Problem. Es wird nichts zur Höhe der vorgeschlagenen Steuer gesagt. Kollege Schick hat nun etwas
dazu dargestellt. Aber wer Steuerforderungen erhebt,
muss, weil Steuern nun einmal etwas mit den vier Grundrechenarten zu tun haben, auch etwas zur Höhe sagen;
denn die Höhe hat sehr wohl Einfluss auf die Qualität.
Nur wenn eine bestimmte angemessene Höhe erreicht
wird, wird auch das Ziel, Kapital investiv und nicht spekulativ anzulegen, erreicht werden. Bleibt der Satz aber
so gering - möglicherweise so gering, wie Sie ihn im
Zusammenhang mit einem Vergleich angeben, nämlich
ein 100stel Prozent -, dann orientiert sich das, was wir mit
dieser Steuer erreichen wollen, am Umsatz. Sie zielen damit gewissermaßen darauf, am Geschäft des Kasinos ein
bisschen mitzuverdienen. Insofern sage ich: Der Antrag
spiegelt die Situation wider, mit der wir es jetzt zu tun
haben. Er ist zwar nicht falsch, aber auch nicht konsequent genug.
Leider stellen wir auch fest, dass sich Bundesfinanzminister Steinbrück am Krebsgang orientiert. Er hat
noch vor kurzem die lückenlose Kontrolle der Hedgefonds gefordert. Jetzt erfahren wir: Von 9 000 weltweit
agierenden Hedgefonds sollen gerade einmal 100 in
diese Kontrolle einbezogen werden. Seine Forderung
nach Einführung einer Börsenumsatzsteuer hat er ausdrücklich im Zusammenhang mit dem SPD-Wahlprogramm bekannt gegeben und nicht in seiner Funktion als
Bundesminister. Was das bei der SPD bedeutet, wissen
wir von Franz Müntefering, der es schlicht und einfach
unfair nannte, dass man ihn nach der Wahl daran erinnert, was er vor der Wahl gesagt hat.
Zurück zur Fraktion der Grünen.
Kollege Claus, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Komme ich auch, Frau Präsidentin. - Mein Fazit ist:
Schlecht regieren konnten die Grünen gut. Gute Opposition müsst ihr noch üben.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12303 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung
datenschutzrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/12011 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu der
Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
- 21. Tätigkeitsbericht - Drucksachen 16/4950, 16/12271 Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp
Gisela Piltz
Silke Stokar von Neuforn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich begrüße ganz ausdrücklich den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, der
an dieser Debatte über seinen Tätigkeitsbericht und den
Gesetzentwurf teilnimmt.
({2})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp für die Unionsfraktion.
({3})
Du kannst immer bei mir klatschen, weil ich vernünftige Sachen sage. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Zum 21. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz liegt Ihnen eine fraktionsübergreifende Entschließung vor, die den sogenannten
kleinsten gemeinsamen Nenner aller Beteiligten darstellt.
({0})
- Es ist der kleinste, aber immerhin, Herr Bürsch. Wenn
viele Arbeitsgruppen und Berichterstatter das schaffen
würden, wären wir in der Bevölkerung vielleicht erheblich besser angesehen, als das im Augenblick der Fall ist.
({1})
Herr Bürsch, fraktionsübergreifend sind wir uns darüber einig, dass angesichts der technologischen Entwicklung der vergangenen Jahre immer deutlicher wird,
dass wir unser Datenschutzrecht in seiner Gesamtheit
überdenken und überarbeiten müssen. Es wird wesentlich darauf ankommen, zu verhindern, dass es am Ende
unendlich viele Einzelregelungen und bereichsspezifische Sonderregelungen gibt. Wir brauchen ein stringentes Datenschutzrecht aus einem Guss.
({2})
Zur Ehrlichkeit gehört natürlich auch, zuzugeben,
dass es im Bereich des Vollzugs der Datenschutzaufsicht
und wohl auch im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes erhebliche Defizite gibt.
({3})
Hier sind die Länder besonders gefordert. Intensive Gespräche zu diesen Themen wurden dort bereits auf den
Weg gebracht.
Es ist guter Brauch, an dieser Stelle dem Bundesdatenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für ihre Arbeit Dank zu sagen. Ich tue das
im Namen meiner Fraktion auch in diesem Jahr ausdrücklich und freue mich, dass ich das durch Augenkontakt unterstreichen kann. Das ist ja einmal etwas Nettes.
({4})
Bei der heutigen Debatte liegt das Hauptaugenmerk
zweifellos auf dem Gesetzentwurf zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung datenschutzrechtlicher Vorschriften. Das Ausmaß der öffentlichen Diskussion über die in diesem Gesetzentwurf enthaltenen
Regelungen und die sich bereits jetzt abzeichnenden
Konsequenzen für ganze Branchen verlangen nach einer
intensiven, ernsthaften und ausgewogenen Auseinandersetzung mit den Betroffenen und den Interessengruppen.
Ich habe ebenso wie viele von Ihnen in den vergangenen Monaten sehr viele Einzelgespräche mit Unternehmern, Verbandsvertretern, mit Vertretern unterschiedlichster Branchen, aber auch mit Datenschützern und
Verbraucherschützern geführt. Ich wiederhole hier deshalb sehr eindringlich, vor allem nach unserer fraktionsinternen Anhörung in der vorigen Woche: Das Ende der
Überlegungen und der Auseinandersetzungen mit diesem heiklen Thema sehe ich noch lange nicht.
({5})
Die Abschaffung des Listenprivilegs und die gleichzeitig geplante Einführung eines umfassenden, verpflichtenden Opt-in sind die wesentlichen Streitpunkte.
Nach derzeitiger Rechtslage ist die Weitergabe und Nutzung von Name, Adresse, Geburtsdatum und Berufsbezeichnung verbunden mit jeweils einem zusätzlichen
Merkmal gestattet. Nach dem sogenannten Listenprivileg ist dies immer dann rechtlich zulässig, wenn es sich
nicht um Daten einzelner Personen handelt, sondern um
listenmäßig zusammengefasste Daten. Ich glaube sogar,
daher stammt dieser Begriff.
({6})
- Das muss einmal gesagt werden, Herr Bürsch.
({7})
Damit nähern wir uns den Realitäten erheblich. - In diesem Fall müssen die Betroffenen zwar nicht über die
Weitergabe oder Nutzung informiert werden, sie haben
aber jederzeit die Möglichkeit - schon nach geltendem
Recht -, einer Weitergabe oder Nutzung zu widersprechen. Das ist das sogenannte Opt-out. Selbstverständlich
gibt es ein Auskunftsrecht über gespeicherte Daten.
Der uns nun vorliegende Gesetzentwurf will nicht nur
dieses Privileg, von dem ich immer sage, dass es gar keines ist, gänzlich abschaffen, sondern zugleich einen
Kurswechsel um 180 Grad vornehmen. Ich bin aber sicher, dass wir mit der Abschaffung des Listenprivilegs
und der Einführung eines verpflichtenden Opt-in über
das eigentliche Ziel von Datenschutz hinausschießen.
Damit wird, wenn man ehrlich ist, effektiver Verbraucherschutz mehr als fraglich.
({8})
Wenn personifizierte, also auf einen speziellen potenziellen Kunden abzielende Werbung nicht mehr möglich
ist - das wird dann der Fall sein -, dann sind unter anderem folgende Alternativen zu befürchten - ich zähle sie
einmal auf -: Jeder Einzelne wird dann Opfer ungefilterter flächendeckender Werbung, die im Vergleich zu
heute erheblich zunehmen wird.
({9})
- Nein, ich glaube nicht alles, Frau Stokar, sondern ich
kann mir, weil der gesunde Menschenverstand selten
hinderlich ist, ausmalen, wie sich Werbung vollzieht,
wenn nicht mehr personifiziert geworben werden kann,
sondern flächendeckend geworben wird. Dann habe ich
mehr Werbung im Briefkasten als jetzt, nur mit dem Unterschied, dass meine Adresse nicht mehr draufsteht.
Es gibt noch andere Möglichkeiten. Es wird wieder
vermehrt Drückerkolonnen geben, die zu passenden oder
unpassenden Zeiten an der Haustür klingeln und uns belästigen; ich empfinde das jedenfalls so. Es wird natürlich, auch wenn es inzwischen gesetzlich eingeschränkt
ist, zu vermehrter Telefonwerbung kommen.
({10})
Also müssen wir uns fragen, ob wir das wollen und ob
sich tatsächlich etwas für den Verbraucher verbessert.
Das finde ich jedenfalls mehr als fraglich. Schon jetzt ist
absehbar, dass ein verpflichtendes Opt-in aus unterschiedlichsten Gründen das künftig verfügbare Adressmaterial erheblich reduzieren wird. Da helfen auch keine
Ausnahmen für etwaige Sondergruppen wie Spendenorganisationen. Denn die Zahl der Adressen, auf die sie zugreifen können, wird so reduziert sein, dass sie in ihrer
Existenz bedroht sein werden und ihre Arbeit eigentlich
auch sein lassen könnten. Man muss sich überlegen, ob
man das in unserer Gesellschaft möchte.
({11})
Der nächste Punkt. Die Auswirkungen werden auch
die deutsche Wirtschaft treffen. Ich meine, dass das in
der derzeitigen Wirtschaftssituation kaum zu verantworten ist. Ich will auf Folgendes aufmerksam machen:
337 000 Anwender haben sich 2007 des MarketingBeatrix Philipp
instruments der volladressierten Werbesendung mit einem Aufwendungsvolumen von 11,5 Milliarden Euro
bedient. Man kann sagen, dass das unheimlich viel ist;
aber ich weise darauf hin, dass die Alternativen anders
aussehen. Die Zahlen sprechen im Hinblick auf gesamtwirtschaftliche Konsequenzen und Arbeitsplätze für
sich. Man kann nicht sagen, das erzähle immer die Wirtschaft; es liegt eigentlich auf der Hand und muss erhebliche Berücksichtigung finden.
Ohne wesentliche Änderungen zeichnen sich für einen Großteil der Wirtschaft Konsequenzen in einem
Ausmaß ab, wie ich es für nicht akzeptabel halte: für die
Unternehmen, die auf ständige Neukundengewinnung
angewiesen sind - jeder im Versandhandel und bei Zeitschriftenverlagen sagt Ihnen, dass sie jedes Jahr
10 Prozent Neukunden brauchen, um den Verlust an
Kunden auszugleichen -, für die Werbung und die Direktmarketingbranche, für Firmen und für Existenzgründer. Im April dieses Jahres findet die 60. Meisterfeier bei
der Handwerkskammer in Düsseldorf statt. Der Handwerksmeister, der mit dem Meisterbrief nach Hause geht
und beschließt, all die anzuschreiben, die er gut bedienen
und beraten könnte, hat diese Möglichkeit demnächst
nicht mehr, weil ihm die Adressen fehlen. Man muss
sich genau überlegen, ob man das will.
Nicht zuletzt gibt es erhebliche Konsequenzen für
Sonderbereiche, denen man bereits durch entsprechende
Sonderregelungen entgegenzukommen versucht. Man
hat schon gesehen, dass es da Probleme gibt. Aber wie
gesagt: Die Ausgangslage ist, dass das Adressenmaterial
erheblich reduziert sein wird. Den Bereich der Marktund Meinungsforschung wird es in dieser Zuverlässigkeit nicht mehr geben. Im Bereich der Versicherungen
wird ein verpflichtendes Opt-in aufgrund des gesetzlich
vorgeschriebenen versicherungsspezifischen Spartenprinzips zu einer erheblichen Belastung; und wir sehen
Korrekturbedarf für den Bereich der Fachpresse.
Schließlich - ich will mich jetzt beschränken, weil
wir in der nächsten Woche eine Anhörung durchführen glaube ich, dass wir uns auf die Dinge konzentrieren
sollten, für die ich mich von Anfang an eingesetzt habe.
Ich sage: Wir brauchen mehr Datensicherheit und nicht
nur mehr Datenschutz. Die Abschaffung des Listenprivilegs muss grundsätzlich überdacht werden inklusive der
Problematik, die mit einem juristisch einwandfreien
Opt-in verbunden ist, das vor Gericht Bestand hätte. Das
gibt es nämlich noch nicht; auch darauf sind wir aufmerksam gemacht worden. Das Kopplungsverbot muss
uneingeschränkt gelten. Wir brauchen eine große Robinsonliste und eine firmeninterne kleine Robinsonliste mit
einer Hinweispflicht durch die Unternehmen. Wir brauchen eine Kennzeichnungspflicht bezogen auf die letzte
Quelle der Daten. Wie gesagt: Der Vollzug muss verbessert werden. Dies ersetzen wir nicht mit der bisher vorgesehenen Auditregelung.
Meine Damen und Herren, wir bewegen uns in einem
sensiblen Bereich, in dem man sehr genau überlegen
muss, an welchen Stellschrauben man dreht, wenn man
unerwünschte Ergebnisse, zum Beispiel die Abwanderung von Firmen ins Ausland, vermeiden möchte.
Wir stehen am Anfang einer Debatte, die in erheblichem Maße geeignet ist, bei der Bevölkerung Problembewusstsein zu schaffen; das ist gut. Es besteht aber
auch die ernst zu nehmende Gefahr, dass man Firmen
mit allzu hohen Hürden, zu strengen Auflagen und zu
großen Belastungen ins Ausland treibt, in Länder, in denen mit verschiedenen Auflagen maßvoller umgegangen
wird als bei uns; das wäre schlecht.
Insofern hoffe ich auf eine ernsthafte Debatte, getragen von dem Willen, für einen angemessenen und abgewogenen Umgang mit Datenschutz und Datensicherheit
zu sorgen. Der Überweisung des Gesetzentwurfes an die
Ausschüsse stimme ich natürlich zu.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was lange währt, wird endlich gut. Vor dem Hintergrund
des Themas, über das wir heute diskutieren, sollte man
hinter diesem Satz eher ein Fragezeichen als ein Ausrufezeichen setzen. Denn um dieser Aussage zumindest
noch ansatzweise gerecht zu werden, läuft Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Großen
Koalition, langsam die Zeit davon.
Sie haben lange - ich finde: zu lange - gebraucht, um
dafür zu sorgen, dass wir dieses Thema debattieren. Ich
bin gespannt, wie es weitergeht. Denn aus meiner Sicht
hätte die Debatte über die Vorschriften, um die es heute
geht, schon längst geführt werden können, sogar schon
längst geführt werden müssen.
({0})
Nicht erst die jüngsten Datenskandale zeigen eindrucksvoll, dass dem gewissenlosen Umgang und dem
Herumvagabundieren von Daten - heute kann man Daten ohne Probleme im Internet kaufen - durch gesetzliche Regelungen schon längst ein Riegel hätte vorgeschoben werden müssen.
In der kurzen mir zur Verfügung stehenden Redezeit
gehe ich auf zwei wichtige Punkte des Gesetzentwurfes
ein. Zunächst möchte ich ein paar Worte zum Entwurf
eines Datenschutzauditgesetzes verlieren. Das Bundesdatenschutzgesetz sieht diese Möglichkeit schon seit
dem Jahre 2001 vor. So lange haben Sie gebraucht, um
dies in die Wege zu leiten. Das sage ich auch an die
Adresse der Grünen, die dafür ebenfalls viel Zeit gehabt
hätten. Wenn dieses Parlament für alles neun Jahre
braucht, mache ich mir wirklich Sorgen.
Obwohl die Bundestagsfraktion der FDP schon lange
die Etablierung eines Datenschutzsiegels fordert, kann
ich Ihrem Gesetzentwurf, abgesehen von seiner Zielsetzung, nicht furchtbar viel abgewinnen. Er lässt klare
Prüfungsmaßstäbe vermissen. Des Weiteren fehlt die
Möglichkeit, neben Unternehmen auch Produkte,
Dienstleistungen und Verfahren zu auditieren. Mein
Hauptkritikpunkt ist der unwahrscheinlich große bürokratische Aufwand, den der Gesetzentwurf mit sich
bringt. Mit diesem bürokratischen Monstrum wird die
Zielsetzung, einen unbürokratischen Datenschutz zu etablieren, geradezu konterkariert.
({1})
Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang an Ihren
Koalitionsvertrag erinnern - ich weiß, dass Sie sich nicht
daran erinnern wollen; wir erinnern Sie aber gerne -, in
dem steht:
Das Datenschutzrecht bedarf vor dem Hintergrund
der technischen Entwicklungen der Überprüfung
und an verschiedenen Stellen der Überarbeitung
und Fortentwicklung. Bei dieser Aufgabe werden
wir auch prüfen, ob im Hinblick auf den Abbau
überflüssiger Bürokratie Änderungen vorgenommen werden können.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Gemessen an diesem Satz
haben Sie das Ziel Ihres Gesetzentwurfes wirklich verfehlt.
({2})
Das zweite zentrale Anliegen des Gesetzentwurfes
- dazu hat sich Frau Philipp ausführlich geäußert; sie
hatte auch mehr Zeit als ich - ist die Etablierung des sogenannten Opt-in-Verfahrens und die Abschaffung des
generellen Listenprivilegs. Wenn man dem, was man immer wieder hört, Glauben schenken kann,
({3})
ist dies wohl ein schwieriges Thema.
({4})
Ich finde es interessant, dass Sie, Frau Philipp, die gesamte Redezeit Ihrer Fraktion für sich beansprucht
haben. Ich hätte gerne auch gewusst, was der Bundesinnenminister, die Staatssekretärin im Verbraucherschutzministerium und die verbraucherschutzpolitischen Fachleute Ihrer Fraktion dazu sagen. Dazu haben Sie sich
allerdings nicht geäußert. Das bedaure ich außerordentlich.
Ich weise Sie darauf hin, dass jeder Haushalt
137 Werbebriefe pro Jahr erhält, die er möglicherweise
gar nicht bekommen möchte. Falls Sie in diesem Zusammenhang Drückerkolonnen im Blick haben, frage ich
mich, ob die CDU/CSU-Fraktion das EU-Recht ändern
oder das Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften einschränken möchte. Das wäre nämlich das Szenario, das
Sie an die Wand gemalt haben.
Eines ist klar: Die Technik ist heute weiter, als das
Listenprivileg alt ist. Heutzutage kann man ruck, zuck
Daten vermengen oder gegeneinander austauschen. All
das ist heute viel schneller möglich als früher. Dieser
Entwicklung muss man sich stellen, und dieser Entwicklung stellen wir uns. Ich denke, es ist nach wie vor richtig, zu sagen: Ich bestimme, was mit meinen Daten passiert, sei es nur ein einziges persönliches Merkmal, das
hinzukommt. Ich entscheide, ob man meine Daten benutzt oder nicht. Wenn man das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ernst nimmt, muss man darüber
nachdenken. Wir halten das nach wie vor für den richtigen Weg.
({5})
Leider sind die von uns geforderten Datenmarker
noch nicht in den Gesetzentwurf aufgenommen; wir
würden das für klug halten. Durch sie könnte man seine
Ansprüche wirklich durchsetzen. Von daher bleibt aus
unserer Sicht festzustellen, dass man noch viel verbessern kann.
Insbesondere muss man auch für den Datenschutzbeauftragten mehr Geld zur Verfügung stellen. Ich halte es
immer für ein bisschen schwierig, wenn die Vertreter der
Großen Koalition hier darüber sprechen, dass man ihn
besser ausstatten muss. Sie folgen nämlich im Haushaltsausschuss nicht den entscheidenden Anträgen, ihm
mehr Geld zur Verfügung zu stellen, und äußern sich
hinterher öffentlich im Fernsehen und sagen, er müsste
mehr Geld bekommen. Das ist Doppelmoral. Das hat der
Bundesdatenschutzbeauftragte nicht verdient.
({6})
Noch kurz zum Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten, der aus meiner Sicht eine eigene Debatte verdient hätte: Ich bin froh, dass wir die Tradition
fortsetzen konnten; das teile ich, Frau Philipp. Ich fände
es aber auch schön, wenn die Regierung dem Parlament
folgen würde und nicht zum wiederholten Male - wie
beim Arbeitnehmerdatenschutz - unsere Forderungen
missachtet. Vielleicht wird einmal alles besser. Die
Skandale haben schließlich gezeigt: Es besteht Nachbesserungsbedarf.
Zum Schluss gilt mein Dank in diesem Zusammenhang den Mitberichterstattern, unseren Mitarbeitern und
dem Bundesdatenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeitern. Ich bin stolz, dass wir das wieder hinbekommen
haben.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Datenschutz ist heutzutage Verbraucherschutz.
Dies wird nicht zuletzt durch eine Studie des Nürnberger
Marktforschers GfK deutlich. Danach haben im vergangenen Jahr 29,5 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher im Internet eingekauft. Das sind 12 Prozent
mehr als 2007. Der Umsatz der Onlineshops stieg damit
2008 um erstaunliche 19 Prozent und hat sich seit 2003
mehr als verdoppelt.
Bei all diesen virtuellen Einkäufen hinterlassen die
Verbraucherinnen und Verbraucher ihre E-Mail-Adresse,
tippen ihre Kontoverbindung ein oder geben ihre Kreditkartennummer preis. Wer einen Job sucht, stellt seinen
Lebenslauf online. Wer Freunde treffen will, bewegt sich
in sozialen Onlinenetzwerken. Wer einen Partner sucht,
wird in seiner Darstellung zwangsläufig sehr persönlich.
Das Datenschutzrecht muss deshalb modernisiert werden. Es muss auf der Höhe der rasanten technischen Entwicklung bleiben. Missbräuche müssen drastisch reduziert werden.
({0})
Zum Glück ist unsere Rechtsprechung eindeutig. Es
gilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Da
hat sich in der Vergangenheit einiges verschoben. Ich erinnere an die vielfältigen Skandale, die es gab. Das muss
wieder ins Lot gebracht werden. Deshalb begrüßen wir
den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung
grundsätzlich. Es ist richtig, wenn das bestehende Listenprivileg modifiziert wird. Dieses Privileg hat leider
dazu beigetragen, dass persönliche Daten weitläufig und
für den Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar und überprüfbar verstreut werden. Dies entspricht nicht dem erwähnten Grundrecht.
Folgendes sage ich auch als Verbraucherpolitiker.
Fakt ist: Ein funktionierendes Wirtschaftssystem und ein
funktionierender Wettbewerb brauchen nun einmal die
Werbung. Gerade junge und kleine Unternehmen müssen in der Lage sein, Kunden zu akquirieren, um sich am
Markt zu behaupten. Es ist auch nicht verwerflich, wenn
Werbung zielgruppengerecht erfolgt. Deshalb sollten wir
es im weiteren Beratungsverfahren möglich machen,
beim Listenprivileg zu einer vernünftigen Lösung zu
kommen. Durch diese Lösung muss auf der einen Seite
Datenmissbrauch zukünftig verhindert und darf auf der
anderen Seite der Wettbewerb der Unternehmen nicht
behindert, sondern soll letztendlich gefördert werden.
Es darf nicht sein, dass bei vielen Produktbestellungen
im Internet ein Datenstriptease nötig ist, um die Bestellung zu realisieren. Deshalb brauchen wir ein wirksames
Kopplungsverbot. Das Prinzip der Datensparsamkeit
muss auch hier gelten.
({1})
Für unsere Verbraucherpolitik gilt das Prinzip der
gleichen Augenhöhe. Deshalb plädiere ich eindeutig und
nachdrücklich dafür, dass wir die rechtliche Position der
Verbraucherinnen und Verbraucher bei Verstößen gegen
den Datenschutz deutlich verbessern. Dies muss durch
eine Erweiterung des Verbandsklagerechts für Verbraucherverbände auf den Datenschutz, verankert im Unterlassungsklagegesetz, erfolgen.
({2})
Schließlich brauchen wir ein Datenaudit. Dieses muss
effizient, wenig bürokratisch und eindeutig sein.
({3})
Wenn mögliche Gremien etabliert werden, dann sollte
darin auch die Verbraucherseite Berücksichtigung finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der aktuelle Gesetzentwurf ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Ansonsten gilt wie immer für uns das Struck’sche Gesetz.
Vielen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Redeliste weist
aus, dass die Fraktion Die Linke wollte, dass die Ab-
geordnete Petra Pau jetzt spricht. Aus nachvollziehbaren
Gründen bin ich anderweitig beschäftigt. Deshalb neh-
men wir diesen Beitrag für die Fraktion Die Linke zu
Protokoll1).
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn
für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gern
würde ich die Redezeit der Präsidentin übernehmen;
denn ich stehe jetzt vor der Aufgabe, innerhalb von vier
Minuten vier sehr komplexe Datenschutzthemen zu bewerten. Deswegen das Wichtigste zuerst.
Mein Dank geht an Peter Schaar und sein Haus für die
Vorlage des 21. Tätigkeitsberichts, aber natürlich nicht
nur für diesen Bericht, sondern auch für die engagierte
Arbeit für den Datenschutz. Wenn wir nur ein paar
Empfehlungen des Bundesdatenschutzbeauftragten mit
Mehrheit im Parlament beschließen würden, dann wären
wir alle ein Stück weiter.
({0})
Meine Geduld an der Gemeinsamkeit, dass wir Jahr
für Jahr feststellen, dass beim Thema Datenschutz etwas
geschehen muss, aber diejenigen, die jetzt regieren, sich
keinen Millimeter bewegen wollen, hat ein Ende gefun-
den.
1) Anlage 2
({1})
Ich habe heute hier etwas erlebt, was ich bisher noch
nie erlebt habe, nämlich den Verriss eines Gesetzentwurfs von Bundesinnenminister Schäuble durch die
CDU/CSU-Fraktion, wie es schlimmer eigentlich nicht
mehr gehen kann. Der Bundesinnenminister, den ich selten lobe, hat ein durchaus ambitioniertes Datenschutzgesetz für den privaten Bereich vorgelegt, nicht freiwillig,
sondern als Antwort auf zahlreiche Datenschutzskandale
und sicherlich auch - ich kenne ihn schließlich gut -, um
sich gegenüber der Öffentlichkeit zu entlasten und um
im Windschatten der Debatte um Datenschutz in der Privatwirtschaft die staatliche Überwachung weiter auszubauen. Dass Sie, meine Damen und Herren von der
CDU, durch Ihre Kollegin Frau Philipp dieses Datenschutzgesetz in der Plenardebatte jedoch öffentlich in
Grund und Boden stampfen, das ist schon ein besonderes
Ereignis.
Ich habe es so vernommen, dass Opt-in mit dem heutigen Abend gestorben ist. Von der SPD war hierzu wenig zu hören. Herr Bürsch hat sich gegenüber dem Handelsblatt ähnlich geäußert.
Deswegen möchte ich Ihnen noch einmal erklären,
worum es eigentlich geht. Es geht nicht um eine Belästigung durch Werbeflut. Vielmehr geht es darum, dass
hinter meinem Rücken mit meinen Daten, die ich für einen bestimmten Zweck zur Verfügung gestellt habe, weil
ich im Internet etwas kaufen wollte, Kundenprofile von
mir erstellt werden und dass diese Kundenprofile von einem Unternehmen an ein anderes Unternehmen weiterverkauft werden und dass ich diesbezüglich keine Transparenz habe und ich mich auch nicht dagegen wehren
kann.
({2})
Opt-in ist im Internetzeitalter überhaupt kein Problem. Mit einem Mausklick erklärt man sich damit einverstanden, dass einem weitere Informationen zugeschickt werden, oder nicht einverstanden. Das ist seit
dem Volkszählungsurteil ein Grundsatz des Datenschutzes. Ich bestimme über meine Daten. Meine persönlichen Daten sind keine beliebige Ein-Euro-Ware. Sie von
der CDU/CSU machen sie erneut dazu und tragen damit
auch die Verantwortung für die weiteren Skandale in der
Privatwirtschaft.
({3})
Ich kann jetzt nur noch ein paar Worte zum Datenschutzaudit sagen. In der Anhörung im Innenausschuss
werden wir intensiv darüber reden. Seit zehn Jahren wollen wir dieses Datenschutzaudit, das heißt, wir wollen
ein Gütesiegel für diejenigen, die einen vorbildlichen
Datenschutz betreiben. Auch hier: Auf Ihrem Gesetzentwurf steht Datenschutzaudit, aber ein Datenschutzgütesiegel ist noch lange nicht darin enthalten.
Wir sind gerne bereit, an der Verbesserung dieses Gesetzentwurfs mitzuwirken. Wir wollen Qualitätsstandards, die staatlich gesetzt werden und eingehalten werden müssen. Sie arbeiten hier mit einem Placebo. Wenn
Sie meinen, man kann die Verbraucherinnen und Verbraucher heute noch mit einem Datenschutzgütesiegel
light hinters Licht führen, dann haben Sie sich getäuscht.
Gehen Sie diesen Weg, und schaffen Sie ein vernünftiges Datenschutzgütesiegel, dann haben Sie uns an Ihrer
Seite. Was hier heute zu hören war, zeigte aber: Die
Große Koalition wird beim Thema Datenschutz trotz der
zahlreichen Skandale nichts mehr bewegen.
({4})
Den Arbeitnehmerdatenschutz haben Sie ja schon beerdigt. Ich bedaure dies und hoffe, dass wir das Thema in
der nächsten Legislaturperiode mit anderen Leuten
erneut angehen.
Danke schön.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Michael Bürsch das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ist vielleicht die Gelegenheit, mal wieder
etwas Ruhe und Abgeklärtheit in der Debatte zu schaffen.
({0})
Verehrte Kollegin Stokar, wenn es um die Große Koalition und ihre Vorhaben geht, dann halte ich mich an
meinen und unseren Innenminister. Innenminister
Wolfgang Schäuble hat gesagt, er schließe Nachbesserungen zwar nicht aus, er warne aber vor einem Scheitern. Ich zitiere:
Wir müssen den Datenschutz im privaten Bereich
noch stärker durchsetzen. Daher müssen wir hier
auf jeden Fall noch etwas in dieser Legislaturperiode tun.
Genau so wird es geschehen.
Frau Philipp hat ein paar kritische Anmerkungen gemacht. Das ist wohl erlaubt.
({1})
Nach dem Motto „Wo bleibt das Positive?“ sage ich:
Bitte schön, jetzt nenne ich einige Punkte, die wir uns
mit dieser Datenschutznovelle und dem ganzen Drumherum vornehmen.
Zunächst einmal zum wichtigsten Punkt. Die SPD,
die Grünen und ich weiß nicht, wer noch alles, haben in
der Tat schon vor Jahren bzw. Jahrzehnten gefordert,
dass ich nicht mehr, wie das bislang üblich war, widerrufen muss, wenn jemand meine persönlichen Daten verwendet, sondern ich vorher einwilligen muss: vorherige
Einwilligung statt Widerruf.
Frau Stokar von Neuforn, Frau Piltz und all die anderen, die sich hier kritisch geäußert haben, es ist doch
auch nach Ihrer Einschätzung ein Paradigmenwechsel,
dass dies in den Vordergrund gerückt wird und dass wir
dies auch aufgrund der Lehren, die wir aus den Datenschutzskandalen gezogen haben, ernst nehmen. Das ist
die Richtschnur, die uns bei allem, was in dem Gesetzentwurf enthalten ist und was wir noch umsetzen wollen,
leiten wird. Es geht um Einwilligung statt Widerruf.
Im zweiten Schritt rede ich gerne über Listenprivileg
und all die Begriffe, die kaum jemand hier kennt. Auch
wenn wir jetzt um 20.15 Uhr nur noch unter Eingeweihten hier sitzen, rate ich sowie einmal dazu, dass man die
ganze Debatte so führt, dass andere sie auch verstehen.
({2})
Wer weiß, was ein Audit ist, wer weiß, was ein Kopplungsverbot ist, und, Kollege Zöllmer, wer weiß, was das
Struck’sche Gesetz ist?
Ich erläutere zumindest das: Das Struck’sche Gesetz
stammt von Peter Struck und bedeutet: Kein Gesetz
kommt so aus diesem Bundestag heraus, wie es als Entwurf hineingekommen ist. Genau das ist die Devise,
nach der ich an dieses Gesetz herangehe. Nach den
37 Gesprächen und all den Treffen mit Verbänden und
Vereinen, die ich gehabt habe - wie wahrscheinlich viele
andere hier auch -, bin ich mir ganz sicher, dass wir
Wege finden werden.
Wir haben im letzten halben Jahr viel dazugelernt,
und wir werden Lösungen finden. Wir werden unsere
Aufgabe erfüllen, die darin besteht, verehrte Frau Stokar,
als Gesetzgeber einen Interessenausgleich zu finden. Das
ist unsere Aufgabe: auf der einen Seite ein Interessenausgleich zwischen einem enormen Fortschritt im Datenund Verbraucherschutz - das will ich, und das will auch
die SPD -, aber auf der anderen Seite mit Augenmaß,
was die Risiken, Wirkungen und Nebenwirkungen angeht.
Das ist keine große Einschränkung der dritten Art,
sondern es bedeutet, dass wir nicht nur den Datenfluss
wollen - wir leben im 21. Jahrhundert -, sondern auch
den Datenschutz. Dabei ist für mich maßgeblich, was
wir im Gesetzentwurf vorgesehen haben und was für uns
alle die Richtschnur sein muss, nämlich Einwilligung
statt Widerruf.
Wir werden auch den Datenschutz in der Wirtschaft
verbessern. Das ist die Zielsetzung, die wir im Grunde in
den vielen Gesprächen mit der Wirtschaft verabredet haben. Damit ist mir allerdings etwas anderes wichtiger als
das, was mit einem freiwilligen Zertifizierungsverfahren
gemeint ist. Mir ist viel wichtiger, was schon im Gesetz
steht, aber in der Praxis noch nicht stattfindet, nämlich
dass wir viel stärker darauf achten, wie die Daten, mit
denen gehandelt wird und die hin und her fließen, verschlüsselt sind und wie sie entschlüsselt werden können.
({3})
Die Möglichkeiten der Verschlüsselung werden bei
weitem noch nicht genutzt, im Gegenteil. In § 3 a des
Bundesdatenschutzgesetzes ist das wunderbar geregelt.
Danach sollen Daten anonymisiert oder mit Pseudonymen
versehen werden, wie die Fachleute es nennen, sodass
man die personenbezogenen Angaben nicht direkt lesen
kann.
Die ganzen Skandale der letzten Monate bei der Telekom und wo auch immer wären nicht passiert, wenn die
Daten ordnungsgemäß verschlüsselt worden wären. Das
ist für mich der Schlüssel zu dem, was Datenschutz in
der Wirtschaft bedeutet. Das werden wir angehen.
Verehrter Herr Schaar, auch von unserer Seite ganz
herzlichen Dank für die Zusammenarbeit, für viele kritische Anmerkungen, aber auch für die konstruktive Begleitung dessen, was wir erreichen wollen. Wir wollen
und müssen den Datenschutzbeauftragten stärken.
({4})
Wenn wir - wie es im Gesetzentwurf vorgesehen ist eine stärkere Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden
wollen, dann müssen wir ihm jetzt endlich - es ist schon
zu viel Zeit vergangen; damit bin ich ganz bei Ihnen mehr Personal und mehr Eigenständigkeit ermöglichen.
Das gilt genauso für den betrieblichen Datenschutzbeauftragten. An dieser Stelle müssen wir nachbessern.
Ich bin der Meinung, wir können auf dem Gesetzentwurf aufbauen. Wir werden nach der Anhörung in der
nächsten Woche mit den sich daraus ergebenden Anregungen ein Gesetz machen können, das sich sehen lassen
kann. Das ist meine feste Überzeugung. Wir werden den
Datenschutz voranbringen. Ich lade alle dazu ein, die guten Sinnes sind und das auch erreichen wollen, statt es
nur kritisch zu begleiten und am Rande zu kläffen.
({5})
Alle, die dabei mitmachen wollen, sind dazu eingeladen.
Wir können den Datenschutz vielleicht gemeinsam verbessern, wie wir auch eine gemeinsame Erklärung zum
Bericht des Datenschutzbeauftragten abgegeben haben.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache und gehe davon aus, dass
mit der letzten Bemerkung kein Mitglied des Hauses gemeint war und sich damit auch nicht angesprochen fühlen muss.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/12011 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des
Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informa-
tionsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12271, in Kenntnis des
genannten Berichts auf Drucksache 16/4950 eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mobilfunkforschung verantwortlich begründen
- Drucksache 16/10325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz
Heilmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Mobilfunkstrahlung minimieren - Vorsorge
stärken
- Drucksache 16/9485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Mobilfunk ist aus dem öffentlichen Leben nicht
mehr wegzudenken. Das merkt man allein daran, dass es
mittlerweile in Deutschland mehr Handys als Bürger
gibt. Man merkt es aber auch daran, dass das Handy
zunehmend leistungsfähiger wird und teilweise schon
mobile Computer ersetzen kann, wodurch die Arbeitswelt flexibler geworden ist. All das begrüßen wir sehr.
Es geht aber nicht nur um eine Modernisierung und
darum, was das Mobilfunkgerät alles ermöglicht hat.
Vielmehr geht es auch um viele Arbeitsplätze in diesem
Bereich. Ich glaube, es sind ungefähr 200 000 Menschen, die im mittelbaren und unmittelbaren Bereich von
Funktechnologie, Handys und anderen Strahlengeräten
tätig sind. Die betreffenden Unternehmen stehen für eine
sehr innovative Branche, kurze Produktzyklen und große
Innovationen, also für etwas, wofür der Standort
Deutschland geradezu ideal sein sollte.
In der Bevölkerung gibt es trotzdem - das ist der
eigentliche Grund unseres Antrags - noch immer viele
Vorbehalte. Viele von uns kennen aus ihrem Wahlkreis,
dass sich eine Bürgerinitiative, wenn ein Funkmast
errichtet werden soll, zu Wort meldet und dass Angst
herrscht, weil die Unwissenheit teilweise noch relativ
groß ist. Wir wollen dieses Problem dadurch lösen, dass
wir die Forschung vorantreiben. Entscheidend ist: Man
kann die Angst minimieren, indem man mehr Öffentlichkeit und Transparenz herstellt sowie die Mobilfunkforschung optimiert.
({0})
Es gibt erste Erkenntnisse und Ergebnisse. Das Deutsche
Mobilfunk-Forschungsprogramm weist sehr gute
Ansätze auf. Vieles wurde untersucht und erreicht, aber
logischerweise noch nicht alles; denn das war im Rahmen dieses Programms nicht möglich.
Meine Damen und Herren von der Linken, ich darf
zwei, drei Bemerkungen zu Ihrem Antrag machen. Es ist
aus meiner Sicht falsch, wie Sie an die Sache herangehen. Sie schüren Ängste und werden der Ernsthaftigkeit
des Themas nicht gerecht. Sie zeichnen sich durch ein
sehr populistisches Vorgehen aus.
({1})
So wollen Sie die Strahlung der Geräte verringern; dafür
gibt es im europäischen Ausland Beispiele. Das bedeutet
aber, dass man mehr Funkmasten braucht. Genau das
wollen Sie vermutlich auch nicht. Wir wollen gleichzeitig
weiterhin telefonieren. Die Mobilfunkanbieter haben den
Auftrag, eine flächendeckende Nutzung zu ermöglichen.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß, wenn Sie vor die Bürgerinitiativen in Ihren Wahlkreisen treten und ihnen erklären,
dass nun zusätzliche Handymasten gebaut werden müssen. Ich glaube, dass Ihr Ansatz nicht richtig ist.
({2})
Ich halte Ihren Ansatz auch aus einem anderen Grund
für nicht richtig. Die Ergebnisse der Reflexstudie, die
Sie anführen, können eigentlich nicht auf den Menschen
übertragen werden. Die Europäische Umweltagentur hat
zudem selbst eingestanden, dass sie eigentlich über
keinerlei Expertise im Bereich der elektromagnetischen
Felder verfügt. Trotzdem verweisen Sie auf die Studie
dieser Umweltagentur. Das halte ich für nicht anständig.
Damit sorgt man nur für mehr Verunsicherung und weniger Transparenz. Damit erreicht man nicht das, was wir
alle wollen, nämlich eine bessere Information aller
Bevölkerungsschichten.
({3})
Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir eine transparente
Forschung und eine paritätische Finanzierung. Das heißt,
wir wollen keine reine staatliche, öffentliche Finanzierung,
sondern drei Säulen. Dann könnten wir die Probleme
einigermaßen lösen. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm hat zu der Erkenntnis geführt, dass akute oder
chronische Wirkungen der nichtionisierenden Strahlung
- also der von Handys und anderen strahlenden Geräten weder unter Laborbedingungen noch in epidemiologischen Studien erfasst werden konnten.
({4})
Das ist eine gute Nachricht. Die Ängste waren in diesem
Bereich also unbegründet. Es konnte kein Zusammenhang festgestellt werden. Das nimmt Ängste.
({5})
Noch ist aber nicht alles untersucht. Es gibt drei Bereiche, die wir in einem weiteren Schritt untersucht wissen
möchten. Das sind die Auswirkungen der Strahlung auf
Schwangere, kleine Kinder und Heranwachsende. Das
alles konnte bislang nicht erforscht werden, genauso wenig
wie die langfristigen Folgen der Strahlung. Diese drei
Bereiche sollten aus unserer Sicht noch weiter untersucht werden. Deswegen haben wir unseren Antrag gestellt. Man sollte auch die Auswirkungen der Addition
von Strahlungen untersuchen. Mittlerweile sind oft verschiedene Strahlungsgeräte gleichzeitig im Einsatz.
Viele haben zu Hause WLAN, ein schnurloses Telefon
und ein Handy. Darüber, wie verschiedene Strahlungsquellen zusammenwirken, gibt es noch zu wenige Informationen. Diese Bereiche sollte man unserer Meinung
nach endgültig und befriedigend untersuchen. Wenn uns
das gelingt, gibt es, glaube ich, weniger Probleme.
Die Struktur sollte verbessert werden. Die Erkenntnisse sind valide. Die Erkenntnisse des Deutschen
Mobilfunk-Forschungsprogramms sind sicherlich aller
Ehren wert. Trotzdem gab es das eine oder andere Mal
Kritik. Man will mehr Objektivität durch einen unabhängigen Projektleiter. Das war bei diesem Forschungsprogramm nicht der Fall. Wenn man beim nächsten Mal
dafür sorgen würde, wäre das der letzte kleine Stein, der
noch fehlt, um eine optimale Information der Bevölkerung zu erreichen.
Wir haben für den Bereich der Erforschung nichtionisierender Strahlung 1,6 Millionen Euro in den Bundeshaushalt für 2009 eingestellt. Was damit aber gemacht
werden soll, steht leider noch nicht fest; wir konnten das
bisher nicht erfahren. Wir glauben, dass man das konkreter angehen sollte. Wir sollten deswegen diese Bereiche
erforschen und das Programm abschließen.
Neben dem Staat sollten auch die Netzbetreiber in die
Finanzierung einbezogen werden - das war bisher schon
der Fall -, aber auch die Handyhersteller, die Hersteller
der Endgeräte - sie wurden bisher noch nicht einbezogen -,
die aus unserer Sicht ein Interesse daran haben sollten,
dass alle Probleme aus der Welt geschafft werden.
Schon 2006 haben wir angeregt, die Geräte, die eine
niedrige Strahlung aufweisen, zu kennzeichnen, beispielsweise mit einem Blauen Engel. Leider ist das von den
Herstellern nicht in einem sinnvollen Umfang angenommen worden, obwohl ein Drittel aller Geräte schon jetzt
über den entsprechenden Standard verfügen würden. Wir
rufen hiermit die Hersteller auf, die Geräte zu kennzeichnen. Wenn man keinen Blauen Engel verwenden
möchte, besteht auch die Möglichkeit, es wie bei den
Kühlschränken zu machen und die Geräte in verschiedene Strahlungsklassen - A, B, C, D und E - einzuteilen.
Wenn uns das gelänge, könnten wir vernünftig über die
Strahlenbelastung reden und würden die Bedenken der
Bevölkerung ernst nehmen, aber sie nicht für populistische
Zwecke ausnutzen.
Ich bitte Sie darum, unserem Antrag positiv zu begegnen und ihm letztendlich zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Meierhofer hat seine Rede mit dem Hinweis begonnen, dass die moderne Informations- und Kommunikationstechnologie in unserer Gesellschaft eine große
Bedeutung hat. Ich möchte daran anknüpfen. Über die
Hälfte der Industrieprodukte und weit über 80 Prozent
der Exportprodukte Deutschlands hängen heute vom
Einsatz dieser Technologie ab. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
unseres Landes. Sie ist Innovationsträger, erzeugt
Wachstum und Arbeitsplätze. Die vom Kollegen
Meierhofer genannte Zahl war nicht ganz richtig: Die gesamte IKT-Branche beschäftigt rund 750 000 Menschen.
({0})
Dieses Segment ist also sehr wichtig. Die Mobilfunktechnologie wird von uns allen genutzt. In Deutschland
gibt es mehr Handys als Bürger. Im Jahr 2006 kamen auf
100 Menschen 104 Handys; es werden praktisch täglich
mehr. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, über dieses
Thema zu diskutieren.
Gleichzeitig nimmt die Strahlenexposition zu. In der
Bevölkerung gibt es Ängste und Sorgen wegen möglicher gesundheitlicher Gefährdungen. Vor diesem Hintergrund beraten wir heute über zwei Anträge aus der
Opposition: über den Antrag der FDP-Fraktion, der uns
gerade vorgestellt wurde, und über den Antrag der
Linksfraktion. Die beiden Anträge könnten gar nicht
unterschiedlicher sein.
Sie von der FDP gehen in Ihrem Antrag von der großen
Bedeutung der Mobilfunktechnologie aus. Sie sagen, die
bestehenden Vorbehalte müssten erforscht werden, um die
Ängste und Risiken auszuräumen; es bestehe weiterer
Forschungsbedarf. Sie fordern eine Langzeitstudie zu
den Auswirkungen auf Kinder usw. Das sind Vorschläge,
über die wir beraten sollten. Ich finde, der Antrag geht
absolut in die richtige Richtung: Er ist sachbezogen,
ergebnisorientiert und objektiv. Vielleicht haben Sie teilweise von uns abgeschrieben.
Allerdings ist Ihr Antrag nicht mehr ganz zeitgemäß; er
enthält Forderungen, die wir im Deutschen MobilfunkForschungsprogramm bereits erarbeitet und umgesetzt
haben bzw. umsetzen werden. Die Ergebnisse sprechen
eindeutig dafür, diese Forschung weiterzuführen.
Sie fordern auch, die Kommunikation zu verbessern.
Hier erinnere ich nur an das Informationszentrum Mobilfunk, das eine sehr gute Informationsbasis bietet, und an
die Internetseite www.mobilfunk-baukasten.de, wo unter
anderem die Kommunen sachlich und verbraucherorientiert informiert werden.
Im Gegensatz zum Antrag der FDP spielt der Antrag
der Linken mit den Sorgen der Menschen. Das ist absolut unredlich. Er basiert auf reinen Behauptungen, die
wissenschaftlich überhaupt nicht fundiert sind und von
der Forschung nicht gedeckt werden. Aber so sind nun
einmal die Anträge, die Sie stellen. Sie basieren auf Unwissenheit. Statt in populistischer Weise diffuse Ängste
vor Mobilfunk, die es in Teilen der Bevölkerung gibt, zu
schüren, sollten wir durch Forschung und Aufklärung zu
einer Versachlichung der Debatte beitragen. Das wäre
der richtige Weg.
({1})
Die Koalition nimmt ihre Verantwortung wahr. Sie tut
viel, um die Folgen der Mobilfunktechnik zu untersuchen und mögliche Gefahren zu erkennen. Das erste
Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm hat die Aufgabe, herauszufinden, ob die geltenden Grenzwerte, die
die Bevölkerung vor der Mobilfunkstrahlung ausreichend schützen sollen, noch in Ordnung sind. Die Bundesregierung hat in den Jahren 2002 bis 2007 8,5 Millionen Euro in dieses Forschungsprogramm gesteckt,
weitere 8,5 Millionen Euro gaben die Mobilfunknetzbetreiber dazu. Es gibt kein Programm, in dessen Rahmen
umfangreicher und gründlicher geforscht wurde als dieses. Das ist eine sehr gute Sache. Ich bin sehr froh, dass
wir dieses Programm erfolgreich zu Ende führen konnten.
({2})
Weltweit gab es mittlerweile über 20 000 Untersuchungen auf diesem Gebiet. Nach Aussagen der Weltgesundheitsorganisation besteht kein begründeter Zusammenhang zwischen Mobilfunkstrahlung und dem
steigenden Risiko einer Erkrankung - das sollten wir den
Menschen auch so deutlich sagen -, und das müssen wir
anerkennen. Die Ergebnisse des Programms sind zuerst
einmal beruhigend. Die Strahlenschutzkommission und
das Bundesamt für Strahlenschutz haben übereinstimmend festgestellt, dass es keine Erkenntnisse gibt, nach
denen die bestehenden Grenzwerte überarbeitet werden
müssen. Es konnten ausdrücklich keine negativen Effekte auf Hormone, auf die Blut-Hirn-Schranke, auf die
Fortpflanzung oder auf das Krebsrisiko festgestellt werden. Das, was Sie gesagt haben, wurde überhaupt nicht
verifiziert, auch nicht repliziert. Demzufolge ist das unbegründet.
Es kann davon ausgegangen werden, dass es im Bereich der thermischen Wirkung kein zusätzliches Langzeitrisiko und kein Krebsrisiko gibt.
6 Prozent der Menschen leiden unter Elektrosensibilität. Es wurde aber in Untersuchungen festgestellt, dass
die Mobilfunkstrahlung darauf keinen Einfluss hat. So
wurden Anlagen zufällig abgeschaltet oder eingeschaltet. Dabei wurde festgestellt, dass die Sensibilität unabhängig davon, ob die Anlagen ein- oder ausgeschaltet
waren, bestand.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Ergebnisse keinen Anlass bieten, die Schutzwirkung der
bestehenden Grenzwerte in Zweifel zu ziehen. Deswegen bleiben die bestehenden Grenzwerte der
26. BImSchV erhalten.
Das Forschungsprogramm hat dazu beigetragen, viele
Ängste auszuräumen, und es hat die wissenschaftliche
Kenntnis über die Wirkung elektromagnetischer Felder
wesentlich verbessert. Trotz dieser insgesamt beruhigenden Ergebnisse muss weitergeforscht werden. Es ist ganz
wichtig, dass die Forschung finanziell ordentlich ausgestattet wird. Das betrifft insbesondere - da gebe ich Ihnen vollkommen recht - die Forschung über die Langzeitwirkung. Wir können jetzt noch nicht sagen, was in
zehn Jahren passiert;
({3})
denn so lange gibt es die Geräte noch nicht. Weiterer
Forschungsbedarf besteht über die Auswirkungen auf
Kinder und Schwangere. All das muss weiter untersucht
werden, aber ohne Hysterie. Es muss auf fundierter
Grundlage ordentlich aufgeklärt werden.
Ich begrüße die Tatsache, dass die Mobilfunkbetreiber zugesagt haben, dass sie dieses Programm weiter
mitfinanzieren und dass die 2001 unterschriebene
Selbstverpflichtung weiter gilt. Es soll jetzt zu nachprüfbaren Verbesserungen auch für Verbraucher-, Gesundheits- und Umweltschutz kommen. Ein besonderes Augenmerk legen die Hersteller auf die Verbesserung der
Geräte. Es ist wichtig, dass die Handys bei geringerem
Stromverbrauch und geringerer Strahlung die gleiche
Leistung erreichen. Das ist eine Win-win-Situation.
Eine erschöpfende Analyse der gesundheitlichen Risiken ist momentan noch nicht möglich. Es steht allerdings jetzt schon jedem frei, selbst Vorsichtsmaßnahmen
zu ergreifen, also auf drahtlose Systeme zu verzichten
und auf kabelgebundene Systeme zurückzugreifen, zum
Beispiel auf Headsets mit Kabeln.
({4})
Dann kann jeder, der unter Elektrosensibilität leidet, für
sich entscheiden, ob er einer Vorsichtsmaßnahme folgt
oder nicht.
({5})
Das Handy ist aus unserer mobilen Informationsgesellschaft nicht mehr wegzudenken. Wir müssen diese
Technologie stetig verbessern und verfeinern. Wir müssen die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen; das machen wir auch. Wir dürfen die Emotionen nicht verharmlosen; das machen wir auch nicht. Wir müssen gezielt
forschen, ohne Aktionismus und ohne böse Beschuldigungen. Wir müssen die Wissensbasis verbreitern und
durch eine transparente und verständliche Kommunikation zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Das
ist der richtige Weg.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Lutz Heilmann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Mit dem Antrag, den die FDP vorgelegt
hat, macht sie wieder eines deutlich: dass sie stramm an
der Seite der Mobilfunkbetreiber und Mobilfunkhersteller steht.
({0})
Irgendwann danach kommen auch einmal die Verbraucherinnen und Verbraucher an die Reihe.
({1})
Kollege Koeppen, Ihre Ausführungen kann ich so
nicht stehen lassen. Erst sagten Sie, es sei alles wunderbar, es sei alles in Butter, es sei alles rosarot. Trotzdem
haben Sie am Ende gesagt: Ja, wir müssen weiterforschen,
({2})
um Langfristigkeit herzustellen. Dann erwähnen Sie
doch ganz einfach, dass das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm über fünf Jahre lief und dass in diesen
fünf Jahren überhaupt keine Langzeitforschung erfolgen
konnte. Deswegen ist es ganz einfach notwendig, dieses
Programm fortzuführen. Genau das haben wir in unseren
Antrag geschrieben.
({3})
Aber diese Fortführung lehnen Sie ab. Darüber haben
wir im Umweltausschuss diskutiert. Schauen Sie sich
das Protokoll ganz einfach an!
({4})
Kollege Meierhofer, zu Ihrem Vorhalt: Ich weiß nicht,
ob Sie unseren Antrag nicht gelesen haben oder ob Ihr
Mitarbeiter Ihnen das nicht richtig aufgeschrieben hat.
Das, was Sie mir vorgehalten haben, steht darin nicht.
Unser Antrag enthält ganz konkrete Punkte. Diese
Punkte will ich Ihnen gleich näher erläutern.
Ihr Antrag enthält kein einziges Wort zu den Risiken
des Mobilfunks. Diese Risiken gibt es; das ist so sicher
wie das Amen in der Kirche. Das hat man auch Ihren Redebeiträgen entnehmen können. Der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz hat das ebenfalls deutlich
gemacht. Er empfiehlt zum Beispiel, dass Kinder nicht
oder nur sehr wenig mit dem Handy telefonieren.
({5})
Ich möchte Sie ganz einfach dazu auffordern, ein bisschen mehr zu recherchieren.
Um es klarzustellen: Die Linke steht für einen technologischen Fortschritt im Interesse der Menschen. Das
schließt eine verantwortungsbewusste Nutzung von Mobilfunk ausdrücklich ein.
({6})
Aber die Forderungen, die Ihr Antrag enthält, sind weit
hinter dem, was möglich ist. Sie schreiben zum Beispiel,
dass es zu einer Reduzierung der Strahlen kommen soll,
wenn man das Handtelefon in die Basisstation steckt. Es
ist möglich, dass die Strahlenbelastung vollständig reduziert wird. Warum schreiben Sie keine entsprechende
Forderung in Ihren Antrag?
({7})
- Ihr Antrag ist von der Wirklichkeit überholt. Das
stimmt allerdings.
Fakt ist, dass der Ausbau des Handynetzes, insbesondere des UMTS-Netzes, voranschreitet, was zweifellos
höhere Belastungen mit elektromagnetischen Feldern
zur Folge hat; das hat auch Kollege Koeppen bestätigt.
Da damit insbesondere gesundheitliche Risiken steigen,
da die geltenden Grenzwerte nicht ausreichend sind, da
gerade die thermischen Effekte der Handystrahlung umstritten sind, da WLAN-Netze immer mehr Verbreitung
finden - schauen Sie in die Schulen, schauen Sie in die
Flughäfen, schauen Sie in die Bahnhöfe -, da für Mobilfunkanlagen nur eine Standortgenehmigung nötig ist und
da Gesichtspunkte des Immissionsschutzes völlig unberücksichtigt bleiben - wie gesagt, ist das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm 2007 ausgelaufen -, ist
nach Auffassung der Linken Folgendes notwendig:
Erstens. Die Grenzwerte müssen so weit gesenkt werden, dass gesundheitliche Auswirkungen ausgeschlossen
werden können. Das ist möglich. Kollege Meierhofer,
Sie haben es erwähnt: Warum lassen sich die Mobilfunk22850
hersteller darauf nicht ein? Die entsprechenden Techniken gibt es schon.
({8})
Insofern ist das unverständlich.
Zweitens. Ein allgemein öffentlich zugängliches
Strahlenkataster muss geschaffen werden.
Drittens. Genehmigungen für Mobilfunkanlagen sind
nur befristet zu erteilen, und der Immissionsschutz ist
darin aufzunehmen.
Viertens. Es ist darauf hinzuwirken, dass schnurlose
Telefone - hören Sie jetzt einfach zu, Kollege
Meierhofer! - so zu bauen sind, dass die Funkverbindung zwischen Basisstation und Mobilteil unterbrochen
wird, sobald das Gerät in der Basis ist.
Fünftens. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm ist auch unabhängig von einer Beteiligung der
Mobilfunkbetreiber fortzusetzen.
Sechstens. Die Untersuchungen hinsichtlich der Gefährlichkeit sind auf Tiere und Pflanzen auszudehnen.
Abschließend Folgendes: Künftig müssen alle Handys gefahrlos zu nutzen sein. Das ist der Anspruch, den
wir an die Industrie stellen. Darunter machen wir es
nicht.
Ich wünsche einen schönen Abend und danke für die
Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Detlef Müller für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Nutzerinnen und Nutzer von
Mobiltelefonen - das werden wir wohl alle sein -, was
kann man heute nicht alles mit modernen Handys, die
längst Lifestyle-Symbole sind, machen? Fotografieren,
Bilder senden und empfangen, Videos anschauen, Nachrichten schreiben und lesen, E-Mails abrufen, Dateien
erstellen und verwalten. Auch als Navigationssystem
werden sie schon genutzt. Die eigentliche Aufgabe, das
Telefonieren, wird dabei fast zur Nebensache.
Es gab von Anfang an in Teilen der Bevölkerung auch
kritische Stimmen, die fragten, ob die Nutzung der Mobilfunktechnologie nicht gesundheitliche Schäden durch
elektromagnetische Felder hervorrufe. Der Bundesregierung, dem Bundesumweltministerium sowie den Netzbetreibern war klar, dass diese Vorbehalte nur dann ausgeräumt werden können, wenn Gesundheitsrisiken durch
unabhängige Forschung ausgeschlossen werden können. Dieser Zwiespalt - eine hohe Zunahme der Nutzerzahlen, aber auch eine wachsende Verunsicherung bei einigen Bürgern, verbunden mit Forderungen nach
Absenkung der Grenzwerte - führte 2001 letztendlich
zur Implementierung des Deutschen Mobilfunk-Forschungsprogramms.
Von Anfang an galten dabei als oberstes Prinzip
Transparenz und Objektivität. Dies ist vor allem an die
Adresse der Fraktion Die Linke gerichtet, die die Unabhängigkeit des Programms infrage gestellt hat. Die Mobilfunknetzbetreiber hatten kein Recht zur Auswahl,
konnten an Projekten nicht mitwirken und sie auch nicht
beeinflussen. Das gilt ebenso für die Bewertung der Forschungsergebnisse. Auch hinsichtlich der Transparenz
war das Mobilfunk-Forschungsprogramm vorbildlich.
Alle Projektvorschläge wurden im Rahmen eines Fachgespräches vorgestellt. Es bestand ausreichend Gelegenheit zur öffentlichen Diskussion.
Was aber waren die Ziele des Mobilfunk-Forschungsprogramms? Was konnte es leisten und was nicht?
Hauptsächlich sollten wissenschaftliche Unsicherheiten
durch eine gezielte unabhängige Forschung geklärt und
die geltenden Grenzwerte überprüft werde. Dabei lagen
die fachlichen Schwerpunkte in den Bereichen Biologie,
Epidemiologie und Dosimetrie, also bei den Messungen
der Strahlendosis.
Nach Abschluss der Forschungsprojekte im Jahre
2008 bewerteten sowohl das Bundesamt für Strahlenschutz als auch die Strahlenschutzkommission das Programm. Beide sind unabhängig voneinander zu dem Ergebnis gekommen, dass die Forschungen keine
Erkenntnisse erbracht haben, die die geltenden Grenzwerte infrage stellen. Ebenfalls war ein ursächlicher Zusammenhang zwischen elektromagnetischer Strahlung
unterhalb der geltenden Grenzwerte und unspezifischen
Gesundheitsbeschwerden, der sogenannten Elektrosensibilität, nicht nachweisbar. Somit decken sich in der Gesamtbewertung die Ergebnisse des Programms mit denen anderer Projekte, auch aus dem Ausland. Deshalb
gab es für die Bundesregierung keinen Grund, von den
geltenden Grenzwerten abzurücken. Ich sage es ganz
klar: Die vorliegenden Ergebnisse des Mobilfunk-Forschungsprogramms geben keinen Anlass, die angestrebte Schutzwirkung der bestehenden Grenzwerte in
Zweifel zu ziehen.
({0})
Vor diesem Hintergrund müssen aber die Anträge gesehen werden, über die wir heute beraten. Beide Anträge
haben große Schnittmengen, und die Antragsteller fordern insbesondere die Weiterführung des MobilfunkForschungsprogramms.
({1})
Grundsätzlich steht die Politik beim Thema Mobilfunk vor einem Dilemma: Die Ergebnisse des Forschungsprogramms beziehen sich auf den aktuellen
wissenschaftlichen Kenntnisstand. Die zukünftige Unschädlichkeit einer Technologie kann wissenschaftlich
nie bewiesen werden. Die Bundesregierung hat sich bei
der Grenzwertfestlegung auf die aktuellen Ergebnisse
gestützt, während die Mobilfunkgegner oder -kritiker
Detlef Müller ({2})
vorhandene gesundheitliche Beschwerden auf elektromagnetische Felder des Mobilfunks zurückführen. Die
Politik steckt deshalb in der Klemme zwischen Wissenschaft und teilweiser öffentlicher Wahrnehmung.
({3})
Natürlich sind wir uns bewusst, dass auch durch intensivste wissenschaftliche Forschung mögliche Risiken
nicht völlig ausgeschlossen werden können. Vorbeugende Maßnahmen sind deshalb weiterhin sehr sinnvoll.
({4})
Fakt ist, dass das Forschungsprogramm primär auf den
Mobilfunk ausgerichtet war, andere Funktechnologien
wie zum Beispiel digitales Fernsehen oder auch die
WLAN-Technologie nur am Rande betrachtet wurden.
Insbesondere die Auswirkungen auf Kinder sind noch
nicht endgültig erforscht. Kinder sind eben keine kleinen
Erwachsenen. In diesem Bereich sind noch dringend
spezifische Untersuchungen erforderlich. Wir als SPDFraktion unterstützen dieses Anliegen.
({5})
Hinzu kommt, dass Kinder möglichen Risiken länger
ausgesetzt sind, weil sie - leider - schon seit ihrer Kindheit Handys benutzen. Auch ist nicht auszuschließen,
dass Kinder möglicherweise auch empfindlicher aufgrund einer vergleichsweise höheren Eindringtiefe der
Strahlung in den Körper reagieren. In diesem Bereich
muss die Forschung intensiviert werden.
Nur unbefriedigend kann die Frage beantwortet werden, ob die Gefahr für gesundheitliche Folgen bei der
Nutzung über Zeiträume von länger als zehn Jahren zunimmt. Durch Untersuchungen konnten bisher gesundheitliche Auswirkungen des Mobilfunks nicht belegt
werden, da die Anzahl der Personen, die Mobiltelefone
seit mehr als zehn Jahren nutzten, zu gering war, um statistisch belastbare Daten zu liefern. Zu Fragen möglicher
Langzeitwirkungen wurden im Rahmen des Forschungsprogramms allerdings zahlreiche tierexperimentelle
Langzeitstudien durchgeführt. Insgesamt stützen diese
Ergebnisse nicht die Vermutung, dass chronische Einwirkungen zu einer Risikoerhöhung führen.
Dagegen können wir durch die Vorlage des Gesetzes
zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung, welches
wir morgen hier in den Deutschen Bundestag einbringen
werden, eine wichtige Rechtslücke schließen. Damit
wird der gesetzliche Rahmen geschaffen, um auch in
Deutschland die Grenzwerte der EU-Ratsempfehlung für
elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder
über den gesamten Frequenzbereich von 0 Hertz bis
300 Gigahertz umsetzen zu können. So wird sichergestellt, dass es durch die gleichzeitige Anwendung unterschiedlicher Quellen nicht zur Verletzung gesundheitsbezogener Grenzwerte kommt.
Aber wir müssen leider feststellen, dass die geltenden
Regelungen noch nicht alle Aspekte des Schutzes der
Bevölkerung vor Strahlen aus diesem Bereich abdecken.
Folgende Punkte bedürfen deshalb unserer Meinung
nach einer Regelung:
Erstens. Es werden derzeit nur die wichtigsten Anlagen der Infrastruktur, die Netze, geregelt.
Zweitens. Unserer Ansicht nach bleiben noch zu viele
Quellen, insbesondere die Endgeräte, unberücksichtigt.
Verbraucherschutzmaßnahmen wie der Blaue Engel werden nicht oder nur unzureichend umgesetzt.
Drittens. Eine relativ neue Technik, Wireless LAN
bzw. WLAN, muss gründlich überprüft werden. Ihre
Reichweite kann unter bestimmten Voraussetzungen
mehrere Hundert Meter betragen. Auch durch diese Technik entstehen hochfrequente elektromagnetische Felder.
Zwar gibt es trotz mehrerer Studien, unter anderen des
Bundesamtes für Strahlenschutz, nach dem aktuellen
Stand der Wissenschaft keinen Nachweis, dass innerhalb
der gesetzlichen Grenzwerte eine gesundheitliche Gefährdung besteht, Forschungsbedarf besteht aber sehr
wohl. Die in der Umgebung von öffentlich zugänglichen
WLAN-Hotspots erhobenen Expositionswerte lagen alle
unterhalb der vom Europäischen Rat empfohlenen Werte.
Trotzdem fordern wir an dieser Stelle die Bundesregierung auf, auch die Forschung in diesem Bereich weiterzubetreiben.
Im Übrigen erachten wir es nicht als negativ, eine finanzielle Beteiligung der Industrie an der Mobilfunkforschung einzufordern. Im Gegenteil, eine Beteiligung
wird aus unserer Sicht als sachgerecht angesehen, da
dies nach dem Verursacherprinzip notwendig ist.
({6})
In diesem Zusammenhang nehmen wir auch zum wiederholten Mal die Herstellerfirmen bzw. Netzbetreiber in
die Pflicht, zukünftig verstärkt strahlungsärmere Endgeräte anzubieten und aktiv zu bewerben.
({7})
Sehr geehrte Damen und Herren, wir nehmen das
Thema Mobilfunkstrahlung ernst und sind uns beim
Thema Mobilfunk unserer Verantwortung für den Schutz
der Bevölkerung sehr bewusst. Wir als SPD-Fraktion begrüßen die grundsätzlichen Ansätze der Anträge der
FDP und der Linken. Auch wir haben weiteren Forschungsbedarf zur Beantwortung der noch offenen Fragen gesehen. Dem wird mit der Fortsetzung des Mobilfunk-Forschungsprogramms Rechnung getragen. Das
BMU und das Bundesamt für Strahlenschutz werden die
Forschung zur weiteren Aufklärung der noch offenen
Fragen fortsetzen. Hierzu wurde ein dreijähriges Forschungsprogramm erstellt. Die Finanzierung soll anteilig
durch Mittel des BMU und der Netzbetreiber erfolgen.
({8})
Insofern ist der FDP-Antrag entbehrlich, weil ein Großteil der Forderungen im Antrag bereits umgesetzt wird.
Mit dem alle zwei Jahre erfolgenden Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag zur Mobil22852
Detlef Müller ({9})
funkforschung werden wir als Parlamentarier über die
neuesten Forschungsergebnisse zeitnah informiert.
Gestatten Sie mir abschließend noch ein paar Worte
zum Antrag der Linken. Wir teilen die dort angeführten
Feststellungen zu diesem Thema nicht. So entstammen
die im Antrag zur Begründung angeführten Behauptungen zu Folgen und Risiken des Mobilfunks wie zum Beispiel gentoxische Effekte, erhöhtes Hirnturmorrisiko
oder auch niedrigere Lebenserwartung in der Nähe von
Mobilfunkbasisstationen einer selektiven Wiedergabe
der wissenschaftlichen Literatur.
Sie geben aber nicht den heutigen wissenschaftlichen
Kenntnisstand wieder. Eine derartige einseitige Wiedergabe des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist allerdings keine fundierte Basis für die Ableitung weitergehender Anträge. Herr Heilmann, es geht nicht darum,
Technologien wie WLAN abzulehnen oder zu verbieten,
sondern es geht darum, sie zu verbessern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben beim Mobilfunk ein Dilemma. Wir haben das
Bedürfnis einer Mehrheit in der Gesellschaft nach mobiler Kommunikation - möglichst überall und zu jeder Zeit -,
und wir haben die Elektrosensibilität einer Minderheit.
Was dieses Dilemma angeht, ist es überhaupt nicht wichtig, ob die Elektrosensibilität nachgewiesen werden
kann. Entscheidend ist, ob die Betroffenen sie empfinden.
Forschung ist wichtig; auch wir wollen sie. Das Problemfeld Kinder und Jugendliche einerseits und Langzeitwirkungen andererseits ist von allen benannt worden.
Aber, Herr Meierhofer, die Forschungen helfen Elektrosensiblen nicht, solange die Schädlichkeit nicht nachgewiesen ist. Dass auch die Unschädlichkeit bisher nicht
beweisbar ist, befreit die Menschen nicht von den Beeinträchtigungen, die sie spüren.
({0})
Diese Menschen sind aber zu wenige, und sie haben
keine Lobby. Unsere Antwort ist daher vor allem Mitsprache. Die freiwillige Selbstverpflichtung der Mobilfunkbetreiber hat nicht das gebracht, was sie sollte. Vor
allem in kleinen Kommunen funktioniert die Einbindung
der Bürgerinnen und Bürger nur suboptimal. Das Baurecht erlaubt nur in reinen Wohngebieten, Sendemasten
zu verhindern. Die öffentliche Standortdatenbank war
ein erster guter Schritt. Jetzt braucht es zentrale Anlaufstellen für Bürger und Bürgerinnen. Solche Stellen müssen die Anwohner von sich aus über geplante Anlagen
informieren und runde Tische organisieren. Einzelne
Kommunen gehen da schon mit gutem Beispiel voran.
Aber das muss eine Verpflichtung werden. Nur mit garantierter Bürgerbeteiligung können wir das Gefühl von
Ohnmacht bei den Betroffenen verringern.
Besonders sensible Bereiche wie Kindergärten oder
Krankenhäuser brauchen besonders sensible Maßnahmen. Da sind die Vorschläge der Linken nicht verkehrt,
wie auch noch andere ihrer Vorschläge. Ich habe aber ein
Problem zum Beispiel mit Ihrer Haltung zu der Frage,
wer die weitere Forschung bezahlen soll. Was nicht geht,
ist, die Mobilfunkbetreiber außen vor zu lassen. Auch an
dieser Stelle gilt für mich das Vorsorgeprinzip.
Sie unterstellen, dass Mobilfunkunternehmen über die
Kostenbeteiligung Einfluss auf die Gestaltung der Studien und Abschlussberichte nehmen können. Bei der Interpretation der Ergebnisse des großen Deutschen
Mobilfunk-Forschungsprogramms haben sie das wohl
probiert. Aber daraus zu schließen, dass das Ganze eine
Art Gefälligkeitsforschung war, schüttet das Kind mit
dem Bade aus. Wo soll das enden, wenn schon die Linke
die Industrie aus der Finanzierung der Beseitigung von
Folgekosten entlasten will?
Ihr Antrag, Kollege Meierhofer, ist erstaunlich technikkritisch. Das ist an dieser Stelle richtig.
({1})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage! Dann können wir uns
unterhalten. - Es ist überfällig, dass wir Technologien
vor ihrer Einführung auf ihre Folgewirkungen hin erforschen und nicht erst dann, wenn sie bereits so stark in
Wirtschaft und Gesellschaft verankert sind, dass wir sie
nicht mehr zurücknehmen können.
({2})
Es freut mich, Herr Koeppen, dass auch Sie das so sehen.
Das gilt übrigens nicht nur für Funktechnologien,
sondern auch für die Nanotechnologie, für CCS und
viele andere Technologien,
({3})
bei denen die Begeisterung für die Chancen die Risiken
gern übersehen lässt. Das gilt gerade für Ihre Partei, Kollege Meierhofer.
Es ist auch überfällig, dass wir aufhören, jeden einzelnen Emittenten isoliert zu betrachten und die kumulative
Wirkung zu ignorieren. Grundsätzlich ist Kennzeichnung, also auch die Kennzeichnung der Strahlungsintensität beim Handy, der erste Schritt zum mündigen Bürger. Es ist unverständlich, dass die Große Koalition
unseren Antrag vor zwei Jahren abgelehnt hat. Machen
wir also einen neuen Versuch!
({4})
Auch beim Antrag der FDP stoße ich mich neben dem
Duktus so richtig nur an einer Stelle, nämlich an der Lebensretterfunktion des Handys beim Kind. Solange wir
nicht wissen, ob die Nutzung von Handys aufgrund ihrer
Strahlung bei Kindern zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann - da gibt es noch keine ForschungsSylvia Kotting-Uhl
ergebnisse -, sind Handys in Kinderhänden für mich am
falschen Platz.
({5})
Die beiden Anträge sind in ihren Forderungen nicht
so gegensätzlich, wie Sie, Herr Koeppen, sagen. Beide
wollen Forschung, beide wollen Kennzeichnung. Ob die
einen die Forschung wollen, weil sie aufklären wollen
oder weil sie davon überzeugt sind, dass diese Forschung die gesundheitliche Schädigung nachweist, oder
ob die anderen die Forschung wollen, weil sie davon
überzeugt sind, dass durch sie die Unschädlichkeit nachgewiesen wird, ist mir relativ egal. Die Hauptsache ist,
dass wir alle Forschung fordern und die Bundesregierung bewegen, sie in die Wege zu leiten.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10325 und 16/9485 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian
Freiherr von Stetten, Dr. Hans-Peter Friedrich
({0}), Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Michael Bürsch, Ute
Berg, Klaas Hübner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Faire Wettbewerbsbedingungen für Öffentlich
Private Partnerschaften schaffen
- Drucksache 16/12283 -
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr.
Ole Schröder und Christian Freiherr von Stetten für die
Unionsfraktion, Dr. Michael Bürsch für die SPD-Frak-
tion, Ulrike Flach für die FDP-Fraktion, Ulla Lötzer für
die Fraktion Die Linke und Alexander Bonde für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
16/12283. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge-
gen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
1) Anlage 3
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Pakistan und Afghanistan stabilisieren - Für
eine zentralasiatische regionale Sicherheitskonferenz
- Drucksachen 16/10845, 16/11249 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Johannes Pflug
Harald Leibrecht
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck ({2})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kollegen: Holger Haibach für
die Unionsfraktion, Detlef Dzembritzki für die SPD-
Fraktion, Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion,
Dr. Norman Paech für die Fraktion Die Linke, Omid
Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Pakistan und Afghanistan stabilisieren Für eine zentralasiatische regionale Sicherheitskonferenz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11249, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/10845 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Anhebung der Höchstgrenze des Tagessatzes bei
Geldstrafen
- Drucksache 16/11606 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 16/12143 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({4})
Joachim Stünker
Wolfgang Nešković
2) Anlage 4
Vizepräsidentin Petra Pau
Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-
den zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu ge-
ben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt
sich um die Reden folgender Kollegen: Siegfried Kauder
für die Unionsfraktion, Dr. Peter Danckert für die SPD-
Fraktion, Jörg van Essen für die FDP-Fraktion, Ulrich
Maurer für die Fraktion Die Linke, Jerzy Montag für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Parlamentari-
sche Staatssekretär Alfred Hartenbach für die Bundesre-
gierung.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Druck-sache 16/12143 den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 16/11606 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Josef Philip Winkler, Volker Beck ({5}), Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten
- Drucksachen 16/9142, 16/11384 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,
Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungshaft, ihrer rechtlichen Grundlagen und
der Inhaftierungspraxis in Deutschland
- Drucksachen 16/3537, 16/12020 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({7})
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
1) Anlage 5
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Josef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Die deutsche Praxis der Verhängung von
Abschiebehaft und des Vollzuges ist im Sinne einer an
den Menschenrechten orientierten Flüchtlingspolitik
nicht länger hinnehmbar.
Bei den Betroffenen handelt es sich nicht um Menschen, die sich eine Straftat haben zuschulden kommen
lassen, sondern um Personen, die in Deutschland Schutz
gesucht haben. Die Inhaftierung von Menschen zum
Zwecke der Sicherung einer reinen Verwaltungshandlung widerspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Nur zur Erklärung: Abschiebehäftlinge können bis
zu 18 Monate inhaftiert werden, ohne einer Straftat
schuldig gesprochen worden zu sein oder überhaupt einer verdächtig zu sein. Ein Abschiebehäftling hat nach
Anordnung der Haft kaum Möglichkeiten, gegen die
Haft juristisch vorzugehen. Ein Haftprüfungstermin, wie
er bei Untersuchungshäftlingen Anwendung findet, ist
für Abschiebehäftlinge ebenso wenig vorgesehen wie
ein Pflichtverteidiger.
Demzufolge wäre eigentlich davon auszugehen, dass
Abschiebehaft nur im Ausnahmefall angeordnet wird
und bei der Anordnung durch das Amtsgericht eine sehr
sorgfältige Prüfung stattfindet, ob die Haft wirklich notwendig ist.
({0})
Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Im Zehn-MinutenTakt werden die Abschiebehaftbeschlüsse verfasst, und
die gesetzlich vorgesehene Anhörung findet de facto
nicht statt. Den Angaben in den Anträgen der Ausländerbehörden auf Anordnung der Abschiebehaft wird allzu
oft ungeprüft Glauben geschenkt.
Die belastenden Haftbedingungen sollen auf die
Flüchtlinge abschreckend wirken und darauf hinwirken,
dass sie Deutschland vorzeitig und „freiwillig“ verlassen. Auch nach Einschätzung vieler Flüchtlingsinitiativen, die in den Gefängnissen Besuchsdienste leisten, haben Abschiebegefängnisse gleichsam den Charakter
einer Beugehaft. Das kann nicht länger so bleiben.
({1})
All dies wird in der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage meiner Fraktion zur Situation in den
deutschen Abschiebehaftanstalten deutlich. Besonders
erschütternd war für uns, dass es in den Jahren zwischen
2005 und 2007 mindestens zwei Selbstmorde und
39 Selbstmordversuche gab, wobei nicht alle Bundesländer der Bundesregierung Auskunft über die Zahlen in ihJosef Philip Winkler
rem Land gegeben haben. Dies ist für einen Rechtsstaat
wirklich unerträglich
({2})
und zeigt, dass die Situation nicht länger so bleiben
kann, wie sie derzeit ist.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich unfassbare
menschliche Dramen. Ich habe die Zahlen der Selbstmorde und der Selbstmordversuche in den Mittelpunkt
gestellt. Es gibt aber noch eine Vielzahl anderer Gruppen, die man erwähnen könnte: Schwangere Frauen waren zum Teil mehr als 100 Tage in Abschiebehaft, zum
Teil sogar noch am Tag der Entbindung. Auch Minderjährige befinden sich in den Abschiebehaftanstalten.
Darüber haben wir im Innenausschuss ausführlich debattiert. All das kann ich hier jetzt nicht noch einmal ausführlich darstellen.
Diese Zahlen können uns als Bundestag nicht beruhigen. Ganz im Gegenteil: Der Bundesinnenminister wäre
gefordert - Herr Staatssekretär, Sie können es ihm ja
ausrichten -, endlich seiner Verantwortung gerecht zu
werden. Das Problem von Suiziden und Suizidversuchen
und die Ursachen dieser Misere müssen endlich ernst genommen werden, statt wie bisher im wahrsten Sinne des
Wortes totgeschwiegen zu werden. Zwar ist der Vollzug
der Abschiebehaft Ländersache; die gesetzliche Grundlage ist aber in § 62 des Aufenthaltsgesetzes, einem Bundesgesetz, geregelt. Zusammen mit den Bundesländern
wäre der Innenminister hier gefordert, zum Beispiel auf
Grundlage der Daten dieser Großen Anfrage über Reformen und humanitäre Verbesserungen zu beraten. Ein
Anlass hierzu könnten die Beratungen über die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz sein.
Unserer Auffassung nach sollte § 62 des Aufenthaltsgesetzes so modifiziert werden, dass dieser schwerwiegende Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen auf
absolute Ausnahmefälle beschränkt wird. Im Übrigen
bewegen wir uns da auf der Linie des Bundesverfassungsgerichtes, das am 15. Dezember 2000 in einer Entscheidung klar gesagt hat, dass die bisher übliche Haftdauer bis zu einem Maximum von 18 Monaten nicht
verhältnismäßig ist. Änderungen sind hier also überfällig.
({3})
Wir fordern, dass im Rahmen der jetzt anstehenden
Beratungen zu den Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz Konkretisierungen und verbindliche Regelungen insbesondere für Minderjährige und Traumatisierte vorgelegt werden. Leider Gottes ist ein Befund des
Vorsitzenden Richters am Verwaltungsgerichtshof Hessen, Herrn Göbel-Zimmermann, aus dem Jahre 1996 immer noch aktuell - ich zitiere und komme dann zum
Ende -:
Abschiebungshaft wird teilweise zu schnell und zu
oft beantragt und angeordnet sowie zu lange vollzogen. Das Abschiebungshaftverfahren ist häufig mit
gerichtsorganisatorischen Mängeln, Verfahrensfehlern und Fehleinschätzungen der Rechtslage belastet, so dass es zu einer nicht unerheblichen Zahl
fehlerhafter Entscheidungen kommt.
Dies darf nicht länger so bleiben.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Es mutet an wie in
dem Spielfilm Und täglich grüßt das Murmeltier. In steter Regelmäßigkeit müssen wir uns hier im Deutschen
Bundestag auf Betreiben der Oppositionsfraktionen mit
den Themen Abschiebung und Abschiebungshaft beschäftigen.
({0})
Meine sehr verehrten Kollegen von der Opposition,
der Mehrwert und der Neuigkeitswert dieser Debatten
sind leider Gottes außerordentlich gering.
Eines bleibt klar festzuhalten: Abschiebungen und
Abschiebungshaft sind notwendige Mittel zur Durchsetzung rechtmäßiger Ausweisungen. Ich möchte außerdem
zu Beginn klarstellen: Das deutsche Recht wird dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in vollem Umfang
gerecht, indem Abschiebungen Ultima Ratio, das allerletzte Mittel einer notwendigen Rückführung sind.
({1})
Ich darf auch darauf hinweisen: Es handelt sich bei dem
Kreis der Betroffenen um Personen, die keinen Aufenthaltstitel in Deutschland haben und Deutschland eigentlich verlassen müssten, aber aus diversen Gründen - teilweise humanitären, teilweise tatsächlichen Gründen Deutschland bislang nicht verlassen konnten und nicht
verlassen haben.
({2})
Die §§ 58 ff. des Aufenthaltsgesetzes genügen in vollem Umfang den rechtsstaatlichen und meiner Meinung
nach auch den humanitären Anforderungen. Dies ist
mehrmals, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der Opposition, durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und viele
Urteile bestätigt worden.
Es gibt einen klaren Grundsatz, der besagt, dass die
Abschiebung das letzte Mittel der notwendigen Rück22856
Stephan Mayer ({3})
führung ist. Es gibt im Vorfeld mildere Mittel, die weitaus häufiger angewandt werden.
({4})
Die freiwillige Ausreise hat den absoluten Vorrang. Der
überwiegende Teil der Personen, die nun einmal keinen
Aufenthaltstitel für Deutschland haben und Deutschland
verlassen müssen, verlässt Deutschland freiwillig. Wenn
eine Abschiebung notwendig wird, muss sie im Vorfeld
erst einmal angedroht werden. Für den Fall, dass sie tatsächlich erforderlich ist, bedarf es einer richterlichen
Anordnung der Abschiebung. Eine Abschiebung bedarf
also der Anordnung durch ein unabhängiges gerichtliches Organ.
Des Weiteren gibt es diverse Möglichkeiten, die dazu
beitragen, dass auf das Mittel der Abschiebung verzichtet wird. Wenn der Betroffene, also die Person, die ausreisepflichtig ist, glaubhaft macht, dass er Deutschland
entweder freiwillig verlassen oder sich der Abschiebung
beugen wird, dann bedarf es nicht der Anordnung der
Abschiebungshaft. Das europäische Recht ist mit dem
deutschen Recht schon in vollem Umfang in Einklang
gebracht worden.
({5})
Der Rat der Europäischen Union hat die sogenannte
Rückführungsrichtlinie am 16. Dezember letzten Jahres
verabschiedet, und am 13. Januar dieses Jahres ist sie in
Kraft getreten.
({6})
Viele andere Länder in der Europäischen Union haben
im Hinblick auf die EU-Rückführungsrichtlinie weitaus
größeren Nachbesserungsbedarf als Deutschland.
({7})
In Art. 15 der Rückführungsrichtlinie sind Abschiebung und Abschiebungshaft als letztes Mittel, als Ultima
Ratio, vorgesehen. Wie im bisher geltenden deutschen
Aufenthaltsgesetz wird auch hier der freiwilligen Ausreise Vorrang eingeräumt. Im Rahmen von Art. 7 der
EU-Rückführungsrichtlinie gibt es diverse Möglichkeiten, unter bestimmten Auflagen auf die Anordnung einer
Abschiebung zu verzichten.
Herr Kollege Mayer, würden Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Dağdelen zulassen?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Bitte schön.
Lieben Dank, Herr Kollege. - Ich werde gleich noch
eine Rede halten. Wenn ich meine Frage aber nicht jetzt
an geeigneter Stelle stellen dürfte, wäre das später völlig
aus dem Zusammenhang gerissen.
({0})
Sie haben gesagt, die Rückführungsrichtlinie sei
schon in nationales Recht umgesetzt worden. Dazu habe
ich eine Frage. Nach Art. 16 der Rückführungsrichtlinie
ist es nicht zulässig, Menschen, die zur Ausreise verpflichtet worden sind, in Straf- bzw. Haftanstalten unterzubringen; in 14 der 16 Bundesländer ist dies aber noch
Usus. Außerdem sind nach der beschlossenen Rückführungsrichtlinie keine Inhaftierungen allein aufgrund einer illegalen Einreise mehr erlaubt. Ich frage Sie, ob Sie
zur Kenntnis nehmen, dass diese zwei Regelungen der
Rückführungsrichtlinie noch nicht in nationales Recht
umgesetzt worden sind, und ob die Bundesregierung gedenkt, auch diese Regelungen in nationales Recht umzusetzen.
Sehr verehrte Frau Kollegin Dağdelen, ich kann nur
für meine Fraktion und für mich, aber nicht für die Bundesregierung sprechen. Ich gehe natürlich davon aus,
dass die Bundesregierung, insbesondere wenn die CDU/
CSU an ihr beteiligt ist, der Vorgabe der EU-Rückführungsrichtlinie in vollem Umfang Genüge tun wird,
(Rüdiger Veit [({0})
sodass die EU-Rückführungsrichtlinie bis zum 24. Dezember 2010 im Wortlaut umgesetzt wird.
Nun zum ersten Teil Ihrer Frage, Frau Kollegin. Ich
habe die Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der Fraktion der Grünen sehr intensiv gelesen.
Sie haben sich gerade auf Frage 3 der Großen Anfrage
bezogen, die, wenn ich das so sagen darf, sehr perfide
gestellt ist; darauf möchte ich gerne eingehen.
({1})
- Ja, oder schlau. - Leider kenne ich den genauen Wortlaut nicht auswendig. Sinngemäß lautet die Frage: In
welchen Bundesländern werden Abzuschiebende auch in
Justizvollzugsanstalten untergebracht? - Natürlich werden Abzuschiebende in den Bundesländern, in denen
dies der Fall ist, nicht ausschließlich in JVAs untergebracht. Das ist also eine Fragestellung, der man sehr genau auf den Grund gehen muss. Meines Wissens werden
die Abzuschiebenden in fast allen Bundesländern fast
Stephan Mayer ({2})
ausschließlich in gesonderten Haftanstalten untergebracht, sodass dem Art. 16 der EU-Rückführungsrichtlinie schon Genüge getan wird.
({3})
Diese Fragestellung sollte man erst einmal genau hinterfragen. Die Antwort auf diese Frage ist in Anbetracht der
Fragestellung natürlich relativ.
({4})
Frau Kollegin, auch Sie sollten sich diese Fragestellung
noch einmal genau zu Gemüte führen.
({5})
Ich fasse zusammen: Art. 16 der EU-Rückführungsrichtlinie ist umzusetzen. Es ist davon auszugehen, dass dies
geschieht.
Ich möchte betonen, dass diejenigen, für die Abschiebungshaft angeordnet wurde, in allen 16 Bundesländern
in den meisten Fällen bereits heute in gesonderten und
speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden. Das
ist auch vollkommen richtig, Frau Kollegin, weil ein Abzuschiebender in den allermeisten Fällen nichts mit einem Straftäter oder einem Straffälligen zu tun hat. Deswegen ist es auch richtig, dass es zwei verschiedene
Haftanstalten gibt, zum einen für Straftäter und zum anderen für Abzuschiebende.
Frau Kollegin, lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit
auf Ihren Antrag zu sprechen kommen. Sie haben die
weitestgehende Forderung gestellt, nämlich dass die Abschiebehaft komplett abzuschaffen ist. Dies ist in vollem
Umfang weltfremd und unrealistisch.
({6})
Es gibt Fälle, in denen es einer zwangsweisen Abschiebung und auch der Anordnung einer Abschiebehaft bedarf.
({7})
- Herr Kollege Winkler, natürlich handelt es sich bei den
Abzuschiebenden nicht immer um Straftäter. Es gibt
aber durchaus Fälle, bei denen es sich um Straftäter handelt. Ich möchte nur an die brutalen und menschenverachtenden Schläger in der Münchener U-Bahn erinnern,
die kurz vor Weihnachten 2007 einen über 70-jährigen
Rentner fast totgeschlagen haben.
({8})
Leider sind die rechtsstaatlichen Grundsätze immer noch
zu hoch - das sage ich ganz offen -,
({9})
um solche Personen im Zweifel abschieben zu können.
({10})
In Einzelfällen besteht aber natürlich die Notwendigkeit,
ausländische Straftäter abzuschieben.
Des Weiteren ist Ihre Forderung, die Verwaltungsgerichte in vollem Umfang als zuständige Gerichte für die
Anordnung der Abschiebehaft einzusetzen, ebenso weltfremd und unrealistisch.
({11})
Dies wäre ein logischer Bruch in unserem Prozessrechtssystem. Haft wird nun einmal von ordentlichen Gerichten angeordnet. So muss es auch bei der Abschiebehaft
sein. Das bis dahin stattfindende Verfahren wird von den
Verwaltungsgerichten in ordnungsgemäßer Weise durchgeführt. Dies gilt für die Rückweisung und auch für die
Anordnung der Abschiebung. Die Anordnung der Abschiebehaft muss aber selbstverständlich von den ordentlichen Gerichten angeordnet werden, und daran sollte
sich auch nichts ändern.
Ebenso vollkommen überzogen ist Ihre Forderung,
für abzuschiebende Personen generell eine Pflichtverteidigung und eine kostenlose anwaltliche Vertretung
bereitzustellen. Dies entspricht in keiner Weise dem
deutschen Prozessrecht. Wenn die entsprechenden persönlichen Verhältnisse der Person nicht zulassen, dass
sie sich selbst vertreten kann, und sie auch nicht die nötigen finanziellen Mittel für einen Rechtsbeistand aufbringen kann,
({12})
sieht es das deutsche Prozessrecht in bestimmten berechtigten Fällen vor, dass dann die Möglichkeit der Anordnung eines Pflichtverteidigers unter Prozesskostenhilfe
besteht. Dies gilt aber nur für diese Ausnahmefälle. Eine
Ausnahme ist meines Erachtens richtigerweise, dass
Minderjährigen selbstverständlich ein Pflichtverteidiger
beigeordnet wird.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die
Große Koalition hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren in Sachen Reduzierung der sich illegal in Deutschland aufhaltenden Personen durchaus bemerkenswerte
Fortschritte gemacht. Wir haben eine Bleiberechtsregelung geschaffen, eine Altfallregelung in § 104 a des Aufenthaltsgesetzes, die wirklich wegweisend ist. Auch die
Innenministerkonferenz hat eine Bleiberechtsregelung
geschaffen, von der durchaus und in nicht zu unterschätzender Art und Weise Gebrauch gemacht wird.
({13})
Am Ende des Tages müssen wir aber einfach zur Kenntnis nehmen, dass es in Deutschland Personen gibt, die
keinen Aufenthaltstitel haben. Diese Personen müssen
Deutschland dementsprechend verlassen. Wenn sie das
Stephan Mayer ({14})
nicht freiwillig tun, dann muss dies eben mit den Mitteln
der Abschiebung und der Abschiebehaft geschehen.
Wie schon eingangs erwähnt, beschäftigen wir uns in
steter Regelmäßigkeit mit solchen Anträgen, die keinen
Neuigkeitswert zutage fördern. Deswegen kann ich uns
nur empfehlen, die interessanten Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen-Fraktion
zur Kenntnis zu nehmen und den vollkommen weltfremden, überzogenen und unrealistischen Antrag der Linksfraktion abzulehnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartfrid Wolff von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Umgang mit sich illegal in Deutschland aufhaltenden Menschen betrifft durchaus das Selbstverständnis einer freiheitlichen Gesellschaft und die grundsätzlichen Fragen
der Durchsetzung unserer rechtsstaatlichen Ordnung.
Die Abschiebehaft ist ein Instrument des Ausländerrechts, mit dem man sich auf eine seriöse Art und Weise
beschäftigen sollte, gerade dann, wenn man die humanitären Themen angehen möchte.
Der Antrag der Linken kommt mit humanitärer Absicht daher, verschweigt aber konsequent seine Folgen
für die deutsche Zuwanderungspolitik. In entlarvender
Weise fordern die Linken die Aufgabe der staatlichen
Durchsetzungsmöglichkeiten und quasi die Einstellung
jeglicher Abschiebung aus Deutschland. So einfach kann
man sich das nicht machen.
Auch die Forderungen nach weiteren kostenlosen
Leistungen sind unverhältnismäßig. Die Privilegierung
illegal oder zumindest ohne Rechtsgrundlage Eingewanderter gegenüber legal eingewanderten Menschen und
auch jedem deutschen Staatsbürger gegenüber ist fragwürdig.
Zu Ende gedacht ruft die Linkspartei unter dem Vorwand der Menschenrechte zu einer weitgehenden Abschaffung jeglicher Migrationssteuerungsinstrumente
auf. Gleichzeitig aber schimpft sie über Integrationsmängel, Schwarzarbeit sowie die Spannungen auf dem
Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen.
Das ist unlogisch und unredlich.
({0})
Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei den Vertretern der Linken eine naive Freude an unkontrollierter
und unsteuerbarer Zuwanderung besteht.
({1})
Generell aus dem deutschen Zuwanderungsrecht einen
Verstoß gegen die Menschenrechte abzuleiten, ist infam.
Bei jeder Abschiebung liegt ein Verstoß gegen geltendes
demokratisches Aufenthalts- oder Zuwanderungsrecht
vor.
Bei aller Kritik, die in manchem Einzelfall angebracht
sein mag: Die pauschale Herabsetzung rechtsstaatlichen
Handelns, die die Linke hier vornimmt, ist unanständig.
({2})
Mit diesen überzogenen Forderungen der Linken wird
dem an sich berechtigten Anliegen, eine verhältnismäßige und humanitäre Abschiebepraxis zu gewährleisten,
ein Bärendienst erwiesen.
({3})
Es gilt auch aus liberaler Sicht,
({4})
dass mit dem Instrument der Abschiebehaft sehr zurückhaltend und sehr behutsam umgegangen werden muss.
Es gibt eine ganze Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten, die umgesetzt werden müssen. Auch in diesem Bereich sehen wir durchaus Handlungsbedarf. Grundsätzlich halten wir die Abschiebehaft jedoch für notwendig.
Insofern haben wir die detaillierte Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen positiv
gesehen. Außerdem ist es grundsätzlich sehr gut, dass
die Grünen diese Große Anfrage gestellt haben
({5})
und wir damit eine Grundlage bekommen, um uns sachlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich muss
allerdings auch sagen: Einige Teilaspekte sind angesprochen worden; der Gesamtzusammenhang fehlt jedoch
leider.
Herr Kollege Wolff, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Winkler?
Nein, jetzt nicht.
({0})
Dabei hatten die Grünen bereits im Jahr 1998, lieber
Josef, im Koalitionsvertrag unterschrieben, die Praxis
der Abschiebehaft - ich zitiere - „im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ zu prüfen.
({1})
Hartfrid Wolff ({2})
Sie hatten sieben Jahre lang Zeit, liebe Kollegen von den
Grünen, das zu tun, was Sie für besser gehalten haben.
Was ist daraus geworden? Der Kollege Veit wird jetzt
überlegen, ob er derjenige war, der verhindert hat, dass
Ihre großen, hehren Ziele umgesetzt wurden.
({3})
Jedenfalls hatten Sie die Möglichkeit, sie umzusetzen.
Die FDP stimmt den drei essenziellen Aspekten zu,
die auch die EU-Kommission beschlossen hat. Demnach
müssen das Primat der freiwilligen Rückkehr gestärkt,
verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesichert - aus
meiner Sicht auch ausgebaut - und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Gerade dann, wenn wir auf europäischer Ebene weiterkommen wollen, kann die Rückführungsrichtlinie, so notwendig sie auch war, nur ein
Anfang sein.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag
der Linken zeigt zwar Probleme auf - der eine oder andere Satz zeigt auch das Niveau -; die Antragsteller bieten als scheinbare Lösung jedoch nur eine weitgehende
Erschwerung von oder einen Verzicht auf Abschiebungen. Damit ist niemandem gedient, insbesondere den
Menschen nicht, die legal und unter Beachtung der Gesetze der Bundesrepublik Deutschland hierher eingewandert sind und sich rechtmäßig im Lande aufhalten.
Eine individuelle Bewertung ist notwendig. Institutionalisierte, ritualisierte oder automatische Nachsicht mit
denen, die sich nicht an unsere Rechtsordnung halten,
kann das Ansehen aller Zuwanderer beeinträchtigen und
die Rechtstreue im Alltag aushöhlen. Zuwanderung ist
aber etwas, was wir brauchen. Deshalb sollten wir sehr
vorsichtig mit den verschiedenen Vorgaben umgehen.
Auch deswegen bleibt die Abschiebehaft ein letztes,
aber legitimes Mittel, den Abschiebevollzug sicherzustellen, wenn es darum geht, eine Rechtsordnung zu verteidigen, die demokratisch entstanden ist.
({4})
Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Nicht selten liegen Wahrheit und Realität in der Mitte - auch bei einigen Beiträgen, die hier
und heute schon gehalten worden sind. Ich will mich bemühen, möglichst angemessen und nicht emotional auf
die Problematik einzugehen.
Wir können den Antrag der Linksfraktion nicht unterstützen, weil er zum einen aufgrund der Rückführungsrichtlinie, die aktualisiert wurde, völlig veraltet und in
keiner Hinsicht mehr aktuell ist
({0})
und weil er zum anderen eine Reihe von Behauptungen
und Forderungen enthält, die in der Tat als nicht praktikabel angesehen werden können. Insoweit stimme ich
der Begründung des Kollegen Wolff in einigen Details
- aber wirklich nicht in jeder Hinsicht - zu.
Lieber Kollege Winkler, ich möchte mich aber auch
an Sie wenden und sagen: Als jemand, der an diesem
Geschehen einmal aktiv und verantwortlich beteiligt
war, verwahre ich mich dagegen, dass Abschiebung und
Abschiebungshaft in Deutschland generell so verhängt,
vollzogen und praktiziert würden, dass dies mit menschenrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei.
({1})
Diese pauschale Schelte für alle daran beteiligten Verwaltungsbehörden oder auch Gerichte kann ich so nicht
stehen lassen.
({2})
Da ich die Pflicht hatte, zwölf Jahre lang politisch
hauptverantwortlich einer Ausländerbehörde und darüber hinaus weitere sechs Jahre lang einer zentralen Abschiebebehörde vorzustehen, könnte ich Ihnen durchaus
einiges aus der Praxis erzählen - übrigens auch von den
manchmal extremen emotionalen Belastungen, denen
die Mitarbeiter ausgesetzt sind, die unsere Rechtsordnung vollziehen müssen. Das betrifft nicht nur die politisch Hauptverantwortlichen, sondern auch einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und natürlich die davon
betroffenen Menschen.
Um das ganz klar zu sagen: Dass als Ultima Ratio
Abschiebung als solche und Abschiebehaft von irgendjemandem in unserem Staatswesen - Verwaltungsbeamten, Gerichten oder sonstigen Beteiligten - mit großer
Freude und Überzeugung vollzogen würden, kann man
nun weiß Gott nicht sagen. Das ist für alle Beteiligten in
der Regel eine quälende Belastung. Es ist aber im Ausnahmefall notwendig, dass die Rechtsordnung durchgesetzt wird.
({3})
- Vielleicht von „zu häufig“. Aber auch das „häufig“
lasse ich nicht gelten.
Der Kollege Wolff hat die Koalitionsvereinbarung
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 1998
übrigens nicht ganz vollständig zitiert. Darin hieß es
nämlich, dass sowohl die Abschiebehaft als auch das
Flughafenverfahren im Lichte der Verhältnismäßigkeit
zu überprüfen seien. Lieber Kollege Winkler und alle,
die damals schon daran beteiligt waren - wenn ich es
richtig sehe, dann war das auf der Seite der Grünen nur
der Kollege Hans-Christian Ströbele -, wir hätten gegenüber unserer eigenen Regierung unter Umständen ein
bisschen erfolgreicher sein können. Ich will das einmal
so freundlich umschreiben.
({4})
Hinsichtlich der Flughafenverfahren gab es ja immerhin Erfolge. Nachdem die neue Unterkunft fertiggestellt
worden war - ich habe das hier schon mehrfach gesagt -,
waren die Bedingungen sowohl für die Betroffenen als
auch für die Mitarbeiter wesentlich besser und die Zahl
der Beschwerden über diesen ganzen Komplex und die
erheblichen Belastungen wesentlich geringer. Trotzdem
sollten wir nicht aufhören, auch darauf zu achten. Ich
komme noch einmal darauf zurück.
Wir haben damals erreicht - jedenfalls in den Jahren
1999, 2000 und 2001 -, dass zumindest die unbegleiteten Minderjährigen - und hierbei vor allem die Kinder entweder nur ganz kurz oder überhaupt nicht in der Flughafenunterkunft untergebracht worden sind. Mir sind
von meinen Mitarbeitern Zahlen vorgelegt worden, aus
denen hervorgeht, dass sich diese Tendenz leider wieder
umgedreht hat, sodass sich heute wieder mehr Jugendliche und sogar Kinder in der Flughafenunterkunft aufhalten. Meine Mitarbeiter haben mir zum Beispiel von einem Fall berichtet, bei dem ein Minderjähriger über
32 Tage dort war. Das geht nicht in Ordnung.
Hier ist die Bundesregierung in ihrer Eigenschaft als
Dienstherr sowohl der Bundespolizei als auch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg aufgefordert und gebeten, darauf hinzuwirken, dass Kinder
und Jugendliche allenfalls nur wenige Stunden auf dem
Flughafen in Frankfurt verbleiben und dann kind- bzw.
jugendlichengerecht untergebracht werden.
Gerade für die Kinder gilt - es ist vielleicht eines der
Verdienste von Bündnis 90/Die Grünen, dass sie diese
Daten mit ihrer Anfrage noch einmal zutage gefördert
haben -: Sie kommen in ein Land, von dem sie sich Sicherheit und Schutz vor Verfolgung im Herkunftsland
erhofft haben, und erleben dann möglicherweise schwierigste und nicht kindgerechte Haftbedingungen oder
Aufenthaltsbedingungen, zum Teil und gerade in der unmittelbaren Nachbarschaft von Erwachsenen. Sie erleiden allein schon durch dieses Schicksal möglicherweise
zusätzliche Traumata, die wir als humanitärer Rechtsstaat eigentlich vermeiden sollten. Nicht ohne Grund
geht aus Art. 37 der Kinderrechtskonvention klar hervor,
dass Freiheitsentziehungen bei einem Kind nur als allerletztes Mittel und für die denkbar allerkürzeste Zeit
angeordnet werden können. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen interpretiert die
UN-Kinderrechtskonvention so, dass Abschiebehaft bei
Kindern unter 16 Jahren überhaupt nicht und bei Jugendlichen unter 18 Jahren nur als letztes Mittel verhängt
werden darf.
Damit sind wir bei einem anderen Thema, das uns
schon häufiger beschäftigt hat, nämlich die von der Bundesregierung immer noch erklärten Vorbehalte gegenüber
der Akzeptanz der Kinderrechtskonvention. Es ist nur
noch ein einziger Punkt offen. Alle anderen sind erledigt.
Dabei geht es um die Frage der Asylmündigkeit und der
Behandlung von Jugendlichen unter 18 Jahren als Asylsuchende und Flüchtlinge. Denn unser Recht geht von
der Fiktion aus, sie seien schon in jeder Hinsicht mündig
und verantwortlich, könnten selbst Anträge stellen und
womöglich auch in Haft genommen werden.
Das entspricht nach Überzeugung der SPD-Fraktion
nicht der Kinderrechtskonvention. Wir sehnen uns als
Mehrheit des Parlaments schon langsam danach, endlich
einer Regierung gegenüberzusitzen, die bereit ist, die
Parlamentsbeschlüsse auch umzusetzen.
({5})
Dabei bin ich mir darüber im Klaren, Herr Staatssekretär
Altmaier, dass das Problem bei den Bundesländern liegt.
Mit dieser Frage werden wir uns vielleicht noch einmal
im Ausschuss fachlich auseinandersetzen.
Aber nicht nur im Lichte der Kinderrechtskonvention
- es wird wirklich langsam Zeit, dass wir den Vorbehalt
endlich ausräumen -, sondern auch im Lichte anderen
übergeordneten Rechtes haben wir Veranlassung, lieber
Kollege Mayer, unser eigenes Rechtssystem zu überprüfen.
Insoweit ist unser Anliegen doch aktuell. Ich denke dabei
an die Aufnahmerichtlinie und - wie versprochen komme
ich jetzt darauf zurück - an die Rückführungsrichtlinie
aus dem Januar dieses Jahres.
Um es klipp und klar zu sagen: Die Rückführungsrichtlinie ist weder für die Sozialdemokraten im Europäischen
Parlament noch für die sozialdemokratische Fraktion im
Deutschen Bundestag ein besonders fortschrittliches Instrument der Migrationspolitik. Aber sie bildet sozusagen
den Mindeststandard - nur den Mindeststandard - für
alle Mitgliedstaaten der EU. Darunter waren auch einige,
die noch sehr viel problematischere Bedingungen im
Bereich von Abschiebung, Rückführung und Abschiebungshaft hatten. Insoweit muss man feststellen: Wenn
das Mindeststandards für alle EU-Staaten sind, dann ist
das insoweit ein Erfolg. Das darf uns als deutschen
Gesetzgeber nicht daran hindern, an günstigeren Regelungen festzuhalten oder sie zu schaffen.
Wir müssen aber - damit sind wir wieder bei der
Asylmündigkeit und den Richtlinien für Kinder unter
18 Jahren - alles daransetzen, sowohl was die Frage der
Unterbringung der Kinder und Jugendlichen - Stichwort
Aufnahmerichtlinie - als auch ihre angebliche Asylmündigkeit ab 16 Jahre angeht, unser deutsches Recht diesen
Mindeststandards anzupassen, um nicht dahinter zurückzubleiben. Das wäre ein gemeinsames Anliegen, an dem
wir weiter arbeiten sollten.
Wenn dazu die Antwort der Bundesregierung mit zum
Teil nicht so erfreulichen Zahlen über den Vollzug von
Abschiebungshaft und vor allen Dingen von ganz
bestimmten besonders schutzwürdigen Gruppen einen
Beitrag geleistet hat, dann wäre das immerhin ein kleiner
Erfolg. Ansonsten sind wir alle gefordert, in der geschilderten Weise auch gesetzgeberisch tätig zu werden.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der fraktionslose Kollege Henry
Nitzsche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
schon erstaunlich, mit was man sich als deutscher Volksvertreter so herumschlagen muss. Das meiste Kopfschütteln rufen bei mir regelmäßig die Anfragen und Anträge
der Grünen hervor.
({0})
Ich will einige Beispiele nennen: die Große Anfrage
„Zur Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen und Transgender“ vom Juni 2006, die
Kleine Anfrage zur „Lage der Homosexuellen auf Jamaika“ vom Juni 2008 oder der Antrag zur Rechtssituation
von Homosexuellen in Nigeria Anfang dieses Monats.
({1})
Das sind die Nöte und Sorgen, die die Menschen in
unserem Land bewegen.
({2})
Jetzt sorgen Sie sich also um die Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten, wo es wahrscheinlich
zugehen muss wie in Guantánamo. Gehen Sie doch bitte
einmal zum Hauptportal herein, und schauen Sie nach
oben. Dort steht „Dem deutschen Volke“ geschrieben.
Zeigen Sie dafür doch endlich einmal Verantwortung!
Kommen wir zu Ihrer Großen Anfrage. Es ist
bezeichnend, dass Sie sich auf die zweifelhafte Antirassistische Initiative Berlin beziehen.
({3})
Bei dieser handelt es sich nämlich um eine Gruppierung
mit besten Kontakten zum Linksextremismus.
({4})
Da haben Sie wahrlich den Bock zum Gärtner gemacht!
Diese Gruppierung behauptet auf ihrer Internetseite, die
Polizei veranstalte in Deutschland Menschenjagden, und
fordert wörtlich offene Grenzen, Bleiberecht für alle und
gleiche Rechte für alle. Darauf wollen Sie sich beziehen?
({5})
Da brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass der von Ihnen
angeführte Selbstmord eines sich in Abschiebehaft befindlichen Asylbewerbers nicht den Tatsachen entspricht.
({6})
Besagter Äthiopier erhängte sich nämlich in Wahrheit,
während er in Untersuchungshaft wegen des Verdachts
auf Totschlag saß. Das ist schon ein Unterschied, auch
wenn das nicht in Ihr Weltbild passt. Es sind nicht alle
Opfer. Es gibt auch viele Täter unter ihnen.
({7})
Schauen wir uns einmal an, woher die Asylbewerber
stammen, die in Abschiebehaft sitzen. Wir finden darunter Nationalitäten, die durchaus verwundern. Darunter
sind Menschen aus Litauen, Portugal, Israel oder Polen.
Da frage ich mich schon: Warum haben die bitte Asyl
beantragt? Noch etwas fällt auf: Ein Großteil der Asylbewerber stammt aus der Türkei. Demnach müssen die
Verhältnisse in diesem Land - gerade in Bezug auf die
Einhaltung der Menschenrechte - deutlich zu wünschen
übrig lassen. Wie können Sie da die Aufnahme der Türkei in die EU verantworten, meine Damen und Herren
von den Grünen? Erklären Sie das hier bitte einmal!
In Wahrheit geht es Ihnen doch gar nicht um die Verbesserung der Situation in deutschen Abschiebegefängnissen. Sie wollen das Instrument der Abschiebehaft
ganz abschaffen. Um das zu erkennen, genügt ein Blick
in Ihr Wahlprogramm. Ich zitiere:
Menschen, die nichts weiter getan haben, als in
Deutschland Zuflucht zu suchen, sitzen in Abschiebehaft. Wir setzen uns für die Beendigung dieser inhumanen Situation ein.
Ich muss Sie fragen: Sind Sie noch ganz bei Trost? Sie
wissen doch ganz genau, was los wäre, wenn man die
Abschiebehaft abschaffen würde. Die abgelehnten Asylbewerber würden schnurstracks in die westdeutschen
Großstädte, in die Gettos, abtauchen.
Liebe Kollegen von den Grünen, ich weiß, Sie sind
immer große Freunde präventiver Ansätze. Ich will Ihnen einen solchen Ansatz einmal vorstellen. Die Frage
ist nicht, wie die Situation in der Abschiebehaft verbessert werden kann, sondern wie verhindert werden kann,
dass überhaupt Personen in Abschiebehaft gelangen. Die
Asylanerkennungsquote in Deutschland liegt etwa bei
1 Prozent.
({8})
Das heißt, 99 Prozent der Asylanträge werden abgelehnt,
und die Asylbewerber müssen das Land wieder verlassen. Daher wäre es doch sinnvoll, sich einmal Gedanken
darüber zu machen, wie wir das ändern könnten. Wie
wäre es zum Beispiel mit einem Sicherungssystem der
EU-Außengrenzen und einer verstärkten Kontrolle an
den Grenzen zu Deutschland?
Herr Kollege Nitzsche, denken Sie an die Zeit, bitte.
Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. - Dann
lösen sich die Probleme in den Abschiebehaftanstalten
von ganz alleine.
Im Übrigen, Herr Präsident, ist das Plenum nicht beschlussfähig.
({0})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Sevim Dağdelen von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dieser rassistische, menschenverachtende und
auch menschenfeindliche Unsinn meines Vorredners
spricht für sich selbst. Ich möchte das nicht weiter kommentieren.
({0})
In der ersten Beratung über unseren Antrag am
29. März 2007 haben die Regierungsfraktionen und die
FDP eines deutlich gemacht: Abschiebungshaft ist ein
Instrument der Abschreckungspolitik. Denn der Verzicht
auf Abschiebungshaft würde - ich zitiere Herrn Wolff
von der FDP - einen massiven Anreiz zur illegalen
Zuwanderung darstellen. Der Kollege Veit von der SPD
malte in der ersten Beratung das Gespenst eines nicht zu
bewältigenden Zustroms an die Wand, würde sich - ich
zitiere erneut - unter den vielen Millionen Menschen in
der Welt, die in Armut und Elend leben, oder den zig
Millionen bereits auf der Flucht befindlichen Menschen
herumsprechen, dass, wer immer deutschen Boden
erreicht, auch hier leben kann.
Ich finde, das hat mit Humanismus nichts mehr zu
tun, auch nichts mit einem Bewusstsein für die Fluchtursachen und -gründe der Flüchtlinge, für die wir wegen
der Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen von
Menschen mitverantwortlich sind. Außerdem ist nicht zu
ersehen, woher eigentlich diese Sorge kommt. Die letzten Bundesregierungen haben maßgeblich dafür gesorgt,
dass die Chance, die EU lebend zu erreichen, minimiert
wird. So sinken auch die Zahlen derjenigen, die es überhaupt noch bis nach Deutschland schaffen. Wir alle kennen die Bilder vom Mittelmeer oder aus dem Westen
Afrikas. Für die Linke darf ich feststellen: Für uns ist
kein Mensch illegal. Deshalb plädieren wir für mehr
Humanität.
({1})
Es ist einer der zynischen Höhepunkte der Abschiebepraxis in Deutschland, dass Abschiebungshäftlinge für
die Kosten der Haft und der Abschiebung auch noch
zahlen müssen. Zynisch ist auch, dass Menschen für eine
solche Abschreckungspolitik persönlich herhalten müssen.
Einige zahlen dafür nicht nur sprichwörtlich Blutzoll;
Herr Winkler hat es noch einmal deutlich gemacht. Ich
wiederhole: Seit 1993 töteten sich 150 Flüchtlinge angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei
dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon
allein 56 Menschen in Abschiebungshaft. Dieser Verantwortung können sich die letzten Bundesregierungen
nicht entziehen.
Abschiebungshaft wird häufig rechtswidrig und
rechtsfehlerhaft verordnet. In zwei Dritteln aller Fälle, die
vom Rechtshilfefonds des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes
unterstützt wurden, konnte eine Entlassung aus der Haft
erreicht werden; die betroffenen Personen waren also
rechtswidrig oder rechtsfehlerhaft inhaftiert worden.
Herr Mayer, das belegt nochmals deutlich, dass Abschiebungshaft eben nicht die Ultima Ratio zur Durchsetzung
der Ausreisepflicht ist, sondern häufig ohne Prüfung erfolgt.
({2})
Aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der Grünen geht auch hervor, wie leichtfertig
die Abschiebungshaft verhängt wird. Etwa der Hälfte
der Abschiebungen ging eine Abschiebungshaft voraus.
Etwa 15 Prozent aller Inhaftierten mussten wieder entlassen werden. Ich finde, diese Menschen hätten erst gar
nicht ihrer Freiheit beraubt werden dürfen, da bereits im
Vorfeld klar war, dass eine Abschiebung unmöglich ist.
({3})
Zwischen 2005 und 2007 wurden unbegleitete Minderjährige für bis zu 142 Tage in Haft gehalten, Schwangere
für bis zu 132 Tage. Das zeigt noch einmal deutlich, dass
es Ihnen um die Abwehr von Flüchtlingen geht und nicht
um den Schutz bedrohter Menschen in diesem Lande.
Ich erinnere Sie gern noch einmal daran, dass Heiko
Kauffmann von Pro Asyl die Abschiebungshaft als eine
„demokratisch abgesicherte Barbarei“ bezeichnet hat.
Günter Wallraff bezeichnet Abschiebegefängnisse als
„Institutionen der Unmenschlichkeit“.
Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich besonders
im Umgang mit den Schwächsten einer Gesellschaft, mit
Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten. Folgen Sie
also unserem Antrag und schaffen Sie die immer rigoroser und unmenschlicher werdende Abschiebungshaft ab!
Schaffen Sie, um dieses Ziel zu erreichen, eine gesetzliche
Grundlage für die Wahrung von Mindeststandards bei
der Inhaftierungspraxis!
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungs-
haft, ihrer rechtlichen Grundlagen und der Inhaftierungs-
praxis in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12020, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3537
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/12255 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schäffler, Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann
Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Reform der Anlegerentschädigung in Deutschland
- Drucksache 16/11458 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten
stärken
- Drucksachen 16/11205, 16/12184 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Ortwin Runde
Es ist interfraktionell vorgesehen, dass die Redebei-
träge zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich
um die Beiträge der Kollegen Klaus-Peter Flosbach,
CDU/CSU, Jörg-Otto Spiller, SPD, Frank Schäffler,
FDP, Dr. Axel Troost, Die Linke, und Dr. Gerhard
Schick, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/12255 und 16/11458 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf den Fi-
nanzmärkten stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
1) Anlage 6
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12184, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11205 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Joachim Günther ({3}), Horst
Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Nachtstromspeicherheizungen nicht verbieten,
sondern modernisieren - Chancen für erneuerbare Energien und für den Klimaschutz nutzen
- Drucksache 16/11193 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden von Volkmar Uwe
Vogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, Michael
Kauch, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, und Peter
Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.
Die Außerbetriebnahme von elektrischen Speicherheizungen ist ein Baustein der gestern von der Bundesregierung beschlossenen Novellierung der Energieeinsparungsverordnung. Darin werden erstens die
Anforderungen bei Errichtung neuer Wohn- und Nichtwohngebäude um durchschnittlich 30 Prozent verschärft
ebenso wie zweitens für Altbauten für den Fall größerer
Umbauarbeiten sowie drittens Regelungen zur Verbesserung des Vollzugs der Verordnung festgeschrieben. Baustein Nummer vier ist die Außerbetriebnahme elektrischer Speicherheizungen, wobei es sich zu 99 Prozent um
sogenannte Nachtspeicherheizungen handelt. Das ebenfalls verabschiedete Energieeinsparungsgesetz schafft in
diesem Zusammenhang die Verordnungsermächtigung
für das Inkrafttreten der Energieeinsparungsverordnung
in nunmehr sechs Monaten.
Dabei - und das möchte ich insbesondere angesichts
dieses Tagesordnungspunktes noch einmal betonen - dürfen die einzelnen Maßnahmen zum Klimaschutz und deren Bausteine nicht isoliert betrachtet werden. Nur kumuliert entfalten sie ihre erwünschte Wirkung: Viele
Pinselstriche ergeben hier das Bild. Das heißt aber nicht,
dass wir uns in kleinteilige Diskussionen verstricken dürfen. Davor warne ich. Es ist von entscheidender Bedeutung, alle Einsparpotenziale zu erschließen, die zu vertretbaren Kosten zu erreichen sind. Dabei dürfen wir den
Bürgern nicht zuviel zumuten - das war und ist die Position und Entscheidungsgrundlage der Union.
Bei elektrischen Speicherheizungen sehen wir jedoch
einen Handlungsbedarf. Rund 1,4 Millionen Wohnungen
werden elektrisch beheizt ({0}), sei es durch elektrische
Speicherheizungen - von denen hier die Rede ist - oder
durch Direktheizungen, wie etwa Fußbodenheizungen.
Das ist in etwa jede 25. Wohnung. Zugleich verursachen
diese rund 3 Prozent der deutschen CO2-Emissionen.
Elektrische Speicherheizungen sind die größten Stromverbraucher in deutschen Haushalten. Sie sind schlecht
zu regeln und teuer im Unterhalt. Aus Umweltsicht höchst
problematisch bei Nachtspeicherheizungen ist insbesondere deren schlechter Wirkungsgrad. Energetisch
betrachtet, sind Nachtspeicherheizungen eine Verschwendung hochwertiger Energie für die Bereitstellung
niederwertiger Raumwärme.
Den Begründungskontext für das Aufkommen und
Wachstum von Nachtspeicherheizungen in den 50er-,
60er- und 70er-Jahren bildeten große Überkapazitäten
an Strom in der Nacht und das Interesse der Energieversorger, die Kraftwerke möglichst gleichmäßig zu fahren.
Insofern wurde durch diese Stromspeicherheizungen und
günstige Nachtstromtarife nachts eine künstliche Nachfrage geschaffen.
Heute sehen wir die Dinge differenzierter: Der wertvolle Strom sollte im Allgemeinen dort eingesetzt werden
wo er wirklich gebraucht wird, das heißt, in elektrischen
oder elektronischen Geräten, in elektrischen Antrieben.
Eine elektrisch betriebene Raumheizung ist weder wirtschaftlich noch umweltschonend und daher nicht mehr
zeitgemäß. Dies hat in aller Deutlichkeit eine Studie des
Bremer Energieinstituts aus dem Jahr 2007 gezeigt. Die
Studie stellt aber auch fest, dass der Trend zu elektrischen
Heizungen im Allgemeinen ungebrochen ist: Der Heizstromverbrauch stieg von 1995 bis 2004 um 6 Prozent und damit stärker als der Gesamtenergieverbrauch für
Raumwärme! Insbesondere für Nachtspeicherheizungen
gibt es eine Vielzahl an alternativen Erzeugungsformen,
wobei im Vergleich bis zu 80 Prozent Primärenergie gespart werden können, zum Beispiel durch Holzpellet-Heizungen - mit oder ohne Solarkollektor - oder etwa hocheffiziente Gas-Brennwert-Heizungen.
Eine Außerbetriebnahme alter und heutzutage nicht
mehr im Neubau verwendeter Nachtspeicherheizungen
nützt erstens dem Klima und zweitens der Konjunktur.
Nach Berechnungen des Bremer Energieinstituts liegen
die spezifischen CO2-Emissionen von Nachstromspeicherheizungen gegenüber einer Gas-Brennwert-Heizung
um den Faktor 3,6 und gegenüber einer Pellet-Heizung
sogar um den Faktor 13 höher. Daher werden wir sie
nach Maßgabe der Energieeinsparungsverordnung langfristig außer Betrieb nehmen. Das hilft dem Klima. Klimaschutzmaßnahmen verlieren, richtig gemacht, auch
angesichts wirtschaftlich schwierigerer Zeiten nicht an
Legitimation. Klimaschutz war richtig und bleibt es vor
dem Hintergrund der Nachhaltigkeit auch unter den jetzigen, schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
Wir haben in den letzten Monaten zwei Konjunkturpakete verabschiedet, um die Wirtschaft anzukurbeln. Vor
diesem Hintergrund fügt sich diese Maßnahme gut ein auch wenn sie keinen kurz- oder mittelfristigen, sondern
einen langfristigen Charakter hat. Schließlich erfolgt die
Außerbetriebnahme erst ab dem Jahr 2020 stufenweise
und für dann mindestens 30 Jahre alte Anlagen in Wohngebäuden mit mindestens sechs Wohneinheiten.
Jenseits von Aspekten des Umwelt- und Klimaschutzes
sehen wir einen Markt für Umweltinnovationen im Wärmebereich. Hier ruht ein großes Investitionsvolumen:
Aufträge für Heizungsbauer und Installationsgewerbe,
Mittelstand und Handwerk.
Ganz entscheidend ist, und dafür steht die Union, dass
die Außerbetriebnahme sozialverträglich und mit Augenmaß geschieht. Genau das erreichen wir durch Förderanreize einerseits sowie umfangreiche Härtefallregelungen
und eine langfristige, stufenweise Verpflichtung zur Außerbetriebnahme andererseits: Das fördert die Akzeptanz
für die Maßnahme bei den Betroffen und die Bereitschaft,
den Weg mit zu gehen.
Ganz konkret wird die Außerbetriebnahme von Nachtspeicherheizungen bereits seit Mai 2003 als Einzelmaßnahme im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungsprogramms von der KfW gefördert. Daneben bietet auch das
Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle im Rahmen des Marktanreizprogramms des BMU Förderungen
von Maßnahmen zur Nutzung erneuerbarer Energien im
Wärmemarkt an. Hiermit werden auch kurzfristig Anreize
gesetzt, die mit steigenden Stromkosten immer teurer werdenden Nachstromspeicherheizungen zu ersetzen. Zudem
haben wir in der Novellierung die bestehende Härtefallreglung noch umfangreicher und zugleich konkreter gestaltet:
Weiterhin gilt das Gebot der Wirtschaftlichkeit der
Maßnahme - für die Union ist das ein entscheidender
Gradmesser: Stellt die Umsetzung der Vorgaben einen
unangemessenen Aufwand dar oder kann die erforderliche Aufwendung - auch bei Inanspruchnahme der Förderung - nicht innerhalb einer angemessenen Frist erwirtschaftet werden, so entfällt die Pflicht zur Außerbetriebnahme. Wir von der Union sind überzeugt, dass wir
mit der langfristigen Außerbetriebnahme von Nachtspeicherheizungen eine für alle tragbare und sinnvolle Regelung gefunden haben.
Die im Antrag der FDP-Fraktion geforderten Maßnahmen stehen aus Sicht der Union bezüglich Aufwand
und Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis. Die Nutzung elektrischer Speicherheizungen zur Raumbeheizung
ist aufgrund der technischen Systemeigenschaften definitiv nicht mehr zeitgemäß. An diesen grundlegenden Defiziten ändert auch etwa die Nutzung von Strom aus erneuerbaren Energien nicht das Geringste. Daher lehnen wir
den Antrag der FDP-Fraktion ab.
Am 19. Dezember 2008 hat der Bundestag das Energieeinsparungsgesetz beschlossen und damit die rechtliche Grundlage zum Verbot von Nachtstromspeicherheizungen geschaffen. Ein Entschließunsantrag der FDP mit
gleichlautendem Inhalt wie der hier vorliegende Antrag
wurde damals von allen anderen Fraktionen abgelehnt,
Zu Protokoll gegebene Reden
sodass sich die heutige Debatte eigentlich erledigt hat.
Da die Fraktion der FDP ihren Antrag nicht zurückgezogen hat und mir ausreichend Redezeit zur Verfügung
steht, werde ich auf einige Irrungen und Wirrungen bei
der FDP eingehen.
Es ist falsch zu behaupten, dass Nachtstromspeicherheizungen nicht klimaschädlich sind. Nach einer Studie
von IZES/Bremer Energieinstitut sind die spezifischen
CO2-Emissionen gegenüber einer Gas-Brennwertheizung um den Faktor 3,6 und gegenüber einer Pellet-Heizung sogar um den Faktor 13 höher. 1,4 Millionen Wohnungen ({0}) werden derzeit in Deutschland
elektrisch beheizt. Die moderne und umweltverträgliche
Wärmeversorgung mit erneuerbaren Energien und hocheffizienten Nah- oder Fernwärmesystemen könnte durch
Substituierung von elektrischer Raumheizung bis zu
80 Prozent der Primärenergie sparen und die Emissionen
des klimaschädlichen CO2 um über 80 Prozent reduzieren. Mindestens 23 Millionen Tonnen CO2/a können
durch den Ersatz von Nachtstromspeicherheizungen eingespart werden.
Die im Antrag erwähnte parlamentarische Anhörung
des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
am 10. November 2008 hat hier auch nichts anderes ergeben. Die FDP greift in ihrem Antrag im ersten Spiegelstrich ein von einem Experten entwickeltes Argument zum
Emissionshandel auf. Demnach werden die durch wegfallende Nachtspeicher nicht mehr benötigten Emissionsrechte im Emissionshandel einfach für andere Stromverbraucher frei und führen damit nicht zu einer Minderung
der Emissionen. Diese Argumentation ist formal nicht
falsch, berücksichtigt aber nicht, dass die jetzt geltenden
Emissionshandel-Richtlinien ({1}) für die Jahre
2007 bis 2012 gelten, während die Außerbetriebnahmeregelung erst ab dem 1. Januar 2020 wirksam wird. Für
Emissionshandel der dritten Periode ab 2013 werden
zwar erste Verhandlungen geführt. Rechtsrelevante Emissionsregelungen für diese sogenannte Post-Kioto-Periode existieren aber noch nicht. Selbstverständlich würden
bei der Festlegung künftiger Emissionshandelsobergrenzen die in diesen Zeitabschnitt fallenden Einsparungen
aufgrund ordnungsrechtlicher Einzelpflichten berücksichtigt. Je mehr Einsparungen im Strombereich durch
Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen,
den Einsatz effizienter Geräte und andere Maßnahmen
erreicht werden können, umso niedriger kann das Cap für
die dritte Handelsperiode sein. Die Außerbetriebnahmepflicht führt daher insgesamt nicht zum Anstieg, sondern
zur dauerhaften Minderung der deutschen Treibhausgasemissionen.
Der Hinweis in dem Antrag, dass die Nachtstromspeicherheizungen von den Energieversorgungsunternehmen
in der Vergangenheit insbesondere in der Nähe von Kohlekraftwerken gezielt gefördert wurden, um diese nachts
aufgrund der Lasttäler nicht zu sehr drosseln zu müssen
bzw. das Netz vor Überspannung zu schützen, ist richtig.
Seit der Liberalisierung der Energiewirtschaft Ende der
90er-Jahre haben sich die Rahmenbedingungen für die
Versorgung mit Elektrizität aber grundlegend geändert.
Physikalisch gleicher Strom wird nunmehr ökonomisch,
ökologisch und im Zeitgang differenziert weit über die
Landesgrenzen hinaus gehandelt. Eine bessere Regelbarkeit der Kraftwerke, die Verstärkung der europäischen
und nationalen Verbundnetze, der Ausbau der Windenergie und vieles andere mehr haben die technischen Gegebenheiten erheblich verändert. Deshalb und aufgrund der
ökologischen Nachteile der Nachtstromheizungen ist zum
31. Dezember 2006 auch die Steuerermäßigung für Strom
zum Betrieb von Nachtspeicherheizungen, die vor dem
1. April 1999 installiert wurden, ausgelaufen. Zum Ausgleich wird seit Mai 2003 der Ersatz von elektrischen
Nachtspeicherheizungen im Rahmen des mit Bundesmitteln ausgestatteten KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramms als Einzelmaßnahme gefördert.
Bei allen im vorliegenden Antrag zur Rettung der
Nachtstromspeicherheizungen beschworenen zukünftigen technologischen Entwicklungen und einem modernen
Lastenmanagement bleibt, dass elektrische Widerstandsheizungen eine Verschwendung hochwertiger Energie für
die Bereitstellung niederwertiger Raumwärme darstellen. Um Panik zu vermeiden, sollten die Kollegen von der
FDP vielleicht einfach nur sorgfältig den vom Bundeskabinett beschlossenen Entwurf zur Energieeinsparverordnung 2009 lesen, die hoffentlich bald ihre klimapolitisch
segensreiche Wirkung entfalten kann.
Nachtstromspeicherheizungen sollen langfristig und
stufenweise außer Betrieb genommen werden. Nach Ablauf des Jahres 2019 dürfen die ersten Anlagen mit einem
Alter von mindestens 30 Jahren nicht mehr betrieben
werden. Den Eigentümern und indirekt auch den Herstellern wird damit eine langfristige zeitliche Perspektive gegeben. Die Kosten für den Austausch zum Beispiel gegen
einen Brennwertkessel sind zwar hoch ({2}). Die Regelung gilt aber nur für
ältere Wohngebäude mit mehr als fünf Wohneinheiten und
ähnlich große Nichtwohngebäude. Ein größerer Anwendungsbereich ist den Betroffenen gegenwärtig wirtschaftlich unzumutbar. Härtefallklauseln sollen sicherstellen,
dass niemand persönlich, wirtschaftlich oder finanziell
überfordert wird. Bundesregierung und Koalition beabsichtigen jedoch, in den nächsten Jahren den Austausch
im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungsprogramms
nach Maßgabe der durch den Haushalt zur Verfügung gestellten Mittel zu fördern.
Ich glaube, dies macht deutlich, dass es nicht um den
Untergang des Abendlandes geht. Ich kann der FDP aber
wenigstens eine kleine Hoffnung machen, dass es 2020
doch nicht zu dem sanktionsbewehrten Verbot kommen
muss. Die Preiskalkulation für Strom für elektrische Widerstandsheizungen beruht insbesondere auf einem extrem niedrigen Wert für Netznutzungsentgelte - im Bundesschnitt 2 Cent/kWh, weit weniger als ein Drittel der
regulären Netznutzungsentgelte im Niederspannungsbereich. Dies dürfte sich aus rechtlichen, betriebswirtschaftlichen und betriebstechnischen ({3}) Gründen zunehmend ändern. Einige Stromanbieter haben bereits ihre Tarife nach oben korrigiert
bzw. preisgünstige Sondertarife nicht verlängert. Ein
realistisch kalkulierter Preis für Elektroheizungen müsste
bei 15 bis 16 Cent/kWh liegen. Das liegt jenseits der
Zu Protokoll gegebene Reden
Energiepreise, die für die sonst üblichen Heizsysteme anzusetzen sind ({4}).
Würden die Strompreise für Elektroheizungen auf dieses
Niveau angehoben, würde sich der Druck stark erhöhen,
diese Heizungen schnellstmöglich zu ersetzen. Ganz im
Sinne der FDP würde der Markt die Frage des Verbots
beantworten.
Ich befürchte allerdings, dass dann der Mieter das
Nachsehen hätte. Deshalb ist die gefundene Regelung,
mit der über einen langen Zeitraum geplant werden kann,
sinnvoll und vernünftig und im Sinne von Energieeffizienz
und Klima-Verantwortung ohne ernsthafte Alternative.
Deshalb lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den vorliegenden FDP-Antrag ab.
Die Bundesregierung will den Ersatz der von ihr als
„extrem klimaschädlich“ empfundenen Nachtstromspeicherheizungen in Wohnhäusern rechtlich erzwingen. Es
reicht ihr dabei nicht, einfach nur den weiteren Zubau
von Nachtstromspeicherheizungen zu verbieten, vielmehr
sollen auch die im Gebäudebestand bereits in Betrieb befindlichen Nachtstromspeicherheizungen entfernt werden
müssen.
Mit dem verabschiedeten Energieeinspargesetz hat die
Koalition die rechtliche Grundlage für ihr geplantes Verbot geschaffen. Dabei ließ sie die Ergebnisse einer zu diesem Thema durchgeführten parlamentarischen Expertenanhörung außer Betracht. Dies ist auch nachvollziehbar;
denn die Anhörung ergab gravierende Zweifel am klimaund energiepolitischen Sinn der Maßnahme.
Eine erzwungene Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen ist aus mehreren Gründen abzulehnen; denn sie ist sowohl aus der Perspektive der Ressourcenschonung als auch des Klimaschutzes sinnlos und
kontraproduktiv. Eine Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen führt in der Gesamtbetrachtung
nicht zu einer Emissionssenkung. Nein, im Gegenteil!
Diejenigen Haushalte, in denen Nachtstromspeicherheizungen außer Betrieb genommen werden, würden sich gezwungen sehen, neue Heizungsanlagen einzubauen. In
den Fällen, in denen diese mit fossilen Brennstoffen betrieben würden, entstünden dann zusätzliche CO2-Emissionen. Denn Emissionen von Gasheizungen sind nicht
durch den Emissionshandel mit seinen festen CO2-Obergrenzen erfasst - der Strom für die Nachtspeicherheizungen schon. Im Ergebnis werden deshalb die CO2-Emissionen kurzfristig ansteigen, wenn die Bundesregierung
die Verordnungsermächtigung in die Tat umsetzt. Das
Verbot steht damit in unmittelbarem Widerspruch zu dem
Ziel, das es vorgibt, erreichen zu wollen. Eine effiziente
Nutzung von modernisierten Nachtstromspeicherheizungen in einem schlüssigen Konzept aus Energiespeicherung und modernem Lastmanagement würde dagegen zur
Optimierung der Energieausbeute beitragen. Schließlich
erscheint eine Modernisierung bestehender Nachtstromspeicherheizungen deutlich kostengünstiger und auch
energiepolitisch sinnvoller als deren aufwendige Entfernung.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert daher die Bundesregierung auf, ungeachtet einer zwischenzeitlich geschaffenen Ermächtigungsgrundlage die bestehenden
Pläne zur erzwungenen Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen in der bisherigen pauschalen
Form nicht weiter zu verfolgen.
Stattdessen sind sinnvollere Maßnahmen zu ergreifen:
Eigentümern von Nachtstromspeicherheizungen müssen
die Vorteile des liberalisierten Strommarktes zugänglich
gemacht werden, da der Wechsel zu anderen und billigeren Anbietern für diese Stromkunden immer noch nicht
möglich ist.
Die aufseiten der Netzregulierung erforderlichen Regelungen für die Einführung intelligenter Zähler müssen
unverzüglich erarbeitet werden, um das Angebot lastabhängiger Tarife zu ermöglichen und Wettbewerbern - mit
Zustimmung des Stromkunden - einen Zugang zu den Verbrauchs- und Lastdaten zu geben, die für die Erstellung
solcher neuartiger Wettbewerbsangebote erforderlich
sind. Dazu gehören aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion Standards für die technischen Anforderungen an
Zähler, insbesondere hinsichtlich der Fernauslesbarkeit,
der Fernsteuerbarkeit und der Datenformate.
Überdies sind im Dialog mit den Netzbetreibern die
regulatorischen Voraussetzungen zu prüfen, wie Nachtstromspeicherheizungen in Smart-Grid-Konzepte eingebunden werden können, die ihre Nutzung als Wärmeenergiespeicher insbesondere auch für Strom aus
erneuerbaren Energien erlauben bzw. optimieren.
Schlussendlich muss die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag ein widerspruchsfreies und hinsichtlich
seiner Bestandteile aufeinander abgestimmtes, konsistentes Konzept für einen wirksamen und zugleich wirtschaftlichen Klimaschutz im Rahmen des europäischen
Emissionshandels vorlegen, statt sinnlose und kontraproduktive Maßnahmen zu verfolgen, die einem langfristigen
Klimaschutz entgegenstehen.
Mit ihrem Festhalten an den ineffizienten und klimaschädlichen Nachtstromspeicherheizungen macht sich
die FDP zum Handlanger der Kohle- und Atomkonzerne.
Das rasante Wachstum der erneuerbaren Energien ermöglicht einen Ausstieg aus Kohle und Atom. Mit den fossilen Energieträgern werden auch die Nachtstromspeicherheizungen überflüssig. Wenn das die FDP nun
blockiert, kann sie es nicht ernst meinen mit der Energiewende.
Nachtstromspeicherheizungen wurden erfunden für
die Kohle- und Atomkraftwerke. Weil die nachts ihre Leistung nicht herunterfahren konnten, musste der Strom
irgendwie verbraucht werden. Nachtstromspeicherheizungen und fossile Kraftwerke ergänzen sich dabei gegenseitig: Die Heizungen kriegen günstigen Nachtstrom,
die Kraftwerke können mehr Strom verkaufen. Von einem
Weiterbetrieb der Nachtstromspeicherheizungen würden
also vor allem unflexible Kohle- und Atomkraftwerke profitieren. Energieeffizienz und erneuerbare Energien bleiben auf der Strecke.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nachtspeicheröfen verursachen im Vergleich zu anderen Heizungssystemen die höchsten CO2-Emissionen und
darüber hinaus die mit Abstand höchsten Kosten bei der
Raumheizung. Die in 1,4 Millionen Wohnungen installierten Geräte verbrauchen den Strom von fünf großen
Braunkohlekraftwerken. Da sie zudem überproportional
häufig in alten Mietwohnungen installiert sind, müssen
häufig ärmere Familien draufzahlen, oder der Steuerzahler kommt über das Arbeitslosengeld II für die exorbitanten Heizkosten auf.
Vom BMU war ursprünglich vorgesehen, einen Ersatz
der Nachtspeicheröfen mit festgelegten und überschaubaren Fristen vorzuschreiben. Das BMWi hat hier zahlreiche Befreiungs- und Härtefallregeln hineinverhandelt
und zudem die Fristen zum Austausch auf spätestens 2020
bzw. 30 Jahre nach der Installation festgelegt. Der ökologische und ökonomische Unfug wird also frühestens 2038
endgültig beendet, wobei noch unklar ist, ob es finanzielle
Anreize zum Austausch geben wird. In Wohngebäuden mit
weniger als sechs Wohneinheiten oder weniger als
500 Quadratmetern Nutzfläche braucht gleich überhaupt
nichts zu passieren. Vielleicht wurde hier so halbherzig
vorgegangen, weil Nachtspeicheröfen den Energieversorgern ihr geliebtes Geschäft mit dem Nachtstrom sichern.
Nicht nur im Stromsektor, auch im Wärmebereich müssen wir umsteuern. Dazu ist ein Abschied von den Nachtstromspeicherheizungen ein notwendiger erster Schritt.
Denn Heizen mit Strom ist höchst ineffizient. Wertvolle
Energie wird verschwendet, wenn die Wärme im Kraftwerk zunächst in Strom umgewandelt wird, nur um anschließend wieder in Wärme verwandelt zu werden. Solch
eine Energieverschwendung können wir uns in Zeiten
steigender Energiepreise einfach nicht leisten!
Die Alternativen zur klassische Öl- und Gasheizung
müssen endlich durchgesetzt werden: Vor allem der Anschluss an Nah- oder Fernwärme kann enorme Mengen
des Klimakillers CO2 einsparen. Sinnvoll ist auch ein
deutlich höherer Anteil von erneuerbaren Energien im
Wärmebereich, wie Solaranlagen zur Warmwasserbereitung. Nach einer Studie des Instituts für Zukunfts-Energie-Systeme und des Bremer Energie-Instituts kann
dadurch bis zu 80 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespart
werden.
Das Hauptfeld und die kostengünstigste Option zu
CO2-Einsparungen ist und bleibt im Übrigen die Wärmedämmung, vor allem im Gebäudebestand. Doch die hat ja
die Bundesregierung in ihrer Verordnung gerade von
Pflichten zur energetischen Gebäudesanierung befreit.
Kommen wir noch einmal zu den konkreten Plänen der
Bundesregierung, Natürlich ist die Umstellung von
Nachtspeicherheizungen auf Alternativen mit Kosten verbunden, die sich nicht alle leisten können. Daher ist es
richtig, dass die Regierung ein Förderprogramm auflegen möchte. Auch Ausnahmen und Härtefälle kann es geben. Sie müssen jedoch viel enger begrenzt werden als gegenwärtig geplant. Sie dürfen schlicht nicht dazu führen,
dass praktisch nichts passiert! Vom Aus der Nachtspeicherheizungen wird nicht nur das Klima profitieren. Vor
allem die Mieterinnen und Mieter können bei den Energiekosten sparen. Die explodierenden Strompreise sind
doch nicht zu übersehen. Deswegen ist es richtig, wenn
jetzt Geld in die Hand genommen wird, um langfristig
Kosten einzusparen.
Fassen wir zusammen: Die ineffizienten Nachtstromspeicherheizungen machen nur Sinn in Kombination mit
Kohle- und Atomkraftwerken. Wir sind aber auf dem Weg
ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. Deswegen brauchen wir neue, umweltfreundliche Heizsysteme. Die gibt
es bereits. Nur die Atomfreunde der FDP wollen weiterhin Energie verschwenden. Dazu sagen wir von der Linken ganz klar: Nein! Die Nachtstromspeicherheizungen
müssen sozialverträglich durch klimafreundliche Heizungen ersetzt werden.
Zunächst einmal ist bemerkenswert, wie hartnäckig
die FDP dieses Thema verfolgt. Allerdings sollten hier
die Fakten nicht verdreht werden. In der im Antrag erwähnten parlamentarischen Expertenanhörung war es
durchaus nicht so, dass sich eine breite Mehrheit gegen
das Verbot von Nachtstromspeicherheizungen aussprach.
Im Gegenteil, nur der von der Fraktion der FDP eingeladene Professor Weimann war ein glühender Verfechter
dieser Heizungsart. Allerdings - und das musste auch
Professor Weimann anerkennen - funktioniere seine Theorie auch nur auf der Basis eines weltweit funktionierenden Emissionszertifikatehandels. Dass es diesen - noch nicht gibt, dürfte auch der FDP nicht verborgen geblieben sein.
Die Änderung der Energieeinsparungs-Verordnung,
EnEV, bezüglich der elektrisch betriebenen Nachtstromspeicherheizungen ist unter dem Strich sinnvoll, vor allem,
wenn man sich den Gesamtwirkungsgrad ansieht, das
heißt die thermische Erzeugung von Strom, um dann aus
Strom wieder Wärme zu machen. Es ist mit Sicherheit ein
Fehler gewesen, in manchen Kommunen den Einsatz von
Nachtstromspeicherheizungen vorzuschreiben. Dagegen
gewehrt haben sich die EVU aber nicht. Denn es ist
durchaus von ihnen auch eine unmerkliche Abhängigkeit
der Kunden befördert worden. Viele dieser Kunden merken
heute, nachdem auch Sondertarife für Nachtstromspeicherheizungen angehoben wurden, die neue Unfreiheit schmerzhaft an den monatlichen hohen Abschlagszahlungen. Denn
so preiswert, wie einmal versprochen wurde, ist Strom
schon lange nicht mehr. Deshalb liegt der Verdacht nahe,
dass die FDP hier zwar als Retter der Verbraucher auftritt, in Wirklichkeit aber die Interessen der großen Energieversorgungsunternehmen vertritt.
Interessant wäre die Antwort auf die Frage, ob ein Ersatz
von Nachtstromspeicherheizungen auch dann sinnvoll
wäre, wenn sie ausschließlich mit Strom betrieben würden,
der aus regenerativen ungeregelten Energieumwandlungssystemen stammt. Die Bundesregierung hat sich diesbezüglich nicht äußern können oder wollen. Die Antwort
könnte in den kommenden Jahren stärker ins Zentrum der
Diskussion rücken, nämlich dann, wenn es zu temporären
Stromüberangeboten aus regenerativen Quellen kommt.
Fraglich ist allerdings auch dann noch, ob ein „Edel“Zu Protokoll gegebene Reden
Energieträger wie Strom im Wärmemarkt überhaupt eingesetzt werden sollte - zumindest im größeren Maßstab.
Der Gebrauch von Elektroheizungen und Nachtstromspeicherheizungen zementiert zudem den bestehenden
Kraftwerkspark, basierend auf thermischen Großkraftwerken, und verhindert eine dezentrale Struktur. Kondensationskraftwerke auf Dampfturbinenbasis haben einen
Wirkungsgrad von mehr als 30 Prozent bis weniger als
50 Prozent, wobei Atomkraftwerke besonders ineffizient
sind. Diese Kraftwerkstypen und damit die Struktur des
Energiemarktes würden damit gestützt. Die Folge ist,
dass die Hälfte bis zwei Drittel des eingesetzten Brennstoffes nicht genutzt und als „Wärmemüll“ in die Umwelt
abgegeben werden. Ziel muss es sein, diese Verluste zu
minimieren. Dazu ist aber der Ausbau einer dezentralen
Energieversorgungsstruktur auf Basis der Kraft-WärmeKopplung, KWK, notwendig. Diese wird jedoch durch das
Festhalten an alten Strukturen verhindert. Die FDP ist
Bremserin einer zukunftsfähigen Energiepolitik.
Insofern wirft sie auch mit dem Titel ihres Antrages
Nebelkerzen. Wenn das, was im Antrag gefordert wird,
Realität würde, wird ziemlich genau das Gegenteil von
dem erreicht, was erreichen zu wollen die FDP vorgibt:
Die Chancen für erneuerbare Energien und für den Klimaschutz würden eher verschlechtert denn verbessert. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Statt sich auf eine kleinteilige Lobbyarbeit zu reduzieren, sollte die FDP endlich unseren vielfältigen Vorschlägen folgen. Denn wenn wir so weitermachen, wird es
mehr als 150 Jahre dauern, bis der Gebäudebestand auf
einen vernünftigen energetischen Standard gebracht ist.
Das ist unverantwortlich gegenüber unseren nachfolgenden Generationen. Daher lohnt es sich, nochmals unsere
wesentlichen Forderungen aufzuführen. Wir müssen der
Aufklärung und der qualifizierten Beratung der Gebäudenutzer eine stärkere Aufmerksamkeit schenken. 20 bis
30 Prozent der Einsparungen lassen sich alleine durch
ein verändertes Heizverhalten und mit einem vergleichsweise geringen Mitteleinsatz durch Beratung erreichen.
Wir müssen endlich verbindliche und realistische Gebäude-Effizienzstandards für Bestands- und Neubauten
setzen, deren Wirkungen auf die kurzfristigen - bis 2020 und langfristigen - bis 2050 - Klimaschutzziele ausgerichtet sind. Wir müssen ein Recht der Mieter bzw. Nutzer
auf Einhaltung dieser Effizienzstandards einräumen. Wir
müssen die stärkere Berücksichtigung von Lösungsansätzen in der Förderpolitik beachten, mit denen die größten
Klimaschutz- und Einsparpotenziale bei geringstem Mitteleinsatz gehoben werden können. Wir müssen bauliche
und modulare Lösungen in der energetischen Gebäudesanierung von heute fördern, die uns bei der Erreichung
der langfristigen Ziele morgen nicht im Wege stehen. Wir
müssen zusätzliche Sanierungshilfen und Lösungen für
ökonomisch schwache Vermieter oder Hauseigentümer
einführen, insbesondere in den peripheren Regionen
Deutschlands. Wir müssen schließlich endlich einen Energieausweis vorschreiben, der die energetische Qualität eines Gebäudes tatsächlich abbildet und nicht als unseriöse
Lachnummer im Internet für Dumpingpreise von 1,99 Euro
ersteigert werden kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Sicherheit in der Informationstechnik des Bundes
- Drucksachen 16/11967, 16/12225 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Die Kollegin
Gisela Piltz hat sich als Einzige in dieser Aussprache zu
Wort gemeldet. Die anderen Reden nehmen wir zu Protokoll. Jetzt wollen wir unsere Aufmerksamkeit der Kollegin Piltz widmen.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
dem Titel dieses Gesetzentwurfs, der sehr spät auf der
Tagesordnung steht - aus meiner Sicht leider zu spät für
ein Gesetz, dessen Konsequenzen sich die meisten von Ihnen, wie ich glaube, noch gar nicht klargemacht haben -,
denkt man zunächst an nichts Schlimmes. Gegen Sicherheit von Computern und der Informationstechnik kann
man erst einmal nichts haben. Das ist völlig richtig. Die
Pannen mit Meldedaten oder auch andere Vorfälle zeigen uns ganz deutlich: Diese Sicherheit muss Priorität
haben.
Nur, da hat man die Rechnung ohne den Wirt gemacht;
denn wo Sicherheit draufsteht, ist bei dieser Bundesregierung meist auch Überwachung drin. Auch die martialische Wortwahl des Bundesinnenministers, Herr Staatssekretär, im Zusammenhang mit dem geplanten BSI-Gesetz
lässt einiges ahnen. In der Pressekonferenz zum Arbeitnehmerdatenschutz am 16. Februar 2009 sprach er diesbezüglich vom Cyber-War, also vom Krieg. Ich finde, das
ist nicht ganz angemessen. Natürlich gehört die Informationstechnik zu den kritischen Infrastrukturen eines Staates. Natürlich ist es notwendig, diese zu schützen. Darin
sind wir uns alle einig. Natürlich würde im Falle einer
kriegerischen Auseinandersetzung jeder versuchen, die
IT-Strukturen anzugreifen und zu sprengen. Aber bei Hackerangriffen, Viren und Würmern von Cyber-War zu
sprechen, ist wohl doch etwas überzogen und impliziert
wieder Kategorien des Kriegsrechts. Ich sage es einmal
ganz überspitzt: Ein Feindstrafrecht für Hacker darf es
aus unserer Sicht nicht geben.
({0})
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik bekommt neue Aufgaben. Das hat mit Sicherheit leider nur begrenzt etwas zu tun. Das BSI bekommt Aufgaben, die weit darüber hinausgehen, nämlich durch die
Zertifizierung von Verschlüsselungstechnologien oder
Ähnlichem die Sicherheit in der IT des Bundes zu verbessern. Die neuen Aufgaben zur automatisierten Erhebung und Auswertung von Protokolldaten an den
Schnittstellen der Behörden bedeuten im Klartext: Wer
die Seiten des Bundesverwaltungsamts, des BKA, des
BMI oder anderer Behörden des Bundes im Internet aufruft, dessen Eingaben, Klicks und Verweildauer auf den
Seiten werden gespeichert und ausgewertet, und zwar
ohne Anonymisierung und ohne Pseudonymisierung,
nämlich im Klartext. Damit kann das BSI die gesamte
Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger mit Behörden abhören und auswerten, den Besuch von Internetseiten, E-Mails, Internettelefonie und Chats. Wir finden,
das geht zu weit.
({1})
Damit aber leider nicht genug. Diese Daten dürfen
dann auch noch an die Sicherheitsbehörden weitergegeben werden, an die Polizei, an die Staatsanwaltschaften
und ebenso an die Nachrichtendienste. Das BSI wird zur
allgemeinen Polizei- und Schnüffelbehörde; denn es soll
nicht nur Hacker und Trojaner verfolgen, sondern allem
auf die Spur kommen, was vielleicht illegal im Netz ist.
Weil bei so viel Schnüffelei auch einmal etwas Privates
dabei sein könnte, sollen „Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung“ im Zweifel entweder
gelöscht werden oder - das, Herr Staatssekretär, ist wirklich einmalig - „unverzüglich dem Bundesministerium
des Innern“ vorgelegt werden.
({2})
Zu Risiken und Nebenwirkungen der Telekommunikation für die Menschen fragen Sie bitte Ihr freundliches
BMI! Ich glaube, so hat sich das Bundesverfassungsgericht das wirklich nicht vorgestellt.
({3})
Da steht nichts von einer unabhängigen richterlichen
Kontrolle. Da steht nichts davon, dass Eingriffe in den
Kernbereich erst einmal zu unterbleiben haben, so wie es
uns das Bundesverfassungsgericht auf den Weg gegeben
hat. Erst einmal wird automatisch aufgezeichnet. Wie
aus der Antwort auf unsere Kleine Anfrage spricht daraus: Die Bundesregierung hält den Kernbereichsschutz
offensichtlich nur für ein Beweisverwertungsverbot.
Auch da haben Sie das Bundesverfassungsgericht falsch
verstanden.
Immerhin hat das der Bundesrat in seiner bemerkenswerten Stellungnahme deutlich hervorgehoben. Bei der
Gegenäußerung der Bundesregierung muss aus meiner
Sicht hingegen von einem vorgezogenen Aprilscherz
ausgegangen werden. Da steht:
Die Daten werden auch nicht anlasslos erhoben,
sondern nur, um Gefahren für die Informationstechnik des Bundes abzuwehren.
Ich versuche einmal, mir das im nicht virtuellen Raum
vorzustellen: Die Polizei erhebt Daten von allen Autofahrern an allen Autobahnauffahrten - also Kennzeichen, Geschwindigkeit, Zahl der Insassen -, weil ein
Verkehrssünder dort fahren könnte. Das entspräche dem,
was Sie hier vorhaben. Ich finde, das geht nun wirklich
viel zu weit.
({4})
Mehr Sicherheit in der IT setzt übrigens Transparenz
voraus. Gerade hier wird aber ein Riegel vorgeschoben.
Findet das BSI Schadsoftware oder spürt es Sicherheitslücken auf, braucht es das der Öffentlichkeit nicht mitzuteilen, obwohl das eigentlich Sinn der Sache wäre.
Mit diesem Gesetzentwurf soll auch das Telemediengesetz geändert werden. Der Dienstanbieter soll nach
dem Willen der Bundesregierung künftig nicht nur Verbindungsdaten, sondern auch Nutzungsdaten erheben.
Das heißt, er soll feststellen, wer wie lange auf welcher
Seite im Internet gewesen ist. Auch das ist eine neue Qualität Ihres Handelns und öffnet dem „gläsernen Surfer“
wirklich Tür und Tor. Der Bundesrat hat zum Glück in
seiner Stellungnahme, dem Vorschlag Hessens und Baden-Württembergs folgend, eine Einschränkung vorgeschlagen: Nur bei konkretem Verdacht soll die Möglichkeit zur Aufzeichnung erlaubt sein. Wir hoffen, dass sich
die Bundesregierung dem anschließt.
Ich glaube, ich bin die letzte Rednerin des heutigen
Tages. Ich darf mich an dieser Stelle bei Ihnen bedanken,
dass Sie so viel Geduld aufgebracht haben. Ich bedanke
mich aber auch bei denen, die hinter den Kulissen fünf
Minuten länger arbeiten müssen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Die übrigen Reden werden zu Pro-
tokoll genommen. Es handelt sich um die Reden von
Clemens Binninger, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD,
Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/
Die Grünen1).
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/11967 und 16/12225 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Das war eben zwar die letzte Rede, aber wir haben
noch eine ganze Reihe von Tagesordnungspunkten abzuarbeiten. Ich bitte, mich dabei noch ein wenig zu begleiten; denn allein kann ich das nicht machen.
({0})
- Im Übrigen brauche ich Sie auch noch zur Abstim-
mung.
1) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Monika Knoche, Heike Hänsel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Öffentlich finanzierte Pharmainnovationen
zur wirksamen Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten in den Entwicklungsländern einsetzen
- Drucksache 16/12291 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wir nehmen die Reden zu Protokoll. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Michael
Kretschmer, CDU/CSU, René Röspel, SPD,
Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Dr. Karl Addicks, FDP,
Dr. Petra Sitte, Die Linke, und Ute Koczy, Bündnis 90/
Die Grünen.
Gesundheit ist im wahrsten Sinn des Wortes ein kostbares und kostspieliges Gut. Die Bundesregierung investiert in den pharmazeutischen und biomedizinischen Bereich in beträchtlichem Umfang. Allein für die vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung eingeleitete „Pharma-Initiative“, die die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten zum Ziel hat, werden
bis zum Jahr 2011 über 800 Millionen Euro investiert.
Und gerade für den Bereich der vernachlässigten Krankheiten gibt es seit Jahren viele internationale Initiativen.
So stellen wir uns einmal mehr die Frage, wieso wir
gerade im Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten nur
langsam vorankommen. Dabei geht es immerhin um das
Leiden und Sterben von vielen Millionen Menschen jährlich. Nicht nur an den drei großen todbringenden Krankheiten - Tuberkulose, Malaria und Aids - sterben jährlich
6 Millionen Menschen. Auch an scheinbar banalen
Durchfall- und Atemwegserkrankungen und an armutsbedingten Tropenkrankheiten, wie etwa der Schlafkrankheit oder Lepra, sterben Millionen Erwachsene und Kinder.
Laut Bericht der WHO sind mehr als eine Milliarde
Menschen mit einer oder mehreren vernachlässigten
Krankheiten infiziert. Der Grund: Neben unsauberem
Trinkwasser und mangelnden sanitären Anlagen fehlt es
in vielen Teilen der Welt immer noch an einer hinreichenden gesundheitlichen Versorgung. Immer noch ist ein
Drittel der Weltbevölkerung von einer essenziellen medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Eine der Hauptursachen ist der enorme finanzielle und zeitliche Aufwand
für die Entwicklung von Medikamenten wie Impfstoffen.
Das Risiko, dass sie es nicht bis zur Produktionsreife
schaffen, ist dabei so hoch, dass viele Pharmaunternehmen die Finger davon lassen.
Der Markt für Impfstoffe gegen Armutskrankheiten ist
hiervon besonders betroffen. Pharmafirmen sehen hier
keine ökonomischen Anreize, weshalb sie die Forschung
in diesem Bereich kaum vorantreiben. Um sich eine Vorstellung davon zu machen, über welche Beträge wir bei
der Entwicklung eines Impfstoffs sprechen: Die Impfstoffentwicklung lässt sich grob in drei Stufen aufteilen: In der
ersten Stufe wird Grundlagenforschung betrieben. Sie
kostet bis zur präklinischen Forschung mehrere Millionen Euro. In der zweiten Stufe erfolgt die Prüfung der Toxizität und die Weiterentwicklung bis zum Eintritt in die
klinische Phase. Diese verschlingt wiederum einige Millionen Euro. Dabei muss man wissen, dass bis hier völlig
unklar ist, ob es sich überhaupt um einen erfolgversprechenden Impfstoffkandidaten handelt oder nicht. Die
dritte Stufe umfasst die klinischen Studien. Diese teilen
sich in drei Phasen auf. In der ersten Phase erfolgt für einige Millionen Euro die Sicherheitsprüfung. In der zweiten Phase erfolgt für um die zehn Millionen Euro die Prüfung von Sicherheit und Effektivität. Und in der dritten
Phase erfolgt die Prüfung der Schutzwirkung, welche
über viele Jahre hinweg durchgeführt wird und bei der die
Kosten schnell bis an den dreistelligen Millionenbereich
gelangen. Die dritte Stufe ist also die kosten- und zeitintensivste der ganzen Entwicklung. Das sind alles grobe
Schätzwerte, die von Studie zu Studie divergieren. Aber
ich glaube, es ist deutlich geworden, weshalb wir angesichts der Kosten und des Risikos Probleme haben, pharmazeutische Unternehmen zu bewegen, Grundlagenforschung für die Bekämpfung von vernachlässigten
Krankheiten zu betreiben.
Pharmazeutische Unternehmen sind zunehmend nur
noch bereit, an bereits vorliegenden, erfolgversprechenden Impfstoffkandidaten mit hinreichenden Informationen aus der präklinischen und frühen klinischen Entwicklung weiterzuforschen. Das heißt, sie kaufen die
Impfstoffkandidaten zu Beginn der dritten, kostspieligen
und zeitaufwendigen Stufe der Impfstoffentwicklung und
forschen weiter. Die Gefahr, dass der Impfstoffkandidat
ungeeignet ist, ist zu diesem Zeitpunkt geringer. Trotzdem
schafft es nur ein kleiner Teil bis zur Zulassung. Wie begegnen wir diesem Problem? Auch wenn wir den Druck
auf die Pharmaunternehmen stetig erhöhen, können wir
sie doch nicht zur Forschung zwingen. Die Bundesregierung fährt aus diesem Grund seit einigen Jahren einen
anderen zielführenden Weg. Das Bundesministerium für
Bildung und Forschung hat sich bereits mehrfach an der
Entwicklung erfolgversprechender Impfstoffkandidaten
beteiligt, indem es die von Agenturen wie der Vakzine
Projekt Management GmbH ({0}) betriebene Impfstoffentwicklung von der Grundlagenforschung bis hin zur
frühen klinischen Forschung fördert, also bis zu der
Phase, an der Pharmaunternehmen zur Übernahme und
Fortführung der Forschung bereit sind. Durch diese Förderung erhalten Impfstoffkandidaten mit einem hohen
Forschungsrisiko und einer wichtigen gesundheitspolitischen Bedeutung überhaupt erst die Chance auf Weiterentwicklung in der sehr aufwendigen und kostspieligen
Phase der klinischen Entwicklung.
Dabei fördert das Bundesministerium für Bildung und
Forschung nicht nur die Grundlagenforschung und Weiterentwicklung von Impfstoffkandidaten, die es ohne
diese Initiative nicht geben würde. Es bemüht sich auch
aktiv um die Verwertung und weitere Entwicklung der
Forschungsergebnisse und darum, günstige Lizenzkonditionen für Verkäufe von Medikamenten in Entwicklungsländer zu vereinbaren. Der Verhandlungsspielraum ist
durch die Schwierigkeit, Interessenten für die Weiterentwicklung von Impfstoffen für vernachlässigte Krankheiten zu finden, eingeschränkt. Aber erst und nur durch
diesen Weg kommt der Impfstoff überhaupt seiner Anwendung näher. Und die durch den Verkauf der Lizenz gewonnenen Einnahmen werden der Erforschung neuer
Impfstoffkandidaten zugeführt. Dabei arbeitet die Bundesregierung weiter an Strategien, wie nicht nur die Forschung an Impfstoffen für vernachlässigte Krankheiten,
sondern auch die Vermarktung zu erschwinglichen Preisen gesichert werden kann.
Der von uns als Regierungsfraktionen erarbeitete Antrag „Deutschlands globale Verantwortung für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten - Innovation
fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern“
fordert genau solche Strategien. Wir haben es auch trotz
Haushaltskonsolidierungsplan geschafft - sowohl über
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung als auch über den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung -, Mittel
für zusätzliche Forschungsvorhaben zu vernachlässigten
Krankheiten in den Haushalt 2009 einzubringen. Der
Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten ist lang und
schwer. Aber wir haben den Kampf entschlossen angetreten.
Die Situation ist erschreckend. Laut WHO starben allein im Jahr 2006 1,7 Millionen Menschen an Tuberkulose. Neben dieser „weißen Pest“ raffen aber auch HIV/
Aids und Malaria Millionen von Menschen jährlich hin.
Das menschliche Leid, welches hinter diesen Zahlen
steht, können wir uns gar nicht ausmalen. Hinzu kommen
weniger bekannte Tropenkrankheiten wie Elefantiasis
oder Flussblindheit, die zwar nicht tödlich sind, aber
trotzdem großes Leid verursachen. Alle diese Krankheiten wüten wiederum vorwiegend in ärmeren Ländern in
Afrika und Asien.
Vor dem Hintergrund dieser erschreckenden Zahlen
will ich ausdrücklich appellieren, sich von der Bezeichnung „vernachlässigte“ Krankheiten nicht irreführen zu
lassen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, es handele
sich etwa um vernachlässigbare Krankheiten, nur weil sie
in unseren Breiten oder unserer Gesellschaft keine Rolle
spielen. Dieser Eindruck entsteht nur dort, wo der Blick
nicht über den Tellerrand hinausgeht, man sich in der
mitunter trügerischen Sicherheit wiegt, man selbst könne
davon nicht betroffen sein, oder wo es an Solidarität mit
betroffenen Menschen in anderen Ländern mangelt.
Meine Erfahrung ist, dass auf Nachfrage in Veranstaltungen allenfalls noch die sogenannte Kriegsgeneration
konkrete Erfahrungen oder Erinnerungen beispielsweise
an Tuberkulose hat. Dennoch zeigen die Zahlen, welche
Bedeutung diese Krankheit nach wie vor hat und auch
wieder bekommen wird, wenn wir nicht mit gemeinsamer
Kraft gegensteuern.
Aber auch Europa ist schon längst nicht mehr verschont. In Osteuropa ist Tuberkulose verbreitet. Eine
Herd für Neuinfektionen sind offenbar die russischen Gefängnisse. So werden laut einer Studie jedes Jahr 30 000
Gefangene mit Tuberkulose aus russischen Gefängnissen
entlassen. Aber auch in Deutschland tritt Tuberkulose
auf. 2006 starben daran circa 600 Menschen bei zunehmend auftretenden Resistenzen des Erregers gegenüber
Medikamenten.
Die sogenannten vernachlässigten Krankheiten sind
für Deutschland somit eine moralische und entwicklungspolitische, aber auch gesundheits- und forschungspolitische Herausforderung. Eine Lösung liegt neben präventiven Maßnahmen, wie zum Beispiel besserer Hygiene
und ein gutes Gesundheitssystem, in der Pharmaforschung und einem bedarfsgerechten Zugang zu Medikamenten. Das beinhaltet Maßnahmen hier in Deutschland
sowie Anstrengungen bzw. Unterstützungen in den besonders stark betroffenen Ländern.
Bereits die rot-grüne Bundesregierung hat sich dieser
Verantwortung gestellt, und die Große Koalition setzt
dies fort. Allein für Tuberkulose hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Zeitraum 2004 bis
2010 für Forschungsvorhaben 6 Millionen Euro bereitgestellt. Hinzu kommen noch einmal fast 28 Millionen Euro
für übergreifende Programme, in denen auch an Tuberkulose geforscht wird.
Aber nicht nur in der Politik wird das Problem erkannt. Auch die deutsche Forschung verstärkt ihre Anstrengung in diesem Bereich. So hat die Deutsche Forschungsgesellschaft ein Afrika-Programm mit dem
Schwerpunkt „Tropische Infektionskrankheiten“ ausgeschrieben, das bereits jetzt überzeichnet ist und eine Vielzahl erfolgversprechender Projekte erwarten lässt.
Das Parlament hat sich damit aber nicht zufriedengegeben. In den letzten Haushaltsverhandlungen haben die
Koalitionsfraktionen deshalb darauf hingewirkt, dass die
Gelder zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten
für 2009 noch einmal um 3 Millionen Euro erhöht worden
sind. Forschungs-, Entwicklungs- und Haushaltspolitiker
der Koalition arbeiten auch in dieser Frage eng zusammen. Das Thema ist bei uns als Querschnittsthema, wie
im Antrag gefordert, bereits erkannt und angegangen
worden.
Das dokumentiert auch der vor fast einem Jahr von
meinem Fraktionskollegen Dr. Wolfgang Wodarg dankenswerterweise initiierte und in den Bundestag eingebrachte Antrag „Deutschlands globale Verantwortung
für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten - Innovation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle
sichern“, Drucksache 16/8884, der nicht nur auf die Problematik hinweist, sondern auch eine Reihe von Forderungen abdeckt, die jetzt auch der vorliegende Antrag der
Fraktion der Linken aufgreift. Ich halte nicht nur deswegen viele Punkte aus dem Antrag der Linksfraktion für
vernünftig und unterstützenswert. Allerdings können wir
ihn in anderen Punkten nicht unterstützen, weil er nicht
ausgegoren genug ist und eher kontraproduktiv wirken
würde.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ein Beispiel: Die Forderung „10 Prozent der für die
Pharmainitiative verausgabten Mittel“ - das wären über
80 Millionen Euro - zukünftig direkt für die Forschung
zur Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten auszugeben, geht an der Realität vorbei und muss als Aktionismus bezeichnet werden. Wir haben auf dem parlamentarischen Abend des „Stop-TB-Forums“ im Oktober
2008 erfahren können, dass die deutsche Forschung in
diesem Bereich gut aufgestellt und die Kapazitäten ausgenutzt sind. Nun eine „Geldlawine“, die zudem noch aus
anderen Bereichen der Gesundheitsforschung abgezogen
werden soll, anzubieten, ohne dass das Geld sinnvoll genutzt werden könnte, ist schlicht der falsche Weg. Sinnvoller ist der von uns beschrittene Weg des kalkulierbaren,
kontinuierlichen Aufwuchses in diesem Forschungsbereich, auf den sich Forscher und Forscherinnen einstellen können. Es gilt hier die Kapazitäten nachhaltig auszubauen.
Verständnis habe ich für die Kritik der Antragsteller
am internationalen Patentsystem, die aber auch schon im
Koalitionsantrag des letzten Jahres zum Ausdruck
kommt. Nachvollziehbar finde ich auf den ersten Blick
auch die kritische Befassung mit der vom BMBF geförderten Vakzine Projekt Management GmbH, VPM, bei
der man sich gerne idealerweise vorstellen kann, dass die
entwickelten Produkte und Impfstoffe am besten kostenfrei an Betroffene in den Entwicklungsländern abgegeben
werden würden.
Allerdings können wir realistischerweise auch nicht
ignorieren, dass wir uns in einem Spannungsfeld bewegen, das so einfach nicht aufzulösen ist. VPM wird durch
das BMBF so gefördert, dass Vakzinekandidaten bis zur
Phase eins einer klinischen Prüfung entwickelt werden
können. Ohne diese staatliche Förderung wäre der Impfstoff vermutlich in einem frühen Entwicklungsstadium
verblieben und hätte aller Voraussicht nach keine Chance
auf Weiterentwicklung gehabt, weil er für kommerzielle
Partner - leider - noch nicht interessant bzw. ertragreich
genug gewesen wäre. Eine allein staatliche Finanzierung
der Weiterentwicklung von Impfstoffkandidaten bis zur
Marktzulassung würde sehr wahrscheinlich sowohl die finanziellen wie auch rechtlichen Möglichkeiten des Staates sprengen. Eine finanzielle Unabhängigkeit der Weiterentwicklung nach der Anschubfinanzierung durch den
Staat wird nur erreicht, wenn ein privater bzw. kommerzieller Investor entweder mit humanistischem Anliegen
auftritt oder seine zu erwartenden Investitionen durch
ausreichende Vermarktbarkeit refinanzieren kann. Das ist
im Bereich vernachlässigter Krankheiten, für die es entweder zu wenig Betroffene oder zu wenig kaufkräftige Betroffene gibt, leider nicht zu erwarten, wenn die Vermarktungsmöglichkeiten auch noch eingeschränkt werden.
Davon unabhängig bleiben wir bei unserer Aufforderung an das BMBF, im Rahmen seiner Möglichkeiten
seine Verhandlungsspielräume zu nutzen, um einen begünstigten Zugang für Entwicklungsländer zu ermöglichen.
Der Ausbau von Forschung und Gesundheitssystemen
in den betroffenen Gebieten muss verstärkt werden. Dies
passiert bereits durch nationale, auch europäische Finanzierung. Doch in Ländern, in denen nicht einmal kontinuierliche Wasser- und Stromversorgung gewährleistet
sind, wird der Aufbau, geschweige denn der Ausbau von
Forschungskapazitäten nur sehr langsam vorankommen.
Es braucht somit auch Zeit.
Mit dem Thema öffentliche klinische Studien in armen
Ländern werden wir uns noch einmal intensiver aufgrund
der EU-Mitteilung „Partnerschaft Europas und der Entwicklungsländer im Bereich klinischer Studien“ im Ausschuss beschäftigen. Ich möchte an dieser Stelle aber
schon einmal sagen, dass man an dieses Thema sehr differenziert herangehen sollte. Der Kapazitätsausbau von
Forschungsinfrastruktur und Wissen ist richtig. Aber eine
Verlagerung von klinischen Studien in Entwicklungsländer aus rein finanziellen Gründen darf es nicht geben.
Denn dies wäre aus verschiedenen Gründen problematisch. So ist die Vergleichbarkeit nicht immer gegeben.
Aber besonders die Einhaltung ethischer Grundsätze bei
der Durchführung klinischer Studien ist in Entwicklungsländern viel schwerer zu überprüfen. Dabei darf der
Schutz von Menschen im Rahmen von klinischen Studien
nicht vom Durchführungsort der Untersuchung abhängig
sein.
Wie Sie sicherlich wissen, habe ich mich bereits in der
Vergangenheit sehr kritisch mit dem TRIPS-Abkommen
auseinandergesetzt. Dabei musste ich aber auch die
Grenzen der Handlungsmöglichkeiten eines deutschen
Parlamentariers erkennen. Einige Kritikpunkte teile ich
deshalb durchaus. Ich glaube aber nicht, dass uns die Herausnahme des Abkommens aus dem WTO-System wirklich weiterbringt. Ich plädiere vielmehr für eine Reformierung bzw. Weiterentwicklung von TRIPS. Insgesamt
scheinen mir die Vorschläge des Koalitionsantrages aus
dem letzten Jahr zielführender zu sein.
Lassen sie mich zunächst ein Lob aussprechen: Es ist
erfreulich, dass die Linkspartei jetzt auch auf das Thema
„vernachlässigte Krankheiten“ aufmerksam geworden
ist - fast ein Jahr, nachdem die Große Koalition einen Antrag zum Thema eingebracht hat. Es zeugt allerdings von
wenig Kreativität und Engagement, dass der Antrag fast
eins zu eins abgeschrieben wurde.
Grundsätzlich haben Sie aber viele Punkte richtig aus
unserem Antrag übernommen: Während wir hier in
Deutschland und Europa über medizinische Innovationen
diskutieren und die Lebenserwartung immer weiter steigt,
sterben in vielen Entwicklungsländern immer noch Millionen Menschen an Krankheiten, die eigentlich behandelbar wären. Insgesamt sind es jährlich knapp 13 Millionen
Menschen. Ich spreche dabei nicht nur von den drei großen
todbringenden Krankheiten Tuberkulose, Malaria und
HIV/Aids. Vor allem an scheinbar banalen Durchfall- und
Atemwegserkrankungen sterben Tausende Kinder und
Erwachsene jedes Jahr. In vielen Entwicklungsländern
liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bis heute um
bis zu 30 Jahre unter der in den Industriestaaten. Hinzu
kommt, dass viele der vernachlässigten Krankheiten zwar
nicht tödlich sind, aber die Lebensqualität und die Produktivität der betroffenen Menschen erheblich mindern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn wir Entwicklungsländern aus der Armut helfen wollen, wenn wir in Zukunft starke Partner wollen, mit denen
wir in absehbarer Zeit auf gleicher Augenhöhe auch wirtschaftlich zusammenarbeiten können, dann müssen wir in
die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten investieren.
Zwei grundlegende Punkte stehen im Mittelpunkt der
Problematik: zum einen die fehlenden Innovationen und
zum anderen die mangelnde Versorgung der Menschen in
Entwicklungsländern mit vorhandenen Medikamenten.
Zunächst zu den Problemen bei den Innovationen. So,
wie wir es in den vergangenen Monaten so häufig auf den
Finanzmärkten sehen konnten, ist es auch bei der medizinischen Forschung: Es wird nicht gefragt, was den
Menschen dient, sondern nur, wo es möglichst schnell die
höchste Rendite gibt, am besten schon morgen. Langfristiges Denken ist bei den Pharmaunternehmen kaum zu
erwarten. Dass eine Stärkung armer Länder auch in
Zukunft Abnehmer bringt, wird kaum in Betracht gezogen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Nur
1,3 Prozent aller seit 1975 auf den Markt gebrachten
Medikamente wurden für die Bekämpfung von tropischen
Krankheiten und Tuberkulose entwickelt. Dabei wurde
weltweit noch nie so viel in Forschung und Entwicklung
von neuen Medikamenten investiert wie in den letzten
zwei Jahrzehnten. Das Interesse gilt jedoch eher Haarausfall, Fettleibigkeit, Impotenz oder anderen „Krankheiten“ reicher Länder. Hier lässt sich Profit machen,
und hier hat die Pharmaindustrie ein Interesse, zu investieren. Denguefieber, Schlafkrankheit, oder Wurmerkrankungen wie die Bilharziose werden kaum beachtet.
Eine Lösung des Problems - auch das wurde bereits im
Antrag der Koalition vergangenes Jahr beschlossen - ist
die Stärkung öffentlicher Investitionen im Bereich
vernachlässigter Krankheiten. Zum Beispiel auf der EUEbene ist hier eine stärkere Förderung öffentlich finanzierter medizinischer Forschung vonnöten. Am besten
und schnellsten entwickelt sich medizinisches Wissen in
offenen internationalen Netzwerken, denen die nötigen
Mittel bereitgestellt werden. Deswegen freue ich mich, dass
wir nächste Woche im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das EDTCP-Programm
- das europäische Programm „Partnerschaft Europas
und der Entwicklungsländer im Bereich klinischer Studien“ - auf der Tagesordnung haben. Dieses wichtige
Netzwerk fördert die eigenen Forschungsaktivitäten der
Entwicklungsländer und bekämpft zielgerichtet die Krankheiten HIV, Malaria und Tuberkulose. Das Programm ist
jedoch zeitlich und inhaltlich begrenzt. Deswegen werde
ich mit meinen Kollegen im Ausschuss die EU auffordern,
dieses Programm zu verlängern und es auf andere vernachlässigte Krankheiten auszuweiten. Die öffentliche
Forschungsförderung muss massiv zunehmen und aktiv
auch von Deutschland unterstützt werden.
Ein guter Anfang ist auf jeden Fall die Initiative der
WHO, die Verantwortung für die Versorgung mit Medikamenten verstärkt in Bereichen zu übernehmen, wo der
Markt eine Versorgung nicht leistet. Im Mai 2008 wurde
durch die Weltgesundheitsversammlung beschlossen, die
Erforschung von Arzneimitteln für vernachlässigte
Krankheiten zu fördern. Dieser Prozess in der WHO
wurde im vergangenen Jahr durch den Antrag der Koalition auf nationaler Ebene unterstützt und begleitet.
Der zweite relevante Punkt in der Problematik ist die
Versorgung der Kranken mit bereits entwickelten Medikamenten. Etwa ein Drittel der Menschheit ist bis heute von
essenziellen Medikamenten ausgeschlossen. In einigen
Teilen Afrikas, Lateinamerikas oder Indiens liegt der
Anteil der Bevölkerung ohne Zugang zu einer Versorgung
mit den wichtigsten Medikamenten bei mehr als 50 Prozent. Zuallererst muss hier intensiv mit den Entwicklungsländern zusammengearbeitet werden. Die Versorgung der
kranken Menschen darf nicht an mangelnder Kapazität
oder an Korruption scheitern; dann wäre jegliche Anstrengung, Medikamente zu entwickeln, ad absurdum geführt.
Konkret ist es wichtig, Entwicklungsländer bei der
Anwendung der TRIPS-Flexibilitäten zu unterstützen.
TRIPS muss so ausgelegt werden, dass Länder nicht davon abgehalten werden, Medikamente für die öffentliche
Gesundheitsversorgung herzustellen und einzusetzen.
Der Schutz des geistigen Eigentums, ein Punkt, den die
Bundeskanzlerin immer wieder betont hat, ist wichtig. Im
Bereich der medizinischen Forschung ist der Wettbewerb
um Patente jedoch tödlich für alle, die aus finanziellen
Gründen nicht mithalten können. Es ist unsere Pflicht,
dafür zu sorgen, dass Arzneimittelentwicklung und die
Forschungsanstrengungen der Pharmabranche nicht nur
von Absatzerwägungen und Marktchancen abhängen,
sondern vor allem vom gesundheitlichen Bedarf gerade
der bedürftigsten Teile der Weltbevölkerung bestimmt
werden.
In vielen Punkten kann ich den Forderungen aus dem
Antrag der Linken nur zustimmen. Vieles wurde gut aus
unserem Antrag aus dem letzten Jahr übernommen. Allerdings haben Sie elementar wichtige Dinge übersehen:
Die Prävention muss nach wie vor ein Schwerpunkt der
weiteren Förderung sein; und das taucht leider in Ihrem
Antrag überhaupt nicht auf. Für jeden Aids-Patienten,
der eine antiretrovirale Therapie erhält, werden mindestens doppelt so viele neue HIV-Infektionen gezählt.
Deshalb ist es richtig, öffentlich geförderte Forschungsvorhaben vordringlich auf die Entwicklung von präventiven Maßnahmen und Impfstoffen zu konzentrieren.
Ich möchte an dieser Stelle im Hinblick auf die Äußerungen des Papstes betonen, wie wichtig Prävention ist.
Die Behauptung des Papstes, die Benutzung von Kondomen würde das HIV/Aids-Problem in Afrika nur verschlimmern, ist nicht nur aus entwicklungspolitischer,
sondern auch aus menschlicher Sicht völlig inakzeptabel.
In vielen Ländern ist die Lage dramatisch. Präventionsmaßnahmen, darunter die Verteilung von Kondomen,
tragen dazu bei, die Menschen vor der Übertragung von
HIV zu schützen. Durch die Äußerung des Papstes wird
langjährige und aufwendige Aufklärungs- und Präventionsarbeit in unverantwortlicher Weise konterkariert.
Aber zurück zum Thema Forschung. Die Mittel für die
Förderung der Forschung im Bereich vernachlässigter
Krankheiten sind im Haushaltsjahr 2009 angewachsen;
auch hat Deutschland im Jahr 2008 fast 200 Millionen
Euro in den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids,
Zu Protokoll gegebene Reden
Tuberkulose und Malaria eingezahlt. Das ist ein Anfang,
allerdings noch immer viel zu wenig. Wir werden uns weiter für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten einsetzen und haben dafür Anfang letzten Jahres mit unserem
Antrag eine gute Grundlage geschaffen. Ich begrüße es
ausdrücklich, dass die Linkspartei unsere Forderungen
mitträgt und Teile unseres Antrags gleich übernommen hat.
Über Weiterentwicklungen, die mehr sind als ein lasches
Wiederkäuen unserer Anträge, würde ich mich auch in
Zukunft freuen. Für die weitere Arbeit im konkreten Fall
gilt jedoch: Wir brauchen keine Kopien der Linken, sondern bleiben lieber bei unserem Original.
Die internationale Gemeinschaft hat sich mit den acht
Millennium Development Goals, MDGs, zu verstärkten
Anstrengungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bis zum Jahr 2015 verpflichtet. Die Verbesserung
der Gesundheit in Entwicklungsländern haben drei der
acht MDGs zum Ziel: die Verringerung der Kindersterblichkeit, die Verbesserung der Gesundheit der Mütter, die
Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und von anderen
übertragbaren Krankheiten.
Leider sind die Zwischenmeldungen, die uns in Bezug
auf die Erreichung der Gesundheits-MDGs erreichen,
nicht in allen Teilen der Welt positiv. Wir werden in Subsahara-Afrika vermutlich keines der acht MDGs erreichen. Neben einigen Fortschritten treffen uns auch immer
wieder Rückschritte. Uns bleibt noch viel zu tun!
Die Zahlen verdeutlichen die enormen Herausforderungen, vor denen wir stehen: In Subsahara-Afrika liegt
die Kindersterblichkeit bei 160 Todesfällen pro 1 000 Lebendgeburten. Jedes sechste Kind stirbt vor dem Erreichen des fünften Lebensjahrs, viele an tropischen Krankheiten. Allein durch HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose
und andere tropische Krankheiten gehen jedes Jahr
140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit verloren.
Hinzu kommen Sterbefälle durch vermeidbare und leicht
behandelbare Krankheiten wie Durchfallerkrankungen,
hervorgerufen durch schlechte oder nichtvorhandene sanitäre Einrichtungen. Eine bisher wenig beachtete Todesursache stellen armutsbedingte Tropenkrankheiten wie
Wurmerkrankungen, Flussblindheit, Denguefieber oder
auch die Schlafkrankheit dar. Wenn auch nicht immer lebensbedrohlich, sind diese Krankheiten mit viel Leid, Behinderungen und Beeinträchtigungen im Alltag der Betroffenen verbunden. Die Zahl der Menschen, die unter
tropischen Krankheiten leidet, ist erschreckend hoch und
vielen nicht bewusst: Eine Milliarde Menschen leidet unter tropischen Krankheiten. Für die meisten gibt es bisher
noch keine oder nur unzureichende Therapiemöglichkeiten.
Besonders die Bekämpfung von vernachlässigten
Krankheiten muss mit verstärkten Anstrengungen angegangen werden. Wir haben uns bereits im letzten Jahr in
einer Debatte mit diesem Thema befasst. Leider sind die
Ergebnisse der Bundesregierung in diesem Bereich mehr
als ernüchternd. Lediglich eine Etaterhöhung im Bundesministerium für Bildung und Forschung um 3 Millionen
Euro für den Bereich der vernachlässigten Krankheiten
ist für das Jahr 2009 zu verzeichnen. Anstrengungen sehen für mich anders aus.
Angesichts des nicht ausreichenden Willens der Bundesregierung müssen wir immer wieder diese Debatte in
den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken. Die gewaltigen
Herausforderungen im Bereich der Wirkstoffforschung
müssen die Privatwirtschaft und die Politik gemeinsam
angehen und nach neuen Möglichkeiten suchen, um diese
Herausforderungen zu bewältigen. Nur wenn alle Partner - Politik, Wirtschaft und Wissenschaft - international
gemeinsam an dieser Herausforderung arbeiten, wird
nachhaltig eine Verbesserung der Lage zu erreichen sein.
Neue Modelle der Forschungsförderung sowie die Förderung von Public Private Partnerships, PPP, müssen dabei
stärker in den Fokus der Debatte rücken. Bisher ist die
Bundesregierung eher zurückhaltend in ihrem Engagement in diesem Bereich, und das, obwohl es bisher sehr
erfolgreiche PPPs gibt. Allein im Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird
das Instrument der PPP zur Erforschung und Entwicklung armutsbedingter, tropischer und vernachlässigter
Krankheiten in einem Zeitraum von zwölf Jahren mit
circa 7 Millionen Euro gefördert. Hier, meine ich, sollte
man sich in der Bundesregierung Gedanken machen, ob
da nicht mehr Engagement nötig und auch möglich ist.
Aber auch eine kohärente Strategie der Bundesregierung bei der Bekämpfung von tropischen Armutskrankheiten ist dringend vonnöten. Aus der Wissenschaft und
Wirtschaft wird immer wieder auf die ungeklärten Zuständigkeiten bei den beteiligten Ministerien - BMZ,
BMG und BMBF - verwiesen. Darüber hinaus muss ein
Konzept von der Bundesregierung vorgelegt werden, das
gemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft und Politik erarbeitet wird. Denn Wirtschafts- und Wissenschaftsförderung bringt auch für die Entwicklungszusammenarbeit
Vorteile. Diese Win-win-Situation für alle Seiten muss unser Ziel sein. Wir fordern ganz klar die Bundesregierung
auf, in diesem Bereich ihrer Verantwortung gerecht zu
werden.
Mit den Worten „Wir wollen wieder zur Apotheke der
Welt werden“ verkündete Staatssekretär Meyer-Krahmer
im vergangenen Jahr die Sieger des 100 Millionen Euro
schweren Bio-Pharma-Wettbewerbs des Forschungsministeriums. Die drei hochdotierten öffentlich-privaten
Projekte befassen sich mit der effizienten Umsetzung von
Ergebnissen der Grundlagenforschung in den Pharmamarkt - das Stichwort heißt Wertschöpfung. Apotheke der
Welt sein zu wollen, heißt das aber nicht etwas anderes,
als „dem Pharmastandort neue Impulse zu geben“, wie
es der Staatssekretär ebenfalls in dem Zusammenhang erklärte?
Apotheken nehmen Apothekerpreise, so hat es zumindest der Volksmund festgestellt, Preise also, die weit über
denen liegen, die Menschen in ärmeren Regionen bezahlen können. Trotzdem rentieren sich die Preise, denn in
den wohlhabenden Ländern sind sie bezahlbar. Und damit die Verwertungskette in diesen Gegenden nicht ins
Stocken gerät, setzen die Pharmafirmen ihre Patente und
Verwertungsrechte anderswo auch mithilfe von Gerichten
durch. Aktuell verklagt der deutsche Bayer-Konzern die
indische Regierung, weil diese die Lizenz zur Herstellung
Zu Protokoll gegebene Reden
eines Krebsmedikamentes an einen einheimischen Hersteller erteilt hatte, obwohl noch Patentschutz besteht.
Nach der Indienreise des Forschungsausschusses weiß
ich, was dort trotz des wirtschaftlichen Wachstums für ein
unglaubliches Elend herrscht. Eine Mehrheit der Bevölkerung kämpft um das tägliche Überleben. Es ist ein
Skandal, dass eine Firma wie Bayer ihre monopolistischen Rechte auf gerichtlichem Wege durchzusetzen versucht, obwohl Indien der wichtigste Generikalieferant
nicht nur für die eigene Bevölkerung, sondern für viele
arme Länder Südostasiens ist. Wenn die Aufgabe der
„Apotheke der Welt“ darin besteht, Medikamente nur den
wohlhabenden Regionen zur Verfügung zu stellen, um die
schon jetzt exorbitanten Gewinne noch zu steigern, dann
müsste ehrlicherweise von Deutschland als „Apotheke
der Reichen dieser Erde“ gesprochen werden.
Diese Rolle spiegelt sich auch in der Forschung wider:
die Organisationen Ärzte ohne Grenzen und Oxfam haben im vergangenen Jahr das Engagement Deutschlands
bei der Suche nach neuen Wirkstoffen und Diagnostika
für die sogenannten Armutskrankheiten wie etwa Tuberkulose, Malaria und Cholera untersucht. Beide Studien
kommen zu einem niederschmetternden Ergebnis:
Deutschland tut viel zu wenig. Lediglich 0,12 Prozent des
Forschungshaushaltes wurden 2007 im Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten aufgewendet. Auch das Beispiel Tuberkulose zeigt den mangelnden Einsatz Deutschlands: Inklusive der eingeworbenen EU-Mittel wurden
9,5 Millionen Euro im Kampf gegen TBC ausgegeben,
obwohl sich die Gefahr durch neue resistente Erreger
stark vergrößert hat und mittlerweile auch in Europa wieder eine große Rolle spielt. Selbst die private Gates-Stiftung hat mehr als das Sechsfache ausgegeben, von den
140 Millionen Euro des US-amerikanischen Staates ganz
zu schweigen.
Wir haben es sehr begrüßt, dass die Koalition im laufenden Haushalt drei Millionen Euro zusätzlich zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten eingestellt hat.
Das ist jedoch nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein,
insbesondere im Vergleich mit anderen Pharmaprojekten
des Forschungsministeriums wie dem schon genannten
Biopharmawettbewerb. Ist es nicht fraglich, dass das
Millenniumsziel der weltweiten Bekämpfung von Infektionskrankheiten an zu wenig Forschungsmitteln und restriktiver Patentanwendung scheitert, während die deutsche Pharmaindustrie mit den insgesamt 800 Millionen
Euro der „Pharmainitiative“ ins Biotech-Zeitalter hineinsubventioniert werden soll?
Wir haben es mit einem drastischen Marktversagen zu
tun, denn es sind die Investitionsentscheidungen der Unternehmen, die ein stärkeres privates Engagement gegen
die Armutskrankheiten verhindern. Warum sollte eine
Firma mit Gewinninteresse an Krankheiten forschen, die
in Gegenden praktisch ohne Kaufkraft vorkommen? An
dieser Stelle sind massive öffentliche Mittel gefragt, um
ein strukturelles Problem der Arzneimittelversorgung in
privater Hand wenigstens abzumildern.
Der hier debattierte Antrag meiner Fraktion fordert
die Bundesregierung auf, aus der „Pharmainitiative für
Deutschland“ auch eine Pharmainitiative für Gesundheit
in der Dritten Welt zu machen. Stellen Sie mindestens
zehn Prozent der verausgabten Mittel direkt in den Dienst
des Kampfes gegen die in armen Ländern vorherrschenden Krankheiten! Ohnehin steigt aufgrund der Investitionszurückhaltung der Industrie der Anteil öffentlicher
Mittel in der Pharmaforschung - besonders im Grundlagenbereich. Das gibt der öffentlichen Hand auch Gestaltungsspielräume bei dem Umgang mit Patenten und anderen Rechten am sogenannten geistigen Eigentum. Der
Fall des neuen Tuberkulose-Impfstoffes VPM 1002 ging
Ende letzten Jahres bundesweit durch die Presse. Hier
wurde am öffentlich finanzierten Max-Planck-Institut für
Infektionsbiologie ein aussichtsreicher Wirkstoff entwickelt, dessen Exklusivlizenz dann vom federführenden
Wissenschaftler zur weiteren klinischen Prüfung an die
ebenfalls öffentlich finanzierte Vakzine Projekt Management VPM GmbH verkauft wurde - übrigens für 40 000
Euro und in dem guten Glauben, dass der Wirkstoff auch
weitestmöglich zur Anwendung kommt. Mittlerweile beträgt der Marktwert dieser Lizenz nach Schätzungen etwa
fünf Millionen Euro. Dieses Geld könnte die VPM gut gebrauchen, denn sie soll sich ab 2010 aus ihren eigenen Lizenzeinnahmen tragen. Den maximalen Preis bekommt
sie jedoch nur, wenn ein Pharmakonzern eine globale Exklusivlizenz erwerben kann, ohne den Zwang zur preiswerten Abgabe des Impfstoffs etwa in armen Ländern.
Und hier beginnt die Verantwortung des Forschungsministeriums: Die Aufgabe dieser mit Steuergeld finanzierten Wissenstransferagenturen wie VPM darf nicht nur die
mundgerechte Belieferung der Industrie sein. Nachhaltige Innovationspolitik muss den größtmöglichen Gemeinnutzen der Anwendung von Forschungsergebnissen
im Blick haben. Unser Antrag fordert, dass der Impfstoff
VPM 1002 nur unter der Auflage eines preisgünstigen
Zugangs für arme Länder an einen Pharmahersteller verkauft werden darf und dass in Zukunft diese Lizenzen zudem in sogenannte Patentpools für die Generikaherstellung eingebracht werden.
An guten Ideen zum Wissenstransfer in die Anwendung
mangelt es nicht - wie das eben erwähnte Beispiel des
Patentpools zeigt. Dieser bündelt eingebrachte Patente,
für die zuvor eine pauschale Gebühr entrichtet wurde,
und macht so die Herstellung von preiswerten Kombinationspräparaten möglich. Die Bundesregierung sollte zudem aktiv und auch finanziell die Entwicklung sogenannter Produktentwicklungspartnerschaften für die
Herstellung preiswerter Medikamente unterstützen. Es ist
beschämend, dass dies wegen interministerieller Abstimmungsschwierigkeiten bisher nicht gelungen ist. Wir haben in unserem Antrag weitere Vorschläge gemacht, wie
im Sinne des Millenniumsziels der Bekämpfung von
Krankheiten in den armen Regionen dieser Welt in der
deutschen Forschungspolitik umgesteuert werden kann.
Dass weltweit nur zehn Prozent der Forschungsmittel für
Krankheiten ausgegeben werden, die neunzig Prozent der
Menschen betreffen, ist eine nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit. Der HIV-Experte der WHO, Kevin de Cock,
hat recht, wenn er sagt: „Der Schutz vor den großen Infektionskrankheiten AIDS, Tuberkulose und Malaria
muss endlich ein universelles Recht sein.“
Zu Protokoll gegebene Reden
Vernachlässigte Krankheiten gelten deshalb als vernachlässigt, weil sie schlecht erforscht sind und mit veralteten Methoden bekämpft werden. Deswegen ist es
wichtig, dass dieses Thema immer wieder aufgegriffen
wird. Deswegen haben wir auch kürzlich eine Kleine Anfrage zur Entwicklung von Tuberkulose- und MalariaImpfstoffen an die Bundesregierung gestellt.
Es ist richtig, dass das Parlament über den Zusammenhang von Pharmainnovationen und vernachlässigten
Krankheiten in Entwicklungsländern diskutiert. Dazu
bietet der vorliegende Antrag eine gute Gelegenheit.
Allzu oft wird vergessen, welch ungeheure Verbesserung
der Lebensumstände in Entwicklungsländern ein Durchbruch in der Pharmaforschung bringen könnte. Unser
Grundziel ist es, die Verbesserung der Lebensumstände
der Menschen in Entwicklungsländern zu erreichen.
Dazu gehört natürlich - wie in den Millenniumsentwicklungszielen beschrieben - auch und entscheidend eine
Verbesserung des Gesundheitszustands der Menschen.
Dringend notwendig sind hierfür eine verbesserte Infrastruktur und eine bessere Gesundheitsversorgung; insbesondere der Fachkräftemangel im Gesundheitssystem ist
ein Problem, das dringend angegangen werden muss.
Heute allerdings nehmen wir das Problem der sogenannten vernachlässigten Krankheiten in den Blick. Die
Weltgesundheitsorganisation hat bereits in ihrem am
24. Mai 2008 verabschiedeten Strategiepapier weitreichende Empfehlungen für die Stärkung von Forschung
und Entwicklung zu vernachlässigten Krankheiten und
den Zugang zu Medikamenten abgegeben. Bislang ist leider zu wenig zur Umsetzung geschehen. Die Entwicklung
neuer Arzneimittel kostet viel Geld und viel Zeit. Ergebnis: Pharmaunternehmen in den Industrieländern vernachlässigen die Armutskrankheiten in ihrer Forschung,
da ihnen die Entwicklung von Medikamenten hierfür geringere Aussichten auf Gewinne verspricht, denn der
größte Teil der potenziellen Käuferinnen und Käufer ist
arm. Aus dem gleichen Grund sind auch vorhandene Medikamente oft nicht auf die Bedürfnisse der Menschen in
Entwicklungsländern zugeschnitten, sind nicht hitzebeständig, nicht für Kinder geeignet oder schlichtweg zu
teuer. Von den zwischen 1975 und 2004 neu entwickelten
1 556 Medikamenten entfielen gerade mal 18 neue Medikamente auf die tropischen Armutskrankheiten und drei
auf Tuberkulose.
Angesichts dieser Situation muss es neue Anreize zur
Forschung an Arzneimitteln für vernachlässigte Krankheiten geben, und ich erinnere hierbei auch an die Schlafkrankheit, Chagas, Leishmaniose und Flussblindheit. Es
ist nicht hinnehmbar, dass zum Beispiel gegen Tuberkulose, die zusammen mit HIV/Aids und Malaria eine der
tödlichsten Krankheiten ist, an denen jährlich 6 Millionen Menschen sterben, seit Jahrzehnten keine neuen Medikamente entwickelt wurden. Die Krankheit hingegen
hat sich sehr wohl weiterentwickelt: Die unsachgemäße
Behandlung von Tuberkulose oder der vorzeitige Abbruch von Therapien wegen mangelhafter Begleitung
führen wiederum dazu, dass es mittlerweile multiresistente Erreger gibt. Zudem kommt die Tuberkulose, die in
unseren Breiten als ausgerottet galt, inzwischen auch
wieder in neuer Form zu uns zurück. Folge in diesem Teufelskreis: Die heute erhältlichen Medikamente sind mittlerweile veraltet, haben starke Nebenwirkungen und einen zweifelhaften Therapieerfolg. Wir begrüßen daher,
dass zurzeit ein neuer Tuberkulose-Impfstoffkandidat aus
der Grundlagenforschung des Max-Planck-Institutes in
die klinische Phase übergegangen ist.
Auch zu den vielfältigen möglichen Anreizen gibt die
Weltgesundheitsorganisation Empfehlungen. Wir beziehen uns hierbei nicht nur auf Patente - die auch ein Anreiz zur Entwicklung neuer Medikamente sind, die aber
aus unserer Sicht auf keinen Fall armen Menschen den
Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten verwehren
dürfen. Auch andere Anreize sind zu prüfen: Der Antrag
der Linken erwähnt Forschungspreise, die auch wir unterstützen. Auch Aufkaufverpflichtungen, die sogenannten Advanced Market Commitments, wären ein möglicher
Anreiz. Wir fanden es schon 2007 sehr schade, dass die
Bundesregierung anders als Großbritannien, die USA,
Kanada und Italien nicht bereit war, die Entwicklung eines für Entwicklungsländer nutzbaren Impfstoffes gegen
Pneumokokken nicht nur rhetorisch, sondern auch finanziell zu unterstützen. An Pneumokokken, die Lungen- und
Hirnhautentzündung auslösen können, sterben in Entwicklungsländern vor allem Kinder unter fünf Jahren.
Den größten Erfolg allerdings verspricht die Stärkung
der öffentlichen Forschung über vernachlässigte Krankheiten. Die Initiative DNDi, die Drugs for Neglected Diseases Initiative, ist eine Produktentwicklungspartnerschaft, die von Anfang an sicherstellt, dass öffentliche
Mittel, die in die Forschung zum Beispiel an Medikamenten gegen Malaria investiert werden, auch definitiv dazu
dienen, einen breiten öffentlichen Zugang zu eben diesen
Medikamenten zu ermöglichen.
Und hier komme ich zum Hauptproblem: der Preisgestaltung bei Medikamenten. Häufig verhindert ein zu hoher Preis, dass Menschen in Entwicklungsländern sich
die notwendigen Medikamente tatsächlich leisten können. Pharmaunternehmen sind hier in der Mitverantwortung. Denn sie greifen auf Grundlagenforschung zurück,
die fast immer auch durch öffentliche Mittel finanziert ist.
Die Bundesregierung muss ihren Einfluss dahin gehend geltend machen, dass Institute wie die Vakzine Projekt Management GmbH ({0}), die derzeit mit öffentlichen Mitteln die Entwicklung eines TuberkuloseImpfstoffes vorantreibt, in der Zukunft auch ihre Lizenzverträge so gestalten, dass ein erleichterter Zugang von
Entwicklungsländern zu den von der VPM mitentwickelten Impfstoffen gesichert ist. Die Bundesregierung sollte
außerdem einfordern, dass die drei mit dem Themenkomplex der Forschung für vernachlässigte Krankheiten betrauten Ministerien ({1}) ihre sich zum Teil überschneidenden
Aufgaben besser koordinieren und ihre jeweiligen Zuständigkeiten auch für Außenstehende klarer definieren.
Armutskrankheiten müssen endlich als eine globale
Aufgabe angesehen werden und auch als solche angegangen werden. Das erfordert eine kooperative ZusammenZu Protokoll gegebene Reden
arbeit von staatlichen und multilateralen Institutionen,
von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12291 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
Bürgerschaftliches Engagement umfassend
fördern, gestalten und evaluieren
- Drucksachen 16/11774, 16/12202 Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Sibylle Laurischk
Ekin Deligöz
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Markus
Grübel, CDU/CSU, Sönke Rix, SPD, Sibylle Laurischk,
FDP, Elke Reinke, Die Linke, Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll.
Es gibt mehr als 23 Millionen freiwillig engagierte
Menschen in Deutschland. Dies entspricht 36 Prozent der
über 14-jährigen Bürgerinnen und Bürger. Ohne sie
würde das Zusammenleben, wie wir es kennen, nicht
funktionieren. Das klingt gut; wenn man jedoch genau
hinsieht, muss man feststellen, dass sich das klassische
Ehrenamt in einer Krise befindet. Immer weniger Menschen sind bereit, sich langfristig und zeitaufwendig in
Verbänden, Vereinen, in kirchlichen Institutionen etc. zu
binden bzw. freiwillig zu engagieren. 53 Prozent der Bevölkerung sind in keiner Organisation Mitglied.
Für diese Menschen müssen neue Anreize, Möglichkeiten geschaffen werden, sich einzubringen. Gerade
beim Engagement der Jugend liegen große Potenziale.
Jedoch engagieren sich von den 16-Jährigen gerade einmal 20 Prozent freiwillig. Bei den 14-Jährigen sind es sogar nur 18 Prozent. Bei den älteren Jugendlichen zeichnet
sich wieder ein höheres Interesse ab, zumindest wenn
man das Interesse an den Jugendfreiwilligendiensten, die
wir im letzten Jahr gesetzlich neu geregelt haben, zugrunde legt. 23 000 junge Menschen engagieren sich hier.
Darüber hinaus müssen wir die Potenziale der Rentner und Pensionäre verstärkt mit einbeziehen. Statistisch
gesehen, verbringt ein Rentner ein Viertel seines Lebens
im Ruhestand. Viele Menschen, auch im hohen Alter, wollen gesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Wir benötigen also die „aktiven Alten“. Heute sind bereits über
30 Prozent von ihnen freiwillig engagiert. Weitere
30 Prozent würden sich gerne engagieren, wenn es passende Angebote gäbe.
Das BMFSFJ hat daher in den vergangenen Jahren
eine Vielzahl von Projekten initiiert, um das Miteinander
der Generationen zu fördern. Ich nenne exemplarisch die
Mehrgenerationenhäuser und die neuen Freiwilligendienste aller Generationen. Zudem wurden zahlreiche
Vorschläge der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ bereits in der letzten Legislaturperiode umgesetzt. Der Enquete-Bericht sieht
Engagementförderung als Querschnittsaufgabe an, die
durch stärkere Kooperation von Verwaltung, Politik und
Fachressorts sowie ressortübergreifende Vernetzung von
staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen bestmöglich umgesetzt werden könne.
Auch wurde der Unterausschuss „Bürgerschaftliches
Engagement“ eingesetzt. Viele von den Engagementpolitikern sind dort Mitglied und haben auch daran mitgearbeitet, dass im Rahmen des im Jahr 2007 verabschiedeten
Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen
Engagements die steuer- und gemeinnützigkeitsrechtlichen Rahmenbedingungen erheblich verbessert wurden.
Mit der Initiative „ZivilEngagement“ soll durch eine
Vielzahl von Maßnahmen Engagementpolitik wirksam
gestaltet werden. Ziel ist eine abgestimmte Strategie zur
Weiterentwicklung einer nationalen Engagementpolitik
mit unterschiedlichen Schwerpunkten, wie zum Beispiel
weiterer Ausbau der bestehenden generationenübergreifenden Angebote für bildungsferne Gruppen, einfach
zugängliche Engagementangebote insbesondere für Jugendliche, Optimierung der Einsatzmöglichkeiten von
Freiwilligen durch Qualifizierungsangebote und Erweiterung von Tätigkeitsprofilen für Engagierte.
Bürgerschaftliches Engagement ist für gesellschaftliche Integration, wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand
und stabile demokratische Strukturen unerlässlich. Engagementpolitik berührt alle relevanten Politikfelder und
alle staatlichen Ebenen. Bund, Länder und Kommunen
müssen Rahmenbedingungen wirkungsorientiert fördern,
die zivilgesellschaftliche Organisationen als Träger bürgerschaftlichen Engagements, Unternehmen und nicht
zuletzt die engagierten Bürgerinnen und Bürger für bürgerschaftliches Engagement benötigen. Zur Förderung
zählt ausdrücklich auch eine verstärkte öffentliche Wertschätzung bürgerschaftlichen Engagements.
Die Anerkennung des freiwilligen Einsatzes der Engagierten ist von besonderer Bedeutung. Es bedarf einer
Kultur der Anerkennung, in der bürgerschaftliches Engagement einen Wert an sich darstellt und zu einer Selbstverpflichtung wird. Dazu ist ein gesamtgesellschaftliches
Umdenken vonnöten. Die Leitidee einer Bürgergesellschaft und die verschiedenen Facetten des bürgerschaftlichen Engagements - ihr Wert für die Engagierten und
für die Gesellschaft - müssen zukünftig deutlich herausgestellt werden.
Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die Voraussetzungen für eine regelmäßige wissenschaftliche Berichterstattung zum bürgerschaftlichen Engagement
durch eine Sachverständigenkommission ab der nächsten
Legislaturperiode schaffen. Der Forschungsbericht von
unabhängigen Wissenschaftlern soll - auf Schwerpunkte
konzentriert - die Entwicklung des bürgerschaftlichen
Engagements und den Stand der Engagementpolitik einschließlich der politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einmal pro Legislaturperiode aufzeigen. Ihm soll außerdem eine Stellungnahme der
Bundesregierung angefügt werden. Mit der Berichterstattung soll erreicht werden, die Diskussion über das bürgerschaftliche Engagement noch tiefer im öffentlichen
Bewusstsein zu verankern und die in der Gesellschaft vorhandenen Potenziale für bürgerschaftliches Engagement
zu mobilisieren und zu nutzen. Zudem ist der Bericht für
die Entwicklung einer ressortübergreifenden Engagementstrategie wichtig und wird Informationen und Empfehlungen liefern, um die richtigen Weichen zu stellen und
Bedarfe und Möglichkeiten, aber auch Hindernisse für
Engagement aufzeigen.
Ein Vorläuferbericht für die regelmäßige Berichterstattung, der den Beitrag des bürgerschaftlichen Engagements zur Bewältigung sozialer Aufgaben unter besonderer
Beachtung der Familie und bei Familien unterstützenden
Dienstleistungen untersucht, wird im Mai 2009 erscheinen.
Bedauerlicherweise ist kein interfraktioneller Antrag
zustande gekommen, wie ursprünglich angedacht, da die
anderen Fraktionen sich entweder in Enthaltung oder Ablehnung üben. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass durch
die regelmäßige Berichterstattung eine verstärkte Wahrnehmung des Themas in der Öffentlichkeit erreicht und
bürgerschaftliches Engagement weiter ausgebaut und gefördert werden kann.
Heute verabschieden wir den Antrag, der von den Koalitionsfraktionen eingebracht wurde. Der Titel „Bürgerschaftliches Engagement umfassend fördern, gestalten
und evaluieren“ lässt erst einmal nicht vermuten, dass es
sich im Kern um eine regelmäßige Berichterstattung handelt. Beim zweiten Hinsehen erschließt sich das aber
schon. Denn um überhaupt das bürgerschaftliche Engagement umfassend fördern und gestalten zu können, benötigen wir eine regelmäßige Bestandsaufnahme und
Evaluation. So möchte ich das, was ich bereits im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in der
letzten Sitzungswoche betont habe, auch hier noch einmal
deutlich machen:
Eine regelmäßige Berichterstattung zum Themengebiet bürgerschaftliches Engagement ist nützlich und sinnvoll, zumindest dann, wenn wir unserem Anspruch gerecht werden wollen, die Rahmenbedingungen für
Engagierte stetig zu verbessern und einer aktiven Bürgergesellschaft die Steine aus dem Weg zu räumen, die es
mancherorts noch gibt. Dabei war es meiner Fraktion äußerst wichtig, dass der Bericht von einer unabhängigen
Expertenkommission erstellt wird und so unvoreingenommen wie möglich erarbeitet werden kann. Der Bericht soll
Problemlagen aufdecken und durch eine immer andere
Schwerpunktsetzung unseren Blick für das bürgerschaftliche Engagement schärfen.
Ohne Frage haben wir in den letzten Jahren schon damit angefangen. Denn das Thema bürgerschaftliches Engagement hat die SPD in den letzten zehn Jahren immer
weiter in den Vordergrund gerückt. Auf Initiative der
SPD-Fraktion wurde die Enquete-Kommission zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements eingesetzt.
Deren Arbeit hat deutlich gezeigt: Das Thema bürgerschaftliches Engagement ist ein Querschnittsthema. Fast
alle und damit auch die unterschiedlichsten Politikbereiche haben Einfluss auf die Entfaltungsmöglichkeiten des
bürgerschaftlichen Engagements. Das fängt an bei den finanziellen Rahmenbedingungen, geht über die Anerkennung, die wir den Engagierten entgegenbringen, und
führt bis zu der Frage, wie viel Hauptamtlichkeit und wie
viele Netzwerke wir brauchen, um dafür zu sorgen, dass
das Engagement auch gut organisiert ist. Und so ist auch
die Förderung des Engagements ein Querschnittsthema.
Das berücksichtigt auch der Antrag. Hier heißt es:
„Der Bericht sieht die Engagementförderung als Querschnittsaufgabe an, die durch stärkere Kooperation von
Verwaltung, Politik und Fachressorts sowie ressortübergreifende Vernetzung von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen sowie der
Wirtschaft bestmöglich umgesetzt werden könne.“ Diese
beiden Aspekte - Kooperation und Vernetzung - halte ich
für die wichtigsten. Einen Beitrag dazu leistet bereits seit
sechs Jahren der Unterausschuss „Bürgerschaftliches
Engagement“. Die Kolleginnen und Kollegen, die wie ich
Mitglied dieses Unterausschusses sind, wissen: Hier treffen sich regelmäßig Akteure aus der Zivilgesellschaft, aus
der Verwaltung und der Regierung und berichten über
ihre Erfahrungen und Initiativen. Eine stärkere Vernetzung ist dadurch möglich, wenn sie auch eher durch inoffizielle Gespräche am Rand dieses Gremiums entstehen
mag als durch die öffentliche Sitzung.
Der Bericht kann helfen, die Arbeit des Unterausschusses zusammenzutragen und auch neue Denkanstöße
zu geben. Aufgrund der demografischen Entwicklung, der
gerade zurzeit unsicheren Lebensverhältnisse und der
neuen Anforderungen, die sich an die Gesellschaft und jeden Einzelnen stellen, werden sich auch die Strukturen
des Engagements verändern. Diese müssen wir beobachten. Dazu dient zurzeit der Freiwilligensurvey, den es
meiner Meinung nach auch weiterhin als wichtigste Datengrundlage in diesem Bereich geben muss. Der geplante Bericht kann aber über die Fakten, wer sich wie
und warum engagiert, hinaus eine ganz andere Schwerpunktsetzung unter unterschiedlichen Fragestellungen
betreiben. Hieraus ergeben sich dann ganz konkrete Aufgaben für die Politik - so wünsche ich es mir jedenfalls.
Eine weitere Aufgabe, die der Bericht leisten kann, ist,
dem bürgerschaftlichen Engagement noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. In den letzten zehn Jahren
wurden auch dafür schon die Grundsteine gelegt, nicht
nur im Parlament, sondern auch durch die Organisationen selbst. Und an dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich beim BBE bedanken, denn das leistet mit der
Woche des bürgerschaftlichen Engagements jedes Jahr
einen unschätzbaren Beitrag für eine breite Öffentlichkeit
und mehr Anerkennung für alle Engagierten. Um weiter
auf diesem guten Weg zu bleiben, um Problemlagen erZu Protokoll gegebene Reden
kennen und lösen zu können, um Engagierten die Rahmenbedingungen zu schaffen, die sie benötigen, brauchen
wir diesen unabhängigen Bericht.
Gerade für Liberale ist bürgerschaftliches Engagement Ausdruck einer lebendigen Bürgerkultur: einer Gesellschaft, in der Probleme nicht wie selbstverständlich
bei öffentlichen Einrichtungen abgegeben werden, einer
Gesellschaft, in der Bürger für Bürger da sind.
Vor diesem Hintergrund ist es schwer, die Arbeit der
Bundesregierung im Bereich des bürgerschaftlichen
Engagements zu loben. Hauptsächlicher Aktionspunkt der
Bundesregierung in dieser Legislatur war das Auswechseln
von Begriffen. Der von der Enquete-Kommission geprägte Begriff des „bürgerschaftlichen Engagements“
wurde zugunsten des Begriffs „Zivilengagement“ aufgegeben. Die FDP sieht dies äußerst kritisch, da so eine allgemeine Verwirrung bei Diskussionen entsteht und etwas
Neues suggeriert wird, obwohl alles beim Alten bleibt.
Neben dieser babylonischen Begriffsverwirrung ist
vor allem die Untätigkeit der Bundesregierung bei der
Belastung des bürgerlichen Engagements durch die
Mehrwertsteuer fatal. Die Bundesregierung nimmt die
durch die Finanzämter neuerdings entdeckte Mehrwertsteuerbelastung des bürgerschaftlichen Engagements hin
und tritt dieser Entwicklung nicht entschieden entgegen:
Es ist erstaunlich, dass sowohl bei den Jugendfreiwilligendiensten als auch bei den Sponsoringaktivitäten durch
Unternehmen dies seit Jahrzehnten unbeanstandet von
den Finanzbehörden stattfand. Nach Auffassung des
BMF bzw. eines Finanzamtes ist dies nun anders. So liegt
zum Beispiel in der kostenlosen Überlassung von
Telefondienstleistungen der Deutschen Telekom an die
Telefonseelsorge ein der Umsatzsteuer unterliegendes
Tauschgeschäft vor. Das BMF konstruiert aus dem bürgerschaftlichen Engagement von Unternehmen nun tauschähnliche Umsätze, da zum Beispiel auf der Internetpräsenz der Telefonseelsorge darauf verwiesen wird, dass die
Telekom der Partner der Telefonseelsorge ist. Aus einem
Hinweis auf den Sponsor nun ein steuerliches Tauschgeschäft zu konstruieren, steht im krassen Gegensatz zu
den Bemühungen, mehr Unternehmen für Engagement im
gesellschaftlichen Bereich zu gewinnen. Es ist sogar im
staatlichen Interesse, dass auf den Sponsor hingewiesen
wird. Nur so können andere Unternehmen über die Steigerung von Ansehen und Prestige dazu bewegt werden,
sich gesellschaftlich zu engagieren.
Weiterhin ist vollkommen ungeklärt, ab wann der Hinweis auf den Sponsor einen steuerlich relevanten Tatbestand schafft. Unterliegt es beispielsweise der Steuerpflicht,
wenn die dörfliche Gastwirtschaft ihre Mikrofonanlage
aus dem Festsaal einem örtlichen Sportverein kostenlos
für das Fußballturnier leiht und sich dieser Verein auf
dem Fußballfeld deutlich hörbar über die Mikroanlage
dafür bedankt? Ist dies Werbung oder bürgerschaftliches
Engagement? Wenn das Gebaren einiger Finanzbehörden
Schule macht, ist mit einem deutlichen Rückgang solcher
Sponsoringaktivitäten zu rechnen. Dies wird dem Ehrenamt erheblichen schaden.
Leider beweihräuchert der vorliegende Antrag die Arbeit der Bundesregierung. Weiterhin fordern Sie in Ihrem
Antrag einen Bericht. Nun ist die FDP nicht generell gegen
einen solchen Bericht, die Vorgehensweise ist jedoch atemraubend. Der Bericht ist längst in Auftrag gegeben und
quasi fertiggestellt und soll bereits im Mai 2009 der Öffentlichkeit vorgestellt werden! Nun seitens der Regierungskoalition durch diesen Antrag zu suggerieren, die Initiative
zur Erstellung dieses Berichts gehe von den Regierungsfraktionen aus, ist einfach peinlich. Fakt ist, den Bericht
wird es geben, egal, ob dieser Antrag angenommen oder
abgelehnt wird.
Der im Antrag geforderte Bericht allein nutzt nach den
Erfahrungen der letzten Jahre gar nichts und dient eher
der Augenwischerei. Es ist zwar durchaus bemerkenswert, dass die erstellten Berichte der verschiedenen Kommissionen in der Regel ein überdurchschnittliches Niveau
haben, sie werden aber in ihren Anregungen lediglich zur
Kenntnis genommen und nicht umgesetzt. Das Parlament
diskutiert in der Regel erst nach Jahren über die Berichte.
Es gilt die Faustregel: Je besser der Bericht, desto länger
bleibt er in der Schublade. Die sehr aufschlussreichen
„Altenberichte“ der Bundesregierung werden erst zwei
bis drei Jahre nach ihrem Erscheinen behandelt. Ich fordere deshalb von der Bundesregierung, mit Vorlage des
Berichts zum bürgerschaftlichen Engagement auch Vorschläge zu dessen Umsetzung zu machen.
Die Wichtigkeit und die Unverzichtbarkeit des bürgerschaftlichen Engagements dürften nicht nur uns Abgeordneten, sondern allen Bürgerinnen und Bürgern bekannt
sein. Viele Vereine oder Verbände wären ohne vorbildliches ehrenamtliches Engagement kaum überlebensfähig.
Die Linke wehrt sich aber dagegen, dass ihr unterstellt
wird, jede Kritik am bürgerschaftlichen Engagement,
speziell an Gesetzen oder Anträgen zu diesem Thema,
gehe mit einer Geringschätzung oder gar Ablehnung desselben einher. Gerade weil sich die Linke für eine bessere
Ausgestaltung, Anerkennung und Evaluierung des bürgerschaftlichen Engagements einsetzt, ist gegen den im
Antrag von Union und SPD geforderten regelmäßigen
wissenschaftlichen Bericht grundsätzlich nichts einzuwenden. Das Thema „bürgerschaftliches Engagement“
muss von der politischen Bühne noch stärker in die öffentliche Diskussion rücken; es muss bei den Menschen noch
mehr Interesse geweckt werden. Ein regelmäßiges, auf
breiterer Basis debattiertes Berichtswesen kann dazu beitragen und beispielsweise Handlungsrahmen abstecken
und Empfehlungen geben.
Ein solches Berichtswesen muss aber meiner Meinung
nach auch kritische Punkte ansprechen und sozial gerechte Lösungen aufzeigen. Ich befürchte, dass dies
- wenn überhaupt - nur unzureichend geschehen wird.
Einen Vorgeschmack gibt ja bereits der vorliegende Antrag. Hierin wird stolz berichtet, dass das Bundesfamilienministerium einen Bericht in Auftrag gegeben hat, der
- ich zitiere - „den Beitrag des bürgerschaftlichen Engagements zur Bewältigung sozialer Aufgaben“ untersuchen soll. Ja, das Ehrenamt leistet dazu einen bedeutenden Beitrag; es ist gesellschaftlich und unter
Zu Protokoll gegebene Reden
demokratischen Gesichtspunkten sinnvoll und notwendig. Aber wo genau liegen die Grenzen? Wie weit m u s s
und d a r f bürgerschaftliches Engagement überhaupt soziale Aufgaben bewältigen? Oder gibt es nicht noch andere Institutionen, die sich ebenfalls der sozialen Verwerfungen unserer Zeit annehmen sollten?
Angesichts der Sozial- und Verteilungspolitik der vergangenen Jahre sollte jeder, der Ähnliches wie das oben
Zitierte hört oder liest, sehr misstrauisch werden. Wir haben es Ihnen wiederholt gesagt: Bürgerschaftliches Engagement ist für die Linke kein Ersatz für eine gerechte
Steuer- und Sozialpolitik! Unbezahlte Arbeit kann keine
gerechte Verteilungspolitik ersetzen und die weit auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich schließen. Auch eine „Initiative ZivilEngagement“ hält eine
immer stärker gespaltene Gesellschaft nicht zusammen.
Der Staat darf nicht immer mehr der Möglichkeiten beraubt werden, selbst gestaltend aktiv zu werden. Der Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge ist dabei ganz bestimmt der falsche Weg!
Es ist bedenklich, wenn bei den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl aufkommt, die Regierung fördert ehrenamtliches Engagement nur, um den eigenen Haushalt zu
entlasten. Gesamtgesellschaftliche Probleme dürfen aber
nicht auf die aufopferungsvoll tätigen Freiwilligen abgewälzt werden. So will die Linke bürgerschaftliches Engagement nicht verstanden wissen! Auf eine Vermögensteuer wird nach wie vor verzichtet, verantwortungslose
Finanzjongleure bekommen Milliarden an Euro zugeschustert. Die Linke fordert stattdessen einen Schutzschirm für alle Beschäftigten sowie für sozial Benachteiligte. Bei ausreichender sozialer Absicherung würde
auch das Ehrenamt noch stärker aufblühen.
Es sind außerdem klare Forderungen an die Wirtschaft
zu stellen. Unternehmen sonnen sich gerne im Schein des
Engagiertseins, sobald es um etwas „handfestere“,
sprich finanzielle Unterstützung geht, wird sich oftmals
allzu schnell in den Schatten zurückgezogen. Ziel des bürgerschaftlichen Engagements sollten gesellschaftliche
Teilhabe und Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger sein. Dies beinhaltet zugleich sozialversicherte Tätigkeit, von der man leben kann. Ehrenamt braucht keine
Stundenlöhne, sollte aber zugleich keine regulären
Arbeitsplätze verdrängen und ersetzen und dadurch Sozialabbau vorantreiben. Die Linke fordert deshalb seit
langem, stärker in Richtung öffentlich finanzierter Beschäftigung aktiv zu werden.
Alles in allem hätte ich mir gewünscht, dass sich der
erste Bericht mit den Zugangsbarrieren - besonders für
sozial Benachteiligte - zum bürgerschaftlichen Engagement sowie mit Teilhabechancen befasst. Dies wäre zukunftsweisend und würde tatsächliche Probleme angehen.
In dem Antrag ist ebenfalls zu lesen, dass ein solcher
wissenschaftlicher Bericht „nur ein erster Ansatz“ sein
kann. Wie viele „erste Ansätze“ brauchen Sie denn noch?
Von SPD-Seite wurde in der Ausschussdebatte zugegeben, dass die exakte Ausgestaltung des Berichts im Laufe
der Zeit bestimmt noch verbessert werden könne - nachzulesen in „Beschlussempfehlung und Bericht des Familienausschusses“ unter Drucksache 16/12202. Warum
denken Sie die Dinge nicht vorher zu Ende, bevor Sie sie
auf den Weg bringen? Bei Ihnen ist keine klare Richtung,
kein Gesamtkonzept zur Stärkung und Anerkennung bürgerschaftlichen Engagements erkennbar. Ihr einziges
Konzept ist die Konzeptlosigkeit - wie auf vielen anderen
Politikfeldern auch.
Insgesamt enthält sich die Fraktion Die Linke zu Ihrem
Antrag, weil gegen die zentrale Forderung kaum etwas
einzuwenden ist. Es ist für uns aber immer wieder aufs
Neue verwunderlich, wie realitätsfern und vor allem
gänzlich unkritisch die Regierungskoalition mit wichtigen gesellschaftspolitischen Themen umgeht. Obwohl wir
bürgerschaftliches Engagement unterstützen und fördern, werden wir auch weiterhin unbequeme Wahrheiten
ansprechen.
Unsere Fraktion wird dem Antrag der Großen Koalition nicht zustimmen. Der Grund dafür liegt nicht etwa in
der Forderung nach einem regelmäßigen wissenschaftlichen Bericht zum bürgerschaftlichen Engagement. Im
Gegenteil: Wir begrüßen das Einsetzen eines solchen
ausdrücklich. Wie groß der Nachholbedarf in Sachen
wissenschaftlicher Befassung des Themas Bürgerschaftliches Engagement ist, hat zuletzt noch einmal die Diskussion im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement im Januar gezeigt, als wir uns mit dem Thema
Entwicklung von Wissenschaft, Forschung und Lehre im
Bereich Zivilgesellschaft befassten. Allerdings hätten wir
uns konkretere Einzelheiten zur politischen Begleitung eines Berichts gewünscht, ähnlich wie es bei der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Fall war.
In Ihrem Antrag heißt es dazu, dass Sie hoffen, dass ein
Bericht den politischen Diskurs anregen kann und das
Thema so in die öffentliche Wahrnehmung rücken wird.
Das wird ein frommer Wunsch bleiben. Sie müssen doch
sagen, wohin die Reise gehen soll - was wollen sie denn,
wo sind die politischen Maßgaben, wo ihre Vorhaben?
Sie nennen Ihren Antrag, um den es hier heute geht:
Bürgerschaftliches Engagement umfassend fördern, gestalten und evaluieren. Und genau das sollten sie auch
tun, statt - und nun zitiere ich ihren Antrag - „das Engagement der Bundesregierung im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements“ ausdrücklich zu begrüßen.
Sie haben im Moment ganz offensichtlich keine Gesamtstrategie zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements.
Die Initiative des Bundesfamilienministeriums, die sie
jetzt Zivilengagement nennen, hat es bisher nicht geschafft, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft
einzubinden. Tatsächlich scheint es ja selbst innerhalb
der Koalition zwischen SPD und CDU/CSU so zu sein,
dass Sie sich über wesentliche Inhalte der neuen Initiative
uneins sind. Schon längst hätte sie im Kabinett beraten
werden sollen und wird stattdessen von Mal zu Mal verschoben.
Auf unsere Kleine Anfrage vom Februar dieses Jahres
bleiben sie die Antworten schuldig. Wesentliche Punkte,
Zu Protokoll gegebene Reden
vom Leitbild der Zivilgesellschaft bis hin zur nachhaltigen Finanzierung des bürgerschaftlichen Engagement,
sind einfach nicht ausreichend geklärt. Was aber offensichtlich bereits längst geklärt ist, ist die öffentliche Vermarktung des Ganzen. Denn vergangene Woche startete
die erste PR-Kampagne im Rahmen der Initiative Zivilengagement. Wieder einmal hat es den Anschein, als sei
dem Familienministerium der Schein wichtiger als das
Sein. So wirken Sie in Sachen Engagementplan zwar engagiert, sind aber doch ziemlich planlos.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen enthält sich zu
diesem Antrag.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12202, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/11774 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
FDP-Fraktion sowie Enthaltung vom Bündnis 90/Die
Grünen und von der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea
Dückert, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose und Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung aufnehmen
- Drucksache 16/11649 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wir nehmen die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU, Dr. Axel Berg, SPD,
Gudrun Kopp, FDP, Dr. Herbert Schui, Die Linke,
Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll.
Vor nicht einmal einem Jahr diskutierten wir hier in
ähnlicher Runde über mehr Transparenz beim Sachverständigenrat. In diesem Zusammenhang waren es auch
die Kollegen von den Grünen, die unter anderem der
Gemeinschaftsdiagnose der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute attestierten, dass kaum jemand diese - ich zitiere - „dicken Berichte“ zur Kenntnis
nehmen, geschweige denn lesen würde. Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie müssen ja nicht
gleich aus Ihren Reihen auf andere schließen. Ich kann
Ihnen versichern, dass wir im Gegensatz zu Ihnen die Berichte nicht nur einfach zur Kenntnis, sondern vor allem
ernst nehmen.
Die meisten von Ihnen werden mir beipflichten, dass
die Konjunkturprognosen der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute unerlässliche Informationsquellen
für unsere Arbeit sind. Nicht nur untersuchen die Institute
darin unsere gesamtwirtschaftliche Leistung, sie geben
auch wirtschaftspolitische Empfehlungen ab, die in unsere Wirtschaftspolitik einfließen.
In diesem Zusammenhang verstehe ich Ihre Zweigleisigkeit, mit der Sie hier auftreten, nicht: Einerseits kritisieren Sie solche Berichte als in der Öffentlichkeit kaum
wahrgenommen und zu uneffektiv, auf der anderen Seite
fordern Sie jetzt mit Ihrem Antrag, dass die Umweltberichterstattung mit in die Gemeinschaftsdiagnose aufgenommen werden soll. Ja, aber was wollen Sie denn jetzt
eigentlich? In ihrer letzten Gemeinschaftsdiagnose haben
sich die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute dafür
ausgesprochen, dass der Staat in der gegenwärtigen
Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise Maßnahmen ergreifen
sollte, die der Stützung der Wachstumskräfte und der
Belebung der Konjunktur dienen. Diesen Empfehlungen
sind wir in den letzten Monaten gefolgt. Wir haben mit
den Maßnahmen der beiden Konjunkturpakete eine ausgewogene Mischung aus Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen beschlossen, mit denen wir der Wirtschaft
eine Brücke über die schwierige Phase hinweg bauen
wollen. Unternehmen und Bürger werden von Abgaben und
Steuern entlastet und zugleich wird die Binnenwirtschaft
durch gezielte Investitionen unterstützt. Bund, Länder und
Kommunen investieren 20 Milliarden Euro in Straßen und
Schienenwege, in Bildungsstätten und Bauwirtschaft. Der
Bund hat zur Kreditversorgung deutscher Unternehmen
einen 100-Milliarden-Euro-Fonds aufgelegt und weitet
sein Kreditangebot bei der KfW auf 15 Milliarden Euro aus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den
Grünen, gerade für Sie dürfte es von großem Interesse
sein, dass die Einführung der Umweltprämie - entgegen
Ihren Ankündigungen auch ökologisch gesehen - ein voller Erfolg ist, von dem neben der Automobilwirtschaft
auch die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land profitieren. Denn mit der Abwrackprämie tragen wir dazu bei,
dass Altautos fachgerecht entsorgt und durch umweltfreundlichere und energiesparendere Fahrzeuge ersetzt
werden. Darüber hinaus haben wir bereits im Rahmen
des ersten Maßnahmenpakets die Mittel für die CO2-Gebäudesanierung um insgesamt 3 Milliarden Euro aufgestockt. Auch dies ist ein Beitrag, den wir trotz der schwierigen Zeit zum Umweltschutz leisten wollen. Soviel zur
Ineffektivität und fehlenden Aufmerksamkeit, die Sie den
wirtschaftspolitischen Empfehlungen der Gutachten versucht haben zu unterstellen. Wie Sie sehen, haben wir den
Empfehlungen Taten folgen lassen.
Sie fordern jetzt mit Ihrem Antrag die Aufnahme der
Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose und
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Allerdings kann ich Ihrem Antrag kein schlüssiges Konzept entnehmen, wie Sie dies umsetzen wollen, geschweige
denn, was davon der wirtschaftliche Nutzen sein soll. Das
Statistische Bundesamt schreibt in seinen Erläuterungen
zur Umweltökonomischen Gesamtrechnung, dass - ich
zitiere - „eine direkte Messung des Inputs von Dienstleistungen der Umwelt auf gesamtwirtschaftlicher Ebene
zurzeit weder in monetären noch in physischen Einheiten
möglich ist“. Ich frage mich daher allen Ernstes, warum
Sie mit solchen Forderungen unsere kostbare Zeit verschwenden.
Anstatt hier neue Verwaltungs- und Bürokratiemonster
zu schaffen, handeln wir lieber entsprechend. Dabei ist
der Nachhaltigkeitsgedanke ein konsequenter Bestandteil unserer Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Denn mehr
denn je muss sich eine nachhaltige Umweltpolitik dem
ökonomischen Kalkül stellen. Nachhaltigkeit in unserem
Sinne versucht die Interessen aus Umweltschutz, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Verantwortung bestmöglich zusammenzuführen. Was wir heute in
den Klimaschutz investieren - das belegen zahlreiche
wissenschaftliche Studien -, verhindert in der Zukunft
hohe wirtschaftliche Folgekosten sowie Umwelt- und
Gesundheitsschäden für die Bevölkerung. Deswegen
scheint es dringender denn je, eine nachhaltige marktwirtschaftliche Umweltpolitik als Chance und als Motor
für Innovation, Wachstum und Beschäftigung zu begreifen. Sie bietet Chancen für Wachstum und Beschäftigung,
insbesondere im Mittelstand. Anstatt hier unsinnige und
wissenschaftlich nicht messbare Forderungen zu stellen,
wie dies die Grünen erneut unter Beweis gestellt haben,
ist es unser Ziel, die weltweit führende Rolle Deutschlands bei den Umwelttechnologien weiter auszubauen.
Die Politik kann unterschiedliche Wege beschreiten,
um der zunehmenden Umweltbelastung und -verschmutzung Einhalt zu gebieten. Dabei sollten wir aber nicht
dazu übergehen, durch neue Berichterstattungen und Statistiken, deren wissenschaftliche Erkenntnis zudem
umstritten ist, den Bürgerinnen und Bürgern in unserem
Land höhere Abgaben oder Gebühren aufzuzwingen.
Eine gerechte Kostenanlastung kann auch erfolgen, indem man beispielsweise Subventionen für den wirtschaftlich nicht konkurrenzfähigen Solarstrom abbaut und die
Gelder lieber zugunsten der Entwicklung effizienterer
Techniken umschichtet.
Die Forderung der Grünen, dass Umweltnutzung und
Umweltbelastungen in wirtschaftliche Analysen und Prognosen eingearbeitet werden sollen, macht Sinn. Die
Betrachtung von Umweltverbrauch und dessen wirtschaftlichen Auswirkungen ist eine Voraussetzung für
nachhaltige Wirtschaftsgestaltung. Und einer nachhaltigen Wirtschaft fühlen wir uns als Sozialdemokraten verpflichtet.
Die Diskussion darüber, ob das Bruttoinlandsprodukt
eine vernünftige Kenngröße ist, dauert schon lange an.
Dass die Reparatur von Umweltschäden oder Beseitigung von Umweltverschmutzung zur Erhöhung des
Bruttoinlandsproduktes führen, mutet schon seltsam an.
Das Gleiche gilt übrigens für Unfälle. Wie die Grünen in
ihrem Antrag schreiben, gibt es mittlerweile auch andere
Kennzahlen, die für wirtschaftliche Gutachten und Prognosen herangezogen werden können, die Umweltverbrauch und -verschmutzung nicht mehr als erfolgreiches
Wirtschaftswachstum einstufen. Wenn man in Zukunft solche Indikatoren nutzt, könnte dies ein Wechsel weg von
quantitativen hin zu qualitativen Messungen werden.
Im Antrag der Grünen wird das Jahresgutachten des
Sachverständigenrates für Wirtschaft von 1996 herangezogen und deutlich gemacht, dass die herangezogenen
Größen wie Bruttosozialprodukt, die volkswirtschaftliche
Gesamtrechnung usw. Probleme aufwerfen, weil Eigenproduktion und Schwarzarbeit nicht zur offiziellen Wertschöpfung beitragen, Umweltnutzung und -zerstörung
allerdings positiv zum BIP beitragen oder keine Berücksichtigung finden.
Aus dem Jahresgutachten selbst geht hervor, dass die
umweltökonomischen Gesamtrechnungen Eingang in die
Bewertung des Inlandsproduktes, Konjunkturanalysen
und -prognosen finden sollen, so wie es die Grünen fordern. Im Bericht folgt dann aber ein zusätzlicher Abschnitt: „Die lange Zeit gehegte Vorstellung, durch
entsprechende Ergänzungen das Sozialprodukt in ein
Ökosozialprodukt überführen zu können, das objektiv und
angemessen die Wohlstandsänderung einer Gesellschaft
ausdrückt, hat sich bald als nicht erfüllbar erwiesen“
({0}). Dieser Satz findet sich im Antrag der
Grünen nicht wieder. Das ginge auch nicht, weil er nämlich erklärt, dass die geforderte Einbeziehung von Umweltkosten mit den von den Grünen vorgeschlagenen Indikatoren nicht möglich ist. Prima wäre jetzt gewesen,
wenn der Sachverständigenrat selbst eine Lösung vorgeschlagen hätte, wenn er das Problem doch wenigstens erkennt.
Das große Problem ist immer noch, dass Umweltverbrauch keinen bezifferbaren Wert hat. Das liegt an der
nicht vollständig vorhandenen Festlegung, welche Werte
und Orientierungen im Zusammenhang mit der umweltökonomischen Gesamtrechnung als nachhaltig angesehen werden. Zusätzliche normative Vorgaben, die laut
Jahresgutachten notwendig sind, machen den Unterschied zum volkswirtschaftlichen Rechnungswesen aus
und machen es deshalb schwierig, „bei der Diagnose der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen die Ergebnisse
der umweltökonomischen Gesamtrechnungen zu berücksichtigen“ ({1}).
Es hat den Anschein, als seien die von den Grünen vorgeschlagenen Indikatoren nicht geeignet, eine Umweltberichterstattung außerhalb der umweltökonomischen Gesamtrechnung zu gewährleisten. Diese zu finden, ist die
Herausforderung der nächsten Zeit.
Richtig ist aber, dass Umweltverbrauch und Umweltverschmutzung einen negativen Wert bekommen müssen,
wenn die Entwicklung eines Landes analysiert wird und
daraus Folgerungen für die Zukunft geschlossen werden
sollen.
Dafür sollte aber in den Ausschussberatungen geprüft
werden, ob neue und qualitativ angelegte Indikatoren für
eine Umweltberichterstattung herangezogen und dann
später für Prognosen und Analysen verwendet werden
können oder aber normativ Werte festgesetzt werden müssen, mit denen Umweltverbrauch in den Gesamtrechnungen zu berücksichtigen ist. Der Sachverständigenrat ist
eingeladen, mitzudenken.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Ziel des Sachverständigenrates ist die Beobachtung des Vierecks aus Stabilität des Preisniveaus, hohem
Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum.
Demgegenüber dokumentieren die Umweltökonomischen
Gesamtrechnungen ({0}), inwieweit die Natur durch die
Wirtschaft und die privaten Haushalte verbraucht, entwertet oder gar zerstört wird. Hier wird bereits das
Kernproblem dieses Antrags von Bündnis 90/Die Grünen
klar: Die monetäre Bewertung von Umweltvermögen und
-schäden usw. ist sehr schwierig, da keine Marktpreise
existieren. Die Grundverschiedenheit in den Ansätzen
macht deutlich, dass eine Erweiterung der Aufgabe des
Sachverständigenrates keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringen würde. Ist ein Null- oder Minuswachstum
bei hoher Arbeitslosigkeit deswegen erträglicher, weil die
UGR ein positives Ergebnis zeigen?
Ich halte die Einbeziehung in die Volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnungen ({1}) bzw. die Gemeinschaftsdiagnose für nicht sinnvoll. Eine gemeinschaftliche Konjunkturprognose, die führende deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute jeweils im Frühjahr und im Herbst eines
Jahres erstellen, kann in Zukunft schwerlich vorhersehen,
wie viel Natur durch das prognostizierte Wachstum verbraucht wird. In diesem Fall müsste es einen klaren Zusammenhang zwischen größerer Wertschöpfung bzw.
Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch geben. Die
Entwicklung des Energieverbrauchs zeigt, dass es diesen
Zusammenhang nicht gibt. Der Energieverbrauch ist im
Laufe der Zeit weniger stark angestiegen als das BIP.
Diese Entkopplung zeigt, dass aus mehr Wachstum gerade nicht auf mehr Verbrauch an „sauberer Luft“ oder
an Ressourcen geschlossen werden kann.
Das Bruttoinlandsprodukt ({2}) als zentraler Schwerpunkt der VGR ist natürlich kein vollkommen befriedigender Wohlfahrtsindikator. Die Gründe dafür liegen aber
nicht nur an den von Bündnis 90/Die Grünen formulierten
Schwächen. Für im BIP unberücksichtigte Faktoren wie
wohlfahrtssteigernde Bildungsmöglichkeiten oder die
Gesundheitsversorgung wurden allerdings extra Sozialindikatoren von der OECD entwickelt.
Neben den „Wirtschaftsweisen“ gibt es zudem bereits
einen Sachverständigenrat für Umweltfragen. Die Ergebnisse der UGR werden überdies ohnehin veröffentlicht
und können zur Bewertung einzelner Sachverhalte bei
Bedarf herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund
sollten die Gutachten der Wirtschaftsweisen und der Konjunkturinstitute nicht überfrachtet werden.
Die Erfassung von Umweltschäden und deren monetäre
Bewertung sind schwierig, da keine realen Marktpreise
existieren. Dementsprechend ließen sich wirklichkeitsfremde Berechnungen durch ungenaue Schätzungen und
Fehler beim Erstellen der UGR nicht vermeiden. Würden,
wie es Bündnis 90/Die Grünen hier vorschlägt, diese Berechnungen dennoch mit einbezogen, führte dies unweigerlich zu unsichereren Ergebnissen statt zu einer präziseren Gemeinschaftsdiagnose bzw. Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Erschwerend
kommt hinzu, dass anders als bei den VGR, bei den UGR
keine umfassenden Revisionen stattfinden, wodurch neue
Daten und Statistiken nur in Teilbereichen einbezogen
werden könnten.
Der internationale Vergleich zeigt, dass nur wenige
Länder bisher ähnlich umfassende Daten zu den UGR
erstellen. Eine internationale Vergleichbarkeit einer Gemeinschaftsdiagnose, wie sie in diesem Antrag vorgeschlagen wird, würde damit zusätzlich erheblich erschwert.
Wir Liberalen lehnen aus diesen Gründen den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab. Der
vorliegende Antrag dient allenfalls umweltaktionistischen Darstellungen in der Öffentlichkeit. Ein wirklicher
Nutzen ist weder für die Umwelt noch die Wirtschaft erkennbar. Die möglichst realitätsnahen, am erwähnten
Kanon orientierten Konjunktur- und Wirtschaftsanalysen
und Prognosen dürfen daher nicht durch ungenaue Erhebungen verwässert werden. Dass diese Berechnungen
keinen Anspruch als allumfassender Wohlfahrtsindikator
erheben, versteht sich - zumindest für die FDP-Fraktion von selbst.
Die Fraktion der Grünen verlangt in ihrem Antrag,
dass der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Wirtschaftsforschungsinstitute zukünftig auch die Umweltbelastung
analysieren und prognostizieren. Dieser Forderung
stimmt Die Linke zu. Die Wirtschaftspolitik muss grundlegend geändert werden, weil wir die Umweltzerstörung
aufhalten müssen. Dafür ist wissenschaftlicher Rat hilfreich. Man darf allerdings nicht überschätzen, was damit
gewonnen wäre. Zunächst einmal kann nicht alles, was
uns am Herzen liegt, in Euro bewertet werden. Das gilt
auch für saubere Luft und schöne Landschaften. Man
kann deshalb nicht einfach vom Bruttoinlandsprodukt die
Umweltzerstörung in Euro abziehen und dadurch ein objektives Ökoinlandsprodukt berechnen, das es zu maximieren gilt. Das Statistische Bundesamt verzichtet zu
Recht in seiner Umweltökonomischen Gesamtrechnung
auf die Bewertung von Umweltzustand und Umweltbelastung in Geldeinheiten. Es geht also nicht um eine Korrektur der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern
um eine Ergänzung.
Die Vorstellung, Umweltzerstörung in Geld ausdrücken zu können, reduziert die Umwelt auf ein Wirtschaftsgut. Auch das Statistische Bundesamt ist davon nicht frei.
Im Bericht zu den Umweltökonomischen Gesamtrechnungen 2008 ist zu lesen, dass Ökosysteme wie die Atmosphäre, so wörtlich, Dienstleistungen für wirtschaftliche
Aktivitäten zur Verfügung stellen. Das Verhältnis von
Mensch und Natur wird also als Beziehung zwischen
Dienstleister und Kunden gedacht. Das ist blanker Ökonomismus.
Wenn man Schäden für Mensch und Natur nicht erschöpfend in Geld bewerten kann, dann bleibt die Abwägung eine Frage der Politik. Darüber muss öffentlich diskutiert und entschieden werden. Sie kann nicht an ein
Expertengremium delegiert werden. Sie kann auch nicht
an den Markt delegiert werden. Anhänger einer grünen
Zu Protokoll gegebene Reden
Marktwirtschaft argumentieren, dass der Markt zum richtigen Ergebnis führt, wenn alle Kosten in den Preisen berücksichtigt werden. Sie folgen damit der Theorie von
Milton Friedman, einem der Begründer des Neoliberalismus, demzufolge der Markt eine demokratische Institution ist. Der Ansatz scheitert jedoch daran, dass nicht alle
Schäden auf geldwerte Kosten reduziert werden können,
ganz abgesehen von der Unsicherheit, was zukünftige
Schäden betrifft. Dazu kommt der Verteilungseffekt dieses
Ansatzes: In einer grünen Marktwirtschaft kann man sich
Umweltverschmutzung leisten, wenn man nur genügend
Geld hat.
Die Alternative dazu sind politische Entscheidungen,
bestimmte Produktionstechniken vorzuschreiben oder zu
verbieten oder verpflichtende Grenzwerte zu setzen. Es
kann nicht schaden, wenn sich der Sachverständigenrat
oder die Wirtschaftsforschungsinstitute mit diesen Fragen beschäftigen und die Öffentlichkeit beraten. Solange
sie jedoch an ihrer Marktgläubigkeit festhalten, werden
ihre umweltpolitischen Empfehlungen kaum besser sein
als ihre Wachstumsprognosen in jüngster Vergangenheit.
Wir befinden uns mitten in einer schweren Wirtschaftskrise, und wir befinden uns in einer noch schwereren Klimakrise. Inzwischen dürfte jedem klar geworden sein,
dass diese Krisen zusammenhängen. Sie müssen darum
auch zusammen gelöst werden. Wirtschaftliche Tätigkeit
darf in Zukunft nicht mehr in derselben Weise auf Kosten
des Klimas gehen wie heute.
Eine nachhaltige und umwelt- bzw. klimaschonende
Wirtschaft muss man gestalten. Zuvor aber muss man erfassen, welche Belastungen für Umwelt und Klima das
Wirtschaften erzeugt. Wenn es um die Wirtschaft geht, gucken wir aber immer nur auf das Bruttoinlandsprodukt
({0}). Auch jetzt, in der Wirtschaftskrise, starren wir
ängstlich auf die Zahlen. Um wie viel wird unsere Wirtschaft dieses Jahr schrumpfen? Um 4 Prozent? Um 5 Prozent?
Das BIP misst den Wert der im Inland hergestellten
Waren und Dienstleistungen, abgeleitet aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, VGR. Es ist eine
standardisierte Größe, die internationale Vergleichsmöglichkeiten bietet, und daher unverzichtbar. Das BIP pro
Kopf wird im internationalen Vergleich als Wohlstandsindikator herangezogen. Je höher das BIP pro Kopf eines
Landes, desto reicher ist das Land im Vergleich zu anderen.
Weil das BIP so bequem zu handhaben ist, werden
seine Schwächen gern übersehen. Die Höhe des BIP ist
unabhängig davon, inwieweit bei der Wertschöpfung Kapital unwiederbringlich verbraucht wird. Das gilt auch
für Ressourcen und Fläche. Die Kosten von Umweltzerstörung werden nicht angemessen erfasst, im Gegenteil.
Werden Umweltschäden behoben, zum Beispiel indem
kontaminierter Boden abgetragen und ersetzt wird, steigern die dabei anfallenden Kosten das BIP. So entsteht
das Paradox, dass - zumindest in der Logik des BIP - die
Zerstörung der Umwelt als wohlfahrtssteigernd gilt.
Diese Schwächen des BIP sind seit langem bekannt. In
seinem Jahresgutachten 1996/1997 hat der Sachverständigenrat bereits darauf hingewiesen. Er regte an, die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen, UGR, beim BIP
zu berücksichtigen und in die Konjunktur- und Wachstumsanalyse einzubeziehen. Das ist aber in den folgenden
Jahresgutachten nie geschehen. Wir haben mit den UGR
bereits ein auf die VGR abgestimmtes System für die Umweltmessung. Diese Daten werden auch veröffentlicht,
erfahren aber bei weitem nicht das Interesse, das dem
BIP zukommt.
Darum nehmen wir den Sachverständigenrat beim
Wort und fordern genau das, was er vor über zwölf Jahren
vorgeschlagen hat. Die Umweltnutzung und die Umweltbelastungen sollen ab sofort in die Konjunktur- und
Wirtschaftsanalyse und in die Prognosen des Sachverständigenrats einbezogen werden. Dabei wird auf die
Umweltökonomischen Gesamtrechnungen des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen. Die Ergebnisse werden Bestandteil der Gutachten des Sachverständigenrats.
Auch in die Gemeinschaftsdiagnose soll die Umweltmessung einbezogen werden. Dazu muss in der Ausschreibung des Bundeswirtschaftsministeriums zur
Gemeinschaftsdiagnose stehen, dass neben den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen auch die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen einbezogen werden
müssen. Die Umweltnutzung, Umweltbelastungen und
ihre Veränderungen werden in die Konjunktur- und Wirtschaftsanalysen sowie Prognosen einbezogen. Damit
würde das BIP relativiert, wir könnten zwischen ressourcenschonendem und zerstörerischem Wachstum unterscheiden. Auch wenn inzwischen theoretisch große Einigkeit darüber herrscht, dass CO2-armes Wirtschaften der
einzig gangbare Weg aus den Krisen ist, so ist die Hörigkeit gegenüber dem BIP doch noch groß. Wenn wir das
BIP aber ergänzen, werden in Zukunft bei der Bewertung
von Wohlstand nicht mehr nur ein möglichst hohes BIP
pro Kopf, sondern zum Beispiel auch eine Verringerung
des CO2-Ausstoßes oder ein möglichst geringer Flächenverbrauch eine Rolle spielen.
Die große Resonanz auf den Stern-Bericht „The Economics of Climate Change“ hat klargemacht, dass Zahlen ein Umdenken unterstützen und befördern können.
Die Menschen wollen wissen, was Sache ist. Darum sollten wir auch bei den deutschen Veröffentlichungen zu
Wohlfahrt und Wachstum nicht mehr auf die Umweltdaten
verzichten - zumal wir bereits eine so gute Datenlage
dazu haben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11649 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ÄndeVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
rung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
- Drucksache 16/12256 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Auch die Reden hierzu nehmen wir zu Protokoll. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Wolf Bauer, CDU/CSU, Dr. Marlies Volkmer,
SPD, Daniel Bahr, FDP, Dr. Martina Bunge, Die Linke,
Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Staatssekretärs Rolf Schwanitz für die
Bundesregierung.
Bereits mit dem 14. Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes wurden im Wesentlichen europäische Vorgaben in nationales Recht umgesetzt. Inzwischen besteht
allerdings darüber hinaus noch weiterer Handlungsbedarf. Diesem soll durch die 15. AMG-Novelle Rechnung
getragen werden.
Abgesehen davon ist die Novellierung durch kein zentrales Thema bestimmt. Denn betroffen ist nicht nur das
Arzneimittelgesetz, sondern eine Vielzahl von Gesetzen
und Verordnungen, darunter - nur um einige zu nennen das Betäubungsmittelgesetz, die Arzneimittelpreisverordnung, das Sozialgesetzbuch V, das Krankenhausentgeltgesetz und viele andere mehr.
In den ersten Gesprächsrunden stellte sich heraus,
dass viele der angesprochenen Punkte konsensual sind;
bei einigen noch Diskussionsbedarf besteht. Dieser soll
ja nicht zuletzt auch durch eine Anhörung abgedeckt werden.
Was das Arzneimittelgesetz betrifft, gilt es, europäische Vorgaben umzusetzen, die hauptsächlich die Arzneimittelsicherheit betreffen. Die Novellierung ist daher begrüßenswert, da sie dem Verbraucher, also dem Patienten, mehr Schutz und Sicherheit gewährt.
So sind auch neben der erweiterten Anzeigepflicht bei
Standardzulassungen ergänzende Regelungen zur Reduzierung von Arzneimittelfälschungen vorgesehen: Auch
das ist ein Beitrag zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit.
Einigkeit besteht sicherlich auch darüber, dass die Anpassungen sowohl im Bereich der Arzneimittel für neuartige Therapien als auch bei Kinderarzneimitteln dringend
notwendig und geboten sind. Denn die zugrunde liegenden Verordnungen aus Europa gelten bisher unmittelbar.
Auch wird hier die besondere Stellung der Kinderarzneimittel hervorgehoben. Denn oftmals besteht bei der Medikation von Kindern das Problem, dass keine speziell getesteten und zugelassenen Arzneimittel existieren. Dieser
Umstand führt zu inadäquaten Dosierungsangaben, was
bei Überdosierung das Risiko von Nebenwirkungen erhöht oder bei Unterdosierung zu einer unwirksamen Behandlung führt.
Um unsere Kinder besser mit Arzneimitteln versorgen
zu können, werden die Entwicklung neuer Arzneimittel
gefördert, ihre Verfügbarkeit verbessert und der Zugang
zu Informationen erleichtert.
Ein weiterer grundsätzlicher Bestandteil der Anpassung des Arzneimittelgesetzes an Europarecht ist die
Neudefinition des Arzneimittelbegriffes. Wenn bisher nationaler und europäischer Arzneimittelbegriff auch nicht
wortgleich sind, kamen sie in der Anwendung doch in den
häufigsten Fällen bei der Einordnung eines Arzneimittels
zu den gleichen Ergebnissen. Kam bei der Anwendung
beider Begriffe ein unterschiedliches Ergebnis heraus,
legten unsere Gerichte den nationalen Arzneimittelbegriff bereits europarechtskonform aus. Auch hier dient
die Neuregelung der rechtlichen Klarstellung und ist daher zu begrüßen.
In diesem Zusammenhang soll eine „Zweifelsfall“-Regelung eingeführt werden. Diese Regelung soll nicht prüfen, ob nach der Definition ein Arzneimittel vorliegt, sondern eventuell auftretende Einordnungsproblematiken
lösen. Denn in der Praxis kann es vorkommen, dass ein
Erzeugnis sowohl unter die Definition Medizinprodukt
als auch unter die Definition Arzneimittel fällt. Solche Erzeugnisse definiert die „Zweifelsfall“-Regelung als Arzneimittel, die damit den Vorschriften des Arzneimittelgesetzes unterliegen. Auch diese Novellierung ist zu
begrüßen. Sie schafft Rechtsklarheit, auch wenn sie nationale Gerichte bereits in diesem Sinne anwenden.
Eine weitere europäische Vorgabe betrifft die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln. Durch die Novellierung wird den pharmazeutischen
Unternehmen und den Arzneimittelgroßhändlern ein öffentlicher Sicherstellungsauftrag für die Versorgung mit
Arzneimitteln zugewiesen. Während bislang nur den Apotheken ein solcher Auftrag oblag, haben pharmazeutische
Unternehmen und Arzneimittelgroßhändler nunmehr gemeinsam sicherzustellen, dass der Bedarf an Arzneimitteln für unsere Bevölkerung gedeckt wird. Hintergrund
ist, dass Apotheken auf eine funktionierende Distribution
und Lagerung von Arzneimitteln angewiesen sind. Gerade dies leisten aber pharmazeutische Unternehmen und
die Arzneimittelgroßhändler. Die Novellierung kommt
daher dem gestiegenen Bedürfnis der Patienten nach,
Arzneimittel schnell verfügbar zu haben, und wirkt sich
damit vorteilhaft für die Patienten aus.
In diesem Zusammenhang wird über die europäische
Vorgabe hinaus dem vollversorgenden Großhandel ein
Belieferungsanspruch gegenüber dem pharmazeutischen
Unternehmen eingeräumt. Das ist erforderlich, denn der
Großhandel ist für die Arzneimitteldistribution im deutschen Gesundheitssystem unverzichtbar. Er ermöglicht
eine zeitnahe und flächendeckende Belieferung der Apotheken auch in der entsprechenden Angebotstiefe. Um
diese Funktion dauerhaft zum Wohle des Patienten gewährleisten zu können, benötigt der vollversorgende
Großhandel den Belieferungsanspruch.
Dabei wird jedoch, wie in der Diskussion im Vorfeld
immer wieder angesprochen, der Vertriebsweg nicht festgelegt; der sogenannte Direktvertrieb ist den pharmazeu22886
tischen Unternehmen nicht verwehrt. Auch hat nicht
jeder Großhandel automatisch einen Belieferungsanspruch. Nur der vollversorgende Großhandel, also der
Großhandel, der über eine entsprechende Angebotstiefe
seines Sortimentes verfügt, hat einen Anspruch auf Belieferung durch pharmazeutische Unternehmen. Zudem ist
die Menge der abzugebenden Arzneimittel beschränkt.
Der Anspruch richtet sich auf eine „bedarfsgerechte“ Belieferung. Dieser Bedarf kann anhand entsprechender
Marktdaten des jeweiligen Vormonats zuzüglich eines Sicherheitszuschlages ermittelt werden. Wichtig dabei ist,
dass eine „bedarfsgerechte“ Belieferung nur die Nachfrage auf nationaler Ebene betrifft. Der Export und der
Zwischenhandel innerhalb der Europäischen Union sind
davon nicht umfasst.
In diesen Bereich fällt auch die Änderung der Großhandelsspanne. Dazu wird ein Arbeitsauftrag an das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft erteilt. Ein
weiteres heftig diskutiertes Thema ist - wie könnte es anders sein - der Versand von Arzneimitteln und die damit
verbundene Problematik der Pick-up-Stellen. Arzneimittelsicherheit, flächendeckende Versorgung und Verbraucherschutz sind hier Themen, die so gestaltet sein
müssen, dass die daraus resultierenden hohen Anforderungen an die Abgabe von Arzneimitteln erfüllt werden.
Ob das Pick-up-Stellen leisten können, ist mehr als fraglich. Das größte Problem hierbei ist, dass aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken Versandhandel und Pickup-Stellen nicht isoliert von einander betrachtet und einer
nachhaltigen Lösung zugeführt werden können.
Wolfgang Zöller, unser stellvertretender Fraktionsvorsitzender, sagte dazu am 18. September 2008 hier im Plenum: „Deshalb setzen wir uns auch dafür ein, dass eine
flächendeckende Versorgung nicht durch einen den Wettbewerb verzerrenden Versandhandel gefährdet wird.
Pick-up-Stationen und Arzneimittelautomaten widersprechen den hohen qualitativen Anforderungen, die wir an
die Abgabe von Arzneimitteln stellen.“
Diesbezüglich hat Wolfgang Zöller auch schriftlich
signalisiert, dass wir die „Forderung von Bayern und
Sachsen zur Rückführung des Versandhandels auf das
europarechtlich notwendige Maß“ unterstützen. Die weitere Entwicklung und Bundesratsinitiativen bleiben abzuwarten.
Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang sowohl
das BMG als auch die ABDA ein Konzept für die Ausgestaltung von Pick-up-Stellen vorgestellt haben. Da keine
Einigung über eine gemeinsame Formulierung erreicht
worden ist, bleibt es wohl oder übel beim Status quo.
Im Bereich des SGB V sieht die 15. AMG-Novelle eine
ganze Reihe von wesentlichen Änderungen vor. Hier sind
vor allem die Regelungen zum Krankengeld zu nennen
und das Generieren eines Einsparpotenzials für die GKV
bei den parenteralen Zubereitungen in der Onkologie.
Auch hier bleibt es spannend, wie ein guter Weg gefunden
wird, der einerseits die Qualität der Versorgung in den
onkologischen Praxen und in unseren Krankenhäusern
- stationär und ambulant - gewährleistet bzw. verbessert
und andererseits die GKV um 300 Millionen Euro - wie
im Entwurf dargestellt - entlastet.
Wir haben also noch eine Menge Gesprächsbedarf zur
15. AMG-Novelle. Heute ist ihre erste Lesung. Für Anfang Mai 2009 ist eine Anhörung geplant. Anhand der Ergebnisse dieser Anhörung und mit allen dann vorliegenden Gutachten wird es uns - davon bin ich überzeugt gelingen, noch in dieser Legislaturperiode eine gute
AMG-Novelle zu verabschieden.
Wir beraten heute ein Gesetz, dessen Titel nur wenig
über den Inhalt aussagt. Tatsächlich sollten ursprünglich
mit der sogenannten 15. AMG-Novelle nur einige Anpassungen vorgenommen werden, die durch europäisches
Recht und den Vollzug des Arzneimittelgesetzes notwendig geworden waren.
Aber das Ende der Legislaturperiode naht: Die
nächste Möglichkeit zu Gesetzesänderungen wird es frühestens im nächsten Jahr geben. Vor diesem Hintergrund
ist der Umfang der Kabinettsvorlage beachtlich angewachsen. Deshalb werde ich mich auf einige ausgewählte
Themen beschränken, die in der Öffentlichkeit diskutiert
werden.
Mehrere Änderungen betreffen die Vertriebsstrukturen
von Arzneimitteln. Die wichtigste Änderung an dieser
Stelle ist die Übertragung eines öffentlichen Sicherstellungsauftrages an den pharmazeutischen Großhandel
und die Arzneimittelhersteller.
Die öffentlichen Apotheken sind auf eine kontinuierliche Belieferung mit Arzneimitteln und eine funktionierende Infrastruktur zur Verteilung und Lagerung angewiesen. Nach unserer Auffassung ist nur der
herstellerneutrale Großhandel in der Lage, dies flächendeckend sicherzustellen. Damit der Großhandel den
neuen Gemeinwohlauftrag erfüllen kann, erhält er durch
das Gesetz einen Anspruch auf eine angemessene und
kontinuierliche Belieferung durch die Hersteller. Tatsächlich sind in der Vergangenheit viele Unternehmen
dazu übergegangen, Apotheken direkt mit Arzneimitteln
zu beliefern und den Großhandel damit zu umgehen. Der
Großhandel konnte dadurch in einigen Teilbereichen die
Anfragen der Apotheken nicht mehr bedienen. Dazu
kommt, dass die Vergütung des Großhandels bislang vom
Preis des Arzneimittels abhängig ist. Da meist teure Arzneimittel von den Herstellern direkt in die Apotheken geliefert werden, zum Beispiel biotechnologisch hergestellte Medikamente, wurden dem Großhandel erhebliche
Umsätze entzogen. Die Industrie hat vielfach beklagt,
durch eine solche Regelung würde es ihr unmöglich, Apotheken auch weiterhin direkt zu beliefern. Dies ist nicht
der Fall: Hersteller können auch weiter an Apotheken direkt liefern, aber nicht ausschließlich. Es ist an der Apotheke zu entscheiden, ob sie die Arzneimittel direkt beim
Hersteller bestellen oder lieber über den Großhändler
beziehen möchte. Es ist sachgerecht, dass der Apotheker
über den Vertriebsweg entscheidet und nicht der Hersteller.
Zu Protokoll gegebene Reden
Noch einmal zurückkommen möchte ich auf die Vergütung des Großhandels, die, wie bereits erwähnt, an die
Arzneimittelpreise gekoppelt ist. Zwei gleichzeitig auftretende Effekte haben die Mischkalkulation der Großhändler in eine Schieflage gebracht: Auf der einen Seite werden, wie erwähnt, den Großhändlern teure Präparate
durch den Direktvertrieb entzogen. Auf der anderen Seite
sinken durch unsere Reformmaßnahmen - zum Wohl der
Versicherten und der gesetzlichen Krankenversicherung die Preise für Generika. Der Großhandel kann aber seine
Aufgabe auf Dauer nur dann erfüllen, wenn er eine leistungsgerechte und auskömmliche Vergütung erhält. Deshalb soll die Großhandelsvergütung in der Arzneimittelpreisverordnung neu gestaltet werden. Festgelegt wird
allerdings nur, dass das Gesundheitsministerium und das
Wirtschaftsministerium einen Vorschlag vorlegen, der
zum 1. Januar 2010 in Kraft treten soll. Der Vorschlag
soll die Großhandelszuschläge auf einen preisunabhängigen Fixbetrag zuzüglich eines prozentualen Zuschlags für
die Logistikleistung umstellen. Derzeit wird noch über die
Höhe des Fixbetrages diskutiert. Auf keinen Fall darf die
Umstellung der Vergütung zu einer Mehrbelastung der
gesetzlichen Krankenversicherung und damit der Versicherten führen.
In der Öffentlichkeit viel beachtet wurden die Änderungen, die den Krankengeldanspruch für Selbstständige
betreffen. Bekanntlich wurden mit der letzten Gesundheitsreform Wahltarife zur Absicherung des Krankengeldanspruchs für hauptberuflich Selbstständige, unständig und kurzzeitig Beschäftigte eingeführt. Seit dem
1. Januar 2009 müssen die Krankenkassen solche Tarife
anbieten. Bei der Umsetzung hat sich allerdings gezeigt,
dass vor allem ältere Versicherte von der Regelung benachteiligt werden. Deshalb erhalten die genannten Personengruppen künftig wieder die Möglichkeit, wie normale Arbeitnehmer einen Krankengeldanspruch gegen
Zahlung des allgemeinen Beitragssatzes ab der siebten
Woche der Arbeitsunfähigkeit abzusichern. Aber auch
der Abschluss von Wahltarifen bleibt möglich. Differenzierungen nach dem individuellen Risiko der Versicherten, also Altersabstaffelungen, oder Differenzierungen
nach dem Geschlecht oder Krankheitsrisiko der Versicherten sollen aber künftig nicht mehr zulässig sein.
Viel diskutiert werden auch die Regelungen zur Abrechnung von onkologischen Rezepturen. Im Sinne einer
Gleichbehandlung unterschiedlicher Arzneimittel und
Darreichungsformen ist es, dass auch bei Infusionen, die
unter anderem bei der Krebs- oder Rheumatherapie angewandt werden, Rabatte und Einkaufsvorteile von den
Apotheken an die Krankenkassen weitergegeben werden.
Damit können die gesetzlichen Krankenkassen erheblich
entlastet werden. Ohne an dieser Stelle ins Detail gehen
zu wollen: Wir werden genau darauf achten, dass die Änderungen in der Praxis umsetzbar sind. Die Sicherstellung der flächendeckenden und wohnortnahen Versorgung der Krebspatienten darf durch die Neuregelungen
nicht gefährdet werden.
Im Interesse privat krankenversicherter Krebskranker
ist eine andere Maßnahme im Zusammenhang mit onkologischen Zubereitungen. Bisher verlangen die Apotheken für die Abgabe neben einem Rezepturzuschlag einen
Zuschlag von 90 Prozent auf den Einkaufspreis der Apotheke. Ein solcher Zuschlag ist gerechtfertigt, wenn zum
Beispiel eine einfache Salbe angefertigt werden muss. Bei
teuren Krebsmedikamenten ist das anders: Aufwand und
Preis stehen hier in einem krassen Missverhältnis. Hier
sind in der Vergangenheit Patienten, Beihilfeträger und
private Krankenversicherungen finanziell massiv belastet worden. Die gesetzliche Krankenversicherung darf
Regelungen über Einkaufspreise, Fest- und Rezepturzuschläge vereinbaren, die von der Arzneimittelpreisverordnung abweichen. In Zukunft soll unter anderem auch
die private Krankenversicherung derartige Vereinbarungen treffen dürfen. Wenn eine solche Vereinbarung nicht
vorliegt, soll auf die Vereinbarungen der gesetzlichen
Krankenversicherung zurückgegriffen werden können.
Es gäbe noch viele Themen zu besprechen, was mir aus
Zeitgründen nicht möglich ist. Deshalb möchte ich Sie auf
die anstehenden Ausschussberatungen und die öffentliche Anhörung verweisen.
Die 15. AMG-Novelle beschäftigt sich nur zu einem
kleinen Teil mit arzneimittelrechtlichen Fragen. Sie wird
darüber hinaus von der schwarz-roten Regierung genutzt, um alle möglichen Reparaturen in diversen Gesetzen und Verordnungen vorzunehmen. Erstaunlicherweise
betrifft das auch ein Gesetz, das erst zum 1. Januar 2009
in Kraft getreten ist, also vor noch nicht einmal drei Monaten, nämlich das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz. Aber das ist ja nichts Neues. Es beweist wieder einmal, mit welch heißer Nadel die Koalition ihre Gesetze
strickt, unbeeindruckt davon, dass sie damit Chaos und
Unruhe schafft und viel zu viele Ressourcen für Reparaturarbeiten vergeudet werden.
Was den arzneimittelrechtlichen Bereich anbelangt,
möchte ich nur zwei Beispiele herausgreifen. Das eine ist
der öffentliche Sicherstellungsauftrag für den Arzneimittelgroßhandel. Ohne hier eine vorschnelle Wertung vornehmen zu wollen, verwundert es doch, dass diejenigen,
die kontinuierlich den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen unterhöhlt haben, nun einen
solchen für den Großhandel schaffen wollen. Fraglich ist
in dem Zusammenhang auch, ob man dem Großhandel einen Belieferungsanspruch einräumen muss. Es mag ordnungspolitisch sinnvollere Wege geben, wie man sicherstellen kann, dass Patienten mit den Arzneimitteln
versorgt werden können, die sie benötigen. Das alles werden wir in der Anhörung im Gesundheitsausschuss noch
einmal ausführlich diskutieren müssen.
Beispiel Nummer zwei: die Versorgung mit patientenindividuellen Rezepturen. Da frage ich mich, warum
überhaupt eine Änderung vorgenommen werden soll. Die
aktuelle Regelung, dass solche patientenindividuellen
Rezepturen von der Zulassungspflicht ausgenommen
sind, hat bisher doch nicht zu irgendwelchen Problemen
geführt. Warum dies nunmehr auf Zytostatika und Lösungen für die parenterale Ernährung beschränkt werden
soll, vermag von daher nicht einzuleuchten. Es gibt andere Erkrankungsformen, bei denen ebenfalls solche patientenindividuellen Rezepturen notwendig sind, wie zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Daniel Bahr ({0})
Beispiel die Mukoviszidose oder die zystische Fibrose.
Ich habe nirgendwo eine Begründung gelesen, warum
man diese Indikationen anders behandeln sollte als onkologische Erkrankungen.
Darüber hinaus gibt es aber weitere Punkte, zum Beispiel im Krankenhausbereich. Das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz war nicht exakt genug gefasst. Das
hat zu Meinungsschwierigkeiten darüber geführt, ob bei
Verhandlungen der Landesbasisfallwerte 2009 die krankenhausindividuellen Basisfallwerte des Jahres 2008
zugrunde gelegt werden oder ob die vereinbarten Landesbasisfallwerte die Grundlage bilden sollen. Die Klarstellung im Gesetz ist deshalb vom Grundsatz her zu begrüßen. Allerdings muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist,
dies schon für das Jahr 2009 so vorzugeben und nicht erst
für die Zeit ab 2010. Bis zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens werden in vielen Ländern die Verhandlungen bereits abgeschlossen sein. Eine Rückabwicklung
kann niemand allen Ernstes wollen.
Es gibt ein weiteres Gesetz, bei dem eine Änderung
notwendig ist, weil die entsprechenden Regelungen einfach schlecht gemacht waren. Das ist das sogenannte
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, mit dem insbesondere
für selbstständig Versicherte mit Wirkung ab dem
1. Januar 2009 Wahltarife zur Absicherung des Krankengeldanspruches eingeführt und gleichermaßen der Anspruch auf Absicherung des Krankengeldes im Rahmen
der „normalen“ Krankenversicherung herausgenommen
worden ist. Hier rächt sich, dass man keine klare, saubere
Lösung gefunden hat. Entweder belässt man den Krankengeldanspruch in der Versicherung oder man löst ihn
heraus mit der Konsequenz, dass jeder, der das absichern
möchte, dies privat tun kann und dann auch sicher ist,
dass er seinen Anspruch behält. Will eine gesetzliche
Krankenversicherung ihren Versicherten ein Gesamtangebot unterbreiten, kann sie entsprechende Kooperationen mit privaten Anbietern eingehen. Darüber hinaus
hätte man selbstverständlich für eine Übergangsregelung
für diejenigen sorgen müssen, die aufgrund ihres Lebensalters oder ihres Krankheitsrisikos mit besonders hohen
Prämien zu rechnen hatten. All das hat die Regierung versäumt. Stattdessen will die Regierung jetzt einen Wahltarif der gesetzlichen Krankenkassen schaffen, der keine
Alters- und Risikostaffelungen vorsehen darf, und will zudem die Möglichkeit einräumen, über einen Zuschlag das
Krankengeldrisiko im Rahmen der „normalen“ Verträge
abzusichern. So etwas führt zwangsläufig zu Risikoselektion. Die Zeche all dieser Reparaturarbeiten, die wiederum schlecht ausgeführt werden, zahlen die Bürger.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
wird die Umsetzung der EU-Verordnungen 1901/2006
und 1394/2007 zum Anlass genommen, ein komplexes
Sammelsurium von Gesetzesänderungen vorzulegen. Das
erscheint nachvollziehbar, ist es doch eine der letzten
Möglichkeiten für die Bundesregierung, erforderliche
Änderungen auf den Weg zu bringen. Allerdings sagt es
viel über die Arbeitsweise der Bundesregierung aus, dass
wieder einmal Fehler früherer Gesetzesänderungen korrigiert werden müssen.
Zu den zahlreichen erst kürzlich beschlossenen und in
Kraft getretenen Regelungen, die präzisiert, zurückgenommen oder ausgeführt werden, gehört beispielsweise
die Änderung zum Krankengeld, die gerade zum 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist. Hier zeigt sich der mangelnde Weit- und Überblick dieser Regierung. Hier fehlt
es an einer klaren Linie und an klaren Zielen. Dabei soll
nicht vergessen werden, dass durch solche Schnellschüsse auch Kosten entstehen. Mir liegen Schreiben von
Krankenkassen vor, die zu Recht die Kosten für die Entwicklung und Kalkulation von Wahltarifen zum Krankengeld beklagen, die nun nicht mehr gebraucht werden. Betrachte ich diese Gesetzesvorlage, bin ich mir ziemlich
sicher, dass auch die hier vorgeschlagenen Regelungen
zum Teil nur eine geringe Halbwertzeit aufweisen werden, wenn sie so beschlossen werden.
Die vorgelegten Regelungen zum Krankengeld sind
nur teilweise eine Lösung für die Probleme, die durch die
kürzlich in Kraft getretenen Gesetzesänderungen entstanden sind. Es gibt zahlreiche Kritikpunkte. Die Beibehaltung eines Wahltarifs als einer freiwilligen Absicherung
wird beispielsweise zweifellos dazu führen, dass gerade
geringverdienende Selbstständige sich diesen Aufwand
nicht leisten werden oder können. Damit werden im
Krankheitsfall Transferleistungen notwendig, also Kosten nur verschoben. Vielen selbstständigen Frauen dürfte
es auch nicht bekannt sein, dass am Wahltarif für Krankengeld auch das Mutterschaftsgeld hängt. Dies wird
letztlich auch auf die noch ungeborenen Kinder zurückfallen. Wir brauchen ein bezahlbares Krankengeld für
alle.
Die geplanten Regelungen in den §§ 129 und 129 a
SGB V sollen dazu beitragen, dass die Preiskalkulation
von Apotheken und Krankenhausapotheken bei der Zubereitung von Fertigarzneimitteln für die Krebsbehandlung
klarer wird und die Krankenkassen auch von niedrigen
Einkaufspreisen profitieren. Wenn man sich in diese Logik hineinbegibt, ist die Regelung logisch. Allerdings
sollte dabei berücksichtigt werden, dass weiterhin Anreize für die Krankenhäuser und Apotheken bestehen
bleiben müssen, Arzneimittel günstig einzukaufen bzw.
herzustellen. Ansonsten entstehen den Krankenkassen
eher Mehrkosten und die Versorgungsstruktur mit onkologischen Arzneimitteln wird gefährdet.
Die Bundesregierung stärkt auch den Pharmagroßhandel. Das ist zu begrüßen. Damit ist sichergestellt, dass
alle Medikamente flächendeckend und schnellstmöglich
an die Apotheken und damit an die Patientinnen und Patienten geliefert werden können. Der Entwurf der Regierung beinhaltet die Verpflichtung der Hersteller, den
Großhandel zu beliefern, und des Großhandels, die Versorgung der Apotheken sicherzustellen. Zudem wurde mit
der Einführung eines preisunabhängigen Fixzuschlags
die Vergütung für den Großhandel angepasst. Dies soll
dafür sorgen, dass sich auch der Vertrieb niedrigpreisiger
Arzneimittel lohnt. Damit scheint ein Schritt in die richtige Richtung vollzogen zu werden. Fraglich bleibt, wie
der zunehmenden Monopolbildung im Großhandel entgeZu Protokoll gegebene Reden
gengewirkt werden kann. Diese wird ansonsten auf Dauer
zu Versorgungs- und Kostenproblemen führen.
Im Gesetzentwurf sind also Verbesserungen vorgesehen; einige wünschenswerte und lange überfällige Verbesserungen fehlen jedoch. Wenn es schon die Arbeitsweise dieser Bundesregierung ist, Gesetze mit zahllosen
Regelungen anzureichern und mit nachfolgenden Gesetzesänderungen vorherige Gesetze zu korrigieren, dann
sollte sie dies wenigstens konsequent fortführen. So
konnte sich die Bundesregierung nicht durchringen, endlich Regelungen zum Versandhandel mit Arzneimitteln zu
erlassen. Nicht zuletzt aufgrund des sogenannten dm-Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2008
besteht aus unserer Sicht Handlungsbedarf. Die Linke
will eine patientennahe, sichere und rasche Arzneimittelversorgung auf lange Sicht flächendeckend sicherstellen.
Die unabhängige und umfassende Beratung in den Apotheken soll daher weiter ausgebaut werden. Den Versandhandel nur auf rezeptfreie Arzneimittel zu beschränken,
kann unseres Erachtens hierzu einen wichtigen Beitrag
liefern. Einen entsprechenden Antrag hat meine Fraktion
Die Linke in den Bundestag eingebracht. Diese Änderung
könnte hier ganz leicht eingefügt werden.
Ebenso verpasst die Bundesregierung die Chance,
eine weitere Korrektur ihrer Politik bei der Hilfsmittelversorgung vorzunehmen. Es hat sich gezeigt, dass die
Ausschreibungen genau zu den Problemen geführt haben,
die meine Fraktion bei der Einführung der Ausschreibungen mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz befürchtet hatte. Die niedrigsten Preise bestimmen die Ausschreibungen, und die Notleidenden sind die Patientinnen und
Patienten, die weder wohnortnah noch qualitativ hochwertig versorgt werden. Die Auswirkungen fehlender
Qualität bekommen derzeit beispielsweise zahlreiche
Menschen zu spüren, die auf Inkontinenzartikel angewiesen sind.
Als fehlend sind weiterhin zu benennen: der Abbau der
überstarken Belastung geringverdienender Selbstständiger durch Krankenkassenbeiträge oder die Sicherung der
vollständigen Versorgung für Personen, die mit Krankenkassenbeiträgen im Rückstand sind. So aber bleibt dieser
Gesetzentwurf trotz einiger guter Ansätze hinter seinen
Möglichkeiten zurück.
Bereits die Überschrift dieses Gesetzespaketes macht
deutlich, dass wir es nicht mit einer der üblichen Arzneimittelgesetznovellen zu tun haben. Normalerweise würden wir von der 15. AMG-Novelle sprechen, aber der
Omnibus ist so vollgeladen, dass dies sogar in der Überschrift deutlich werden muss.
Aus dem Kontext des Arzneimittelrechtes will ich zwei
Aspekte aufgreifen: den Großhandel und die Definition
anthroposophischer Arzneimittel.
Der Sicherstellungsauftrag zur flächendeckenden
Vollversorgung mit Arzneimitteln soll auf den Großhandel und die pharmazeutischen Unternehmen ausgeweitet
und eine Lieferverpflichtung von Pharmaherstellern eingeführt werden. Ergänzend soll die Arzneimittelpreisverordnung geändert werden.
Für uns Grüne stellen sich die Fragen: Sind diese
Maßnahmen notwendig? Sind sie auch in Zukunft tragfähig oder werden Strukturen zementiert und der Wettbewerb verschiedener Vertriebswege verzerrt? Sinnvoll und
konsequent erscheint uns die Ersetzung der prozentualen
und damit preisabhängigen Großhandelszuschläge durch
einen Fixbetrag plus ergänzenden prozentualen Zuschlag.
Systematisch knüpft dies an die Umstellung der Apothekenzuschläge an und würde die tatsächlichen Distributionsleistungen des Großhandels realistischer abdecken als das
bestehende System. Dies darf, wie vorgeschlagen, nicht zu
zusätzlichen Belastungen der Krankenkassen und somit
der Versicherten führen. Diese Umstellung kann jedoch
auch ohne die Einführung des erweiterten Sicherstellungsauftrags geschehen; die Verknüpfung, die die Bundesregierung aufstellt, leuchtet nicht ein.
Die Erweiterung des Sicherstellungsauftrages auf den
Großhandel sehen wir kritisch. Ist dies ein Schutzschirm
über den Großhandel, der bereits jetzt eher oligopolistisch strukturiert ist? Ver- oder behindert der Vorschlag
nicht die Entwicklung neuer veränderter Strukturen in
der Arzneimitteldistribution?
Bereits die Umstellung der Preisverordnung dürfte
Auswirkungen auf die Konkurrenz zwischen Direktvertrieb und Großhandel haben; der Anreiz zum Direktvertrieb hochpreisiger Medikamente wird sinken. Warum
zum jetzigen Zeitpunkt darüber hinausgehende Regelungen notwendig sein sollten, erschließt sich uns nicht.
Es ist begrüßenswert, dass nun auch anthroposophische und nicht nur homöopathische und pflanzliche Arzneimittel definiert werden. Warum jedoch im Gegensatz
zu den dortigen Definitionen nicht nur die Entwicklung
und Herstellung gemäß der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis, sondern auch die Anwendung nach diesem Ansatz Bestandteil der Definition sein
soll, ist nicht nachvollziehbar.
Aus den weiteren 17 Artikeln möchte ich noch zwei
Aspekte aus dem SGB V aufgreifen: Das Krankengeld
und die ambulante Versorgung psychisch kranker Kinder.
Positiv zu bewerten ist die Einsicht der Bundesregierung, dass die mit der Gesundheitsreform eingeführte
Neuregelung des Krankengeldes für Selbstständige sowie
unständig oder kurzzeitig Beschäftigte korrigiert werden
muss. Die vorgeschlagenen Regelungen - Anspruch auf
gesetzliches Krankengeld - scheinen jedoch, wie sich aus
der massiven Kritik von Betroffenen als auch der Krankenkassen schließen lässt, zu kurz gesprungen. Gerade
für die Gruppe der unständig Beschäftigten fehlen die
notwendigen Verbesserungen. Die Krankenkassen nach
wenigen Monaten zu einem völlig neu zu kalkulierenden
Wahltarif zu verpflichten, von dem nicht abzuschätzen ist,
ob er überhaupt angenommen wird, fällt eher in die Kategorie „überflüssig“. Der Unterausschuss „Arzneimittel“ des Gesundheitsausschusses des Bundesrats fordert
zu Recht, die Wahltarife von einer Muss- in eine Kannbestimmung zu ändern.
Zu Protokoll gegebene Reden
An den massiven Problemen der Fortführung der Sozialpsychiatrievereinbarung, die wir in den letzten Monaten erlebten, zeigt sich einmal mehr, welche negativen
Folgen die Einführung des Gesundheitsfonds nach sich
zieht. Der Vorschlag der Bundesregierung, die SPV für
alle Krankenkassen einheitlich zu regeln, wird von uns
Grünen sehr begrüßt. Im Gesetzgebungsprozess sollten
wir jedoch intensiv erörtern, ob diese Regelung ausreicht.
Aus Baden-Württemberg wird mir berichtet, dass Krankenkassen die Regelungen so interpretieren, dass sie nur
die sozialpädiatrische Diagnostik übernehmen wollen
und die Kinder und Jugendlichen zur Therapie an die Jugendhilfe verwiesen werden sollen. Dies entspricht aus
meiner Sicht nicht dem Wunsch des Gesetzgebers und
sollte klargestellt werden. Ebenso notwendig ist es, dass
die Krankenkassen Übergangsregelungen bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes abschließen.
Der von der Bundesregierung heute eingebrachte Entwurf für ein Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher
und anderer Vorschriften enthält im Wesentlichen Anpassungen des Arzneimittelgesetzes an europäische Verordnungen und an Erfahrungen aus dem Vollzug. Mit dem
Gesetzentwurf wird die Arzneimittelsicherheit weiter verbessert. Zudem werden so weit wie möglich Verfahrenserleichterungen für die Arbeit der Behörden und der Unternehmen geschaffen.
Der Gesetzentwurf enthält neben den Änderungen des
Arzneimittelgesetzes Änderungen anderer Gesetze, insbesondere des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Wesentliche Anpassungen im Arzneimittelgesetz gehen auf zwei
EG-Verordnungen zurück: die Verordnung über Arzneimittel für neuartige Therapien und die über Kinderarzneimittel.
Arzneimittel für neuartige Therapien unterliegen
grundsätzlich der europäischen Verordnung. Zu den Arzneimitteln für neuartige Therapien zählen zum Beispiel
biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte, die in der
regenerativen Medizin angewendet werden. Soweit solche Arzneimittel nicht routinemäßig, sondern individuell
für einzelne Patientinnen und Patienten hergestellt werden, unterliegen sie nicht den Zulassungsregelungen der
EU-Verordnung. Deshalb sollen im Arzneimittelgesetz
ähnliche Qualitäts- und Sicherheitsstandards geschaffen
werden, wie sie auch in den Fällen routinemäßiger, also
industrieller Herstellung im Rahmen der EU-Verordnung
erfüllt werden müssen. Damit werden der Zugang der Patientinnen und Patienten zu diesen Arzneimitteln und zugleich ein hohes Qualitäts- und Sicherheitsniveau gewährleistet.
Hinsichtlich der Verordnung über Kinderarzneimittel
sind im AMG insbesondere Bußgeldbewehrungen und
Klarstellungen zur Kennzeichnung vorgesehen.
Nach der Föderalismusreform ist es möglich und aus
Gründen der Arzneimittelsicherheit auch erforderlich,
die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes auch auf solche
Arzneimittel auszudehnen, die nicht dazu bestimmt sind,
in Verkehr gebracht zu werden. Damit werden auch insbesondere solche Arzneimittel erfasst, die von der Ärztin
oder vom Arzt zur Anwendung an den eigenen Patientinnen und Patienten selbst hergestellt werden.
Zur weiteren Erhöhung der Arzneimittelsicherheit
dient die Regelung des Anwendungsverbotes bedenklicher Arzneimittel.
Einen wichtigen Beitrag zu mehr Arzneimittelsicherheit leisten die Regelungen zum Schutz vor Fälschungen.
Hier werden insbesondere die derzeit für Arzneimittel
geltenden Vorschriften auch auf Wirkstoffe zur Arzneimittelherstellung ausgedehnt.
Schließlich enthält der Entwurf Ergänzungen zur klinischen Prüfung im Interesse des Schutzes der Probanden
und der Arzneimittelentwicklung.
Damit auch in Zukunft die flächendeckende Arzneimittelversorgung für die Patientinnen und Patienten gewährleistet ist, erhalten der Großhandel und der pharmazeutische Unternehmer einen Sicherstellungsauftrag für
die Arzneimittelversorgung der Patientinnen und Patienten. Hierfür ist es notwendig, dass der vollversorgende
Großhandel einen gesetzlichen Belieferungsanspruch gegenüber der Pharmaindustrie erhält, damit er seiner Verantwortung nachkommen kann. Darüber hinaus wird der
Verordnungsgeber verpflichtet, die Großhandelsspannen
neu zu gestalten.
Die Änderungen im Betäubungsmittelgesetz dienen im
Wesentlichen der Anpassung an Regelungen und Änderungen im Arzneimittelgesetz und in anderen Vorschriften. Für Patientinnen und Patienten bei klinischen Prüfungen und „Compassionate Use“ ist eine Ausnahme
von der betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnispflicht
vorgesehen. Damit werden die ({0})Ärztinnen und
({1})Ärzte und das Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte von unnötigem bürokratischen Aufwand
entlastet. Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs bleiben in gleichem Maße gewährleistet.
Lassen Sie mich nun kurz die wichtigsten Änderungen
der Gesetze benennen, die nicht im Zusammenhang mit
den Änderungen des Arzneimittelgesetzes stehen: Besonders hervorzuheben sind die Änderungen im SGB V, insbesondere die Änderungen zum Krankengeld: Das GKVWettbewerbsstärkungsgesetz hat für bestimmte Versichertengruppen mit Wirkung ab 2009 Wahltarife zur Absicherung des Krankengeldanspruchs eingeführt. Damit
wurden flexible Angebote für die Versicherten ermöglicht. Bei der Umsetzung der Vorgaben durch die Krankenkassen hat sich allerdings gezeigt, dass die gesetzlichen Vorgaben zur Vermeidung von ungerechtfertigten
Belastungen, vor allem bei älteren Versicherten, und zur
Verwaltungsvereinfachung angepasst werden müssen.
Versicherte, die einen Krankengeldanspruch nach den
Regelungen des GKV-Wettbewerbstärkungsgesetzes seit
1. Januar 2009 allein über einen Wahltarif absichern
konnten, erhalten deshalb künftig wieder die zusätzliche
Option, wie Arbeitnehmer gegen Zahlung des allgemeinen Beitragssatzes einen „gesetzlichen“ Krankengeldanspruch ab der siebten Woche der Arbeitsunfähigkeit
abzusichern. Daneben ist auch weiterhin der Abschluss
von Wahltarifen möglich. Auch über den „gesetzlichen“
Zu Protokoll gegebene Reden
Anspruch hinausgehende Absicherungswünsche können
weiterhin über Wahltarife realisiert werden. Entgegen
der bisherigen Praxis vieler Krankenkassen sind künftig
aber Differenzierungen nach dem individuellen Risiko
der Versicherten, insbesondere also Altersstaffelungen,
nicht mehr möglich.
Eine weitere wichtige Änderung im SGB V ist die Regelung zur Sicherung der Fortführung der Versorgung
mit Leistungen der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung. Aufgrund von Kündigungen der Sozialpsychiatrie-Vereinbarungen durch Krankenkassen ist bei den betroffenen Ärztinnen und Ärzten, deren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern und den betroffenen Patientinnen und Patienten sowie deren Familien erhebliche Unsicherheit
entstanden, da die Finanzierung nichtärztlicher Leistungen im Rahmen sozialpädiatrischer und psychiatrischer
Tätigkeit zur Disposition gestellt wurde. Um die Sorge
über die Fortführung der Versorgung mit Leistungen der
So-zialpsychiatrie-Vereinbarung zu beenden, wird gesetzlich klargestellt, dass die Krankenkassen für diese
Leistungen eine angemessene Vergütung vereinbaren
müssen und dass das Nähere hierzu im Bundesmantelvertrag zu vereinbaren ist.
Hervorheben möchte ich die Änderungen im SGB V
zur Abrechnung parenteraler Zubereitungen. Apotheken,
die Arztpraxen mit Infusionen und anderen parenteralen
Zubereitungen versorgen, sollen künftig offenlegen, wo
sie die Arzneimittel eingekauft haben, aus denen die Zubereitung hergestellt worden ist. Das verbessert die Arzneimittelsicherheit. Außerdem sollen die Einkaufsvorteile
für Infusionsarzneimittel weitergeleitet werden. Rabatte
sollen nicht in der Vertriebskette versickern. Das Geld
soll in die medizinische Versorgung der Patientinnen und
Patienten fließen. Die Apotheken erhalten auch die Möglichkeit, künftig die Einkaufspreise für Arzneimittel zur
Herstellung von Infusionen frei zu vereinbaren. Dies verbessert die Wirtschaftlichkeit und stärkt die ortsnahe Versorgung durch Apotheken.
Der Gesetzentwurf enthält auch die Regelungen zur
elektronischen Gesundheitskarte. Im Zusammenhang mit
ihrer Einführung hat sich aus unterschiedlichen Gründen
Anpassungsbedarf für gesetzliche Regelungen ergeben.
Um den Arbeitsabläufen in der Praxis Rechnung zu tragen, soll in Zukunft neben den Leistungserbringern auch
deren Praxispersonal befugt sein, die Einwilligung der
Versicherten zum Speichern ihrer Daten mittels der elektronischen Gesundheitskarte zu dokumentieren. Darüber
hinaus wird klargestellt, dass auch die ambulant tätigen
Krankenhäuser von den bestehenden Finanzierungsregelungen erfasst sind. Zusätzlich werden die bereits bestehenden umfangreichen Aufgaben des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik detaillierter im
Gesetz geregelt. Die gesetzlichen Anpassungen sind erforderlich, um die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte weiter zu unterstützen.
Der Entwurf enthält ein ganzes Bündel wichtiger Maßnahmen, nicht zuletzt wegen der europarechtlichen Bezüge müssen wir den Entwurf rasch umsetzen. Lassen Sie
uns daher nun konzentriert und intensiv im Ausschuss
über den Entwurf beraten.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12256 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt
Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts
({1})
- Drucksache 16/5596 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wir nehmen die Reden der Kolleginnen und Kollegen Daniela Raab, CDU/CSU, Christine Lambrecht,
SPD, Jörg van Essen, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke,
Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll.
Am 19. Dezember 2008, also vor genau vier Monaten,
habe ich zuletzt über dieses Thema geredet. Ich habe
schon damals wiederholt gesagt, dass ich gar nicht wissen will, wie oft wir schon wegen dieser Thematik hier zusammengekommen sind. Diesmal fordert die Fraktion der
Grünen also erneut eine vollständige Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe in Bezug
auf die Adoptionsrechte. Sie begründet dies unter anderem mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
17. Juli 2002 und den Inhalten des Europäischen Übereinkommens vom 24. April 1967 zur Kindesadoption.
Leider muss ich Ihnen auch heute wieder mitteilen,
dass insbesondere im Bereich der Adoption keinerlei Zustimmung vonseiten der Union zu erwarten ist. Wir sind
weiterhin gegen ein volles Adoptionsrecht für Lebenspartnerschaften und somit gegen ein erneutes „Heranrücken“ an die Ehe. Wir haben der Stiefkindadoption zugestimmt, was schon ein großer Schritt war. Außerdem kann
auch ein Lebenspartner, dessen Partner ein adoptiertes
Kind hat, nach § 9 LPartG zur Mitentscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens, die das Kind betreffen,
befugt sein. Er ist bei Gefahr im Verzug nach § 9 Abs. 2
LPartG ebenfalls berechtigt, zum Wohl des Kindes auch
allein zu handeln. Sie liefern also keine neue Basis, die
eine gemeinsame Adoption eines Kindes durch Lebenspartner auf eine solide, sozialwissenschaftlich gesicherte
Tatsachengrundlage stellen würde und bei der das Kindeswohl im Vordergrund steht. Das vom BMJ ins Leben
gerufene Forschungsvorhaben zur Situation von Kindern
in Lebenspartnerschaften und Lebensgemeinschaften von
Menschen gleichen Geschlechts ist weder abgeschlossen,
noch gibt es erste Erkenntnisse. Daher werden wir von
der Union uns auch weiterhin gegen diese Möglichkeit
aussprechen.
Grundsätzlich ist festzuhalten: Klar ist für mich persönlich - und da spreche ich für viele meiner Kollegen -:
Eine völlige Gleichstellung von Ehe und Lebenspartnerschaft streben wir nicht an und sie ist auch nicht geboten!
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es dem Gesetzgeber wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes grundsätzlich nicht verwehrt, diese gegenüber
anderen Lebensgemeinschaften zu begünstigen. Das bedeutet nicht etwa eine Schlechterstellung oder Benachteiligung der Lebenspartnerschaften, aber eine Andersbehandlung.
Wir beraten heute in erster Lesung den von der Fraktion der Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des Adoptionsrechts. Hier vorgesehen ist
die Angleichung der Lebenspartnerschaft an die Ehe im
Adoptionsrecht und die Ermöglichung einer gemeinsamen Adoption für eingetragene Lebenspartnerschaften.
Derzeit ist es für Homosexuelle nur möglich, ein Kind als
Einzelperson anzunehmen, da nur Verheirateten die Möglichkeit offen steht, gemeinschaftlich ein Kind anzunehmen. Ein erster Schritt in die Richtung, dies zu ändern,
war die Stiefkindadoption, die seit 2005 möglich ist.
Ein Blick zurück zeigt, dass wir seit der Einführung des
Lebenspartnerschaftsgesetzes 2001 durch die rot-grüne
Koalition viel erreicht haben, jedoch leider noch nicht die
vollständige Gleichstellung mit der Ehe. Das Bundesverfassungsgericht hat die Gleichstellung mit der Ehe durch
sein Urteil vom 17. Juli 2002 vom Grundsatz her bestätigt. Unter anderem steuerrechtlich oder im Beamtenrecht behandelt das Gesetz Lebenspartner aber noch immer nicht gleich. Hier haben wir noch eine Menge zu tun,
ich gehe aber acht Jahre nach dem Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes davon aus, dass wir trotz der
Widerstände einiger konservativer Kräfte die Vollendung
der Gleichstellung mit der Ehe doch noch erreichen können.
Das von der rot-grünen Koalition 2004 verabschiedete
Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts glich weiterhin die Rechte und Pflichte in der Lebenspartnerschaft denen in der Ehe so weit wie möglich
an. Es wurde im Zuge dessen auch ein kleines Adoptionsrecht, die Stiefkindadoption leiblicher Kinder der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners eröffnet. So ist es
durch die Stiefkindadoption seit Beginn 2005 erstmals
möglich in Deutschland, dass zwei Mütter oder zwei Väter rechtlich als Elternpaar anerkannt werden. Die gemeinschaftliche Annahme bleibt aber Ehepaaren vorbehalten. Aufgrund des Verbotes von Kettenadoptionen
kann ein adoptiertes Kind auch nicht durch weitere Personen adoptiert werden. Die Stiefkindadoption ist für die
Paare an strenge Voraussetzungen geknüpft. Die Adoption ist mit allen Konsequenzen endgültig. Verwandtschaftsbeziehungen zum leiblichen Elternteil, auch die
unterhaltsrechtlichen und erbrechtlichen Ansprüche an
die leiblichen Verwandten des Kindes sind mit der Annahme vollständig aufgehoben. Ist zu erwarten, dass zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-KindVerhältnis entsteht, so eröffnet die Stiefkindadoption die
Möglichkeit, das Kind rechtlich besser in der Familie abzusichern. Sie muss beim Vormundschaftsgericht beantragt werden. Der Antrag ist notariell zu beurkunden.
Einbezogen wird auch das Jugendamt, das vom Vormundschaftsgericht beauftragt wird, zu prüfen, ob die beabsichtigte Adoption, wie selbstverständlich, dem Wohle des
Kindes dient und zu erwarten ist, ob zwischen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht. Das Jugendamt überprüft dabei die Beziehung zu
dem Stiefelternteil sowie die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Lebenspartner wie bei heterosexuellen Paaren auch.
Der Weg zur Stiefkindadoption ist also schon jetzt nicht
einfach. Laut Untersuchungen leben in Deutschland mindestens 13 000 Kinder bei homosexuellen Paaren. Oft
stammen diese Kinder aus vorangegangenen Beziehungen, immer öfter werden Kinder aber auch via Samenspende hineingeboren.
Das von dem Gesetzentwurf der Grünen vorgesehene
Recht eingetragener Lebenspartner, gemeinschaftlich ein
Kind anzunehmen, bedeutet nach der Stiefkindadoption
einen neuen Schritt. Abzuwarten bleibt, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz dafür entwickelt. Selbstverständlich haben wir uns wie immer an den Wünschen und
Bedürfnissen der Menschen zu orientieren. Der rechtliche Rahmen für Ehe, Lebenspartnerschaften und Familie
muss zeitgemäß sein und den Bedürfnissen der Menschen
entsprechen. Für die Änderungen des Adoptionsrechts
müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Sicherlich kann sich gerade im Fall von Pflege- und
Adoptivkindern ein gesellschaftliches Bedürfnis für eine
gemeinschaftliche Adoption dieser Kinder durch gleichgeschlechtliche Paare durchsetzen. Dass die Paare
selbstbewusst zu ihrer Lebensweise stehen, wurde von
den Adoptionsvermittlungsstellen, die Erfahrungen mit
homosexuellen Paaren hatten, als positiv für die Entwicklung der Kinder beurteilt. Es bleibt aber noch abzuwarten, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz nach der
Einführung der Stiefkindadoption weiterentwickelt. Voreilige Schlüsse verbieten sich bei diesem Thema. Die anstehenden Beratungen geben Gelegenheit, über die offenen Fragen zu beraten.
Ich freue mich darüber, dass die langjährige Forderung der FDP, auch gleichgeschlechtlichen Paaren ein
gemeinsames Adoptionsrecht einzuräumen, mittlerweile
auch in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mehrheitsfähig ist. Nur zu gut erinnere ich mich an die kontroversen
Diskussionen aus der 14. und 15. Wahlperiode über dieses Thema. Die FDP-Bundestagsfraktion hat als erste
Fraktion überhaupt 2004 einen Gesetzentwurf in den
Deutschen Bundestag eingebracht, der neben Regelungen im Sozialhilfe-, Einkommen- und Erbschaftsteuerrecht auch ein gemeinsames Adoptionsrecht für eingetragene Lebenspartner vorgesehen hat. Diese Initiative ist
damals leider an der Mehrheit von Rot-Grün gescheitert.
Auch in den Reihen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gab es erhebliche Widerstände gegen ein gemeinsaZu Protokoll gegebene Reden
mes Adoptionsrecht. Die damalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer erklärte dazu im Oktober 2004 im
Deutschen Bundestag, sie teile die Befürchtung, dass die
Stiefkindadoption als Türöffner genutzt werden könnte,
um langfristig das volle Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare zu erleichtern. Mit der Adoption gehe
es aber nicht um Emanzipationsbestrebungen oder um
Statusfragen von benachteiligten gesellschaftlichen
Gruppen, sondern allein um die Frage des Kindeswohls,
so Frau Vollmer. Im gleichen Jahr schrieb sie im „Tagesspiegel“, sie sei davon überzeugt, dass die Erfahrung des
Lebens mit einem weiblichen und einem männlichen Elternteil für Kinder im Grundsatz produktiv und gut sei.
Kinder wollen einen Vater und eine Mutter, so Frau
Vollmer.
Darüber hinaus hat sich die rot-grüne Koalition in den
vorangegangenen Jahren ständig hinter dem Europäischen Adoptionsabkommen versteckt und behauptet, das
Abkommen stünde einem gemeinsamen Adoptionsrecht
von homosexuellen Menschen in Deutschland entgegen.
Die FDP-Bundestagsfraktion war von dieser Argumentation nie überzeugt, insbesondere im Hinblick auf das gemeinsame Adoptionsrecht in den Niederlanden. Nunmehr
räumen auch die Grünen in ihrem vorliegenden Gesetzentwurf ein, dass das Abkommen der Einführung eines
gemeinschaftlichen Adoptionsrechts für gleichgeschlechtliche Lebenspartner nicht entgegensteht. Die
Einsicht kommt zwar spät, aber besser als nie. Die FDPBundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass in dieser
wichtigen Frage mittlerweile auch bei Bündnis 90/Die
Grünen ein Umdenken stattgefunden hat.
Der Gesetzgeber hat in der 15. Wahlperiode die Stiefkindadoption für Lebenspartner eingeführt. Für die FDPBundestagsfraktion war dies ein Schritt in die richtige
Richtung, aber letztendlich auch nicht mehr als nur eine
halbherzige Lösung. Nach Auffassung der FDP ist RotGrün mit dieser Initiative auf halbem Weg stehen geblieben. In Deutschland leben schätzungsweise weit mehr als
10 000 Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Die Tatsache, dass Kinder mit zwei Bezugspersonen aufwachsen, die dem gleichen Geschlecht angehören, ist daher in Deutschland keine Seltenheit, sondern
vielmehr Ausdruck einer Lebensform, die in der Gesellschaft anerkannt und akzeptiert ist. Homosexuelle Menschen haben bereits heute das Recht, als Einzelperson ein
Kind zu adoptieren. Darüber hinaus werden gleichgeschlechtliche Paare seit Jahren von den Jugendämtern
verstärkt als Pflegeeltern angeworben, weil sich ihre Erziehungskompetenz in besonderer Weise bewährt hat.
Ausschlaggebend für eine Adoption muss alleine das Kindeswohl sein.
Ein Kind hat gute Entwicklungschancen in einer stabilen und gefestigten Beziehung. Es dient gerade in besonderer Weise dem Kindeswohl, wenn das Kind zwei Bezugspersonen hat, die beide Verantwortung für das Kind
und seine Erziehung übernehmen. Im Interesse der Stabilität von Familienstrukturen und Verantwortungsgemeinschaften und insbesondere im Interesse der betroffen Kinder hält die FDP-Bundestagsfraktion es daher für
zwingend geboten, auch gleichgeschlechtlichen Paaren
die Möglichkeit einer gemeinsamen Adoption zu eröffnen.
In einem Antrag zur Adoption von Kindern, den wir in
dieser Woche in den Bundestag eingebracht haben, bekräftigen wir diese Forderung erneut.
In einer Anhörung des Rechtsausschusses vom vergangenen Jahr haben die dort anwesenden Experten aus dem
Bereich des Familienrechts übereinstimmend erklärt,
dass Unterschiede im Hinblick auf die Entwicklung zwischen Kindern in gleichgeschlechtlichen Familien und
Kindern in heterosexuellen Familien nicht vorliegen. Die
Sachverständigen haben vorgetragen, dass praktisch vergleichbare Entwicklungsbedingungen für Kinder in
gleichgeschlechtlichen Partnerschaften bestehen. Alle
Vorurteile, die in früheren Jahren gegen die Erziehungskompetenz von gleichgeschlechtlichen Paaren vorgetragen wurden, sind durch zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen klar widerlegt worden.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Gesetzentwurf
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen daher unterstützen.
Als Präsident Obama am 20. Januar sein Amt antrat,
ließ er auf der Homepage des Weißen Hauses seine politischen Ziele veröffentlichen. In diesen turbulenten Zeiten
beschränkte er sich nicht auf Statements zur größten
Wirtschafts- und Finanzkrise seit 1929, sondern betonte
auch die Unterstützung der Lesben- und Schwulenbewegung:
Präsident Obama meint, dass wir die Adoptionsrechte für alle Paare und Einzelpersonen gewährleisten müssen, ohne Rücksicht auf die sexuelle Orientierung. Er denkt, dass das Wohl eines Kindes
von einem gesunden und liebevollen Heim abhängt
und nicht davon, ob die Eltern schwul/lesbisch sind
oder nicht.
Demgegenüber haben wir in Deutschland eine rückständige Situation. Beispielhaft für die Auseinandersetzung ist die Aussage der CSU-Abgeordneten Daniela
Raab. Sie sprach am 19. Dezember im Plenum des Bundestages zum Stand der Gleichstellung von Ehe und eingetragener Partnerschaft: „Solange die Union an der
Regierung beteiligt ist, wird es eine vollständige Gleichstellung nicht geben.“ Dies heißt für die CDU/CSU, dass
sie ein Adoptionsrecht für lesbische und schwule Paare
verhindern will. Während der Präsident der Vereinigten
Staaten das Adoptionsrecht erweitern will, kommt die
CDU/CSU zur gegenteiligen Schlussfolgerung und
möchte das Adoptionsrecht lesbischen und schwulen
Paaren in jedem Fall verwehren.
Wie kommt es zu dieser strikten Ablehnung? „In dieser
Frage darf es keine Kompromisse geben. Denn anders als
bei der rechtlichen Ausgestaltung der Lebenspartnerschaften sind hier nicht nur die Interessen der Betroffenen
tangiert, sondern in erster Linie die der Kinder, die staatlichen Schutz benötigen.“ So die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Recht zur Klausurtagung der CDU/
CSU am 28. Mai 2008.
Worum geht es hier eigentlich? In Deutschland können
sich erwachsene Menschen frei entscheiden, wie sie zusammenleben. Zwei Rechtsinstitute stehen zur Verfügung,
die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft, um
Zu Protokoll gegebene Reden
das Zusammenleben rechtlich abzusichern. Es existieren
viele familiäre Konstellationen: die Groß- und Kleinfamilie, alleinerziehende Väter und Mütter, Drei-Generationen-Familien, die Patchwork-Familie und vieles mehr.
Entscheidend für die Kinder ist, dass sie Liebe und Zuneigung erfahren. Der rechtliche Rahmen sollte für Erwachsene und Kinder so dynamisch sein, dass das Wohl und
die Rechte für alle gewährleistet sind. Kinder haben das
Recht auf Umgang mit ihren biologischen Eltern, aber im
Falle des Falles auch mit ihren sozialen Eltern. Das
Sorge-, Umgangs-, Unterhalts- und eben auch das Adoptionsrecht bilden den rechtlichen Rahmen.
In Deutschland wachsen etwa 13 000 Kinder bei
gleichgeschlechtlichen Paaren auf. Stellen sie sich ein
schwules Paar vor, Herrn Schön und Herrn Stark. Dieses
möchte gerne gemeinsam ein Kind großziehen und es daher gemeinsam adoptieren, um die Verantwortung gemeinsam zu tragen. Doch nach geltendem Recht wird dem
Paar eine gemeinsame Adoption verweigert. Die Konsequenz: Herr Stark adoptiert das Kind, Roland, allein.
Doch nach 14 Jahren gemeinsamer Partnerschaft, fürsorglicher Erziehung und gemeinsamer Fürsorge des
Kindes trennt sich Herr Schön von Herrn Stark. Die Beziehung geht im Streit auseinander. Roland hat nun nur
Rechte gegenüber Herrn Stark, nicht aber gegenüber
Herrn Schön. Und Herr Schön muss sich das gemeinsame
Umgangsrecht mühsam erstreiten. Beim Unterhalts- und
beim Erbschaftsteuerrecht ist Roland gegenüber anderen
Adoptivkindern benachteiligt. Soll dies im Interesse des
Kindeswohls sein?
Mit der Möglichkeit der Stiefkindadoption, die seit
1. Januar 2005 besteht, wurde ein weiterer Schritt zum
Wohle des Kindes in einer Lebenspartnerschaft gegangen. Nun ist es an der Zeit, das Kindeswohl vollständig zu
beachten. Frau Bundesministerin Zypries, bitte geben Sie
nicht noch eine Studie zur Situation von Kindern bei
gleichgeschlechtlichen Paaren in Auftrag, lassen Sie uns
endlich die Gleichstellung zwischen hetero- und homosexuellen Paaren vollziehen. Meine Damen und Herren
von der CDU/CSU: Rüsten sie endlich ideologisch ab.
Meine Damen und Herren von der SPD: Handeln sie im
Inte-resse der Kinder. Lassen sie uns dem Antrag der
Grünen zustimmen - im Interesse der Kinder. Kinder verdienen es, gleich behandelt zu werden.
Zu Beginn erlauben Sie mir, Ihnen eine gute Nachricht
von unserem nördlichen Nachbarland zu verkünden.
Bereits gestern wurde ein Gesetz vom Parlament in
Kopenhagen beschlossen, nach dem das Adoptionsrecht
für eingetragene Lebenspartnerschaften eröffnet wurde.
Angesichts der Tatsache, dass die Dänen mit dem Institut
der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften schon
20 Jahre Erfahrung haben, kann man ihnen wohl vertrauen, dass sie das Richtige tun.
Das Grundgesetz schützt in Art. 6 Abs. 1 die Familie.
Um diesen Schutz gewährleisten zu können, muss das Familienrecht sich wandelnden familiären Lebensformen
gerecht werden. In Deutschland wachsen bereits in jeder
achten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft Kinder auf. Nach bestehender Rechtslage ist eingetragenen
Lebenspartnerinnen oder Lebenspartnern anders als
Eheleuten eine gemeinsame Adoption dennoch nicht
möglich. Mit dem Gesetz zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des
Adoptionsrechts will die Bundestagsfraktion Bündnis 90/
Die Grünen die bestehende Benachteiligung nun korrigieren.
Im Mittelpunkt unserer Familienpolitik steht immer
das Wohl des Kindes. Bei den in Lebenspartnerschaften
lebenden Kindern handelt es sich um eigene Kinder, aber
auch um gemeinsame Pflegekinder oder Adoptivkinder
einer Partnerin oder eines Partners. Obwohl zwei Erziehungspersonen für das Kind sorgen, werden die Kinder
durch fehlende Ansprüche gegenüber den faktischen Eltern nach dem geltenden Unterhalts- oder Erbrecht benachteiligt. Gegenüber gemeinschaftlich adoptierten
Kindern verheirateter Eltern fehlt ihnen die doppelte Sicherheit. Auch im Alltag erfahren Kinder in solchen Familien Nachteile durch die fehlende rechtliche Anerkennung als Familie. Diese Diskriminierung ist hinsichtlich
des Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich, da der Schutz der Familie und das Wohl des Kindes die rechtliche Absicherung
dieser faktischen Eltern-Kind-Beziehungen gebieten.
In der politischen Diskussion vorgetragene Befürchtungen, das Aufwachsen in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften füge Kindern seelische und psychische Schäden zu und führe zu Entwicklungsstörungen,
sind wissenschaftlich nicht haltbar. Alle vorliegenden
Studien legen nahe, dass kein nennenswerter Unterschied
zum Leben in Familien mit verschiedengeschlechtlichen
Eltern auszumachen ist. Eine Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung kann der aktuellen Forschung nach
nicht festgestellt werden. In zahlreichen Kommunen berichten Jugendämter über ihre guten Erfahrungen mit
schwulen und lesbischen Pflegeeltern. Auch die positiven
Meldungen aus Schweden, dem Vereinten Königreich,
Spanien, Belgien und den Niederlanden, wo die Möglichkeit der gemeinschaftlichen Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare bereits eingeführt ist, widerlegen die
ohnehin empirisch nie belegten Vorbehalte. Und reden
Sie sich nicht mit der Studie, die vom Bundesministerium
der Justiz im Auftrag gegeben wurde, heraus. Die liegt
schon dem Ministerium längst vor und belegt, dass es
keine sachlichen Gründe gegen Gleichberechtigung eingetragener Lebenspartnerschaften im Adoptionsrecht
gibt. Und auch dem Bundesverfassungsgericht wird die
Auskunft verweigert, obwohl es schon öfters nach den Ergebnissen der Studie gefragt hatte.
Niemand hat ein Recht auf ein Kind. Kinder haben
vielmehr ein Recht auf Liebe, Fürsorge, Aufmerksamkeit
und Geborgenheit. All dies können sie bei gleichgeschlechtlichen Eltern grundsätzlich in gleicher Weise erfahren wie bei verschiedengeschlechtlichen Paaren. Lesben und Schwule sind genauso verantwortliche Eltern
wie andere Menschen auch. Ein genereller Ausschluss
vom gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit von
Lesben und Schwulen zur Kindererziehung aus ideologischen Gründen pauschal infrage. Diese willkürliche Diskriminierung ist sachlich nicht gerechtfertigt und schadet
dem Kindeswohl, indem es die Stigmatisierung bereits beZu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
stehender Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern
fördert und den Kreis der am besten geeigneten Adoptiveltern künstlich verknappt. Ob eine Adoption im konkreten Fall dem Wohl des Kindes dient, muss bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften genauso wie bei
Ehepaaren jeweils im Einzelfall der sachkundigen Entscheidung des Vormundschaftsgerichts überlassen bleiben.
Und beenden möchte ich meine Rede ebenso mit einer
guten Nachricht, die allerdings vom Mai letzten Jahres
kommt. Damals verabschiedete das Ministerkomitee des
Europarats die revidierte Fassung des Übereinkommens
über die Adoption von Kindern von 1967, nach der das
Adoptionsrecht auf gleichgeschlechtliche Ehepaare bzw.
Lebenspartner ausgeweitet werden kann. Dies zeigt, dass
auf der europäischen Ebene die Vorurteile gegenüber homosexuellen Eltern keine Mehrheiten mehr finden. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn auch der deutsche
Gesetzgeber die Gleichstellung der Lebenspartnerinnen
und Lebenspartner mit den Ehegatten im Bereich des Adoptionsrechts beschließen würde. Im Übrigen rufe ich die
Bundesregierung auf, der Ratifizierung der zeitgemäßen
Fassung des Übereinkommens nicht mehr entgegenzustehen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/5596 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anordnung des Zensus 2011 sowie zur Änderung von
Statistikgesetzen
- Drucksache 16/12219 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Reden dazu nehmen wir ebenfalls zu Protokoll.
Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Kristina Köhler, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD,
Gisela Piltz, FDP, Petra Pau, Die Linke, Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Mit Stichtag 3. November 2008 gab es 12 987 543
Rindviecher in Deutschland, davon 632 in Berlin. Wir
wissen also genau, wie viele Rindviecher welchen Alters
wo in Deutschland leben. Wenn wir jedoch genau wissen
wollen, wie viele Menschen in Deutschland leben, dann
müssen wir leider feststellen, „nichts Genaues weiß man
nicht“. Es gibt keine exakten Daten über Umfang und Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland.
Genaue, nach sozio-demografischen Strukturmerkmalen differenzierbare Bevölkerungszahlen sind aber die
wesentliche Grundlage für viele politische und wirtschaftliche Planungen, ebenso wie für die wissenschaftliche Forschung. Wie viele Kindergartenplätze braucht
eine Gemeinde? Wie viele Schulen und wie viele Altenheime? Ist das neue Krankenhaus notwendig? Alles Fragen, die sich nur auf der Basis verlässlicher Bevölkerungsdaten beantworten lassen. Gleiches gilt für die
Einteilung von Bundestagswahlkreisen oder für den Finanzausgleich zwischen den Ländern. Wahlkreise dürfen
in ihrer Größe nicht zu sehr voneinander abweichen,
sonst kann theoretisch sogar die Wahl angefochten werden. Und im Länderfinanzausgleich geht es um viel Geld,
hier fällt jeder Einwohner mit rund 2 000 Euro ins Gewicht.
Wenn man das weiß und wenn man weiß, dass die amtliche Einwohnerzahl in rund 50 Rechtsvorschriften eine
wichtige Bemessungsgrundlage darstellt, dann wird
deutlich, wie wichtig auch hier verlässliche Zahlen sind.
Ein solides Datenmaterial ist also die Voraussetzung für
gute Politik. Wir können die notwendigen Veränderungsprozesse nur dann gestalten, wenn wir über ein angemessenes Bild der Wirklichkeit unserer Gesellschaft verfügen. So weit, denke ich, sind wir uns alle einig.
Ich weiß aber auch, dass manch einer bezweifelt, dass
wir zum Einblick in diese Wirklichkeit überhaupt einen
Zensus brauchen. Eines ist richtig: Natürlich haben wir
bereits Bevölkerungszahlen. Aber diese Zahlen basieren
auf Fortschreibungen der Volkszählung von 1987 in der
Bundesrepublik Deutschland und von 1981 in der DDR.
Eine erste Testerhebung zur Vorbereitung des Zensus hat
gezeigt, wie dramatisch dabei die Abweichungen der
Hochrechnungen zu den tatsächlichen Zahlen sein dürften: Die aktuellen Bevölkerungszahlen dürften zurzeit um
mindestens 1,3 Millionen überhöht sein. Das Ausländerzentralregister weist 600 000 weniger Ausländerinnen
und Ausländer auf als die Bevölkerungsfortschreibung.
Von mancher Seite aus kommt auch der Einwand, man
bräuchte deshalb keinen umfänglichen Zensus, weil man
ja den regelmäßigen Mikrozensus habe. Dieser diene ja
gerade dazu, in regelmäßigen und kurzen Abständen
Strukturdaten über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt zu gewinnen. Der Glaube, dass der Mikrozensus
den großen Zensus ersetzen könne, ist jedoch - auch nur
einzelne Merkmale betreffend - aus statistischer Sicht ein
Trugschluss. Der Mikrozensus ist eine Repräsentativstatistik. Dass heißt, er basiert ausschließlich auf einer
Stichprobe. Eine verlässliche Stichprobe kann man aber
nur dann ziehen, wenn man die Grundgesamtheit kennt.
Ich kann eben nur dann sagen, dass die von mir ausgewählte Gruppe repräsentativ für die Gesamtbevölkerung
ist, wenn ich zugleich auch weiß, wie sich die Gesamtbevölkerung - also die Grundgesamtheit - zusammensetzt.
Und diese Grundgesamtheit hat sich seit den letzten Zählungen 1987 bzw. 1981 ziemlich verändert. Diese Veränderung lässt sich mit reinen Fortschreibungen eben nicht
verlässlich erfassen, wie die Abweichungen beim Zensustest gezeigt haben. Hier wieder die Wirklichkeit als Basis
zu haben, genau darum geht es auch im großen Zensus.
Deshalb kann der Mikrozensus den Zensus nicht ersetzen.
Kristina Köhler ({0})
Im Gegenteil: Ohne eine regelmäßige Gesamterhebung
sind die Ergebnisse des Mikrozensus nicht verlässlich!
Deshalb brauchen wir den Zensus 2011 und deshalb werden wir uns an der Zensusrunde der Europäischen Union
beteiligen.
Dabei sage ich im Übrigen auch ganz offen: Aus meiner Sicht war es ein Fehler, dass man im Jahr 2000 die
Zensusrunde der EU nicht mitgemacht hat. Ich bin froh,
dass dieses Mal die Volkszählung von fast allen Seiten in
einem sehr konstruktiven Rahmen begleitet wird. Dass
sich die Proteste gegen den Zensus in Grenzen halten, hat
aber sicherlich auch damit zu tun, dass sich die Methode
des Zensus 2011 grundsätzlich von einer traditionellen
Volkszählung unterscheiden wird. Es wird keine umfangreiche Befragung aller Haushalte geben. In erster Linie
werden bestehende Register genutzt, vor allem die Melderegister der Kommunen und die Daten der Bundesagentur für Arbeit. Nur um Ungenauigkeiten zu erkennen
und um solche Daten zu erhalten, für die es - wie etwa im
Falle des Bildungsabschlüsse - keine bundesweiten Verwaltungsdaten gibt, wird im Jahr 2011 ein kleiner Teil der
Bevölkerung direkt von Interviewern befragt werden. Wir
reden hier von circa 7 bis 8 Prozent. Außerdem werden
die rund 17,5 Millionen Eigentümer und Verwalter von
Wohnraum schriftlich befragt werden, da es bundesweit
keine Register zur Wohnraumversorgung gibt. Dieser
Zensus ist also, wenn Sie so wollen, ein „minimalinvasiver Zensus“.
Das nun vorliegende Gesetz zum Zensus 2011 werden
wir intensiv beraten. Aus dem Deutschen Bundestag
kommt selten etwas wieder so raus, wie es reingekommen
ist. Das wird wohl auch mit diesem Gesetz nicht anders
sein. Dabei gibt es einige diskussionswürdige Vorschläge
zur weiteren Verbesserung des Zensus 2011. Dazu gehört
etwa die Forderung, das Merkmal „Migrationshintergrund“ in die Stichprobenbefragung aufzunehmen. Da
haben wir nämlich genau das Problem, dass der zwar im
Mikrozensus erhoben wird, wir aber die Grundgesamtheit nicht kennen. Oder es gibt die Forderung des Bundesrates, das Merkmal „Religionszugehörigkeit“ in die
Stichprobe aufzunehmen. Auch diesen Vorschlag prüfen
wir zurzeit sehr sorgfältig. Dann gibt es noch weitere Vorschläge vor allem der Länder und Kommunen zur Frage
der Optimierung der Genauigkeit der Daten. Auch diese
Vorschläge werden wir uns natürlich genau anschauen.
Grundsätzlich gilt natürlich bei allen Verbesserungsvorschlägen, dass auch sie sich an den verfassungsrechtlichen Vorgaben orientieren müssen, die das Bundesverfassungsgericht uns in seinem Volkszählungsurteil
auferlegt hat. An diese strengen Maßgaben wollen und
werden wir uns auch halten, ebenso wie wir uns strikt an
einem optimalen Datenschutz und an einer optimalen Datensicherheit orientieren werden.
Ich bin froh, dass es auf allen Seiten die Bereitschaft
gibt, dieses wirklich komplexe Werk „Zensus 2011“ zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Die Große Koalition im Bundestag und auch der Bundesrat sind sich
ihrer Verantwortung bewusst. Wir brauchen dieses Zensusgesetz, weil wir den Zensus brauchen.
Mein besonderer Dank an dieser Stelle gilt den Mitarbeitern des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden und
den Mitarbeitern der Statistischen Landesämter für ihre
schon jetzt hervorragende Arbeit bei der Vorbereitung
des Zensus 2011. Die Methode des nun geplanten registergestützte Zensus wurde von ihnen in jahrelanger Arbeit
entwickelt. Erlauben Sie mir diese Anmerkung als Soziologin: Sie haben hier eine Pionierarbeit geleistet, die
nicht hoch genug eingeschätzt werden kann! Vielen
Dank!
1981 wurde in der damaligen DDR, 1987 in der damaligen BRD die letzte Volkszählung durchgeführt. In ziemlich genau zwei Jahren wird es in der EU eine Volks- und
Gebäudezählung geben. Die beteiligten Länder werden
diesen Zensus auf unterschiedliche Weise durchführen.
Nachdem die letzten Volkszählungen 1981 und 1987 auf
konventionelle Weise, das heißt durch die Befragung aller
Bürger, abliefen, soll es 2011 erstmals einen registergestützten Zensus geben. Dies entlastet die Bürger von allen
großen und zeitraubenden Auskunftspflichten. Es bringt
uns aber auch, und darauf werde ich noch näher eingehen, bisher vollkommen neue Fragen und Probleme auf
den Tisch, unter anderem auch deshalb, weil zur Feststellung der bevölkerungsstatistischen Angaben nicht mehr
alle Bürgerinnen und Bürger befragt werden sollen.
Die aktuellen Bevölkerungszahlen in Bund, Ländern
und Kommunen sind teilweise mit großen Unsicherheiten
behaftet. In der Anhörung vom September 2007 bekamen
wir zur Genauigkeit bzw. zur Richtigkeit mancher Register sehr deutliche Aussagen der Gutachter. Genauere
Zahlen sind notwendig. Wenn wir schon durch eigene
Schätzung davon ausgehen, dass 1,3 bis 1,5 Millionen Menschen weniger als geglaubt in Deutschland leben - also
nicht die 82 Millionen, von denen wir heute sprechen -, so
ist das eine Abweichung von etwa 1,8 Prozent. Es handelt
sich eben nur um Schätzungen.
Zuverlässige Bevölkerungszahlen sind auch als Berechnungsgrundlage für den Länderfinanzausgleich und
den kommunalen Finanzausgleich notwendig. Die zum
Zensusstichtag festgestellten Einwohnerzahlen bilden die
Grundlage für die Bevölkerungsfortschreibungen. Sie
wirken sich aber auch auf etwa 50 Rechtsvorschriften
aus, für die die amtliche Einwohnerzahl als wichtige Bemessungsgrundlage dient. Betroffen sind noch weitere
Bereiche, zum Beispiel die Festlegung von Wahlkreisen
zu Bundes- oder Landtagswahlen, die Bundesratsstimmen, die Berechnung von Sitzen bis in die Vertretungen
kommunaler Gebietskörperschaften sowie die auf Einwohnerzahlen basierenden Finanzzuweisungen. Wir brauchen also dringend eine solche neue Zählung.
Dass der Zensus notwendig ist, darin sind wir uns einig. Dass wir ihn registergestützt machen, das ist neu.
Aber auch da stimmen wir überein. In der EU wird dies ja
sehr unterschiedlich gehandhabt. Um jedoch bundesweit
eine einheitliche Qualität erreichen zu können, werden
wir - und dies deutet die Stellungnahme des Bundesrates
zum vorliegenden Gesetzentwurf bereits an - noch weiter
auf spezifische Besonderheiten so mancher GebietskörZu Protokoll gegebene Reden
perschaft eingehen müssen. So bestätigte die Evaluation
im letzten Jahr die bereits im Vorfeld des Vorbereitungsgesetzes befürchteten Probleme, ländliche Strukturen und
Besonderheiten von Großstädten statistisch homogen abbilden zu können. Berlin beispielsweise würde laut Bundesrat in seiner Struktur vollkommen unscharf abgebildet
werden, da hier, wie wir als Bundestagsabgeordnete bestens wissen, nach Bezirken verwaltet und regiert wird.
Dementsprechend werden bevölkerungsstatistische Daten auch bezirksweise erhoben und weiterverarbeitet.
Ein weiteres zu beachtendes Thema sind die ländlichen Strukturen, unter anderem in Rheinland-Pfalz. Wie
die dort zuständigen Verantwortlichen zu bedenken geben, werde eine Mindesterhebungsgrenze bei Gebietskörperschaften von 10 000 Einwohnern 95 Prozent der Gemeinden nicht statistisch abbilden können. Inwiefern dies
sinnvoll ist, wird in der weiteren Diskussion zu hinterfragen sein.
In der Anhörung vom September 2007 wurde auch die
Einheitlichkeit der Erhebung deutlich hervorgehoben.
Vor allem die Länder sind darauf eingegangen. Das vorliegende Gesetz ermöglicht ja einige Abweichungen in
den Ländern. Inwieweit dies zu unterschiedlichen Ergebnissen, die auf nicht vergleichbarer Basis erhoben worden sind, führt, wird ebenfalls zu prüfen sein. Eines will
ich aber deutlich sagen: Es muss Rechtssicherheit gegeben sein. Ich bin mir aber sicher, dass es sich hierbei um
durchaus lösbare Probleme handelt. Denn nicht nur der
Bund, sondern auch die Länder sind sehr stark am Zensusergebnis interessiert.
Wenn man sich all dies vor Augen führt, dann blickt
man natürlich auch auf die verbleibende Zeit. Millionen
von Daten werden bewegt und zusammengeführt. Das
machen nicht nur Computer, das müssen auch Menschen
machen. Ende 2010 wird das Anschriften- und Gebäuderegister einsatzfähig sein. Und ich gehe davon aus, dass
zu diesem Zeitpunkt auch alle beteiligten Institutionen
und Ämter einen Datensatz erstellen können, der unseren
hohen Ansprüchen an Vergleichbarkeit und Datenqualität gerecht wird und uns für den Zensusstichtag am 9. Mai
2011 die notwendigen Ergebnisse und Zahlen liefern
wird.
Diese millionenfache Datenverarbeitung und deren
Vorbereitung braucht Zeit. Die Bundesregierung hat im
Bundeshaushalt die Weichen gestellt. Die Erhöhung der
Haushaltsmittel des Statistischen Bundesamtes um
16 Millionen Euro, beginnend mit dem Haushaltsjahr
2008, resultiert zu etwa drei Vierteln aus dem Zensus, den
wir 2011 erstellen werden. Dafür wurden und werden
etwa 60 Stellen, teilweise zeitlich befristet, eingerichtet.
Auch die Länder haben ihre Hausaufgaben bereits umfassend gemacht.
Der Entwurf der Bundesregierung sieht eine Umsetzung der EU-Vorgaben 1:1 vor. Vonseiten der Kirchen
sind wir in Briefen bzw. in persönlichen Gesprächen auf
das fehlende Merkmal „Religionszugehörigkeit“ hingewiesen worden. Wir werden in der weiteren Diskussion
auch darauf unser Augenmerk zu lenken haben. Meine
Fraktion wird sich mit den Empfehlungen des Bundesrates konstruktiv auseinandersetzen. Schließlich ist es unser
gemeinsames Interesse, ein unanfechtbares, effektives
Gesetz auf den Weg zu bringen und damit allen Beteiligten ein funktionsfähiges Instrument an die Hand zu geben. Es soll auch für europäische Kollegen Vorbild sein.
Die FDP-Bundestagsfraktion hatte zum Zensusvorbereitungsgesetz in ihrem Entschließungsantrag einige zentrale Forderungen im Hinblick auf das Anordnungsgesetz
dargelegt. An diesen ist der nun vorgelegte Gesetzentwurf
aus unserer Sicht zu messen.
Bevor ich auf die Einzelheiten des Gesetzentwurfs eingehe, möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass
die FDP-Bundestagsfraktion den Ansatz eines registergestützten Zensus begrüßt und unterstützt. Damit wird die
notwendige Erhebung valider Daten für statistische Zwecke, die unerlässliche Grundlage für staatliches Handeln
sind, datenschutzfreundlich ermöglicht. Der registergestützte Zensus bietet grundsätzlich die Chance, die für die
Funktionsfähigkeit des Staates erforderliche Datenerhebung mit dem grundrechtlich garantierten Schutz personenbezogener Daten in Einklang zu bringen.
Schon im Entschließungsantrag zum Zensusvorbereitungsgesetz hatte die FDP-Bundestagsfraktion die Beschränkung auf wenige Merkmale und Register begrüßt.
Nur so kann dem Volkszählungsurteil von 1983 Rechnung
getragen werden.
Nun stehen wir aber - wie es fast zu erwarten war - vor
der Situation, dass die Forderungen immer zahlreicher
werden, was noch alles aufgenommen werden sollte. Da
kommen die Kommunen mit der Forderung nach Erhebung der Höhe des Mietzinses und der Nebenkosten. Da
kommen die Kirchen mit der Forderung nach Erhebung
der Religionszugehörigkeit. Das sind alles interessante
Fragen. Es gibt für alle diese Punkte auch gute Gründe,
warum für diesen oder jenen im Gemeinwesen notwendigen oder wünschenswerten oder auch nur angenehmen
Zweck diese oder jene Datenerhebung und -auswertung
sinnvoll wäre. Ich warne aber ausdrücklich davor, die anstehenden Beratungen zu einem Wunschkonzert zu machen. Wir müssen bei all den an uns schon herangetragenen oder noch kommenden Forderungen sehr genau
hinsehen, ob das wirklich im Rahmen dieser Datenerhebung notwendig und erforderlich ist. Wir dürfen nicht den
Fehler machen, dass wir am Ende mit einem Bauchladen
an neuen Merkmalen und Registern herauskommen - und
damit genau die Balance zwischen Datenerhebung und
Datenschutz nicht mehr stimmt.
Ein Problem, das die FDP-Fraktion schon 2007 beim
Zensusvorbereitungsgesetz angesprochen hatte, ist mit
dem Zensusanordnungsgesetz nicht gelöst. Die Vorgehensweise bei der Vorbereitung und Durchführung des
Zensus in Bund, Ländern und Kommunen muss einheitlich gestaltet sein. Valide und vor allem auch gerichtsfeste Statistiken, die dann zum Beispiel über den Finanzausgleich, die Zuweisung von Fördermitteln oder
Ähnliches entscheiden, kann man nicht gewinnen, wenn
jeder sein eigenes Süppchen kocht und dabei natürlich eigene Interessen verfolgt. Denn es geht dabei ja um Geld,
um viel Geld. Dieses Problem ist mit dem vorliegenden
Zu Protokoll gegebene Reden
Gesetzentwurf nicht gelöst. Im Gesetz müsste daher - wie
dies auch von den Ländern gefordert wurde - eine Verpflichtung zur einheitlichen Durchführung verankert
werden. Der Bundesrat hatte dies auch eingefordert, aber
die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung keine
Bereitschaft gezeigt, den Ländern entgegenzukommen.
Genau zu prüfen werden auch die Wünsche der Kommunen sein, die sich erhoffen, von den durch den Zensus
erhobenen Daten für ihre eigene Aufgabenerfüllung zu
profitieren. Kleinräumige Planungsdaten dürfen nach
dem Gesetzentwurf nur sehr eingeschränkt genutzt werden. Dies ist einerseits ein Beitrag zum Datenschutz, aber
andererseits muss man sich schon die Frage stellen, ob
und inwieweit ein solches Vorhaben nicht auch sinnvolle
Datengrundlagen für die Kommunen schaffen sollte. Hier
muss auch berücksichtigt werden, dass eine Nutzung
auch für Kommunen etwaige eigene Datenerhebungen
dort vermeiden hilft, was auch zur Datensparsamkeit
führt und es gegebenenfalls auch im Interesse einer effizienten Verwaltung und der Vermeidung weiterer Kosten
für die öffentliche Hand ist, den Kommunen eigene Erhebungen zu ersparen. Denn es geht ja in diesem Fall nicht
um den Wunsch nach Erhebung weiterer Daten, sondern
um die Nutzbarmachung der ohnehin zu erhebenden Daten. Hier muss im weiteren Verfahren eine Abwägung
durchgeführt werden, um zu einem Interessen ausgleichenden Ergebnis zu kommen.
Erheblichen Bedenken begegnet die Vorgabe, dass alle
Daten beim Statistischen Bundesamt ausgewertet werden
sollen. Hierzu soll ein höchst komplexes und im Übrigen
noch nie in der Realität und unter wirklichen Arbeitsbedingungen angewandtes IT-System aufgebaut und eingesetzt werden. Dies widerspricht dem schon zwischen
Bund und Ländern vereinbarten Fachkonzept, nach dem
die zu verarbeitenden riesigen Datenbestände auf vier
verschiedene Statistische Ämter des Bundes und der Länder aufgeteilt werden sollten, um dort aufbereitet zu werden. Dieses Fachkonzept erscheint wesentlich sinnvoller.
So erscheint schon die Schaffung eines derartigen riesigen IT-Systems für eine einmalige Anwendung fragwürdig - nicht nur unter haushalterischen Gesichtspunkten,
sondern weil es doch immer so ist, dass, wenn schon mal
ein System besteht, um die vielen Daten der Bürgerinnen
und Bürger zu nutzen, zu verknüpfen, abzugleichen und
auszuwerten, dieses ganz bestimmt auch für andere Anwendungen dann irgendwann genutzt werden soll. Das
mag jetzt einigen vielleicht ein wenig hysterisch vorkommen. Aber die Erfahrung zeigt, dass alle Systeme, mit denen man persönliche Daten sammeln und auswerten
kann, auch genutzt werden - und zwar nicht nur für den
ursprünglich genannten Zweck. Daher ist eine dezentrale
Datenverarbeitung sehr sinnvoll. Ebenso erscheint diese
sinnvoll, weil die Risiken eines Systemausfalls damit abgefedert werden und weil schon getestete Systeme zum
Einsatz kämen. Eine Risikoerhöhung durch ein neues ITMammutprojekt - ich erinnere hier nur an die Bundesagentur für Arbeit - ist erheblich.
Im nun anstehenden parlamentarischen Verfahren gibt
es also noch einige Detailfragen, bei denen konstruktiv
über den besten Weg gestritten werden muss. Neben den
genannten Punkten möchte ich an dieser Stelle schon einmal erwähnen, dass die FDP-Fraktion Beratungsbedarf
bei der Erhebung von Daten zur Religionszugehörigkeit
sieht. Weiterhin muss bei der Frage der eingetragenen
Lebenspartnerschaften auf einen Lückenschluss zum
Bundesstatistikgesetz, dem das Merkmal noch immer
fremd ist, obwohl eingetragene Lebenspartnerschaften
erfreulicherweise längst gesellschaftliche Realität sind,
hingewirkt werden.
Die FDP-Bundestagsfraktion sieht den Beratungen
mit der Hoffnung entgegen, dass die berechtigten Kritikpunkte des Bundesrats hier im Hause Gehör finden werden und am Ende ein notwendiges Vorhaben mit einem
vernünftigen Gesetz auf den Weg gebracht werden kann,
ohne dass - wie bei dem Vorbereitungsgesetz - erneut der
Vermittlungsausschuss angerufen werden muss.
Es bestehen unausgeräumte Zweifel.
Erstens. Es ist nachvollziehbar, dass die Politik, die
Verwaltung und andere mehr möglichst stimmige Daten
anstreben. Das ist seit Bibel-Zeiten so und das wurde
auch noch in der Neuzeit über Volkszählungen praktiziert.
Zweitens. Es war aber ausgerechnet eine Volkszählung
in der BRD-alt, bei der das Bundesverfassungsgericht ein
Stoppzeichen setzte. Es erhob in einem historischen Urteil den Datenschutz zum Grundrecht.
Drittens. Nun geht es aktuell nicht um eine groß angelegte Volkszählung, sondern „nur“ um eine Mini-Volkszählung, genannt „Zensus“. Aber auch eine kleine Volkszählung will bürgerrechtlich begründet sein.
Viertens oder anders gesagt: Der erwartete Nutzen für
die Bürgerinnen und Bürger muss erkennbar weit größer
sein als das befürchtete Risiko für ihre verbrieften Rechte.
Und genau da bestehen unausgeräumte Zweifel.
Fünftens. Zu alledem wird es noch eine Anhörung von
Expertinnen und Experten geben. Das haben Bündnis 90/
Die Grünen und die Linke beantragt. Ich werde heute daher nicht unserem Urteil danach vorgreifen.
Die Zeiten ändern sich, löste die Volkszählung 1983
noch eine große Protestbewegung aus, so können wir
heute in der entwickelten Informationsgesellschaft unauf-
geregt über den europaweiten Zensus 2011 reden. Die
Bundesregierung hat dazugelernt, die staatlichen Zähler
dringen nicht mehr mit Fragebögen in die Wohnungen
der Bürgerinnen und Bürger ein und stellen Fragen, die
tief in das Privatleben eindringen. Die Volkszählungsboy-
kottbewegung hat damals das Volkszählungsurteil erstrit-
ten, und das war gut so. Wir haben heute das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung, und auf dieser
Grundlage findet der Zensus 2011 statt.
Der Staat braucht statistische Informationen, um Poli-
tik für die Zukunft planen zu können. Der Staat verfügt
heute über eine große Menge von Datenmaterial - mehr
als uns manchmal lieb ist -, und es ist richtig, dass nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
alles neu erfasst wird, sondern auf das vorhandene Mate-
rial zurückgegriffen wird. Im Zensusvorbereitungsgesetz
ist festgelegt, dass die Daten zur Volkszählung 2011 aus
den Melderegistern der Kommunen und aus dem Daten-
bestand der Bundesagentur für Arbeit entnommen wer-
den sollen. Länder und Kommunen sind mit dem Zensus-
vorbereitungsgesetz aufgefordert, ihre Daten auf einen
aktuellen Stand zu bringen und an den Bund zu liefern. Zu-
sätzlich werden 25 Millionen Einwohner, davon 17,5 Mil-
lionen Wohnungseigentümer, persönlich befragt. Nach
der vorläufigen Kalkulation des Statistischen Bundesam-
tes und der statistischen Ämter der Länder werden wahr-
scheinlich 527,81 Millionen Euro an Gesamtkosten ent-
stehen. Davon will der Bund 44,81 Millionen Euro
tragen, die Länder sollen 483 Millionen Euro der Ge-
samtkosten übernehmen. Lassen Sie mich an dieser Stelle
sagen, wir sehen in der Frage der Kostenaufteilung wei-
teren Klärungsbedarf und haben sehr wohl Verständnis
für die Forderungen aus dem Bundesrat, dass die Kosten
zwischen Bund und Ländern hälftig geteilt werden. Wir
setzen uns für eine faire Kostenverteilung zwischen Bund
und Ländern ein und fordern, dass das Bundesamt für
Statistik die analysierten Daten so bald wie möglich den
Ländern und Kommunen zur Verfügung stellt.
Der Bundesrat sieht auch inhaltlichen Korrekturbe-
darf, wir sollten in der geplanten Anhörung des Innen-
ausschusses die Anregungen aus den Ländern und natür-
lich aus dem Bereich des Datenschutzes sorgfältig prüfen.
Eine formale Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Beschlus-
ses darf schon angesichts der enormen Kosten, die der
Zensus 2011 verursacht, nicht dazu führen, dass wichtige
Informationen, die wir national für erforderlich halten,
nicht erhoben werden. Ich möchte hier insbesondere auf
den Migrationsbereich verweisen. Eine gezielte Integra-
tionspolitik braucht wissenschaftlich analysiertes Zah-
lenmaterial, und hier muss sorgfältig geprüft werden, ob
nicht das eine oder andere Merkmal zusätzlich abgefragt
werden soll. Wenn wir Anonymisierung und Datenschutz
sicherstellen, spricht nichts dagegen, Informationen über
Einbürgerungen, Herkunftsländer oder Bildungsab-
schlüsse für Eingewanderte auszuwerten, und auch der
strittige Punkt der Aufnahme der Religion als Merkmal
muss erneut sachlich diskutiert und bewertet werden.
Politik braucht Planungsdaten, und dazu gehört als
Fundament eine verlässliche Bevölkerungsstatistik. Die
Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner in unseren
Kommunen entscheidet über die Zuschnitte von Bundes-
tagswahlkreisen, sie ist Grundlage für eine gerechte Ver-
teilung der Steuerlasten, sie ist Berechnungsgrundlage
für den kommunalen Finanzausgleich, und sie regelt den
Finanzausgleich zwischen Deutschland und Europa. Bei
der zusätzlich geplanten Gebäudeerhebung ist allerdings
darauf zu achten, ob diese Daten wirklich alle gebraucht
werden.
Wir werden beim Zensus 2011 darauf achten, dass der
Grundsatz der „Einbahnstraße“ von statistischen Daten
gewahrt bleibt, es keine Speicherung über den erforderli-
chen Zeitraum hinaus gibt und Zugriffe Dritter auf die
Daten ausgeschlossen bleiben. Wir erwarten, dass der
Datenschutzbeauftragte des Bundes und die Daten-
schutzbeauftragten der Länder das gesamte Verfahren
Zensus 2011 eng begleiten und bewerten. Wenn der Da-
tenschutz gewahrt bleibt, spricht nichts gegen den Zensus
2011.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/12219 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({0})
- Drucksache 16/12280 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/12279 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung und zur Änderung und Anpassung
weiterer Vorschriften
- Drucksache 16/11608 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Auch die Reden hierzu nehmen wir zu Protokoll. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Clemens Binninger und Norbert Königshofen,
CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter und Uwe Beckmeyer,
SPD, Jan Mücke, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke,
Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, und des
Parlamentarischen Staatssekretärs Ulrich Kasparick für
die Bundesregierung.
Der Einheitliche Europäische Luftraum hat zum Ziel,
die bisherige, weitgehend nationale Einteilung der Lufträume in ein europaweites System zu überführen. Mit dem
Einheitlichen Europäischen Luftraum können von Fluggesellschaften verstärkt direkte Flugkorridore verwendet
werden. Das erspart Umwege und Zeit, Kerosin und Geld.
Letztlich können dadurch bis zu 12 Prozent der CO2Emissionen - also etwa 11,2 Millionen Tonnen - eingespart werden. Der Einheitliche Europäische Luftraum
stellt also ein wichtiges Element zur Verbesserung der
Gesamtwirtschaftlichkeit und Effizienz des Flugverkehrs
dar, wie auch zur Reduktion von Treibhausgasen.
Die wesentlichen Vorschriften zum Single European
Sky stammen aus dem Jahr 2004. Heute beraten wir die
notwendigen Gesetzänderungen, um die Vorgaben für
den Einheitlichen Europäischen Luftraum in Deutschland umzusetzen.
Zu diesen notwendigen Rechts- und Strukturanpassungen gehört auch eine Änderung des Art. 87 d Grundgesetz, die wiederum die Voraussetzung für die Änderung
verschiedener luftverkehrsrechtlicher Vorschriften und
Gesetze ist.
Mit der Änderung des Art. 87 d wird erstens klargestellt, dass die Luftverkehrsverwaltung allgemein der
Bundesverwaltung zugeordnet ist. Damit bleibt sie Hoheitsaufgabe - soweit dem das Recht der Europäischen
Gemeinschaft nicht entgegensteht. Sie muss aber nicht
mehr durch Behörden der unmittelbaren Bundesverwaltung oder von der bundeseigenen Verwaltung zugerechneten organisationsprivatisierten Einrichtungen durchgeführt werden. Vielmehr können damit Aufgaben der
Luftverkehrsverwaltung auch durch die mittelbare Bundesverwaltung einschließlich privater Beliehener durchgeführt werden. Dies ist nicht nur aus fachlicher Sicht unverzichtbar, sondern entspricht auch der aktuellen Praxis
unter anderem bei Flugsicherungsbetriebsdiensten sowie
Flugwetterdiensten an kleineren Flughäfen und ist auch
vom Gemeinschaftsrecht so vorgesehen. Darüber hinaus
wird die Möglichkeit geschaffen, technische Unterstützungsdienste, insbesondere sogenannte CNS-Dienste
- also Communication, Navigation, Surveillance -, aus
der hoheitlichen Luftverkehrsverwaltung herauszunehmen, wie es das geltende europäische Recht schon heute
vorsieht.
Zweitens schaffen wir die Voraussetzungen, um gemäß
der Single-European-Sky-Verordnungen funktionale Luftraumblöcke einrichten zu können. Dies wird über staatsvertraglich vereinbarte Kooperation zwischen den
Mitgliedstaaten geschehen. Zur Einrichtung dieser Luftraumblöcke muss die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von nationalen Flugsicherungsorganisationen ermöglicht und intensiviert werden. Dazu ist es notwendig,
dass auch ausländischen, nach EU-Recht zugelassenen
Flugsicherungsorganisationen entsprechende Flugsicherungsaufgaben in Deutschland übertragen werden können. Eine solche Kooperation kann darüber hinaus auch
unabhängig von europarechtlich zwingenden Vorgaben
geschehen, wenn es zum Beispiel aus technischer oder
praktischer Hinsicht etwa bei Regionalflugplätzen oder
im Grenzbereich notwendig ist. Auch das ermöglicht nun
die Änderung des Art. 87 d. Zusätzlich zu der Möglichkeit
einer völkerrechtlichen Regelung und einer Übertragung
von Hoheitsrechten an eine zwischenstaatliche Organisation wird die Übertragung von Aufgaben an ausländische
Organisationen damit in Zukunft auch auf Basis eines
Bundesgesetzes möglich sein. Dieses Begleitgesetz sieht
sehr enge Grenzen für eine solche Übertragung an ausländische Organisationen vor. Nur, wo es zur Schaffung
eines funktionalen Luftraumblocks oder aus praktischen
Erwägungen notwendig ist, können die Flugsicherungsaufgaben übertragen werden. Damit gilt nach wie vor:
Der größte Teil der Flugsicherung in Deutschland wird
nur von einer zu 100 Prozent im Bundeseigentum befindlichen Gesellschaft durchgeführt werden. Flugsicherungsaufgaben können an ausländische Organisationen
auch nur dann übertragen werden, wenn diese ein Zertifizierungsverfahren durchlaufen haben. Damit wird sichergestellt, dass das hohe Sicherheitsniveau, das wir
heute haben, auch in Zukunft aufrechterhalten bleibt.
Mit dieser Grundgesetzänderung schaffen wir die
verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Luftverkehrsverwaltung und für die Beteiligung Deutschlands am Einheitlichen Europäischen Luftraum. Damit ist nicht nur eine
sicherere, sondern auch eine effizientere grenzüberschreitende Zusammenarbeit möglich, die viele Vorteile
mit sich bringt.
Mit den heute eingebrachten Gesetzen nehmen wir die
Diskussion über die Weiterentwicklung der Flugsicherung wieder auf, die schon einmal - nämlich am 7. April
2006 - in einen Beschluss des Deutschen Bundestages
einmündete. Damals hat der Bundespräsident Horst
Köhler das Gesetz, das der Deutsche Bundestag mit einer
über neunzigprozentigen Mehrheit verabschiedet hatte,
aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken nicht unterschrieben.
Wir ziehen nun daraus die Konsequenzen, indem wir
den Art. 87 d Grundgesetz durch das eingebrachte „Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes“ an die Vorgaben
des Rechts der Europäischen Gemeinschaft zur Schaffung
eines einheitlichen europäischen Luftraums ({0}) anpassen.
Das bisherige, national organisierte System der Flugsicherung ist bereits vor geraumer Zeit an seine Grenzen
gestoßen. Schon seit Jahren haben wir auch in Deutschland eine grenzüberschreitende Flugsicherung; so wird
beispielsweise der an die Schweiz grenzende südwestdeutsche Raum durch die schweizerische Skyguide kontrolliert. Seit 2007 nehmen Lotsen der österreichischen
Austro Control Flugverkehrskontrolldienste an einer
Reihe deutscher Regionalflughäfen wahr. Beides ist bei
strenger Auslegung des Grundgesetzes nicht verfassungskonform.
Der Flugverkehr hatte in den letzten Jahren außerordentliche Wachstumsraten. Allgemein geht man davon
aus, dass unabhängig von der derzeitigen Wirtschaftsund Finanzkrise sich die Flüge in Europa bis zum Jahr
Zu Protokoll gegebene Reden
2020 gegenüber 2005 an Zahl verdoppeln werden. Schon
heute ist der Himmel über Mitteleuropa hoffnungslos
überlastet. Besonders führen die Kapazitätsengpässe
rund um die Drehkreuze Paris, Frankfurt und London immer häufiger zu Ehrenrunden in der Luft und Stauungen
am Boden.
Nach Berechnungen der International Air Transport
Association ({1}) summierten sich allein im Jahr 2007
die durch die fragmentierte Überwachung verursachten
Verspätungen auf eine Dauer von 40 Jahren. Das bedeutet 468 Millionen unnötige Flugkilometer oder 16 Millionen Tonnen unnütz in die Atmosphäre geblasene Abgase.
Daher soll ein einheitlicher europäischer Luftraum
geschaffen werden, indem aus den derzeitig 60 Luftraumkontrollstellen der 27 nationalen Flugsicherungen
mehrere große Einheiten gebildet werden, sogenannte
Functional Airspace Blocks ({2}). Neben dem ökonomischen Aspekt ist hier auch der ökologische Nutzen hervorzuheben. So kann der CO2-Ausstoß laut Berechnungen um rund 1 800 000 Tonnen verringert werden.
Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, die
Niederlande sowie die Schweiz wollen den „Functional
Airspace Block European Central“ ({3}) bilden. Dafür ist es allerdings notwendig, dass wir auch in Deutschland eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Flugsicherung durch die Regelung des Luftverkehrsgesetzes
ermöglichen. Neben der Deutsche Flugsicherung GmbH
({4}) müssen auch andere ausländische - nach dem
Recht der Europäischen Gemeinschaft zertifizierten Flugsicherungsorganisationen in die Luftverkehrsverwaltung des Bundes eingebunden werden können, so wie
die DFS auch jenseits der deutschen Grenze tätig werden
können soll. Um dies zu ermöglichen und den gesetzwidrigen Zustand in Deutschland zu beseitigen, müssen wir
die Vorschrift, dass die Luftverkehrsverwaltung in bundeseigener Verwaltung geführt wird, im Art. 87 d des
Grundgesetzes durch eine europarechtskonforme Fassung ersetzen.
Ich bitte Sie dringend, der Anpassung des Grundgesetzes und der übrigen Änderungen luftverkehrlicher Vorschriften zuzustimmen. Es ist ein wichtiger unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines einheitlich
kontrollierten europäischen Luftraums.
Der vorliegende Gesetzentwurf hat den Zweck, die
Luftverkehrsverwaltung in Deutschland den Realitäten
und den Vorgaben der europäischen SES-Verordnungen
anzupassen. Dazu soll - man ist fast versucht zu sagen:
wieder einmal - das Grundgesetz geändert werden.
Zurzeit verpflichtet uns Art. 87 d GG, die Luftverkehrsverwaltung in bundeseigener Verwaltung zu führen. Was
bedeutet das? Wir müssen feststellen: Schon in der Auslegung dieses Begriffes ist man sich nicht einig. Die Verfassungsliteratur versteht diesen Begriff weit. Sowohl die
unmittelbare als auch die mittelbare Staatsverwaltung
soll davon umfasst sein. Damit könnte die Flugsicherung
in Deutschland durch eigene und rechtlich unselbstständige Behörden des Bundes sowie durch Körperschaften
und Anstalten oder Beliehene wahrgenommen werden.
Diesem weiten Verständnis hat sich der Bundespräsident aber ausdrücklich nicht angeschlossen. Seiner Auffassung nach gibt Art. 87 d GG dem Bund auf, der
Verantwortung für die Flugsicherung nur dann nachzukommen, wenn eine jederzeitige Durchsetzung des staatlichen Willens garantiert ist. Dies sei aber schon bei mittelbarer Staatsverwaltung nicht mehr der Fall. Ist die
Deutsche Flugsicherung als bundeseigene GmbH heute
also im Rahmen der Beleihung tätig, deckt sich diese Praxis nicht mehr mit der Ansicht des Bundespräsidenten. Es
leuchtet daher ein, dass wir unser Verfassungsrecht mit
der Wirklichkeit in Einklang bringen müssen. Wir können
und wollen uns hier kein rechtliches Vakuum leisten.
Wir sind für ein Europa, das nicht nur am Boden mit
den Schengen-Abkommen, sondern auch in der Luft weiter zusammenwächst. Europa wirkt schon heute vielfältig
im Bereich des Luftverkehrs nach Deutschland hinein,
zum Beispiel mit der Gestaltung der europäischen Außenbeziehungen im Luftverkehr oder bei der Verbesserung
der Verbraucherrechte für Flugpassagiere.
Im Jahr 2004 wurde diese Zusammenarbeit auf eine
neue Stufe gehoben: Mit den SES-Abkommen wurden die
Voraussetzungen für die Einrichtung eines einheitlichen
europäischen Luftraumes geschaffen. Im Bereich der
Flugsicherung herrscht heute noch die Kleinstaaterei,
Zuständigkeiten richten sich nach Landesgrenzen und
nicht nach Flugrouten, Umwege der Flugzeuge mit höherem Spritverbrauch und CO2-Ausstoß sind die Folge. Die
geplanten fortgeschriebenen SES-II-Verordnungen verpflichten uns darüber hinaus, ausländische Flugsicherungsorganisationen in Deutschland zuzulassen. Diese
Verordnungen sind in Ordnung. Genauso wie wir bei der
Kriminalitätsbekämpfung, beim Verbraucherschutzes
und in der Wirtschafts- und Finanzpolitik eng zusammenarbeiten, ist auch die Flugsicherheit heute keine rein nationale Angelegenheit mehr.
Art. 87 d GG verbietet uns aber hier mit seinem Gebot
der bundeseigenen Verwaltung, ausländische Flugsicherungsorganisationen in Deutschland zuzulassen. Die
Grundgesetzanpassung erscheint deshalb aus europarechtlichen Gründen notwendig. Nun ist das Grundgesetz
keine beliebige Verfügungsmasse. Änderungen bedürfen
stets besonderer Rechtfertigung. In der Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfes müssen wir uns deshalb von
folgenden Grundsätzen leiten lassen:
Erstens: Oberste Priorität hat für uns Sozialdemokraten die Sicherheit der Tausenden von Menschen, die täglich in der Luft über Deutschland unterwegs sind. Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir alles Mögliche für
sichere Flüge tun. Wirtschafts- oder Marktinteressen
müssen hier zurückstehen. Die Deutsche Flugsicherung
ist eine der besten der Welt. Dies muss so bleiben. Das
Unglück von Überlingen im Jahr 2002 hat uns brutal vor
Augen geführt, was es heißt, wenn Kontrollen versagen
oder lax gehandhabt werden.
Zweitens: Die Deutsche Flugsicherung GmbH muss
weiter die zentral verantwortliche Institution für die LuftZu Protokoll gegebene Reden
verkehrskontrolle in Deutschland bleiben. Nur in Ausnahmefällen sollten Dritte - nach strengen Zulassungsund Zertifizierungsverfahren - diese Aufgaben wahrnehmen können.
Drittens: Der Bundesparteitag der SPD im Oktober
2007 hat uns aufgetragen, keinesfalls einer Initiative zuzustimmen, die eine Privatisierung der Deutschen Flugsicherung zum Ziel hat und insbesondere das Grundgesetz dafür ändert. An diesen Beschluss fühle ich mich
gebunden. Mit ist durchaus bewusst, dass eine Privatisierung nicht das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfes ist, allerdings wird sie mit dieser Grundgesetzänderung theoretisch möglich sein. Das ist problematisch.
Darüber hinaus stellen sich mir eine Reihe weiterer
Fragen: Die Luftverkehrsverwaltung soll in Zukunft nach
Art. 87 d Abs. 1 GG in sogenannter Bundesverwaltung
geführt werden. Damit werden die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Dritte mit
der Flugsicherung in Deutschland beauftragt werden
können. Das Institut der „Bundesverwaltung“ ist neu und
dem Grundgesetz bisher fremd. Wenn hier aber neue Begrifflichkeiten geschaffen werden, halte ich es für unerlässlich, dass ihre Bedeutung und Systematik genau bestimmt ist, um rechtliche Grauzonen auszuschließen. Dies
leistet der Gesetzentwurf bisher nicht in ausreichendem
Maße. Vom Grundsatz der Bundesverwaltung darf weiter
gemäß Art. 87 d Abs. 1 GG dann abgewichen werden,
wenn europäisches Recht dies notwendig macht. Auch
diese Formulierung ist für mich alles andere als eindeutig. Warum ist in der Gesetzesbegründung beispielsweise
von „zwingendem europäischen Recht“ die Rede, im
Grundgesetz aber nicht? Diese und andere Punkte sind
für mich noch nicht hinreichend beantwortet. Das müssen
wir uns noch einmal genau angucken.
Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes im Art. 87 d sowie
einen Entwurf für ein Gesetz zur Änderung der luftverkehrsrechtlichen Vorschriften. Darüber hinaus liegt uns
ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Errichtung
eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung vor.
Die Änderungen, die wir als Koalitionsfraktionen parallel zur Bundesregierung in die parlamentarischen Beratungen einbringen, stehen im engen Zusammenhang
mit dem festen Willen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, eine engere Zusammenarbeit im Luftverkehr zu erreichen. Ziel der Kooperation innerhalb der
Europäischen Union ist es, die Verkehrsströme in der Luft
effektiver zu organisieren. Im Jahr 2004 hat die Europäische Union ein Paket an Verordnungen zur Errichtung eines einheitlichen europäischen Luftraums verabschiedet.
Oberstes Ziel ist es, grenzüberschreitende „funktionale
Luftraumblöcke“ zu schaffen. Auf diese Art werden Flugtrassen optimiert. Die Schadstoffemission von Flugzeugen wird reduziert.
In den grenzüberschreitenden Luftfahrtblöcken ist
darüber hinaus eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit der nationalen Flugsicherungsorganisationen der
europäischen Mitgliedstaaten vorgesehen. Das erhöht
die Flugsicherheit. Um die Qualität der Flugsicherheit in
Europa zu verbessern, wurden einheitliche Zulassungskriterien für Flugverkehrskontrollanbieter und feste Vorgaben für Struktur, Verfahren und Technik festgelegt.
Darüber hinaus ist ein großräumiger Zuschnitt der jeweils überwachten grenzüberschreitenden Luftraumblöcke vorgesehen. Außerdem strebt die Europäische Union
eine Verbesserung der Effektivität der Flugsicherungsleistungen an und schreibt eine Trennung von Aufsicht
und Umsetzung von Flugsicherungsdiensten vor.
Mit der angestrebten Änderung des Grundgesetzes
wollen wir die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen
für eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Luftverkehrsverwaltung schaffen. Deutschland will und muss
sich aktiv an der Herstellung eines einheitlichen europäischen Luftraums beteiligen. Außerdem wollen wir den unhaltbaren Zustand beenden, dass bereits heute in grenznahen Räumen ausländische Flugsicherungsorganisationen ohne rechtliche Grundlage tätig werden; ein
Umstand, der sich aus der Notwendigkeit ergibt, dass
Flugkorridore und damit die dortige Sicherheit am Himmel über nationale Grenzen hinweg organisiert werden
müssen, um einen effektiven Flugverkehr zu ermöglichen.
Die Hoheitsgrenzen der Bundesrepublik Deutschland lassen sich nicht parallel mit den Zuständigkeitsbereichen
der Flugsicherungsorganisationen in der Luft abbilden.
Hier kommt es zu Überschneidungen mit den Aufgabenund Funktionsbereichen anderer ausländischer Flugsicherungsorganisationen. Kooperationen und Absprachen der Deutschen Flugsicherung mit anderen ausländischen Flugsicherungsorganisationen sind zwangsläufig
notwendig, um den Flugsicherungsbetrieb in diesen Lufträumen ordnungsgemäß abwickeln zu können. Ähnlich
sieht es bereits heute an Regionalflughäfen aus, an denen
aus praktischen und technischen Gründen ausländische
Flugsicherungsorganisationen tätig sind und deren Tätigkeit bisher rechtlich nicht gedeckt ist.
Mit der Neuregelung im Grundgesetzartikel 87 d öffnen wir die bundeseigene hoheitliche Luftverkehrsverwaltung für abweichende Vorgaben des europäischen
Rechts. Sie wird auch künftig der Bundesverwaltung zugeordnet. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich, dass
die Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung Hoheitsaufgaben des Bundes bleiben. Sie müssen jedoch nicht mehr
nur durch Behörden und Personal des Bundes, sondern
können in Ausnahmefällen auch im Wege der mittelbaren
Bundesverwaltung einschließlich beliehener Flugsicherungsorganisationen wahrgenommen werden.
Darüber hinaus werden mit der Grundgesetzänderung
die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen,
um in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht der Europäischen Gemeinschaft Unterstützungsdienste der
Flugsicherung, das heißt Kommunikations-, Navigations- und Überwachungsdienste sowie Flugberatungsdienste aus der Hoheitsverwaltung des Bundes ausgliedern zu können. Dabei handelt es sich um die technischen
Dienste, die die Beschäftigten der Flugsicherungsorganisationen wie die Fluglotsen bei ihrer Tätigkeit unterstützen. Mit dem Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften folgen wir dem Auftrag des neuen
Art. 87 d im Grundgesetz, der uns als Gesetzgeber
Zu Protokoll gegebene Reden
beauftragt, die konkrete Regelung der Flugsicherung in
Deutschland in einem eigenständigen Bundesgesetz zu
treffen.
Mit den geplanten Änderungen im Luftverkehrsgesetz
wollen wir festschreiben, dass auch in Zukunft die Deutsche Flugsicherung als bundeseigenes Unternehmen im
vollständigen Besitz des Bundes bleibt. Wir schließen
eine Privatisierung aus. Darüber hinaus wird die DFS
weiterhin die führende Flugsicherungsorganisation in
Deutschland bleiben. Nur in Randbereichen lassen wir
auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages eine
Beleihung von ausländischen Flugsicherungsorganisationen zu. Um die hoheitlichen Kontroll- und Aufsichtsrechte des zu errichtenden Bundesaufsichtsamtes für
Flugsicherung zu sichern, ist es bei einer Beleihung einer
ausländischen Flugsicherungsorganisation unabdingbar,
dass ein zwischenstaatlicher Vertrag vorliegt. Die Hoheitsrechte des deutschen Staates müssen an dieser Stelle
gewahrt werden.
Außerdem legen wir fest, dass nach Maßgabe der europäischen Regelungen jede Flugsicherungsorganisation, die in Deutschland tätig wird, ein europäisches Zertifikat vorzuweisen hat. Damit schließen wir im Einklang
mit den europäischen Vorgaben zukünftig eine Beleihung
natürlicher Personen für die Zukunft aus. Aktuell geltende Einzelbeauftragungen erlöschen spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2010. Gleichzeitig stellen wir klar,
dass zu einer ordnungsgemäßen Durchführung der Flugsicherung neben der Sicherheit, Ordnung und flüssigen
Abwicklung des Luftverkehrs auch die Beachtung der Aspekte des Lärm- und Umweltschutzes gehört.
Die Bundesregierung hat darüber hinaus ein Gesetz
zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung vorgelegt, das wir im Zusammenhang mit den
anderen beiden Gesetzesinitiativen beraten. Das europäische Recht sieht eine zwingende Trennung von Aufsichtsund Durchführungsaufgaben im Bereich der Flugsicherung vor. Das zu errichtende Bundesaufsichtsamt wird
die hoheitlichen Kontrollaufgaben gegenüber den Flugsicherungsorganisationen wahrnehmen.
Ich lade alle Fraktionen des Deutschen Bundestags
ein, sich konstruktiv an der parlamentarischen Beratung
der vorliegenden Gesetzentwürfe zu beteiligen. Meine
Hoffnung ist, dass wir die vorgeschlagenen Änderungen
mit einer breiten Mehrheit des Hohen Hauses verabschieden werden. Das wäre ein gutes Signal im Sinne einer
weiteren Integration in der europäischen Luftverkehrspolitik.
Durch die Medienberichte der letzten Tage entstand
teilweise der Eindruck, dass mit den drei Gesetzentwürfen, die uns zur Beratung vorliegen, die Zukunft der Deutschen Flugsicherung GmbH oder gar deren Kapitalprivatisierung bzw. ihre Verhinderung geregelt werden soll.
Sicher, von einigen Grenzregionen und Regionalflughäfen abgesehen, werden die Flugsicherungsdienste in der
Bundesrepublik von der DFS erbracht. Insofern trifft die
beabsichtigte Novellierung dieses Unternehmen ganz besonders. Auch steht die FDP-Bundestagsfraktion einer
Kapitalprivatisierung bekanntlich offen gegenüber. Darum geht es bei den vorliegenden Gesetzentwürfen aber
gar nicht. Vielmehr schaffen sie einen Rechtsrahmen dafür, wie in Deutschland zukünftig Flugsicherung allgemein organisiert sein soll.
Die Initiativen sind aber nicht etwa das Ergebnis des
unbändigen Tatendrangs von Bundesregierung und Koalitionsfraktionen. Beide wurden schlicht und einfach
durch die Gegebenheiten zum Handeln gezwungen. Flugsicherungsdienste werden in grenznahen Regionen der
Bundesrepublik durch ausländische Organisationen erbracht. Dies ist auch zweckmäßig, da Luftraumblöcke nur
schwerlich am genauen Grenzverlauf ausgerichtet werden können. Diese Praxis verstößt jedoch gegen die Vorgaben des Grundgesetzes. Das ist der Bundesregierung
und der Koalition spätestens seit der Anhörung im Verkehrsausschuss zum Flugsicherungsgesetz im März 2007
bekannt. Mehrere Gutachter, darunter auch der Staatsrechtler Professor Wieland, machten damals auf das Problem und all seine Folgen aufmerksam. Passiert ist hingegen nichts. Mehr noch: Von der Opposition im
Verkehrsausschuss beantragte Selbstbefassungen zu
diesem Thema wurden mehrfach vertagt, deren parlamentarische Initiativen wie der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion „Zukunft der Flugsicherung verfassungskonform gestalten“ wurden abgelehnt.
Dabei ist das Thema alles andere als zum Aussitzen geeignet. Der anhaltende Verfassungsbruch führt dazu,
dass die Bundesrepublik für Schäden, die in diesem Zusammenhang entstehen, voll haften muss. Das wurde uns
bereits vom Landgericht Konstanz in seinem Urteil zum
Unglücksfall Überlingen bestätigt. Auch dort erbrachte
das Schweizer Unternehmen Sky Guide Flugsicherungsdienste über deutschem Hoheitsgebiet. Die Regierungskoalition nahm damit für lange Zeit neben dem Verfassungsverstoß als solchem ein Haushaltsrisiko in
unüberschaubarer Höhe in Kauf. Wenn sie nun endlich
- nach über zwei Jahren - legislativ tätig wird, ist dies
zwar zu begrüßen; es wird aber auch allerhöchste Zeit.
Ein ähnlich starker Handlungszwang geht auch vom
europäischen Gemeinschaftsrecht aus. Innerhalb des
letzten Jahres wurde deutlich, dass es Europa ernst meint
mit dem Single European Sky. Die Kommission hat einen
Vorschlag für eine Verordnung vorgelegt, nach der die
Mitgliedstaaten bis spätestens 2012 Funktionale Luftraumblöcke errichten müssen. Spätestens zu dieser Zeit
muss sichergestellt sein, dass auch ausländische Organisationen ihre Dienste im deutschen Luftraum erbringen
können. Deutschland kann sich dann schlechterdings
nicht den Angeboten ausländischer Unternehmen unter
Hinweis auf die nationale Verfassungslage verschließen unabhängig von den geplanten EU-Vorschriften. Denn
alles andere wäre ein Rückschritt hin zu reinem Protektionismus. Und es wird Sie nicht verwundern, dass wir in
der FDP-Bundestagsfraktion diesem nicht die Hand reichen werden. Dabei mache ich mir um die DFS übrigens
keine Sorgen. Dank der Organisationsprivatisierung im
Jahre 1993 ist sie hervorragend aufgestellt und muss keinen Vergleich mit anderen Organisationen fürchten. Die
Anzahl der von ihr kontrollierten Flüge nahm in den letzten 15 Jahren um 40 Prozent auf 3,15 Millionen zu. TrotzZu Protokoll gegebene Reden
dem hatten im Jahr 2008 nur 4 von 100 Flügen eine Verspätung von mehr als 15 Minuten, die in die
Verantwortung der DFS fiel. Diese Zahlen belegen: Weniger Staatsnähe im Bereich der Flugsicherung ist eine
Chance und kein Risiko für das Unternehmen.
Wir begrüßen es auch aus einem anderen Grund, dass
die Kommission bei der Errichtung des Single European
Sky jetzt Gas gibt. Durch ihn kann ein wertvoller Beitrag
zum Umweltschutz geleistet werden, ohne dass damit wieder eine Verteuerung des Luftverkehrs und der Ticketpreise einhergehen würde. Allein durch die Vermeidung
von Umwegen, die auf nationalstaatliche Interessen zurückzuführen sind, kann der CO2-Ausstoß der Flugzeugflotten um bis zu 16 Prozent reduziert werden. Um dieses
Ziel erreichen zu können, müssen auch - und gerade - die
rechtlichen Voraussetzungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten geschaffen werden. Vor diesem Hintergrund kamen die Entwürfe spät, sehr spät. Umso wichtiger ist es,
dass die letztlich beschlossenen Gesetze Bestand haben
und einer verfassungsrechtlichen Kontrolle standhalten.
Es wäre fatal, wenn ein Gesetz die Flugsicherung betreffend zum dritten Mal innerhalb von 19 Jahren für verfassungswidrig erklärt werden würde. Im Rahmen der Beratungen ist daher besonderes Augenmerk auf die
Unterrichtungen des Bundespräsidenten aus den Jahren
1991 und 2006 und die darin aufgeführten Gründe für die
Nichtausfertigung zu richten. Es werden im Rahmen der
Anhörung dahin gehend einige Fragen zu klären sein. Ein
erneutes Scheitern an den Hürden des Grundgesetzes
darf es nicht geben.
Es freut uns, dass auch aus Sicht der Koalition Kommunikations-, Navigations- und Flugberatungsdienste ab
sofort nicht mehr hoheitliche Handlungen darstellen,
sondern als privatwirtschaftliche Tätigkeiten zu Marktbedingungen erbracht werden sollen. Union und SPD bestätigen damit die Auffassung der FDP, die seit Jahren
von uns vertreten wird, so zum Beispiel in unserem Antrag
„Zukunft der Flugsicherung verfassungskonform gestalten“. Bedauerlich ist, dass die Koalition nicht konsequent
genug war, einen Schritt weiterzugehen und auch Flugsicherungsverkehrsdienste als privatwirtschaftliche
Dienstleistung auszugestalten. Dies würde aus unserer
Sicht nur Vorteile bringen. So stellt sich die Frage, warum
es zur Erbringung von Flugsicherungsdiensten durch
ausländische Organisationen auch nach der geplanten
Grundgesetzänderung notwendig sein soll, dass eine völkerrechtliche Vereinbarung mit dem Heimatstaat der Organisation geschlossen worden sein muss. Wohl auch aus
Sicht der Koalition genügen ansonsten die Ingerenzrechte des Staates nicht den Voraussetzungen einer
- wenn auch nur einfachen - Bundesverwaltung. Im Ergebnis hieße dies aber, dass, solange es keine entsprechenden Vereinbarungen gibt, die Praxis in den grenznahen Regionen Deutschlands rechtswidrig bleibt. Durch
die Grundgesetzänderung würde es danach zu keinerlei
Vereinfachungen kommen. So hat sich Europa den Single
European Sky sicherlich nicht vorgestellt. Dieses
Dilemma kann verhindert werden, wenn auch Flugsicherungsverkehrsdienste als privatwirtschaftliche Dienstleistungen ausgestaltet werden.
Auch kann ich nicht erkennen, warum die Flugsicherung sicherer sein soll, wenn sie eine hoheitliche Aufgabe
darstellt. Der Vergleich mit dem Verkehrsträger Schiene
beweist das Gegenteil. Der Fahrdienstleiter, der dem
Lokpersonal zum Beispiel durch Signale die Streckenfreigabe erteilt und Anweisungen gibt, ist Angestellter der
privatrechtlichen DB Netz AG. Er hat keinerlei Hoheitsgewalt. Trotzdem ist ein sicherer und reibungsloser Betriebsablauf auf der Schiene gewährleistet. Darüber
hinaus würden Zwangsbefugnisse rein faktisch ins Leere
laufen. Kein Fluglotse am Boden wäre in der Lage, seine
Weisung mit staatlicher Gewalt an Bord des Flugzeugs
durchzusetzen. Schon heute ist deshalb anerkannt, dass
die Fluglotsen primär nicht regulierend, sondern unterstützend tätig sind. Und folgerichtig haben bereits heute
nach § 3 Luftverkehrsordnung die Piloten das Recht der
letzten Entscheidung.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt es sehr, dass das
Thema Flugsicherung noch einmal am Ende dieser Legislaturperiode angepackt wurde. Dies darf aber nicht dazu
führen, dass die Beratungen im Schweinsgalopp verlaufen und nicht genügend Zeit für die Klärung von entscheidenden Fragen bleibt. Wir werden das Verfahren jedenfalls konstruktiv begleiten und freuen uns auf die weiteren
Diskussionen.
Das, was die Koalition uns hier vorlegt, ist absurd.
Während die CDU sich aus ihrer Sicht gerade mit dem
Teufel einlässt und eine Bank verstaatlicht, bereiten Sie
den Weg für einen Verkauf der Flugsicherung. Nachdem
die Koalition mit der Privatisierung der Deutschen Bahn
gescheitert ist, wird nun wieder die Flugsicherung ausgegraben, um kurz vor Geschäftsschluss, dem Ende der Legislatur, der Öffentlichkeit noch einen Erfolg vorweisen
zu können.
Werte Kolleginnen und Kollegen, es gibt bemerkenswerte Parallelen zwischen der Finanzkrise und dem, was
zurzeit in der europäischen Flugsicherung passiert: Vor
der Finanzkrise wurde jahrelang den Banken und Investmentgesellschaften absolutes Vertrauen geschenkt und
Wünschen nach weniger Gesetzen und Regelwerken
nachgegeben, statt eigene Kompetenzen bei der Bankenaufsicht aufzubauen. Die Quittung zahlen die Bürgerinnen und Bürger. Die Bundesregierung lernt nichts dazu.
Sie vertraut nun in gleicher Weise den europäischen
Flugsicherungsorganisationen, denen es in erster Linie
auch nur ums Geldverdienen geht. Dabei weiß die Bundesregierung schon heute nicht mehr, was in ihrer bundeseigenen Flugsicherung passiert. Künftig wird sie noch
weniger wissen! Wie sonst wäre es zu erklären, dass die
Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die
Linke vom 24. November 2008 zu Cross-Border-LeasingGeschäften im Bereich des Bundes bzw. bundeseigener
Unternehmen nicht antwortete?
Die Flugsicherung ist heute schon privatrechtlich organisiert und damit juristisch in der alleinigen Verantwortung. Fakt ist jedoch, es besteht ein 1,4-MilliardenDeal der bundeseigenen Verwaltung Deutsche Flugsicherung GmbH mit der AIG zum technischen Equipment.
Zu Protokoll gegebene Reden
AIG, das ist der Konzern, der gerade den größten Quartalsverlust in der Wirtschaftsgeschichte eingefahren hat:
61,7 Milliarden Dollar!
Zu Beginn dieser Legislaturperiode ist die Privatisierung der Flugsicherung am Bundespräsidenten aus verfassungsrechtlichen Gründen gescheitert. Die Linke
stimmte damals als einzige Fraktion im Bundestag gegen
dieses Gesetz, nicht nur, weil wir die Privatisierung für
falsch hielten und halten, sondern weil wir verfassungsrechtliche Bedenken hatten. Auf den Satz „Die Luftverkehrsverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung geführt“ in Art. 87 d des Grundgesetzes hatte sich
Bundespräsident Horst Köhler berufen, als er 2006 das
Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung ablehnte.
Diesen Satz wollen Sie nun ändern. Unter dem Deckmantel der Anpassung ans europäische Recht bereiten Sie den
Boden für eine materielle Privatisierung der Flugsicherung. Natürlich verkaufen Sie die nicht gleich. Ich kann
auch lesen, dass die Flugsicherung weiter zu 100 Prozent
in Bundesbesitz befindlich bleibt. Das steht aber nur im
Begleitgesetz.
Das Grundgesetz sagt, folgt das Parlament Ihrem Antrag, bald etwas anderes. Das wollen Sie so ändern, dass
die lästigen Hürden, die den Bundespräsidenten damals
gezwungen haben, die Privatisierung zu stoppen, beseitigt werden. Ich möchte vier Sätze aus einem Bericht des
Verkehrsministeriums vom 23. März 2007 zitieren: „Die
Wörter ‚bundeseigener Verwaltung’ in Satz 1 werden
ersetzt durch das Wort ‚Bundesverwaltung’. Die Bundesverwaltung erhält hiernach einen größeren Handlungsspielraum, indem sie private Dritte auch in Kernbereichen der Staatsverwaltung, insbesondere auch im Bereich
der Gefahrenabwehr einsetzen kann. Der bisherige Satz 2
wird gestrichen. Für die beabsichtigte Kapitalprivatisierung der DFS ist der bisherige Satz 2 nicht ausreichend.“
Beide „Bedingungen“ für eine Kapitalprivatisierung erfüllen Sie mit dieser Grundgesetzänderung. Sie lassen damit zu, dass auch in den Kernbereichen der Luftsicherheit
private Unternehmen agieren dürfen. Der Vorwand ist,
dies wäre nötig, um in den Grenzregionen Verfassungskonformität herzustellen, aber ich sage: Das ist nur die
halbe Wahrheit. Mit anderen Worten: Die SPD macht sich
zum Wegbereiter für eine Kapitalprivatisierung der DFS trotz Hamburger Parteitagsbeschluss. Schwarz-Gelb, so
das auf uns zukommt, kann in der nächsten Legislaturperiode in Ruhe vollenden. Die hätten dann natürlich keine
Zweidrittelmehrheit, deswegen muss jetzt die SPD noch
einmal den nützlichen Idioten spielen. Wollen Sie das
wirklich?
Wer der Meinung ist, die Deutsche Flugsicherung soll
zu 100 Prozent in Bundesbesitz bleiben, der darf dieser
Grundgesetzänderung nicht zustimmen! Ich appelliere an
die Genossinnen und Genossen der SPD, das zu überdenken, anderenfalls könnte einem glatt die Idee kommen, es
läge ein Deal vor.
Der Anlass des Vorschlags zur Änderung des Grundgesetzes des gemeinsamen Luftraums in Zentraleuropa ist
unbestritten. Auch die Linke setzt sich dafür ein, dass die
gesetzlichen Grundlagen ans Europarecht angepasst
werden. Wir haben dazu einen eigenen Antrag eingebracht: Drucksache 16/3803, ausdrücklich nicht zur Änderung des Grundgesetzes. Das muss man nicht verbiegen, um die europäischen Vorgaben im Luftverkehr
einzuhalten! Für einen einheitlichen Luftraumblock in
Zentraleuropa, der von den Pyrenäen bis zur Oder reicht,
genügt eine zwischenstaatliche Organisation. Art. 24 des
Grundgesetzes reicht sehr wohl aus! Das ist längst Praxis: Eurocontrol überwacht schon seit Jahrzehnten einen
Luftraum, zu dem auch der Nordseeraum und Norddeutschland zählen. Und selbst wenn Sie das Grundgesetz ändern, müssen trotzdem zwischenstaatliche Einrichtungen geschaffen werden. Ansonsten bliebe nur der
Weg, dass jeder Staat mit jedem anderen einen Vertrag
abschließt.
Ich möchte Ihnen Ihre angeblichen Sachzwänge einmal vor Augen führen: Für den einheitlichen europäischen Luftraumblock ist bislang lediglich eine Joint Declaration of Intent unterzeichnet worden, auf Deutsch:
eine „Gemeinsame Absichtserklärung“! Das ist die niedrigste Stufe einer irgendwie gearteten Vereinbarung! Das
nehmen Sie zum Anlass, das Grundgesetz zu ändern?
Völlig ausgeblendet haben Sie anscheinend auch die
Auswirkungen auf andere Luftverkehrsverwaltungen. Sie
tun so, als ob die Flugsicherung der einzige Bestandteil
der Luftverkehrsverwaltung wäre. Dem aber ist nicht so,
und Sie wissen das! Auch das Luftfahrt-Bundesamt,
LBA, die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung,
BFU, und das zukünftige Bundesamt für Flugsicherungsaufsicht, BAF, sind Bestandteile der Luftverkehrsverwaltung. Darüber, was die Grundgesetzänderung für
diese Verwaltungen bedeutet, haben Sie bisher wohl
noch nicht nachgedacht, getreu der Devise: Hauptsache,
die Koalition erweckt noch den Anschein der Handlungsfähigkeit.
Hier sehen wir noch deutlichen Klärungsbedarf in den
weiteren Beratungen. Wenn Flugsicherungsorganisationen anderer Staaten - nach entsprechender Zertifizierung künftig Bestandteil der nationalen deutschen Bundesverwaltung werden, dann muss gesichert sein, dass eine
Institution vorhanden ist, die kontrolliert, ob diese Organisationen die zahlreichen Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Erlasse einhalten, die für Bundesverwaltungen
nun einmal gelten. Das neue Aufsichtsamt für die Flugsicherung BAF mit seinen künftig etwa 80 Beamten wird
mit diesen Angelegenheiten mit ziemlicher Sicherheit
überfordert sein! Es ist in der Tat so, dass die Organisationseinheiten von AustroControl, die einen Teil der deutschen Regionalflughäfen kontrollieren, sich künftig in der
Rolle einer Bundesverwaltung befinden werden und entsprechendes öffentliches Recht für ihren inneren Aufbau
werden anwenden müssen! Die Frage ist jedoch, wer das
kontrolliert. Wir sehen noch umfänglichen Klärungsbedarf für die weiteren Beratungen.
Wir hatten uns als Verkehrspolitiker im Jahr 2006 auf
ein Gesetz zur Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung, DFS, geeinigt und waren damals der Auffassung, zu einem guten Kompromiss gekommen zu sein.
Das Gesetz sollte der Umsetzung der neuen AnforderunZu Protokoll gegebene Reden
gen für einen einheitlichen und sicheren europäischen
Luftraum dienen, die mit einer Reihe von EU-Verordnungen zum Single European Sky, SES, vorgegeben waren.
Die zentralen Zielsetzungen des Gesetzes lauteten: Wahrung europäischen Rechts und des Grundgesetzes, Wahrung und Sicherung hoheitlicher Aufgaben, Schaffung
optimaler Bedingungen für das international anerkannte
Flugsicherungsunternehmen DFS im europäischen Wettbewerb sowie Garantie und Sicherung unabhängiger
staatlicher Aufsicht. Der Bundespräsident hat gegen das
Gesetz sein Veto eingelegt und dies mit der Verfassungswidrigkeit des DFS-Gesetzes begründet.
Ohne eine Neuregelung konnten die europäischen Vorgaben bisher nicht umgesetzt werden. Auch die Probleme
der Luftraumüberwachung in Grenzgebieten durch ausländische Flugsicherungsorganisationen, die man kaum
als in „bundeseigner Verwaltung“ betrieben bezeichnen
kann, wurden nicht gelöst, noch wurden die Fragen der
Rechtmäßigkeit der Tätigkeit privater Flugsicherungsorganisationen an Regionalflughäfen beantwortet. Der
Bundesregierung ist es lange Zeit nicht gelungen, aus
dem gescheiterten Vorhaben Konsequenzen zu ziehen.
Jetzt endlich - immerhin drei Jahre später - werden drei
Regelwerke vorgelegt, die diesem Zustand abhelfen sollen.
Mit dem ersten Gesetz soll Art. 87 d des Grundgesetzes
geändert werden. Die Debatte wie auch verfassungsrechtliche Gutachten zu den Einwänden des Bundespräsidenten haben die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung nahegelegt. Die jetzt von der Bundesregierung
vorgeschlagenen zentralen Änderungen sind: Die Formulierung „bundeseigene Verwaltung“, Art. 87 d GG
derzeit, soll durch die Formulierung „Bundesverwaltung“ ersetzt werden, das heißt, die Aufgaben der Flugsicherung können sowohl öffentlich-rechtlich als auch
durch private Organisationen, etwa durch Beleihung,
ausgeübt werden. Ausländische Flugsicherungsorganisationen, die nach EU-Recht zertifiziert sind, sollen gemäß europäischer Vorgaben für Tätigkeit über deutschem
Hoheitsgebiet zugelassen werden. Das zielt, so die Begründung, auf die Absicherung ausländischer Organisationen, die im Rahmen der Schaffung von FABs, Funktionaler Lufträume in der EU, zur Umsetzung des
einheitlichen europäischen Luftraums über deutschem
Gebiet tätig werden.
Das Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften enthält die Ausführungsbestimmungen für die
vorgeschlagene Grundgesetzänderung sowie Klarstellungen und Regelungen über jene technischen Bereiche
der Flugsicherung - Unterstützungsdienste, Kommunikations-, Navigations- und Überwachungsdienste -, die
nach europäischen Vorgaben nicht mehr als hoheitliche
Aufgaben des Bundes wahrgenommen werden müssen.
Eine Kapitalprivatisierung wie im Gesetz von 2006 vorgesehen wird ausdrücklich nicht angestrebt; die Deutsche Flugsicherung bleibt im Besitz des Bundes.
Mit dem BAF-Gesetz soll das einzurichtende Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung, BAF, als unabhängige
Aufsichtsbehörde auf den Weg gebracht werden. Die EU
hatte mit den SES-Vorgaben die Mitgliedstaaten aufgefordert, eine Trennung von Flugsicherungsabwicklung
und Kontrolle sicher zu stellen. Das BAF soll alle Kontrollaufgaben in Sachen Flugsicherung wahrnehmen und
die Einhaltung von Standards sichern, umfassende
Rechts- und Fachaufsicht. Die Einrichtung dieser Behörde ist längst überfällig; denn seit Jahren ist eine Art
Übergangsbehörde mit unzureichender Personalausstattung allein für die Kontrolle, Genehmigung und Zertifizierung zuständig. Dieser Zustand muss dringend abgestellt werden.
Unserer Auffassung nach müssen die beschriebenen
Probleme mit der derzeitigen rechtswidrigen Flugsicherungspraxis rasch gelöst werden. Überdies drohen Vertragsverletzungsverfahren, wenn die europäischen Vorgaben nicht umgesetzt werden. Die Schaffung eines
einheitlichen europäischen Luftraums soll - so ein erklärtes Ziel - zu mehr Effizienz im Flugverkehr führen. Wir
meinen, dies ist ein wichtiger Baustein für mehr Klimaschutz im Luftverkehr und begrüßen daher die Umsetzung
des einheitlichen europäischen Luftraums.
Gleichwohl müssen wir jetzt im parlamentarischen
Verfahren wohlüberlegt und mit großer Sorgfalt sicherstellen, dass mit den jetzt vorliegenden Gesetzentwürfen
wirklich alle Fragen der momentan grundgesetzwidrigen
Praxis in der Flugsicherung beim grenzüberschreitenden
Flugverkehr und der Verfassungskonformität mit europäischen Anforderungen geklärt werden. Wir werden die
Vorlagen in der nötigen Ruhe kritisch prüfen und im Rahmen der parlamentarischen Beratung wie auch der verabredeten Anhörung im Deutschen Bundestag auf transparente, eindeutige und rechtskonforme Regelungen
drängen. Denn mit Blick auf die Historie - immerhin wurden schon durch zwei Bundespräsidenten Regelungen
zum Flugverkehr aufgehalten - wollen wir darauf drängen, dass klare und unmissverständliche Regelungen getroffen werden, damit nicht erneut ein Scheitern am Ende
steht. Für uns hat Sicherung hoheitlicher Aufgaben der
Flugsicherung höchste Priorität. Die Verantwortung für
den sicheren Luftraum muss beim Bund bleiben. So soll
auch zukünftig die zivil-militärische Integration bei der
Überwachung des Flugverkehrs eine höchstmögliche Sicherheit garantieren.
Wir behandeln heute ein umfangreiches Gesetzespaket
zur Neuregelung der Flugsicherung, bestehend aus drei
Gesetzen. Wir müssen unser nationales Recht aus verschiedenen Gründen weiterentwickeln und anpassen.
Wir wollen mit dem BAF-Errichtungsgesetz das erste
EU-Verordnungspaket über den einheitlichen europäischen Luftraum - SES I - umsetzen. Dies müssen wir
schon deshalb tun, weil wir ein Vertragsverletzungsverfahren der EU und insbesondere auch Defizite in der
Sicherheit durch eine unzureichende Aufsicht vermeiden
wollen. Mit der Grundgesetzanpassung in der jetzt vorliegenden Form haben wir einen Weg gefunden, bei allen
wichtigen EU-Vorhaben zur Weiterentwicklung eines
gemeinsamen Luftraums mitwirken zu können. Das von
uns sogenannte Begleitgesetz zur Flugsicherung ist die
Zu Protokoll gegebene Reden
Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick:
logische und zwingende Folge der von mir eben vorgestellten Maßnahmen zu Grundgesetz und EU sowie SES.
Bei allem spielt außerdem eine wichtige Rolle, dass wir
den Herausforderungen eines kontinuierlich wachsenden
Luftverkehrs sachgerecht begegnen können.
Die Europäische Union hat bereits im Jahre 2004
reagiert. Mit dem Verordnungspaket zum Einheitlichen
europäischen Luftraum soll ein grenzüberschreitender
Single European Sky in Zentraleuropa geschaffen werden. Wir hinken nach wie vor hinterher. Nach wie vor ist
unser Recht nicht auf den Single European Sky ausgerichtet. Deutschland als das Kernland in Europa kann
sich hier aber nicht einfach heraushalten.
Die besondere Herausforderung, vor der wir stehen, ist,
die Flugsicherung grenzüberschreitend zu organisieren.
Es gilt, eine weitgehend zersplitterte Flugsicherungslandschaft in der Europäischen Union zu vereinheitlichen
und auf einen gemeinsamen Level zu bringen. Die Lenkung
des Flugverkehrs soll sich künftig nicht mehr an Staatsgrenzen orientieren, sondern an den Verkehrsströmen.
Flugzeuge sollen, insbesondere auch im Interesse des
Umweltschutzes, auf möglichst direktem Weg an ihr jeweiliges Ziel geführt werden. Dazu sollen in ganz Europa
grenzüberschreitende funktionale Luftraumblöcke eingerichtet werden. Unter Beteiligung Deutschlands,
Frankreichs, der Benelux-Staaten und der Schweiz laufen
die Arbeiten an der Errichtung eines solchen gemeinsamen Luftraums über Zentraleuropa: Functional Airspace
Block Europe Central, FABEC. Es gilt daher, die aktive
Beteiligung Deutschlands an diesem FABEC sicherzustellen.
Wir brauchen insoweit die notwendige Flexibilität, um
hier auf gleicher Augenhöhe mit den anderen Staaten
gemeinsame Lösungen konzipieren und verwirklichen zu
können. Diesen Freiraum, diese notwendige Flexibilität
schaffen wir mit dem Gesetzespaket zur Neuorganisation
der Flugsicherung in Deutschland. Lassen Sie mich kurz
auf die einzelnen Regelwerke eingehen.
Erstens: Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes,
Art. 87 d GG. Mit der Grundgesetzänderung wird die
Luftverkehrsverwaltung neu ausgerichtet. Die bisherige
bundeseigene Verwaltung des Luftverkehrs wird in eine
Bundesverwaltung überführt. Der einfache Gesetzgeber
hat so die Möglichkeit, sie als bundesunmittelbare, aber
auch als mittelbare Verwaltung auszugestalten. Durch die
Möglichkeit der Ausgestaltung als mittelbare Verwaltung
wird insbesondere der Weg eröffnet, Dritte in die Bundesverwaltung einbeziehen zu können. Wir brauchen diesen
Freiraum gerade in der Flugsicherung. Zum Beispiel haben wir Situationen an unseren Grenzen, wo es sich nicht
vermeiden lässt, dass auch ausländische Flugsicherungsorganisationen mit ihrer Flugsicherungstätigkeit gleichsam von außen nach Deutschland hineinwirken. Kommt
es zur Errichtung des FABEC, wird sich dieser Umstand
noch beträchtlich ausweiten. Staatsgrenzen spielen dann
keine Rolle mehr; entscheidend für die Ausrichtung und
Ausgestaltung der internationalen Flugsicherungstätigkeit werden nur noch die Verkehrsströme sein.
Bei Abfassung des Grundgesetzes waren diese Umstände nicht erkennbar. Der Gesetzgeber ging seinerzeit
davon aus, dass die Luftverkehrsverwaltung und damit die
Flugsicherung durch eigene Einrichtungen des Bundes
darstellbar wären. Das ist aber heute in einem zusammenwachsenden Europa nicht mehr der Fall. Der grenzüberschreitende Flugverkehr fordert andere Lösungen. Das
ist der Grund, warum wir unsere Verfassung anpassen
müssen.
Gleichzeitig - und das möchte ich hier besonders herausstellen - berücksichtigen wir bei der vorliegenden, an den
Notwendigkeiten Europas wie der Praxis orientierten Verfassungsänderung auch Bedenken des Bundespräsidenten
bezüglich der Bundesverwaltung, die er 2006 - wenn
auch in anderem Zusammenhang - geäußert hat.
Zweitens: Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher
Vorschriften. Dieses Gesetz ist zur Umsetzung der neuen
grundgesetzlichen Vorgaben notwendig. Mit dem Gesetz
werden die von der Neufassung von Art. 87 d des Grundgesetzes geforderten einfachgesetzlichen Grundlagen
geschaffen, um die deutsche Flugsicherung europarechtskonform auszurichten. Darüber hinaus werden die
Voraussetzungen geschaffen, um Flugsicherungsaufgaben
in Deutschland in bestimmten Ausnahmefällen durch ausländische Flugsicherungsorganisationen wahrnehmen
lassen zu können.
Lassen Sie es mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen: Es steht kein Ausverkauf der Flugsicherung an. Wir übertragen insbesondere auch keine
Hoheitsrechte an Dritte. Die Flugsicherung in Deutschland bleibt weiterhin eine Aufgabe des Bundes. Keiner in
Deutschland tätigen Flugsicherungsorganisation werden
daher Kompetenzen des Bundes übertragen. Diese Organisationen sind nur befugt, die Hoheitsrechte des Bundes
unter seiner Aufsicht und Kontrolle wahrzunehmen. Die
Belange des Bundes müssen dabei in jedem Fall gewahrt
werden. Dazu braucht der Bund aber entsprechende Steuerungsinstrumente.
Es war gerade der Bundespräsident, der uns 2006 in
besonders eindringlicher und anschaulicher Form noch
einmal deutlich gemacht hat, welch bedeutende Rolle,
Aufgabe und Verantwortung der Bund für eine sichere
und ordnungsgemäße Flugsicherung trägt. Ohne wirksame Kontroll- und Durchsetzungsbefugnisse kann der
Bund - wie der Bundespräsident betont hat - seiner Verantwortung nicht gerecht werden. Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf die herausragende Funktion
und Stellung der DFS in der Flugsicherung sind wir nunmehr der festen Überzeugung, dass eine solche Aufgabe
grundsätzlich nur von einer zu 100 Prozent in Bundeseigentum stehenden Flugsicherungsorganisation - sprich:
DFS - wahrgenommen werden kann.
Die Aufrechterhaltung des Alleineigentums an der
DFS erscheint uns letztlich als die beste Lösung, um jedweden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegentreten
zu können und um eine Gewähr für die Aufrechterhaltung
des hohen Sicherheitsstandards Deutschlands in der
Flugsicherung bieten zu können. Nach den vorgesehenen
Neuregelungen wird daher die DFS als bundeseigenes,
privatrechtliches Unternehmen auch weiterhin die hoheitlichen Aufgaben des Bundes in Deutschland wahrnehmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick:
Nicht bundeseigene Flugsicherungsorganisationen lassen wir nur in Randbereichen der Flugsicherung zu, und
zwar für die Flugsicherung an Regionalflughäfen. Hier
handelt es sich nicht um die Kontrolle des An- und Abfluges oder des Streckenfluges, sondern nur um die Überwachung des Flugplatzverkehrs auf dem Flugplatz. Diese
Dienste waren bislang einzelnen natürlichen Personen
übertragen. Künftig können sie nur von Flugsicherungsorganisationen durchgeführt werden, die nach europäischem Recht zertifiziert sind.
Bestimmte Dienste im Zusammenhang mit der Flugsicherung wollen wir allerdings gänzlich aus dem hoheitlichen Pflichtenkreis des Bundes herausnehmen. Es handelt sich hierbei um Kommunikations-, Navigations- und
Überwachungsdienste - CNS-Dienste -, Flugberatungsdienste, AIS-Dienste sowie Flugvermessungsdienste.
Diese Dienste werden zukünftig der Privatwirtschaft
überlassen und der Aufsicht des noch zu errichtenden
Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung unterstellt. Damit
kommen wir europäischen Vorgaben nach.
Künftig können auch zertifizierte ausländische Flugsicherungsorganisationen mit Sitz oder Niederlassung im
Ausland im Bereich der grenzüberschreitenden Flugsicherung unter Kontrolle und Aufsicht des Bundes eingesetzt werden. Dazu schaffen wir die Voraussetzungen
für eine Unterbeauftragung von ausländischen Flugsicherungsorganisationen durch die DFS. So erhalten wir
eine wesentlich verbesserte rechtliche Basis für die
Zusammenarbeit mit ausländischen Flugsicherungsorganisationen.
Drittens: Gesetz zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung. Das dritte Gesetz im vorliegenden Paket setzt die zur Verbesserung der Flugsicherheit nach europäischen Vorgaben zwingend
gebotene Trennung operativer und regulativer Aufgaben
im Bereich der Flugsicherung um. Nachdem die DFS in
der Vergangenheit als Rechtsnachfolgerin einer ehemaligen Bundesbehörde auch zahlreiche Hoheitsaufgaben
des Bundes im Rahmen der Aufsicht und Regulierung
wahrgenommen hat, wird sie durch dieses Gesetz von diesen Aufgaben befreit. Die vorhandenen und neu durch die
Umsetzung des SES-Verordnungspakets entstandenen
Aufgaben werden zukünftig auf eine neue Bundesbehörde
verlagert: das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung.
Als nachgeordnete Behörde des BMVBS soll dieses Amt
als eigenständige nationale Aufsichtsbehörde für die
Flugsicherung fungieren, wie sie in Art. 4 der EG-Verordnung 549/2004 vorgeschrieben ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12280, 16/12279 und 16/11608 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über
Streumunition
- Drucksache 16/12226 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Hans Raidel, CDU/CSU, Andreas Weigel, SPD,
Florian Toncar, FDP, Inge Höger, Die Linke, Winfried
Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Seit den 1990er-Jahren ist die Stärkung des humanitären Völkerrechts weit vorangekommen. Das Verbot der
Antipersonenminen war ein erster Meilenstein. Der von
Norwegen im Februar 2007 eröffnete Oslo-Prozess zu
Streumunition gestaltet sich zu einer weiteren wichtigen
Etappe.
Streubomben sind scheußliche Waffen. Sie können
nicht zuverlässig zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden. Noch Jahrzehnte nach dem Einsatz
von Streubomben werden Menschen von Sprengkörpern
getötet oder schwer verletzt. Das Erbe der nicht explodierten Streumunition verhindert auch nach Beendigung
eines Krieges den Wiederaufbau eines Landes. Die Beseitigung von Streubomben ist ebenfalls eine Voraussetzung
für die Normalisierung eines Landes nach einem Krieg,
wie die Beseitigung von Antipersonenminen.
Seit dem Einsatz von Streumunition im Nahen Osten im
Sommer 2006 wird ein Verbot für diese Munition gefordert. Die damals eingesetzte Munition hatte nach Aussagen von Nichtregierungsorganisationen eine enorm hohe
Blindgängerrate von weit über 15 Prozent. Allein im
Libanon wurden über 3 000 Blindgänger entschärft,
60 Zivilisten sollen im Libanon durch Blindgänger ums
Leben gekommen sein.
Die Bundesrepublik Deutschland ist sich schon frühzeitig der Gefahren bewusst gewesen, die durch Gebrauch und hohe Blindgängerrate bestimmter Arten von
Streumunition vor allem der Zivilbevölkerung drohen. Sie
unterstützte daher von Beginn an aktiv den Verhandlungsprozess zu Streumunition, um die Zivilbevölkerung
vor den Gefahren dieser Munition stärker zu schützen
und das humanitäre Völkerrecht weiter zu entwickeln.
Deshalb möchte ich den Vertretern der Bundesregierung
für ihren Einsatz meinen Dank aussprechen.
Die Bundesregierung war immer bemüht, möglichst
viele Staaten mit ins Boot zu holen. Letztlich lässt sich ein
stärkerer Schutz der Zivilbevölkerung nur dann erreichen, wenn diese Verpflichtungen von so vielen Staaten
wie nur irgend möglich mitgetragen werden, insbesondere von den Staaten, die über große Streumunitionsarsenale verfügen. Unsere Verhandlungsführer zeigten
diplomatisches Fingerspitzengefühl für das politisch
Machbare, immer verbunden mit einem realistischen
Schrittfolgekonzept. Ein langer Atem und die Bereitschaft
zum Bohren dicker Bretter waren Voraussetzungen für
den Erfolg. Wir wissen aus Erfahrung, wie mühsam es ist,
Abrüstungserfolge zu erzielen. Betrachten wir nur das
Ottawa-Minenprotokoll und das damit verbundene jahrelange Tauziehen. Auch dabei haben sich Deutschlands
Regierung und Parlament besonders engagiert und
Schrittmacherdienste geleistet. Es hat sich gelohnt:
Heute ist das Ottawa-Protokoll in Kraft.
Die Mitglieder des parlamentarischen Forums „Small
Arms and Light Weapons“, dessen Vorstand ich angehöre, haben 2007 in einer Erklärung ihre Solidarität mit
allen Opfern von Streubomben bekundet. Da Streubombenmunition Zivilisten in Konfliktgebieten großen Schaden zufügt, haben wir darin unsere tiefsten Bedenken zum
Ausdruck gebracht. Die hohe Zahl an Toten und Verletzten sowie die Gefahr einer nachhaltigen Schädigung
durch Blindgänger weit nach Ende des Konflikts werden
von uns zutiefst bedauert.
In der Erklärung wird gefordert, dass aufgrund der
rücksichtslosen und nachhaltigen Gefährdung der Zivilbevölkerung ein internationales Instrument geschaffen
wird, um gegen Streubomben vorzugehen. Das Forum favorisiert dabei eine Lösung, durch die jede Form von
Streubombenmunition verboten werden soll. Hierin wird
die Befürchtung zum Ausdruck gebracht, dass eine Abschmälerung dieses Verbotes dazu führen könnte, dass
der Handel und die Produktion weitergehen könnten. Es
wird darauf gedrängt, dass sich die produzierenden Länder dem Moratorium zu einem Verbot von Streubomben
anschließen. Ziel sollte es sein, den Handel und die Produktion dieser Waffen einzustellen. Ein solches Moratorium soll auch für Artillerie und hochmoderne Waffentechnologien mit Selbstzerstörungseinrichtungen gelten.
In der Berlin-Erklärung vom Februar 2009 begrüßen
die Teilnehmer die im Dezember 2008 in Oslo von
94 Ländern unterzeichnete Konvention gegen den Einsatz von Streubomben. Die Implementierung dieses Dokuments wird als eine wichtige Errungenschaft angesehen, da es sich gegen die Produktion, den Gebrauch, den
Besitz sowie den Handel dieser Waffen ausspricht. Die
Staaten werden dazu ermuntert, sich für die Ratifizierung,
die Teilnahme und die Umsetzung dieser Konvention einzusetzen. Die anhaltende Produktion, Weiterverbreitung
und Lagerung solcher Waffen wird von den Parlamentariern kritisiert, da diese Waffen unendliches Leid über die
Betroffenen in den Einsatzgebieten bringen.
Die Bundeswehr hat Streumunition nie eingesetzt. Bereits 2001 hat die Bundeswehr damit begonnen, Streumunition aus ihren Arsenalen zu entfernen. Das deutsche
frühzeitige Engagement, seit 2004 aktiv im Rahmen des
VN-Waffenübereinkommens wie auch im Oslo-Prozess
seit dessen Beginn Ende 2006, hat die diplomatischen Bemühungen für ein globales Einsatzverbot entscheidend
mitgeprägt. Bereits im März 2006 hat die Bundesregierung mit einer „8-Punkte-Position“ erste konkrete Maßnahmen zu einem einseitigen Verzicht Deutschlands auf
Streumunition beschlossen. Damals hat sich Deutschland
verpflichtet, auf Neubeschaffungen zu verzichten und Modelle mit Blindgängerraten über einem Prozent zu vernichten. Dies gab einen wichtigen Impulse für die internationalen Verhandlungen.
Der Oslo-Prozess zu Streumunition wurde im Februar
2007 von Norwegen außerhalb des VN-Kontextes eröffnete. 107 Teilnehmerstaaten, 21 Beobachterstaaten sowie
200 NGO-Vertreter nahmen daran teil. Das Übereinkommen wurde anschließend am 3. Dezember 2008 in Oslo
von 94 Staaten, darunter auch Deutschland, unterzeichnet. Mit der Unterschrift Tunesiens am 12. Januar 2009
haben inzwischen 95 Staaten das Übereinkommen unterzeichnet.
Ein großes Defizit des gesamten Prozesses ist, dass
mehrere Länder mit großen Streumunitionsbeständen wie
die USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Brasilien,
Korea und Israel das Übereinkommen bisher nicht unterzeichnet haben. Es bleibt zu hoffen, dass durch den Regierungswechsel in den Vereinigten Staaten Präsident
Obama auch in diesem wichtigen Politikfeld eine Wende
in Amerika einleitet und damit auch die anderen Staaten,
die das Abkommen noch nicht unterzeichnet haben, mitreißt und eine gemeinsame Lösung gefunden wird, die von
allen akzeptiert wird.
Das jetzige Abkommen ist sehr weitreichend. Das ist
gut und notwendig. Nicht nur Einsatz, sondern auch Entwicklung, Herstellung, Lagerung sowie Import und Export von Streumunition aller Typen werden in dem neuen
Übereinkommen untersagt. Das Verbot umfasst sämtliche
bislang zum Einsatz gekommenen Streumunitionstypen.
Die vorhandenen Bestände von Streumunition sind innerhalb von acht Jahren zu vernichten, in besonderen Fällen
kann diese Frist zweimal um je vier Jahre verlängert werden. Die Hilfe für die Opfer früherer Einsätze und die Unterstützung betroffener Staaten werden gestärkt.
Die Verhandlungen waren sehr schwierig, da die Vorstellungen der unterschiedlichen Staaten sehr verschieden waren, die Interessen stark auseinandergingen. Viele
Regelungen des Verhandlungstextes sind teilweise identisch mit entsprechenden Bestimmungen der Ottawa-Antipersonenminen-Konvention von 1997 bzw. bauen hierauf auf. Dennoch musste in dem Übereinkommen eine
Reihe komplexer Fragen gelöst werden, die sich, anders
als bei den Antipersonenminen, hier in wesentlich kontroverserer Form stellten. Ich möchte einige Beispiele nennen. Interoperabilität: Wie kann und darf militärisch mit
Nicht-Vertragsstaaten gemeinsam agiert werden? Definition: Welche alternativen Waffen dürfen genutzt werden?
Rückwirkung von Räumverpflichtungen etc.
Um die Ratifizierung noch in dieser Legislaturperiode
sicherzustellen, hat die Bundesregierung in der Kabinettssitzung am 21. Januar 2009 einen entsprechenden Gesetzentwurf beschlossen. Nach positivem Votum des Bundesrates am 6. März 2009 liegt der Gesetzesentwurf nun
dem Bundestag vor. Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung. Sind wir damit schon am Ziel? Nein, leider noch
nicht. Wir müssen den Verhandlungsprozess in die Vereinten Nationen tragen. Es muss uns gelingen, gemeinsam
mit der großen Mehrheit der Vertragsstaaten des VN-Waffenübereinkommens, im VN-Rahmen für ein ambitioniertes Protokoll zu Streumunition zu kommen, das natürlich
nicht im Widerspruch zum Oslo-Übereinkommen über
Zu Protokoll gegebene Reden
Streumunition stehen darf und eine klare Verbotsregelung
enthalten muss. Es muss ein entsprechendes Protokoll als
ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem letztendlich
weltweiten Verbot von Streumunition gefunden werden.
Auf der Basis eines entsprechenden Mandates aus dem
Jahre 2007 fanden 2008 insgesamt sieben Verhandlungswochen zur dringlichen Frage der humanitären Auswirkungen von Streumunition statt. Da erhebliche Differenzen unter den Vertragsstaaten nicht ausgeräumt werden
konnten, wurde von den Mitgliedstaaten Ende 2008 beschlossen, die Bemühungen um ein Zusatzprotokoll zum
VN-Prozess zum Thema Streumunition 2009 fortzusetzen.
Die erste Verhandlungsrunde hat bereits im Februar
stattgefunden, allerdings ohne nennenswerte Fortschritte
in der Sache. Die Aussichten, die weiterhin bestehenden
Differenzen zu wesentlichen Elementen wie Definition
und Verbotsumfang im April 2009 auszuräumen und zu
einem für alle betreffenden Mitgliedstaaten akzeptablen
Ergebnis zu gelangen, werden als eher gering eingeschätzt. Eine substanzielle Regelung zu Streumunition im
VN-Prozess wäre jedoch insofern wichtig, als hier auch
die oben genannten Staaten mit großen Streumunitionsbeständen eingebunden sind, die in Dublin nicht teilgenommen haben. Diese stehen einem umfassenden Verbot nach
dem Modell von Dublin/Oslo leider weitgehend ablehnend gegenüber.
Wir müssen mit allen uns zur Verfügung stehenden
Mitteln bei allen Nicht-Teilnehmerstaaten des Oslo-Prozesses aktiv für die Universalisierung des Übereinkommens werben. Am 25. und 26. Juni 2009 wird in Berlin in
Kooperation mit Norwegen eine Fachkonferenz zu Art. 3
des Übereinkommens über Streumunition durchgeführt,
der die Zerstörung vorhandener Bestände festlegt. Zu
dieser Konferenz werden alle Besitzerstaaten von Streumunition, die das Übereinkommen gezeichnet haben, sowie weitere an dem Thema interessierte Zeichnerstaaten
eingeladen werden. Die Konferenz in Berlin wird das
wichtigste Zusammentreffen zum Thema Streubomben in
diesem Jahr sein und eine gute Möglichkeit bieten, den
Vertrag auf internationaler Ebene zu stärken. Ich hoffe,
dass sie dazu beiträgt, den Ratifizierungsprozess in den
Unterzeichnerstaaten zu beschleunigen. Ich möchte das
Auswärtige Amt auffordern, die Konferenz auch für Staaten zu öffnen, die die Konvention nicht unterzeichnet haben, jedoch Streumunition lagern. Insbesondere eine Einladung an die Vereinigten Staaten könnte dazu beitragen,
dass die Obama-Regierung dazu ermutigt würde, ihre
bisherige ablehnende Haltung zu ändern.
„2009 muss ein Jahr des Aufbruchs sein für die internationale Sicherheits- und Abrüstungspolitik.“ Diese
klare Richtungsvorgabe von Außenminister Frank-Walter
Steinmeier bei der Münchener Sicherheitskonferenz Anfang Februar bezieht sich nicht zuletzt auf die angestrebte
Inkraftsetzung und Universalisierung des Streumunitionsverbots.
Die deutsche Vorreiterrolle und insbesondere die geschickte und geduldige Verhandlungsführung des Auswärtigen Amtes haben maßgeblich dazu beigetragen,
dass sich im Mai 2008 rund hundert Staaten auf ein Verbot geeinigt haben, welches nicht nur den Einsatz, sondern auch die Entwicklung, Herstellung und Lagerung
sowie den Im- und Export von Streumunition aller Typen
umfasst. Das fortgesetzte intensive Werben des Ministers
- insbesondere gegenüber Staaten, die dem Verbot noch
nicht beigetreten sind - verdient die volle Unterstützung
dieses Hauses.
Internationale abrüstungspolitische Bemühungen waren seit Ende des Kalten Krieges nicht gerade erfolgsverwöhnt. Die im vergangenen Jahr erzielte Einigung auf ein
umfassendes Verbot von Streumunition stellt da einen
höchst erfreulichen und ermutigenden Wendepunkt dar.
Zu Beginn des Jahres 2009 ist nun - auch dank des Amtsantritts der neuen US-Administration - viel Rückenwind
für eine Wiederbelebung von Abrüstung und Rüstungskontrolle zu spüren. Diesen Rückenwind gilt es weiter zu
verstärken.
Das im vergangenen Jahr international ausgehandelte
Verbot von Streumunition sollte schnellstmöglich in Kraft
treten und Wirksamkeit entfalten. Das ist das Ziel des
heute hier von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs.
Der Bundesrat hat bereits Anfang März vorbehaltlos
„grünes Licht“ für den Gesetzentwurf signalisiert. Wir
Parlamentarierinnen und Parlamentarier sollten ihn nun
in den kommenden Wochen ebenfalls zügig beraten und
mit breitem Rückhalt versehen. Entscheidend ist dabei
gar nicht so sehr, dass wir damit das Streumunitionsverbot hierzulande gesetzlich verankern, sondern vielmehr
die internationale Signalwirkung, die von einer raschen
Ratifizierung Deutschlands ausgehen kann.
Das im Mai 2008 in Dublin von rund 100 Staaten getroffene Übereinkommen tritt erst in Kraft, wenn es mindestens 30 Staaten ratifiziert haben. Eine zügige deutsche
Ratifizierung im ersten Halbjahr 2009 hätte Vorbildcharakter und könnte so ganz wesentlich zu zweierlei beitragen: erstens dass das Streumunitionsverbot bis Ende des
Jahres international Gültigkeit erlangt und zweitens dass
weitere Staaten zu einem raschen Vertragsbeitritt ermutigt werden.
National ist das umfassende Streumunitionsverbot in
Deutschland ohnehin bereits seit vergangenem Mai wirksam. Noch vor Abschluss der internationalen Verhandlungen am 30. Mai wurden sämtliche Streumunitionsbestände der Bundeswehr per ministeriellen Erlass außer
Dienst gestellt.
Das Verbot von Streumunition wird zu Recht als bedeutender Meilenstein zur Weiterentwicklung humanitärer
Rüstungskontrolle gewürdigt. Denn damit wird eine
Waffe geächtet, deren Einsatz verheerende Auswirkungen
hat und der bis in die jüngste Vergangenheit ganz überwiegend Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Splitterbomben verursachen weit verstreut Blindgänger und fordern
so häufig auch lange nach Kriegsende noch zahlreiche
unschuldige Menschenleben.
Dass das Streumunitionsverbot von nahezu allen gewichtigen EU- und NATO-Staaten mitgetragen wird, sendet ein starkes Signal an diejenigen Länder aus, die noch
Zu Protokoll gegebene Reden
an einer Produktion und Verwendung von Streumunition
festhalten. Die erhoffte stigmatisierende Wirkung auf
Staaten, die auf Splitterbomben bislang nicht verzichten
wollen, zeigt derweil erste Früchte. So bedrückend der
neuerliche Kriegsausbruch im Gaza-Streifen rund um
den Jahreswechsel auch war, so lässt sich zumindest festhalten, dass Israel, anders als zwei Jahre zuvor im Libanon, wenigstens auf den Einsatz von Streumunition verzichtet hat.
Auch in den USA gibt es bezüglich einer Neupositionierung zur militärischen Notwendigkeit von Streumunition Bewegung. US-Präsident Obama hat vergangene
Woche ein Gesetz unterschrieben, das den Export von in
den USA produzierter Streumunition drastisch einschränkt und zudem die Vorrangigkeit humanitärer Erwägungen - also des Schutzes von Zivilisten - betont.
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sieht dadurch sogar einen grundlegenden Wandel in der US-Position zu Streumunition heraufziehen. Präsident Obama
sollte nun allerdings auch tatsächlich, so wie in seinem
Wahlkampf angekündigt, weitere Einschränkungen für
den Einsatz von Streumunition durch das US-Militär auf
den Weg bringen.
Der Erfolg des Streumunitionsverbots beruht - wie
auch das Ottawa-Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen - auf einem richtungsweisenden Verhandlungsansatz. Wenn gleichgesinnte Regierungen, Parlamente
und zivilgesellschaftliche Netzwerke in lange blockierten
Rüstungskontroll- und Abrüstungsfragen ihre Kräfte bündeln, dann können Sie eine Menge bewegen und öffentlichen Druck erzeugen.
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich
das beharrliche Engagement zivilgesellschaftlicher Organisationen würdigen, die sich auch weiterhin konstruktiv für eine Universalisierung des Streumunitionsverbots
einsetzen. So haben etwa die Cluster Munition Coalition
und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erst
kürzlich umfassendes Material für Parlamentarier in
denjenigen Ländern zusammengestellt, die dem Verbot
bislang noch nicht beigetreten sind, damit diese gegenüber ihren jeweiligen Regierungen mit Nachdruck für
eine Zeichnung eintreten können.
Erst gestern hat zudem im Hauptquartier der Vereinten
Nationen in New York eine Konferenz zur Ausweitung des
Streumunitionsverbots stattgefunden. Unter Anwesenheit
von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Vertretern aus
75 Staaten haben mit der Demokratischen Republik
Kongo sowie Laos zwei der am meisten von Streumunition betroffenen Länder das Verbot unterzeichnet bzw. im
Falle von Laos sogar bereits ratifiziert.
Das Auswärtige Amt plant für Ende Juni eine Konferenz, die sich an sämtliche Vertragsstaaten des Streumunitionsverbots richtet und bei der konkrete Umsetzungsschritte wie die Vernichtung vorhandener Bestände
beraten werden sollen. Es wäre dabei durchaus bedenkenswert, ob man zu dieser Konferenz nicht auch Nichtvertragsstaaten einlädt, die über signifikante Streumunitionsbestände verfügen. Vonseiten des Parlaments sollten
wir uns jedenfalls unbedingt darum bemühen, die deutsche Ratifikation im Vorfeld dieser Konferenz abzuschließen.
Im Bundestag haben wir die deutsche Verhandlungsführung zu Streumunition in den vergangenen Jahren
intensiv begleitet und mit geprägt. Die schnelle Ratifizierung des Streumunitionsverbots wurde bereits im Dezember mit einem ohne Gegenstimme verabschiedeten Koalitionsantrag auf den Weg gebracht.
Mit dem Antrag haben wir das Bundesverteidigungsministerium zudem dazu aufgefordert, die Fachausschüsse des Parlaments detaillierter über die Entwicklung und Erprobung von neuen Munitionstypen zu
unterrichten. Wir werden als Abgeordnete auch künftig in
der Pflicht stehen, dafür Sorge zu tragen, dass die mit
dem Streumunitionsverbot etablierten Kriterien eingehalten und nicht verwässert werden.
Die heutige Debatte behandelt ein Thema, das wir in
diesem Hause regelmäßig in den letzten drei Jahren teils
sehr kontrovers behandelt haben. Es geht um das Verbot
von Streumunition. Streumunition ist eine Waffe, die großflächige Zerstörungen verursacht und wegen ihrer hohen
Blindgängerquote auch nach dem Ende von Konflikten
eine langfristige Bedrohung der ansässigen Bevölkerung
darstellt. Vor allem spielende Kinder wurden in der Vergangenheit Opfer dieser heimtückischen Gefahr.
Seit längerem schon haben wir auf nationaler wie internationaler Ebene über ein Verbot dieser grausamen
Waffen debattiert. Umso mehr freut es mich, dass dieser
Diskussionsprozess Früchte trägt und wir uns nun mit der
konkreten Umsetzung des am 3. Dezember 2008 in Oslo
unterzeichneten „Übereinkommens über Streumunition“
befassen. Dieses verpflichtet Deutschland als Unterzeichnerstaat, seine gesamte Streumunition zu entsorgen.
Mit der heutigen Vorlage des Gesetzentwurfs wird ein
wichtiger Schritt zur Ratifizierung des Abkommens durch
Deutschland getan. Er schafft die Voraussetzung dafür,
dass die notwendigen Schritte zur Umsetzung eingeleitet
werden. Insbesondere wird ein Rahmen für die Finanzierung der Maßnahmen geschaffen. So sollen für die Vernichtung der deutschen Streumunition 40 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt werden. Diese Mittel werden im
regulären Haushaltsplan des Bundesministeriums der
Verteidigung eingestellt werden. Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages hat das Verteidigungsministerium gebeten, bis Ende Mai 2009 einen detaillierten Kosten-, Zeit- und Arbeitsplan zur Vernichtung
der deutschen Streumunition auszuarbeiten und dem Parlament vorzulegen. Dann werden wir genauere Einzelheiten zu den konkreten Arbeitsschritten erfahren. Ferner
sieht der jetzige Gesetzentwurf 500 000 Euro für den
Haushalt des Auswärtigen Amtes vor, um einen Beitrag
für die vorgesehenen Treffen der Vertragsstaaten zu leisten. Diese Kosten teilt Deutschland sich anteilsmäßig mit
den anderen Staaten gemäß dem angepassten Beitragsschlüssel der Vereinten Nationen. Es ist insgesamt erfreulich, dass die Bundesregierung ausreichend Mittel zur
Zu Protokoll gegebene Reden
Verfügung stellt, um diese wichtigen Aufgaben zu erfüllen.
Die FDP hat diesen nunmehr fast drei Jahre andauernden Prozess unterstützt und ist stets für ein umfassendes Verbot von Streumunition eingetreten. Von daher sind
wir erfreut, dass jetzt konkrete Schritte erkennbar werden. Trotz dieser positiven Entwicklung möchte ich jedoch auch einige kritische Worte zur Rolle der Bundesregierung in diesem Prozess anbringen.
In der Denkschrift zum Übereinkommen erweckt die
Bundesregierung den Eindruck, dass sie von Beginn an zu
den Vorreitern beim Verbot von Streumunition gezählt
habe. Dies ist nicht der Fall. Das möchte ich an dieser
Stelle klar unterstreichen. Die Bundesregierung sowie die
Fraktionen von CDU/CSU und SPD waren bis zur entscheidenden Verhandlung im Mai 2008 in Dublin der Auffassung, dass nur „für die Zivilbevölkerung gefährliche“
Streumunition mit einer Blindgängerrate von über einem
Prozent unter das Verbot fallen sollte. Die vermeintlich
zuverlässigere Streumunition mit einer Blindgängerrate
von unter einem Prozent sollte ausgenommen werden.
Auch wenn es erfreulich ist, dass die Bundesregierung
letztendlich von diesem Vorhaben abgerückt ist, wirkt es
unglaubwürdig, wenn sie sich in der Denkschrift als Vorreiter darstellt. Vielmehr sah sie sich gezwungen, dem
Druck anderer Regierungen sowie der Organisationen
der Bürgergesellschaft nachzugeben und ihren Widerstand gegen ein umfassendes Streumunitionsverbot aufzugeben. Vom 25. bis 26. Juni 2009 wird in Berlin eine
weitere Streumunitionskonferenz stattfinden. Es wäre
sehr zu begrüßen, wenn bis dahin die Ratifikation dieses
Abkommens durch Deutschland erfolgt wäre. Die FDP
wird sich für eine rasche Beratung und Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfs in den Ausschüssen des Deutschen
Bundestages einsetzen.
Da der vorliegende Gesetzentwurf auch die Aufwendung finanzieller Mittel vorsieht, ist nun die Bundesregierung am Zug, möglichst schnell einen Überblick über die
tatsächliche Verwendung dieser Gelder zu liefern. Dies
wird dem Parlament die Ratifikation des Übereinkommens zum Verbot von Streumunition erleichtern. Sobald
die Ratifikation vollzogen ist, muss die Bundesregierung
aktiv auf diejenigen Staaten zugehen, die dem Streumunitionsverbot noch nicht beigetreten sind. Dazu zählen
derzeit auch noch acht NATO- bzw. neun EU-Staaten.
Bundeskanzlerin Merkel und Bundesaußenminister
Steinmeier stehen hier in der Pflicht, politisches Kapital
zurückzuerlangen, welches in der Startphase des Verhandlungsprozesses leichtfertig von deutscher Seite verspielt wurde, als man Ausnahmen für vermeintlich ungefährliche Streumunition schaffen wollte. Die FDP wird
genau beobachten, welches Engagement die Bundesregierung an den Tag legen wird, wenn es darum geht, für
den Beitritt weiterer Staaten zum Streumunitionsverbot zu
werben.
Um es anderen Staaten zu erleichtern, dem Verbotsabkommen beizutreten, sollte die Bundesregierung darüber
hinaus prüfen, in welchem Rahmen sie abrüstungswilligen Staaten helfen kann, die mit dieser Aufgabe jedoch
technisch überfordert sind. Art. 6 des Verbotsvertrages
sieht dafür umfangreiche Möglichkeiten vor. Deutschland
hat bereits vergleichbare technische Unterstützung geleistet. Die fachgerechte Vernichtung großer Streumunitionsbestände aus militärischen Arsenalen stellt eine erhebliche technische Herausforderung dar. Deutschland
kann hier seine umfangreichen technischen Kenntnisse
bei der Entsorgung alter Munitionsbestände einbringen.
Dies würde die Glaubwürdigkeit der deutschen Abrüstungspolitik stärken und wäre ein konkreter Beitrag für
Frieden und Entwicklung in der Welt.
Streumunition ist eine der heimtückischsten Waffen,
die moderne Rüstungsingenieure je entwickelt haben.
Schon der Abschuss einer Salve Streumunition kann ein
ganzes Dorf unbewohnbar oder das Bestellen von Gemüsegärten und Feldern zur tödlichen Falle machen. Dass
die Streumunitionsblindgänger teilweise noch Jahrzehnte
nach einem Konflikt explodieren können, macht diese
Waffe zu einem ganz entscheidenden Hindernis für Wiederaufbau und Entwicklung nach Kriegen und Bürgerkriegen. Verstümmelte Menschen, Alte und Junge, Frauen
und Kinder sind der sichtbare und spürbare Preis, den
Menschen in den Einsatzgebieten von Streumunition für
diese Form der Kriegsführung bezahlen.
Deswegen ist es ein großer zivilisatorischer Fortschritt, wenn nun die Ächtung dieser Waffe einen rechtlich verbindlichen Charakter bekommt. Es ist ein Fortschritt, wenn am Sitz der Vereinten Nationen in New York
nun ein Staat nach dem anderen durch seine Unterschrift
die Konvention zum weltweiten Verbot von Streumunition
unterzeichnen kann.
Die Verabschiedung des „Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition“ ist die
Voraussetzung, dass auch die deutsche Regierung das
Verbot der Streumunition ratifizieren kann. Die Fraktion
Die Linke begrüßt diesen längst überfälligen Schritt ausdrücklich. Dass wir überhaupt über ein verbindliches
Verbot von Streumunition abstimmen können, ist das Verdienst zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteure, wie
etwa „Handicap International“ oder das „Aktionsbündnis Landmine“, die in unermüdlicher Arbeit auf die Problematik der Streumunition hingewiesen und den OsloProzess zum Verbot der Munition zum Laufen gebracht
haben.
Die Dynamik, die durch diese Diskussionen ausgelöst
wurde, kann niemand mehr rückgängig machen. Nun ist
auch in den USA, wo die Administration bis jetzt gegen
alle Einschränkungen bei Einsatz und Verkauf der tödlichen Waffensysteme opponiert hatte, ein Schwenk vollzogen worden. In einem Nachtragshaushalt, den US-Präsident Barack Obama in der letzten Woche unterzeichnete,
ist eine Regelung enthalten, die künftig den Export von
Streubomben aus den USA verbietet. Da die USA zu den
wichtigsten Exporteuren dieser Waffe gehören, ist dies
ein entscheidender Schritt. Es könnte deswegen nur eine
Frage der Zeit sein, bis sich die Einsicht durchsetzt, dass
Waffen, die zu grausam zum Exportieren sind, auch von
der eigenen Armee nicht eingesetzt werden sollten.
Zu Protokoll gegebene Reden
All diese Entwicklungen sind wichtige Schritte in die
richtige Richtung. Allerdings bleibt noch viel zu tun, bis
eine vollständige und globale Ächtung sämtlicher Formen von Streumunition durchgesetzt ist.
Die Regelungen der Streumunitionskonvention und
des hier debattierten Gesetzes enthalten noch zahlreiche
Lücken und Ausnahmeregelungen. Diese sind aus humanitären Erwägungen nicht akzeptabel. So wird Munition
vom Verbot ausgenommen, wenn sie weniger als zehn
explosive Submunitionen enthält, oder Munition, die mit
einem elektronischen Selbstzerstörungsmechanismus
ausgestattet ist. Dabei ist nicht gesichert, dass diese
Selbstzerstörung auch wirklich unter allen Bedingungen
zuverlässig funktioniert.
Dass die Ausnahmeregelungen ihren Weg in die Gesetzestexte gefunden haben, ist maßgeblich die Schuld der
deutschen Regierung. Die Bundesregierung hat in den
Verhandlungen über das Oslo-Abkommen die Interessen
der deutschen Rüstungsindustrie vertreten und mit massivem Druck solche Ausnahmeregelung durchgesetzt. Sogenannte Zielpunktmunition, deren Definition exakt auf
das Diehl-Produkt „Smart 155“ zutrifft, gilt nicht als
Streubombe. Der Bundesregierung geht es also explizit
um den Erhalt von Absatzmöglichkeiten für die deutsche
Rüstungsindustrie.
In Österreich fällt sogenannte Zielpunktmunition bereits seit 2007 unter das Streubombenverbot. In den
Verhandlungsdokumenten der Genfer UNO-Abrüstungskonferenz wurde Zielpunktmunition unter dem Titel „Ausnahmen für weiterhin erlaubte Streumunitionstypen“ geführt. Diese umstrittene Definition hat nun auch zu
juristischen Problemen für einen Journalisten geführt,
der nach dem Urteil eines Münchner Gerichtes nun die
Streumunition „Smart 155“ nicht mehr als „Streumunition“ bezeichnen darf. Internationale Militärexperten
zweifeln zwar, dass Smart wirklich alle Bedingungen der
Konvention erfüllt. Sie verweisen auf negative Erfahrungen mit vergleichbarer Munition im Irakkriegseinsatz, die
Blindgänger hinterließ. Trotzdem vertraute das Münchner Gericht den Herstellerangaben.
Die Linke erwartet von der Bundesregierung, dass sie
endlich die Interessen der Menschen und nicht diejenigen
der Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt ihrer Politik
stellt. Dazu ist es notwendig, nicht nur schnell zu ratifizieren, sondern auch die Vernichtung der Lagerbestände
in Angriff zu nehmen und die Beteiligung an Einsätzen,
bei denen auch Streumunition eingesetzt wird, definitiv
auszuschließen.
Die Linke wird ebenfalls sehr genau und kritisch verfolgen, welche Pläne für sogenannte alternative Flächenmunition entwickelt werden. Es darf nicht sein, dass die
eine grausame Waffe gegen andere grausame Systeme
ausgetauscht wird. Wir treten gegen Auslandseinsätze der
Bundeswehr ein und sehen deswegen keinerlei Bedarf für
Flächenmunition - welcher Art auch immer.
Wir haben nicht vergessen: Diese Bundesregierung
war in der Frage der Streumunitionspolitik mit ihrer Hal-
tung lange Zeit Bremser einer umfassenden und raschen
Ächtung. Umso erfreulicher ist es, dass man sich im Mai
vergangenen Jahres auf einen Kurswechsel eingelassen
hat und im Dezember zu den 94 Unterzeichnern des Oslo-
Abkommens gehörte. Die grüne Bundestagsfraktion be-
grüßt, dass die Bundesregierung dem Parlament nun bin-
nen vergleichsweise kurzer Zeit den Gesetzentwurf zur
Ratifizierung des Osloer Streumunitionsabkommens vor-
legt.
Wir möchten, dass das Abkommen so schnell wie mög-
lich in Kraft tritt. Obwohl es eine Reihe offener Fragen
gibt, auf die ich später eingehen werde, sind wir an einer
zügigen Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag in-
teressiert. Wir werden der Bundesregierung keine Steine
in den Weg legen, sondern konstruktiv mitwirken. Ich
denke, es wäre ein gutes Zeichen, wenn die Bundesregie-
rung, sozusagen beseelt vom Geist der Abrüstung, die Ur-
kunde zu Pfingsten hinterlegen könnte. Das macht sich
auch für den bevorstehenden Wahlkampf gut. Dann kann
man von abrüstungspolitischen Sündenfällen, ich nenne
hier nur den indischen Nukleardeal, die Nichtratifizie-
rung des AKSE-Vertrags und die verheerende Rüstungs-
exportpolitik, ein wenig ablenken.
Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was wir
in den vorangegangenen Debatten oder in unseren parla-
mentarischen Anfragen und Anträgen zum Thema zu Pro-
tokoll gegeben haben. Das kann man nachlesen. Lassen
Sie mich zunächst nur noch einmal betonen, wie wichtig
dieses Zeichen von Oslo auch über den Streumunitions-
bereich hinaus ist. Im Abrüstungsbereich ist die weitge-
hende Ächtung dieser besonders grausamen Waffe ein
Licht in der Finsternis. Das Oslo-Abkommen stärkt die
Hoffnung, dass auch hier ein Wandel möglich ist.
Dass die größten Streumunitionsstaaten, wie die USA,
Russland, China, Indien, Pakistan usw., nicht dabei sind
und damit nur etwa 10 Prozent der weltweiten Bestände
unter das Abkommen fallen, ist zweifellos ein Manko.
Aber wir sind zuversichtlich, dass sich künftig kein Staat
mehr erlauben kann, diese Waffen einzusetzen, ohne als
Schurkenstaat an den Pranger gestellt zu werden. Wir ha-
ben das schon im Georgienkrieg gesehen. Und wir wissen
aus der Landminenerfahrung, dass solche Abkommen
auch auf Nichtmitglieder eine hemmende Wirkung entfal-
ten. Die Ankündigung der US-Administration, künftig
eine restriktivere Exportpolitik im Bereich der Streumuni-
tion verfolgen zu wollen, ist sicherlich eine erste, wenn
auch nicht hinreichende Reaktion auf Oslo.
Der von Norwegen eingeleitete Prozess zeigt uns: Der
Ansatz, immer auf die USA oder andere zu warten, hilft
uns oft nicht weiter. Die USA und andere führende Ak-
teure mitzunehmen, ist zweifellos wichtig. Aber wir dür-
fen uns, gerade wenn es um Fragen humanitärer Rüs-
tungskontrolle geht, nicht ausbremsen oder elementare
Standards verwässern lassen. Der Ottawa- und Oslo-
Prozess zeigen, dass wir in bestimmten Bereichen mit ei-
nem Avantgarde-Ansatz wesentlich erfolgreicher sind.
Daraus müssen wir für die Zukunft - zum Beispiel im Be-
reich von Uranmunition oder Atomwaffen - Lehren zie-
hen. Und es wäre gut, wenn Deutschland mit zu den Vor-
reitern und nicht zu den Bremsern gehören würde.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Erinnerung sei nur gesagt: Wir Grüne haben uns
immer gegen die Augenwischerei von vermeintlich unge-
fährlicher Streumunition gewehrt und uns für eine rasche
Ächtung jeglicher Streumunition ausgesprochen. Was uns
hier die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
als ungefährliche Streumunition unterjubeln wollten, war
haarsträubend. Und wir waren es auch, die - übrigens als
einzige Fraktion im Bundestag - schon früh gefordert ha-
ben, nicht nur auf den mühsamen Weg über die VN-Waf-
fenkonvention zu setzen, sondern dem Ottawaer Modell
zu folgen. Ziel muss es sein, das Oslo-Übereinkommen zu
einem universell gültigen Abkommen mit größtmöglicher
Mitgliedschaft zu machen. Die Standards sind jedenfalls
gesetzt. Ein neues VN-Waffenprotokoll zu Streumunition
kann und darf nicht hinter den Osloer Konsens zurückfal-
len.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einigen kriti-
schen Punkten Stellung nehmen und unsere Erwartungen
darlegen.
Sie wissen, dass wir uns bei der Definition, ab wann
man von Streumunition sprechen kann, für eine möglichst
umfassende Lösung eingesetzt haben. Die Bundesregie-
rung hat mit Erfolg durchgesetzt, dass wir jetzt eine wei-
chere Definition haben, die die sogenannte Punktzielmu-
nition wie die von Diehl und Rheinmetall hergestellte
SMArt-Munition erlaubt. Die Bundesregierung ist nun in
der Pflicht, zweifelsfrei nachzuweisen, dass diese Muni-
tion auch unter ungünstigsten Bedingungen nicht den-
noch wie Streumunition wirkt und das Leben von Zivilis-
ten bedroht. Im Übrigen, das sei hier erlaubt, habe ich
kein Verständnis dafür, dass ein Rüstungsunternehmen,
das in nicht unerheblichem Umfang Mittel aus dem Bun-
deshaushalt erhält, einen Journalisten vor Gericht zerrt,
nur weil er eine Meinung vertritt, die dem Unternehmen
nicht passt.
Obwohl 18 der 26 NATO-Staaten und 19 der 27 EU-
Staaten die Konvention unterzeichnet haben, hat sich die
Bundesregierung für eine Ausnahmeklausel für Bündnis-
partner eingesetzt. Wir haben große Bedenken, dass der
„Artikel 21“ dazu führt, dass andere Staaten Streumuni-
tion einsetzen und wir nichts dagegen unternehmen oder
uns gar unterstützend beteiligen. Wir begrüßen, dass sich
die Bundesregierung in der Denkschrift dafür einsetzt,
dass die Bündnispartner auf den Einsatz von Streumuni-
tion verzichten und dem Abkommen beitreten. Allerdings
untergräbt die gleichzeitige Ankündigung, dass man im
Rahmen der Befehlsstruktur Befehle zum Streumuni-
tionseinsatz ohne Vertragsverstoß weitergeben könne,
diese Zusicherung. Dies erschwert uns die Zustimmung
zu dem Gesetzentwurf. Der Deutsche Bundestag und die
Bundesregierung sollten unmissverständlich klarstellen:
Es ist nach dem Oslo-Abkommen kein Zeichen von Bünd-
nisfähigkeit, wenn Bündnispartner weiterhin diese beson-
ders verheerend wirkenden Streuwaffen einsetzen und wir
wegschauen oder gar die Einsatzbefehle weitergeben.
Die Bundesregierung muss in der NATO und in der EU
darauf hinwirken, dass Streumunition nicht mehr zum zu-
lässigen Waffenarsenal auch im Rahmen von bündnisge-
meinsamen Operationen gehört.
Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung im
Dezember unter anderem aufgefordert, das Oslo-Abkom-
men in Deutschland binnen vier Jahren umzusetzen. Wir
erwarten, dass die Bundesregierung die in Deutschland
vorhandenen Streumunitionsbestände offenlegt, zügig
vernichtet und auch anderen Staaten bei der Vernichtung
ihrer Bestände und Opferfürsorge behilflich ist. Deutsche
dürfen sich nicht mehr an der Entwicklung, Herstellung,
Lagerung, dem Erwerb und dem Einsatz dieser Waffen
beteiligen. Das heißt für uns: auch keine Zulieferung von
streumunitionsrelevanten Komponenten. Wir erwarten,
dass es auch hinsichtlich der Investmentpolitik klare
Richtlinien gibt, sich nicht mehr an Projekten zu beteili-
gen, die die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und den
Einsatz von Streumunition unterstützen.
Lassen Sie mich zum Schluss all jenen danken, die
dazu beigetragen haben, dass es zu diesem Abkommen
und zum Kurswechsel innerhalb der Bundesregierung ge-
kommen ist. Unser Dank geht dabei ausdrücklich auch an
Nichtregierungsorganisationen wie landmine.de und
Handicap International, die sich beharrlich für dieses
wichtige Thema eingesetzt und im besten Sinne Lobbyar-
beit betrieben haben. Lassen Sie uns weiterhin gemein-
sam und entschieden für die rasche und weltweite Umset-
zung dieses Abkommens werben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/12226 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung der abfallrechtlichen Produktverant-
wortung für Batterien und Akkumulatoren
- Drucksachen 16/12227, 16/12301 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen
- Drucksache 16/11917 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten
nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden
der Kolleginnen und Kollegen Michael Brand, CDU/
CSU, Gerd Bollmann, SPD, Horst Meierhofer, FDP, Eva
Bulling-Schröter, Die Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Mit der Umsetzung der Richtlinie der EU aus dem
Jahre 2006 durch die Neuregelung des Gesetzes zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für
Batterien und Akkumulatoren wird ein weiterer und ein
wichtiger Schritt beim umweltschonende Umgang mit
den für den Verbraucheralltag wie für die Industrie dynamisch an Bedeutung zunehmenden Einsatz von mobiler
Versorgung mit elektrischer Energie durch Batterien und
Akkus getan.
Dass wir angesichts aktueller umweltrelevanter Debatten um Umweltprämien, Energiesparleuchten und
Biokraftstoffe auch die kleinen und großen „Helferlein“
im privaten und wirtschaftlichen Alltag mit besonderer
Sorgfalt im Blick auf deren Lebensende - oder neudeutsch „end of cycle“ - betrachten, gehört zu den
Grundvoraussetzungen einer von der CDU/CSU verfochtenen Linie, die eine Fortentwicklung der auf Ressourcenschonung und ökologische Sensibilität ausgerichteten
sozialen Marktwirtschaft verfolgt.
Dazu zählt auch die weitere Reduzierung der Schadstoffgehalte in den Produkten, hier Cadmium, sowie die
Kennzeichnungspflicht, die für die Käufer eine klare Angabe zu Schadstoffgehalt und Kapazität beinhaltet.
Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden wir in
diesem Zusammenhang ebenso im Ausschuss beraten.
Wie nicht selten sind in diesen Anträgen prinzipiell richtige mit operativ falschen Ansätzen und Zielen vermischt
worden. Doch dazu wird man sich im Ausschuss und bei
den Schlussberatungen näher austauschen können.
Da beim Stand der Technik bei der Produktion von
Batterien und Akkus wertvolle, knappe sowie sehr umweltschädliche Ressourcen verbraucht werden, sollen mit
der Umsetzung der EU-weit gültigen Richtlinie Abfallstoffe besser als bislang erfasst werden, um Ressourcen
durch Rohstoffrückgewinnung zu schonen und hohe Umweltbelastungen deutlich zu reduzieren. So werden durch
die vorgesehene Steigerung der Sammelquote bereits bis
2012 auf mindestens 35 Prozent sowie bis 2016 auf dann
45 Prozent weitere, zusätzliche regulatorische Anreize
zur Sammlung und Wiederverwertung gegeben und eine
die Umwelt belastende Entsorgung von Altbatterien weiter eingeschränkt.
Dass wir in Deutschland dabei auf ein seit 10 Jahren
erprobtes System der GRS aufsetzen können, in dem private Wirtschaft und kommunale Entsorgungsträger eine
insgesamt gut funktionierende, wenn auch verbesserungsfähige Erfassungs- und Sammelstruktur für Altbatterien installiert und im Dauerbetrieb umgesetzt haben,
kann in diesem Zusammenhang positiv verbucht werden.
Wenn in der Umsetzung des Gesetzes nun Fragen seitens der Produzenten aufgeworfen werden und von dieser
Seite eine Beibehaltung der von den Kommunen bzw. den
öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern heute erbrachten Leistungen im Zusammenhang mit der Sammlung von Altbatterien verlangt wird, ist dies eine interessante ordnungspolitische Einlassung, der wir in den
Ausschussberatungen im Detail noch werden nachgehen
müssen.
Es ist aus Sicht der CDU/CSU zweifelsfrei so, dass die
Leistungen der Kommunen bei der Erfassung und Sammlung von Altbatterien wie auch der von Elektroaltgeräten
einen willkommenen, weil stabilisierenden Beitrag zum
Umweltschutz wie zum Recycling und zur Ressourcenschonung in diesen Bereichen darstellen. Insofern ist die
Haltung der beteiligten Wirtschaft, sich lieber mit den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern als mit dem
Handel auseinandersetzen zu wollen, sehr nachvollziehbar.
Dennoch wird zu prüfen sein, inwiefern Teile der systemisch bei den Herstellern zu verortenden Produktverantwortung von diesen auf Dauer auf die öffentliche
Hand und somit auf die Allgemeinheit der Beitragszahler
von kommunalen Entsorgungsgebühren übergewälzt
werden sollen. Insofern ist sicher der Punkt einer verpflichtenden Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger an der Erfassung bzw. Sammlung trotz
oder gerade wegen der anerkannten Erfolge der öffentlich-rechtlicher Entsorgungsträger genau zu prüfen. Es
ist für die CDU/CSU nicht ausgemacht, dass die öffentliche Hand hier Aufwand und Kosten tragen soll, die angesichts der zu erwartenden weiteren Dynamik beim Einsatz
von Batterien und Akkus eher steigen als sinken dürften.
In den Beratungen der kommenden Wochen werden
wir hier Fragen zu beantworten und zu entscheiden haben, die nicht mit dem Hinweis auf geringe Kostenanteile
der Kommunen abgetan sein dürften. Wir erwarten die
Darstellung der unterschiedlichen Positionen und der
damit zusammenhängenden Erläuterungen zu den jeweiligen Kosten mit großem Interesse.
Allerdings, und auch das wird in den Beratungen eine
Rolle spielen, werden wir als CDU/CSU nicht tatenlos
einem Konzentrationsprozess durch eine zu enge Auslegung der Produktverantwortung folgen können. Wir wollen Innovation in Logistik und Recycling durch wettbewerbsoffene Strukturen. Insofern ist beispielsweise die
unternehmensinterne und Wettbewerb ausgrenzende Ausgabe und Rücknahme von Batterien zum Beispiel im KfzBereich nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir
wollen einen differenzierten, qualitativ wettbewerbsfähigen und ökologisch verantwortbaren Mix an Lösungen
und Marktbeteiligten. Dies scheint nicht immer im Interesse aller zu liegen, weswegen hier besonderes Augenmerk erforderlich erscheint.
Wir übersehen dabei nicht, dass es im Rahmen von Internationalisierung und Globalisierung nicht nur Kostensenkungen für die Produkte, sondern eben auch Wettbewerbsverzerrungen zulasten qualitativer Produkte
entstehen können. Wir wollen dezidiert nicht einer Überschwemmung des Marktes mit leistungsschwachen, unter
zweifelhaften oder gar völlig indiskutablen Produktionsbedingungen und ökologisch katastrophalen Bedingungen hergestellten Batterien oder Akkus untätig zusehen.
Dies wäre gegen die Interessen der Verbraucher, und es
wäre eine ökologische Sünde, der wir durch sinnvolle und
angemessene Regulierung einen Riegel vorschieben können.
Dass der Bundesrat Änderungen am vorgelegten Gesetzentwurf wünscht und die Bundesregierung ihrerseits
Zu Protokoll gegebene Reden
gestern eine Gegenäußerung beschlossen hat, zeigt ebenfalls einen klaren Beratungsbedarf auf. Insofern bleiben
die beteiligten Ressorts auf Bundesebene wie die Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern aufgefordert, den
zuständigen Ausschüssen ihre Positionen und die entsprechenden Argumente vorzutragen.
Die Situation nach der gestrigen Gegenäußerung der
Bundesregierung ist Anlass zu weiteren Abstimmungsgesprächen, die wir als CDU/CSU wachsam und konstruktiv begleiten. Wir werden dabei sicherlich so zügig vorangehen, dass wir das Ziel des Inkrafttretens des neuen
Gesetzes in diesem Jahr in jedem Falle erreichen werden.
Den beteiligten Kreisen sei von dieser Stelle aus empfohlen, nicht nur den Dialog mit der Exekutive in Bund
und Ländern zu pflegen. Sich mit guten Argumenten und
natürlich auch kritischen Anmerkungen an das Parlament zu wenden, ist der Sache sicher selten abträglich.
Die CDU/CSU für ihren Teil hat sich Rat von fachkundigen Beobachtern eingeholt, tut dies weiter und lädt herzlich dazu ein, auch in diesem Thema von weitreichender
praktischer Konsequenz vertrauensvoll und offen den
Dialog zu suchen.
Am Ende sollte unserer Auffassung nach eine Regelung stehen, die - wie gute Batterien oder besser noch:
gute, wiederverwertbare Akkus - eine lange Reichweite
im operativen Dauerbetrieb ermöglicht.
Die CDU/CSU begibt sich sozusagen frisch aufgeladen in die kommenden Beratungen, um mit der nötigen
Energie und hoher Ausdauer zu beraten. Die Kapazität
dafür haben wir sicherlich, und wir laden zum fachlichen
Dialog ein.
Mit dem heute eingebrachten Batteriegesetz wollen
wir die umweltverträgliche Entsorgung von gebrauchten
Batterien und Akkumulatoren neu regeln. Damit setzen
wir die entsprechenden europäischen Richtlinien vom
6. September um.
Nach Angaben der Bundesregierung wurden 2006
rund 1,5 Milliarden Gerätebatterien in Verkehr gebracht,
dabei lag der Anteil an wiederaufladbaren Batterien bei
ungefähr 10 Prozent. Zukünftig wird die Zahl neuer Batterien durch den steigenden Einsatz elektrischer und elektronischer Geräte stark ansteigen. Auch neue, von uns gewollte Anwendungsgebiete, wie die Energiespeicherung
und Hybridfahrzeuge, wirken sich, vor allem im Bereich
der Industriebatterien, verbrauchssteigernd aus.
Dabei dürfte es jedem klar sein, dass gebrauchte Batterien nicht so einfach in die Hausmülltonne geworfen
werden können. Altbatterien müssen vollständig und getrennt von anderem Müll gesammelt, abgeholt und umweltverträglich behandelt oder recycelt werden. In Deutschland haben wir bereits durch die Batterieverordnung,
aber auch durch freiwillige Teilnahme von Kommunen,
ein gut funktionierendes Rücknahmesystem. Ebenso sind
infolge der technischen Innovation heutige Batterien
weitgehend frei von Blei, Cadmium und Quecksilber.
Bundesweit gibt es über 170 000 Sammelstellen. Insgesamt rund 400 000 Behälter stehen in Supermärkten,
Universitäten, Unternehmen, öffentlichen Gebäuden und
auf Recyclinghöfen zur Verfügung. Aber auch im Bereich
der Batterieentsorgung sind Verbesserungen möglich.
Mit dem vorliegenden Entwurf des „Gesetzes zur Neuregelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für
Batterien und Akkumulatoren“ setzen wir nicht nur die
Batterierichtlinie um, sondern wir verbessern Gesundheitsschutz, Sammlung und stoffliche Verwertung sowie
die ordnungsgemäße Entsorgung alter Batterien. Dabei
werden funktionierende Rücknahme- und Entsorgungsstrukturen beibehalten. Unser Ziel ist es, das bereits bestehende System zu schützen und weiter zu verbessern.
Für den Bürger bleibt alles beim Alten.
Der vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf ist
meiner Meinung nach sehr gut. Insbesondere die weitere Einschränkung für den Einsatz gefährlicher Stoffe
wie Cadmium und Quecksilber in Batterien ist sehr begrüßenswert. Sie dient sowohl dem Gesundheits- als auch
dem Umweltschutz. Positiv ist ebenfalls, dass erstmals
verbindliche Sammelziele für Altbatterien - 35 Prozent
bis 2012 und bis 2016 45 Prozent - festgelegt werden.
Verantwortlich für die Rücknahme und Verwertung
sind die Hersteller. Die SPD begrüßt, dass mit diesem Gesetz Hersteller und Vertreiber eindeutig verpflichtet werden, Altbatterien zurücknehmen und umweltverträglich
zu entsorgen. Die Vertreiber müssen für die Bürger deutlich sichtbar Sammelstellen in ihren Verkaufsstellen einrichten. Die Hersteller müssen dann die Altbatterien abholen und weitgehend stofflich verwerten. Diese Aufgabe
können die Hersteller über das bereits bestehende gemeinsame Rücknahmesystem der Industrie oder über herstellerindividuelle Rücknahmesysteme, quasi Selbstentsorger, bewerkstelligen. Mit dieser Regelung wird für
diesen speziellen Abfallbereich die ungeteilte Produktverantwortung von Herstellern und Vertreibern durchgesetzt. Eine Abwälzung der Verantwortung und Kosten auf
Kommunen und Bürger wird verhindert. Damit ist ein sozialdemokratisches Ziel in der Abfallpolitik zumindest
teilweise erreicht worden.
Dies bedeutet aber nicht, dass die den Bürgern bekannten, von vielen Kommunen eingerichteten Rückgabemöglichkeiten nun verboten sind. Die Kommunen können
freiwillig ihre bewährten Sammelsysteme beibehalten.
Ich appelliere an die Kommunen, dies auch zu tun. Viele
Bürger haben sich daran gewöhnt. Es ist ein Akt der Bürgerfreundlichkeit und des freiwilligen Umweltschutzes,
der jeder Stadt gut zu Gesicht steht. Ein solches freiwilliges Engagement von Kommunen dürfen Hersteller und
Vertreiber jedoch nicht zum Vorwand nehmen, ihre Aufgaben zu vernachlässigen. Forderungen aus der Wirtschaft, die Kommunen zum Sammeln zu verpflichten, lehnen wir ab.
Die Einhaltung gesetzlicher Auflagen, Gebote und
Verbote muss aber auch bezüglich der Durchführung kontrolliert werden. Dazu wird ein zentrales Melderegister
für die Batteriehersteller beim Umweltbundesamt eingerichtet. Zugleich wird dem Umweltbundesamt die Verfolgung bestimmter Bußgeldbestände bei Verstößen gegen
die Meldepflicht und bestimmte Grundpflichten der abfallrechtlichen Produktverantwortung übertragen. Eine
Zu Protokoll gegebene Reden
zentrale, länderübergreifende Verfolgung von Trittbrettfahrern wird so sichergestellt. Auch die betroffenen Wirtschaftskreise haben sich dafür eingesetzt. Diese Regelung
ist notwendig. Denken Sie daran, welche Probleme die
Trittbrettfahrer im Bereich der Verpackungsverordnung
bewirkt haben.
Nun hat der Bundesrat unter anderem folgende Änderung beschlossen: Die herstellerindividuellen Rücknahmesysteme, also Selbstentsorger, sollen nicht genehmigt,
sondern nur angezeigt werden. Eine eigenständige Bußgeldnorm soll es nicht geben, also keine Bußgelder gegen
Verstöße. Ich kann nachvollziehen, dass die Bundesländer Verwaltungsaufwand und Bürokratie gering halten
wollen. Das darf aber nicht dazu führen, dass der Vollzug
gar nicht kontrolliert und Verstöße nicht geahndet werden. Man stellt ja auch kein Verkehrsschild mit Tempobegrenzung auf und schreibt gleichzeitig daneben: Verstöße
werden nicht bestraft. Gerade auch vor dem Hintergrund
der Erfahrungen mit der Verpackungsverordnung ist ein
wirksames ordnungsrechtliches Instrument zur Erreichung unserer abfallpolitischen Ziele notwendig. Ich
habe hier bereits mehrfach erwähnt: Bürokratieabbau
darf nicht missverstanden werden. Bürokratieabbau ist
kein Aussetzen der Vollzugskontrolle. Wir erleben es bei
den Skandalen um illegale Abfallentsorgung in Ton- und
Kiesgruben. In manchen Bereichen findet eine fatale Entwicklung statt. Lassen Sie es mich ganz drastisch sagen:
Ohne Kontrollen beim Verzug brauchen wir uns nicht der
Mühe einer Gesetzgebung zu unterwerfen. Ohne Überprüfung auf Einhaltung ist ein Gesetz nur Schein. Gesetzestreue Bürger und Firmen sind die Benachteiligten, in
unserem Fall auch die Umwelt. Ich appelliere daher an
die Vollzugsbehören und an die Länder, Bürokratieabbau
nicht mit Personalabbau und völligem Verzicht auf Kontrollen zu verwechseln. In dem konkreten Fall stimme ich
der Bundesregierung zu, die in ihrer Gegenäußerung zur
Stellungnahme des Bundesrates diesen Änderungswunsch ablehnt.
Insgesamt bin ich der Meinung, dass der Gesetzentwurf der Weiterentwicklung der Kreislaufwirtschaft dient
und mit unseren abfallpolitischen Zielen übereinstimmt.
Die Sammlung und das Recycling von Altbatterien
sind bei uns in Deutschland bereits heute eine Erfolgsgeschichte. Die Sammelquote alter Batterien liegt mit
mehr als 41 Prozent schon heute höher, als die EU fordert, und auch der Schadstoffgehalt der Batterien wurde
in den letzten Jahren drastisch reduziert. Hinzu kommt:
Die gewerbliche Wirtschaft verfügt seit langem über gefestigte und leistungsfähige Strukturen zur Rücknahme
alter Batterien. Kurz: Eigentlich gibt es bei uns keinen
Änderungsbedarf. Doch, wie so oft in der Umweltpolitik,
geht es auch bei dem Entwurf für das Batteriegesetz, den
wir heute diskutieren, um die Umsetzung Brüssler Vorgaben, und die sind aus europäischer Perspektive durchaus
zu begrüßen. Schließlich gibt es in einigen Mitgliedstaaten in puncto vernünftiger und umweltgerechter Entsorgung von Altbatterien noch einiges zu tun.
Unsere Kritik richtet sich deshalb auch weniger gegen
das Umsetzungsgesetz als solches. Im Gegenteil: Wir begrüßen vor allem, dass das Bundeskabinett, was die
Übertragung der Herstellerpflichten auf den Handel anbelangt, noch einmal nachjustiert hat. Der ursprüngliche
Vorschlag des BMU, dem Handel immer dann die Pflichten der Hersteller zu übertragen, wenn diese ihre Marktteilnahme nicht ordnungsgemäß anzeigen, wäre nicht nur
über die Vorgaben des Europarechts, sondern auch weit
über das politisch Vertretbare hinausgeschossen. Die jetzige Einschränkung auf vorsätzliches und fahrlässiges
Handeln seitens der Händler ist unserer Ansicht nach
weitaus sachgerechter.
Auch begrüßen wir die Idee nach einer aussagekräftigen, eindeutigen und verständlichen Kennzeichnung von
Batterien - so wie die FDP das ja generell für die Produktkennzeichnung fordert. Schließlich spielt für uns
Liberale auch die souveräne Entscheidung der Konsumenten eine wichtige Rolle. Wir sind der Meinung, ökologische Produktverantwortung darf nicht nur einseitig
als Produzentenverantwortung verstanden und mit dem
Erlass möglichst strenger Vorschriften für bestimmte
Produkte gleichgesetzt werden, wie dies zum Beispiel bei
den Glühbirnen unlängst der Fall war, sondern muss
auch den mündigen Verbraucher mit einbeziehen.
Doch gerade vor diesem Hintergrund hätten wir uns
die Kennzeichnung, wie sie in der Richtlinie und demzufolge eben auch im nationalen Umsetzungsgesetz vorgesehen sind, schon etwas transparenter gewünscht. Das
bisher bestehende Kennzeichen der durchgestrichenen
Mülltonne zukünftig um die chemischen Symbole „Hg“
bei mehr als 0,0005 Prozent Quecksilber, „Cd“ bei mehr
als 0,002 Prozent Cadmium und „Pb“ bei mehr als
0,004 Prozent Blei zu ergänzen, ist für uns alles andere
als verständlich. Im Gegenteil: Es geht an der Lebenswirklichkeit der Menschen und an ihren konsumrelevanten Entscheidungen vorbei. Doch auch hier sind die Würfel in Brüssel leider bereits gefallen, und die nationale
Ebene muss umsetzen.
Zum Antrag der Grünen: Wir Liberale halten es für
falsch, für Batterien noch strengere Regulierungen oder
gar eine Pfandpflicht einzuführen, wie Frau Kotting-Uhl
fordert. Angesichts der geringen Preise herkömmlicher
Haushaltsbatterien würde dies lediglich dem Handel eine
ähnlich hübsche Zusatzeinnahme bescheren, wie wir dies
schon vom Zwangspfand im Getränkebereich kennen,
ohne dass das ökologisch etwas bringt.
Wenn die Bundesregierung bei der Vorlage ihres Entwurfs eines Batteriegesetzes ({0}) betont, dieser
Rechtsakt sei nur eine 1:1-Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie, so verzichtet sie in diesem Bereich der
Abfall- und Produktpolitik auf eine Vorreiterrolle in der
EU. Mehr noch: In zentralen Details ist der Entwurf
sogar ein Rückschritt. Denn wie kann es sein, dass für
Geräte-Altbatterien lediglich Rücknahmequoten von
35 Prozent bis zum Jahr 2012 gefordert werden, wo doch
in der Praxis schon 2007 rund 40 Prozent erreicht wurden? Hier sind mindestens 70 Prozent gefordert. Die
Zu Protokoll gegebene Reden
Sammelquoten könnten noch weiter erhöht werden, indem die Pfandpflicht von Starterbatterien auf alle Batterien ausgedehnt würde - auch hier Fehlanzeige im Gesetzentwurf.
Hohe Sammel- und Verwertungsquoten sind unter anderem deshalb wichtig, weil durch die Zunahme mobiler
Endgeräte der Bedarf an ökologisch problematischen
Einwegbatterien und Akkumulatoren rasant angestiegen
ist - und wohl noch weiter steigen wird. Gefordert sind
parallel energische Schritte, um den Einsatz von Einwegbatterien zugunsten von langlebigen wieder aufladbaren
Akkumulatoren zu begrenzen. Schließlich vermindern
zwei bis drei Prozent mehr Akkus in den entsprechenden
Anwendungen circa 20 Prozent Einwegbatterien. Doch
von solchen Regelungen ist im künftigen Gesetz nichts zu
lesen.
Zu einer verantwortungsvollen Abfall- und Produktpolitik gehört zudem, den Einsatz hochgiftiger Stoffe in Batterien und Akkus zu reduzieren und einen hohen Anteil
stofflicher Verwertung anzustreben. Auch hier hat die
Bundesregierung gepatzt: Ausnahmebestimmungen, etwa
bei Knopfzellen oder schnurlosen Elektrowerkzeugen,
durchlöchern das weitgehende Verbot des Einsatzes von
Quecksilber bzw. Cadmium. Diese Ausnahmen sind nicht
zu verstehen, denn es gibt bereits Alternativen für den
Einsatz der gefährlichen und umweltbelastenden Stoffe.
Bei der Verwertung fordert die Linke anspruchsvolle
Quoten für die stoffliche Verwertung sowie - angesichts
der hohen Schadstoffbelastung - die „bestverfügbare
Technik“ als Standard bei den Verwertungsverfahren anstelle des vorgesehenen „Standes der Technik“.
Kritisch zu sehen ist schließlich auch die Behandlung
von Produkten mit fest eingebauten Altbatterien im Gesetz. Zwar ist nachvollziehbar, dass sich der Rücknahmeweg für Altbatterien für entsprechende Elektrogeräte
nicht eignet. Allerdings wirkt die Freistellung von der
Rücknahmeverpflichtung für eingebaute Batterien nach
§ 9 des Gesetzentwurfes wie eine Belohnung dafür, Akkus
unsinnigerweise fest in Gehäuse zu integrieren. Sinnvollerweise müsste also hier ein grundsätzliches Verbot des
festen Einbaus - etwa über eine Stichtagsregelung - die
vorgesehene Lösung flankieren.
In diesem Sinne unterstützen wir im Grundsatz den Antrag der Grünen. Über Details wird noch im Ausschuss zu
reden sein.
Die Umweltdebatte ist seit Jahren von der Energiediskussion gekennzeichnet. Einige Verbesserungen bei der
Energieeffizienz wurden auch erreicht. Aber ein Feld bereitet immer noch erhebliche Sorgen: die Energiespeicherung. Sie ist nur mit einem hohen Aufwand bei einer geringen Effizienz möglich. Das ist ja gerade auch das
wesentliche Hindernis bei den erneuerbaren Energien
und der Elektromobilität. Klassische Batterien und ihre
wiederaufladbare Spielart, die Akkumulatoren, funktionieren auf der Basis der Elektrolyse und brauchen dazu
eine Vielzahl von metallischen Stoffen. Von diesen Einsatzstoffen sind die meisten toxikologisch gefährlich, also
giftig oder zumindest als sehr bedenklich eingestuft.
Die zum Speichern notwendige Masse macht ebenfalls
Probleme. Beispiel Elektrofahrzeuge: Die Batterien alleine sind oft schwerer als das Gesamtfahrzeug ohne
Akku. Auch das mobile „Immer-und-Überall-ErreichbarSein“ braucht tragbare Energiespeicher. Seit dem Siegeszug der Informations- und Kommunikationstechnologien
sind daher immer mehr kleine Batterien im Einsatz. In der
Folge gab es einen Sinneswandel bei der ökologischen
Folgeabschätzung. Galten Batterien in den 1980er-Jahren noch als harmlos, erklärte das Umweltbundesamt
Ende der 1990er-Jahre die Batterien als d i e bedeutsame Quelle für den Schwermetalleintrag in den Hausmüll. Gerade Akkus weisen einen hohen Anteil von Nickel
und Cadmium auf. Neben einer Reduzierung des Quecksilbergehaltes in Zink/Kohle- und Alkali/Mangan-Batterien zielte deshalb zunächst eine Selbstverpflichtung der
Batteriehersteller und - als das nichts half - 2001 die
Batterieverordnung auf die Getrenntsammlung von Batterien ab. Die Rücknahmepflicht haben die Hersteller in
Eigenverantwortung über eine Stiftung geregelt - das Gemeinsame Rücknahmesystem Batterien ({0}). Sie funk-
tioniert ähnlich wie die sogenannte EAR, die Stiftung für
das „Elektro-Altgeräte Register“, die durch das Elektro-
nikgerätegesetz 2005 nötig wurde. Diese industrielle Stif-
tungskonstruktion ist übrigens deutlich fähiger als das
komplizierte System bei der Verpackungsrücknahme.
Nun liegt der Entwurf eines Gesetzes mit dem viel ver-
sprechenden Titel „Zur Neuregelung der abfallrechtli-
chen Produktverantwortung für Batterien und Akkumula-
toren“ vor. Dieser Entwurf wird seinem Titel jedoch in
keiner Art und Weise gerecht. Im Klartext: Er ist eine
Farce. Schon das Ziel ist viel zu eng gefasst: Es beinhaltet
keinen Vorschlag zur Umweltentlastung. Noch in der EU-
Richtlinie zu Batterien - 91/157/EWG - heißt es: „Die
Umweltbelastungen durch Batterien und Akkumulatoren
sind auf ein Mindestmaß zu beschränken, um so zu
Schutz, Erhaltung und Erhöhung der Qualität der Um-
welt beizutragen.“ Demzufolge müsste das zu schaffende
Gesetz den Rahmen für eine Reduktion von Umweltbelas-
tungen stecken und damit Forderungen zur Energieeffi-
zienz und zur Nutzungsintensität und -dauer beinhalten.
Es ist völlig klar, dass das bloße Bekenntnis zum Sammeln
und Verwerten von Altbatterien nicht reicht! Geradezu
absurd ist es, wenn die geforderte Sammelquote unter-
halb des Status quo liegt. Es wirkt lächerlich, wenn in
dem Gesetzentwurf gefordert wird, bis zum Jahr 2012
eine Sammelquote von 35 Prozent zu erreichen. Nach An-
gaben der GRS, dem Gemeinsamen Rücknahmesystem,
wurden bereits 2007 über 40 Prozent der Altbatterien ge-
sammelt und einer Verwertung zugeführt. Wozu brauchen
wir ein Gesetz, das weniger fordert, als heute - bei aller
Unvollständigkeit der Erfassung - bereits erreicht wird?
Nicht viel anders sieht es bei der Schwermetallbegren-
zung aus. Es macht keinen Sinn, Knopfzellen vom Verbot
des Einsatzes von Quecksilber auszunehmen, weil gerade
sie einen hohen Quecksilberanteil aufweisen. Die Aus-
nahmeregelung vom Verbot des Cadmiumeinsatzes für
schnurlose Elektrowerkzeuge ist ebenfalls kontraproduk-
tiv, sind diese „Power Tools“ doch anteilsmäßig der
größte Verwendungszweck von Cadmiumbatterien. Dabei
gibt es bereits gleichartige Elektrowerkzeuge, deren Ak-
Zu Protokoll gegebene Reden
kumulatoren den Grenzwert von Cadmium einhalten. Seit
Jahren kooperiert das Umweltbundesamt mit Batterie-
herstellern, um Substitutionen schließlich auch für Spe-
zialanwendungen zu realisieren. Bündnis 90/Die Grünen
fordert deshalb, keine Ausnahmen von Schadstoffbegren-
zungen im Batteriegesetz zuzulassen. Und: Wir wollen
eine Begrenzung der mengenmäßig dominierenden Ein-
wegbatterien mit derzeit 90 Prozent. Denn um die Spei-
cherleistung einer Reduktion von Einwegbatterien um
20 Prozent zu kompensieren, ist lediglich ein Zuwachs
von 2 bis 3 Prozent an wieder aufladbaren Batterien er-
forderlich. Die Substitution von Einweg- durch Mehrweg-
batterien ist zudem ganz im Sinne der EU-Richtlinie zur
Vermeidung der Umweltverschmutzung, IVU, und des
Konzeptes der Integrierten Produktpolitik. Beide Regel-
werke sind darauf angelegt, Umweltbelastungen entlang
der ganzen Herstellungslinie zu reduzieren.
Alte Batterien sollen umweltverträglich verwertet wer-
den. Dazu ist eine Verdoppelung der bisherigen Sammel-
quote erforderlich. Deutschland kann das schaffen. Es
lässt sich leicht erreichen, wenn ein Pfand erhoben wird,
so wie wir es in unserem Antrag „Schadstoffbelastung
durch Batterien begrenzen“, Drucksache 16/11917, vor-
schlagen.
Was die wirklich zweckdienlichen Schritte zur abfall-
rechtlichen Produktverantwortung bei Batterien und Ak-
kumulatoren wären, haben wir in dem hier zur Debatte
gestellten grünen Antrag benannt. Den Entwurf des Bat-
teriegesetzes lehnen wir in der vorgelegten Form ab. Die
gröbsten Mängel am Gesetzentwurf werden die Grünen
durch Änderungsanträge im Fachausschuss zu heilen
versuchen, und ich freue mich auf eine hoffentlich inhalt-
lich getragene parlamentarische Auseinandersetzung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 16/12227, 16/12301 und 16/11917 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 e auf:
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden
Europas“
- Drucksache 16/12230 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Die Reden nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika
Grütters, CDU/CSU, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, SPD,
Hans-Joachim Otto, FDP, Petra Pau, Die Linke, Volker
Beck, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12230 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volkmar
Uwe Vogel, Dirk Fischer ({1}), Dr. Klaus
W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Ernst Kranz, Petra Weis,
Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Programm „Stadtumbau Ost“ - Fortsetzung eines Erfolgsprogramms
- Drucksache 16/12284 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt neh-
men wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der
Kolleginnen und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, CDU/
CSU, Ernst Kranz, SPD, Joachim Günther, FDP,
Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12284 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. März 2009, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.