Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
an die historische Bedeutung des heutigen Tages, des
18. März, erinnern. In einem Gedenkjahr wie diesem,
das uns immer wieder Gelegenheit zur Erinnerung an
den langen Kampf unseres Volkes um Freiheit und Einheit und an Geschichte und Erfolg unserer freiheitlichen
Demokratie bietet, sollte auch des 18. März als eines besonderen Datums gedacht werden.
Am 18. März 1848 erreichte die sich radikalisierende
Bewegung, die von der französischen Februarrevolution
von 1848 auch in Deutschland ausgelöst worden war, ihren Höhepunkt. Überall wurden Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte, Gewährung bürgerlicher
Freiheiten sowie politischer Teilhabe erhoben. Trotz
Zugeständnissen des preußischen Königs Friedrich
Wilhelm IV. an die aufständischen Bürger gingen preußische Truppen gewaltsam gegen Berliner Demonstranten vor. Hunderte von Menschen ließen ihr Leben in den
daraufhin ausbrechenden Straßenkämpfen, über tausend
wurden verletzt. Schließlich kapitulierte der König und
zog seine Truppen am 19. März aus der Stadt zurück.
183 tote Revolutionäre wurden am 22. März vor dem
Deutschen Dom am Gendarmenmarkt aufgebahrt. Als
der anschließende Trauerzug am Stadtschloss vorbeikam, verneigte sich König Friedrich Wilhelm IV. vor
den Toten. Die Revolution hatte gesiegt.
Wenige Wochen später begann in der Frankfurter
Paulskirche die Beratung über eine Verfassung für ein
geeintes und demokratisches Deutschland. Der Berliner
Aufstand markiert den ersten demokratischen Aufbruch
in Deutschland, auch wenn schließlich doch die monarchischen restaurativen Kräfte wieder erstarkten und die
Verfassung der Paulskirche scheiterte. - Vielen Dank für
Ihre Aufmerksamkeit.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren
Stabilisierung des Finanzmarktes ({0})
- Drucksache 16/12224 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Eine Aussprache ist für heute nicht vorgesehen. Wir
kommen daher gleich zur Überweisung. Interfraktionell
wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12224 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann wird so verfahren.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
kommen wir noch zu einer nachträglichen Ausschussüberweisung. Interfraktionell ist vereinbart worden, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des
Zivildienstgesetzes und anderer Gesetze auf Drucksache 16/10995 nachträglich an den Haushaltsausschuss
gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Sind
Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung ebenfalls beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Bericht zur Umsetzung des
Bologna-Prozesses in Deutschland.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Frau Dr. Annette Schavan. - Bitte schön.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat sich in
seiner heutigen Sitzung mit dem Bericht zum Stand des
Bologna-Prozesses beschäftigt, bevor dann im April die
nächste internationale Konferenz stattfinden wird, die
Redetext
gleichsam Bilanz über bisherige Prozesse ziehen und
Schwerpunkte für die letzte Phase der Umsetzung in den
Ländern beschreiben wird. Mittlerweile beteiligen sich
46 Länder. Das heißt, dass dies eine Entwicklung des
Wissenschaftssystems ist, die weit über Europa hinausgeht. Dieser Prozess wird vermutlich zu den tiefgreifendsten Veränderungen und Weiterentwicklungen des
Wissenschaftssystems seit langem führen.
Ziele waren die Veränderung des Wissenschaftssystems als Teil des europäischen Bildungsraumes - jetzt:
als Teil des internationalen Bildungsraumes -, Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Einführung von Qualitätsstandards und - das ist ein ganz wichtiger Punkt, der bis
heute zu heftigen Debatten in den Hochschulen führt die Förderung der Einsicht, dass ein Hochschulstudium
nicht allein der Vorbereitung auf eine wissenschaftliche
Tätigkeit dient und die Studiengänge deshalb so weiterentwickelt und umstrukturiert werden müssen, dass sie
mit künftigen Berufstätigkeiten in Verbindung stehen.
In Deutschland sind nunmehr 75 Prozent des gesamten Studienangebots, rund 30 Prozent aller Studierenden
und zwei Drittel aller Studienanfänger in den BolognaProzess einbezogen. Die Umstellung auf Bachelor- und
Masterstudiengänge ist ein wirksamer Hebel, wenn es
um eine stärkere Internationalisierung der Hochschulen
in Deutschland geht. Das wird an den Mobilitätszahlen
deutlich: Die Zahl ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen zum Beispiel ist von rund 108 000
im Jahr 1999 auf jetzt 188 000 gestiegen, mit steigender
Tendenz. Wir haben seitens des Deutschen Bundestages
und der Bundesregierung Mobilität gefördert, zum Beispiel indem wir die Möglichkeiten zur Mitnahme des
BAföGs verbessert haben. Jetzt sind auch diejenigen, die
ab dem ersten Semester im Ausland studieren, BAföGberechtigt.
Im Bereich der Qualitätssicherung ist ein Akkreditierungssystem etabliert worden. Die Idee, die vom Bologna-Prozess ausging, einen Qualifikationsrahmen zu
schaffen, der in der Gemeinschaft derer, die diesen Prozess vorantreiben, zu Vergleichbarkeit und Transparenz
hinsichtlich der Abschlüsse führt, ist auch von Deutschland aufgegriffen worden. Die damit verbundene Zertifizierung von Studiengängen ist in Arbeit.
Der Schwerpunkt des in diesem Jahr vorgelegten Berichts - dieser Bericht wird bei der Bologna-Konferenz
vorliegen - ist die soziale Dimension. Wir können feststellen, dass bezüglich der damit verbundenen und in
diesem Kontext geforderten stärkeren Durchlässigkeit
im Bildungssystem - sprich: besserer Zugang zum
Hochschulstudium - in Deutschland durch entsprechende Beschlüsse der Landesregierungen und der Kultusministerkonferenz insbesondere in den letzten Monaten - nach den Debatten über den Bildungsbericht, nach
dem Bildungsgipfel etc. - einiges auf den Weg gebracht
worden ist. Sie wissen, dass die bayerische Landesregierung vor wenigen Wochen - ich glaube, das war der
letzte Beschluss einer Landesregierung in diesem Zusammenhang - die Öffnung der Hochschulen für
Meister, Techniker und Absolventen beruflicher Bildung
beschlossen hat.
Zwei große Gruppen stehen mehr oder weniger immer noch zur Debatte: die Juristen einerseits und die Mediziner andererseits. Darüber gibt es erste Debatten in
den Ländern. Es gibt Landesjustizminister, die sich eine
Umstellung auch bei den Juristen vorstellen können. Sie
wissen, dass andere strikt dagegen sind. Ich glaube, dass
es für Deutschland wichtig ist, Erfahrungen anderer Länder, zum Beispiel der Schweiz, aufzunehmen. Dieses
Thema wird in den nächsten Jahren - dessen bin ich mir
ganz gewiss - eine Rolle spielen.
Alles in allem ist festzustellen: Der Bologna-Prozess
hat in Deutschland Fahrt aufgenommen. Diejenigen, die
im kommenden Wintersemester ihr Studium aufnehmen,
werden ihr Studium mehrheitlich in einem neu strukturierten Studiengang absolvieren.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Es gibt eine ganze
Reihe von Wortmeldungen, die ich in folgender Reihenfolge aufgeschrieben habe: Cornelia Hirsch, Michael
Kretschmer, Cornelia Pieper, Kai Gehring, René Röspel,
Anette Hübinger, Krista Sager, Petra Sitte, Ernst Dieter
Rossmann und Priska Hinz. - Wir fangen mit Cornelia
Hirsch an.
Besten Dank. - Frau Ministerin, ich wollte zum
Thema Mobilität nachfragen. Zum einen sind Sie auf die
innerstaatliche Mobilität gar nicht eingegangen, obwohl
es hier für Studierende ziemlich große Probleme gibt.
Denn mit der Umstellung auf die neuen Studiengänge ist
ein Studiengangwechsel innerhalb Deutschlands kaum
mehr möglich. Ich hätte gern eine Stellungnahme dazu.
Zum anderen haben Sie gesagt, dass die Mobilität insgesamt, europaweit an Fahrt aufnehme. Was sagen Sie
dazu, dass laut Ihres Berichts nur 41 Prozent der im Ausland erworbenen Studienleistungen tatsächlich anerkannt werden? Aus unserer Sicht ist das im Zusammenhang mit der Mobilität kein Erfolg.
Zunächst noch einmal zu den Zahlen bezogen auf das
Ausland. Ich habe eben nur die Zahl ausländischer Studierender in Deutschland genannt; die Zahl derjenigen,
die von Deutschland aus ins Ausland gehen, ist hier
nicht berücksichtigt. Die Zahl dieser Studierenden hat
sich zwischen 1999 und 2007 verdoppelt.
Auch ich höre anhand von Einzelbeispielen, dass es
nicht immer zur Anerkennung der Studienleistungen
kommt. Dies befindet sich noch im Prozess. Das Problem wird im Laufe der Zertifizierung aller Studiengänge Stück um Stück ausgeräumt werden müssen. Das
wird auch ein Thema der Konferenz sein. Ziel ist die
vollständige Anerkennung. Natürlich wird das Problem
bei Studiengängen, die hier noch nicht umgestellt sind
- die Zahl der Mediziner und Juristen ist ja nicht gering -,
weiter bestehen.
Ich lese gerade: 24 Prozent der Masterstudenten haben mindestens einmal den Studienort innerhalb
Deutschlands gewechselt. Bei allen Zahlen, die ich
nenne, muss man bedenken, dass sich 30 Prozent der
Studierenden jetzt schon in einem neustrukturierten Studiengang befinden. In einem solchen Prozess kann man
sagen: Das ist viel, aber das ist noch nicht genug. Angesichts all der Debatten, die wir in Deutschland geführt
haben, glaube ich, dass es ein ganz gutes Ergebnis ist,
dass zwei Drittel aller, die jetzt ein Studium beginnen,
einen neustrukturierten Studiengang vorfinden.
Vielen Dank. - Das Fragerecht hat jetzt der Kollege
Michael Kretschmer.
Herr Präsident, vielen Dank. - Ich möchte Sie, Frau
Bundesminister, fragen, was auf der Ministerkonferenz
Ende April zum Thema Bologna besprochen werden
wird. Wie geht es weiter? Wie blicken andere Länder auf
den Bologna-Prozess zurück?
Die Vorbereitungen dieser Konferenz und die Berichte, die damit verbunden sind, zeigen, dass es in den
Ländern einen großen Wunsch nach Konsolidierung
gibt. Die Phasen, in denen man noch darüber diskutiert
hat, ob es jetzt sinnvoll ist oder nicht, sind vorbei. Deshalb gehe ich davon aus, dass es jetzt im Wesentlichen
um die Frage gehen wird: Gelingt es uns, Transparenz
und Vergleichbarkeit herzustellen? Daran entscheidet
sich dauerhaft die Akzeptanz.
Der zweite Punkt, über den auch in den Hochschulen
heftig diskutiert worden ist, lautet: Wie gelingt die Verbindung von Wissenschaft und Berufsfähigkeit? Dies
betrifft auch den Schwerpunkt unseres Berichtes: die soziale Dimension des Prozesses.
Danke schön. - Cornelia Pieper.
Frau Ministerin, Sie haben gesagt, dass 75 Prozent
der Studiengänge inzwischen umgestellt sind, dass wir
einen guten Teil der Wegstrecke vorangekommen sind,
dass wir aber nun aufpassen müssen, dass der BolognaProzess nicht ins Stocken gerät. Es ist ja so, dass sich die
Hochschulen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können, weiterentwickeln und auch die Qualität
der Lehre verbessern müssen. Da besteht dringender
Handlungsbedarf. Sie kennen natürlich auch die Hinweise der Hochschulrektorenkonferenz und des Wissenschaftsrates, die eine drastische Unterfinanzierung der
Hochschulen sehen.
Deswegen möchte ich Sie, Frau Ministerin, fragen:
Sollte die Hochschulfinanzierung nicht gemeinsam von
Bund und Ländern nach einem nachfrageorientierten
Modell, also auf der Grundlage von Kostensätzen, getragen werden? Die FDP hatte einmal ein Gutscheinmodell
vorgeschlagen. Denken Sie, dass das zur Qualitätsverbesserung von Hochschulen in Deutschland beitragen
kann?
Erstens. Die zentrale Maßnahme zur Verbesserung
der Lehre an den Universitäten ist die Abschaffung der
Kapazitätsverordnung.
({0})
Sie ist bislang das Instrument schlechthin, das im Prozess der Verbesserung der Qualität der Lehre jede damit
verbundene größere Selbstständigkeit der Hochschulen
verhindert. Wenn man die Kapazitätsverordnung abschafft, kann natürlich nicht nichts bleiben; das ist klar.
Dann ist aber der Weg für Zielvereinbarungen zwischen
den Ländern und ihren Hochschulen frei.
Zweitens. Ich glaube, dass es in Ordnung ist, im Rahmen der Hochschulfinanzierung die Basisfinanzierung in
der Verantwortung der Länder zu belassen. Hier brauchen wir keine neuen Ansätze. Im Rahmen der GWK
wird momentan über eine Reihe anderer Finanzierungsmodelle diskutiert, etwa über das Modell „Geld folgt
Student“. Ich glaube allerdings, dass es keine derartigen
Veränderungen geben wird.
Drittens befinden wir uns derzeit mitten in den Verhandlungen über den Hochschulpakt II. In diesem Rahmen wird der Bund einen erheblichen Beitrag leisten.
Das war auch beim ersten Hochschulpakt der Fall, mit
dem wir sowohl bei der Unterstützung der Forschung an
den Hochschulen - faktisch wurden auch viele Stellen
finanziert - als auch bei der Finanzierung zusätzlicher
Studienplätze für einen großen Schub gesorgt haben.
Ich sage noch einmal: Der entscheidende Punkt ist die
Abschaffung der Kapazitätsverordnung. Geschieht dies
nicht, wird kein Geld fließen, egal welches Finanzierungssystem angewandt wird und wie viel Geld zur Verfügung steht. Bleibt die Kapazitätsverordnung in Kraft,
wird es an den Hochschulen nicht zu einer Verbesserung
der Lehre kommen.
({1})
Das Fragerecht geht jetzt an den Kollegen Kai
Gehring.
Danke, Herr Präsident. - Aus unserer Sicht sind die
Strategien im Hinblick auf die soziale Dimension des
Bologna-Prozesses, die die KMK und das BMBF beschrieben und vorgelegt haben, erschreckend, da die
soziale Selektivität auch im Rahmen dieser Reform deutlich zutage tritt. Wenn man sich die Studienanfängerzahlen ansieht, stellt man fest, wie wenige Arbeiterkinder es tatsächlich auf den Hochschulcampus schaffen.
Als zentrale Ursache dieses Problems wird die Finanzierbarkeit des Studiums genannt.
Da wir gerade über die soziale Dimension des BolognaProzesses diskutieren, möchte ich Sie fragen: Was bedeutet es aus Sicht der Bundesregierung, dass viele Studenten ihr Studium nicht finanzieren können? Welche
Veränderungen und Verbesserungen plant die Bundesregierung beim BAföG, bei Studienkrediten und bei Stipendien?
Erstens hat die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode gemeinsam mit dem Parlament für eine Erhöhung des BAföG gesorgt, und zwar für eine 10-prozentige Erhöhung des Förderbetrages und eine 8-prozentige
Erhöhung der Freibeträge. Dadurch hat sich die Zahl der
Studenten, die BAföG erhalten, deutlich erhöht. Im Hinblick auf die Durchlässigkeit des Systems stehen wir im
internationalen Vergleich sowohl durch diese Maßnahme
als auch durch die anderen Maßnahmen im Rahmen der
Qualifizierungsinitiative ganz gut da.
Das zweite Instrument, das neu geschaffen wurde,
sind die Aufstiegsstipendien. Wie Sie wissen, werden in
Deutschland 90 Prozent aller Stipendien im Kontext der
Bundesregierung vergeben. In Zukunft gibt es nicht nur
Begabtenstipendien, die von den elf Begabtenförderungswerken vergeben werden, sondern auch Aufstiegsstipendien.
Der dritte Aspekt betrifft die Finanzierung des Studiums durch Studienkredite. Ein gewisser Anteil der Studenten finanziert sein Studium auf diese Weise. Allerdings glaube ich, dass für die Gruppe, die uns besonders
interessiert - Studenten aus einkommensschwachen Familien, die nicht dem akademischen Milieu angehören -,
die BAföG-Erhöhung und die Einführung der Aufstiegsstipendien am wichtigsten sind; allein in der ersten
Runde sind in den letzten Monaten 1 500 solcher Stipendien vergeben worden.
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege René Röspel das
Fragerecht.
Vielen Dank. - Gibt es Erfahrungen aus Sicht der Studierenden mit der Umstellung der Studiengänge in
Deutschland im Rahmen des Bologna-Prozesses, und,
wenn ja, wie sind diese Erfahrungen in den Bericht eingeflossen?
Es gibt ja eine schon lange dauernde Debatte, ob die
neue Struktur, die Bachelor-Studiengänge, am Ende
nicht zu zu großen zeitlichen Belastungen der Studierenden führt. Wo es um den Prozess der Qualitätssicherung
geht und um erste Erfahrungen mit den neu strukturierten Studiengängen, sind die Studenten über die studentischen Vertretungen beteiligt.
Die Umstellung entwickelt sich je nach Fakultät sehr
unterschiedlich. Ich glaube, die stärksten Veränderungen
erleben die Studierenden der Geisteswissenschaften. Die
Studierenden waren es bislang gewohnt, ein sehr selbstbestimmtes Studium zu absolvieren; für sie bedeuten die
engeren Strukturen eine größere Umstellung. Bei den
Naturwissenschaften ist es nicht so; dort erleben die Studierenden die Umstellung gar nicht als so große Veränderung.
Was den Bericht angeht, so ist die Studentenvertretung beteiligt gewesen.
Das Fragerecht geht jetzt an die Kollegin Anette
Hübinger.
Wir stehen wenige Wochen vor der Ministerkonferenz in Leuven. Mich interessiert, welche Verhandlungsschwerpunkte auf dieser Konferenz gesetzt werden und
wo Sie die wesentlichen Ansätze sehen, um mit dieser
Konferenz den Bologna-Prozess weiter voranzutreiben.
Das zentrale Thema der Konferenz muss sein, in welcher Weise der Bologna-Prozess in den einzelnen Ländern als Reformkatalysator gilt. So unterschiedlich die
Situation in den einzelnen Ländern ist: Allein die Tatsache, dass sich 46 Länder beteiligen und weitere Länder
schon Interesse bekundet haben, zeigt, dass dieser Prozess eine hohe Attraktivität hat.
Mit dem Stichwort „Reformkatalysator“ verbunden
ist die Frage, wie die Arbeit an den Qualifikationsrahmen und an der Verbindung der nationalen Qualifikationsrahmen mit dem gemeinsamen Qualifikationsrahmen
vorankommt. Im Zusammenhang mit dieser Konferenz
wird es ein Bologna-Policy-Forum geben, zu dem Minister aus 20 außereuropäischen Ländern eingeladen
sind, um über die Weiterentwicklung des Bologna-Prozesses im Hinblick auf den außereuropäischen Raum zu
diskutieren.
Viele Instrumente des Bologna-Prozesses sind für das
internationale Wissenschaftssystem interessant: die Qualifikationsrahmenstandards, die Leitlinien der Qualitätssicherung und auch das Kreditpunktesystem. Das alles
wird außerhalb Europas mit Interesse verfolgt.
Mit der Konferenz wird klar werden, wie die reformerische Wirkung im Kreis derer, die am Bologna-Prozess
teilnehmen, ist und wie der nächste Schritt in Bezug auf
die Einbeziehung von Ländern außerhalb der EU und
nicht zuletzt auf anderen Kontinenten aussieht.
Die nächste Frage hat die Kollegin Krista Sager.
Frau Ministerin, ein Problem, das im Zuge der Reform auftauchte, war, dass es schwer ist, AuslandsaufKrista Sager
enthalte und Praktika in diese Struktur zu integrieren.
Auch Sie selber haben ein Fragezeichen dahinter gesetzt,
ob es klug ist, dass der Bachelor in Deutschland strikt
sechs und der Master dann noch vier Semester dauern
soll. Sehen Sie in Bezug auf diese Problemlage eine Entwicklung, kann man da Veränderungen feststellen?
Erstens. Es gibt eine positive Entwicklung bei der tatsächlich wahrgenommenen Mobilität. Von 1999 bis
2007 hat sich die Zahl derer, die aus Deutschland ins
Ausland gehen, verdoppelt.
Zweitens. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass
sechs plus vier zu starr ist, dass es Varianten geben muss.
Die Kultusministerkonferenz hat versichert, dass dies in
ihrem Beschluss vorgesehen ist. Dies gilt vor allen Dingen mit Blick auf die sechs Semester für das Bachelorstudium. Hier wird in den nächsten Jahren die Frage beantwortet werden müssen, ob sichergestellt ist, dass
diese sechssemestrigen Studiengänge international überall anerkannt werden. Ich bin nach wie vor der Meinung,
dass es hier Flexibilität geben muss. Aus dem Kopf kann
ich Ihnen nicht sagen, wo der Anspruch an Flexibilität
schon umgesetzt ist. Ich bin aber davon überzeugt, dass
hier im Zweifelsfalle noch eine Feinjustierung stattfinden wird, sobald erste Erfahrungen vorliegen, spätestens
dann, wenn es Probleme mit der Anerkennung gibt. Einzelfälle, denen wir nachgehen müssen, sind bereits bekannt geworden.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Dr. Petra Sitte.
Frau Ministerin, immerhin 7 Prozent der Studierenden haben ein Kind. Nun heißt es im Bericht: Probleme
für Studierende mit Kind ergeben sich durch ein unzureichendes Angebot an Teilzeitstudiengängen, zu wenig
flexible Studienorganisation, nicht ausreichende Kinderbetreuung sowie bei der Studienfinanzierung. Sind Sie
vor diesem Hintergrund der Meinung, dass die Kinderbetreuungszuschläge beim BAföG von 113 Euro bzw.
für weitere Kinder von je 85 Euro ausreichen, um die zusätzlichen sozialen Belastungen abzudecken?
Es ist ein enormer Fortschritt, dass nicht nur das
BAföG und die Freibeträge deutlich erhöht worden sind,
sondern auch ein Kinderbetreuungszuschlag gezahlt
wird. Nichts ist so gut, dass es nicht besser werden kann.
Aber das Beschlossene stellt eine erhebliche Anstrengung dar. Man muss wissen, dass dieser Bericht Zeiten
berücksichtigt, in denen es die BAföG-Erhöhung und
den Kinderbetreuungszuschlag noch gar nicht gab. Demgegenüber stellt die aktuelle Situation eine deutliche
Verbesserung dar.
Jetzt organisieren wir einen Wettbewerb, der die besten Konzepte für Kinderbetreuung an Hochschulen auslotet. Das Konjunkturprogramm ist eine gute Gelegenheit, an deutschen Hochschulen mehr und bessere
Kindertagesstätten zu schaffen. Allerdings gibt es in diesem Bereich viel Bewegung. Mir fällt auf Anhieb eine
ganze Reihe von Hochschulen ein, die dabei sind, eine
entsprechende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.
Danke. - Die nächste Frage stellt Dr. Ernst Dieter
Rossmann.
Frau Ministerin, ich knüpfe an die Fragen des Kollegen Kretschmer und der Kollegin Sager an. Aus früheren
Bologna-Diskussionen wissen wir, dass ein Streitpunkt
die Flexibilität und ein zweiter die Strukturierung des
Doktorandenstudiums war. Haben Sie Pläne, diese Themen - Ihre Auffassung zu diesen Themen unterstützen
wir - gezielt in die nächste Folgekonferenz einzubringen, um bei diesen beiden Punkten noch mehr Klarheit
zu schaffen, oder gibt es auf der Bologna-Ebene bereits
ausreichend Klarheit?
In meiner zweiten Frage greife ich etwas Positives
auf. In dem Bericht ist zu lesen, dass ein qualitatives Akkreditierungskriterium die Behindertenfreundlichkeit der
Hochschule ist. Können Sie der Öffentlichkeit mitteilen,
in welche Richtung man dort denkt, wie wir in Deutschland zu behindertengerechten und -freundlichen Hochschulen kommen können, und wie können wir dies gemeinsam unterstützen?
Das Thema Struktur der Doktorandenstudien habe ich
schon bei der letzten Konferenz sehr offensiv eingebracht. Letztlich hat die Konferenz die Erwartung geäußert, dass hier ein breites Spektrum an Wissenschaftskulturen akzeptiert wird; dies geht auch aus entsprechenden
Formulierungen im Abschlussdokument hervor. Mir ist
auch kein Fall bekannt, in dem im Nachhinein noch Probleme aufgetaucht wären.
Behindertengerechtigkeit ist bereits Teil des jetzigen
Schwerpunkts. Sie wird sich im Wesentlichen an entsprechenden technischen Entwicklungen und baulichen
Vorkehrungen festmachen, aber auch bis hin zur Begleitung von Studierenden in besonderen Situationen reichen. Das ist im Wesentlichen Sache der einzelnen
Hochschulen, in denen jetzt hier genau wie hinsichtlich
der Familienfreundlichkeit sehr viel Dynamik entwickelt
wird, weil das auch ein Teil der Qualitätsbewertung ist.
Sie zeigen damit, dass sie diese sogenannten soften Faktoren, die sozial hochrelevant sind und international als
Qualitätsfaktoren gelten, ernst nehmen.
Danke schön. - Die nächste Frage hat die Kollegin
Priska Hinz.
Frau Ministerin, es gibt immer wieder Berichte darüber, dass weniger Frauen nach dem Bachelorstudiengang in den Masterstudiengang wechseln. Wenn dem so
ist, dann bedeutet das ja, dass Frauen hinterher weniger
Chancen auf dem Arbeitsmarkt und auch weniger Chancen haben, eine Karriere wie Männer zu machen, was
Gehaltseinbußen bedeutet.
Können Sie diese Berichte bestätigen, und, wenn ja:
Wie ist Ihre Strategie dagegen, dass Frauen weniger an
Masterstudiengängen und im Anschluss an Promotionsstudiengängen teilnehmen?
Meine Mitarbeiter sagen, dass sich das noch nicht allgemein feststellen lässt. Ich kann das also noch nicht bestätigen.
Ich will mir das aber gerne als einen Punkt aufschreiben, den wir in Deutschland beobachten sollten, zumal
es auch bei der alten Struktur im Verlauf des Studiums
- von der Immatrikulation bis hin zur Mitarbeit am
Lehrstuhl - erhebliche Verlustquoten gibt. Ich schreibe
mir einfach einmal die Aufgabe auf, dies festzustellen.
Vielen Dank. - Die nächste Frage hat der Kollege
Uwe Schummer.
Frau Ministerin, hat sich die Befürchtung bewahrheitet, dass durch die Einführung des Bachelorstudiengangs
die Zahl der Studienabbrecher zunimmt, und wie ist die
Zahl der Studienabbrecher in Deutschland im Vergleich
zu anderen europäischen Ländern?
Die Befürchtung hat sich nicht bestätigt. Durch die
letzte Umfrage wurde gezeigt, dass wir bei der Entwicklung der Studienabbrecherquote einen leichten Rückgang von 22 Prozent auf 21 Prozent zu verzeichnen haben. Das betrifft die Studienanfänger der Jahre 1999 bis
2001. Wir befinden uns also noch ziemlich am Anfang
des Prozesses. Ehrlich gesagt kann man darüber jetzt
also noch nicht sehr viel sagen.
Aus dieser Studie ist mir auch in Erinnerung, dass es
Unterschiede zwischen Fachhochschulen und Universitäten gibt.
Ich fasse das einmal so zusammen: Die Studienabbrecherquote in Deutschland ist noch immer zu hoch. Der
Rückgang ist noch nicht signifikant, aber es gibt auch
keine signifikante Erhöhung.
Wie wir im internationalen Vergleich liegen, kann ich
Ihnen jetzt auf Anhieb nicht sagen, aber Deutschland
war eigentlich immer für eine zu hohe Verlustquote im
Verlauf des Studiums bekannt.
Die nächste Frage hat der Kollege Kai Gehring.
Vielen Dank. - Frau Ministerin, bei der Umstellung
auf Bachelor- und Masterabschlüsse wurde eine Verbesserung der Betreuungssituation, eine bessere Lehre und
vor allem auch eine Gegenfinanzierung dieses gesamten
Reformprozesses in Aussicht gestellt. Dieses Versprechen ist aus unserer Sicht bislang überhaupt nicht eingelöst worden.
Meine Fragen lauten: Wie soll das künftig gewährleistet werden? Wird die zusätzliche und bessere Betreuungsrelation bei den jetzigen Verhandlungen über den
Hochschulpakt II berücksichtigt? Wird das ein Thema
bei den Verhandlungen über die Finanzierung sein?
Bei den derzeitigen Verhandlungen über den Hochschulpakt II wird an eine Erhöhung der Pro-KopfSumme von, so glaube ich, 22 000 Euro auf 26 000 Euro
gedacht. Darüber wird verhandelt.
Im Übrigen ist klar, dass für Verhandlungen zwischen
Bund und Ländern immer nur die Zahlen angenommen
werden können, die von beiden Seiten akzeptiert werden. Es ist so, wie ich es eben sagte: Eine signifikante
Veränderung des Betreuungsverhältnisses gegenüber
dem heutigen Zustand wird nur dann erreichbar sein,
wenn die Kapazitätsverordnung außer Kraft gesetzt
wird. Denn sonst können alle zusätzlichen Gelder nicht
zur Verbesserung in der Lehre führen, weil es in der Kapazitätsverordnung klar definierte Zahlen gibt. Es geht
nur durch den Ersatz des einen durch anderes, nämlich
durch Zielvereinbarungen, die ein besseres Betreuungsverhältnis festschreiben.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Marion Seib.
Frau Ministerin, die Studiengänge der Naturwissenschaften haben den Bologna-Prozess sehr gut angenommen und umgesetzt. Aber wie geht es in den Studiengängen Jura und Medizin weiter?
Schwerfällig. Zum Studiengang Jura gibt es in einzelnen Ländern erste Diskussionen. Die Justizminister von
Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg sind der
Meinung, dass jetzt auch Lösungen für die Juristen gefunden werden müssen. Die Schweiz ist ein Beispiel dafür, wie man vorgehen kann und dass die Umstellung
keine schlimmen Folgen hat. Das Bundesjustizministerium ist bislang anderer Meinung, sodass ich davon ausgehe, dass es noch ein bisschen Zeit braucht. Wichtig ist,
dass zunächst einmal in den Ländern Konsens erzielt
wird.
Beim Studiengang Medizin ist es vergleichbar. Sie
alle kennen den Einwand: Wer will schon von einem Bachelor operiert werden? Tatsache ist aber, dass etwa
50 Prozent der Absolventen aus Medizinstudiengängen
nicht den Arztberuf ergreifen und dass es ein paar Hundert Gesundheitsberufe gibt. Insofern ist auch in diesem
Bereich eine Umstellung sehr wohl denkbar, wenn man
nicht ausschließlich den Facharzt im Blick hat, sondern
auch das breite Spektrum der Gesundheitsberufe.
Meine Prognose ist: Es wird noch etwas dauern, aber
über kurz oder lang wird die Umstellung auch in
Deutschland kommen.
Die nächste Frage hat die Kollegin Krista Sager.
Ein Problem, über das viele Studierende klagen, besteht darin, dass im ersten Reformschritt bei der Umstellung der Studiengänge auf die Bachelorstruktur zum Teil
eine sehr starke Verdichtung eingetreten ist, Inhalte eines
Diplomstudiengangs in einen Bachelorstudiengang hineingepresst worden sind und die Studierbarkeit nicht
mehr in ausreichendem Maße gegeben ist.
Wie hoch ist der Anteil der Hochschulen, die inzwischen die Studierbarkeit ihrer Studiengänge evaluiert
und eine Neujustierung der Studiengänge vorgenommen
haben? Gibt es dabei Unterschiede zwischen Universitäten und Fachhochschulen? Wo stehen wir in dieser Frage
in Deutschland?
Die Evaluierung der Studiengänge erfolgt im Kontext
von Akkreditierung. Mir liegt keine Übersicht vor, wie
hoch der Anteil der Hochschulen ist, die gegebenenfalls
schon Feinjustierungen vorgenommen haben. Ich halte
das aber für zwingend, weil sich die Umstellung auf die
Bologna-Regelungen nicht darauf beschränken kann,
nur das Etikett auszuwechseln und ansonsten die Dinge
so zu lassen, wie sie sind.
In der Hochschulrektorenkonferenz gibt es eine Reihe
von Fachleuten für den Bologna-Prozess, die die Hochschulen beraten. Ich glaube, dass die Vertreter der Studierendenorganisationen es deutlich artikulieren sollten,
wenn sie den Eindruck haben, dass alles beim Alten geblieben ist und nur mit einem neuen Etikett versehen
wurde. Auch innerhalb der Hochschulen muss es entsprechende Debatten geben. Ich sage das, weil ich
glaube, dass das an der einen oder anderen Stelle der Fall
ist. Es sind alle Instrumente vorhanden, um dies festzustellen und zu korrigieren. Dieser Prozess muss sich innerhalb der Hochschulen, die viel Wert auf ihre Autonomie legen, und der sie begleitenden Institutionen
vollziehen.
Danke. - Wenn es keine Fragen außerhalb dieses Themenbereichs an die Bundesregierung gibt, dann könnte
ich noch eine letzte Frage des Kollegen Dr. Ernst Dieter
Rossmann zulassen. Ist das der Fall? - Bitte schön, Herr
Rossmann.
Herzlichen Dank. - Frau Ministerin, weil Sie verstärkt die Kapazitätsverordnung angesprochen haben,
nur so viel: Wir kennen Ihre Meinung, müssen sie aber
nicht teilen.
Ich möchte Sie zu etwas anderem befragen. Lange
war streitig, ob die Beratungsleistung in Bezug auf den
Bologna-Prozess an den Hochschulen von Bund und
Ländern ausreichend und gut organisiert ist. Vielleicht
können Sie dazu eine Einschätzung abgeben, was das in
Zukunft in Bezug auf das gemeinsame Aufgabenfeld bedeutet, ob wir noch Beratungsleistungen an den Hochschulen mitorganisieren müssen oder ob das ein Selbstläufer ist.
Mir liegen keine Anforderungen vor, das Beratungssystem, das im Wesentlichen von der Hochschulrektorenkonferenz zur Verfügung gestellt wird, zu erweitern
und zu verbessern. Wenn es Bedarf gibt, kann man darüber sprechen. Ich nehme Bezug auf das, was Frau
Sager gesagt hat. Wenn nun 75 Prozent der Studiengänge
umgestellt sind, ist entscheidend, dass diejenigen, die
beraten, den Problemen, die immer wieder benannt werden, nachgehen und im Zweifelsfall Feinjustierungen
vornehmen. Allerdings werden Sie feststellen - das hat
etwas mit der jeweiligen Wissenschaftskultur zu tun -:
In den Naturwissenschaften funktioniert das alles ziemlich gut. Diese haben keine so große Verdichtung erlebt,
weil sie schon immer klare Strukturen hatten. Das gilt
auch für die technischen Wissenschaften. Die größte
Umstellung - auch in mentaler Hinsicht - erfahren natürlich die Geisteswissenschaftler. Sie brauchen etwas
Zeit. Jeder, der Geisteswissenschaften studiert hat, weiß,
was ich meine.
Ich beende die Regierungsbefragung. Vielen Dank,
Frau Ministerin Schavan.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3:
Fragestunde
- Drucksachen 16/12246, 16/12269 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Ziffer 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen auf Drucksache 16/12269 auf. Wir kommen
zuerst zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner zur Verfügung.
Wir kommen zur dringlichen Frage 1 des Kollegen
Volker Schneider:
Wann ist die Deutsche Rentenversicherung Bund erstmals
über den zu erwartenden statistischen Einmaleffekt der Lohnentwicklung in Ostdeutschland durch das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales, BMAS, informiert worden, und wie
genau erklärt sich die rechnerische Höhe des Einmaleffekts,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
den das BMAS in seiner Pressemitteilung zur Rentenerhöhung 2009 mit einem höheren Lohnniveau in den neuen Bundesländern als in den vergangenen Jahren begründet ({0})?
Bitte schön, Herr Brandner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Abgeordneter Schneider, wir hatten schon heute Morgen im
Ausschuss Gelegenheit, über Ihre Fragen zu diskutieren.
Ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Zuerst will ich feststellen, dass die Rentenanpassung immer nach Recht
und Gesetz erfolgt. Die Deutsche Rentenversicherung
Bund wurde am 16. März 2009 über die Höhe der Rentenanpassung, wofür die zugrunde liegende Lohnentwicklung maßgebend ist, informiert. Die Renten in den
alten Bundesländern steigen danach zum 1. Juli 2009 um
2,41 Prozent und in den neuen Bundesländern - hier gibt
es eine deutlich stärkere Rentenanpassung - um 3,38
Prozent. Die Rentenanpassung 2009 ergibt sich daraus,
dass die anpassungsrelevanten Löhne im Westen um
rund 2,1 Prozent und im Osten um rund 3,1 Prozent gestiegen sind. Der höhere Wert im Osten ist darauf zurückzuführen, dass das Statistische Bundesamt für die
letzten Jahre in den neuen Bundesländern nun ein höheres Lohnniveau ausweist als im vergangenen Jahr. Nach
Aussage des Statistischen Bundesamtes ist hierfür die
turnusmäßige Neuberechnung der Bruttolöhne und -gehälter in den einzelnen Bundesländern verantwortlich.
Verschiedene, neue und aktualisierte Quellen vor allem aus dem Bereich der Personalstandsstatistik führten
zu Veränderungen der Angaben in bestimmten Bereichen wie der öffentlichen Verwaltung. Die Renten sollen
zeitnah den Löhnen folgen. Daher ist die Verwendung
aktueller Daten unumgänglich. Um eine Rentenanpassung zum 1. Juli durchführen zu können, muss auf die
im März vorliegenden Daten der volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes Bezug
genommen werden. Diese Daten werden vom Statistischen Bundesamt im Zuge der regelmäßigen Berichterstattung auf der Basis erst später verfügbarer, zusätzlicher statistischer Informationen regelmäßig aktualisiert.
Es sind also alle Daten eingeflossen, die zum Zeitpunkt
der Bewertung vorhanden waren.
In Bezug auf die Rentenanpassungen sind solche Korrekturen aus unserer Sicht unproblematisch; denn bei der
Berechnung der Veränderungsrate der Löhne werden die
aktuellen Daten auf die Werte bezogen, mit denen auch
die letzte Rentenanpassung berechnet wurde. Auf diese
Weise wird immer auf den aktuellsten Stand der verfügbaren statistischen Informationen Bezug genommen,
und eine statistische Aktualisierung früherer Werte wird
automatisch berücksichtigt.
Vielen Dank. - Nachfrage, Herr Schneider.
Herr Staatssekretär, wir bemühen uns seit einiger Zeit
- das haben wir unter anderem heute Morgen im Ausschuss getan -, einmal differenzierter zu erfahren, welche Korrekturen es denn gegeben hat; darauf zielte auch
diese Frage. Ich stelle zunächst einmal fest: Sie geben
dazu erneut keine Auskunft.
Aber ich will Ihnen, was die Auswirkungen anbelangt, vielleicht etwas auf die Sprünge helfen. Durch das
Verfahren, das Sie beschrieben haben, ist das Entgelt für
das Jahr 2007 im Osten im Nachhinein tatsächlich um
218 Euro angehoben worden. Nun weiß natürlich jeder:
Würden wir im Vergleich dazu ermitteln, wie die Löhne
gestiegen sind, dann müsste die Lohnsteigerung, würden
wir dieses angehobene Entgelt zugrunde legen, eigentlich geringer ausfallen. Sie würde nämlich nur bei
2,1 Prozent statt bei 3,1 Prozent liegen.
Daher frage ich Sie: Ist es nicht so, dass die ungewöhnlich hohe Steigerung der Renten im Osten weniger
ein Verdienst der Politik der Bundesregierung ist, sondern vielmehr auf statistische Fehler zurückzuführen ist,
die dazu geführt haben, dass die Löhne im Osten sowohl
in den Jahren 2004 und 2005 als auch in den Jahren 2006
und 2007 zu niedrig angesetzt waren, was erst durch das
von Ihnen beschriebene Verfahren korrigiert wurde, die
Rentnerinnen und Rentner Ost also in den Jahren 2004
bis 2007 eigentlich zu niedrige Renten bezogen haben,
und dass die tolle Steigerung, die sie jetzt erfahren, zu einem ganz großen Teil darauf zurückzuführen ist, dass sie
jetzt eigentlich das bekommen, was ihnen schon ab 2004
zugestanden hätte?
({0})
- Das war eine Frage.
({1})
Zuallererst möchte ich festhalten: Der Zwischenrufer
hat völlig recht. Sie haben eine Feststellung getroffen.
Sie wollten mir auf die Sprünge helfen, haben es aber
tatsächlich nicht getan.
Sie haben eine klare Auskunft bekommen, Herr
Schneider; denn ich habe Ihnen die Bezugsquelle konkret genannt, habe Ihnen gesagt, woher die statistischen
Werte kommen, die für die Rentenberechnung zugrunde
gelegt werden, nämlich dass es die des Statistischen
Bundesamtes sind, das die Daten regelmäßig aktualisiert. Diese aktualisierten Daten sind Grundlage für die
Rentenberechnung.
Des Weiteren haben Sie ausgeführt, die Rentenerhöhung sei nicht das Verdienst der Bundesregierung, weil
die Bundesregierung die Löhne und Gehälter nicht entsprechend verändert oder festgesetzt habe. Ich mache
Sie darauf aufmerksam, dass nicht die Bundesregierung
die Löhne und Gehälter festsetzt, sondern dass das Sache
der Tarifvertragsparteien oder auch der einzelvertraglichen Parteien ist. Die Bundesregierung wird höchstens
im Rahmen von Mindestlöhnen auf der Basis von Tarifverträgen Lohnregelungen vereinbaren. Insofern hat die
Bundesregierung auch nie für sich in Anspruch genommen, dass die Rentensteigerung ihr Verdienst sei; vielmehr ist es im Osten wie im Westen so, dass die Renten
den Löhnen folgen.
Sie haben ferner auf statistische Fehler hingewiesen.
Ich sage Ihnen: Sie haben, ohne dafür einen Beleg zu benennen, einfach behauptet, es gäbe statistische Fehler.
Ich habe Ihnen deutlich gemacht, dass das Statistische
Bundesamt Daten, die aktuell einfließen, aufnimmt und
in die Berechnungen einstellt. Wenn Sie dazu Fragen haben, bitte ich Sie, sie an das Statistische Bundesamt zu
richten und sie sich von dort beantworten zu lassen.
Zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, das ist doch einigermaßen unbefriedigend. Sie arbeiten schließlich mit den Daten des
Statistischen Bundesamtes. Können Sie mir bestätigen,
dass die Jahresarbeitsentgelte für den Osten rückwirkend
für 2004 um 30 Euro, für 2005 um 50 Euro, für 2006 um
130 Euro und für 2007 um 3 Euro, also insgesamt - wie
ich gesagt habe - um 218 Euro, angehoben wurden und
dass nun mit einem Verdienst 2007 von 22 322 Euro gerechnet wird, statt - wie bisher - mit einem Verdienst
von 22 104 Euro? Ist es richtig, dass sich daraus ergibt,
dass in diesem Jahr im Osten eine Lohnentwicklung von
2,1 Prozent zugrunde gelegt werden müsste, was dazu
führen würde, dass die Rentenanhebung im Osten niedriger wäre als die Rentenanhebung im Westen, dass man
aber stattdessen mit 3,1 Lohnentwicklung arbeitet, damit
man jetzt quasi das aufholt, was in der Vergangenheit
- warum auch immer - falsch ermittelt wurde, oder sage
ich hier etwas Falsches?
Ich stelle zuerst fest, dass nichts falsch ermittelt worden ist. Ich habe Ihnen vielmehr die Berechnungsgrundlage der gesetzlichen Rente erläutert. Sie haben bisher
keinen Beleg dafür gebracht, dass eine falsche Ermittlung durch die Bundesregierung oder das Bundesministerium für Arbeit und Soziales stattgefunden hat. Ich
habe weiter erläutert, dass die statistischen Daten auch
im Nachhinein regelmäßig überprüft werden und Faktoren, die Berücksichtigung finden müssen, in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einfließen. Die Daten
sind also am aktuellen Tag nicht hundertprozentig korrekt. Dies haben wir bewusst immer hingenommen, weil
wir wollen, dass sich die Rentenanpassung an aktuellen
Werten orientiert. Da im nächsten Jahr die Differenz
zwischen den Werten von 2009 und 2008 ermittelt wird
und diese Differenz rentenrechtlich berücksichtigt wird
- entweder rentensteigernd oder rentenmindernd -, ergeben sich für die Menschen in diesem Land, auch für die
in den neuen Bundesländern, keine Nachteile.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur
Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 2 der Kollegin
Dr. Dagmar Enkelmann auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung insbesondere aufgrund der Ergebnisse des aktuellen Besuchs des
Bundesministers für Wirtschaft und Technologie in den USA
zur Fortführung des Automobilunternehmens Opel im Rahmen einer europäischen Lösung und unter Beteiligung des
Bundes, der Bundesländer, in denen Opel-Standorte sind, sowie der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Dr. Enkelmann,
ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Bundesregierung prüft zurzeit in enger Zusammenarbeit mit dem Unternehmen, mit seiner amerikanischen Mutter und unter
Einbeziehung der amerikanischen Regierung die Möglichkeit zur Fortführung des Automobilunternehmens
Opel. Dafür müssen aber gewisse Voraussetzungen gegeben sein, nämlich ein wirtschaftlich und rechtlich tragfähiges Zukunftskonzept. Das liegt noch nicht vor.
Eine Nachfrage, Frau Enkelmann.
Das war ein bisschen dürftig, Frau Staatssekretärin.
Eines der Probleme betrifft die Patente. Sie selbst haben,
nachdem Herr zu Guttenberg zurück war, gesagt, es
scheine so, dass die Patente beim US-Finanzministerium
verpfändet seien. Gibt es, sollte es gelingen, eine Lösung
im Sinne eines eigenständigen Unternehmens Opel herbeizuführen, tatsächlich die Chance eines Zugriffs auf
diese Patente? Diese wären für das Unternehmen lebenswichtig. Das ist meine erste Nachfrage. Meine zweite
werde ich dann anschließen.
Wenn Sie in Ihrer dringlichen Frage nach den Patenten gefragt hätten, hätte ich sie gleich beantwortet. Ich
beantworte sie jetzt wie folgt: Die Patente sind verpfändet - heute früh waren im Wirtschaftsausschuss Vertreter
von Opel bei uns -, Fakt ist aber auch, dass die Patente
nicht sicherungsübereignet sind. Für eine zukünftige
Selbstständigkeit des Unternehmens Opel werden die
Patente eine wichtige Rolle spielen. Das heißt, dass
dann, wenn die Contracts zwischen GM, dem Treasury
und der Opel AG gemacht worden sind, Gespräche geführt werden müssen, wie mit den Patenten zukünftig zu
verfahren ist. Sie haben vollkommen recht: Das ist für
die Überlebensfähigkeit, für das zukünftige Weiterexistieren von Opel von grundsätzlicher Bedeutung.
Noch eine Nachfrage?
Ja, ich habe noch eine Nachfrage. - Es wäre wahrscheinlich ein sehr großer Druck der Bundesregierung
notwendig, um tatsächlich an die Patente zu kommen.
Jetzt zu meiner zweiten Nachfrage: Heftige Kritik an
der Reise von Herrn zu Guttenberg übt unter anderem
der Automobilexperte Ferdinand Dudenhöffer, der unter
anderem von Politikmarketing spricht und der behauptet,
CDU und CSU würden den Autobauer Opel gar nicht
retten wollen. Er spricht von Hinhaltetaktik und äußert
den Vorwurf, man lasse Opel totlaufen usw. Er fordert in
diesem Zusammenhang eine deutliche Aussage der Bundesregierung hinsichtlich einer Staatsbeteiligung an
Opel. Teilen Sie diese Auffassung? Wird in der Bundesregierung überhaupt geprüft, ob dieses Unternehmen
mithilfe einer staatlichen Beteiligung - auch wenn sie
nur vorübergehend ist - gerettet werden kann?
Die Bundesregierung denkt nicht an eine Staatsbeteiligung. Der Minister ist in Amerika gewesen. Wir sehen
diesen Besuch als einen Fortschritt an. Immer noch sind
sehr viele Fragen offen; inzwischen sind aber einige Fragen geklärt worden. Im Rahmen dieses Besuches ist festgestellt worden - dafür waren wir sehr dankbar -, dass
sich GM eine Minderheitsbeteiligung vorstellen könnte;
bis jetzt ist das immer ganz offen gewesen. Eine solche
Beteiligung ist eine Voraussetzung dafür, dass Opel in
eine rechtliche Selbstständigkeit entlassen werden kann.
Es wurde auch ganz deutlich, dass ein großes Interesse
am Weiterbestand von Adam Opel Europe besteht. Auch
das wurde bisher in diesem Zusammenhang noch nicht
so klar und deutlich gesagt.
Eine enge Zusammenarbeit wurde vereinbart. Zukünftig wird von der Regierung ein Koordinator eingesetzt werden, der im stetigen Kontakt mit den einzelnen
Akteuren ist.
Jetzt stellt die Kollegin Sevim Da_delen eine Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Frau Wöhrl, Sie
haben in Ihrer Antwort gesagt, dass Fragen geklärt worden sind. Es gibt unterschiedliche Medienberichte über
den Besuch des Bundeswirtschaftsministers. Die Financial Times Deutschland schreibt, der Einstieg des Bundes sei ausgeschlossen und die Ergebnisse des mit Spannung erwarteten Treffens dürften in Deutschland vor
allen Dingen für Enttäuschung sorgen. Ich würde mich
freuen, wenn die Bundesregierung in der Lage wäre,
uns, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, über
diese Ergebnisse zu unterrichten - offensichtlich ist dies
gegenüber der Financial Times Deutschland bereits geschehen -: Welches sind also die konkreten Ergebnisse
der Gespräche, die die Bundesregierung in den USA vor
kurzem geführt hat, abgesehen von der Vereinbarung,
dass in der nächsten Zeit ein Koordinator eingesetzt werden soll?
Für uns als Bundesregierung ist es vor allem notwendig gewesen, verschiedene Punkte gegenüber den Akteuren in Amerika klarzustellen. Es ist eindeutig, dass in
Amerika momentan die wichtigen Ereignisse stattfinden
müssen. Es müssen Contracts zwischen dem Mutterkonzern und der amerikanischen Regierung geschlossen
werden. Der amerikanischen Regierung muss ein Konzept vorgelegt werden; ein solches Konzept liegt noch
nicht vor. Danach müssen Verträge mit der Adam Opel
AG geschlossen werden. Erst wenn das geschehen ist,
können wir hier über dieses Konzept entscheiden.
Für uns war es sehr wichtig, in diesem Gespräch darzulegen, dass wir nicht in Vorleistung gehen werden, bevor dieses Konzept auf dem Tisch liegt. Ich glaube, das
ist ein ganz wichtiger Punkt. Man hat manchmal das Gefühl gehabt, dass auf amerikanischer Seite von falschen
Voraussetzungen ausgegangen wird. Wir sind Treuhänder von Steuergeldern. Wir tragen Verantwortung dafür,
dass Steuergelder in ein zukunftsfähiges, wettbewerbsfähiges Konzept fließen. Diesbezüglich sind noch nicht
alle Fragen beantwortet. Der Minister hat bei seinen Gesprächen auf die offenen Fragen direkt und explizit hingewiesen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Volker Schneider.
Frau Staatssekretärin, Sie haben davon gesprochen,
dass eine Reihe von Fragen offenbleibt. Sie haben mit
Recht davon gesprochen, dass eine Reihe dieser Fragen
existenziell ist. Eine dieser Fragen ist, ob Opel wie bisher im GM-Verbund nur europaweit Autos verkaufen
darf oder ob es das, wie es die Arbeitnehmervertreter
fordern, zukünftig auch weltweit tun darf. Hat das bei
den Gesprächen in den USA eine Rolle gespielt und,
wenn ja, mit welcher Tendenz?
Es hat heute Morgen bei uns im Ausschuss eine Rolle
gespielt; dieses Thema wurde auch von den Arbeitnehmervertretern angesprochen. Außerdem wurde angesprochen, dass ein Mehrheitsaktionär gesucht wird.
Wenn eine rechtliche Selbstständigkeit, also die Loslösung vom Mutterkonzern, gegeben ist, dann wird angestrebt, die eigenen Produkte weltweit zu vertreiben. Man
sieht darin auch eine Notwendigkeit. Ich glaube, diesen
Argumenten kann man sich anschließen.
Vielen Dank. - Die nächste Frage stellt der Kollege
Bodo Ramelow.
Frau Staatssekretärin, ich würde gern drei Tatbestände erwähnen, bevor ich meine Frage stelle. Sie haben in Interviews von der Option gesprochen - so
berichten zumindest die Medien -, deutsches Insolvenzrecht anzuwenden. Ferner habe ich gelesen, dass unter
Verweis auf Sie gesagt wurde, die finanziellen Mittel
von Opel würden derzeit wohl bis April reichen. Mich
hat in dem Zusammenhang die Frage umgetrieben, ob
das nur Barmittel oder auch Kreditlinien oder noch andere Positionen sind; denn Herr zu Guttenberg weist ja
darauf hin, dass GM allein für Entwicklungsarbeit Opel
1 Milliarde Euro schuldet. Ein weiterer Tatbestand: Im
November sind auf die deutschen Werke Bürgschaften in
Höhe von 1,5 Milliarden Euro gezogen worden, die GM
im Rahmen des Cash-Managements in die USA abgezogen hat.
Berücksichtige ich diese drei Komponenten, dann
bleibt für mich die Frage: Wie wirkt sich aus Ihrer Sicht
nach deutschem Insolvenzrecht der Tatbestand des Abzugs dieser Gelder aus, wenn vorher in den USA Gläubigerschutz nach Chapter Eleven beantragt würde?
Ich glaube, Sie haben mich falsch interpretiert. Ich
habe auf eine Frage bezüglich des Insolvenzrechts nur
geantwortet, dass wir ein sehr modernes Insolvenzrecht
haben und dass in Deutschland viele Unternehmen aus
einer Insolvenz gestärkt hervorgegangen sind. Ich habe
nicht gesagt, dass es Planungen gibt, das Insolvenzrecht
auf Opel anzuwenden, sondern nur auf die allgemeine
Frage, wie ich das deutsche Insolvenzrecht bewerte, geantwortet, dass ich es nicht als Makel, sondern als Teil
unserer sozialen Marktwirtschaft sehe.
Fakt ist auch, dass das Insolvenzrecht zurzeit keine
Rolle spielt, sondern dass wir alle gemeinsam eine Lösung dafür suchen, Opel rechtlich selbstständig zu machen und aus dem Verbund der Mutter GM herauszulösen. Wenn ein Konzept vorliegt, sind wir auch gern zur
Unterstützung bereit.
Ob Gläubigerschutz nach Chapter Eleven beantragt
wird, wird sich in den nächsten Monaten entscheiden.
Bis jetzt wurde uns gesagt, dass die finanziellen Möglichkeiten sehr knapp sind und dass es schon im März
um die Überlebensfrage gehen kann. In den USA wurde
deutlich, dass bei der Mutter Einsparungen stattgefunden
haben, sodass jetzt ein Überleben bis April möglich ist.
Wir müssen abwarten, wie die US-amerikanische Regierung entscheidet. Sie wird erst dann entscheiden, wenn
GM ein Konzept vorgelegt hat. Ein solches Konzept
liegt bis jetzt noch nicht auf dem Tisch.
Fakt ist aber auch, dass Opel kein eigenes Konto hat;
zurzeit läuft alles über ein Cash-Management. Wir müssen dafür sorgen - das war heute früh schon Thema -,
dass sich das Unternehmen mit seinen Verträgen schon
jetzt so aufstellt, dass es sofort handeln kann, wenn in
den USA das Konzept vorliegen wird, und keine Verzögerungen eintreten. Das Unternehmen sucht zurzeit Investoren.
Eine weitere Frage stellt die Kollegin Heike Hänsel.
Danke schön, Herr Präsident. - Frau Staatssekretärin,
mit Interesse habe ich zur Kenntnis genommen, dass Sie
mit Steuergeldern verantwortungsvoll umgehen möchten
und Konzepte einfordern, bevor Geld fließt. Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang das Vorgehen der
Bundesregierung in den letzten Monaten bezüglich der
meines Erachtens doch sehr vorschnellen Bereitstellung
von Cash? Wenn wir uns das bei den Banken anschauen
- ich nenne zum Beispiel die IKB, die Commerzbank
und die Hypo Real Estate -, dann kommen wir zu dem
Schluss, dass weder das Ziel erreicht wurde, nämlich die
Kreditvergabe wieder in Gang zu bringen, noch verantwortungsvoll mit Steuergeldern in Milliardenhöhe umgegangen wurde.
Ich glaube schon, dass wir sehr verantwortungsvoll
mit Steuergeldern umgegangen sind, vor allem, wenn
man berücksichtigt, was geschehen wäre, wenn wir das
nicht gemacht hätten. Vielleicht gehen Sie einmal in sich
und überlegen sich, was passiert wäre, wenn die Menschen am Tag darauf hätten feststellen müssen, dass kein
Geld mehr von Geldautomaten ausgezahlt worden wäre.
Fakt ist auch, dass wir bei der Hypo Real Estate mit
Bürgschaften arbeiten und nicht Geld zur Verfügung
stellen.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Die dringlichen
Fragen sind jetzt beantwortet. Sie sind allerdings weiter
gefragt; denn die Fragen, die diesen Sachzusammenhang
betreffen, werden vorgezogen.
Deswegen kommen wir jetzt zur Frage 22 der Kollegin Sevim Dağdelen:
Wann konkret gedenkt die Bundesregierung ihre Entscheidung über Art und Umfang von Hilfsleistungen für die Adam
Opel GmbH zu treffen, nachdem sie diese Entscheidung ursprünglich bereits für März 2009 angekündigt hatte, nun aber
nicht vor April 2009 treffen will, und inwieweit scheitert eine
rasche Lösung daran, um seitens der Bundesregierung „nach
Argumenten zu suchen, um Opel nicht zu helfen“, obwohl es
sich bei der Adam Opel GmbH sehr wohl um ein „systemrelevantes Unternehmen“ handelt, das wegen der Anzahl an Arbeitsplätzen im Unternehmen und im Zuliefererbereich „entscheidend für den Wohlstand der gesamten Gesellschaft“ ist
({0})?
Bitte schön.
Diese Frage geht in die gleiche Richtung wie die
Frage von Frau Dr. Enkelmann. Auch zu dieser Frage
kann ich nur sagen, dass die Bundesregierung eine Entscheidung treffen wird, sobald ein tragfähiges, belastbares Zukunftskonzept vorliegt.
Für die Entscheidung über den Einsatz staatlicher Hilfen sind, wie gesagt, unter anderem die volkswirtschaftliche Förderungswürdigkeit, andere Finanzierungsmöglichkeiten und die langfristige Tragfähigkeit des vom
Unternehmen vorzulegenden Plans zu prüfen.
Nachfrage, Frau Dağdelen?
Ja. - Zunächst muss ich Ihre Eingangsfeststellung
korrigieren: Die Frage von Frau Dr. Enkelmann bezog
sich auf die Möglichkeiten, die die Bundesregierung zur
Fortführung des Automobilunternehmens Opel sieht.
Meine Frage stellt darauf ab, dass in den letzten Monaten von Arbeitsgruppen der Bundesregierung zum
Thema Opel die Rede war und es immer wieder Verlautbarungen von Vertreterinnen und Vertretern der Bundesregierung gab, dass man im März zu einer Entscheidung
kommen wolle. Dann hieß es, Ende März wolle man entscheiden. Jetzt sind wir schon bei April.
Nimmt die Bundesregierung zur Kenntnis, dass zum
Beispiel allein in Europa 400 000 Arbeitsplätze betroffen sind und Hunderttausende Menschen jeden Tag Zukunftsängste haben bzw. verunsichert sind, vor allen
Dingen wegen der unterschiedlichen Berichterstattung
und der unterschiedlichen Aussagen von Vertreterinnen
und Vertretern der Bundesregierung, insbesondere ihrer
Minister? Wie steht sie zu der Einsicht, dass man, ehe
man öffentliche Gelder für etwas ausgibt, erst einmal
selber ein Konzept erstellen sollte und sagen sollte, unter
welchen Bedingungen man überhaupt bereit ist, öffentliches Geld zur Rettung von Opel zu geben?
Die Regierung - ich kann, wie ich glaube, im Namen
aller sprechen - macht sich sehr viele Gedanken und
auch Sorgen um die Opelaner und ihre Familien und
wird alles in ihren Kräften Stehende tun, um einen rechtlich selbstständigen Weiterbestand zu ermöglichen. Fakt
ist aber auch: Wir sind nicht das Unternehmen. Das Unternehmen muss erst einmal ein tragfähiges Konzept auf
den Tisch legen. Solange das nicht vorliegt und unsere
Fragen, die ja in diesem Konzept aufgegriffen werden
sollen, nicht beantwortet sind, können wir nicht handeln.
Es ist zum Beispiel immer noch nicht dargelegt, auf
welche Weise dem Abschottungsprinzip Geltung verschafft werden könnte, damit die Gelder hier in Deutschland bleiben. Ich glaube, es liegt im Interesse von niemandem von uns, wenn wir fast 3 Milliarden Euro zur
Verfügung stellen, dieses Geld aber nicht in Deutschland
bleibt und nicht die hiesigen Arbeitsplätze, sondern Arbeitsplätze in Amerika oder irgendwo anders gesichert
werden. Deswegen müssen wir vorsichtig und überlegt
an die Sache herangehen, damit wir das Ziel, das wir haben, auch erreichen.
Weitere Nachfrage?
Ja, Herr Präsident, ganz kurz. - Selbstverständlich,
Frau Wöhrl, haben wir alle das gleiche Interesse daran,
dass öffentliche Gelder, also Steuergelder, nicht in die
USA abfließen, sondern den Betroffenen zugutekommen
und entsprechenden Bedarf abdecken. Es lässt aber
schon zu wünschen übrig, wenn man auf eine entsprechende Entscheidung monatelang warten muss.
Meine zweite Frage zielt auf eine Meldung in der
heutigen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung ab, nach
der es laut Gesamtbetriebsratschef Klaus Franz im Sinne
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Vertreterinnen und Vertreter ist, dass Autos von Opel über
die Grenzen Europas hinaus exportiert werden dürfen.
Ist dies auch Bestandteil der Gespräche gewesen, die die
Bundesregierung in den USA geführt hat, oder, falls
nicht, gedenkt die Bundesregierung diese vor allen Dingen vonseiten der Belegschaft erfolgte Anregung aufzunehmen und in die weiteren Gespräche einfließen zu lassen?
Die Frage war schon einmal gestellt; aber vielleicht
wiederholen Sie Ihre Antwort.
Das Wichtigste, was man aus den Gesprächen in
Amerika mitnehmen kann, ist, dass die Mutter bereit ist,
ein Minderheitsaktionär zu werden. Das ist die erste Voraussetzung für eine mögliche Selbstständigkeit des Unternehmens. Wichtig ist allerdings auch, einen Mehrheitsaktionär, einen Investor zu finden. Dann kann Opel
rechtlich selbstständig seine Produkte über die Grenzen
Europas hinaus verkaufen.
Frau Kollegin Enkelmann, Sie hatten noch eine
Frage. Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie hatten unter anderem gesagt, dass das Unternehmen gefordert ist, Investoren zu
suchen. Nun gestaltet sich die Suche möglicherweise
schwierig, wenn ein Teil der Rahmenbedingungen bis
heute nicht geklärt ist, zum Beispiel die Frage der Patente, über die wir vorhin schon gesprochen haben. Wäre
es nicht möglich, dass zur Gewinnung von Investoren
auch eine staatliche Bürgschaft als Sicherheit dienen
könnte? Wird das in der Bundesregierung ernsthaft geprüft?
Uns wurde heute Morgen im Wirtschaftsausschuss
vonseiten des Unternehmens mitgeteilt, dass es Interessenten gibt und dass innerhalb der nächsten vier Wochen
mit diesen Interessenten Kontakt aufgenommen wird,
um das Interesse zu prüfen.
({0})
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung der Fragen; das ist ja im Übrigen auch Ihre Pflicht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({0})
- Das habe ich nicht gesehen; jetzt sind wir schon weitergegangen.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht die
Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette Kressl zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 13 der Kollegin Christine Scheel
auf:
Was sind die steuerlich relevanten Gründe, dass die Adam
Opel GmbH im Zeitraum 2005 bis 2007 von den deutschen
Finanzämtern Erstattungen in Höhe zweistelliger Millionensummen erhalten hat ({1}), obwohl sie
laut Interview von Betriebsratschef Klaus Franz 2006, 2007
und bis September 2008 schwarze Zahlen geschrieben hat
({2})?
Frau Kressl, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegin
Scheel, Sie fragen nach sehr konkreten steuerlichen
Sachlagen, bezogen auf einen konkreten Steuerpflichtigen. Nach § 30 der Abgabenordnung gibt es das Steuergeheimnis, das verhindert, dass ich Ihnen diese Fakten
hier öffentlich mitteile.
Nachfrage, Frau Kollegin Scheel?
Frau Staatssekretärin, mir ist sehr wohl bekannt, dass
es in der Abgabenordnung das Steuergeheimnis gibt. Allerdings hat in einer Situation wie der derzeitigen, in der
über staatliche Hilfen, über eventuelle Bürgschaften des
Staates - wir hatten das Thema ja auch in den vorherigen
Fragen - diskutiert wird, die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse daran, ob Opel Zahlungen in Deutschland geleistet hat. Vor dem Hintergrund dieses öffentlichen Interesses sind in verschiedenen Zeitungen, zum
Beispiel in der Welt, Summen genannt geworden. Danach hat es im Jahr 2005 eine Rückerstattung von rund
48,5 Millionen Euro, im Jahr 2006 eine Zahlung in der
Größenordnung von etwa 960 000 Euro - also nicht einmal 1 Million Euro - und im Jahr 2007 eine Zahlung von
18,5 Millionen Euro gegeben.
Schlussfolgerung: In diesen drei Jahren wurde insgesamt mehr rückerstattet als gezahlt. Ich glaube, dass es in
der derzeitigen Situation, auch in politischer Hinsicht,
durchaus - trotz des Steuergeheimnisses - adäquat wäre,
vonseiten des Bundesfinanzministeriums wenigstens
grobe Angaben darüber zu bekommen, ob in Deutschland Rückerstattungen geleistet wurden, ohne dass eine
Zahlung erfolgt ist, ob das verrechnet wurde oder wie
sich die Zahlen zusammensetzen.
Ist es also letztendlich so, dass die Gewinne abgeflossen sind, aber die Verluste hier geltend gemacht wurden?
Ich glaube schon, dass die Bevölkerung einen Anspruch
darauf hat, zu wissen, ob vonseiten des Unternehmens
mit GM eine Firmenstrategie gefahren wird, die da
heißt: Das Positive kommt dem amerikanischen Steuerzahler zugute, und das Negative wird in Deutschland angesetzt.
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich versuche einmal, eine
Frage herauszufiltern. Diese muss ich wiederum damit
beantworten, dass Sie sich auf Presseberichte beziehen.
Sie wissen aber, dass ich hier die Bundesregierung vertrete und § 30 Abgabenordnung beachten muss. Insofern
habe ich nicht das Recht, diese Presseberichte zu bestätigen oder zu dementieren. Das sind völlig andere Ebenen.
Ich betone noch einmal ausdrücklich: Als Vertreterin der
Bundesregierung habe ich nicht das Recht, Steuergeheimnisse in der Öffentlichkeit preiszugeben.
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht, will ich
zusätzlich darauf hinweisen, dass nicht ohne Grund Prüfung und Entscheidung in Sachen Bürgschaften - das
Gleiche gilt für den Bereich SoFFin - gemäß der Gesetzgebung dieses Hauses einem geheim tagenden Gremium
anvertraut werden, dem Finanzmarktgremium. Sie dürfen nicht vergessen: Wenn die Bekanntgabe von Steuergeheimnissen zu wirtschaftlichen Konsequenzen für ein
Unternehmen führen würde, würden Sie mich zu Recht
fragen, wie ich dazu komme, auf die Geschäftsentwicklung eines Unternehmens Einfluss zu nehmen, indem ich
hier Steuergeheimnisse preisgebe.
Zweite Nachfrage? - Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, vielleicht finden wir einen gemeinsamen Nenner, was die Informationsfreigabe vonseiten des BMF anbelangt. Dazu gehört die Frage, inwieweit
sich beispielsweise die Änderungen im Körperschaftsteuerrecht für die Adam Opel GmbH ausgewirkt haben.
Vielleicht können Sie etwas dazu sagen, ob sich ab dem
Jahr 2005 aufgrund von Steuerrechtsänderungen die Situation verändert hat. Wir wissen ja, dass Gewinne gemacht wurden, und unser Interesse muss es sein, dass die
anfallenden Steuern beim Fiskus in Deutschland bleiben
und nicht in die Vereinigten Staaten abfließen.
Wenn wir uns darauf einigen, dass wir hier über die
geänderte gesetzliche Grundlage und nicht über Fragen
im Zusammenhang mit einem einzelnen Unternehmen
sprechen, dann kann ich Ihnen sagen: Es ist sicherlich
klar, dass Regelungen der Unternehmensteuerreform
- ich nenne beispielsweise das Stichwort „Verbreiterung
der Bemessungsgrundlage“ - dazu führen können, dass
Unternehmen ihre Verluste, die zum Beispiel durch konzerninterne Verrechnungspreise verursacht werden, nicht
mehr in der Form steuerlich geltend machen können. Ich
betone allerdings noch einmal: Ich darf über die kon22670
krete Situation eines einzelnen Unternehmens keine
Auskunft geben.
Ich rufe nun die Frage 14 der Kollegin Christine
Scheel auf:
Ist es zutreffend, dass das gesamte Währungsrisiko von
der Adam Opel GmbH getragen werden musste, oder haben
andere Gründe wie konzerninterne Verrechnungspreise und
Gebühren für die Nutzung von Patenten und Lizenzen für einen steuerlich relevanten Verlust gesorgt, und hat sich infolge
der Unternehmensteuerreform ab 2008 daran etwas relevant
geändert?
Frau Staatssekretärin, bitte schön.
Vielen Dank. - Ich muss Ihnen jetzt in anderen Worten die gleiche Antwort geben, nämlich dass sich Ihre
Frage auf Steuergeheimnisse eines einzelnen Unternehmens bezieht. Ich bin, wie gesagt, nicht befugt, Ihnen
hierüber konkrete Auskünfte zu erteilen.
Nachfrage? - Bitte schön.
Vielleicht wissen Sie isoliert, ob die Währungsrisiken
in Deutschland oder in den Vereinigten Staaten getragen
wurden?
Frau Kollegin, ich kann nicht erkennen, wieso dies
isoliert dargestellt werden könnte. „Isoliert“ heißt: auf
das Unternehmen bezogen. Dies bedeutet, dass ich Ihnen
wieder sagen muss, dass ich über Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse eines konkreten Unternehmens keine
Auskünfte geben kann. Ich wäre, ehrlich gesagt, sehr
froh, wenn wir zu einer allgemeinen Frage kommen
könnten, damit ich Ihnen eine konkrete Auskunft geben
kann.
Dann haben Sie jetzt die Möglichkeit, eine allgemeine
Frage zu stellen.
Ich weiß nicht, ob ich die Frau Staatssekretärin mit
meiner Frage jetzt beglücke - aber das ist mir ziemlich
egal -: Frau Staatssekretärin, können Sie ausschließen,
dass es in den letzten Jahren unter dem Strich zu mehr
Rückerstattungen als zu Zahlungen gekommen ist?
Wenn ich dies ausschließen würde, würde ich Ihnen
eine konkrete Information geben. Insofern kann ich dies
weder ausschließen noch bestätigen.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.
Damit sind die mit den dringlichen Fragen in Zusammenhang stehenden Fragen beantwortet.
Wir kommen nun zu dem normalen Ablauf der Fragestunde.
Zunächst kommen wir zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Fragen
1 und 2 der Kollegin Dr. Martina Bunge sollen schriftlich beantwortet werden.
Gleiches gilt für die Frage 3 der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Thomas Rachel zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
auf:
Weshalb basierte die Auskunft des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung, BMBF, gegenüber dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit,
BMU, der von der Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe,
WAK, an das Atommülllager Asse II abgegebene Müll gehe
nicht auf Energieversorgungsunternehmen, EVU, zurück, auf
dem Asse-Statusbericht des Niedersächsischen Ministeriums
für Umwelt und Klimaschutz vom 1. September 2008 ({0}), wo das BMBF
doch seit jeher wusste, woher der Input aller die Asse betreffenden WAK-Kampagnen stammt ({1}), und, ganz konkret, welche Formulierung hat
das BMBF bei seiner Auskunft gegenüber dem BMU verwendet?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Zu der von Ihnen aufgeworfenen Frage, sehr geehrte
Frau Kollegin, möchte ich Ihnen antworten, dass die
Aussage meines Kollegen, des Parlamentarischen Staatssekretärs Michael Müller, in der Fragestunde vom
15. Oktober 2008 nach wie vor richtig ist. Seine damalige Aussage erklärt sich folgendermaßen: Die von der
Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe in das Atommülllager Asse angelieferten Abfälle sind bei der Wiederaufbereitung als Betriebsabfall der WAK entstanden und
gingen insofern in das Eigentum und damit in die Verantwortung der öffentlichen Hand über. Dies beruht insbesondere auf der Tatsache, dass die damalige Gesellschaft für Kernforschung, die GfK - das ist das heutige
Forschungszentrum Karlsruhe -, die WAK im Auftrag
des Bundes als Prototypanlage mit dem Ziel geplant und
errichtet hat, eine sichere Betriebsführung nachzuweisen,
die chemischen und technischen Prozesse der Wiederaufarbeitung zu optimieren und somit eine industrielle NutParl. Staatssekretär Thomas Rachel
zung dieser Technik zu etablieren. Unabhängig von der
Herkunft der wiederaufbereiteten Brennelemente wurde
der seinerzeitige Betrieb der WAK nach damaliger - übrigens parteiübergreifender - allgemeiner Sichtweise dem
öffentlichen Interesse zugeordnet. Darüber hinaus hätte
man mit einer Wiederaufarbeitung von Brennelementen
allein aus Forschungsreaktoren den Nachweis einer Nutzungsmöglichkeit dieser Technik nicht führen können.
Daher stammt der von der WAK an die Schachtanlage
Asse II abgegebene Abfall zwar aus der Wiederaufarbeitung von Brennelementen der EVUs, ist aber gleichwohl
nicht diesen, sondern der öffentlichen Hand zugeordnet.
Im Statusbericht des Niedersächsischen Ministeriums
für Umwelt und Klimaschutz wird dies ebenso festgestellt.
Nachfrage, Frau Kotting-Uhl? - Bitte.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär
Rachel, es bleibt meiner Meinung nach eine Nichtübereinstimmung zwischen der Aussage einerseits, die
Staatssekretär Müller damals mir gegenüber aufgrund
der ihm vom Bundesforschungsministerium gegebenen
Aussage gemacht hat, nämlich dass der Müll, der aus der
Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe in die Asse eingeliefert worden sei, nicht aus Atomkraftwerken stamme,
und andererseits dem Inhalt des Inventarberichts von
2002, in dem Kampagnen aus dem Atomkraftwerk
Obrigheim in die Wiederaufarbeitungsanlage benannt
werden und dargestellt wird, dass dieser ursprünglich
aus Obrigheim stammende Müll dann als Müll aus der
Wiederaufarbeitungsanlage in die Schachtanlage Asse
geliefert worden ist. Können Sie diesen Widerspruch
aufklären?
Frau Kollegin, einen Widerspruch in der von Ihnen
beschriebenen Art und Weise sehe ich nicht. Mein Kollege, Staatssekretär Müller, hat erklärt, dass das Aktivitätsinventar, also das radioaktive Material, ganz überwiegend
aus der WAK stammt. Dies ist korrekt beschrieben. Die
Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe ist im Eigentum
und in der Verantwortung der öffentlichen Hand gewesen. Dies war auch die klare Meinung der damaligen
Forschungsminister und auch parteiübergreifend die allgemeine Sicht.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär
Rachel, was Sie mir jetzt als Antwort gegeben haben,
war keine Antwort auf meine Frage. Hierüber gibt es
keinen Dissens. Natürlich wissen wir beide und alle anderen, die sich damit befassen, dass der Großteil des
Atommülls - nicht vom Volumen her, aber von seinem
Potenzial der Radioaktivität her - in der Asse aus der
Wiederaufbereitungsanlage kommt. Das ist kein Geheimnis, darüber brauchen wir hier nicht zu reden. Weder meine damalige Frage noch meine heute schriftlich
eingereichte Frage, die Sie mir jetzt beantwortet haben,
noch meine mündliche Frage beziehen sich darauf, ob
dieser Atommüll aus der Wiederaufbereitungsanlage
kommt oder ob die Wiederaufbereitungsanlage eine öffentliche Forschungsanlage ist; das wissen wir alle.
Die Frage zielt auf den Ursprung dieses Atommülls.
Woher kam der Atommüll in die Wiederaufbereitungsanlage? Die damalige Aussage war - Staatssekretär
Müller war nur der Übermittler der Nachricht, die er aus
dem Forschungsministerium bekam -: Nein, dieser
Atommüll kommt nicht aus Atomkraftwerken. In die
Asse wurde nichts über die Wiederaufbereitungsanlage
Karlsruhe eingelagert, was ursprünglich aus Atomkraftwerken kam. - Das widerspricht - das muss ich leider
wiederholen - dem Inventarbericht 2002. Diesen Widerspruch möchte ich nach wie vor gerne aufgeklärt haben.
Auch durch die Wiederholung eines vermeintlichen
Widerspruchs entsteht kein wirklicher Widerspruch.
Staatssekretär Müller hat korrekt geantwortet: Die in die
Asse eingelieferten Bestandteile stammen aus der Wiederaufbereitungsanlage. Sie sind in dem Moment, in
dem sie in der WAK entstanden sind, in den Besitz des
Bundes gelangt. Insofern ist die Frage, woher sie stammten, an dieser Stelle rechtlich nicht relevant. Entscheidend ist, dass sie im Eigentum des Bundes seit dem Moment sind, in dem sie in der WAK angefallen sind.
Insofern ergibt sich die rechtliche Verpflichtung des
Bundes.
Jetzt hat die Kollegin Brigitte Pothmer eine Frage.
Herr Staatssekretär, können Sie uns erläutern, wie es
zu erklären ist, warum der Bundesumweltminister in
vielen Presseveröffentlichungen und überall da, wo er
öffentlich auftritt, immer wieder behauptet, dieser Müll
sei von den EVUs produziert worden und deswegen
müssten sich diese als Verursacher auch an den Kosten
für die Sanierung der Asse in größerem Umfang beteiligen, wenn doch der Müll aus der öffentlichen Hand
stammt, wie Sie hier deutlich sagen?
Zunächst möchte ich feststellen: Sie haben jederzeit
die Gelegenheit, den Bundesumweltminister oder das
Bundesumweltministerium zu diesen Äußerungen zu befragen. Ich weise aber ausdrücklich darauf hin, dass die
Staatssekretärin Klug aus dem Bundesumweltministerium in einer der letzten Fragestunden hier im Bundestag
klar formuliert hat: Für die Bundesregierung ist es unstreitig, dass es keine rechtliche Handhabe gibt, den
EVUs für die in der Asse eingelagerten Abfälle 30 Jahre
später rückwirkend neue Kosten in Rechnung zu stellen.
Das Wort zur nächsten Frage geht an die Kollegin
Cornelia Behm.
Herr Staatssekretär, ich möchte gerne wissen: Welche
Mittel zur Aufbereitung des atomaren Abfalls sind der
öffentlichen Hand mit den Materialien übergeben worden, die in die Wiederaufbereitungsanlage Karlsruhe zur
Wiederaufbereitung gelangt sind?
Alles, was von den verschiedenen Beteiligten zur
Wiederaufarbeitung an die Wiederaufarbeitungsanlage
in Karlsruhe gegeben wurde, wurde im Statusbericht
klar zugeordnet. Sie können die Zuordnung den
Seiten 102 und 103 des entsprechenden Statusberichts
entnehmen.
({0})
Es gibt auch eine Frage der Kollegin Dr. Maria
Flachsbarth.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, dass die
Problematik, mit der wir uns gerade beschäftigen, keine
wirklich neue Problematik ist? Wenn ja: Wie lange beschäftigt das Thema „Unterbringung von schwach- und
mittelradioaktiven Abfällen in der Schachtanlage Asse“
die Bundesregierung schon? Könnten Sie mir bitte darüber Auskunft geben, wie die letzte Bundesregierung,
insbesondere das Bundesumweltministerium, mit dieser
Fragestellung umgegangen ist?
({0})
Auch wenn ein Betreiberwechsel stattgefunden hat, ist
festzustellen, dass die oberste Strahlenschutzbehörde seit
Menschengedenken - jedenfalls, solange ich das verfolge - dem Bundesumweltminister untersteht.
({1})
Die Zuständigkeit haben Sie korrekt beschrieben. Das
Bundesamt für Strahlenschutz spielt eine ganz besonders
wichtige Rolle. Durch den Übergang der Verantwortung
vom BMBF auf das Bundesumweltministerium zum
1. Januar 2009 hat es neue Verantwortung bekommen.
Das BMBF versucht selbstverständlich, das BMU bei
dieser Aufgabenerfüllung begleitend zu unterstützen.
Sie fragten nach der generellen Einordnung. Ich will
uns alle an dieser Stelle daran erinnern, dass die friedliche Nutzung der Kernkraft ein wesentliches Element der
Modernisierungspolitik der sozial-liberalen Koalition
unter Willy Brandt und Helmut Schmidt gewesen ist.
Damals gehörte die Herstellung eines Kreislaufs radioaktiver Brennstoffe dazu. In diesem Zusammenhang
setzte man auf die Wiederaufbereitung in der WAK.
Diesbezüglich bestand über die vielen Regierungen hinaus Kontinuität. Das war übrigens auch zwischen allen
damals im Bundestag vertretenen Parteien Konsens. Der
eine oder andere kann sich das heute vielleicht nicht
mehr vorstellen, aber in den ausgehenden 60er- und in
den 70er-Jahren wurde die Kernkraft als wichtige Zukunftstechnologie angesehen. Die Erforschung der Wiederaufbereitung und die Herstellung einer funktionsfähigen Wiederaufbereitungsanlage wurden als öffentliche
Aufgaben angesehen. Darum hat die WAK als öffentliche Einrichtung diese Aufgabe übernommen. Der Beschluss, der im Konsens gefasst wurde, ist von den damals zuständigen Fachministern - das waren Horst
Ehmke und Hans Matthöfer - umgesetzt worden.
Ich rufe die Frage 5 der Kollegin Kotting-Uhl auf:
Würden das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie, BMWi, das Bundesministerium
für Bildung und Forschung, BMBF, und das Bundesministerium der Finanzen, BMF, es jeweils grundsätzlich begrüßen
oder nicht begrüßen, wenn die Energieversorgungsunternehmen sich an den Sanierungs- und Schließungskosten für das
Atommülllager Asse II beteiligten - vergleiche Aussage der
Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Astrid Klug, vom
4. März 2009, hierzu gebe es in der Bundesregierung unterschiedliche Auffassungen -, und inwiefern vertritt die gesamte
Bundesregierung - insbesondere auch das BMBF - die Position, dass 74 Prozent des radioaktiven Inventars in der Asse direkt oder indirekt den Kernkraftwerken zugeordnet werden
können?
Frau Kollegin Kotting-Uhl, auf Ihre Frage darf ich
wie folgt antworten: Die Kosten für die Stilllegung der
Asse wurden bislang vom Bund getragen; das ist Ihnen
bekannt. Für die Einordnung in den aktuellen politischen
Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass
auch in der aktuellen Novelle zum Atomgesetz in § 57 b
festgestellt wird, dass der Bund die Kosten für die Stilllegung der Asse trägt. Das zur Einsortierung des aktuellen Diskussionsstandes.
Sie haben darüber hinaus nach der Darstellung in Prozent gefragt. Von den 90 Prozent der Aktivität des radioaktiven Inventars - also nicht des Abfallgebindes in der
Asse -, die auf die WAK zurückgehen, stammen 80 Prozent von Sekundärabfällen aus Wiederaufarbeitungsleistungen der WAK für die EVUs. Mithin sind 71 Prozent
des radioaktiven Inventars in der Asse Sekundärabfälle
aus der Wiederaufbereitung von Brennelementen. Hinzu
kommt, dass circa 3 Prozent des radioaktiven Inventars
direkt von den Kernkraftwerksbetreibern in die Schachtanlage Asse II als eigener Abfall eingelagert wurden.
Nachfrage? - Bitte.
Danke schön, Herr Präsident. - Es geht weniger um
eine Nachfrage als um die Wiederholung meiner Frage,
die nicht beantwortet wurde. Ich lese sie Ihnen vor:
Würden das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, BMWi, das
Bundesministerium für Bildung und Forschung,
BMBF, und das Bundesministerium der Finanzen,
BMF, es jeweils grundsätzlich begrüßen oder nicht
begrüßen, wenn die Energieversorgungsunternehmen sich an den Sanierungs- und Schließungskosten für das Atommülllager Asse II beteiligten …?
Meine Frage war nicht, was wir auf Antrag der Koalitionsfraktionen mit der Novelle zum Atomgesetz beschlossen haben. Mir ist sehr wohl bewusst, was wir dort
beschlossen haben; denn ich war an der Debatte beteiligt. Meine Frage bezog sich auf die Einschätzung bzw.
die eventuell unterschiedlichen Einschätzungen der Ministerien.
Ich will als Hinweis noch ein Zitat der Staatssekretärin Klug aus der Fragestunde vom 4. März 2009 anführen:
Die Frage, ob sich die EVUs wegen der beschriebenen Umstände an den Kosten der Stilllegung der
Asse beteiligen sollten, obwohl sie rechtlich nicht
dazu herangezogen werden können, wird innerhalb
der Bundesregierung unterschiedlich beurteilt.
Frau Kollegin, lassen Sie mich zunächst festhalten,
was unstreitig ist. In der Bundesregierung ist unstreitig,
dass es keine rechtliche Handhabe gibt,
({0})
die EVUs für in der Asse entstandene Kosten heranzuziehen. Dies findet seinen Ausdruck in der aktuellen Novelle zum Atomgesetz. Frau Kollegin Klug hat dies übrigens, wie ich glaube, fünfmal in entsprechenden
Antworten in der letzten Fragestunde erläutert.
Bundesumweltminister Gabriel hat darüber hinaus
gesagt, dass es eine moralische Verantwortung der EVUs
gebe; dies ist die Position von Herrn Gabriel. Er hat angekündigt, darüber Gespräche mit den EVUs zu führen.
Diese gilt es abzuwarten.
Weitere Nachfrage?
Ja, danke schön. - Wenn das BMU nun plant, Gespräche zu führen, möchte ich das BMBF an dieser Stelle
fragen, ob es nach dem öffentlichen Bekanntwerden des
Asse-Skandals im Sommer 2008 Gespräche mit den
EVU darüber geführt hat, wie man mit dem Asse-Skandal oder auch der Kostenfrage umgehen soll.
Die Frage kann ich Ihnen so aus der Hand nicht beantworten. Die Frage der Kosten haben wir rechtlich geprüft. Das Ergebnis bleibt - das hat Ihnen Staatssekretärin Klug in der letzten Fragestunde gesagt, und das sage
ich Ihnen heute -: Es gibt rechtlich keinerlei Handhabe.
({0})
Frau Kotting-Uhl, aber nicht jetzt, sondern in der
nächsten Fragestunde.
({0})
Ihr Fragerecht ist erschöpft.
Jetzt kommen wir zur Nachfrage der Kollegin Dr.
Maria Flachsbarth.
Herr Staatssekretär, auch ich will meine Frage von
vorhin noch einmal aufgreifen. Ich hoffe, Sie geben mir
recht, wenn ich sage, dass die Information über den Zustand der Asse und auch die Frage der Gebührenträger
- wer, wann, wo und wofür gezahlt hat - nicht vollständig neu sind. Vielmehr sind das Tatsachen, die man
schon vor einigen Jahren - schon vor zehn Jahren - sehr
wohl hätte kennen können, wenn man es denn gewollt
hätte. Deshalb noch einmal ganz konkret: Was hat die
Vorgängerregierung bezüglich der Sanierung der Asse
unternommen? Was hat insbesondere der oberste Strahlenschützer, der Bundesumweltminister - das Ministerium war damals, wie ich mich schwach erinnere, in grüner Hand -, getan, um die Zustände in der Asse, die wir
alle gemeinsam zu Recht beklagen, zu verbessern?
({0})
Ich stimme Ihnen zu, Frau Kollegin, dass sich am Zustand der Asse, aber auch an der Frage der Gebührenträger nichts Grundlegendes geändert hat. Insofern glaube
ich, dass mancher, der heute bei diesem Thema lautstark
argumentiert, klug beraten ist, erst einmal zu überlegen,
in welcher Art und Weise er in der Zeit der eigenen Verantwortung dort agiert hat. Dies ist nicht immer der Fall.
Unabhängig davon glaube ich, dass wir von der Öffentlichkeit daran gemessen werden, ob wir ein geeignetes
Konzept zur Schließung der Asse finden, mit dem wir sicherstellen, dass für die in der Umgebung lebende Bevölkerung keinerlei Probleme entstehen.
Wie Sie wissen, prüft das Bundesumweltministerium,
nachdem das BMBF Vorarbeiten geleistet hat, in dieser
Legislaturperiode verschiedene Schließungskonzepte.
Ich gehe davon aus, dass der Bundesumweltminister, der
jetzt zuständig ist, dem Parlament das von ihm präferierte Konzept der Schließung zu einem geeigneten Zeitpunkt präsentieren wird.
Die Kollegin Brigitte Pothmer hat noch eine Frage. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich würde gerne wissen, ob das
Bundesforschungsministerium die politische Forderung
des Bundesumweltministers, die EVUs, also die Verursacher, an den Kosten der Schließung der Asse zu beteiligen, grundsätzlich unterstützt und ob es sich dafür einsetzt, diese Forderung, falls der Weg über nachgelagerte
Gebühren aufgrund rechtlicher Schwierigkeiten ausscheidet, auf anderem Wege zu erfüllen.
Aus Sicht des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung liegt die Verantwortung klar bei der WAK
und damit - da sie eine Einrichtung des Bundes gewesen
ist - beim Bund, für die Kosten der Einlagerung in die
Asse aufzukommen und die daraus entstehenden Konsequenzen zu tragen. Eine darüber hinausgehende rechtliche Verpflichtung gibt es nicht.
Ob Bundesfinanzminister Steinbrück freiwillige Leistungen Dritter an die Staatskasse ablehnen würde, weiß
ich nicht. Ich vermute, nein. Diese Frage sollten Sie allerdings direkt an den Finanzminister richten.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen
steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Alfred
Hartenbach zur Verfügung.
Die Frage 6 der Kollegin Gesine Lötzsch soll schriftlich beantwortet werden.
Wir kommen zur Frage 7 des Kollegen Hellmut
Königshaus:
Kann die Bundesregierung nach Einsichtnahme in das
Wortprotokoll der Beweisaufnahmesitzung des 1. Untersuchungsausschusses vom 22. Januar 2009 nunmehr bestätigen,
dass entgegen ihrer Darstellung in der Beantwortung meiner
schriftlichen Frage 14 auf Bundestagsdrucksache 16/12073
der Vertreter der Bundesanwaltschaft sich sehr wohl dahin gehend geäußert hat, dass auch das Festhalten eines Zivilisten in
dem US-Militärgefängnis in Mannheim, das nicht vom Truppenstatut gedeckt ist, keine Straftat sei - Zitat, Seite 48 des
Protokolls: „Selbst wenn es ein Verstoß gegen das NATOTruppenstatut gewesen wäre, sehe ich keine Straftat“ -, und
wie bewertet sie dies?
Lieber Herr Kollege Königshaus, Ihre Frage enthält
zwei Aussagen, die man auseinanderhalten muss.
Zur ersten Aussage. Sie unterstellen, dass in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre schriftliche Frage 14
auf Bundestagsdrucksache 16/12073 die Aussage des
Zeugen der Bundesanwaltschaft in der Beweisaufnahmesitzung des 1. Untersuchungsausschusses vom 22. Januar 2009 unzutreffend dargestellt ist. Diesen Vorwurf
weise ich mit aller Entschiedenheit zurück.
Ihre schriftliche Frage lautete - ich zitiere mit Ihrer
Erlaubnis, Herr Präsident -:
Teilt die Bundesregierung die im 1. Untersuchungsausschuss in der Sitzung vom 22. Januar 2009 geäußerte Auffassung der Bundesanwaltschaft, dass
eine Inhaftierung von Zivilisten, die nicht den USStreitkräften angehören, in dem US-Militärgefängnis in Mannheim ohne entsprechende Anordnung
eines deutschen Richters rechtmäßig wäre, und was
gedenkt sie andernfalls im Hinblick auf das Verfahren 3 BJs 23/06-2 in dienst- und/oder strafrechtlicher Hinsicht zu veranlassen?
Hierauf habe ich für die Bundesregierung nach Ausführungen zum NATO-Truppenstatut und vor Ausführungen
zu dem konkreten Sachverhalt, um den es in der Vernehmung ging, geantwortet - ich darf wieder zitieren -:
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der vom
1. Untersuchungsausschuss als Zeuge vernommene
Vertreter der Bundesanwaltschaft in der 113. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses am 22. Januar 2009 die in der Fragestellung unterstellte Aussage nicht getroffen hat.
An dieser Aussage hält die Bundesregierung fest.
Die entsprechende Passage auf Seite 48 des Protokolls des 1. Untersuchungsausschusses lautet - ich zitiere erneut, Herr Präsident -:
Wenn zu einem Militärgefängnis, das ja aufgrund des Truppenstatuts
betrieben wird, wo also Angehörige des Militärs
festgehalten werden dürfen, auf einmal Hinweise
auf Personen auftauchen, die dort nicht rechtmäßig,
weil nämlich gar nicht dem Truppenstatut unterfallend, festgehalten werden dürfen, haben Sie gemeint, da gäbe es keine Anhaltspunkte für eine
Straftat?
Zeuge Wolf-Dieter Dietrich: Selbst wenn es ein
Verstoß gegen das NATO-Truppenstatut gewesen
wäre, sehe ich keine Straftat.
Der Zeuge hat also gerade keine Aussage zur Rechtmäßigkeit des Festhaltens nach dem NATO-Truppenstatut getroffen. Dies hatten Sie, Herr Kollege Königshaus,
in Ihrer schriftlichen Frage aber unterstellt. Der Zeuge
hat sich lediglich mit der Frage einer möglichen Strafbarkeit befasst. Ich denke, ich darf hier von Jurist zu Jurist feststellen, dass zwischen Rechtmäßigkeit und Strafbarkeit schon ein Unterschied besteht.
Nun zu der zweiten Aussage in Ihrer Frage; sie betrifft die Äußerung des Zeugen zur Strafbarkeit. Der
Bundesanwalt hat sich bei seiner Vernehmung als Zeuge
an der von Ihnen in Ihrer Frage und nun auch von mir zitierten Stelle seiner Aussage dahin gehend geäußert,
dass er es nicht als Straftat ansehe, wenn Zivilisten in einem US-Militärgefängnis auf deutschem Boden unter
Nichteinbeziehung der deutschen Behörden festgehalten
werden. Auf die nochmalige intensive Nachfrage des
Kollegen Hartmann hat er dann aber, wie man sieht,
wenn man Seite 50/51 des Protokolls liest, eine solche
allgemeine Aussage vermieden. Er hat sich vielmehr auf
den konkreten Einzelfall bezogen, mit dem sich der Untersuchungsausschuss befasst hat: Das war die Aussage
eines Anwohners des US-Militärgefängnisses in Mannheim, er habe dort im Jahre 2002 oder 2003 erst- und
letztmalig drei Gefangene in orangefarbenen Overalls
gesehen. Zu diesem Einzelfall hat der Zeuge dargelegt,
warum die Bundesanwaltschaft nicht tätig geworden ist.
Insgesamt, lieber Kollege Königshaus, räume ich aber
ein, dass sich der Bundesanwalt bei seiner Vernehmung
als Zeuge missverständlich eingelassen hat.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Jetzt haben Sie
ein Florettgefecht zwischen zwei Juristen erlebt.
({0})
Da versteht man, warum die Rechtsfindung in Deutschland so außergewöhnlich schwierig ist.
Jetzt hat der Kollege Königshaus eine Nachfrage.
Vielen Dank. - Lieber Herr Staatssekretär, Ihre letzte
Aussage war die, auf die ich mich gefreut hatte. Die
Aussage des Zeugen war missverständlich unter der Voraussetzung, dass er eben nicht gemeint hat, dass der Tatbestand, der juristisch unter dem Begriff „Freiheitsberaubung“ zu subsumieren wäre, keinerlei Raum
offenlässt für eine Differenzierung zwischen rechtmäßig
und strafbar. Noch ist in Deutschland verboten, jemanden ohne Rechtsgrundlage seiner Freiheit zu berauben.
Darf ich um Ihre Frage bitten?
({0})
Deshalb die Frage: Bleiben Sie bei Ihrer Aussage,
dass er sich nur missverständlich ausgedrückt habe und
genau dies ausschließen wollte, oder glauben Sie, bei
dem, was missverständlich herübergekommen ist, wollte
er - genau umgekehrt - in Wirklichkeit sagen, dass dies
selbstverständlich strafbar sei? Was wäre denn nun nach
Ihrer Auffassung die richtige und klare Aussage gewesen?
Lieber Herr Kollege Königshaus, es steht mir nicht
an, Ihre Fragen im Untersuchungsausschuss zu kritisieren. Hätte ich dort als Bundesanwalt gestanden, hätten
Sie von mir allerdings eine andere Antwort bekommen.
Darum hatte ich ja gebeten.
Nun passen Sie gut auf: Sie berufen sich hier - ({0})
- Wir verstehen uns so gut, dass ich so etwas sagen darf.
Darüber müssen Sie sich nicht aufregen, Frau ScheweGerigk.
({1})
Wir haben jetzt hier keine freie Diskussion, sondern
eine Fragestunde, die nach den Spielregeln unserer Geschäftsordnung abläuft.
Sie wissen, dass ich das locker durchziehen würde.
Ich fahre fort: Wir haben eine Aussage eines Zeugen,
der, wenn ich mich richtig erinnere, an diesem US-Militärgefängnis spazieren gegangen ist, übrigens dem Zentralgefängnis der US-Streitkräfte für ganz Europa. Dort
hat er drei Menschen in Overalls gesehen; das Weitere
schenke ich mir. Daraus schließen Sie nun, es seien gefangene Zivilisten gewesen. Hier kann man einen ganzen Strauß von Möglichkeiten ins Auge fassen: Es können Kriegsgefangene gewesen sein. Das weiß ich nicht;
ich sage es nur einmal so.
({0})
Es können Zivilisten von irgendwoher gewesen sein,
aber auch Menschen aus dem zivilen Gefolge der USStreitkräfte. Außerdem können es auch Soldaten gewesen sein.
Angesichts eines solchen Straußes von Möglichkeiten
hätten Sie doch eigentlich erwarten können, dass Ihnen
der Bundesanwalt gesagt hätte: Sehr geehrter Herr
Königshaus, sagen Sie bitte etwas genauer, was Sie von
mir wissen wollen. Dann hätte er vielleicht theoretisch
sagen können: Wären es Kriegsgefangene gewesen,
könnte es vielleicht eine Straftat nach dem Völkerstraf22676
gesetzbuch gewesen sein. Sollten es aber Soldaten oder
Gefangene des zivilen Gefolges gewesen sein, wäre es
keine Straftat.
Alles, was ich sage, ist rein theoretisch.
Das war keine Antwort auf meine Frage.
Herr Kollege Hartenbach, das Publikum wird den
Sachverhalt kaum nachvollziehen können.
Das ist doch ganz klar: Er hat sich missverständlich
ausgedrückt, mehr nicht.
Sie müssten bei Ihrer nächsten Frage schon einmal
ganz konkret sagen, was Sie von mir hören wollen.
Es kann nicht sein, dass jetzt die Staatssekretäre den
Abgeordneten einen Auftrag geben, was sie fragen sollen. Die Abgeordneten stellen ihre Fragen aus eigener
Erkenntnis.
Ich wollte ihm nur helfen.
Bitte schön, Herr Königshaus, Ihre zweite Nachfrage.
Ich nehme diese freundliche Hilfestellung natürlich
gerne an, will aber doch auf eines hinweisen: Bei der
Frage nach der Tatbestandsmäßigkeit überprüft man normalerweise zunächst die Rechtslage - nach ihr hatte ich
gefragt -, und anschließend prüft man, ob darunter ein
bestimmter Sachverhalt zu subsumieren ist. Hier geht es
um die Frage des Tatbestandes. Hat der Bundesanwalt
nach Meinung der Bundesregierung die Auffassung vertreten, dass es strafbar sei, wenn es sich um Zivilisten
- also um einen Fall, der nicht dem Truppenstatut unterliegt - handelt und solche Menschen in diesem Militärgefängnis auf deutschem Boden ersichtlich gegen ihren
Willen und ohne rechtmäßige Mitwirkung deutscher Behörden festgehalten werden?
Herr Königshaus, Sie können nicht von mir verlangen, dass ich auf eine rein hypothetische Möglichkeit
- ich habe eben alle vier Möglichkeiten aufgezählt eine Antwort gebe.
Entschuldigung, ich habe nach der Rechtslage gefragt.
Nein, das kann ich nicht. Ich habe eben alle vier Möglichkeiten aufgezählt.
Das war die Antwort. - Ich rufe jetzt die Frage 8 auf:
Sieht die Bundesregierung nach den in der vorgenannten
Sitzung gemachten Zeugenaussagen im Fall der Coleman
Barracks den Verdacht einer noch nicht verjährten Straftat gegeben, und gedenkt sie, jetzt doch straf- oder dienstrechtliche
Maßnahmen einzuleiten?
Ich bitte Sie, zu berücksichtigen, dass die Zusatzfragen und die Antworten so formuliert werden, dass die
Öffentlichkeit sie verstehen kann.
({0})
- Ich bin ein schlichter Ökonom. Für mich ist es schwierig, dieser juristischen Sprache zu folgen, sofern ich dies
auf mich beziehen darf.
({1})
Nein, nein, ich habe Ihre Frage korrekt beantwortet. Ich sage es noch einmal: Auf hypothetische Fragen gebe
ich keine hypothetischen Antworten.
Ich bitte, nun die Frage 8 des Kollegen Königshaus zu
beantworten.
Sie werden sich nicht wundern: Die Bundesregierung
sieht keinen Anlass zu straf- oder dienstrechtlichen Maßnahmen. Daran ändert auch die Zeugenaussage in der
Beweisaufnahmesitzung des 1. Untersuchungsausschusses am 22. Januar 2009 nichts.
Mit Ihrer Frage zielen Sie auf die Aussage eines Anwohners des US-Militärgefängnisses Coleman Barracks
ab, der angegeben hat, er habe dort im Jahr 2003 - eventuell war es auch schon im Jahr 2002; das weiß man
nicht genau - drei Gefangene in orangefarbenen Overalls gesehen, die an Händen und Füßen zusammengekettet gewesen seien. Sie seien seiner Ansicht nach keine
US-Militärangehörigen gewesen, da sie, wie er sich ausdrückte, einer anderen Rasse angehörten als die US-Soldaten, die in Mannheim Dienst taten.
Die Bundesanwaltschaft war im Jahr 2006 - also drei
Jahre nach diesem angeblich beobachteten Vorfall - von
dem Anzeigeerstatter in einem bei ihr geführten Ermittlungsverfahren auf diesen Vorfall hingewiesen worden.
Dieses inzwischen eingestellte Ermittlungsverfahren
hatte den Verdacht zum Gegenstand, dass im US-Militärgefängnis in Mannheim in der Zeit von April bis Anfang September 2006 Personen gefangen gehalten, verParl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
nommen und gefoltert werden, die nicht der US-Armee
angehörten.
Einen Hinweis auf den Vorgang aus dem Jahr 2002
bzw. 2003 erhielt die Bundesanwaltschaft im November
2006 auch vom Bundeskriminalamt. Dieser Hinweis
ging auf denselben Anwohner des US-Militärgefängnisses in Mannheim zurück. Das Bundeskriminalamt bat
um Mitteilung, ob dieser neu mitgeteilte Sachverhalt zu
dem Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft gehöre. Dies hat die Bundesanwaltschaft verneint.
Die Bundesanwaltschaft ist im Jahr 2006, als sie der
Hinweis erreichte, unter Berücksichtigung aller ihr bekannten Umstände zu dem Ergebnis gelangt, dass dadurch kein Anfangsverdacht einer weiteren Straftat begründet war, für deren Verfolgung sie zuständig wäre.
Sie hat daher auch kein weiteres Ermittlungsverfahren
wegen des Sachverhalts eingeleitet. Die Bundesanwaltschaft hat außerdem keinen Anfangsverdacht für eine
Straftat gesehen, für deren Verfolgung eine Landesstaatsanwaltschaft zuständig gewesen wäre.
Der Sachverhalt ist übrigens ausführlich in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre schriftliche Frage 14
auf Bundestagsdrucksache 16/12073 dargestellt. Auf
diese Antwort möchte ich verweisen.
Die Beurteilung des Anfangsverdachts einer Straftat
obliegt übrigens nicht der Bundesregierung, sondern der
Bundesanwaltschaft als der zuständigen Staatsanwaltschaft. Sie richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, wie sie sich der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt
der Entscheidung darstellen.
Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis darf ich nun die
entsprechende Vorschrift zitieren.
Nein, Herr Staatssekretär, wir wollen hier keine Gesetzesvorlesung durchführen.
Es würde aber gut passen.
Es wurde ja nur gefragt, ob straf- oder dienstrechtliche Maßnahmen eingeleitet werden sollen. Darauf können Sie mit Ja oder Nein antworten.
Nein, das haben wir nicht vor. - Das Zitat hätte aber
dazugehört. Warum nicht?
Wir befinden uns hier nicht im Juristischen Seminar,
sondern im Deutschen Bundestag.
Nun gut, dann versuche ich es nachher noch einmal.
Ihre Nachfrage, Kollege Königshaus.
Herr Staatssekretär, dieser Vorfall hat sich ja zu einer
Zeit ereignet, als die Bundesregierung sehr umfangreiche Stellungnahmen zu Vorfällen abgegeben hat, bei denen orangefarbig gekleidete Menschen gegen ihren Willen an einem Ort festgehalten wurden, für den die
Bundesanwaltschaft nicht direkt zuständig ist.
Könnte es sein, dass sich die Bundesregierung in einem solchen Fall, der sich auf ihrem eigenen Boden ereignet, wesentlich intensiver darum kümmern müsste,
als einzig und allein festzustellen, sie habe keinen weiteren Anhaltspunkt als den, dass auch die Frankfurter
Stadtreinigung - so hat nämlich der Bundesanwalt begründet, warum er keine weiteren Ermittlungen angestellt habe - orangefarbene Overalls trägt? Ich möchte
aber hinzufügen, dass sie auch keine Hand- und Fußfesseln tragen und nicht im Gänsemarsch geführt werden.
Herr Königshaus, ich gebe zu, dass diese Äußerung
sicherlich nicht korrekt war. Aber ich darf Ihnen mitteilen, dass es auch in den US-Militärgefängnissen bei der
Inhaftierung der eigenen Gefangenen drei Sicherheitsstufen gibt und dass die als besonders gefährlich eingeschätzten eigenen Militärgefangenen ebenfalls orangefarbene Overalls tragen.
({0})
- Nein. Das habe ich Ihnen auf Ihre Frage hin mitgeteilt.
Weitere Nachfrage.
Herr Staatssekretär, wir haben nicht nur die Aussage
eines Zeugen, der diesen Vorfall beobachtet hat, sondern
darüber hinaus Zeugenaussagen, in denen konkret von
Folterungen berichtet wurde, sogar sehr dezidiert, sehr
klar und insbesondere unter Benennung des infrage
kommenden Täterkreises. Hält es die Bundesregierung
für richtig, dass keiner dieser Zeugen, die greifbar gewesen wären, befragt wurde, mit dem Argument, man suche einen bestimmten anderen Zeugen, den man nicht
mehr habe ausfindig machen können, und zwar aufgrund
der Aussage eines Mitarbeiters der amerikanischen Militärbehörde, der gerade zu denen gehörte, die unter Verdacht stünden, wenn es denn eine Straftat war?
Findet die Bundesregierung das richtig, und meint sie
nicht, dass weitere Nachforschungen erforderlich sind,
insbesondere da es sich hierbei auch um einen Verstoß
gegen das Völkerstrafrecht handeln könnte, der nicht
verjährt? Schließlich haben wir einen hohen moralischen
Anspruch, was Den Haag betrifft.
Herr Kollege, Sie hypothetisieren schon wieder. Ich
werde Ihre hypothetischen Fragen - Sie haben, glaube
ich, drei Konditionen genannt - nicht beantworten. Ich
kann Ihnen - um zur Sachlichkeit zurückzukommen nur so viel sagen: Der Zeuge, der die drei in den orangefarbenen Overalls gesehen haben will, wusste nicht einmal, in welchem Jahr das war, und hat sich erst drei
Jahre später bei der Polizei gemeldet.
({0})
- Nein, Moment. Es ist rein hypothetisch, was Sie sagen.
Wir reden jetzt darüber, ob der Bundesanwalt etwas Falsches gesagt hat. Darum ging es in Ihrer Frage.
({1})
- Doch. Das ist der Gegenstand der heutigen mündlichen
Frage. - Der Anwohner hat vergeblich versucht, weitere
Zeugen zu finden.
Auch wenn es der Herr Präsident bzw. möglicherweise jetzt auch die Frau Präsidentin mir untersagen,
verweise ich auf § 152 StPO, in dem klar geregelt ist,
dass ein Ermittlungsverfahren dann einzuleiten ist, wenn
zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Aus
meiner eigenen Erfahrung als Staatsanwalt hätte ich erhebliche Zweifel, auch wenn ich es nicht bis ins Letzte
geprüft habe.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung
der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette
Kressl zur Verfügung.
Die Frage 9 der Kollegin Veronika Bellmann wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 10 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
Wie viele Grundstücke mit baulichen Zeugnissen der
deutsch-deutschen Teilung in Brandenburg werden derzeit
von der Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH, BVVG,
verwaltet, und wie plant die Bundesregierung mit diesen
Grundstücken und den darauf befindlichen Bauwerken umzugehen?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Kollegin, sofern unter Grundstücken mit baulichen Zeugnissen der deutsch-deutschen Teilung Grundstücke im
Bereich der ehemaligen Grenze, die zum Beispiel mit
Überwachungstürmen und Grenzabfertigungsanlagen
bebaut sind, zu verstehen sind, verfügt die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH - im Folgenden nenne
ich sie BVVG - lediglich über das sogenannte Panzerdenkmal in Kleinmachnow. Dies könnte vom Land
Brandenburg oder der Gemeinde Kleinmachnow übernommen werden.
Ihre Zusatzfragen.
Vielen Dank. - Ich bin erstaunt, dass es wirklich nur
um das eine Objekt geht. Ich würde gerne wissen, welche konkreten Festlegungen vonseiten der Bundesregierung für den Erhalt dieses Objektes bei Verkauf oder Abgabe an Land und Kommune vorgesehen sind.
Ich möchte auf den ersten Teil Ihrer Frage eingehen,
um das Ganze deutlich zu machen. Ich hatte meine Ausführungen auf den Bereich der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze beschränkt. Wenn es darum geht, inwieweit die BVVG in Brandenburg außerhalb des Bereichs
der ehemaligen Grenze über bauliche Zeugnisse der
deutsch-deutschen Teilung verfügt, ist eine besondere
Recherche notwendig. Diese wäre aber in der Kürze der
Zeit nicht machbar gewesen. Daher kann ich dazu keine
Aussage machen - nicht, dass der Eindruck entsteht,
dass ich Ihre Frage nicht zur Gänze beantworten will.
Zu Ihrer Frage nach dem Umgang der Bundesregierung mit der genannten Liegenschaft: Da die BVVG dieser Liegenschaft keinen positiven materiellen Wert beimisst - ich weiß, dass es auch andere Werte gibt -, wäre
eine unentgeltliche Abgabe ausnahmsweise möglich.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Möglicherweise hat das besagte Objekt keinen materiellen Wert. Aber in diesem konkreten Fall - ich kenne
ihn - handelt es sich um ein in die Denkmalliste des
Landes Brandenburg eingetragenes Denkmal. Meine
Frage lautet daher: Gibt es bei einem Verkauf oder einer
Abgabe Festlegungen zum Erhalt solcher Objekte?
Ich kann keine Aussage zur brandenburgischen
Rechtslage machen. Was bei einer Abgabe oder einem
Verkauf geschieht, hängt von den konkreten Verhandlungen und Vereinbarungen ab. Ich habe vorhin gesagt, dass
wir uns das vorstellen könnten. Aber bis gestern lag meines Wissens noch keine konkrete Anfrage vor.
Die Fragen 11 und 12 des Kollegen Jürgen Koppelin
werden schriftlich beantwortet, ebenso wie die Frage 15
des Kollegen Hans-Christian Ströbele.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick auf:
Von welchen Staaten oder Territorien, in denen die Commerzbank inklusive ihrer Tochter Dresdner Bank tätig ist, hat
die Bundesregierung - bitte auch jeweils Anzahl der Angestellten und Höhe des Anlagevolumens angeben - Kenntnis?
Bitte, Frau Kressl.
Sehr geehrter Herr Kollege Schick, nach Kenntnis der
Bundesregierung sind Commerzbank oder Dresdner
Bank in den folgenden Staaten tätig: USA, Luxemburg,
Polen, Großbritannien, Irland, Volksrepublik China, Singapur, Tschechien, Russland, Japan, Ukraine, Spanien,
Ungarn, Italien, Frankreich, Belgien, Niederlande,
Schweiz, Südafrika, Liechtenstein, Slowakei, Österreich, Vereinigte Arabische Emirate, Brasilien, Gibraltar,
Indien, Kanada, Monaco und Malaysia.
Sie haben zusätzlich nach den einzelnen Bilanzsummen und der Anzahl der Angestellten in den verschiedenen Staaten gefragt. Dabei muss ich auf § 9 des KWG
verweisen, wonach es sich hierbei grundsätzlich um vertrauliche bankinterne Kennzahlen handelt, die wir hier
nicht weitergeben können.
Unter den von Ihnen genannten Ländern bzw. Territorien befinden sich einige, mit denen die Bundesregierung durchaus öffentlich darüber diskutiert, wie mit den
Steuergesetzen und dem Bankgeheimnis umzugehen sei.
Mich interessiert, wie die Bundesregierung die Tatsache
bewertet, dass eine Bank wie die Commerzbank - inklusive ihrer Tochterunternehmen -, an der der Staat mit
25 Prozent plus einer Aktie sowie in weiterem Umfang
mit einer stillen Einlage beteiligt ist, in diesen Ländern
bzw. Territorien tätig ist und ob die Bundesregierung gedenkt, mit ihren Vertretern im Aufsichtsrat Maßnahmen
zu ergreifen und Aktivitäten zu entfalten.
Grundsätzlich lege ich Wert darauf, deutlich zu machen, dass die Tatsache, dass die Commerzbank auch in
solchen Staaten aktiv ist, nicht bedeutet, dass sie Steuerhinterziehung ihrer Kundschaft unterstützt. Ich glaube,
das noch einmal festzuhalten ist wichtig, weil leicht eine
Unterstellung in die Fragestellung implementiert werden
kann. Sie wissen auch, dass dies regelwidrig wäre und
entsprechende Konsequenzen zur Folge hätte.
Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Ich möchte da noch einmal konkret nachfragen. Die
Commerzbank-Tochter Dresdner Bank wirbt auf ihren
Webseiten mit den attraktiven Steuergesetzen, beispielsweise in Monaco, und weist darauf hin, dass ihre Angestellten sich dort strikt an das Bankgeheimnis gebunden
sehen. Würden Sie eine solche Geschäftspolitik einer
Bank, die sich teilweise im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland befindet, für gut heißen?
Herr Dr. Schick, ich vermute, Sie zielen mit Ihrer
Frage auch darauf ab, wie die Vertreter, die die Bundesregierung in den Aufsichtsrat entsenden wird - ich betone „entsenden wird“, weil wir das formal noch nicht
vollziehen können -, auf diese Frage eingehen werden.
Ich gehe davon aus, dass die Vertreter, die von der Bundesregierung entsandt werden, im Rahmen der grundsätzlichen Leitlinien - nicht des operativen Geschäfts; da
muss man beim Aufsichtsrat unterscheiden - pflichtgemäß auch diese Fragen aufgreifen werden. Ich kann
aber, darf und werde nicht das konkrete Verhalten dieser
Vertreter entsprechend vorwegnehmen.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Dr. Gerhard
Schick auf:
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von der Betreuung deutscher Steuerpflichtiger durch die Commerzbank
in Gebieten, die nicht die Standards der OECD für Transparenz und Informationsaustausch in Steuerfragen einhalten,
und welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um
Aktivitäten der Commerzbank in diesen Steueroasen zu unterbinden?
Diese Frage, die sich auf den gleichen Sachverhalt bezieht wie die vorherige, ist sehr allgemein formuliert.
Dazu können wir sagen: Wir haben keine konkreten
Kenntnisse darüber, in welcher Form Steuerpflichtige
betreut werden. Wir gehen allerdings - da will ich auf
die Aussage von vorhin zurückkommen - davon aus,
dass weder die Commerzbank noch andere Banken ihre
Kunden bei Steuerhinterziehung unterstützen oder Beihilfe zur Steuerhinterziehung leisten. Ich muss davon
ausgehen, weil, wie betont, alles andere sowohl regelwidrig als auch - um das ganz deutlich zu sagen - nicht
zu akzeptieren wäre.
Ihre Zusatzfrage.
In einem Bericht einer Schweizer Zeitung, des TagesAnzeigers, wird darüber berichtet, dass Schweizer Kunden in Filialen der Dresdner Bank in Deutschland eine
Beratung erfahren, die ihnen durchaus dabei helfen
könnte, Steuerhinterziehung zu betreiben. Jetzt gibt es
gerade einen Konflikt, im Rahmen dessen die Bundesrepublik Deutschland der Schweiz und Schweizer Banken vorwirft, Selbiges mit deutschen Steuerpflichtigen
zu tun. Wie bewerten Sie diesen Sachverhalt vor dem
Hintergrund genau dieser Forderung der Bundesregierung?
Ich will zunächst noch einmal sehr deutlich machen,
dass alle Maßnahmen, die rein hypothetisch - ich sage
nochmals: ich unterstelle das keiner Bank und kann das
auch keiner Bank unterstellen - zu einer Unterstützung
von Steuerhinterziehungen führen würden, von uns nicht
akzeptiert werden können. Über die von Ihnen angesprochene konkrete Frage hinaus, auch was die von der Bundesregierung entsandten Vertreter im Aufsichtsrat angeht, die ich schon vorhin beantwortet habe, will ich
deutlich machen, dass in der Bundesregierung durchaus
zu Recht darüber diskutiert wird, inwieweit eine Gesetzgebung dazu beitragen kann, Steuerhinterziehung und
Geschäfte mit Steueroasen schwieriger zu gestalten.
In § 5 der Finanzmarktstabilisierungsfondsverordnung heißt es, dass an Unternehmen, die Stabilisierungsmaßnahmen in Anspruch nehmen, Anforderungen gestellt werden sollen, um eine solide und umsichtige
Geschäftspolitik zu gewährleisten. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass zu einer soliden und umsichtigen
Geschäftspolitik auch gehört, sämtliche Aktivitäten, die
einer Steuerflucht deutscher Steuerpflichtiger in entsprechenden Territorien Vorschub leisten könnten, zu unterlassen?
Die Überzeugung der Bundesregierung, dass solche
Maßnahmen nicht unterstützt werden dürfen, kann sich
nicht nur auf das Finanzmarktstabilisierungsgesetz beziehen. Es ist vielmehr völlig klar, dass die Bundesregierung nie akzeptieren würde - es geht nicht nur um die
Auffassung der Bundesregierung, sondern das ist auch
eine rechtliche Frage -, dass Hilfe zur Steuerhinterziehung geleistet wird. Ich vermute, dass sich die Frage
darauf bezieht, inwiefern in die Verträge, die von dem
SoFFin ausgehandelt werden, entsprechende Maßnahmen konkret hineingeschrieben werden. Das ist eine
Frage - das wissen auch Sie -, die in dem entsprechenden 10-a-Gremium jeweils im konkreten Fall besprochen werden muss.
Die Frage 18 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann wird
schriftlich beantwortet. Wir sind deshalb am Ende dieses
Geschäftsbereichs. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin,
für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie auf. Die Fragen beantwortet Frau Parlamentarische Staatssekretärin
Dagmar Wöhrl.
Die Fragen 19 und 20 des Kollegen Ernst Burgbacher
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 21 der Kollegin Irmingard ScheweGerigk auf:
Wie begründet die Bundesregierung die Entscheidung
vom Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, den Lenkungsrat
Unternehmensfinanzierung ohne Berücksichtigung des im
Bundesgremienbesetzungsgesetz verankerten Gebots der
gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern besetzt
zu haben, und wie ist diese Entscheidung mit der Forderung
der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Ursula von der Leyen, nach einem gleichberechtigten Zugang von Frauen zu Führungspositionen in der öffentlichen Verwaltung vereinbar?
Ich beantworte die Frage wie folgt: Die acht vom
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg, für den Lenkungsrat
Unternehmensfinanzierung berufenen Mitglieder wurden im Hinblick auf ihre Unabhängigkeit und ihre besonderen Erfahrungen in Wirtschafts- und Finanzfragen
ausgewählt. Hierbei wurde auch das im Bundesgremienbesetzungsgesetz verankerte Gebot der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern berücksichtigt.
Die Bemühungen, für dieses Amt auch eine Frau zu finden, waren leider nicht erfolgreich.
Ihre Zusatzfragen.
Ich finde es etwas merkwürdig, wenn man hört, dass
es in Deutschland für die Besetzung dieses wichtigen
Gremiums keine Frauen geben soll. Ich frage Sie, wie
die Bundesregierung künftig sicherstellen möchte, dass
ein Gesetz, das vom Bundesparlament beschlossen worden ist, von Teilen der Bundesregierung auch umgesetzt
wird.
Ich kann Ihnen sagen, wie es bei dem Lenkungsrat gewesen ist. Wir haben wirklich versucht, geeignete Persönlichkeiten unter Berücksichtigung der Frage, was die
Aufgabe des Gremiums sein soll - beratende Funktion
bei der Unternehmensfinanzierung -, zu finden, die besondere Erfahrungen, Qualifikationen, Reputation in
Wirtschaft und Wissenschaft sowie Flexibilität besitzen
und verfügbar sind; denn die Gremien werden oft kurzfristig einberufen. Es war sehr schwierig, jemanden zu
finden. Die Bemühungen - damit komme ich zu Ihrer
Frage - haben leider nicht zum Erfolg geführt. Man kann
niemanden zwingen, in ein Gremium zu gehen. Daher
waren die diesbezüglichen Anfragen nicht von Erfolg
gekrönt.
Vielleicht können Sie beim nächsten Mal auf das Parlament zurückgreifen und dort nachfragen. So gibt es
zum Beispiel unter den Wirtschaftsweisen eine hochqualifizierte Frau.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade über die Unabhängigkeit derjenigen gesprochen, die im Lenkungsrat
sind. Bei diesen acht Herren - man kann fast von einer
Tafelritterrunde sprechen, die Herr zu Guttenberg einberufen hat - handelt es sich bis auf eine Person - eine Person ist ein Wissenschaftler, der unabhängig ist - um
engagierte Lobbyisten, die im eigenen Interesse handeln.
Darum meine Frage: Sind Sie nicht wie ich der Meinung, dass es hier einen Interessenkonflikt geben
könnte?
Ich bin nicht Ihrer Auffassung.
({0})
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs für
Wirtschaft und Technologie. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Die Frage 23 des Kollegen
Bonde wird schriftlich beantwortet. Ebenso werden die
Fragen 24 und 25 des Kollegen Wolfgang Gehrcke
schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Die Fragen beantwortet Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Ich rufe die Frage 26 der Kollegin Elisabeth
Scharfenberg auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der Kritik
der bayerischen Sozialministerin Christine Haderthauer, CSU,
an den Vereinbarungen nach § 115 des Elften Buches Sozialgesetzbuch, SGB XI, über die Veröffentlichung und Bewertungssystematik der Qualitätsprüfungen in der ambulanten
und stationären Pflege - „Schulnotensystem“ - in der Süddeutschen Zeitung vom 11. März 2009, wonach dieses Konzept seinen Zweck verfehle, durch mehr Transparenz und Vergleichbarkeit der Leistungen Missstände abzustellen, und der
Forderung Christine Haderthauers an die Bundesregierung,
diese Vereinbarung der Selbstverwaltung zu ändern?
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Scharfenberg, der Gesetzgeber hat entschieden, dass im Rahmen der Neuregelung der Qualitätsvorschriften des SGB XI die Transparenz als Ausdruck
der gemeinsamen Verantwortung von Pflegekassen und
Leistungserbringern auch dadurch hergestellt werden
soll, dass die Pflegequalität im Interesse all derjenigen,
die Pflegeleistungen für ihre Angehörigen oder für sich
selbst suchen, in Zukunft stärker kontrolliert wird. Wie
Sie wissen, gab es im ganzen letzten Jahr vielerorts
große Überschriften, die zum Thema hatten, dass Pflege
nicht sachgerecht durchgeführt wird, dass es im Bereich
der Pflege einzelne schwarze Schafe gibt. Unser Anliegen war, mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz endlich zu einer transparenten Struktur zu kommen. Wir haben gemeinschaftlich entschieden, dass Qualität einfach
dokumentierbar und messbar sein soll. Auch die CSU im
Bundestag und das Land Bayern haben dieser neuen
Qualitätsmessung in Pflegeheimen grundsätzlich zugestimmt.
Die Vertragsparteien in der Pflegeselbstverwaltung
haben sich auf dieser gesetzlichen Grundlage bemüht,
ein inhaltlich tragfähiges Verhandlungsergebnis zu erzielen. Die Selbstverwaltung hat nun ein Bewertungssystem vorgeschlagen, das die Kriterien der Pflegequalität
dokumentiert. Erstmals sind damit Transparenz und Vergleichbarkeit von Pflegequalität auf einer bundesweit
einheitlichen Grundlage möglich. Insofern halte ich das
Notensystem in der Pflege für einen deutlichen Fortschritt, vor allen Dingen für diejenigen, die mehr wissen
wollen als das, was in einer Hochglanzbroschüre steht,
die ihnen vorgelegt wird, die also erfahren wollen, wie
die Pflegequalität in der jeweiligen Einrichtung ist.
Die Bundesregierung betrachtet die Vereinbarungen
als wichtigen ersten Schritt. Wir haben die beteiligten
Gruppen immer in ihrer Forderung unterstützt, dass man
zu einem einfachen und transparenten System zurückfindet. Wir haben deshalb mit den an der Selbstverwaltung
Beteiligten gesprochen. Wir haben darum gebeten, dass
die Bewertungssystematik verdeutlicht wird. Durch die
optische Darstellung der einzelnen Noten sollte beispielsweise klar werden, dass eine schlechte Pflegequalität in einem Heim, für die es die Note Vier bekommt,
nicht durch eine gute Verpflegung, für die es die Note
Eins bekommt, ausgeglichen werden kann. Die Selbstverwaltung hat unsere Hinweise aufgegriffen: Die Note
Vier wird optisch deutlicher dargestellt; auch die Gewichtung ist klar. Zum Beispiel fließt die Qualität der
Pflege mit 52 Prozent in die Gesamtnote ein. Dem werden Ausstattungsmerkmale eines Heimes oder die dortige Verpflegung nachgeordnet.
Wir erhalten das, was die Selbstverwaltung vorgelegt
hat, für konsensfähig. Wir haben im Prozess Anregungen gegeben. In unserem System ist zunächst einmal die
Selbstverwaltung gefordert. Wir können dieses System
unterstützen und begleiten. Wir sind froh, dass unsere
Hinweise aufgegriffen wurden: Beurteilungen ab Note
Vier werden optisch deutlicher dargestellt; man macht
klar, wie die einzelnen Noten zu gewichten sind.
Wir wollen, dass dieses neue System möglichst bald
kommt, damit diejenigen, die eine Heimeinrichtung für
sich selbst oder für ihre Angehörigen suchen, wissen, ob
sie für ihr gutes Geld auch eine gute Qualität bekommen.
Ich glaube, auf eine solche Information haben die Menschen sehr lange gewartet. Deswegen kann ich die Kritik
aus Bayern sowohl am Vorhaben als auch an der Art der
Durchführung in keiner Weise verstehen. Meines Erachtens geht sie nach dem langen Diskussionsprozess zum
jetzigen Zeitpunkt in die falsche Richtung. Eigentlich
haben wir das gemeinsam beschlossen und auf den Weg
gebracht. Ich halte der Kollegin Haderthauer zugute,
dass sie neu in diesem Amt ist.
({0})
Das erklärt vielleicht, dass sie den langen Vorlauf nicht
kannte.
Ihre Zusatzfragen.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, Sie haben gesagt, Sie hätten Hinweise dazu gegeben, wie das System
nachzubessern ist, und erklärt, das solle möglichst bald
geschehen. Können Sie die Zeitangabe „möglichst bald“
genauer fassen?
Ich möchte noch einmal hervorheben, dass wir bereits
in diesem Abstimmungsprozess sind. Uns hat die Selbstverwaltung Anfang dieser Woche eine überarbeitete Version vorgelegt, in der die Abwertungen deutlicher werden. Bislang war es so, dass eine Durchschnittsnote am
Ende auch gegeben wurde, wenn ein Bereich mangelhaft
war. Unseres Erachtens muss man aber deutlich machen:
Wenn in einem zentralen Bereich, in der Pflege beispielsweise, die Note „mangelhaft“ vergeben wird, dann
kann es nicht zu einer Gesamtnote kommen. Diese Anregungen sind aufgegriffen worden. Uns wurde, wie gesagt, schon am Dienstag eine überarbeitete Version vorgelegt.
Statt eine öffentliche Kritik zur Unzeit zu formulieren, hätte man besser mit konkreten und in der Sache
wichtigen Beiträgen an der Verbesserung des Systems
gearbeitet.
Wir sind froh darüber, dass unsere Ideen aufgegriffen
wurden. Ich darf an dieser Stelle noch einmal hervorheben: Es ist dadurch ein bundeseinheitliches System. Es
ist ein klares System. Jeder weiß, was Schulnoten bedeuten, was beispielsweise eine Eins oder eine Fünf bedeutet. Wir wollten etwas entwickeln, das für die Menschen
leicht nachvollziehbar ist.
Sie haben noch eine Frage.
Vielen Dank. - Als bayerische Abgeordnete kann ich
Ihnen darin zustimmen, dass aus den Reihen der CSU oft
zur Unzeit Kritik kommt.
Nun würde mich Folgendes interessieren: Hat sich
die CSU bei den Verhandlungen zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz für eine entsprechende Ausgestaltung
eingesetzt, gerade bei § 115 SGB XI? Das hat Frau
Haderthauer ja kritisiert. Es bestand für die CSU als Regierungspartei doch die Möglichkeit, sich aktiv einzubringen und auf eine positive Gestaltung zu drängen.
Das wäre besser gewesen, als jetzt im Nachhinein zu kritisieren.
Ich möchte nicht aus den internen Verhandlungen zitieren. Ich habe Ihnen vorhin das Ergebnis dargestellt.
Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz ist mit großer
Mehrheit, auch mit einem einstimmigen Votum der Regierungsparteien, verabschiedet und auch von der Union
in ihrer Gesamtheit mitgetragen worden. Es gab damals
keinen Dissens; im Gegenteil. Man hat von uns immer
gefordert - darin waren sich alle Pflegefachleute einig -,
dass die Qualität in den Einrichtungen messbar und dokumentierbar ist. Beiden Anforderungen wird dieser
Vorschlag gerecht.
Ich rufe die Frage 27 der Kollegin Elisabeth
Scharfenberg auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung des Weiteren
aus der Kritik an den Vereinbarungen nach § 115 SGB XI,
beispielsweise der bayerischen Sozialministerin Christine
Haderthauer ({0}) oder auch
weiterer Akteure im Rahmen eines Beitrags der ARD-Sendung Report Mainz ({1}), wonach eine schlechte Beurteilung einer Pflegeeinrichtung/eines Pflegedienstes in einem
Kriterium durch die positive Bewertung in einem anderen
Kriterium ausgeglichen werden könne oder dass an der Entwicklung der Kriterien nach § 115 SGB XI die maßgeblichen
Organisationen für die Wahrnehmung der Interessen und der
Selbsthilfe der pflegebedürftigen und behinderten Menschen
sowie unabhängige Verbraucherorganisationen nicht in ausreichendem Maße beteiligt worden seien?
Frau Kollegin Scharfenberg, ich antworte Ihnen gern
darauf. Die Verbände der pflegebedürftigen und behinderten Menschen wurden im Rahmen eines schriftlichen
Anhörungsverfahrens beteiligt. Ansonsten haben die
einzelnen Parteien der Selbstverwaltung gemeinschaftlich an dem neuen Notensystem gearbeitet. Es ist also im
Konsens entwickelt worden.
Zu der Frage, was zur Abwertung führt und wie
Transparenz hergestellt wird, habe ich Ihnen gerade
schon erläutert, dass es gegenüber dem ersten Vorschlag
Veränderungen gibt. Sie sind uns am Dienstag dieser
Woche vorgestellt worden. Wir sind sehr froh darüber,
dass die Selbstverwaltung auf die Vorschläge, die das
Bundesgesundheitsministerium unterbreitet hat, eingegangen ist.
Ihre Zusatzfragen.
Vielen Dank. - Für wie zielführend hält es die Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt von Transparenz
und Übersichtlichkeit, dass es parallel zu dem Verfahren
nach § 115 SGB XI noch andere Ansätze gibt, zum BeiElisabeth Scharfenberg
spiel das sogenannte Heimverzeichnis, das vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz finanziell gefördert wird? Ist an eine
Zusammenführung in irgendeiner Form gedacht?
Ich glaube, es handelt sich hier um unterschiedliche
Ansätze. Bund und Länder waren sich eigentlich einig,
dass das Schulnotensystem für die Heime das einzige
System bleiben soll, das bundesweit die Qualität der
Einrichtungen misst. Es ist natürlich auch wichtig, dass
man Grunddaten erhebt, um einen Überblick über die
Zahl der Einrichtungen in einer Region zu erhalten. Aber
die Pflegequalität sollte - das haben wir im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz so geregelt - nur durch ein bundesweites System ermittelt werden.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Ja, meine letzte Frage. - Hält es die Bundesregierung
unter dem Gesichtspunkt der Transparenz und Übersichtlichkeit für förderlich, dass die Ergebnisse der Qualitätsprüfung nach § 115 SGB XI nicht bundesweit auf
einem Internetportal, sondern auf 16 Internetportalen
- das heißt, es gibt pro Bundesland jeweils eins - veröffentlicht werden? Wenn ja, warum?
Liebe Frau Kollegin Scharfenberg, wir haben ein föderales System, gerade im Bereich der Heimstrukturen.
Sie wissen, dass das Heimrecht im Zuge der Föderalismusreform in die Verantwortung der Länder übergegangen ist. Insofern glauben wir, dass es Sinn macht, wenn
jedes Bundesland separat informiert. Entscheidend ist
aber, dass die Qualität überall in Deutschland künftig in
jedem Heim und in jeder anderen Betreuungseinrichtung, die Altenpflege betreibt und Pflegebedürftige hat,
nach einheitlichen Kriterien gemessen wird und damit
von Flensburg bis Bayern dasselbe Notensystem herrscht,
damit einer, der innerhalb Deutschlands umzieht, eine
nach denselben Kriterien erstellte Beurteilung der Einrichtungen vorfindet. Das ist ein deutlicher Fortschritt.
Die Fragen 28 und 29 des Kollegen Dr. Ilja Seifert
werden schriftlich beantwortet. Wir sind deshalb am
Ende dieses Geschäftsbereiches. Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin, für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf. Die
Fragen beantwortet Herr Parlamentarischer Staatssekretär Achim Großmann.
Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Dr. Anton
Hofreiter auf:
Wann tagte der Prüfungsausschuss der Deutschen Bahn
AG seit dem Amtsantritt von Hartmut Mehdorn als Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Bahn AG, und welche Themen wurden auf den jeweiligen Prüfungsausschusssitzungen
behandelt?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege
Hofreiter, der Prüfungsausschuss des Aufsichtsrates der
Deutschen Bahn AG konstituierte sich mit seiner ersten
Sitzung am 29. September 2003. Danach fanden weitere
Sitzungen zweimal jährlich, ab 2006 fünfmal jährlich
statt.
Gegenstände der Sitzungen des Prüfungsausschusses
waren im Wesentlichen Fragen der Rechnungslegung,
des Risikomanagements, die Erörterung der Abschlüsse
der Deutschen Bahn AG und des Konzerns sowie die
Vorbereitung der Beschlüsse des Aufsichtsrates über den
Jahresabschluss des vorangegangenen Geschäftsjahres,
die Wahl des Jahresabschlussprüfers für das laufende Geschäftsjahr, die Budgetplanung, die Mittelfristplanung,
Quartalsberichte, Halbjahresabschlüsse, die Weiterentwicklung des Bereichs Compliance sowie die interne Revision. Die Inhalte unterliegen der Verschwiegenheitspflicht nach § 395 Abs. 1 des Aktiengesetzes.
Ihre Zusatzfragen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Da sich die zweite
Frage auf einen ähnlichen Sachverhalt bezieht, könnte
sie der Herr Staatssekretär gleich mitbeantworten?
Dann rufe ich auch die Frage 31 auf:
Wie hat der Prüfungsausschuss der Deutschen Bahn AG
die diversen Konzernmitarbeiterausspähaktionen im Hause
Mehdorn behandelt, und welche Konsequenzen sollen für die
Zukunft gezogen werden?
Das mache ich gerne. - Nachdem, Herr Kollege
Hofreiter, die Zusammenarbeit der Deutschen Bahn AG
mit der Firma Network Anfang Juni 2008 durch die
Presse publik wurde, erfolgte auf Initiative der Bundesregierung - ich wiederhole: auf Initiative der Bundesregierung - eine Unterrichtung durch die Deutsche Bahn
AG über die Zusammenarbeit in den Sitzungen am
23. Juni 2008, am 8. September 2008 und am 4. Dezember 2008, am 30. Januar 2009 und am 18. Februar 2009.
In den ersten beiden Sitzungen im Juni und September 2008 wurden jeweils nur Zwischenberichte gegeben,
weil die vom Vorstand der Deutschen Bahn AG eingeleiteten Prüfungen nicht abgeschlossen waren. Der Sachstand vom Dezember 2008 wurde dem Vorsitzenden des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in
einem Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung mit Datum vom 9. Januar
2009 mitgeteilt. Die Sitzung des Prüfungsausschusses
am 30. Januar 2009 kam auf Verlangen des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zustande. Der Aufsichtsrat wurde von mir über das Ergebnis der Sitzung informiert. Erst in dieser Sitzung, also
am 30. Januar 2009, das heißt nach der Sitzung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am
28. Januar 2009, berichtete die Deutsche Bahn AG dem
Prüfungsausschuss über das Daten-Screening von
173 000 Mitarbeitern. Im Ergebnis seiner Sitzung vom
18. Februar 2009 hat der Aufsichtsrat der Deutschen
Bahn AG die KPMG AG, Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, mit der umfassenden und unabhängigen Untersuchung der Deutschen Bahn AG im Hinblick auf Verstöße
gegen die Compliance, unter anderem bei der Korruptionsbekämpfung und dem Abgleich von Mitarbeiterdaten seit Mitte der 90er-Jahre, beauftragt und die Rechtsanwälte Gerhart Baum, früherer Bundesinnenminister,
und Frau Professor Dr. Däubler-Gmelin, frühere Bundesjustizministerin, mit der Begleitung der von der
KPMG AG durchgeführten Untersuchung und der rechtlichen Bewertung ihrer Ergebnisse betraut. Darüber hinaus hat der Aufsichtsrat einen Compliance-Ausschuss
eingerichtet, der sich explizit mit den gegen die Deutsche Bahn AG erhobenen Vorwürfen befasst und bis zur
vollständigen Aufklärung die Untersuchungen federführend begleitet. Nach Abschluss dieser Untersuchungen
wird über die weiteren Schritte beraten.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr
Staatssekretär. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist
über die Probleme zum ersten Mal am 23. Juni 2008 im
Prüfungsausschuss berichtet worden.
In dieser Sitzung, die, wie gesagt, von der Bundesregierung beantragt worden ist, hat Herr Dr. Schaupensteiner im
Grunde genommen das Gleiche gesagt wie in der Verkehrsausschusssitzung, an der auch Sie teilgenommen
haben. Das heißt, es gab die gleichen Informationen über
die Zusammenarbeit, die damals auch dem Verkehrsausschuss gegeben worden sind.
Sie haben noch drei Zusatzfragen.
Die muss ich ja nicht unbedingt alle stellen.
Nein, müssen Sie nicht.
Die Bundesregierung war im Prüfungsausschuss also
nicht früher informiert bzw. hatte nicht mehr Informationen als der Verkehrsausschuss. Habe ich Sie da richtig
verstanden?
Was die Frage der ersten Information anbetrifft, haben
Sie mich zutreffend verstanden. Sie wissen, dass Anfang
Juni 2008 infolge der Medienberichterstattung über die
Bespitzelungen bei der Telekom die Öffentlichkeit über
einen Artikel im Handelsblatt auf die Zusammenarbeit
mit Network aufmerksam gemacht worden ist. Der
Bahnvorstand sagt uns bis zum heutigen Tage, zu diesem
Zeitpunkt habe er von der Zusammenarbeit zum ersten
Mal Kenntnis erhalten.
Das heißt, Sie können auch ausschließen, dass die
Bundesregierung im Prüfungsausschuss vorher, als Sie
noch kein Mitglied des Ausschusses waren - damals waren es Herr von Randow und dann Herr Hennerkes,
wenn ich das richtig im Kopf habe; es gab ja dort schon
einige Staatssekretäre -, informiert worden ist?
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass ich erst
später - erst seit Dezember 2008 - Mitglied des Prüfungsausschusses geworden bin. Ich habe auch keinen
Zugriff auf die früheren Protokolle. Ich habe Ihnen das
zur Kenntnis gegeben, was ich sagen kann, auch auf der
Basis dessen, was ich von meinen Kolleginnen und Kollegen, unter anderem von Herrn Hennerkes und Herrn
von Randow, erfahren habe, die ich dazu natürlich befragt habe. Demnach gab es im Prüfungsausschuss vorher keine Berichterstattung zum Thema Network.
Die Frage 32 der Kollegin Veronika Bellmann wird
schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 33 und 34 des
Kollegen Peter Hettlich.
Ich rufe deshalb die Frage 35 des Kollegen Dr.
Stephan Eisel auf:
Welche akustischen Messungen zur unterschiedlichen
Lärmbelästigung durch Diesel- bzw. Elektrolokomotiven liegen der Bundesregierung vor?
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Eisel, nach bisher vorliegenden Erkenntnissen aus Feldversuchen der Deutschen Bahn AG ergeben sich bei der Vorbeifahrt von Zügen mit Lokomotiven keine signifikanten Unterschiede
bei der Lärmemission von Elektro- und Dieseltraktion,
da die Geräuschentwicklung im Wesentlichen vom Wagenzug ausgeht.
Ihre Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, Sie haben meine Frage gezielt
nicht beantwortet. Meine Frage lautet: Welche akustischen Messungen zur unterschiedlichen Lärmbelästigung durch Diesel- bzw. Elektrolokomotiven liegen der
Bundesregierung vor?
Ich habe diese Messungen nicht im Einzelnen aufgeführt, aber ich habe Ihnen die Ergebnisse bekannt gegeben. Wenn Sie Wert auf zusätzliche Informationen legen,
dann werde ich im zuständigen Referat nachfragen. Ich
habe Ihnen geantwortet: „Nach bisher vorliegenden Erkenntnissen aus Feldversuchen …“. Das ist ein Hinweis
darauf, wie diese Daten gewonnen worden sind.
Wenn Sie die Frage bis in die Tiefe beantwortet haben
wollen, dann müssen wir uns bei der Deutschen Bahn
AG erkundigen, wo diese Feldversuche stattgefunden
haben und wer sie durchgeführt hat. Dann könnte ich Ihnen diese Daten nachliefern. Aber bitte denken Sie daran, dass wir gehalten sind, bei der Beantwortung von
Fragen immer auch die Verhältnismäßigkeit zu beachten.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Gegen die Nachlieferung der Daten habe ich nichts. Sie haben gesagt, die Rollgeräusche der Züge seien entscheidend. Meine Zusatzfrage lautet daher: Gehen Sie
davon aus, dass die von den Lokomotiven verursachten
Geräusche nicht zu diesen Geräuschen gehören?
Herr Dr. Eisel, die Rollgeräusche von Elektro- und
Diesellokomotiven sind gleich zu bewerten, so sagen
uns alle Fachleute. Während bei Elektrolokomotiven vor
allem die Lüftergeräusche höhere Schallemissionen erzeugen, tritt bei den Diesellokomotiven bei Volllastbetrieb - zum Beispiel beim Anfahren - das Motorgeräusch einschließlich Turbolader in den Vordergrund.
Bei Triebfahrzeugen mit Dieselmotor und elektrischer
Kraftübertragung - sei es nun ein Generator, sei es ein
elektrischer Fahrmotor - überlagern sich die Geräusche
der verschiedenen Aggregate.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Königshaus.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt,
dass der Stromabnehmer von Elektrolokomotiven sehr
wohl in die Lärmberechnung eingeht? Wenn die Frage
nach der Lärmbelastung korrekt beantwortet werden
soll, muss auch dieser Lärmbeitrag gemessen werden.
Ich habe gerade in der Antwort auf die Zusatzfrage
von Herrn Dr. Eisel gesagt, dass bei Elektrolokomotiven
vor allem die Lüfter höhere Schallemissionen erzeugen.
Daraus folgt, dass ich nicht von einer abschließenden
Aufzählung aller Emissionsquellen gesprochen habe. Es
kommen natürlich noch einige andere Quellen hinzu.
Auch wenn ich Ihnen zustimmen würde, würde es so
sein, dass einige Geräuschquellen weiterhin unberücksichtigt wären, über die wir dann auch noch sprechen
müssten.
Jetzt rufe ich als letzte Frage in dieser Fragestunde die
Frage 36 des Kollegen Dr. Stephan Eisel auf:
Welche europäischen und nationalen Rechtsvorschriften
müssten verändert werden, um den Einsatz von Diesellokomotiven auf voll elektrifizierten Strecken einzuschränken
bzw. auszuschließen, und welche Initiativen beabsichtigt die
Bundesregierung in diese Richtung?
Die europäischen Richtlinien zur Liberalisierung und
Öffnung der Eisenbahnmärkte sehen nicht vor, den Einsatz von Diesellokomotiven auf elektrifizierten Strecken
zu verbieten. Eine nationale Rechtsvorschrift, die eine
bestimmte Traktionsart - zum Beispiel Lokomotive mit
Verbrennungsmotor - ausschließt oder beschränkt, müsste
daher insbesondere auch im Hinblick auf die im europäischen Recht festgelegten Anforderungen an den diskriminierungsfreien Netzzugang geprüft werden.
Eisenbahnunternehmen sind in ihrer Entscheidung
derzeit grundsätzlich frei, für ihre Transporte in Abhängigkeit von den jeweiligen Verhältnissen - zum Beispiel
teils elektrifizierte, teils nicht elektrifizierte Streckenabschnitte - selbst die geeigneten Lokomotiven zu wählen.
Inwieweit dabei künftig Umweltgesichtspunkte zu berücksichtigen sind, bedarf einer weiteren Prüfung.
Ihre Zusatzfragen.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann gibt es
keine nationalen Vorschriften, aber Vorschriften auf europäischer Ebene. Meine Frage war, welche Vorschriften
verändert werden müssten, um den unsinnigen Zustand
zu beenden, dass auf vollelektrifizierten Bahnstrecken
laute und erschütterungsintensive Dieselloks eingesetzt
werden.
Ich habe schon davon gesprochen, dass die Europäische Union als ersten Grundsatz die Diskriminierungsfreiheit vorsieht. Nun haben Sie in Europa die Situation,
dass sich Strecken mit elektrischer Oberleitung und Strecken ohne elektrische Oberleitung abwechseln. Daher ist
es sehr schwer, einen diskriminierungsfreien Zugang zu
gewährleisten, wenn es entsprechende Reglementierungen geben würde.
Herr Dr. Eisel, ich glaube, dass keine Richtlinie geändert werden müsste. Man sollte sich vielmehr darüber
Gedanken machen, ob man im Rahmen der Lärmrichtliniengesetzgebung der Europäischen Union ordnungspolitisch Möglichkeiten findet, auf hoch lärmbelasteten
Strecken bestimmte Traktionen vorzuschreiben. Vielleicht kann dies zu Beginn über gesplittete Trassenpreise
geschehen, indem man die Züge, die einen höheren
Lärm emittieren, mit deutlich höheren Trassenpreisen
belegt. Ich denke, das wäre ein richtiger Einstieg. Wir
alle machen uns ja Gedanken darüber, wie wir Lärm reduzieren können. Der Intention Ihrer Frage kann ich sehr
zustimmen; die verstehe ich.
Sie können noch eine Zusatzfrage stellen, Herr Kollege.
Vor dem Hintergrund, dass die EU-Kommission lärmabhängige Trassenpreise vorsieht, frage ich, ob die Bundesregierung bereit ist, darüber nachzudenken, dass eine
Voraussetzung für lärmabhängige Trassenpreise die
Messung des Lärms ist. Dies betrifft auch die Lokomotiven.
Sie wissen, dass die Ermittlung von Lärm über Berechnungsformeln erfolgt. Diese sind gerichtsfest. Wir
haben gerade die Schall 03 weiterentwickelt, sodass die
technischen Grundlagen für die Bewertung von Lärm
vorliegen.
Die Fragen 37 bis 39 aus dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, die Fragen 40 bis 43 aus dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, die Fragen 44 bis 48 aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts und die Fragen 49 bis 58
aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des
Innern werden wie in der Geschäftsordnung vorgesehen
behandelt.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir mit der
Aktuellen Stunde beginnen, bitte ich Sie, sich für einen
Nachruf von den Plätzen zu erheben.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind
ebenso wie wir tief erschüttert und voller Entsetzen über
den Amoklauf, der sich am 11. März 2009 in der Albertville-Realschule in Winnenden ereignet hat. Ein ehemaliger Schüler ist am Mittwochmorgen vergangener Woche in die Schule eingedrungen und schoss gnadenlos
auf Schüler und Lehrer. Hierbei und bei seiner anschließenden Flucht tötete der 17-Jährige insgesamt 15 Menschen, bevor er sich selber umbrachte.
Nach dem furchtbaren Geschehen in Winnenden fragen sich viele, was einen Jugendlichen dazu veranlasst,
seine Mitmenschen zu erschießen und ihren Familien so
großes Leid zuzufügen. Einfache Antworten auf diese
Fragen gibt es ebenso wenig wie einfache Lösungen, um
solche Bluttaten zukünftig zu verhindern. Sprachlos
bleiben wir zurück und müssen darüber nachdenken,
was wir alle gemeinsam gegen derart schreckliche Taten
unternehmen können.
Unser aufrichtiger Dank gilt den Lehrern der Schule
für ihren selbstlosen Einsatz. Unter Lebensgefahr und
obwohl manche von ihnen bereits verletzt waren, brachten sie ihre Schüler in Sicherheit und verhinderten somit
weitere Opfer. Dieses Verhalten verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung.
Wir danken auch den Polizistinnen und Polizisten für
ihr couragiertes Auftreten. Allen Einsatzkräften vor Ort
herzlichen Dank für ihre Fürsorge und Unterstützung.
Den Verletzten, von denen einige noch immer stationär
behandelt werden müssen, wünschen wir eine schnelle
und vollständige Genesung.
Der Deutsche Bundestag trauert mit den Angehörigen
der Opfer, ihren Familien, Freunden und allen, die ihnen
nahestanden. Wir drücken unser tiefempfundenes Mitgefühl und unser Beileid aus.
Vielen Dank.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Kinder, Jugendliche, Familien stärken - Konsequenzen nach dem Amoklauf
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat, wir trauern mit den Eltern und Familien der
Opfer, die ihr Liebstes verloren haben. Wir leiden mit
Schülern und Schülerinnen, mit ihren Lehrern und Lehrerinnen, die das Grauen miterleben mussten. Hilflos stehen wir vor der Trauer und Not der Eltern und Schwester
des Täters, die den Sohn und Bruder verloren haben und
dessen Tat sie in Abgründe blicken lässt, die sie sich
sicher nie haben vorstellen können. Wir suchen nach
Wegen aus der Hilflosigkeit und werden als Politiker
nach Antworten gefragt, die solche Taten in Zukunft verhindern könnten; als ob man nur ein paar Stellschrauben
drehen müsste und alles wäre wieder im Lot.
Ich will die fünf Minuten Redezeit, die uns in der Aktuellen Stunde zur Verfügung stehen, nutzen, den Blick
auf einige Fragen zu richten, mit denen wir uns viel intensiver auseinandersetzen müssen: Was ist mit unserer
Gesellschaft eigentlich los? Was läuft so gründlich
schief, dass wir zum Beispiel eine ständig steigende Zahl
psychisch kranker Erwachsener und eben auch Kinder
zu verzeichnen haben? Warum gibt es so viel Vereinsamung bei Kindern und Erwachsenen in unserem Land?
Warum flüchten sich immer mehr Kinder und auch Erwachsene in die Scheinwelt von Fernsehen, Videos, Internet oder Computerspielen, häufig mit gewaltverherrlichendem Inhalt, und leben dort ihre Fantasien aus?
Warum glauben viele Medien, nur noch mit Sensationsjournalismus Quote machen zu können? Bestimmt die
Nachfrage das Angebot oder umgekehrt? Können Bilder
wirklich Interesse am Mitmenschen ersetzen und das Reden über ihn das Reden mit ihm?
Ich glaube, es ist wichtig, sich auch bei diesen Fragen
Zeit für gut bedachte Antworten zu nehmen. Natürlich
sind die Eltern die zuvörderst in der Verantwortung Stehenden, die zunächst einmal wissen sollten, was überhaupt das eigene Kind bewegt, was es in der Abgeschiedenheit des technisch hochgerüsteten eigenen Zimmers
macht. Erlauben Sie daher, dass ich hier aus einem, wie
ich finde, klugen Kommentar des Spiegel zitiere, der an
Eltern viele eindringliche Fragen richtet. Dort heißt es:
Wie heißt eigentlich der Klassennachbar Ihres Kindes? Welches Buch liest es gerade? Liest es überhaupt? Wie lange hat sich Ihr Kind gestern bei
SchülerVZ herumgetrieben - und mit wem? Über
welchen Lehrer hat es sich zuletzt geärgert? Und
was haben Sohn oder Tochter am kommenden Wochenende vor? Wann haben Sie Ihrem Sohn oder
Ihrer Tochter zuletzt etwas erklärt, womit die Kinder wirklich etwas anfangen konnten?
Viele Aufgaben, die früher in der Familie erbracht
wurden, können heute guten Gewissens anderen übertragen werden, aber nicht das Kümmern um die Seelen des
Kindes. Dazu braucht es Eltern, die Familie, kurz: Menschen, die man hören und fühlen kann, denen man vertraut und die einen einfach in den Arm nehmen, wenn
Freude oder Kummer einen zu überwältigen drohen.
Dazu braucht es Eltern, die ihr Kind so lieben, wie es ist,
und die es nicht mit Erwartungen überfrachten und Enttäuschungen spüren lassen, wenn es sie nicht erfüllt; Eltern, die aber auch Grenzen ziehen und Nein sagen,
wenn es für das Kind besser ist.
Kinder suchen Grenzen in ihrem Lebensraum. Aber
tatsächlich wird ihre Welt immer grenzenloser. Das verunsichert im realen Leben und lässt die Flucht in die
grenzenlose virtuelle Welt umso verlockender erscheinen. Das ist offensichtlich für Jungen besonders reizvoll
und lässt uns fragen, was wir an ihnen versäumen. Haben wir so wenig andere Orte, an denen sich gerade Jungen erproben und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickeln können?
Mir ist klar, dass ich viele Fragen stelle, wo Antworten erwartet werden. Ich will aber doch wenigstens mit
einer Teilantwort schließen, die allerdings weder einfach
noch bequem ist. Wir alle sind gefordert, nicht nur in der
Not Anteil am Nächsten zu nehmen, sondern zu allen
Zeiten. Eine Gesellschaft ist nur dann lebensfähig, wenn
Familien stark sind, wenn Nachbarschaft trägt, wenn
sich jede und jeder Einzelne für das Ganze mitverantwortlich fühlt. Der Staat, also wir, hat für gute Rahmenbedingungen zu sorgen und Hilfe zu geben, wo die eigenen Kräfte schwach sind oder gar versagen. So wichtig
es ist, in der Trauer zusammenzustehen, so wichtig ist es,
alltägliche Sorgen und Nöte und hoffentlich auch Freude
zu teilen. Das geht nur, wenn wir uns kennen und wenn
wir Interesse aneinander haben.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe dem Kollegen Hartfrid Wolff, FDP-Fraktion,
das Wort.
Diese Debatte heute hat nichts mit einer üblichen Aktuellen Stunde zu tun. Diese Debatte kann keine Lösung
präsentieren. Betroffenheit und Trauer sind für mich bestimmend.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Amoklauf von Winnenden und Wendlingen hat uns alle
erschüttert und fassungslos gemacht. Unser Mitgefühl
gilt den Opfern, den Verletzten, den Angehörigen der Ermordeten und allen, die diese fürchterliche Tat miterleben mussten.
In der katastrophalen Situation waren zahllose Retter
schnell vor Ort. Die Polizei war nach nur drei Minuten
am Ort des Geschehens und griff beherzt ein. Dies in einer solchen Situation zu tun, diesen Mut aufzubringen,
ist in höchstem Maße beachtenswert. Der Stuttgarter Regierungspräsident hat auf das großartige Verhalten der
Lehrer in der Albertville-Realschule hingewiesen; die
Frau Präsidentin hat das ebenfalls getan. Ich kann nur sagen: Für mich sind die Lehrerinnen und Lehrer Helden.
Obwohl manche schon verletzt waren, haben sie die
Schüler noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht, die Türen verschlossen und die Schülerinnen und Schüler beruhigt. Ihnen und allen Helfern gilt unser Dank für ihren
umsichtigen, großartigen Einsatz. Alle Helfer und Seelsorger wurden mit furchtbaren Eindrücken unmittelbar
konfrontiert. Viele sind noch immer vor Ort und stehen
den Trauernden zur Seite. Die Last dieser Ereignisse
wird sie noch lange bedrücken. Winnenden ist nicht
mehr dieselbe Stadt.
Das schockierende Verbrechen lässt uns alle ratlos zurück. Wir fragen betroffen, wie so etwas geschehen
konnte und wie wir uns in Zukunft davor schützen können. Eine Diskussion hierüber muss stattfinden. Dabei
müssen wir vor allem die Opfer im Blick haben. Ihnen
sind wir es schuldig, dass wir die richtigen Schlüsse ziehen. Ich glaube aber auch, dass es für eine sachliche,
eine politische und eine gesetzgeberische Schlussfolgerung noch viel zu früh ist. In letzter Zeit wurden unglaublich viele Vorschläge gemacht. Ich sage Ihnen zu,
dass sich die FDP mit den seriösen Vorschlägen intensiv
auseinandersetzen wird. Eine sachliche und umsichtige
Prüfung der Ratschläge muss in Ruhe geschehen. Aktionismus hilft weder den Betroffenen noch dient er der
notwendigen Aufarbeitung der tragischen Geschehnisse.
Hartfrid Wolff ({0})
Als Abgeordneter aus dem Wahlkreis Winnenden
meine ich, es ist richtig, wenn wir, die hauptamtlichen
Politiker dieser Republik, nicht gleich mit vorgefertigten
Lösungen kommen. Wie Menschen vor dieser Gewalt
bewahrt werden können, wie Vereinzelung verhindert
werden kann und der Zusammenhalt in einem Gemeinwesen funktioniert, sind komplexe Fragen. Wir brauchen
eine tiefgehende Diskussion, die nicht schon eine Woche
nach der grausamen Tat erfolgen sollte. Wir brauchen
noch Raum für Trauer.
({1})
Ich gebe das Wort der Kollegin Caren Marks, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Einfache
Antworten und schnelle Lösungen sind nicht das Gebot
der Stunde. Das müssen wir uns zunächst eingestehen,
wenn wir heute über Konsequenzen nach dem Amoklauf
reden.
Wir sind noch immer zutiefst erschüttert über die Geschehnisse in Winnenden. Wir trauern mit den Angehörigen der Opfer und mit allen Betroffenen. Wie konnte es
zu dieser schrecklichen Tat kommen? Was sind die näheren Umstände? Die Erfahrungen mit Amokläufen in zurückliegenden Jahren haben gezeigt: Eine solche Tat ist
in letzter Konsequenz nicht zu erklären. Sie ist immer
eine menschliche Tragödie. Auch weitreichende gesetzliche Regelungen können eine Tat wie diese nicht verhindern. Dafür sind die Hintergründe von Gewalt zu
komplex und zu vielfältig. Reflexartige Rufe nach schärferen Gesetzen greifen deshalb zu kurz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, junge Menschen
bedürfen in besonderem Maße unserer Aufmerksamkeit
und unseres Schutzes. Was können wir Kinder-, Jugendund Familienpolitikerinnen und -politiker tun? Für uns
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist das Prinzip des Aufwachsens in öffentlicher Verantwortung zentrale Verpflichtung für unser politisches Handeln. Alle
Kinder und Jugendlichen müssen gleiche Lebenschancen haben, und zwar unabhängig vom Wohnort und vom
Geldbeutel der Eltern. Kinder und Jugendliche sollen
unter optimalen Bedingungen aufwachsen; so lautet
auch die zentrale Empfehlung des Elften Kinder- und Jugendberichts.
Wir haben eine öffentliche Verantwortung für das
Aufwachsen von Kindern. Deshalb stehen wir für eine
Politik, die Jugendarbeit, Jugendhilfe und Maßnahmen
der Gewaltprävention fördert. Öffentliche Verantwortung bedeutet für uns ausdrücklich nicht die alleinige
Verantwortung des Staates für Erziehung und Bildung.
Die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von
Kindern steht neben der Verantwortung der Eltern. Es
geht darum, Eltern effektiv zu unterstützen, und zwar bei
der Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder durch
die Angebote von Kitas, durch mehr Ganztagsschulen
und durch Beratungs- und Hilfsangebote für Kinder, Jugendliche und Eltern vor Ort.
Wir haben auf diesen Gebieten in den letzten zehn
Jahren in Regierungsverantwortung viel erreicht. Wir
haben den Kinder- und Jugendschutz, das Strafrecht hinsichtlich gewaltverherrlichender Computerspiele und
das Waffenrecht geändert. Das waren allesamt sinnvolle
und wichtige rechtliche Regelungen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir haben also gute gesetzliche Regelungen; dennoch verhindern sie solche Gewalttaten nicht.
Wir müssen vor allem an anderen Lösungsansätzen weiterarbeiten.
Kinder und Jugendliche brauchen Anerkennung, und
zwar von Anfang an. Der bekannte Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer benennt die drei wichtigen Orte,
wo eine solche Anerkennungskultur gelebt werden
muss: in der Schule, in der Familie und in der Gruppe
der Gleichaltrigen. Die Schule muss nicht nur Lern-,
sondern auch Lebensort sein. Die Familie muss auffangen, wenn Probleme auftauchen. Die Gleichaltrigen
müssen das Anderssein akzeptieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einfache Antworten
und schnelle Lösungen sind also nicht das Gebot der
Stunde. Wichtig ist vielmehr, Kindern und Jugendlichen
Anerkennung zu geben, sie ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören und ihnen Lösungen für die Bewältigung von Krisen aufzuzeigen. Alle müssen lernen, hinzuschauen. Ich
werbe deshalb für eine Kultur des Hinsehens. Das gehört
zu dem, was Kinder und Jugendliche brauchen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele große und kleine Zeitungen titeln heute: Konsequenzen aus Amoklauf umstritten. Ich halte das für keinen Makel, allemal nicht nach einem so furchtbaren Ereignis wie dem Amoklauf in Winnenden. Ich wünsche
mir allerdings, dass die Medien morgen titeln: Politisch
unstrittig ist, dass es Konsequenzen geben muss. Das
sind wir den Leidtragenden des Amoklaufes in Winnenden schuldig. Das sind beileibe nicht nur die unmittelbar
Betroffenen und ihre Familien in dieser Kleinstadt. Dieser Amoklauf hat Traumata wiederbelebt, zum Beispiel
in Erfurt, und er weckt unkalkulierbare Ängste in vielen
Orten und in vielen Herzen.
Nun wäre es fahrlässig, würden wir im Nachdenken
und in dieser Debatte den Fokus allein auf das Waffenrecht lenken. Es wäre allerdings auch fahrlässig, das
Waffenrecht auszublenden. Nach vielfältigen Schätzungen gibt es in Deutschland bis zu 40 Millionen Schusswaffen in Privatbesitz. Seit dem Amoklauf in Erfurt im
Jahre 2002 hat die Zahl der Waffen in Privatbesitz sogar
zugenommen.
Die Linke will, dass die Zahl privat genutzter Schusswaffen drastisch reduziert wird, dass der unerlaubte Zugriff auf diese Waffen erschwert wird, dass wir die Übersicht über den privaten Waffenbesitz bundesweit
verbessern und dass die staatliche Kontrolle über privat
gelagerte Schusswaffen wirksam erhöht wird, übrigens
auch im Interesse der Waffeninhaber. Wir wollen keine
unzumutbaren Repressionen für jene, die eine verlässliche Arbeit leisten, zum Beispiel im Sport, oder für jene,
für die zur Hege und Pflege der Wälder und Forsten auch
die Jagd gehört. Aber mir kann niemand erklären, warum Bürger für ihr häusliches Wohlbefinden 16 oder
mehr Schusswaffen brauchen.
Eine gute Analyse muss allerdings tiefer gehen; die
Kollegen und Kolleginnen vor mir haben darauf schon
hingewiesen. Aus meiner Sicht spielt hierbei auch unser
Schulsystem eine Rolle. Es mangelt nicht an Untersuchungen, die belegen: Das dreigliedrige System grenzt
aus und schafft Verlierer, und das trotz aller Anstrengungen engagierter Pädagoginnen und Pädagogen. Auch
daraus gilt es Konsequenzen zu ziehen.
Noch ein Wort zur Bildung. Es wird wieder hitzig debattiert, welche Videospiele für Jugendliche verboten
und welche Internetseiten zensiert werden sollten. Man
braucht mich nicht zu bekehren. Ich weiß, dass vieles auf
dem Markt ist, wodurch Gewalt verherrlicht wird und
was möglicherweise sogar zur Nachahmung verlockt.
Ich will aber nicht, dass wir auf einem Nebenplatz
kämpfen, während auf dem Centercourt der Wettkampf
zwischen Hase und Igel stattfindet: zwischen dem Hasen
namens Verbot oder Zensur und dem Igel namens Internet.
Gegen Gefahren aus dem weltweiten Gewebe hilft
letztendlich nur eines: Medienkompetenz. Medienkompetenz ist eine soziale Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Es wäre ohnehin nicht redlich, würden wir nur die
gespielte Gewalt beklagen, während die alltägliche Gewalt mancherorts als Tugend gilt. Jugendliche machen
schon in ihrem jungen Alter die Erfahrung, dass nur der
Starke und nicht der vermeintlich Schwache zählt, sei es
auf dem Schulhof, sei es in der Gesellschaft generell.
Das Leben prägt also falsche Werte. Ich finde, auch das
muss sich ändern.
Es gibt viele Gründe, warum man gründlich über
Konsequenzen nachdenken sollte, auch wenn ein Bundesminister gestern klarstellte: Der Amoklauf von Winnenden ist nicht repräsentativ und nicht typisch. Mit Verlaub: Es wäre furchtbar, wenn es anders wäre. Die Linke
jedenfalls ist bereit, eine konstruktive und nachdenkliche
Debatte zu führen, allerdings eine Debatte mit Konsequenzen.
({0})
Ich gebe das Wort der Bundesministerin Dr. von der
Leyen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Jugendlicher tötet 15 Menschen und dann sich selbst. Wir
sind fassungslos, sprachlos. Fragen wabern durch den
Raum: Was war? Warum? Wir spüren die Ohnmacht.
Gleichzeitig fragen wir nach Möglichkeiten, etwas zu
tun.
Auf der einen Seite übertönt dieser laute Ruf nach Erklärungen und Konsequenzen allzu leicht die Situation
der Betroffenen, die eher nach leisen Tönen fragt. Die
Trauer braucht Zeit. Die Trauer braucht sicher auch Rituale wie Trauergottesdienste, sie braucht Orte, wo Menschen miteinander trauern können. Sie braucht Ruhe.
Wir sollten der Trauer die Zeit geben, die sie braucht.
Auf der anderen Seite sollten wir, weil brennende
Fragen im Raum stehen, eine ausgewogene Diskussion
führen. Ich hoffe, dass es uns diesmal besser gelingt als
in anderen Fällen, die Vielfalt der Ursachen in den Blick
zu nehmen. Ja, es geht auch um Waffen und Computerspiele, aber nicht nur. Das Waffengesetz ist in den letzten
Jahren zweimal verschärft worden. Das Jugendschutzgesetz ist verschärft worden, um Kinder und Jugendliche
vor gewaltverherrlichenden Computerspielen zu schützen. Die Gesetze sind da. Entscheidend ist, dass sie eingehalten werden. Der Vollzug vor Ort muss kontrolliert
werden, damit die Gesetze wirken.
Ich möchte den Blick aber auch auf die anderen Themen richten. Gesetze sind wichtig; aber sie schaffen nur
den allgemeinen Rahmen. Wenn wir die Warnsignale,
die Jugendliche aussenden, früher wahrnehmen und früher erkennen wollen, müssen wir die Lebenswelt der Jugendlichen besser verstehen.
Wer ist den Jugendlichen wichtig? Es sind vor allem
drei Gruppen: Es sind die Gleichaltrigen. Es sind die
Lehrerinnen und Lehrer, die Menschen in der Jugendarbeit, die Erwachsenen, die sie treffen. Und es sind natürlich die Eltern.
Der Amoklauf von Winnenden ist, soweit wir wissen,
nicht vorher im Internet angekündigt worden. Aber die
meisten Taten haben ihre Vorboten, oft in den Chatrooms, oft in den Peergroups, oft in den E-Mails, in denen sich die Jugendlichen miteinander austauschen. Es
sind Gleichaltrige, die die Warnsignale als Erste wahrnehmen.
Wir Erwachsene müssen akzeptieren, dass die Jugendlichen im Netz viel versierter sind als wir, viel mehr
Medienkompetenz haben als wir, sich im Netz viel
selbstverständlicher bewegen als wir. Diese Medienkompetenz anzuerkennen als Teil der Partizipation von
Jugendlichen, als Teil des Erwachsenwerdens, als Teil
des Übernehmens von Verantwortung, das ist vielleicht
ein Schlüssel zur Prävention. Das Internet ist kein
rechtsfreier Raum, auch nicht für die Jugendlichen.
Auch da können sie in Verantwortung hineinwachsen.
Was auffällt, ist, dass die Jugendlichen, wenn sie sich
in ihren Chatrooms bewegen, keinerlei Anlaufstelle haben, wenn sie Hilfe brauchen, wenn ihnen etwas unheimlich ist, wenn sie merken, dass sie von Problemen
überwältigt werden, wenn sie die Warnsignale anderer
mitbekommen. Sie wissen nicht, an wen sie sich in so einem Fall wenden können. Hier müssen wir die Frage
stellen, wie wir präsenter sein können mit Hilfsangeboten, mit einer Anlaufstelle im Netz - im übertragenen
Sinne so etwas wie 110 im Netz -, damit sich die Jugendlichen, wenn sie in Not sind, an jemanden wenden
können. Das ist sicherlich eine der Fragen, die wir in Zukunft beantworten müssen.
Ein Zweites ist mir wichtig. Jugendliche leben natürlich nicht nur in der virtuellen Welt, sie leben auch in der
realen Welt. Dort verbringen sie täglich viele Stunden in
der Schule. Auch die Schule ist ihr Bezugsraum. Ja, Krisenpläne an den Schulen sind wichtig, die Schulen müssen mit diesem Thema umgehen. Aber sie dürfen nicht
zu Orten der Angst werden. Sie müssen gute Orte sein,
sie müssen Orte des Gesprächs und des Miteinanders
sein.
Hier liegt, so schwer es ist, der Schlüssel bei den Lehrerinnen und Lehrern. Lassen wir den Lehrerinnen und
Lehrern eigentlich genügend Raum und Zeit, um nicht
nur Wissen zu vermitteln, um nicht nur Pauker zu sein,
sondern auch mit all ihrer Persönlichkeit, mit all ihren
Kompetenzen, mit all ihrer Leidenschaft und all ihren
Erfahrungen mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen? Lehrerinnen und Lehrer sind als
Persönlichkeit starke Vorbilder und Gesprächspartner
der jungen Menschen. Schule braucht Raum und braucht
Zeit, damit die Lehrerinnen und Lehrer dieses Gespräch
suchen können. Zeit braucht Personal; aber diese Investition nicht zu tätigen, kommt uns viel teurer zu stehen.
Zum dritten Punkt. Unverzichtbar in der Welt der Jugendlichen sind die Eltern, auch wenn sich die Jugendlichen gerade in der Pubertät von den Eltern abgrenzen
wollen, ja abgrenzen müssen. Wir brauchen, so anstrengend es ist, mehr Erziehungspartnerschaft, mehr Erziehungsgemeinschaft zwischen Schule und Eltern. Viele
Eltern sind verunsichert: Was ist normal bei Jugendlichen, was nicht? Wie steht mein Kind da? Was kann ich
tolerieren, was nicht? Vor allem bei Kindern in der Pubertät ist es durchaus anstrengend, Werte zu vermitteln
und Grenzen zu setzen. Auch Erwachsene geraten bei
dem Prozess des Erwachsenwerdens von Jugendlichen
immer wieder an ihre eigenen Grenzen. Aber gerade in
dieser Zeit ist es umso wichtiger, den Kontakt zu den Jugendlichen zu halten. Besser, die Eltern liegen mit ihren
Kindern über Computerzeiten, Schule und Freunde im
Dauerclinch, als dass sie sie einfach dieser Welt überlassen.
Aus Anlass des Amoklaufs und dessen, was sich uns
daraus an brennenden Fragen stellt, werden wir mit der
Bundeskonferenz für Erziehungsberatung als konkretes
Unterstützungsangebot für Jugendliche und Eltern eine
Onlineberatung und Gruppenchats im Netz anbieten,
weil hier die Schnittstelle zwischen der Welt des Internets und der Lebenswelt von Jugendlichen einerseits und
den Angeboten von Erziehungsberatung und Jugendhilfe
andererseits zu sehen ist.
Ein Letztes ist mir wichtig: Wir dürfen Winnenden
nicht aus den Augen verlieren, wenn das große öffentliche Interesse vorbei sein wird. Es gibt eine Zeit, in der
die Trauer im Mittelpunkt steht. Dies ist die wichtige
Zeit, in der intensiv darüber diskutiert wird, was man tun
kann und muss. Dann aber folgt, wie wir wissen, ein
Aufmerksamkeitsloch, in das oft auch die Nachsorge für
die Betroffenen fällt. Man will einfach nichts mehr davon hören. Diesem Reflex sollten wir nicht nachgeben.
Vielmehr sollten wir mit zeitlichem Abstand noch einmal hinschauen, wie die Stadt Winnenden, die Gemeinschaft der dort lebenden Menschen, die Schülerinnen
und Schüler und die betroffene Schule mit diesem
schrecklichen Tag umgegangen und wieder zu sich gekommen sind und was wir von ihnen lernen können.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Amoklauf an der Albertville-Realschule von Winnenden ruft Fassungslosigkeit, Trauer, Entsetzen und
Empörung hervor. Für meine Fraktion sage ich, dass den
Angehörigen und Freunden der Opfer unser tiefes Mitgefühl gilt. Die Frage nach dem Warum werden wir leider nie beantworten können.
Es ist diesem schrecklichen Ereignis angemessen,
dass wir als Abgeordnete in dieser Debatte nachdenklich
und besonnen reagieren und nicht vorgaukeln, wir hätten
als Prävention gegen Amokläufe irgendwelche Patentrezepte in der Tasche oder könnten gar absolute Sicherheit
schaffen. Dies können wir alle miteinander definitiv
nicht.
({0})
Deshalb ist richtig, worauf viele schon hingewiesen
haben: Aktionistische und eindimensionale Forderungen
werden dem furchtbaren Ereignis und der Komplexität
von Amokläufen nicht gerecht. Es reichte aber auch
nicht aus, wenn aus der Ratlosigkeit Sprachlosigkeit in
der politischen Debatte würde. Vielmehr müssen wir
heute damit beginnen, über politische Konsequenzen zu
diskutieren, allein deshalb, weil seit Mittwoch letzter
Woche - man mag dies geschmacklos oder richtig finden; es ist zum Teil auch eine Form der Verarbeitung Experten, Verbände und Politiker bereits Vorschläge gemacht haben. Daher ist es unser aller Aufgabe, alle Maßnahmen zu prüfen, ob sie dazu geeignet sind, das Risiko
von Amokläufen zu minimieren.
Entscheidend und besonders wirksam ist aus unserer
Sicht eine Kultur des Hinsehens im sozialen Umfeld. Im
Vor- und Nachhinein sind immer wieder Anzeichen von
drohenden Gewaltexzessen erkennbar, sei es in der
Nachbarschaft oder in Internetchats. Das wichtigste
Frühwarnsystem sind deshalb aufmerksame Eltern,
Freunde, Mitschüler und Lehrkräfte.
Schulen müssen Orte der Anerkennung sein, in denen
Mobbing, Kränkungen und Demütigungen entgegengewirkt wird. Neben einer angemessenen Ausstattung der
Jugendhilfe müssen in den Schulen selbst deutlich mehr
Schulpsychologen und Sozialarbeiter eingesetzt werden. Wir brauchen vor Ort eine breite Sensibilisierung
für verschiedene Formen von Ausgrenzung, für Gewaltbereitschaft und vor allem für soziale Isolation, weil sie
bei den Amokläufen ein sehr wichtiger Faktor gewesen
zu sein scheint.
Polizeien und Schulen müssen mit Krisenplänen auf
das Risiko von Amokläufen vorbereitet sein, bundesweit
und flächendeckend. Ebenso muss es allerorts Strukturen
geben, durch die sichergestellt ist, dass die Opfer fachkundig betreut werden. Den professionellen Helferinnen
und Helfern in Winnenden ist in diesem Zusammenhang
ausdrücklich zu danken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch überzogene
Forderungen nach Metalldetektoren, Chipkarten und
Einlasskontrollen an allen Schulen wird dagegen wenig
geholfen. Dadurch würde allenfalls eine scheinbare, aber
keine tatsächliche Sicherheit erreicht. Ich finde auch,
dass Schulen jetzt nicht zu Festungen oder Hochsicherheitstrakten werden dürfen, sondern Schulen sind gerade
darauf angelegt, dass sie offene Orte des Lernens und
Lebens bleiben müssen.
Ebenso wenig hilfreich sind neue Debatten über ein
Verbot von Computerspielen. Darüber wird heute im
Ticker erneut rauf und runter diskutiert. Deutschland hat
bereits einen verantwortungsvollen Jugendmedienschutz.
Gewaltverherrlichende und gewaltbeherrschte Computerspiele können verboten werden, und sie werden es
auch. Wichtig ist nur, dass die bestehenden gesetzlichen
Regelungen in der Praxis eingehalten werden. Ministerin
von der Leyen hat ja gerade selber auf Vollzugsdefizite
hingewiesen.
Gewaltspiele - das wissen wir - können auf Jugendliche dann riskant wirken, wenn sie mit Sucht und mit Isolation einhergehen. Deshalb müssen wir dort ansetzen.
Wenn sich Jungs mehrere Stunden täglich in virtuellen
Welten bewegen, dann stellt sich die Frage nach negativen Folgen und auch nach Alternativen: nach alternativen Freizeitangeboten und danach, ob es ein Jugendzentrum vor Ort gibt oder nicht.
Wir als Grüne haben schon mehrfach vorgeschlagen,
bei der Altersfreigabe endlich das Suchtpotenzial von
Computerspielen zu berücksichtigen. Das kann die Bundesregierung konkret umsetzen. Die Eltern wiederum
müssen zu Hause sehr genau hinschauen, was im Kinder- und Jugendzimmer tatsächlich gespielt wird und
wie lange es gespielt wird. Deshalb ist auch eine bessere
Medienerziehung in den Schulen und in den Jugendeinrichtungen besonders wichtig.
Ich will in dieser Aktuellen Stunde deutlich sagen,
dass wir auch beim Waffenrecht einen deutlichen Handlungsbedarf sehen; denn ganz entscheidend ist doch offensichtlich, dass wir eine massive Verringerung der
Verfügbarkeit von Waffen erreichen. In diesem Sinne
brauchen wir ein restriktives und striktes Waffengesetz
und eine Gesellschaft, in der es Zugangsbeschränkungen
und Abrüstung gibt; denn Jugendliche ohne Waffen können kein dermaßen verheerendes Verbrechen begehen;
das ist ganz klar.
Die Große Koalition und wir alle müssen uns schon
fragen lassen: Warum gibt es noch immer kein nationales Waffenregister? Wir haben das mehrfach eingefordert. Warum werden Millionen von Waffen in Deutschland so selten kontrolliert? Wir wollen hier eine höhere
Kontrolldichte. Warum ist es legal möglich, dass jemand
mehr als ein Dutzend Waffen zu Hause aufbewahren
kann? Hier müssen wir über Obergrenzen diskutieren.
Wieso werden gefährliche Schusswaffen zu Hause verbotenerweise im Nachttisch anstatt zentral oder getrennt
von der Munition gelagert?
All das sind Fragen, über die wir in den nächsten Monaten in Ruhe diskutieren müssen. Wir müssen prüfen,
ob wir durch die Umsetzung dieser Punkte - angefangen
vom Waffenregister bis hin zu wirksamen Blockiersystemen - eine Risikominimierung erreichen. Es ist ganz
wichtig, dass wir diese Aufgabe wahrnehmen, diese Fragen stellen und sie in den nächsten Monaten in Ruhe und
nicht überstürzt, aber im Bewusstsein unserer Verantwortung für ein gewaltfreies Zusammenleben in dieser
Gesellschaft auch beantworten.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion gebe ich der Kollegin Monika
Griefahn das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh
darüber, dass sich in den letzten Tagen ebenso wie in der
heutigen Debatte gezeigt hat, dass wir gegenüber Erfurt
und Emsdetten in der politischen Kultur ein wichtiges
Stück vorangekommen sind. Bisher sind überwiegend
besonnene Kommentare und Vorschläge zu hören. Und
das ist gut so.
Eine solch schreckliche Tat ist weder monokausal
noch einfach zu erklären. Dieses Mal gibt es politisch
glücklicherweise nur einzelne Versuche, neue Medien
allein als Sündenbock hinzustellen oder eben einzelne
Maßnahmen als die seligmachenden zu beschreiben. Ich
denke, durch plakative Verbotsforderungen werden uns
Lösungen vorgegaukelt. Deswegen sind sie nicht die
richtigen.
Wir haben in den letzten Jahren viel dafür getan, dass
wir in Deutschland inzwischen eines der wirksamsten
Systeme für den Jugendmedienschutz in Europa haben.
Selbstverständlich müssen wir politisch diskutieren, was
unabhängig davon noch weiter zu tun ist. Dazu gehört
zum Beispiel die Frage, ob man Waffen wirklich zu
Hause lagern muss oder ob sie nicht im Schützenverein
gelagert werden sollten. Auch über den Vollzug der bestehenden Gesetze muss diskutiert werden. Es ist jetzt
schon möglich, gewaltverherrlichende Computerspiele
und Filme - auch das ist wichtig; es geht nicht nur um
Spiele, sondern auch um Filme - zu verbieten. Bei der
Altersfreigabe wird sehr genau darauf geachtet, welche
Medien ab welchem Alter freigegeben werden können.
In dieser Hinsicht sind andere Länder viel großzügiger.
Auch das müsste stärker harmonisiert werden.
Wir müssen uns auch mit der aufsuchenden Sozialarbeit befassen und prüfen, wo es Probleme gibt und ob
ausreichend Personal vorhanden ist. Wichtig ist außerdem - auch über dieses Thema wird viel zu wenig diskutiert - die Frage nach der Medienkompetenz von Eltern
und Lehrern. Wie werden sie aus- und fortgebildet? Wie
können sie mit Medien umgehen? Angebote wie „Spielräume“ für Eltern, durch die sie sich ein Bild machen
können, womit sich ihre Kinder beschäftigen, gibt es viel
zu wenig. Einige Länder und die Kirchen haben etwas
getan. Ich glaube, dass wir auch das weiter im Blick behalten müssen. Denn wir können nicht ignorieren, dass
die Jugendlichen in der Onlinewelt leben. Wir als Eltern
können nur versuchen, das nachzuvollziehen und zu verstehen und dann auch aktiv mit unseren Kindern zu diskutieren.
Ein weiterer Punkt, über den wir auch schon in einer
Anhörung im Ausschuss intensiv diskutiert haben, ist die
Onlinesucht. Notwendig ist, dass sie als Krankheit anerkannt wird, um dadurch Hilfe zu ermöglichen, indem
zum Beispiel die Krankenkassen eine Therapie bezahlen. Ich hoffe, dass wir damit weiterkommen.
Ich persönlich finde auch den Vorschlag sinnvoll,
Testkäufe von altersbeschränkten Medien oder von Alkohol zu verstärken. Denn nicht die Gesetze sind das
Problem, sondern es ist immer wieder der Vollzug.
Die Begriffe „Killerspiel“ oder „Killerfilm“ sind unsinnige Kategorisierungen. Nicht jeder wird abhängig,
der etwas ausprobiert. Wie für das Rauchen gilt, dass
man nicht automatisch nikotinabhängig wird, sondern
damit auch wieder aufhören kann, führen auch Spiele
nicht gleich in die Abhängigkeit.
Aber nicht nur politisch droht der Reflex von schnellen und einfachen Erklärungen. Bei den Medien bleibt
im Wettlauf um die erste Nachricht, die schnellste Erklärung und das beste Foto guter Journalismus leider oft auf
der Strecke. In den letzten Tagen gab es erschreckende
Beispiele dafür. Um an Sensationen und Bilder zu kommen, wurden Schüler dafür bezahlt, dass sie bestimmte
Antworten geben oder Blumen niederlegen und sich
dann weinend umarmen. Auch wurden Bilder des Täters
und der Opfer aus persönlichen Internetprofilen übernommen und sogar von Gedenkstätten gestohlen. Im Internet - zum Beispiel bei Twitter, dem hochgelobten
neuen Medium - waren es diesmal zuallererst Journalisten, die pietätlos über die Opfer spekulierten oder sich
persönlich inszenierten. Ein Fernsehsender kaufte ein
Handyvideo und vermarktete die letzten Minuten des
Amokläufers. Ein weiteres Beispiel ist das Angebot eines Internetportals, die Tat sozusagen nachzuspielen.
Das alles ist zutiefst makaber und hat mit Journalismus nichts zu tun.
({0})
Es schadet den Betroffenen. Es schadet einer sachlichen
Aufklärung. Es schadet auch dem Ansehen und der
Glaubwürdigkeit der Medien selbst. Auf diese Weise
werden die Medien selbst zu Waffen. Seit dem Amoklauf gab es allein in Baden-Württemberg über 50 Trittbrettfahrer, die die Polizei mit Drohungen in Atem hielten. Ich habe in meinem Wahlkreis Ähnliches erfahren,
als ich am Wochenende beim Polizeiball war. Allein in
meinem Wahlkreis gab es in letzter Zeit drei Fälle von
Trittbrettfahrern, die untersucht werden mussten. Das
geht nicht an.
Es ist schon seit Jahrzehnten wissenschaftlich belegt,
dass eine übermäßige Berichterstattung die Täter zu Helden macht und Nachahmungstaten provoziert. Das ist
auch der Grund, warum zum Beispiel bei der Deutschen
Bahn Suizidversuche nicht mehr bekannt gegeben werden. Seitdem ist die Zahl der Nachahmer erheblich zurückgegangen. Das halte ich für richtig.
Wir in Deutschland müssen uns gerade in solchen
Fällen auf journalistische Ethik, Sorgfaltspflicht und
Verantwortungsbewusstsein verlassen können. Jede Redaktion muss sich jetzt fragen, welche Konsequenzen sie
für die eigene Berichterstattung ziehen muss. Der Pressekodex definiert schon jetzt die Grenzen der Recherche
und verpflichtet zum Schutz der Persönlichkeitsrechte.
Nach den eklatanten Verstößen der letzten Tage erwarte
ich, dass sich Verlage und Sender an einen Tisch setzen
und ihre ethischen Grundsätze weiterentwickeln und
diese endlich verbindlich machen. Das ist dringend notwendig, damit Opfer wie die Bürger von Winnenden
nach dem Amoklauf nicht durch die Art und Weise der
Berichterstattung ein zweites Mal zum Opfer werden.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Johannes
Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir trauern. Wir sind entsetzt über das Böse, das
mit dem Amoklauf über unschuldige Menschen gekommen ist. Viele versuchen, zu ergründen, was schiefgelaufen ist. Bei aller Ungewissheit steht eines fest: Mit der
Gewalttat wurden das Lebensrecht und das Recht auf
Unversehrtheit unschuldiger Menschen missachtet und
der Grundwert der Gewaltfreiheit auf das Schlimmstmögliche verletzt. Schlaglichtartig wird klar, dass das
Zusammenleben in unserem Land nur auf einem festen
Fundament von Werten gelingen kann. Deshalb lohnt es
sich, diejenigen zu ermuntern und zu ermutigen, die
Werte und Tugenden vermitteln können, und all diejenigen zu stärken, die mutig Orientierung geben und damit
verhindern, dass Jugendliche in Gefahr geraten, ein Leben in der Grauzone zu führen: beliebig, wertefrei und
ohne Verantwortung. In einer Welt mit neuen Unübersichtlichkeiten reicht es immer weniger, sich mit einem
zunehmend konturlosen Toleranzbegriff zu begnügen.
Vielmehr gilt es, die Werte klar beim Namen zu nennen,
die unverzichtbar sind: die Menschenwürde sowie der
Respekt und die Achtung vor der Person des anderen.
Rücksicht, Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Verlässlichkeit
und Ehrlichkeit lassen das Zusammenleben gelingen.
Durchsetzungsfähigkeit oder ein Training für den Ellenbogeneinsatz allein schaffen weniger Gemeinsamkeit
und enden allzu oft in Vereinzelung.
Familien und Eltern prägen die ersten Gemeinschaftserfahrungen und die personalen Verhaltensmuster von
Kindern. Wir wollen deshalb den Eltern Mut machen
und sie unterstützen, wenn sie ihren Kindern Werte vermitteln. Wir wissen: Kein Politikprogramm kann Mütter
und Väter ersetzen, die ihren Kindern nach dem Essen
bei den Hausaufgaben helfen, den Fernseher auch einmal ausschalten, Videospiele wegräumen und ihren Kindern vorlesen. Dieser Satz, hinter den ich mich stelle,
stammt vom neu gewählten amerikanischen Präsidenten.
Geben wir den Familien die Rahmenbedingungen an
Zeit und die finanziellen Möglichkeiten, dass sie diese
schwierige Aufgabe wirklich wahrnehmen können! Wir
wollen den Erzieherinnen und Erziehern sowie den Lehrern, die vielfach verunsichert sind, den Rücken stärken
und ihnen klar sagen: Wir stehen hinter ihnen, wenn sie
Offenheit, Fleiß, Gerechtigkeitsgefühl und Pflichtbewusstsein vermitteln. Wir unterstützen die Ausbilder in
der Arbeitswelt, wenn sie versuchen, soziale Kompetenz
zu vermitteln. Pünktlichkeit, Höflichkeit und Leistungsbereitschaft sind nichts Schlechtes.
Wir appellieren an die öffentlichen Miterzieher, die
Medien, verantwortungsvoll mit ihrer Erziehungsmacht
umzugehen. Metzelszenen, gewaltverherrlichende Darstellungen und Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel
einer vermeintlichen Gerechtigkeit, das genügt nicht, um
sich auf den Schutz der Informationsfreiheit zu berufen.
Wir wissen, dass nur eine kleine Minderheit von jungen Menschen dafür anfällig ist, Scheinwelt und Wirklichkeit bei dauerndem Konsum von Gewaltspielen nicht
mehr unterscheiden zu können. Aber jeder Einzelne ist
zu viel. Es macht eben besorgt, wenn die natürliche Erfahrung von Gewalt in der Realität, welche im Regelfall
mit Schmerz, Tränen, oft auch mit Blut verbunden ist,
von einer Wohlfühlatmosphäre überdeckt wird, die
herrscht, wenn am Bildschirm, zurückgelehnt in einem
angenehmen, körperangepassten Sessel, Gewaltorgien
gespielt werden. Wenn sich herausstellt, dass Gewaltspiele eine hohe Gefahr von Abhängigkeit erzeugen können, dann, glaube ich, muss in der Tat die Altersgrenze
erhöht werden, und wir müssen auf Nummer sicher gehen.
Wir feiern in diesem Jahr 60 Jahre Grundgesetz. Das
Grundgesetz hat in seiner Präambel den Anker geworfen: Verantwortung vor Gott und den Menschen. Wir
sollten gemeinsam alles unternehmen, damit junge Menschen in unserem Land nicht den Eindruck gewinnen,
dass dieser feste Anker gelichtet würde.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Hermann
Scheer, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Ereignisse,
die, obwohl sie inzwischen schon mehrfach vorgekommen sind, vielen doch immer wieder undenkbar erscheinen und die einen sprachlos machen, weswegen es
schwer ist, die richtigen Worte dafür zu finden, wenn es
überhaupt richtige Worte dazu gibt.
Trotzdem können wir natürlich nicht sprachlos bleiben. Wir können auch nicht untätig und gedankenlos
bleiben. Das haben alle heutigen Redner schon betont.
Auch das, was an medialer Diskussion stattfindet, hat
vielfach - das halte ich für erfreulich - in den letzten Tagen ein sehr hohes Niveau, vor allem was die Tiefenbetrachtungen angeht, die diese Dinge vielleicht erklärbar
machen; verständlich gemacht werden können sie nicht.
Nun haben wir es schon mit einer Serie zu tun, wenn
wir nicht nur den Blick auf Bad Reichenhall, Erfurt und
jetzt auf Winnenden richten, sondern auch das betrachten, was in anderen Ländern, selbst schon in Skandinavien, in den USA, auch in anderen europäischen Ländern
immer mal wieder passiert, mit möglicherweise kürzer
werdenden Zeitfrequenzen, Verlockungen und Versuchungen, wie es ja die Reaktionen im Internet, die Kollegin Griefahn eben genannt hat, auch schon signalisieren.
Da es leider kein Einzelereignis ist, setzen wir hiermit
eine Debatte fort, die schon nach Erfurt sehr intensiv geführt worden ist. Wir müssen uns fragen: Welche Lernerfahrungen haben wir seither gemacht? Sind wirklich
alle die Dinge, die damals besten Wissens und Gewissens versucht worden sind, ausreichend gewesen? Wo
kann man aktuell tatsächlich etwas zur Minderung
- möglicherweise zur Abschreckung - von Versuchungsmöglichkeiten tun? Das gilt besonders für Waffen, aber auch für das, was in den Gewaltdarstellungen
bestimmter Medien immer wieder auftaucht. Eben weil
es kein Einmalereignis ist, ist die generelle Frage: Welches kulturelle Defizit haben wir eigentlich?
Was ist geschehen? Liegt das zumindest nicht auch
daran, dass es No-Future-Mentalitäten gibt, ein Phänomen, das sich ausbreitet? Hat das etwas mit allgemeinen
gesellschaftlichen Entwicklungen und negativen Zukunftserwartungen zu tun, was vielerlei Gründe haben
mag? Die Gründe können soziale Probleme, das Klimaproblem oder andere sein, die bei Einzelnen zu extremistischen und nihilistischen Ausdrucksformen führen, wie
es bei dem Jugendlichen in Winnenden offenkundig der
Fall war. Liegt es vielleicht nicht auch daran, dass sich
das Wettbewerbsprinzip der Wirtschaft zu einem Prinzip
des jeder gegen jeden in der Gesellschaft mit dem Ergebnis entwickelt hat, dass die Schule mehr und mehr nur
Ausbildungsstätte für den Wettbewerb und die eigene individuelle Zukunft fast hat werden müssen und nicht
mehr eine Schule ist, in der das Leben mitgelernt wird,
sie also nicht mehr eine Lebensschule ist, die sie natürlich immer nur zum Teil sein kann? Zur Lebensschule
gehören auch die Familie, Vereine und die soziale Um22694
gebung. Wenn solche Probleme vorhanden sind - dafür
gibt es viele Anzeichen -, dann ist auch eines klar: Sie
liegen tief und sind mit kurzfristigen Maßnahmen allein
nicht überwindbar. Es geht hier um die Frage, wie gesellschaftliche Werte entstehen und was die Ursache von
Wertezerfall ist. Es findet ein Wertezerfall statt - das ist
offensichtlich -, der nicht weitergehen darf.
Die andere Frage ist, wo wir einen unmittelbaren
Handlungsbedarf haben. Ich glaube schon, dass Jugendliche, so sehr sie heute eine technische Kompetenz
haben, weil sie mit den neuen Technologien anders als
früher sozialisiert werden, noch lange keine Medienkompetenz haben. Das heißt für uns, zu fragen, ob es
dem Niveau einer Kulturgesellschaft entspricht, dass
Dinge gezeigt werden, die zur Abstumpfung und Verrohung führen können und bei diesen oder jenen unter Umständen fast assoziativ die Bereitschaft, so etwas zu machen, provozieren. Es werden Dinge gezeigt, die ich,
wenn ich zufällig darauf stoße, sofort abschalte, weil ich
sie nicht sehen kann. Das gilt für viele andere auch. Solche Gewaltdarstellungen abzustellen ist nicht eine Frage
von Aktionismus, sondern das ist eine Frage von
Common Sense, von im besten Sinne des Wortes gesundem Menschenverstand.
In keinem Programm der Parteien, die im Bundestag
vertreten sind, steht, welche Maßnahmen jetzt konkret
ergriffen werden können, was weitere Beschränkungen
im Waffenrecht und den Zugang zu Waffen betrifft. Dass
etwas getan werden muss, ist meines Erachtens offenkundig. Gelegenheiten machen Täter, sie erleichtern Taten zumindest von Assoziationstätern, die diese Taten
nicht begehen würden, wenn sie keinen Zugang hätten.
Bei Massakern, die in bestimmten Medien oder in Internetplattformen gezeigt werden, müssen wir uns die
Frage stellen, selbst wenn es nicht zu solchen Taten
kommt, ob wir uns erlauben sollen, auf diesem Wege Jugendlichen das Bild einer Welt zu zeigen
Herr Kollege Scheer.
- ich bin fertig, Frau Präsidentin -, wie sie mit Sicherheit nicht sein kann, nicht sein soll und nicht sein darf.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will freimütig bekennen, dass ich die Politik in diesen Tagen in einem Dilemma sehe. Eigentlich müssten
wir erst einmal die Ermittlungsergebnisse des schrecklichen Amoklaufs von Winnenden abwarten, bevor wir
uns dazu äußern. Gleichzeitig werden uns Fragen nach
den politischen Konsequenzen gestellt, denen man nicht
ausweichen möchte. Natürlich frage ich mich als Berichterstatter für das Waffengesetz - wir haben die letzte
Gesetzesnovelle erst 2008 verabschiedet -: Haben wir da
alles richtig gemacht? Haben wir vielleicht mögliche Sicherungsmaßnahmen übersehen?
Wenn wir über die Konsequenzen dieses schrecklichen Amoklaufs debattieren, dann muss es nach meiner
tiefen Überzeugung in der Tat um eine neue Kultur der
Aufmerksamkeit, um intensives Kümmern, um Zuwendung und um das Bemerken von Verzweiflung und Hass
gehen. Ich glaube, die schon reflexartige Forderung nach
einer Verschärfung des Waffenrechts allein greift da
deutlich zu kurz.
Politik muss sich gerade in diesen Tagen davor hüten,
den Menschen Scheinlösungen anzubieten. Man kann
ein noch so scharfes Waffengesetz machen: Es gibt keine
absolute Sicherheit, wenn dagegen in fahrlässiger und
unverantwortlicher Weise verstoßen wird. Lieber Herr
Kollege Gehring, da reicht eben schon eine Waffe, und
dagegen hilft auch kein Waffenregister. Selbst wenn wir
alle legalen Waffen aus Privathaushalten verbannten,
böte das angesichts der vielen illegalen Waffen, die in
unserem Land leider in Umlauf sind, keine absolute Sicherheit. Auch das müssen wir unseren Bürgern offen
sagen.
Ich finde, unsere Aktuelle Stunde ist sehr differenziert
und nachdenklich. Liebe Kollegin Griefahn, ich hätte
mir in der Tat eine solche Reaktion auch in manchen
Medien gewünscht - es gab auch Ausnahmen -, die vor
Ort, also aus Winnenden, berichtet haben. Manchmal hat
die Berichterstattung die notwendige Distanz und den
Respekt vor den Trauernden in der Tat vermissen lassen.
Ich habe mich erinnert an die Medienberichterstattung
über die Geiselnahme in Gladbeck und an die damalige
Diskussion, die im Nachhinein geführt worden ist. Viele
haben gesagt: So etwas wiederholt sich nicht; wir haben
aus den Erfahrungen von Gladbeck gelernt. Ich stelle
fest: Es gibt, auch im Bereich der Medien, Anlass für
eine neue Diskussion.
Wir suchen nach Lösungen. Wir suchen nach den
richtigen Konsequenzen. Da müssen wir zwischen der
Verbesserung von Gesetzen und der Verbesserung des
Gesetzesvollzugs differenzieren. Ich finde, auch jeder
Einzelne kann dabei einen Beitrag leisten. Zum Beispiel
hat mir in diesen Tagen ein Lehrer geschrieben, er habe
in seiner Klasse Schülerinnen, die den Waffenschrank
ihres Vaters öffnen könnten; die Waffen lägen dort teilweise offen herum. Ich habe ihn in meinem Antwortschreiben gefragt, warum er seine Erkenntnisse nicht unverzüglich der zuständigen Ordnungsbehörde mitgeteilt
habe. Wenn es begründete Zweifel an der sicheren Aufbewahrung von Waffen gibt, dann kann die Waffenbehörde in der Tat sofort einschreiten. Die öffentliche Debatte in diesen Tagen muss auch zur Konsequenz haben,
dass man sich nicht scheut, solche Hinweise den Sicherheitsbehörden zu geben. Auch das heißt „Kultur des
Hinsehens“, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir führen eine Debatte über das anlasslose Kontrollieren von Personen, die legal eine Waffe besitzen. Ich
will nur darauf hinweisen, dass es schon heute viele
Landkreise und Städte gibt, in denen verantwortliche
Mitarbeiter von Behörden genau dies tun: Sie führen
stichprobenartig solche Untersuchungen durch. Wir hören, dass es in keinem einzigen Fall so ist, dass sie keine
Möglichkeit des Zutritts zu einer Wohnung bekommen.
Insofern müssen wir vielleicht die Praxis mit dem abgleichen, was wir möglicherweise gesetzgeberisch vorhaben. Wir müssen vor allen Dingen schauen, ob wir in
unseren Behörden personell all das leisten können, was
vorgeschlagen wird. Ich bin sehr dafür, dass wir beim
Gesetzesvollzug einen intensiven Erfahrungsaustausch
zwischen Ländern, Bund und Kommunen vornehmen.
Zu diesem Erfahrungsaustausch gehört für mich auch
die Prüfung - ich will darauf hinweisen -, ob wir nicht in
allen Ländern auf der Ebene von Polizeiinspektionen in
der Tat spezielle Kriseninterventionskräfte brauchen,
wie sie in Baden-Württemberg nach dem Amoklauf von
Emsdetten eingeführt worden sind. Sie kamen in Winnenden sehr schnell vor Ort zum Einsatz. Sicher muss
man auch hier die Ermittlungsergebnisse abwarten. Erste
Berichte lassen aber den Schluss zu, dass die Beamten,
die sehr schnell am Tatort waren, noch Schlimmeres verhütet haben. Ihnen gebührt der Dank des ganzen Deutschen Bundestages.
({0})
Lassen Sie mich am Ende folgenden Gedanken formulieren: Wir sollten gemeinsam mit dem Deutschen
Schützenbund und dem Deutschen Jagdschutz-Verband
in einen Dialog über mögliche Konsequenzen eintreten.
Ich wünsche mir eine Diskussion mit Schützen sowie Jägern und ihren Vertretern - und nicht gegen sie -, weil
sie wertvolle Arbeit leisten und es nicht verdienen, unter
Generalverdacht gestellt zu werden. Wir brauchen für
die Diskussionen, die jetzt zu führen sind, alle, die mithelfen, dass es besser wird.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Kucharczyk,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
aktuellen Geschehnisse in Winnenden und Wendlingen
machen uns sehr betroffen, ja fassungslos. Umso wichtiger ist, dass wir genau hinsehen und schauen, wo die Ursachen wirklich liegen. Blinder Aktionismus im Anschluss an schreckliche Taten hilft uns nicht weiter.
Festzustellen ist: Dieser Amoklauf ist die Verzweiflungstat eines Einzelnen, eines Einzelgängers, der jeden
sozialen Halt verloren hat. Unsere Aufgabe ist nun, die
richtigen Schlüsse daraus abzuleiten und das Sozialisations- und Hilfenetz so eng zu knüpfen, dass keine Kinder und Jugendlichen durchfallen.
Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten 25 Jahren
sicherlich sehr stark verändert. Dem müssen wir gerecht
werden, und zwar ohne den Fokus ausschließlich auf die
schreckliche Tat zu richten.
Eltern und Erziehungsberechtigte müssen in der Lage
sein, Kindern und Heranwachsenden Leitplanken zu setzen und ihnen aufzeigen, dass Engagement in Sportvereinen, in der Kultur, in der Kunst oder zum Beispiel
beim THW sinnvoller ist als das stundenlange einsame
Sitzen vor dem PC. Es ist deshalb wichtig, etwa die Stärkung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen schneller voranzutreiben. Schüler und Eltern müssen wir im Umgang mit den Medien sensibilisieren.
Bereits im letzten Jahr haben wir im Zuge der Novellierung des Jugendschutzgesetzes mit der Vergrößerung der
Alterskennzeichnung die richtigen Weichen gestellt.
Zudem ist eine breite gesellschaftliche Debatte über
gewalthaltige Computerspiele unter ethischen Gesichtspunkten nötig. Ohne solche Spiele generell verteufeln zu
wollen, stelle ich mir doch die Frage: Wollen und brauchen wir den freien Zugang zu Spielen, in denen auf bestialische Weise gemordet und gefoltert wird? Unter den
sogenannten Ego-Shootern gibt es himmelweite Unterschiede in der Brutalität.
Es ist klar: Wir wollen keinen Generalverdacht an
Schulen. Einlasskontrollen oder Videoüberwachung sind
keine Option. Dass die Schulen nun mehrfach Schauplatz von Verbrechen waren, steht auch in Verbindung
mit dem Leistungsdruck, unter dem schon Kinder und
Jugendliche leiden, mit zu wenig Raum für Entfaltung
von Talent und Kreativität sowie insbesondere mit fehlender Anerkennung. Da finden wir, wie ich meine, einen wichtigen Ansatzpunkt. Schule ist mehr als eine
reine Lernfabrik. Sie ist der Ort, an dem sich Kinder und
Jugendliche die meiste Zeit des Tages aufhalten, an dem
sie sich wohlfühlen, sich gegenseitig respektieren lernen
und ihre Persönlichkeit formen und finden sollen.
Deshalb muss in den Ganztagsschulen Platz für Kreativität und Abbau von Aggression geschaffen werden.
Mehr sportliche Betätigung und auch die Anerkennung
von Fähigkeiten im Rahmen informeller Bildung wären
da ein guter Weg.
Es ist ferner wichtig, dass Sozialpädagogen und Vertreter der Jugendhilfe auch im Schulbetrieb früh eingesetzt werden. Die Zahl der Schulpsychologen und
Sozialarbeiter muss erhöht werden, und zwar signifikant.
Die zusätzlich erforderlichen Lehrkräfte und Pädagogen
müssen in der Zuständigkeit der föderalen Ebenen im
Fokus stehen. Dort, wo möglich, werden wir als Koalition auch weiterhin alles daransetzen, die Finanzausstattung der Länder und Kommunen zu verbessern.
Schlussendlich müssen wir aber auch transparent diskutieren, was machbar ist. Allein Gesetze zu verschärfen, das ändert die Situation oder die Zustände nicht automatisch. Vieles hängt vom Vollzug vor Ort ab. Das
Waffengesetz zum Beispiel gibt nach der letzten Novellierung genug Handlungsmöglichkeiten. Ist es aber richtig, dass Waffen und Munition zu Hause aufbewahrt
werden? Vereinswaffen könnten ebenso beim Schützen22696
verein gelagert werden, die Munition grundsätzlich zentral im Verein oder bei Sicherheitsunternehmen. Darüber
müssen wir sicherlich mit den Betroffenen, den Vereinen, den Verbänden und auch den Jägern, reden.
Uns allen ist bewusst, dass Taten ähnlichen Ausmaßes
sich wiederholen können. Deshalb muss es für uns eine
Verpflichtung sein, Gesetze, Verordnungen und Erlasse
auf die gesellschaftlichen Anforderungen zu überprüfen
und dementsprechend anzupassen.
Uns liegen viele Erkenntnisse und Studien zu jugendrelevanten Themen vor, in denen sowohl die Wissenschaft
als auch die Praktiker zu Wort kommen. Nehmen wir
Kinder und Jugendliche ernst und die entsprechenden
Vorschläge zum Anlass, sachlich, zielorientiert und in
ihrem Interesse die Welt zu gestalten!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Michaela Noll, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Warum? Ich glaube, diese Frage hat sich jeder
in Deutschland gestellt, wahrscheinlich nicht nur einmal,
sondern mehrfach. Warum konnte das geschehen? Warum war niemand in der Lage, rechtzeitig entsprechende
Signale vom Täter wahrzunehmen? Ich glaube auch,
dass manche Eltern mit ihren Kindern gesprochen haben
und sich gefragt haben: Weiß ich wirklich, was in meinem Sohn, der mitten in der Pubertät ist und vielleicht
abends stundenlang Computerspiele spielt, vorgeht? Ich
denke, diese Frage haben sich viele Eltern gestellt.
Für mich ist das, was geschehen ist, nach wie vor unvorstellbar. Trotzdem müssen wir uns fragen: Was war
die Ursache? Deshalb möchte ich ein Dankeschön an
alle Kolleginnen und Kollegen aussprechen. Ich freue
mich über die Art und Weise, wie wir die Debatte hier
heute führen. Alle waren bereit, zu sagen: Wir haben
noch keine Antworten, wir haben auch noch keine richtigen Lösungen. Gleichzeitig haben wir aber auch alle gesagt: Wir alle brauchen Zeit für Trauer. Die Opfer brauchen Zeit. Und wir brauchen Zeit für Antworten.
Auch die aktuelle Gewaltstudie des Kriminologischen
Forschungsinstituts Niedersachsen passt nicht auf diesen
Fall. Die Eltern selber sagten, der Junge sei unauffällig
und nie gewalttätig gewesen. Das heißt, es gibt keine Patentrezepte.
Manche fordern nun eine Verschärfung des Waffenrechts. Darin sehe ich ebenso wie mein Kollege Grindel,
der darauf vorhin schon ausführlich eingegangen ist,
keine Lösung.
Andere sehen einen Zusammenhang mit bestimmten
Computerspielen. Dieses Thema wurde ja mehrfach von
den Kolleginnen und Kollegen angesprochen. Wir haben
2002 das Jugendschutzgesetz novelliert. Aber trotzdem
- erlauben Sie mir die Frage -: Wie viel virtuelle Gewalt
können Kinder und Jugendliche tatsächlich verkraften?
Welche Wirkung haben diese Spiele? Gibt es nicht doch
einen Zusammenhang zwischen Gewaltspielen in der
virtuellen Welt und der Desensibilisierung von Jugendlichen? Kann irgendeiner von uns sagen, was die Langzeitwirkungen sind? Ich glaube es nicht.
Es macht schon einen Unterschied, ob man ab und zu
ein Gewaltspiel spielt oder ob man es wie manche Jugendliche Tag für Tag, Nacht für Nacht, Woche für Woche spielt, und zwar nicht eine Stunde, sondern vier bis
zehn Stunden. Wir sollten deshalb ruhig einmal - ich
fand es nämlich sehr wichtig, was Sie, Frau Griefahn,
gesagt haben - das Thema Onlinesucht ansprechen und
die Sucht als solche wahrnehmen. Wir sollten auch darüber diskutieren, ob wir wirklich vertreten können, dass
das virtuelle Töten von Menschen durch aktive Beteiligung an einem solchen Spiel einen Freizeitwert in unserer Gesellschaft bekommen hat. Was ist die Ursache für
diesen Werteverfall? Auch darüber, finde ich, sollten wir
reden.
Es gibt viele Parallelen bei denjenigen, die das sogenannte School Shooting, also Amokläufe an Schulen, begangen haben: Sie hatten relativ intensiven Kontakt zu
Waffen, sie spielten Gewaltspiele am Computer, sie litten oft unter mangelnder Anerkennung, und manchmal
zogen sie sich zurück in die Isolation. Ist es nicht Aufgabe der ganzen Gesellschaft, entsprechende Signale,
wenn es denn welche gibt, auch wahrzunehmen? Aber
gerade in der Phase der Pubertät - Frau Ministerin, Sie
haben es angesprochen - ist es für die Jugendlichen unheimlich schwierig, ihre Rolle zu finden, herauszufinden, wohin sie gehören. Deswegen ziehen sich manche
Jugendliche in ein virtuelles Leben aus zweiter Hand zurück. Ich bitte alle Eltern: Lassen Sie Ihre Kinder nicht
entgleiten! Viele Eltern wissen meiner Meinung nach
manchmal nicht, wie ihre Kinder in dieser Zeit tatsächlich ticken.
Pubertierende tauchen ab. Aber hier sehe ich Handlungsbedarf. Hier geht es auch um die Sprachlosigkeit
der Eltern; denn 40 Prozent der Jugendlichen - das hat
gerade die UNICEF-Studie aus dem Jahr 2007 gezeigt sprechen nach eigenen Angaben nicht mit ihren Eltern.
Aber wo nicht mehr miteinander gesprochen wird, kann
nichts mehr vermittelt werden, auch keine Werte. Deshalb mein Appell an die Eltern: Bitte kehren Sie Ihren
Kindern nie den Rücken! Geben Sie ihnen die Hand,
auch wenn es manchmal in der Pubertät nicht einfach ist!
Insbesondere geht es um die Situation der Jungen. In
all den Fällen, von denen ich gelesen habe, waren die
Täter nämlich immer Jungen. Ich bin froh und möchte
auch unserer Ministerin dafür danken; dass wir die Jungen mehr in den Fokus genommen haben. Die Polizeistatistik sagt, dass die Jungen fünfmal mehr an Gewalttaten beteiligt sind als Mädchen. Deswegen müssen wir
hier weiterarbeiten. Die Anfrage der FDP geht in die
gleiche Richtung. Bei den Jungen besteht Handlungsbedarf; das wird mir immer wieder bestätigt. Wir müssen
uns um die Jungen kümmern. Das ist der richtige Weg.
Was kann Schule tun? Schule kann eine Menge tun.
Das hat sich auch jetzt gezeigt. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Schulen bedanken, die Schulbriefe an
Eltern und an Lehrer geschickt haben. Sie haben versucht, Fragen zu beantworten und den Eltern und Angehörigen Ängste zu nehmen, und es ist ihnen gelungen.
Ich möchte, da ich zum Schluss kommen muss, mit
einem Appell aus einem Schulbrief von einer Berliner
Schule, der mir vorliegt, schließen. Darin schreibt die
Direktorin an ihre Schüler:
Lasst uns sensibel sein, lasst uns aufmerksam sein!
Ist da vielleicht jemand in unserer Nähe, der Zuwendung braucht, der sich vielleicht ausgegrenzt
fühlen könnte? Jemand, der unsere Hilfe dringend
braucht, aber nicht imstande ist, sie laut einzufordern, oder dessen Hilferufe nicht verstanden werden? Lasst uns aufeinander achten, niemand darf
dauerhaft am Rand stehen.
Ich glaube, dieser Appell sollte nicht nur den Schülern gelten; wir alle sollten ihn uns zu Herzen nehmen.
Danke schön.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 19. März 2009,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.