Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich.
Es gibt einige Mitteilungen, Ergänzungen und Änderungen der Tagesordnung, über die ich zu Beginn informieren möchte:
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass der Kollege Dr. Wolf Bauer heute seinen 70. Geburtstag feiert.
({0})
- Er wird besonders dankbar dafür sein, dass diese Zwischenrufe aufgrund meiner Nachfrage vor Beginn der
Sitzung im Protokoll vermerkt werden.
Nun wollen wir auf die Zwischenrufe warten, die gemacht werden, wenn ich darauf hinweise, dass die Kollegen Dr. Edmund Peter Geisen und Dr. Franz Josef
Jung heute ihren 60. Geburtstag feiern können.
({1})
- So viel Einigkeit gibt es hier selten. Umso herzlicher
gratuliere ich allen genannten Kollegen im Namen des
ganzen Hauses zu ihrem heutigen Geburtstag und wünsche alles Gute für die nächsten Jahre.
Der Kollege Ralf Göbel hat mit Wirkung vom
1. März auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger begrüße ich herzlich den
Kollegen Werner Wittlich.
({2})
Da er dem Deutschen Bundestag nicht zum ersten Mal,
sondern erneut angehört, muss ich ihn mit den Rahmenbedingungen der Arbeit hier im Hause nicht weiter vertraut machen. Wir freuen uns auf die erneute und weitere
Zusammenarbeit.
Wir müssen zu Beginn unserer Sitzung einige Wahlen
durchführen:
Die Amtszeit des Verwaltungsrates des DeutschFranzösischen Jugendwerkes endete am 31. Dezember
2008. Die SPD-Fraktion schlägt die Kollegin Monika
Griefahn als ordentliches Mitglied und die CDU/CSUFraktion den Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff als
stellvertretendes Mitglied vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann sind die
Kollegen Griefahn und Schockenhoff in diese Funktionen gewählt.
Auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll außerdem der Kollege Joachim Hörster anstelle des aus dem
Deutschen Bundestag ausgeschiedenen Kollegen Ralf
Göbel zum Mitglied des Gemeinsamen Ausschusses
nach Art. 53 a des Grundgesetzes gewählt werden. Sind
Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist der Kollege Hörster in den Gemeinsamen Ausschuss
gewählt.
Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, dass der
Kollege Wolfgang Börnsen erneut als Vertreter des
Deutschen Bundestages für das Präsidium der Filmförderungsanstalt benannt werden soll. Darf ich auch dazu
Ihr Einvernehmen feststellen? - Das ist der Fall. Damit
ist er für das Präsidium der Filmförderungsanstalt benannt.
Schließlich soll auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg als Nachfolger des Kollegen Michael Glos
neues stellvertretendes Mitglied in der gemeinsamen
Kommission zur Modernisierung der Bund-LänderFinanzbeziehungen werden. - Auch darüber besteht offensichtlich Einvernehmen. Dann ist der Kollege zu
Guttenberg als stellvertretendes Mitglied der Föderalismuskommission gewählt.
({3})
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Kerstin Andreae, Volker Beck
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Quote für Aufsichtsratsgremien börsennotierter Unternehmen einführen
- Drucksache 16/12108 ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({5})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-
nisierung von Verfahren im patentanwaltli-
chen Berufsrecht
- Drucksache 16/12061 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des notariellen Disziplinarrechts
- Drucksache 16/12062 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetzes
- Drucksache 16/12063 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Montenegro andererseits
- Drucksache 16/12064 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996
über die Zuständigkeit, das anzuwendende
Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und
Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen
zum Schutz von Kindern
- Drucksache 16/12068 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung ({10}) Nr. 593/
- Drucksache 16/12104 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mechthild
Dyckmans, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Professionalität und Effizienz der Aufsichtsräte deutscher Unternehmen verbessern
- Drucksache 16/10885 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Beschlussempfehlungen des Vermittlungsaus-
schusses
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({13}) zu dem Gesetz zur Neuordnung
der Entschädigung von Telekommunikationsunternehmen für die Heranziehung im Rahmen
der Strafverfolgung ({14})
- Drucksachen 16/7103, 16/11348, 16/12016,
16/12120 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({15}) zu dem Gesetz über das
Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises ({16})
- Drucksachen 16/10492, 16/11666, 16/12017,
16/12121 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({17}) zu dem Gesetz zur Neuregelung der Kraftfahrzeugsteuer und Änderung
anderer Gesetze
- Drucksachen 16/11742, 16/11900, 16/11902,
16/11931, 16/12033, 16/12122 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Fortführung der Gesetzeslage
2006 bei der Entfernungspauschale
- Drucksache 16/12099 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Vorrang Erneuerbarer Energien
- Drucksache 16/12094 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Katja Kipping, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Anrechnung der Abwrackprämie bei
ALG II und Eingliederungshilfe
- Drucksache 16/12114 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20})
Haushaltsausschuss
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur weiteren Stabilisierung des Finanzmarktes ({21})
- Drucksache 16/12100 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({22})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 16/12130 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Marieluise Beck ({23}), Volker
Beck ({24}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratie und Sicherheit im Südkaukasus
stärken
- Drucksache 16/12110 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({25})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der ursprünglich für morgen vorgesehene Tagesordnungspunkt 19 - dabei handelt es sich um Vorlagen
zur Gleichstellung von Frauen - soll im Anschluss an
den ersten Tagesordnungspunkt aufgerufen werden. Der
Tagesordnungspunkt 4 und die weiteren Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen verschieben sich entsprechend nach hinten.
Die Tagesordnungspunkte 19 c, 20 und 26 d sollen
abgesetzt werden.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 187. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Rechtsausschuss ({26}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. KarlTheodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von
Klaeden, Anke Eymer ({27}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich,
Gert Weisskirchen ({28}), Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen kontrollieren
- Drucksache 16/10846 überwiesen:
Auswärtiger Ausschuss ({29})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Sind Sie mit diesen Veränderungen und Vereinbarungen einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich möchte Sie nun bitten, sich von Ihren Plätzen zu
erheben.
({30})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Montag dieser
Woche verstarb im Alter von 84 Jahren unser ehemaliger
Kollege Professor Dr. Ernst Benda.
Mit Ernst Benda verliert unser Land eine herausragende Persönlichkeit, die nach 1945 unserer Demokratie
und unserem Rechtsstaat als Mitglied des Bundestages,
als Bundesminister des Innern und als Präsident des
Bundesverfassungsgerichts gedient und sie über mehrere
Jahrzehnte hinweg entscheidend geprägt hat.
In Berlin am 15. Januar 1925 geboren, machte Ernst
Benda im Kriegsjahr 1943 in Berlin-Spandau sein Abitur.
Nach Arbeits- und Wehrdienst, Kriegsgefangenschaft
Präsident Dr. Norbert Lammert
und Studium hat er erste parlamentarische Erfahrungen in
Berlin als Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung
Spandau von 1951 bis 1954 und danach als Mitglied des
Berliner Abgeordnetenhauses von 1955 bis 1957 erworben.
1957 zog er dann als Vertreter des Landes Berlin für
die CDU in den Deutschen Bundestag ein, dem er bis
1971 angehörte. Durch sein besonderes Engagement für
die Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen über den 8. Mai 1965 hinaus trug er wesentlich zur
Lösung dieser außerordentlich schwierigen rechts- und
verfassungspolitischen Frage in diesem Hause bei. Seine
Rede zu diesem Thema wird zu den Sternstunden des
deutschen Parlamentarismus gezählt.
In der ersten Großen Koalition der Bundesrepublik
wurde Ernst Benda im April 1967 zunächst Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern
und schließlich Bundesinnenminister.
Am 8. Dezember 1971 wurde Ernst Benda in das Amt
des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und zum
Vorsitzenden des Ersten Senats berufen. Fast 13 Jahre
lang hat er die höchstrichterliche Rechtsprechung in unserem Lande maßgeblich mitgeprägt. Unter seinem Vorsitz fällte das Gericht eine Vielzahl wichtiger Entscheidungen. Dazu gehörten unter anderem das Urteil über
den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der DDR und auch das sogenannte Diätenurteil, das wichtige Grundlagen für den Status der
Abgeordneten des Deutschen Bundestages gelegt hat.
Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Bundesverfassungsgericht blieb Ernst Benda im öffentlichen Leben
unseres Landes aktiv, nicht nur als Hochschullehrer an
der Universität Freiburg, sondern auch als Mitglied des
Präsidiums des Evangelischen Kirchentags und als sein
Präsident beim 26. Deutschen Evangelischen Kirchentag
in Hamburg.
Ernst Benda hat sich um die Verfassung, die Demokratie und unser Land große Verdienste erworben. Der
Deutsche Bundestag wird sein Andenken in Ehren bewahren. Seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern,
sprechen wir unsere tiefe Anteilnahme aus.
Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien
Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2008
- Drucksache 16/11570 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({31})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Staatsminister im Bundeskanzleramt, Bernd Neumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit dem
Beginn der Digitalisierung in den 90er-Jahren befinden
sich die Medien in einem geradezu revolutionären Veränderungsprozess. Die Mediennutzung ist für den Einzelnen und unser demokratisches Gemeinwesen von fundamentaler Bedeutung. Wir müssen deshalb über die
tatsächliche Situation der Medien Bescheid wissen. Darum war es eine wichtige Entscheidung des Deutschen
Bundestages, die Bundesregierung aufzufordern, einen
Bericht über die Lage der Medien vorzulegen. Dieser
Aufforderung sind wir nachgekommen. Der Bericht
sieht so aus.
({0})
Da es mir auf meine Redezeit angerechnet würde, verzichte ich darauf, ihn vorzulesen.
({1})
Ich füge allerdings hinzu: Die Branche, die dahintersteht, die Medien- und Kommunikationsbranche, ist
ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Vergleicht man sie
mit der Automobilindustrie, über die wir dauernd sprechen, muss man feststellen: Sie ist perspektivischer, erfolgreicher und wichtiger, und sie produziert keine negativen Schlagzeilen. Deswegen finde ich es angemessen,
dass wir heute in der Kernzeit über dieses Thema diskutieren.
({2})
Mit diesem Bericht bringen wir zum Ausdruck: Medien sind Wirtschafts- und Kulturgut zugleich. Der
Medien- und Kommunikationsbericht ist mehr als ein
Wegweiser für die Politik. Er ist ein einzigartiges, wissenschaftlich fundiertes Kompendium. Er nimmt eine medien- und ressortübergreifende Zusammenschau der gesamten technischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und politischen Auswirkungen der Medienentwicklung
vom Ende der 90er-Jahre bis heute vor, erklärt ihre Verbindungen und zeigt die aktuellen und künftigen medienpolitischen Instrumente der Bundesregierung auf. Dieser
umfassende Ansatz unterscheidet ihn von allen früheren
Medienberichten der Bundesregierung.
Erstmals ist ein Medienbericht zudem auf die in der
Verfassung angelegten Grundprinzipien der Medien- und
Kommunikationspolitik wie den Schutz der Kommunikationsgrundrechte und die Förderung der Qualität der
Angebote ausgerichtet. Dazu gehört jedoch auch, dass
die Medienanbieter selbst, aber auch die Mediennutzer
angesichts eines immer unübersichtlicher werdenden
Medienangebots, eines Angebots von Vielfalt, stärker in
die Verantwortung genommen werden müssen.
Der Medienbericht zeigt umfassend auf, wie die Digitalisierung die Herstellung und Inhalte der Medienangebote, die Wertschöpfungsketten, die Unternehmensstrukturen und die Mediennutzung in den letzten Jahren
gravierend verändert hat und auch in Zukunft weiter verändern wird.
Am deutlichsten werden die Folgen der Digitalisierung am beispiellosen Siegeszug des Internets sichtbar.
Vor nicht einmal 20 Jahren war das Internet nur einem
kleinen Kreis von Experten zugänglich und lediglich für
wenige Anwendungen vorgesehen. Inzwischen ist es zu
einer für jedermann verfügbaren und quantitativ unerschöpflichen Informations- und Kommunikationsplattform geworden. Das Internet ist aus dem Alltag der
meisten Menschen nicht mehr wegzudenken. Um zu beschreiben, wie tief es den Einzelnen und die Gesellschaft
mittlerweile beeinflusst, eignet sich die Formel, die
Frank Schirrmacher in der aktuellen Debatte über die
Zukunft der Zeitung im Onlinezeitalter geprägt hat:
Zeitung und Internet sind konstitutiv für den, der
ein aufgeklärtes Leben führen will.
Meine Damen und Herren, am Beispiel des Internets
lässt sich auch die bedeutsamste Folge der Digitalisierung demonstrieren: die Konvergenz, das Zusammenwirken, das Zusammenwachsen von technischen Kommunikationsstrukturen, Medieninhalten, Endgeräten
sowie aller Telekommunikations- und Medienbranchen.
Die Grenzen der klassischen Medien - Presse, Hörfunk
und Fernsehen - verlieren damit in weiten Bereichen
ihre Bedeutung. Neue Kommunikations- und Angebotsformen entstehen. So wird zum Beispiel das klassische
Sender-Empfänger-Schema der analogen Welt überwunden. Der Nutzer wird erstmals in die Lage versetzt,
selbst zum Programmgestalter und zum Programmanbieter zu werden und damit in Konkurrenz zu etablierten
Medienunternehmen zu treten.
Ebenso bilden sich bei jungen Nutzern mit den interaktiven Bildschirmspielen neue Leitmedien heraus. Sie
verdrängen bei den Jugendlichen die Medien Tonträger,
Film und Fernsehen aus ihrer Rolle als Leitmedien.
Auch die Nutzung von Zeitungen, Zeitschriften und
Fernsehen nimmt insbesondere bei jungen Menschen zugunsten des Internets massiv ab.
Wir befinden uns also in einer Umbruchsituation.
Internet und Konvergenz werden die klassischen Medienangebote aber nicht gänzlich verdrängen. Denn die
klassischen Medien bedienen nach wie vor menschliche
Grundbedürfnisse, die in ihrem Kern keinem Wandel unterliegen. Für Zeitungen, Zeitschriften und Bücher ist
das der Wunsch nach Muße, Entschleunigung, fundierter
Information und Raum für Fantasie. Für das Fernsehen
ist das das Bedürfnis nach Unterhaltung und Information, die nicht vom Zuschauer selbst gesteuert werden
müssen. Die Medienpolitik hat also mit den traditionellen Medien weiter zu rechnen. Deshalb muss sie dafür
sorgen, dass auch diese Medien eine faire Chance haben.
Insbesondere die Printmedien müssen den Onlinebereich
als zusätzliche Chance nutzen können.
({3})
- Dass dies auch für den Rundfunk gilt, Herr Kollege
Tauss, ist selbstverständlich. Um die Stärke des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Onlinebereich brauchen
wir uns allerdings keine Sorgen zu machen; wie wir sehen, sorgt er schon selbst dafür, dass er im Onlinebereich
gut vertreten ist.
({4})
Meine Damen und Herren, die wachsende Zahl der
Medienangebote und Kommunikationsmöglichkeiten
verlangt den Menschen immer mehr Kenntnisse und Fertigkeiten ab. Dies gilt umso mehr, als der kompetente
Umgang mit Technik und Inhalten heute stärker als jemals zuvor Voraussetzung für die individuelle Orientierung, für die gesellschaftliche Teilhabe und für beruflichen Erfolg ist. Damit wird die durchgreifende und
nachhaltige Verbesserung der Medienkompetenz zu einem immer wichtigeren Thema der Medienpolitik.
({5})
Medienkompetenz ist unabdingbar, um die in Fachkreisen viel diskutierte „digitale Spaltung“ der Gesellschaft
in eine Infoelite einerseits und in Modernisierungsverlierer andererseits zu vermeiden.
Die Bundesregierung hat deshalb eine Vielzahl innovativer und nachhaltiger Projekte aufgelegt, die von
Printmedien bis zu Computerspielen sämtliche Medienbereiche umfassen und vielfach gemeinsam mit Partnern
aus Wirtschaft und Bildungseinrichtungen durchgeführt
werden. Als herausragende Beispiele zu nennen sind
etwa die „Nationale Initiative Printmedien“, „Ein Netz
für Kinder“, die Einrichtung von „Vision Kino“ und last,
but not least die vom Bundestag initiierte Vergabe eines
Deutschen Computerspielpreises, den wir erstmals Ende
März dieses Jahres, gemeinsam mit der Computerspielbranche, verleihen.
({6})
Ich finde, das ist ein wichtiges Signal im Hinblick auf
Qualitätsanforderungen für diesen Bereich.
Die Digitalisierung eröffnet einerseits enorme Chancen für die individuelle, gesellschaftliche und politische
Kommunikation und Entwicklung, für Bildung, für Wissenschaft und Wirtschaft. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die gravierenden Veränderungen in den genannten Bereichen der Medien auch Risiken mit sich
bringen. Ich denke dabei besonders an die neuen Formen
jugendgefährdender Angebote, an Urheberrechtsverletzungen und an das Problem der Datensicherheit im Netz.
Wenn das positive Potenzial der Digitalisierung für den
Einzelnen und für die Gesellschaft voll zur Entfaltung
kommen soll, dann müssen wir diese Risiken auf ein Minimum reduzieren.
({7})
Der vorliegende Bericht - lassen Sie mich dies abschließend sagen - belegt mit einer Vielzahl konkreter
Projekte, dass die Bundesregierung konsequent das Ziel
verfolgt, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen und
ihre Risiken so weit wie möglich zu begrenzen. Dies ist
der richtige Wegweiser, um mit dieser Zukunftsindustrie
auch weiterhin Erfolg zu haben.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Joachim Otto
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einige durchaus positive Aspekte: Dass wir heute
zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode Gelegenheit
haben, in der Kernzeit über Medien- und Kommunikationspolitik zu sprechen, verdanken wir der Tatsache,
dass Staatsminister Bernd Neumann einen Auftrag des
Parlaments getreulich und in beeindruckender Weise
ausgeführt hat. Der vorliegende Medien- und Kommunikationsbericht ist in der Tat eine sehr gute Grundlage für
vielfältige weitere Diskussionen; er ist ein Kompendium, an dem wir uns in den nächsten Jahren orientieren
werden können.
({0})
Zu begrüßen ist, dass dieser Bericht über eine reine
Bestandsanalyse weit hinausgeht. Er identifiziert wesentliche Entwicklungstrends, an denen wir uns bei der
Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen für die
Informationsgesellschaft orientieren können. Dabei fallen völlig zu Recht vor allem zwei Schlagworte: Digitalisierung und Konvergenz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es mag noch nicht überall durchgedrungen sein;
aber wir leben bereits im digitalen und konvergenten
Zeitalter. Ohne die Erkenntnis dieser Tatsache wird man
keine zukunftsorientierte Medienpolitik mehr gestalten
können.
Der Deutsche Bundestag respektiert natürlich die
grundsätzliche Zuständigkeit der Bundesländer für die
Medienpolitik. Allerdings ist der im Bericht vertretenen
Auffassung sehr nachhaltig zuzustimmen, dass eine
große - ich füge hinzu: eine wachsende - bundespolitische Verantwortung für die Wahrung und Sicherung
der Meinungsfreiheit und -vielfalt in Deutschland existiert. Ebenfalls ist vor dem Hintergrund der Tatsachen,
dass medienpolitische Entscheidungen der Bundesländer
nicht nur regionale, sondern auch beträchtliche gesamtstaatliche Wirkungen entfalten und im Übrigen der Bund
die deutsche Medienpolitik im Rahmen internationaler
Abstimmungen vertreten muss, ein Engagement des
Bundes dringend geboten. Auch insoweit, Herr Staatsminister, stimmen wir mit Ihnen überein.
Schließlich weise ich auf die ebenfalls richtige Feststellung im Bericht hin, dass Medien und Kommunikation als politische Kategorien nicht nur, aber eben auch
dem Bereich der Wirtschaftspolitik zuzuordnen sind.
Deshalb ist das reflexhafte Wegducken aller Fraktionen
im Bundestag - natürlich außer der FDP -,
({1})
wenn es etwa um die schwerwiegenden wettbewerblichen Konsequenzen des letzten Rundfunkstaatsvertrags
oder um die anstehende Novellierung der EU-Rundfunkmitteilung geht, für mich immer schwerer nachzuvollziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht enthält viele richtige Erkenntnisse und gute Hinweise. Dies hat die FDP auch in
dem Entschließungsantrag angesprochen, der Ihnen zu
diesem Bericht vorliegt und der nachher an die Ausschüsse überwiesen werden wird. Leider zieht die Bundesregierung an einigen entscheidenden Stellen aus ihren richtigen Erkenntnissen nicht die notwendigen
Konsequenzen. Wenn wir uns die vielen gesetzgeberischen Aktivitäten und Unterlassungen der Regierungsfraktionen und der Bundesregierung aus den letzten Monaten und Jahren vergegenwärtigen, zeichnet sich ein
nicht mehr ganz so helles Bild der deutschen Medienund Kommunikationslandschaft ab, wie es der Bericht
suggeriert.
Von den vielen Baustellen spreche ich nur einige
wichtige an und komme zunächst auf ein sehr aktuelles
Thema zu sprechen, bei dem die FDP allerdings seit Jahren Veränderungen gefordert hat. Nun ist das Kind in
den Brunnen gefallen. Sie ahnen es womöglich bereits:
Es geht um das ZDF. Einige Politiker in Amt und Würden sind gerade dabei, nicht nur gute und bewährte Führungskräfte dieses öffentlich-rechtlichen Senders in aller
Öffentlichkeit zu demontieren, sondern gleich auch das
Vertrauen in das gesamte ZDF zu beschädigen.
({2})
Ich komme nicht umhin, auch Ihnen, Herr Staatsminister, dafür eine Mitverantwortung zuzuschreiben.
({3})
Sie sind nämlich Mitglied im Verwaltungsrat des ZDF.
Sie müssen nun endlich insbesondere Ihre Parteifreunde
- auch einen aus Hessen - zur Räson bringen.
({4})
Hans-Joachim Otto ({5})
Was dort gerade um Nikolaus Brender und das ZDF
herum abläuft, ist geeignet, das ZDF als eine wichtige
Säule der deutschen Medienordnung zu diskreditieren.
({6})
Beenden Sie bitte das unwürdige Spiel der parteipolitischen Pression!
({7})
Herr Kollege Otto, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Börnsen?
Aber sicher.
Bitte sehr, Herr Kollege Börnsen.
Das fängt schon gut an.
({0})
- ist es nicht vertretbar, dass wir, da wir alle Vorgänge
in unserer Gesellschaft kritisch hinterfragen, auch die
Tätigkeit von Journalisten, von Personen kritisch hinterfragen?
({0})
Darf es eigentlich einen Schonraum nur für Journalisten
geben? Ich glaube, das wäre auch nicht im Sinne der
FDP.
Wenn innerhalb von sieben Jahren 20 Prozent weniger Zuschauer bei der Sendung heute, 10 Prozent weniger beim heute-journal und 56 Prozent weniger beim
Auslandsjournal einschalten, dann muss doch der Verwaltungsrat eines Senders auf diese Rückgänge und anderes im Sender insgesamt reagieren. Besteht nicht die
Notwendigkeit, dass der Verwaltungsrat kritisch hinterfragt, ob das an Personen oder an der Struktur liegt?
Muss nicht auch ihm das Recht zugestanden werden,
sich mit dem Gesamtsachverhalt zu befassen und gleichzeitig dazu aufzufordern, über neue Strukturen nachzudenken?
({1})
Warum muss eigentlich immer die Politik die Kohlen
aus dem Feuer holen?
({2})
Es gibt dort eine Vielzahl kluger Leute aus der Zivilgesellschaft.
({3})
Warum kann man das nicht auf den Sachverhalt und
nicht nur auf Personen zuschneiden?
Lieber Wolfgang Börnsen, Nikolaus Brender ist nicht
nur ein guter, sondern auch ein erfahrener Journalist, der
von allen seinen Mitarbeitern im Sender hoch gelobt
wird. Wenn es so wäre, dass diese Rückgänge, die du
eben benannt hast, auf Herrn Brender zurückzuführen
wären, dann würde auch ich den Sachverhalt anders sehen.
Wir sagen in aller Klarheit: Der öffentlich-rechtliche
Rundfunk hat den Auftrag, ein Qualitätsprogramm zu
machen.
({0})
Mit diesem Qualitätsprogramm erzielt man nicht immer
eine Riesenquote. Ich verlange von Nikolaus Brender
und dem ZDF nicht, dass sie die gleiche Quote wie RTL
mit seinen Nachrichten erzielen. RTL liegt mit seinen
Nachrichtensendungen weit vorne. Das ist nicht die Aufgabe des ZDF. Wir Gebührenzahler zahlen dafür, dass
hier ein gutes Programm gemacht wird.
Die Nachrichtensendungen des ZDF sehe ich von allen Nachrichtensendungen am häufigsten. Ich finde, dass
das ZDF-Nachrichtenprogramm, und zwar sowohl heute
als auch das heute-journal, ganz hervorragend ist.
({1})
Dieses Programm ist prämiert. Alle Mitarbeiter im Sender stehen hinter Nikolaus Brender.
Ein letztes Wort dazu: Seien wir bitte nicht blauäugig
und naiv. Es geht hier um eine parteipolitische Sache.
({2})
Das ist ein ganz klarer Sachverhalt. Es geht hier nicht
um die Qualität. Natürlich hat der Verwaltungsrat die
Aufgabe, zu kontrollieren. Das ist gar keine Frage.
({3})
- Wenn ich mich für Ihren Sender einsetze, lieber Herr
Kollege Grindel, dann sollten Sie darüber doch beglückt
sein.
({4})
Ich setze mich ja nicht jeden Tag so lebhaft für das ZDF
ein. - Ich setze mich für das ZDF und für Nikolaus
Brender ein, weil ich der Meinung bin, dass dort ein her22402
Hans-Joachim Otto ({5})
vorragendes Programm gemacht wird - jedenfalls überwiegend.
Kritik kann man immer üben, vor allen Dingen am
Verwaltungsrat. Ich möchte aber ganz klar sagen: Die
Kritik, die mein hessischer Ministerpräsident geäußert
hat, überzeugt mich von vorne bis hinten nicht.
({6})
Wir reden in der Koalition in Hessen auch darüber.
({7})
Lange Rede, kurzer Sinn: Das öffentlich-rechtliche
Programm ist und bleibt einem spezifischen Qualitätsauftrag verpflichtet. Ich glaube, dass Herr Brender dafür
ein guter Vertreter ist.
Wenn wir schon dabei sind: Die Causa Brender und
auch - jetzt kommt vielleicht der Beifall von der anderen
Seite - die delikate Geburtstagssause für Kurt Beck auf
Kosten des ZDF
({8})
sind nur die Spitze des Eisberges. Es ist allerhöchste
Zeit, die Aufsicht über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk grundlegend zu reformieren.
({9})
Wir benötigen endlich eine effektive, externe und professionelle Aufsicht, die nicht zuletzt über den sachgerechten und sparsamen Einsatz der 8 Milliarden Euro,
die wir Gebührenzahler jedes Jahr bezahlen müssen,
wacht. Das jetzige System der Binnenkontrolle ist nicht
effizient. Dadurch entstehen auch Schieflagen und Wettbewerbsverzerrungen im Mediensystem, zum Beispiel
durch die immer noch ungebremste Expansion der öffentlich-rechtlichen Anstalten im Internet, welche die eigentlich durch das duale System sicherzustellende Medien- und Meinungsvielfalt gefährden. Hier ist auch der
Bund - nicht zuletzt auch die Bundespolitiker in den verantwortlichen Gremien, Herr Staatsminister - gefragt.
Um das Thema Rundfunk an dieser Stelle abzuschließen, sei noch darauf hingewiesen, dass auch die Finanzierungsfrage weiterhin im Raume steht. Am anachronistischen System der gerätebezogenen Rundfunkgebühr und der Schnüffelbehörde GEZ festzuhalten, ist
fahrlässig.
({10})
Helfen Sie mit bei der Einführung einer allgemeinen und
pauschalen Medienabgabe! Das hieße weniger Bürokratie, keine unfairen Doppelbelastungen, keine GEZSchnüffler und wäre also eine klassische Win-win-Situation.
In diesem Zusammenhang möchte ich es nicht versäumen, mein medienpolitisches Ceterum censeo anzubringen: Wir benötigen insgesamt eine einheitliche Aufsichtsund Regulierungsstruktur für Medien und Telekommunikation nach dem Vorbild der britischen Ofcom. Unsere
bürokratische und zersplitterte Aufsichtslandschaft behindert den Wettbewerb und verhindert Investitionen
und Innovationen in Deutschland.
Nächstes Thema: In dem Bericht wird korrekterweise
die Wichtigkeit eines diskriminierungsfreien Zugangs zu
Kommunikationsinfrastrukturen angesprochen. Wir haben uns gestern in der Regierungsbefragung mit der
Breitbandstrategie der Bundesregierung auseinandergesetzt. Es zeichnet sich eine dramatische Änderung dieser Strategie ab. Es wird immer deutlicher, dass man auf
ein marktbeherrschendes Unternehmen setzt und den
Wettbewerb zurückdrängt. Die Strategie lautet: Deutsche
Telekom, baue bitte für uns das Breitbandnetz in der Republik aus; dafür schützen wir euch vor den Wettbewerbern. Ich kann vor einer solchen Strategie nur warnen.
Wettbewerb ist gerade auch im Telekommunikationsbereich eine wichtige Voraussetzung. Wer den Wettbewerb
einschränkt, der schränkt auch Innovationen und Investitionen ein.
({11})
Ein Punkt, den ich besonders hervorheben möchte, ist
die Überwachung und Speicherung von Telekommunikation. Ich zitiere aus dem Bericht die Eigenwahrnehmung der Regierungskoalition:
Die Bundesregierung ist sich dieser besonderen
verfassungsrechtlichen Sensibilität der Gesetzgebung im Sicherheitsbereich bewusst und achtet bei
allen Maßnahmen sorgfältig darauf, dass die berechtigten grundrechtlichen Belange der Journalisten und Medienunternehmen gewahrt bleiben.
Schöne Worte. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher,
ob die gesamte Bundesregierung diese Aussage bei
Lichte betrachtet unterschreiben würde.
({12})
Die letzten Jahre waren von einer massiven Ausweitung
von Überwachungs- und Speicherungspflichten gekennzeichnet. Aber damit nicht genug: Sie wollten auch
noch, dass der riesige technische Aufwand, der dazu betrieben werden muss, am besten von anderen - von privaten Unternehmen - bezahlt wird. So geht das aber
nicht. Auch die Gerichte haben der Bundesregierung in
unterschiedlichsten Instanzen - vom Amtsgericht bis
zum Bundesverfassungsgericht - bereits schallende Ohrfeigen verpasst.
Herr Staatsminister, wirken Sie bei Ihren Kollegen im
Kabinett und vor allen Dingen bei Ihren Kollegen in Ihrer Fraktion darauf hin, dass endlich wieder ein gesundes
Maß zwischen gebotenen Sicherheitsinteressen einerseits und einem hohen Maß an Meinungs-, Medien- und
Kommunikationsfreiheit andererseits gefunden wird.
Außerdem empfehle ich Ihnen sehr, ein faires Entschädigungsregime zu installieren, wenn Sie zu viele Ohrfeigen durch die Gerichte meiden wollen. Entsprechende
Vorschläge liegen vor.
Ich möchte noch ein Wort zu einem Thema sagen, das
ganz aktuell ist.
Dann müssen Sie sich aber bitte beeilen.
Ja.
({0})
- Ich habe häufiger recht, Herr Kollege Tauss.
Bedauerlicherweise ist die Redezeit häufig dann zu
Ende, wenn der unstreitig richtige Teil folgen soll.
({0})
Ob er unstreitig ist, lieber Herr Präsident, kann ich Ihnen nicht versprechen.
Sehen Sie! Deswegen ermahne ich Sie und weise darauf hin, dass Ihre Redezeit eigentlich abgelaufen ist.
({0})
Ich komme sofort zum Ende.
Es gab gestern eine Anhörung im Wirtschaftsausschuss zu einem der wichtigsten Gesetze, die es im Bereich des Internets gibt, nämlich zum Telemediengesetz.
Diese Anhörung - übrigens zu einem Gesetzentwurf der
FDP - hat gezeigt: Wir brauchen dringend präzisere Haftungsregelungen, die die Innovationsfähigkeit und die
Meinungsfreiheit im Internet stärken. Es darf nicht sein,
dass ganze Meinungsforen oder Wikipedia abgeschaltet
werden müssen, nur weil sich irgendjemand - manchmal
auch aus der Linkspartei - durch dort von einem Dritten
vorgebrachte Äußerungen gestört fühlt. Die Regierungsfraktionen und die Bundesregierung sind aufgefordert,
schnellstmöglich, noch in dieser Legislaturperiode, das
Telemediengesetz zu ändern.
({0})
Es gäbe noch vieles zu sagen, allerdings nicht jetzt.
Seien Sie sicher: Die FDP-Fraktion wird sich an den notwendigen Diskussionen und Reformen gerade in diesem
Bereich sehr konstruktiv beteiligen. Wir wissen: Medien
und Kommunikation sind Branchen der Zukunft. Medien und Kommunikation prägen die Kultur des Landes.
Herr Kollege Otto!
Deswegen, lieber Herr Präsident, komme ich jetzt
zum Ende.
({0})
Herr Kollege Otto, es ist schon außerordentlich bedauerlich, dass Sie weit jenseits der vorgesehenen Redezeit nicht mehr die Gelegenheit wahrgenommen haben
für einen knappen Dank an das Präsidium wegen seiner
Großzügigkeit.
({0})
Nun erhält für eine Kurzintervention das Wort der
Kollege Jörg Tauss.
({1})
Jetzt klatsche ich einmal bei einem FDP-Redner Beifall, und Herrn Westerwelle ist es wieder nicht recht.
Herr Staatsminister, Sie haben den von uns allen begrüßten Bericht vorgelegt. Ich hätte mir aber in der Tat
gewünscht, dass Sie zu dem Thema, das der Kollege
Otto angesprochen hat, nämlich zum derzeitigen Skandal im Verwaltungsrat des ZDF, dem Sie angehören, einige Worte verloren hätten. Meine Bitte lautet, das nachzuholen, insbesondere im Hinblick darauf, was der
Kollege Börnsen gesagt hat. Lieber Wolfgang Börnsen,
Sie haben Zahlen genannt, die nicht nachvollziehbar
sind.
Herr Staatsminister, mich interessiert, ob es die Meinung der Bundesregierung und speziell Ihre ist - die
Meldungen im Zusammenhang mit den Nachrichtensendungen zum Beispiel auf 3sat sind falsch; das wissen wir
alles; der Staatsminister weiß es als Mitglied des Verwaltungsrates sicherlich besser -, dass Nachrichtensendungen im öffentlich-rechtlichen Bereich denselben Anforderungen an die Quote zu unterwerfen sind wie
Unterhaltungssendungen in anderen Bereichen. Dies
hielte ich für problematisch, Wolfgang Börnsen.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Monika Griefahn
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Was lange währt, wird endlich gut. Nun
liegt der lang ersehnte und von der SPD-Fraktion immer
wieder eingeforderte Bericht endlich vor. Der Bundestag
hat 1976 die Bundesregierung aufgefordert, fortlaufend
über die Entwicklung im Medienbereich zu berichten. In
Bezug auf die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ist viel passiert. Wenn ich mir das
Ganze genau anschaue, dann stelle ich fest: Die Digitalisierung und die Konvergenz von Medien erfordern neue
Antworten. Wir brauchen einen Schulterschluss zwi22404
schen Bund und Ländern; denn wir haben Kompetenzen
in beiden Bereichen. Leider sind die Ländervertreter
heute nicht anwesend. Es wäre gut, wenn wir schon hier
mit dem Schulterschluss beginnen würden.
({0})
- Ja, aber wir haben beides: zum Beispiel das Telemediengesetz oder das Jugendschutzgesetz, wofür der Bund
zuständig ist, und auf der anderen Seite Gesetze, die in
der Kompetenz der Länder liegen.
Wir müssen die Vielfalt erhalten. Wir brauchen die
Verzahnung von medien-, kultur-, bildungs- und wirtschaftspolitischen sowie technologischen Fragen. Wir
haben es immer noch nicht geschafft, diese Fragen umfassend aufzugreifen. Von daher bietet der Bericht meiner Ansicht nach eine gute Grundlage, um in diesem
Feld weiterzuarbeiten.
Ein sehr umfassendes Handlungsfeld sind die elektronischen Medien und der Rundfunk; das haben wir gerade
in der Debatte angesprochen. Ganz wichtig ist auch der
Bezug - dieser wurde hier noch nicht besonders herausgearbeitet - zur europäischen Medienordnung. Wir sehen
im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass die Europäische Kommission im Moment die Rundfunkmitteilung
überarbeitet, in der es um die staatliche Finanzierung des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks bezogen auf das Beihilferecht geht. Gerade heute - parallel zu unserer Sitzung hier - wird im Europäischen Parlament eine Anhörung durchgeführt, in der sehr viele Mitgliedstaaten sehr
deutlich Kritik an der geplanten Überarbeitung üben.
Das kann ich nur unterstützen.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Bundesregierung auch in ihrer Position, dass eine grundsätzliche Überarbeitung der Rundfunkmitteilung aus dem
Jahre 2001 überhaupt nicht notwendig ist. Hier wird
wieder versucht, über den Umweg Brüssel die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durch Gebühren grundlegend infrage zu stellen. Insofern nutzen solche Aktionen, wie sie im Moment laufen - auf diese sind
der Kollege Otto und der Kollege Tauss eingegangen -,
auch nicht viel. Denn auch damit wird das öffentlichrechtliche System infrage gestellt. Das muss man hier
auch einmal sehr deutlich sagen.
({1})
Nach dem Amsterdamer Protokoll zum EG-Vertrag
liegt die ausschließliche Kompetenz für den Rundfunk
bei den Mitgliedstaaten. Die Besonderheit des Rundfunks liegt darin, dass es ein Kultur- und Wirtschaftsgut
ist. Ich betone noch einmal: Es ist ein Kultur- und Wirtschaftsgut, also nicht nur ein Wirtschaftsgut. Es kann
also nicht Aufgabe der EU-Kommission sein, im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks unter wettbewerbsrechtlichen Aspekten einzugreifen.
Wir haben doch die Situation, dass wir im letzten Jahr
intensiv darüber diskutiert haben, wie der Beihilfekompromiss, also die Anforderungen, die im Hinblick auf
Digitalisierung und Internetnutzung an öffentlich-rechtlichen Rundfunk gestellt worden sind, im 12. Rundfunks-änderungsstaatsvertrag in den Ländern umgesetzt
wird. Man sollte erst einmal abwarten, wie sich die Umsetzung des Dreistufentests in der Praxis bewährt. Diesen haben wir immer als problematisch erachtet, weil
wir meinen, dass auch für die Öffentlich-Rechtlichen die
Möglichkeit bestehen muss, digitale Angebote zu machen. Was jetzt allerdings auf EU-Ebene geschieht, ist,
dass die privaten Anbieter wieder probieren, nationales
Medienrecht zu umgehen, weil es ihnen nicht passt, und
sie noch einmal nachsetzen. Das finde ich nicht akzeptabel, und das muss man hier auch einmal deutlich machen.
Von allen Seiten wird auf die Unabhängigkeit und die
notwendige Sachkunde in den Gremien des öffentlichrechtlichen Rundfunks hingewiesen. Nun sehen wir,
dass politisch Einfluss genommen wird. Von daher sollten wir uns überlegen, ob wir nicht die Gremienstruktur verändern müssen, damit solche Sachen - Herr Kollege Otto hat sie angesprochen - nicht mehr passieren.
Ich denke, auch das ist ein Punkt, über den wir hier intensiv reden müssen.
({2})
Ich - und natürlich auch die SPD-Fraktion - streite
für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das heißt aber
auch, dass die Unabhängigkeit gewährleistet werden
muss und dass wir Qualität haben wollen und müssen.
({3})
Das ist unsere Anforderung an öffentlich-rechtlichen
Rundfunk.
Herr Koch, Sie haben in der Diskussion über den
12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag einen engen, an
Qualität orientierten Programmauftrag gefordert. Bitte
setzen Sie es um, und lassen Sie die Leute arbeiten! Das
ist jetzt notwendig.
({4})
- Ja, das ist der Punkt. Wir haben genau diese Situation
im Moment.
Es ist meiner Meinung nach sehr wichtig, dass im Bericht neue Themen aufgegriffen worden sind. Wir haben
über die Computerspiele gesprochen. Der Herr Staatsminister hat darauf hingewiesen, dass wir am 31. März
in München das erste Mal den „Deutschen Computerspielepreis“ verleihen werden. Ich meine, es ist wichtig,
darauf aufmerksam zu machen, dass wir gute Produktionen in Deutschland haben. Wir führen eben nicht diese
Diskussion um die Killerspiele weiter. Vielmehr haben
wir wunderbare Spiele wie zum Beispiel „Die Siedler
von Catan“. Nennen möchte ich auch „Wii Fit“, das im
internationalen Bereich ein großer Renner ist, sowie
Fußballspiele, die viel größere Marktanteile haben als
die berühmten Killerspiele. Wir haben den Jugendschutz, glaube ich, auch in dem Bereich verstärkt, indem
wir die Kennzeichnung verbessert haben.
Ein wichtiger Punkt ist: Wir versuchen jetzt, die Medienkompetenz in allen Bereichen zu verstärken. Die
Computerspiele haben heute - wie der Film - eine ganz
wichtige Funktion auch im künstlerischen Bereich. Die
Musikentwicklung, die Designentwicklung, die Kostümentwicklung und alles, was im Film passiert, gibt es auch
in den Computerspielen. Das wird dadurch deutlich.
({5})
Frau Kollegin Griefahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Jochimsen?
Ja, gerne.
Frau Kollegin Griefahn, Sie haben gerade gesagt, die
Politik müsse sich eventuell überlegen, ob die Gremienbesetzung in Zukunft anders gestaltet werden sollte.
Diese Überlegung gibt es schon seit Jahrzehnten.
Stimmen Sie mir zu, dass es eigentlich zwei ganz einfache Handlungsweisen gäbe? Erstens. Man könnte dem
ZDF eine Intendantenverfassung, wie sie der Hessische
Rundfunk hat, geben, gemäß der der Intendant die Besetzung seiner herausragenden journalistischen Positionen
überhaupt nicht mit dem Verwaltungsrat abstimmen
muss. Der Hessische Rundfunk hat, seit es diesen Sender
gibt, eine Intendantenverfassung innerhalb der ARD, die
man übernehmen könnte. Zweitens. Man könnte - auch
das ist seit Jahren in der Diskussion - einfach bestimmen, dass in den Verwaltungsrat keine Vertreter von Parteien berufen werden. Darüber ist übrigens sehr lange
und sehr oft diskutiert worden.
Stimmen Sie mir zu, dass es eigentlich ganz einfache
Wege gibt, aus dieser Situation herauszukommen, dass
darüber schon seit Jahrzehnten diskutiert wird und die
Vorschläge letztendlich an der Politik scheitern, weil
doch wieder die Vertreter der Parteien in die Gremien
berufen werden?
({0})
Intendantenverfassungen gibt es in vielen Einrichtungen. Deswegen ist das eine sinnvolle Frage. Die Verwaltungsgremien entscheiden über den Intendanten, und der
Intendant darf dann selber entscheiden, wie er seine Politik gestaltet. Das halte ich für richtig. Ich glaube, das ist
auch in diesem Fall richtig. Die Frage, ob die Vertreter,
die nicht von den Parteien kommen, trotzdem parteipolitisch gebunden sind, bleibt aber offen. Die gesellschaftlichen Gruppen sollen vertreten sein, es muss aber darauf
geachtet werden, dass nicht Parteien innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen ein Übergewicht gewinnen.
Das ist eine wichtige Diskussion, die wir noch führen
müssen.
({0})
Wenn wir über Computerspiele sprechen, müssen wir
auch noch einen Satz zu der aktuellen Situation des
Filmförderungsgesetzes sagen. Wir haben das Gesetz
Ende des letzten Jahres novelliert. Es gab ein Verfahren
von einigen Kinobetreibern vor dem Bundesverwaltungsgericht - ich will ausdrücklich sagen: nicht von allen -, das dazu geführt hat, dass diese Kinobetreiber im
Prinzip recht bekommen haben. Ich denke, die Bundesfilmförderung, die Förderung über die Filmförderanstalt ist sehr wichtig. Sie nutzt allen: Sie nutzt den Kinos,
sie nutzt den Filmemachern, sie nutzt den Produzenten,
und sie nutzt den Kinobesuchern, weil es eine Vielzahl
von Filmen gibt, die nicht nur ausschließlich von den
Ländern gefördert werden.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle dringend darum
bitten, dass sich alle an einen Tisch setzen - ich weiß,
dass heute das Präsidium der FFA zusammentritt und
darüber diskutiert wird - und an einer Lösung arbeiten.
Es kann doch nicht angehen, dass dieses bewährte Instrument der bundesweiten Filmförderung, das von einer
solidarischen Gemeinschaft finanziert und umgesetzt
wird, dadurch aufgehoben wird, dass einige nicht damit
einverstanden sind. Also noch einmal an dieser Stelle:
Wir brauchen eine Lösung. Die Förderung darf nicht nur
über die Länder, sondern muss auch über den Bund laufen. Wir brauchen jetzt eine Lösung in diesem Fall. Ich
würde mir sehr wünschen, dass wir an dieser Stelle weiterkommen.
Die Konvergenz der Medien und die Zahl der crossmedialen Medienformen nehmen zu. Wir brauchen eine
an dieser Entwicklung orientierte Medienordnung. Diese
wird immer notwendiger. Wir müssen immer wieder Jugendmedienschutz und Datenschutz prüfen, da es immer
mehr Übertragungswege und -formen gibt, und wir müssen überlegen, was noch getan werden kann, und bisherige Verfahren infrage stellen. Wir müssen uns stärker
mit der Frage auseinandersetzen, ob für das Zusammenwachsen der Medienstrukturen nicht eine sektorübergreifende Medienordnung notwendig ist. Ich glaube, ja.
Diese Medienordnung haben wir schon vor einigen Jahren gefordert. Der Kommunikationsbericht ist jetzt ein
guter neuer Ansatz, um daran weiterzuarbeiten. Ich wünsche mir, dass wir das in der nächsten Legislaturperiode
gemeinsam mit allen Fraktionen konstruktiv anpacken;
denn das geht uns alle an.
Danke schön.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Lothar Bisky für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bedeutung von Medienpolitik wird heute
allgemein und von allen politischen Parteien unterschätzt. Peter Glotz sprach bereits im Jahr 1970 von der
Medienpolitik als dem fünften Rad am Wagen der Politik. Besser ist es bis in die Gegenwart nicht geworden.
Wir reden heute in der Kernzeit über dieses Thema. Vielleicht ist das der Beginn einer allmählichen Veränderung, was ich jedenfalls hoffe.
Die gewählten Medienpolitikerinnen und Medienpolitiker haben erstaunlich wenig zu entscheiden. Weder
in den Landesparlamenten noch im Bundestag noch im
Europäischen Parlament werden die Grundlinien der
Medienpolitik bestimmt. Die wesentlichen Entscheidungen fällen andere in außerparlamentarischen Verhandlungssystemen und Netzwerken: in Deutschland zum
Beispiel in der Rundfunkkommission, einem komplett
intransparenten Gremium. Auf europäischer Ebene sieht
es nicht besser aus. Ebenso informelle Gremien der
Kommissarin für Informationsgesellschaft und Medien
und der Kommissarin für Wettbewerb haben hier das Sagen.
Im Bundestag sind die medienpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten - das wissen Sie alle - aufgrund länder- und europapolitischer Zuständigkeiten ziemlich begrenzt, obwohl es einige gibt. Im Kulturausschuss
kommen Medien zwar regelmäßig vor. Letztlich aber
herrscht in der Medienpolitik die Expertokratie.
({0})
Dabei kann es in einer demokratischen Mediengesellschaft doch gar nicht genug Transparenz und Teilhabe
geben. Insofern gebührt Staatsminister Neumann Dank,
mit dem Medien- und Kommunikationsbericht ein Dokument vorgelegt zu haben, in dem ein umfassender Ansatz gewagt wird und die Bedingungen der Medienpolitik in ihrer gesamten rechtlichen, ökonomischen und
technologiepolitischen Bandbreite aufgezeigt werden.
Der Zugang zu Kommunikation und Information berührt Grundfragen demokratischer Beteiligung. Wer die
Kulturtechniken des Digitalzeitalters nicht beherrscht,
wer sich im Internet nicht auskennt, wer keinen Zugang
zu digitalen Netzinfrastrukturen hat, kann sich an diesem
Teil demokratischer Willensbildung nicht ausreichend
beteiligen. Dieser Teil, die digitale Welt, wächst. Im digitalen Kapitalismus werden Information und Wissensproduktion unmittelbar zur Produktivkraft. Es ist entscheidend, wie und vor allem von wem die Netzwerke
digitaler Kommunikation künftig beherrscht werden.
({1})
Wir stehen hier vor neuen Herausforderungen. Die
Trennung zwischen Rundfunk und Telekommunikation
ist schon bald Geschichte. Sie wird in einer Konvergenz, also einer Angleichung der Netze, aufgelöst werden. Rundfunk, Fernsehen und Telefonate können über
digitale Netze und Frequenzen übertragen werden. Es ist
also kein Wunder, dass sich schon bald neben den etablierten Senderfamilien und Programmbetreibern zusätzlich Kabelnetz- und Telekommunikationsanbieter auf
dem Rundfunkmarkt tummeln werden. Dabei sind auch
die finanzstarken Internetkonkurrenten nicht zu vergessen, die hier Geld verdienen wollen. Genau das ist das
Problem. Sie alle wollen Rundfunk vorwiegend kommerziell und möglichst unabhängig von den kulturellen
und politischen Dimensionen eines demokratischen Gemeinwesens betreiben. Davon halten wir Linken gar
nichts.
({2})
Die fortschreitende Kommerzialisierung der Information, der wirtschaftliche Handel mit Information und
Wissen sind von einer anhaltenden Medienkonzentration
geprägt. Die Pressefreiheit sowie die Meinungs- und Informationsvielfalt sind dauerhaft gefährdet, weil der
Rendite- und der Quotendruck nach und nach den Qualitätsjournalismus verdrängen.
({3})
Meine Damen und Herren, die Medienpolitik ist gefordert, die im digitalen Zeitalter neu entstehenden Herausforderungen aufzugreifen. Das darf nicht in kleinen,
vielteiligen Regulierungsschrittchen geschehen. Es ist
ein medienpolitischer Rahmen notwendig, ein Rahmen,
der die Bedingungen der digitalen Kommunikation und
ihrer Netzwerke berücksichtigt. Aus Sicht der Linken
sind dabei mindestens vier Punkte von grundsätzlicher
Bedeutung zu berücksichtigen.
Erstens. Der Zugang zu digitalen Informations- und
Kommunikationstechnologien ist auch in Deutschland
nach Einkommen und Regionen ungleich verteilt. Dies
führt zu einer kommunikativen Spaltung der Gesellschaft. Das ist für eine Demokratie nicht sehr gut. Wir
fordern daher, endlich die Infrastruktur für ein Breitbandinternet für alle - ich betone: für alle - bereitzustellen.
({4})
Bislang konkretisiert die Bundesregierung nicht ausreichend, welche Summen sie im Konjunkturpaket II für
den Breitbandausbau bereitstellen will. Angesichts der
Milliardenforderungen aus der Industrie halte ich fest:
Die Netzinfrastruktur darf nicht mit Steuergeldern ausgebaut werden, um anschließend allein den Profitinteressen der Unternehmen überlassen zu bleiben.
({5})
Das Breitbandnetz gehört in die Hand der Gesellschaft.
({6})
Zweitens. Der freie und gleiche Informationsfluss im
Netz ist ein hohes Gut. Meine Damen und Herren von
der Union, ich kenne Ihre Sehnsucht, das Internet zu
überwachen und zu kontrollieren. Sie machen sich damit
zum Erfüllungsgehilfen von Industrieinteressen.
({7})
Die Linke sagt dazu Nein.
({8})
Wir lehnen es ab, dass das Urheberrecht im Digitalzeitalter zum Industrierecht verkommt.
({9})
Ein modernes Urheberrecht muss stattdessen die Interessen der Kreativen in den Mittelpunkt stellen.
({10})
Selbstverständlich müssen Privatkopien und Kopien für
Bildungs- und Forschungszwecke möglich sein und bleiben.
Drittens. Es gilt, die rein betriebswirtschaftliche
Denkweise im Medienmarkt zu begrenzen. Um zu verhindern, dass Rundfunk und Presse als reines Kommerzgeschäft betrieben werden, sollte über eine alte Idee neu
nachgedacht werden: Ich denke an Redaktionsstatute.
({11})
Sie könnten dazu beitragen, die redaktionelle Unabhängigkeit zu stärken.
({12})
Sie ist bitter notwendig, damit die Aushöhlung öffentlicher Berichterstattung im rein finanziellen Interesse verhindert wird.
({13})
Gerade die Massenkommunikation muss demokratisch
legitimiert sein.
({14})
Viertens. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sollte
die mit der Digitalisierung verbundenen neuen Entwicklungsmöglichkeiten frei und ohne Einschränkungen nutzen können. Allerdings dürfen neue digitale Aktivitäten
kein Grund sein, die Rundfunkgebühr zu erhöhen.
Meine Damen und Herren, in einem zukunftsfähigen
öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben die Kreativen
mehr und die Verwaltungen weniger zu sagen,
({15})
sind Mitspracherechte der Zuschauerinnen und Zuschauer selbstverständlich, ist eine konsequent werbefreie, nicht kommerzielle Ausrichtung die Grundlage für
Qualität. In einem zukunftsfähigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk gäbe es mehr Sachverstand in den Rundfunkgremien.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will nur kurz erwähnen - Herr Otto ist darauf eingegangen; Kollegin
Griefahn hat dazu gesprochen -: Die unappetitlichen
Vorgänge im ZDF zeigen doch, dass der Parteienproporz und der Versuch, in den Medien immer wieder Parteiinteressen durchzusetzen, nicht der Geschichte angehören, sondern lebendige Gegenwart sind.
({16})
Deshalb schlagen wir einen Parteienrückzugsvertrag vor.
Wir sind für den Rückzug unserer Vertreter aus den Gremien, wenn die anderen Parteien mitmachen. Lassen Sie
die frei gewordenen Plätze in den Gremien durch gewählte Rundfunk- und Medienräte besetzen!
({17})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt erwähnen. In der digitalen Welt gibt es ein Informationsprekariat. Die Linke ergreift ausdrücklich Partei für die
vielen Medien- und Kreativschaffenden, die neuen Formen von Ausbeutung und Prekarisierung unterworfen
sind und oft noch nicht einmal ein Einkommen von
1 000 Euro im Monat - damit werden Kunst- und Kulturschaffende hierzulande abgespeist - erreichen. Sie
sind die eigentlichen Leistungsträgerinnen und Leistungsträger und müssen für ihre Arbeit besser bezahlt
werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat nun der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Herr Kollege, ich dachte, Sie wären froh darüber, dass
wir den Medienbericht zur Primetime diskutieren. Dem
entspricht auch, wer alles dazu redet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Bericht ist in der Tat beeindruckend, weil er die
ganze Breite und Vielfalt der alten und neuen Medienprobleme darstellt. Er hat große Stärken in der Gesamtschau und in der Analytik, aber noch Schwächen im Zusammenhang mit konkreten Vorschlägen dazu, wie
bestimmte Punkte umzusetzen sind. Zum Beispiel brauchen wir wegen der Konvergenz der verschiedenen Medien neue Formen der Monopolkontrolle. Die bisherigen Formen funktionieren bei Presse und Hörfunk, aber
nicht so gut bei den Computermedien. Wir sind noch
nicht so weit, das im Sinne einer effektiven Konzentrations- und Monopolkontrolle neu aufzustellen. Wir in
der Politik - nicht nur der Staatsminister, sondern auch
das Parlament - haben die Aufgabe, dies jetzt zu konkretisieren.
Nach der Lektüre des Berichts finde ich, dass die Spuren dafür gelegt sind, wie es gemacht werden könnte.
Aber es ist unendlich mühsam und kompliziert, zu neuen
Lösungen zu kommen, die der Konvergenz, also dem
Zusammenwachsen aller Formen von Medien, wirklich
gerecht werden.
({0})
Herr Staatsminister, ich will Ihnen einmal ein Feedback geben. Wenn ich mich frage, wofür Sie, Herr
Staatsminister Neumann, eigentlich stehen, dann fallen
mir die Filmförderung, der neue Computerpreis und
vielleicht noch die „Nationale Initiative Printmedien“
ein. Aber zu allen anderen Fragen, die im Bericht als
wichtig und vorrangig beschrieben sind, hört man von
Ihnen als Staatsminister, der für den gesamten Bereich
zuständig ist, herzlich wenig.
({1})
- Ich rede jetzt auch von der Öffentlichkeit.
({2})
- Beruhigen Sie sich doch! Sie wissen, dass Fraktionsvorsitzende nicht in jedem Ausschuss sind.
Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen. Für das im
Bericht und auch von Ihnen gerade reklamierte Ziel der
Medienfreiheit sind Themen wie Onlinedurchsuchung
und Vorratsdatenspeicherung elementar. Was Innenminister Schäuble in diesem Bereich gemacht hat, das sind
Anschläge auf die Rundfunk- und Medienfreiheit, und
zwar sowohl der Mediennutzerinnen und Mediennutzer
als auch der Journalistinnen und Journalisten.
({3})
Dazu haben wir von Ihnen als dem zuständigen Staatsminister öffentlich nichts gehört. Wenn Sie sich in Ihrem
Amt als Anwalt für die Belange der Medienfreiheit verstehen, dann, finde ich, hätten Sie sich dazu äußern müssen.
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Wir haben
in Deutschland als Konsequenz aus der deutschen Rundfunkgeschichte das Prinzip des staatsfernen Rundfunks - nach dem Krieg zu Recht auch von den Alliierten verlangt -, bei dem die öffentlich-rechtlichen
Anstalten die Geschäfte über gesellschaftlich relevante
Gruppen im Rahmen praktizierter Binnenpluralität zu regeln haben. Es gilt also Staatsferne, damit wir nicht in so
etwas geraten, was es in der DDR gab, was es bei Putin
gibt und wofür Sarkozy in Frankreich jetzt mit dem
neuen Gesetz die Spur legt. Die Ereignisse um den Chefredakteur des ZDF, Herrn Brender, die schon angesprochen worden sind, zeigen nichts anderes, als dass wir die
Staatsferne nicht dauerhaft verwirklicht haben, sondern
immer neu erkämpfen müssen.
({4})
Aufgrund der ZDF-Satzung - ich war lange im Fernsehrat des ZDF - ist es möglich, dass man in den Gremien intern über bestimmte Fragen diskutiert - das heißt
Binnenpluralität -, in diesem Fall speziell im Verwaltungsrat über die Frage, ob es bei der Besetzung des
Chefredakteurpostens ein Einvernehmen mit dem Intendanten gibt. Dass aber Ministerpräsidenten, die im Verwaltungsrat sind, diese Debatte öffentlich führen
({5})
und damit eine öffentliche Personaldiskussion in der Absicht führen, das Interesse eines Regierungschefs durchzusetzen, das hat nichts mit staatsfernem öffentlichrechtlichen Rundfunk zu tun, sondern das ist ein illegitimer Eingriff in die deutsche Rundfunk- und Fernsehverfassung insgesamt.
({6})
Es gibt eine einfache Lösung. Frau Jochimsen, an einer Stelle stimme ich Ihnen übrigens nicht ganz zu. Die
Parteien sind gesellschaftlich relevante Gruppen. Wer
wollte dies verneinen? Deswegen gehören sie in bescheidenem Umfang in die Rundfunkräte. In Verwaltungsräten und im Rundfunkrat aber haben vor allem Vertreter
von Regierungen und Staatskanzleien nichts zu suchen.
Wir haben inzwischen ein „Staatskanzleirundfunkwesen“
in der Bundesrepublik Deutschland. Das muss geändert
werden. Deswegen schlagen wir vor, dass Regierungsvertreter nicht im Rundfunkrat und im Verwaltungsrat sein
dürfen, sehr wohl aber im Rundfunkrat Parteienvertreter
sein können.
({7})
Parteien dürfen nicht dominieren. Das ist entscheidend.
Die Parteienvertreter machen beim ZDF nicht mehr als
die Hälfte aus. Wenn man aber hinzurechnet, welche gesellschaftlich relevanten Gruppen noch von Parteien mitbestimmt werden, dann kommt man auf weit über die
Hälfte. Deswegen haben wir einen politisch dominierten
Rundfunk. Das sollten wir ändern.
Herr Neumann, als dafür zuständiger Staatsminister
und als Mitglied des Verwaltungsrates des ZDF - Sie
entscheiden mit über die Personalie des ZDF-Chefredakteurs - hätte ich mir von Ihnen eine öffentliche Klarstellung gewünscht, dass Sie für Rundfunkfreiheit sind und
dass Sie diese Intervention von Herrn Koch missbilligen.
Wenn man für Medienfreiheit kämpfen will, gehört Mut
dazu, aber nicht nur schöngeistige Reden auf einem gewissen Niveau, wie wir es von Ihnen gewohnt sind.
({8})
Ich will noch einige andere Punkte ansprechen, die
wichtig sind. Das Thema der digitalen Spaltung bezieht
sich nicht nur auf die Frage - davor warne ich -, wer
richtig angeschlossen ist, sondern bezieht sich vor allem
auf die Frage, wer über die entsprechenden Kompetenzen verfügt, um die Mediennutzung so praktizieren zu
können, dass sie wirklich weiterhilft.
Wir haben ein Mediensystem, das unendliche Mengen von Informationen liefert. Aus diesen Informationen
aber Wissen zu machen - also das eigenständige Verarbeiten von Informationen -, ist eine Frage der Medienkompetenz, die nicht allein in den Medien oder durch
die Medien erworben werden kann. Wer die Medienkompetenz voranbringen will, der muss bei den Bildungssystemen der Länder einen Durchbruch für mehr
Medienkompetenz schaffen. Dass die Länder bei der
heutigen Debatte gar nicht vertreten sind, sehe ich unter
diesem Gesichtspunkt als nicht besonders positiv an.
({9})
In dem Bericht steht an mehreren Stellen, Schulen
und Eltern müssten einen größeren Beitrag leisten. Dazu
sind aber Mittel und Ressourcen notwendig, weil der Erwerb von Medienkompetenz - aus Informationsbergen
sich selbst qualifiziertes Wissen erarbeiten zu können ein sehr schwieriger Prozess ist, bei dem man methodisch und pädagogisch geleitet werden muss und Unterstützung braucht. Deshalb ist ein anderer Stellenwert der
Medien insgesamt und der Computer im Besonderen an
unseren Schulen erforderlich. Ein bisschen Informatik
reicht nicht.
Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte, bezieht sich auf die Vielfalt. In dem Bericht wird oft das
Hohelied der Vielfalt gesungen. Ich zitiere aus dem Bericht:
Die Einführung des privaten Rundfunks hat dazu
geführt, dass wir in Deutschland eines der vielfältigsten Rundfunkangebote der Welt haben.
Ich will ganz persönlich sagen, aber diese Auffassung
müssen nicht alle teilen: Wir können zu Hause eine
Menge Programme empfangen. Wenn man aber genau
hinschaut, dann stellt man fest, dass die Zahl der Programme nicht so groß ist, wie die Fernbedienung es hergibt, sondern wir haben ungeheuer viel von Gleichem.
Von wegen Vielfalt!
Ich finde, eine Aufgabenstellung der nächsten Zeit,
für deren Erfüllung die Länder hauptsächlich zuständig
sind, ist, dafür zu sorgen, dass aus diesen vielen Programmen endlich auch eine Vielfalt im Sinne qualitativ
unterschiedlicher Angebote wird.
Wir sollten in der politischen Auseinandersetzung
mehr Qualität im privaten wie im öffentlich-rechtlichen
Rundfunk einfordern. Dann wären wir auf einem guten
Weg. Nicht nur die Zahl der Knöpfe auf der Fernbedienung zählt; denn dies allein hilft nicht weiter.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Börnsen
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kuhn, Ihrer letzten Bemerkung, dass es um mehr
Qualität in den öffentlich-rechtlichen, aber auch in den
privaten Medien gehen muss, kann man zustimmen. Es
hätte aber Ihrer Redeintention noch mehr gedient, wenn
Sie in den letzten dreieinhalb Jahren einmal im Ausschuss für Kultur und Medien gewesen wären.
({0})
Dann hätten Sie nämlich erfahren, dass der Staatsminister für Kultur und Medien sehr wohl Anwalt für Medienfreiheit und für Medienvielfalt ist, nicht nur im Ausschuss, sondern auch darüber hinaus.
({1})
Er vertritt dieses Anliegen auch engagiert in der Bundesregierung. Gerade dafür steht er. Er übt sehr wohl auch
Kritik daran, wenn Medienfreiheit und Medienvielfalt
eingeschränkt werden.
({2})
Das hätten Sie erfahren, wenn Sie an Ausschusssitzungen teilgenommen hätten. Danke.
({3})
Vor 20 Jahren kam der Sendung Wetten, dass..? im
deutschen Fernsehen ein Alleinstellungsmerkmal zu;
heute, 20 Jahre später, ist die Wirklichkeit der Medien
eine völlig andere. Statt einer großen Sendung haben wir
eine Medienvielfalt an Programmen, Kanälen und
Übertragungswegen. So viele Bilder wie heute gab es
noch nie: allein bei uns 149 bundesweite und 226 regionale Sender, dazu 116 Kabelnetzbetreiber. Sie sorgen für
die größte Angebotsvielfalt aller Zeiten. Es gibt fast 700
nationale Programme; darüber hinaus kann man sich die
gesamte Welt ins Wohnzimmer holen - eine noch nie dagewesene Flut an Information und Unterhaltung; kein
Mehr an Qualität, aber ein Weniger an Orientierung.
Deshalb kommt der Medienbericht zum passenden Zeitpunkt. Er nimmt eine Standortbestimmung vor: kenntnisreich, kritisch, konstruktiv. Er ist eine fundierte Art
von Regierungserklärung zum Medienstandort Deutschland, ein gutes Werk.
({4})
Wir Christdemokraten treten - das gilt für die vergangenen sechs Jahrzehnte deutscher Politik - für die Sicherung der Meinungsvielfalt, für die Wahrung der Medienqualität, für die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs und
für die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher
Medienanbieter ein. Das ist der Vierklang unseres medienpolitischen Konzeptes. Vielfalt, Qualität und Wettbewerb müssen auch Maßstäbe für Europa sein. Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt sind entscheidende
Fundamente unserer funktionierenden Demokratie. Mit
diesen Maßstäben stellen wir uns den neuen medienpolitischen Herausforderungen durch die Digitalisierung.
Diese sorgt für eine explosive Vielfalt, für Wachstum,
für mehr Arbeitsplätze. Doch auch die Gefahr der Verflachung nimmt damit zu.
Wolfgang Börnsen ({5})
Neue Möglichkeiten der Teilhabe eröffnen sich für
alle. Wir werden nicht nur unsere eigenen Programmdirektoren; wir schreiben, fotografieren, senden die Inhalte
gleich mit. Wir sind Konsumenten und Produzenten in
einer Person. Wir werden mehr als zuvor Mediengestalter, wenn, ja wenn wir uns auch dafür qualifiziert haben.
Digitalisierung fordert von uns mehr als zuvor Medienkompetenz. Sie muss in Elternhäusern, Kindergärten,
Schulen und Bildungseinrichtungen erworben werden
können. Kritische Mediennutzung ist gefragt, aber auch
ein europaweit einheitlicher Standard beim Jugendmedienschutz. Die Würde des Menschen muss dafür Richtschnur sein. Brutale Gewalt und Exzesse gehören nicht
ins Programm.
({6})
In einer verwirrend gewordenen Medienlandschaft
haben die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten
eine besondere Verantwortung. Vom Bürger finanziert,
muss die Qualität ihrer Programme ihr Kennzeichen
sein. Information, Kultur und Bildung gehören noch
mehr in die Hauptprogramme und in die Hauptsendezeiten, nicht in digitale Spartenkanäle. Marcel ReichRanickis Wutrede sollte als Weckruf verstanden werden,
um über Fernsehqualität nachzudenken. Der Hahn hat
zwar gekräht, aber der Geflügelhof ist noch nicht aufgeschreckt. Die Probleme sind nicht gelöst.
Zum Auftrag von ARD und ZDF zählen auch die
politische und die Parlamentsberichtserstattung. Unser Parlament braucht eine mediale Bühne. Wenn die
Kluft zwischen den Bürgern und der politischen Klasse
nicht noch größer werden soll, sollten zumindest die Öffentlichen eine Brücke bauen. Gut informierte, kritische
Bürger sind eine Barriere gegen Radikalismus, ob von
links oder von rechts.
({7})
Der Printbereich hat trotz Digitalisierung nicht an
Bedeutung verloren. Sein Stellenwert für die Sicherung
der Meinungsvielfalt ist fundamental. Der Anteil der
Presse an der Demokratiestabilität unseres Landes ist herausragend. EU-Medienwerbebeschränkungen lehnen
wir ab. Werbung zu verbieten, bedeutet eine Entmündigung der Bürger.
({8})
Zu unserer bunten Medienlandschaft gehört die Deutsche Welle, unsere mediale Visitenkarte mit engagierten
Mitarbeitern. Dass es in einem Haus mit circa 1 500 Aktiven aus über 60 Ländern auch zu Problemen kommen
kann, ist nicht zu vermeiden. Dass man jetzt aktiv an einer Verbesserung arbeitet, ist zu begrüßen. Die finanzielle Talfahrt der Deutschen Welle wurde gestoppt,
doch für die Zukunft sind mehr Mittel notwendig.
({9})
Eine Stärke des Medienstandortes Deutschland ist die
fehlende staatliche Einmischung in Unternehmen. Das
hat unserer Demokratie gut getan. Dabei muss es auch
bleiben. Wir lehnen eine Beteiligung des Staates oder
politischer Parteien an Medienhäusern und Verlagen ab.
({10})
Rund 13 Prozent der in Deutschland täglich erscheinenden Abozeitungen kommen aus Verlagen mit Parteibeteiligung.
({11})
In manchen Städten bilden solche Blätter regionale Monopole. Das ist eine ungute Entwicklung.
({12})
Wir wollen keine „Berlusconisierung“ unserer Medien.
Staatliche Hilfen für Medien wie in Frankreich halten
wir für eine gefahrvolle Entwicklung.
Ein positives Beispiel der Medienstärkung hat die
Herr Kollege, Sie denken bitte auch an die Redezeit.
- als sie den Plänen der Post, mit Gratiszeitungen den
Markt zu erobern, eine Absage erteilt hat. Bei dieser Einstellung muss es bleiben.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Christoph
Pries das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit langem hat meine Fraktion einen
Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung gefordert. Mit dessen Vorlage existiert nun eine
gute Basis, die den Akteuren eine umfassende Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlung an die Hand gibt.
Neben Kulturstaatsminister Neumann danke ich insbesondere dem Hans-Bredow-Institut der Universität Hamburg für die umfassende wissenschaftliche Betrachtung.
({0})
Der Bericht verdeutlicht: Qualitätsjournalismus - auf
den ich hier meinen Fokus richten möchte - hat an mehreren Fronten zu kämpfen. Erstens befindet sich die Medienlandschaft in Deutschland in einer Phase einer umfassenden Umstrukturierung. Die Digitalisierung hat in
alle Medienbereiche Einzug gehalten und führt zu einem
fortschreitenden Verschmelzungsprozess. Diese KonverChristoph Pries
genz umfasst nicht nur einzelne Medienarten, sondern
auch deren Inhalte sowie die Hardware, über die sie kommunizieren. Anfangs wurde von vielen Verlagen die Bedeutung des Internets als neue Form der Kommunikation
und Informationsquelle unterschätzt. Man verzichtete
darauf, im Internet Verwertungsketten zu etablieren. Nun
zeigt sich, dass es schwierig ist, diese im Nachhinein einzuführen, da kaum jemand für etwas zahlen möchte, was
er lange Zeit gratis bekommen hat.
Zweitens haben sich die ökonomischen Rahmenbedingungen, insbesondere die der Printmedien, in den
vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Die Einnahmen aus Abonnements und Anzeigengeschäft sind dramatisch zurückgegangen. Zeitungen und Zeitschriften
sind gezwungen, Einsparungen vorzunehmen oder mehr
Erlöse zu erzielen. Ersteres geht meist mit einem Qualitätsverlust einher, welcher wiederum auf die Verkaufszahlen wirkt. Insbesondere Journalisten bekommen die
Folgen von Einsparungen zu spüren. Durch den Abbau
von Arbeitsplätzen ist das Zeitbudget für Recherchearbeiten auf weniger als zwei Stunden täglich gesunken.
Der Zeitaufwand für technische und organisatorische
Aufgaben dagegen ist deutlich gestiegen. Es liegt auf der
Hand, dass Journalisten zunehmend gezwungen sind, auf
wenig vertrauenswürdige Informationen - in erster Linie
aus dem Internet - zurückzugreifen. In der „Googleisierung“ steckt jedoch eine große Gefahr für die Qualität
journalistischer Arbeit. Suchmaschinen, Blogs, Chats
und Wikis sind für einen Einstieg in die Recherche nicht
schlecht, aufgrund ihrer Manipulierbarkeit und ihrer Anonymität jedoch schlechte Ratgeber, wenn es um Fakten
geht.
Wie der Bericht der Bundesregierung zu Recht feststellt, ist Qualitätsjournalismus „ohne Unabhängigkeit
von ökonomischen, politischen oder weltanschaulichen
Interessen Dritter undenkbar“. Leider wachsen die Begehrlichkeiten kontinuierlich an. Es sind nicht nur profitorientierte Finanzinvestoren, die sich in Verlage einkaufen. Es ist auch der Staat, der unter dem Mantra der Sicherheit versucht, seine Interessen zu wahren und auszubauen. Ich persönlich bin nicht traurig, dass
Investitionen von Finanzinvestoren, wie zum Beispiel
durch die Mecom-Gruppe bei der Berliner Zeitung, mit
Pauken und Trompeten gescheitert sind.
({1})
Datenschutzskandale der letzten Zeit haben zunehmend deutlich gemacht, dass wir bessere datenschutzrechtliche Regelungen brauchen. Auch die Eingriffsbefugnisse der Sicherheitsbehörden sind hinsichtlich ihrer
Verhältnismäßigkeit, Wirksamkeit und Effizienz zu überprüfen. Nur unabhängiger Journalismus kann guter Journalismus sein.
Angesichts dramatischer Veränderungen in der Medienlandschaft muss das nötige Rüstzeug bereitgestellt
werden, um die Entwicklungen in der Medienwelt zum
Gegenstand öffentlicher Diskurse zu machen. Ein wichtiger Schritt besteht in der Einführung einer Mediendatenbank in diesem Jahr. Man muss wissen, worüber man
redet, um eine Sachlage beurteilen zu können.
({2})
Aber auch der Förderung von Medienkompetenz
kommt eine zunehmend größere Bedeutung zu. Nur wer
in der Lage ist, Medien und ihre Inhalte den eigenen Zielen und Bedürfnissen entsprechend zu nutzen und einzuschätzen, kann die Vielfalt der Medienlandschaft sinnvoll nutzen. Ich bin froh, dass die Bundesregierung dies
erkannt hat und die Förderung der Medienkompetenz
durch zahlreiche Projekte der Medien-, Jugend-, Familien- und Bildungspolitik unterstützt.
Danke, dass Sie mir zugehört haben.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Das Titelbild der aktuellen Ausgabe des Spiegels zeigt, dass wir in einer digitalen Gesellschaft leben, in der es in den letzten Jahren
auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu großen Veränderungen gekommen ist. Veränderungen in
der Medienwelt betreffen auch den Deutschen Bundestag. Denn die aktuelle Debatte kann von jedermann mittels Livestream im Internet verfolgt werden. Das war in
Bonn noch nicht möglich. Früher hatten die Parlamentarischen Geschäftsführer nicht die Möglichkeit - ich
schaue in Richtung von Herrn Koschyk und Frau
Ernstberger -,
({0})
per SMS die Kollegen ins Plenum zu treiben. Damals
mussten sie andere Möglichkeiten nutzen.
({1})
- „Die Peitsche“, sagt Herr van Essen.
Die neuen Medien - nicht nur im Internetbereich,
sondern auch in anderen Bereichen der Kommunikation;
ich nenne beispielsweise die SMS - führen zu neuen Interaktionen. Es muss jetzt nicht jeder sein Handy herausholen und eine SMS verschicken: Ich wollte damit nur
anmerken, dass die neuen Medien selbstverständlich
auch zu großen Veränderungen in unserer Arbeit geführt
haben. Wenn man sich die Medienlandschaft der letzten
Tage angeschaut hat, dann konnte man sehen, dass für
alle Parteien der Onlinewahlkampf das wichtigste
Thema bei der Vorstellung ihrer Wahlkampfkonzepte
war.
Neben den Veränderungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die ich schon angesprochen habe,
gibt es auch Veränderungen im Arbeitsverhalten. Das
schlägt auf die aktuelle Politik durch. Im November
2007 haben wir - die Kollegin Griefahn hat es bereits
angesprochen - einen Antrag der Koalitionsfraktionen
mit dem Titel „Wertvolle Computerspiele fördern, Medienkompetenz stärken“ im Deutschen Bundestag behandelt. Daran sieht man, dass diesen neuen Medien
Rechnung getragen wurde. Aufgrund unseres Antrags
konnte ein Deutscher Computerspielpreis ausgelobt
werden, der heute im Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung wiederzufinden ist.
({2})
Deswegen möchte ich mich an dieser Stelle beim Kulturstaatsminister für sein Engagement bedanken.
({3})
Bernd Neumann wird am 31. März 2009 in München
({4})
gemeinsam mit unserem Ministerpräsidenten Horst
Seehofer zum ersten Mal den Deutschen Computerspielpreis vergeben. Als Mitglied der Jury kann ich versichern,
dass es ganz außergewöhnliche Spiele gibt, die künstlerisch und pädagogisch wertvoll sind. Frau Griefahn hat
die Sportspiele bereits angesprochen. Man weiß, dass vielen Kindern und Jugendlichen, die Lernprobleme haben,
durch Lernprogramme, die zum Bereich der neuen Medien gehören, geholfen werden kann. Diese Programme
bieten große Chancen, die es in den vergangenen Jahren
noch nicht gab. Deswegen ist es wichtig, dass wir an die
Gegner, die immer alles pauschal verurteilen, das klare
Signal senden, dass durch die Forderung nach einem pauschalen Verbot nur die ganze Branche verunglimpft wird
und dadurch geleugnet wird, dass die Computerspiele zur
großen Vielfalt der Kulturlandschaft Deutschlands beitragen.
({5})
Wir haben den Deutschen Computerspielpreis ins Leben gerufen, weil wir der Überzeugung sind, dass Computerspiele Teil der Kulturlandschaft Deutschlands sind,
und weil wir eine klare Linie zwischen den schwarzen
Schafen der Branche, die es zweifelsohne gibt - die gibt
es in jeder Branche -, und den anerkannten Spieleproduzenten ziehen wollen.
Der Jugendmedienschutz in Deutschland wurde angesprochen. Auch dazu stellt der Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung fest, dass das
deutsche System des Jugendmedienschutzes den internationalen Vergleich nicht zu scheuen braucht.
({6})
Trotzdem müssen wir uns den Veränderungen auch diesbezüglich ständig anpassen. Im Unterausschuss „Neue
Medien“ haben wir sehr viele interessante Anhörungen
durchgeführt. Ich denke zum Beispiel an das Thema Onlinesucht. Das stelle ich auch fest, wenn ich mir die Kinderpornografie im Netz anschaue.
({7})
- Herr Tauss, das ist kein Thema, über das man Witze
macht. - Wir stehen ständig vor neuen Herausforderungen.
Ich bin Herrn Kuhn dankbar dafür, dass er ein Thema
angesprochen hat, das auch mir seit Jahren am Herzen
liegt. Wir müssen die Länder viel stärker dafür sensibilisieren, dass man auch im schulischen Bereich auf dem
Gebiet der neuen Medien etwas tun muss. Dafür haben
wir leider oder Gott sei Dank - je nachdem, wie man das
sieht - nicht die Kompetenz. Es ist wichtig, dass man die
Länder mit ins Boot holt, dass man mit den Ländern darüber spricht und man darauf aufmerksam macht, dass
ein Fach wie Medienkunde heutzutage eigentlich unabdingbar ist.
({8})
- Danke. - Es ist gerade bei diesem Thema ganz wichtig, dass man auf Augenhöhe diskutieren kann. Die
Schüler, die Jugendlichen dürfen mit diesem Medium
und den Gefahren, die sich dahinter verbergen, nicht alleine gelassen werden. Die Eltern müssen ihre Kontrollfunktion wahrnehmen können. Natürlich werden Eltern,
Erzieher und Pädagogen nie auf demselben Stand sein
wie die Kinder. Das ist völlig klar. Uns machen die heute
Zehnjährigen Dinge vor, die wir uns als Zehnjährige
nicht haben vorstellen können. Wenn die heute Zehnjährigen 30 oder 40 Jahre alt sind, werden auch ihnen die
Jüngeren etwas vormachen, weil diese dann im Umgang
mit neuen Medien wesentlich fitter sein werden.
Es ist entscheidend, dass wir gemeinsam vorgehen,
und zwar in Deutschland und in Europa. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern eine Strategie entwickeln, um
die Chancen, die uns die neuen Medien bieten, nutzen zu
können, aber auch, um den Gefahren, die sie bergen, entgegentreten zu können.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Kucharczyk
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der
Medien- und Kommunikationsbericht 2008 zeigt eines:
Für Mediennutzer und -anbieter eröffnet die Digitalisierung enorme Chancen, sie birgt aber auch Risiken.
Die Lebenswelten ändern sich. Jugendliche sind uns
heute in vielen Fällen weit voraus, wenn es um die Nutzung der neuen Medien geht. Aber sie sind auch gefährdet und besonders schutzbedürftig. Deshalb spielt bei
der Mediengestaltung nicht nur das Urheberrecht eine
wichtige Rolle. Es gilt, dem Jugendschutz und der Medienkompetenz große Aufmerksamkeit zu schenken.
Kinder und Jugendliche eignen sich die Medienwelt
entsprechend ihrer alterspezifischen Fähigkeiten auf
höchst unterschiedliche Art und Weise an. Deshalb wird
im Bericht der Bundesregierung ein Schwerpunkt auf
den Erwerb von Medienkompetenz gelegt, vor allem in
Bezug auf die sogenannten neuen Medien. Medienkompetenz ist nicht nur für einen umfangreichen Jugendschutz entscheidend. Der korrekte Umgang mit elektronischen Medien gehört heutzutage auch zur beruflichen
Basisqualifikation. Zudem haben Kinder und Jugendliche heute immer früher, auch allein, unmittelbaren Kontakt zu den neuen Medien.
Neben den Schülerinnen und Schülern selbst sind Eltern, Großeltern, Lehrerinnen und Lehrer aufgefordert,
sich den neuen Medien anzunähern, um den Umgang ihrer Kinder mit den Medien kontrollieren und gegebenenfalls Grenzen setzen zu können. Aber die Erziehungsberechtigten müssen erkennen, welchen Wert der sichere
Umgang mit den elektronischen Medien hat - beruflich
wie privat - und ihre Kinder darin unterstützen.
Medienkompetenz umfasst nicht nur das technische,
sondern auch das inhaltliche Verständnis und das Hinterfragen von Angeboten im Netz. Es ist daher wichtig, in
den Schulen frühzeitig auf das Lernziel, kritische Persönlichkeiten im Hinblick auf mediale Inhalte zu formen, hinzuarbeiten.
({0})
Damit kann gleichzeitig die Neugier der Schülerinnen und
Schüler auf qualitativ anspruchsvolle Angebote - online
wie offline - geweckt und einer digitalen Spaltung der
jungen Gesellschaft entgegengewirkt werden.
Der Entschließungsantrag der FDP-Bundestagsfraktion mit dem Hinweis auf „nicht ausreichend angemessene Vermittlung von Medienkompetenz im Bildungssystem“ ist nicht zutreffend und bringt keine neuen
Erkenntnisse. Lassen Sie mich dies mit einem Gegenbeispiel, das auch im Medienbericht genannt wird, kurz verdeutlichen. Der Initiative „Schulen ans Netz“ ist seit
nunmehr über zehn Jahren, unterstützt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Förderung von Medienkompetenz und des Lernens mit digitalen Medien angetragen. Die Initiative ist dafür zuständig,
allen Schulen den Zugang zum Internet zu ermöglichen.
Zugleich organisiert die Initiative Fortbildungen für
Lehrkräfte. Dieses Beispiel belegt: Wir sorgen dafür,
dass alle Kinder unabhängig vom Geldbeutel der Eltern
und der Schulform die Chance auf Fertigkeiten im Umgang mit den neuen Medien erhalten.
({1})
Das sollte nicht allein, wie die FDP vorschlägt, in einem
eigenständigen Fach Medienkunde geschehen, sondern
im Rahmen des regulären Fachunterrichts eingebunden
sein.
An den Beispielen sehen wir: Wir brauchen starke
Kinder. Wir brauchen starke Eltern. Das können wir nur
mit Medienkompetenz erreichen. Deswegen müssen wir
die Kompetenz schon in den Schulen und in den darauffolgenden Berufsqualifikationen vermitteln. Insofern haben wir noch eine ganze Menge zu tun. Wir sind sicherlich auf einem guten Weg; aber auch dieser gute Weg
muss noch weiter ausgebaut werden.
Danke schön.
({2})
Reinhard Grindel erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Thema ist der Medien- und Kommunikationsbericht
der Bundesregierung. Deswegen möchte ich in den Mittelpunkt stellen, dass ich, lieber Bernd Neumann - zumindest für unsere Fraktion; ich hoffe, auch für die Kollegen der SPD -, sagen kann,
({0})
dass Sie ganz maßgeblich dafür gesorgt haben, die Medien- und Kulturpolitik mit einem Stellenwert innerhalb
dieser Bundesregierung zu versehen, wie wir das noch
nie gehabt haben. Das ist eine große Leistung unseres
Ministers.
({1})
Sie haben, sowohl in der Filmwirtschaft als auch in der
Medienwirtschaft, dafür gesorgt, dass Arbeitsplätze gesichert und neu geschaffen werden. Für die Menschen ist
die entscheidende Botschaft, dass wir hier eine ganze
Menge wirtschaftlich vorangebracht haben.
({2})
Dass Tausende und Zehntausende im Bereich der Kultur- und Medienwirtschaft einen Arbeitsplatz haben,
Frau Kollegin Griefahn, ist für die Menschen, die uns
hier zuschauen, wichtiger als die Diskussion über einen
Arbeitsplatz beim ZDF, um das ganz klar zu sagen.
({3})
Lieber Kollege Bisky, Sie haben sich hier geäußert.
Sie waren früher im SED-Unrechtsstaat für die Ausbildung von Medienschaffenden verantwortlich. Ich kenne
in diesem Parlament niemanden, der so wenig das Recht
hat, Forderungen zum Thema Meinungs- und Pressefreiheit zu erheben, wie Sie, Herr Kollege Bisky.
({4})
Wir können uns gerne über die Frage der Staatsferne
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens unterhalten, liebe Kollegen von der SPD. Aber, ich
finde, wer das einfordert, sollte sich nicht vom Geld des
Gebührenzahlers eine Geburtstagsfeier bezahlen lassen,
wie es der Kollege Beck getan hat. Das ist unehrlich.
({5})
Jeder sollte erst einmal vor seiner eigenen Haustür kehren, um das hier ganz klar zu betonen.
Im Medienbericht heißt es völlig zu Recht:
Ein qualitativ hochwertiges, seriöses Medienangebot ist ein Lebenselixier der Demokratie. Nur wenn
gesellschaftliche und politische Debatten fundiert
geführt werden, können die Bürgerinnen und Bürger von ihren demokratischen Partizipationsmöglichkeiten in vollem Umfang Gebrauch machen.
Nach meinem Verständnis setzt eine solche fundierte
Debatte eine gemeinsame Basis voraus. Es ist deshalb
richtig, dass der Medienbericht die Qualität unseres
dualen Fernsehsystems unterstreicht. Es ist faszinierend, aus welcher Vielfalt von Programmangeboten Zuschauer heute auswählen können. Aber wir müssen uns
viel stärker damit auseinandersetzen, dass diese Entwicklung auch die Gefahr beinhaltet, dass das Fernsehen
seiner notwendigen Integrationsfunktion nicht mehr gerecht wird.
Ist das Fernsehen heute wirklich noch die Plattform,
über die Diskussionen in unsere Gesellschaft getragen
werden, und das über Generationen hinweg? Wie will
man denn gesellschaftliche Debatten führen, wenn es
keine gemeinsamen Informationsquellen gibt, weil jeder
ein anderes Programm sieht? Das ist ein Problem, dem
wir uns stellen müssen. Ist es nicht so, dass uns zwar
viele Informationsquellen zur Verfügung stehen - ARD,
ZDF, n-tv, N24, Phoenix und erst recht das Internet -,
dass aber, um es zugespitzt zu formulieren, die Schere
zwischen Infoelite und Unterhaltungsproletariat mit prekärem Medienkonsum immer weiter auseinandergeht,
weil einzelne Menschen wie Slalomfahrer um die Torstangen mit der Fernbedienung um Informationsprogramme herumfahren?
Ich sage Ihnen: Es kommt ganz entscheidend darauf
an, dass wir diejenigen Medien stärken, die zu einer gesellschaftlichen Debatte beitragen, und zwar - das muss
auch im Interesse des Bundestages sein - auf möglichst
breiter Basis. Insofern begrüße ich es, dass im Medienbericht zu lesen ist, dass der Rundfunk nicht wie ein herkömmliches Produkt behandelt werden darf, dessen Vermarktung allein wirtschaftlichen Kriterien gehorcht, und
dass Sicherungsmechanismen eingebaut und Qualitätsstandards festgelegt werden müssen, deren Erfüllung der
Sicherung der Meinungsvielfalt dient.
Wir müssen dafür sorgen, dass das Fernsehen nicht so
wahrgenommen wird, als finde das Leben nur noch in
Dschungelcamps, Containern und Castingshows statt.
Wir müssen einen Beitrag dazu leisten, dass die Informationsangebote und die Bildungsangebote im Fernsehen
gestärkt werden. Das ist eine wichtige und richtige Botschaft dieses Medien- und Kommunikationsberichts.
({6})
Letzte Bemerkung. Ich möchte mich nachdrücklich
dafür aussprechen, dass wir alles unternehmen, um den
Erhalt von Lokalzeitungen zu gewährleisten; davon war
überhaupt noch nicht die Rede.
({7})
Vorhin habe ich bereits auf die Integrationsfunktion der
Medien hingewiesen. Vor Ort, in einem Dorf, einer Gemeinde oder einer Stadt, ist es oftmals die Lokalzeitung,
die eine mediale Klammer für die Menschen darstellt.
Sie darf nicht durch anonyme überregionale Angebote
ersetzt werden.
({8})
Es stimmt: Wir haben in Deutschland vielleicht das
vielfältigste Medienangebot und das beste Rundfunksystem der Welt. Deshalb müssen wir eine ganze Menge
tun, damit das so bleibt, und zwar gemeinsam. Dazu rufe
ich auf. Wir dürfen uns nicht in Nebendebatten verfangen und dabei das Ziel einer spannenden Medienstruktur
in Deutschland aus den Augen verlieren.
Herzlichen Dank für das Zuhören.
({9})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Dem Dank für die Erarbeitung des Medien- und Kommunikationsberichts schließen wir uns an. Die Diskussionen über dieses Thema haben lange gedauert. Ich
freue mich sehr, dass der BKM diese parlamentarische
Initiative aufgegriffen hat. An dieser Stelle, Kollege
Grindel, besteht überhaupt kein Dissens.
Auch wir freuen uns übrigens, dass wir einen Beauftragten für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt haben. Herr Neumann macht - wie könnte es in einer Koalition, an der die SPD beteiligt ist, auch anders sein? einen guten Job. Das galt allerdings auch für die Beauftragten für Kultur und Medien, die unter Rot-Grün im
Amt waren. Kollege Grindel, ich möchte darauf hinweisen, dass wir dieses wichtige Amt im Jahre 1998 geschaffen haben.
({0})
- Manchmal ist es gut, wenn man älter ist; denn dann
kann man sich an früher erinnern. - Damals wurden
Hohn und Spott über uns ausgeschüttet.
({1})
- Lieber Wolfgang Börnsen, jetzt lasse ich die Vergangenheit ruhen.
Für wie wichtig dieses Thema gehalten wird, zeigt
sich an der Beteiligung des Bundesrates;
({2})
das ist schon angesprochen worden. Ich halte es für beschämend,
({3})
dass, obwohl es um die zentrale politische Frage der Zuständigkeit der Bundesländer geht, kein Vertreter des
Bundesrates hier ist.
({4})
Aus diesem Grunde teile ich die Kritik, die geäußert
worden ist: Medienpolitik wurde als parlamentsfreier
Raum bezeichnet. In der Tat gibt es kaum ein Politikfeld, das parlamentsferner ist.
({5})
Die diesbezüglichen Diskussionen finden in den Staatskanzleien statt. Dort wird ein Rundfunkstaatsvertrag abgesegnet oder nicht abgesegnet. Das ist aber alles, was in
diesem Bereich geschieht. Ich glaube, dass dieser Bericht unseren Kolleginnen und Kollegen in den Landesparlamenten die Chance bietet - ich hoffe, dass sie sie
nutzen -, auch in den Landtagen zukunftsgerichtete medienpolitische Debatten über die Herausforderungen für
die Medienpolitik zu führen. Kollege Kuhn hat - wie Kollegin Griefahn und andere Kolleginnen und Kollegen - in
einigen Punkten zusammengefasst, was diese Herausforderungen sind.
Ich will in diesem Zusammenhang einmal sagen: Ich
bin ein begeisterter Twitterer, benutze Facebook und all
die hübschen Dinge, die es da gibt.
({6})
Für diejenigen, die das noch nicht kennen: Twitter, das
sind SMS-Blogs. Gestern gab es im Twitter eine Diskussion darüber, ob Twitter-Beiträge eine Nachrichtenagentur ersetzen können. Ich sage in aller Deutlichkeit:
Nein. Bei Twitter geht es um persönliche Meinungsäußerungen, um individuelle Kommunikation. Ich will,
dass es weiter Nachrichtenagenturen gibt, dass es Zeitungen gibt, dass es öffentlich-rechtliches Fernsehen gibt
- aber auch, dass es privates Fernsehen gibt -, will, dass
ausgebildete, engagierte Journalistinnen und Journalisten tatsächlich unbeeinflusst von Staatskanzleien frei,
unabhängig, demokratisch uns kontrollieren, Meinungsvielfalt herbeiführen. Das brauchen wir, egal welche
neuen Medien es gibt und wie die Welt in einigen Jahren
aussehen wird.
Aus diesem Grund, Kollege Kuhn, haben wir das Projekt einer Mediendatenbank auf den Weg gebracht, dafür Mittel im Haushalt vorgesehen. Es gibt in diesem
Lande kaum eine Übersicht über Verflechtungen, über
wirtschaftliche Beteiligungen, erst recht nicht crossmedial, über die Grenzen neuer und alter Medien hinweg.
Es gibt Kontrolle durch das Kartellrecht; aber natürlich
steht das Kartellrecht auch der einen oder anderen Entwicklung im Weg. Diese Punkte müssen diskutiert werden. Wir brauchen in Deutschland eine moderne Informations-, Kommunikations- und Medienordnung. Der
Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung ist eine hervorragende Grundlage für die weiteren
Debatten. Wir sollten diesen Bericht nutzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Den Deutschen Computerspielpreis sollten Sie
nicht gering schätzen, Kollege Kuhn, gerade angesichts
dessen, dass Sie hervorgehoben haben, was Freiheit in
dieser Gesellschaft ausmacht. Wir haben über Computerspiele oft nur in negativen Zusammenhängen diskutiert, haben Jugendliche, die Computerspiele spielen, als
potenzielle Gewalttäter dargestellt. Ich kann nur wiederholen: Auch ich habe schon Counter-Strike gespielt
({8})
und bin noch nicht marodierend durch den Bundestag
gezogen. - Gut, ich habe vielleicht andere Auffälligkeiten. - Wir sollten zurückhaltend sein, wenn sich die
junge Generation eines Kulturgutes bedient, das sich
vielen in meiner Generation nicht erschließt. Der Deutsche Computerspielpreis wird dieses Jahr ausgerechnet
in Bayern vergeben. Nichts gegen die lieben bayerischen
Kolleginnen und Kollegen! Aber dem Bundesrat liegt
noch immer ein Gesetzesantrag Bayerns vor, „Killerspiele“ zu verbieten. Kollegin Bär, ich würde vorschlagen: Nehmt diesen Antrag endlich von der Tagesordnung! Das wäre sinnvoll.
({9})
Ich will dessen ungeachtet auf einige andere Punkte
zurückkommen.
({10})
- Nächstes Jahr wird der Preis in Berlin vergeben. Aber
selbstverständlich werde ich auch in Bayern bei der
Preisverleihung dabei sein.
Dieser Tage - auch das wird in dem Bericht erwähnt wird eine Debatte über das Thema Presse-Grosso geführt. Ich weiß nicht, ob mit diesem Begriff alle, insbesondere die Menschen auf den Tribünen, etwas anfangen
können. Presse-Grosso ist das Vertriebssystem der Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland. Es sorgt dafür,
dass an jedem Kiosk sämtliche Zeitungen und Zeitschrif22416
ten, ob diese nun eine größere oder eine kleinere Auflage
haben, ob sie winzige Verbreitung haben oder überregional sind, pünktlich erhältlich sind. Das ist ein ganz wichtiger, ein wesentlicher Beitrag zur Meinungsvielfalt.
Dieser Teil wird immer wieder infrage gestellt. Ich bin
froh, dass sich die Verlage wieder im Grundsatz geeinigt
haben. Leider beteiligen sich noch nicht alle Verlage; ich
nenne namentlich den Bauer-Verlag. Ich hoffe, dass es
noch möglich ist, dass sich alle einigen. Wenn die Verlage nicht mehr in der Lage sein sollten, sich zu einigen,
droht, dass allein über den Vertrieb ganze Zeitungen ausgeschlossen werden können, nicht mehr zum Konsumenten gelangen. Das wäre ein Verlust an Meinungsfreiheit und an Meinungsvielfalt, den wir nicht hinnehmen
könnten. Wir müssten gesetzgeberische Maßnahmen ergreifen; ich sage dies in Richtung Verlage in aller Deutlichkeit.
({11})
Auch die Deutsche Digitale Bibliothek ist ein ganz
wichtiges Feld, nicht erst angesichts der Katastrophe im
Stadtarchiv von Köln. Natürlich werden historische Originale durch digitale Kopien nicht ersetzbar sein. Aber
digitale Kopien müssen vorhanden sein, wenn unersetzliche Werke verloren gegangen sind - damit nicht eine
ganze Geschichtsschreibung verloren geht, wenn, wie in
Köln, ein Archiv einstürzt.
Auch bei der Digitalisierung im europäischen Bereich
stehen wir vor Herausforderungen. Ich stimme allen zu,
die gesagt haben, dass auch hier etwas geschehen muss.
Im Hinblick auf diese Punkte handeln wir auch, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
Ich verstehe, dass es Ihnen unangenehm ist, Kollege
Grindel, wenn wir eine Frage wie die nach dem ZDF
heute in die Diskussion bringen. Sie können nicht sagen,
es gebe Wichtigeres; denn es geht nicht nur um eine
Stelle. Ich würde es etwas ernsthafter formulieren, und
deshalb ist es gut, dass dies heute angesprochen worden
ist. Es ist unsere Aufgabe, zum Erhalt des öffentlichrechtlichen Systems beizutragen, für das wir beide in der
Vergangenheit trotz unterschiedlicher Betrachtungen immer gemeinsam gestanden haben. Hier haben wir uns
zum Teil von Herrn Kollegen Otto unterschieden, der ein
bisschen neoliberaler auftrat; heute war er ja ganz vernünftig.
({12})
Herr Kollege Grindel, eine Voraussetzung für den Erhalt
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist natürlich auch
der Nachweis von Staatsferne. Aus diesem Grunde
müssen wir an dieser Stelle wirklich aufpassen.
({13})
- Dies gilt für alle Beteiligten, und dies gilt auch für Debatten über Rundfunkgebühren. Die Staatsferne ist ein
wichtiges Ziel, und wir sollten nicht den Hauch eines
Verdachtes auf uns kommen lassen, dass wir journalistische Unabhängigkeit in Gefahr bringen. Bei diesem
Thema gab es allerdings in letzter Zeit ein paar Punkte,
die wir zum Anlass genommen haben, um über Pressefreiheit und den Schutz von Journalistinnen und Journalisten etwa bei Onlinedurchsuchungen zu diskutieren.
Diese Diskussion haben wir Medienpolitiker allerdings
nicht immer erfolgreich geführt; da stimme ich zu. Aber
die Herausforderung, Pressefreiheit, Medienfreiheit und
-vielfalt zu verteidigen, ist die zentrale Aufgabe. Für das,
was wir hier in Zukunft tun müssen, finden wir in diesem Bericht ganz wichtige Hinweise. Insofern kann man
ihn an dieser Stelle nur ausdrücklich loben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/11570 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 16/12135 soll an dieselben
Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen. Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a, b und d sowie
den Zusatzpunkt 1 auf:
19 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP zu der Beratung der Unterrichtung durch
die Bundesregierung
Sechster Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten
Nationen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau ({1})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechster Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten
Nationen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau ({2})
- Drucksachen 16/8416, 16/5807, 16/9368 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Renate Gradistanac
Jörn Wunderlich
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({3}) zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann,
Präsident Dr. Norbert Lammert
Karin Binder, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Internationaler Frauentag muss gesetzlicher
Feiertag werden
- Drucksachen 16/8373, 16/12139 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Sibylle Laurischk
Irmingard Schewe-Gerigk
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gleichstellung der Geschlechter in der Privatwirtschaft durch wirksame gesetzliche Regelungen fördern
- Drucksache 16/9486 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Kerstin Andreae, Volker Beck
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Quote für Aufsichtsratsgremien börsennotierter Unternehmen einführen
- Drucksache 16/12108 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen,
wobei ich darauf hinweise, dass wir für die gerade stattgefundene Debatte erkennbar mehr Zeit als vereinbart
beansprucht haben. - Ich höre zu diesem Vorschlag keinen Widerspruch; damit ist diese Gesamtredezeit vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der
Leyen.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der internationale Frauentag steht in diesem Jahr unter besonderem Vorzeichen: Wir feiern 90 Jahre Frauenwahlrecht,
60 Jahre Grundgesetz mit Art. 3 Abs. 2, und auch das
Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung
jeder Form von Diskriminierung der Frau hat in diesem
Jahr einen runden Geburtstag: 30 Jahre CEDAW. Bei
solchen Anlässen schauen wir zurück und ziehen Bilanz.
Aber natürlich schauen wir auch nach vorne und beschreiben Wegstrecken und auf ihnen vorhandene Hürden.
Im Februar haben wir in Genf zum sechsten Mal den
CEDAW-Staatenbericht für Deutschland vorgestellt.
Mit Erfolg: Der Ausschuss hat unsere Fortschritte in hohem Maße anerkannt und entgegen der Üblichkeit den
nächsten deutschen Staatenbericht nicht für 2010/2011,
sondern erst für 2014 vorgesehen. Gelobt wurde beispielsweise, dass sich Väter in Deutschland inzwischen
stärker an der Elternzeit beteiligen. Bei der Vorlage des
letzten Staatenberichtes - daran werden Sie sich noch erinnern - wurde die damalige Väterquote, die unter 4 Prozent lag, noch heftig kritisiert. Mit den Partnermonaten
im Elterngeld hat sich spürbar etwas verändert; die Väterquote hat sich inzwischen vervierfacht.
Auch der Zweite Aktionsplan der Bundesregierung
zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen liegt auf der
Linie der CEDAW-Empfehlungen, insbesondere deshalb, weil der Aktionsplan einen besonderen Schwerpunkt auf Schutzmaßnahmen für Migrantinnen und für
Frauen mit Behinderungen legt.
Dies alles ist Bestätigung, aber auch Ansporn; denn es
ist weiß Gott nicht alles Gold. Es gibt Bereiche, in denen
noch viel zu tun ist: Warum ist Armut immer noch zunächst einmal weiblich? Warum sind so wenige Frauen
in Führungspositionen? Warum verdienen Frauen in
Deutschland für ein und dieselbe Arbeit im Durchschnitt
fast ein Viertel weniger - eine Lohnlücke von 23 Prozent als ihre männlichen Kollegen?
In dieser einen Messgröße, nämlich dem Verhältnis
der Bruttostundenlöhne von Frauen und der Bruttostundenlöhne von Männern, verdichten sich fast alle Facetten der Probleme, die Frauen heute erleben, wenn sie im
Erwerbsleben ihren Weg gehen wollen:
({0})
die Hindernisse auf dem Karriereweg, die starren Rollenmuster, Frauen fehlen in bestimmten Berufen und
Branchen sowie auf höheren Stufen der Karriereleiter,
die Schwierigkeiten, Familie und Beruf unter einen Hut
zu bringen, und die erheblichen Hürden beim Wiedereinstieg in den Beruf nach einer Familienzeit.
Typische Frauenberufe sind im Durchschnitt schlechter bezahlt als typische Männerberufe. Das ist sowohl im
Einzelnen als auch in der Summe inakzeptabel; denn
Frauen sind längst genauso gut ausgebildet wie ihre
männlichen Kollegen. Viele Familien sind auf das Einkommen der Frauen angewiesen. In jeder fünften Familie ist die Frau inzwischen die Haupternährerin.
Wenn man die Entgeltungleichheit europaweit vergleicht, dann stellt man fest, dass Deutschland im
schlechten hinteren Mittelfeld, nämlich auf dem siebtletzten Platz, liegt. Ich weiß, dass diese Statistik mit Vorsicht zu genießen ist. Zum Beispiel ist die geringe Lohnlücke von Malta - sie beträgt gerade einmal 4 Prozent auch darauf zurückzuführen, dass auf Malta überhaupt
nur knapp 36 Prozent der Frauen einer Erwerbstätigkeit
nachgehen. Das kann keine Antwort sein. Wir haben in
Deutschland eine Frauenerwerbstätigenquote von 64 Prozent und damit die Ziele der Lissabon-Strategie inzwi22418
schen übertroffen. Zu welchem Preis aber? Das muss
heute nach wie vor die entscheidende Frage sein.
Gegen einige Ursachen für die Lohnlücke kann die
Politik nur schwer etwas tun: Gewerkschaften und Arbeitgeber sind bei den Tarifverhandlungen für die Arbeitnehmer in sogenannten typischen Frauenberufen und
sogenannten typischen Männerberufen entscheidend. Es
gibt gar keinen plausiblen Grund, warum ganze Branchen schlechter bezahlt werden, nur weil in ihnen überwiegend Frauen arbeiten. Eine andere Ursache ist die
Tatsache, dass die Lohnlücke mit steigender Qualifikation größer wird - das gilt gerade auch für die frei verhandelten Gehaltsebenen -, sodass Frauen für ein und
dieselbe Arbeit schlechter bezahlt werden.
An einer der wichtigsten Ursachen für die Lohnlücke
kann die Politik aber etwas tun, und da tut die Politik
auch etwas; hier müssen wir weiter hartnäckig am Ball
bleiben: Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit wegen der Familie häufiger und länger als Männer. Je länger diese Erwerbsunterbrechungen dauern, desto größer werden die Gehaltseinbußen, und desto stärker
schwinden die Aufstiegsmöglichkeiten. Das hat seine
Ursachen natürlich auch in jahrzehntelangen Lippenbekenntnissen für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf
und Familie, denen gar keine oder nur zögerliche Taten
gefolgt sind.
Deshalb ist das Elterngeld mit den Vätermonaten
richtig gewesen. Deshalb ist der Ausbau der Kinderbetreuung überfällig.
({1})
Deshalb sind Ganztagsschulen und haushaltsnahe Dienstleistungen in diesem Land unverzichtbar.
Entscheidend ist: Kinder brauchen Zeit, zu pflegende
Angehörige brauchen Zeit, und die Karriere braucht
Zeit. Wenn eine Seite - zum Beispiel Kinder - nicht zulasten der anderen Seite - Karriere - gehen soll, dann
gibt es nur eines: Es muss für Männer und Frauen das
gleiche Anliegen sein, und es muss Männer genauso wie
Frauen angehen.
({2})
Ich bin der festen Überzeugung, dass für die Vereinbarkeit von Beruf bzw. Karriere und Familie die von uns
eingeführten Partnermonate beim Elterngeld genauso
entscheidend sind wie unser gemeinsam durchgeführter
Ausbau der Kinderbetreuung. Das sind die Steine, die
am Anfang gelegt werden müssen, damit der Weg überhaupt gegangen werden kann.
Im CEDAW-Ausschuss ist deutlich geworden: Wir
kommen mit der Gleichstellungspolitik voran, und wir
haben anerkanntermaßen einiges erreicht.
({3})
Dennoch ist der Weg lang. Ich bin überzeugt: Wenn wir
diesen Weg weiter hartnäckig und unbeirrbar gehen,
dann werden wir diese Lohnlücke weiter schließen.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist Ina Lenke für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rechtzeitig vor dem Internationalen Frauentag diskutieren wir
heute den CEDAW-Bericht aus dem Jahr 2007. Frau Ministerin, ich habe Ihnen sehr genau zugehört. Sie haben
mehr Fragen gestellt und mehr Punkte sachlich dargestellt, als Antworten gegeben.
({0})
Bedauerlich ist auch, dass die Bundesregierung bis
heute die „Concluding Observations“ - die abschließenden Bemerkungen - des CEDAW-Ausschusses aus dem
Februar dieses Jahres nicht vorgelegt hat. Was sind die
Gründe dafür? Sie haben am 2. Februar den Ausschuss
besucht; am 10. Februar ist der Bericht veröffentlicht
worden.
Auch die Alternativberichte der Allianz von Frauenorganisationen in Deutschland und des Juristinnenbunds
sind bisher nicht im Ausschuss diskutiert worden. Frau
Ministerin, Sie haben eine hauseigene Pressemitteilung
vom 13. Februar zitiert, die wortgleich mit einer Pressemitteilung aus Ihrem Haus vom 4. März ist.
({1})
Eine hauseigene Pressemitteilung, in der sich die Regierung über den Klee lobt, reicht aber wahrlich nicht aus.
({2})
Ich gebe der Ministerin recht und freue mich, dass Ihnen und der Großen Koalition der Durchbruch bei den
Krippenplätzen und auch beim Elterngeld gelungen ist.
({3})
Das ist ein Erfolg der Bundesregierung, den auch wir unterstützt haben. Das ist gar keine Frage; die FDP will das
auch.
Familienpolitik aber ist das eine. Frauenpolitik
- das, was der CEDAW-Bericht insgesamt in all seinen
Facetten unter die Lupe nimmt - ist das andere. Hierbei
bestehen bei dieser Bundesregierung Defizite.
({4})
Frau von der Leyen, mit Familienpolitik können Sie
zwar in der Öffentlichkeit besser punkten als mit der
Frauenpolitik, aber welche Konzepte für ein gerechteres
Steuersystem und gegen die Benachteiligung von Frauen
im Steuer- und Sozialrecht haben Sie? Welche Maßnahmen unternehmen Sie bei anonymen Geburten, um
Frauen in einer Notlage zu unterstützen?
Außerdem - das hat mich sehr geärgert, Frau Ministerin - hat das Familienministerium beim Konjunkturpaket II komplett versagt. Das wird sicherlich auch im
nächsten CEDAW-Bericht eine Rolle spielen. Alle
Frauen, die geschieden sind und Barunterhalt von ihren
Männern bekommen, erhalten nicht einmal den vollen
Kinderbonus von 100 Euro, sondern nur die Hälfte. Der
Familienausschuss hat - das wissen wir alle - dem federführenden Haushaltsausschuss einstimmig vorgeschlagen, dass diese Ungerechtigkeit geändert werden soll.
Zumindest wir von der Opposition werden solche Ungerechtigkeiten im Bundestag deutlich benennen. Das gehört auch in den CEDAW-Bericht von heute und von
morgen.
({5})
Die FDP hat zum Sechsten Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten
Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau Vorschläge eingebracht, die heute mit zur
Beratung stehen. Wir fordern die Bundesregierung unter
anderem auf, die Benachteiligungen im Steuer- und Sozialrecht abzubauen, weil sie sich an den Nettobezügen
orientieren. Das ist - das spreche ich, glaube ich, schon
zum zwanzigsten Mal an - auch mit der Steuerklasse V
verbunden, die für Ehefrauen diskriminierend ist.
({6})
Des Weiteren fordern wir, Stereotype bei Bildung,
Ausbildung und Beschäftigung zu bekämpfen, damit
Frauen in der Wirtschaft wie auch in den einzelnen Ausbildungszweigen besser positioniert sind. Das wollen wir
alle, und die Ministerin hat festgestellt - darin stimme ich
ihr zu -, dass das ein schwieriger Weg ist. Aber warum
haben Sie noch nicht mit den Gewerkschaften geredet,
Frau Ministerin? Wir haben in der AG Frauen mit den
Gewerkschaften geredet. Ich denke, sie sind auch gesprächsbereit. Insofern sollte das nachgeholt werden.
Was bedeutet es, Frauen als Unternehmerinnen zu
fördern? Wir fordern das, und zwar auch für Erzieherinnen, die sich selbstständig machen wollen. Dem hat die
SPD einen Riegel vorgeschoben. An dieser Stelle gibt es
nichts. Da haben Sie sich leider nicht durchsetzen können. Das bedauern wir von der FDP.
({7})
Zum Thema Frauen und Bundeswehr ist festzustellen, dass Geschlechtergerechtigkeit und Familienfreundlichkeit bei der Bundeswehr bisher nicht umgesetzt worden sind. Ich fahre am 30. März nach Seedorf, wo es
angeblich tolle Pilotprojekte gibt. Wir werden uns vor
Ort ein Bild davon machen.
({8})
Hehre Ankündigungen wie die Teilkonzeption zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst in den Streitkräften
stehen bislang nur auf dem Papier. Das hat die Antwort
auf die Große Anfrage der FDP gezeigt.
({9})
- Frau Blumenthal, das stimmt. Lesen Sie es noch einmal nach!
Auf unsere Position zu Frauenhäusern und zu dem
Thema Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund
wird meine Kollegin Frau Laurischk noch eingehen.
Wir stehen mit unserer Kritik am CEDAW-Bericht
nicht alleine. Im Alternativbericht der Allianz von Frauenorganisationen und im ergänzenden Alternativbericht
des Deutschen Juristinnenbundes zum Beispiel wird die
Regierungsarbeit der letzten Jahre unter die Lupe genommen und festgestellt, dass die Bundesregierung offensichtlich keine zielorientierte Gleichstellungspolitik
betreibt und dass sie sich fast ausschließlich auf die Familienpolitik konzentriert. Unabhängige Frauenorganisationen kritisieren zu Recht, dass mit ihnen keine Beratung vor Abgabe des Berichts stattgefunden hat. Umso
mehr müssen sich das Parlament und der Familienausschuss mit den Forderungen in den CEDAW-Alternativberichten befassen.
Aufgrund meiner begrenzten Redezeit kann ich nur
einige Kritikpunkte aus dem über 50 Seiten starken Bericht nennen: keine Fortschritte bei der Gleichstellungsstrategie „Gender-Budgeting“, Abschaffung der interministeriellen Arbeitsgruppe - das haben Sie gemacht und der Gruppe „Gender-Mainstreaming“ sowie des Referates. Es gibt kein klares Konzept für die neu eingerichtete Antidiskriminierungsstelle. Hier fehle es an Unabhängigkeit und Wirksamkeit.
({10})
Massive Kritik wird auch an der ungleichen Bezahlung
von Männern und Frauen in Deutschland geübt.
Ich muss leider zum Schluss kommen. Die Concluding Observations, die Empfehlungen des CEDAWFachausschusses vom 10. Februar dieses Jahres, müssen
von der Bundesregierung vorgelegt und im Ausschuss
beraten werden. Auch nach dem Internationalen Frauentag muss so viel Zeit dafür sein.
({11})
Und manchmal sogar etwas mehr als vorgesehen.
({0})
Nun erhält zu einer Kurzintervention die Kollegin
Riemann-Hanewinckel das Wort.
Frau Ministerin, meine Kurzintervention bezieht sich
auf Ihre Rede. Sie waren so schnell fertig, dass ich meine
Kurzintervention beim Präsidium nicht rechtzeitig anmelden konnte.
Ich habe einige Bemerkungen und zwei Fragen. Leider liegen dem Parlament die abschließenden Bemerkungen des CEDAW-Ausschusses noch nicht vor. Aber
es gibt zum Glück Nichtregierungsorganisationen, die
diese abschließenden Bemerkungen auf ihren Homepages in Englisch veröffentlicht haben. Ich habe gehofft,
dass bis zum heutigen Tag eine deutsche Übersetzung
aus Ihrem Hause vorliegt. Das ist offenbar noch nicht
der Fall, bzw. sie ist noch nicht freigegeben. In diesen
abschließenden Bemerkungen wird deutlich, dass es in
der Tat eine Reihe von positiven Punkten gibt. Es gibt
aber auch sehr viele Punkte, in denen die Bundesregierung aufgefordert wird, nachzubessern bzw. deutliche
Veränderungen vorzunehmen.
Vom Ausschuss wurde sehr moniert, dass die CEDAWKonvention in Deutschland zu wenig bekannt ist. Da
diese Konvention geltendes Recht in Deutschland ist,
wir aber feststellen müssen, dass Juristinnen und Juristen
sie kaum kennen und deshalb auch kaum anwenden, lautet meine erste Frage: Wie will Ihr Haus in Zukunft dafür
sorgen, dass nicht nur Juristinnen und Juristen, sondern
auch die breite Bevölkerung diese Konvention zur
Kenntnis nehmen und vor allen Dingen anwenden kann?
Mein Hauptpunkt ist folgender: Ich habe als Mitglied
des Menschenrechtsausschusses von Anfang bis Ende an
der Ausschusssitzung am 2. Februar in Genf teilgenommen. Dort wurde von vielen Mitgliedern des Ausschusses sehr deutlich und heftig kritisiert, dass sich die Bundesregierung, vor allem Ihr Haus, nicht mehr in der Lage
sieht, den Begriff „Gender-Mainstreaming“ zu verwenden, obwohl dieser ein international verbindlicher
Begriff ist. Es wurde sehr deutlich festgestellt, dass die
Übersetzung ins Deutsche mit „Leitprinzip Geschlechtergerechtigkeit“ nicht die Strategie bezeichnet, die mit
Gender-Mainstreaming gemeint ist. Vielmehr handelt es
sich hier um eine Zielvorstellung. Selbst wenn Geschlechtergerechtigkeit erreicht werden sollte - es ist
fraglich, ob das jemals gelingt -, bliebe das Prinzip des
Gender-Mainstreamings bestehen; denn auch danach
muss jedes Gesetz daraufhin überprüft werden, ob es unterschiedliche Wirkungen für Männer und Frauen hat.
Meine zweite Frage lautet daher: Sind Sie als zuständige
Ministerin bereit, zum Begriff und damit zum Prinzip
des Gender-Mainstreamings zurückzukehren?
Frau Ministerin, bitte.
Zunächst einmal zu Ihrer Anmerkung, der CEDAWBericht liege nicht vor. Wir haben ihn so schnell wie irgend möglich ins Deutsche übersetzt. Ihrer Fraktion liegt
der Bericht inzwischen vor.
Sofern ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie Ihre
Kurzintervention auf den Begriff „Gender-Mainstreaming“ - das ist, glaube ich, der Inhalt Ihrer Kurzintervention gewesen - reduziert. Ich weiß von meiner hochgeschätzten Vorgängerin, dass sie einen Preis ausgelobt
hat für eine lebensnahe, verständliche Übersetzung. Da
liegt wohl das Hauptproblem bei Gender-Mainstreaming. Es geht um den Inhalt von Gender-Mainstreaming, um den englischen Kontext, der uns allen eigentlich klar ist. Wir streben
({0})
die Gleichstellung von Mann und Frau in allen Lebensbereichen an. Das ist der Gegenstand der Diskussionen,
die wir hier zurzeit führen. Und genau darauf zielen die
Bemühungen, die die Bundesregierung in den letzten
drei Jahren in dieser Legislaturperiode in den eben erwähnten Feldern, die für die Gleichstellung von Männern und Frauen im Erwerbsleben, im Familienleben
und in allen anderen Bereichen des Lebens entscheidend
sind, mit großem Erfolg unternommen hat.
Aber sich an einen englischsprachigen Begriff zu
klammern, der hier nicht verstanden wird, ist meines Erachtens nicht der Sinn der Sache.
({1})
Vielmehr kommt es auf den Inhalt an.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Christel Hummel, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Lenke, auch Sie haben viele Fragen gestellt,
und ich habe Ihrer Rede entnommen, dass Sie sich weiten Bereichen der Kritik des Gleichstellungsausschusses
und der Berichte anschließen. Ich habe jedoch FDPKonzepte und Antworten darauf vermisst.
({0})
Ich denke, auch das muss man an dieser Stelle festhalten.
({1})
Frauen sind auf dem Sprung.
Frau Kollegin Humme, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke zulassen?
- Nein. Mach doch am Schluss eine Kurzintervention,
Ina.
({0})
- Ich habe doch noch gar nicht angefangen. Insofern
können Sie noch gar nichts dazu sagen.
({1})
Sie wollen Karriere, Kinder und einen Mann - aber
keinen Versorger.
({2})
Das ist das Ergebnis der Studie „Frauen auf dem
Sprung“ bei 15- bis 19- und 27- bis 29-jährigen Frauen
im Jahre 2008. Mit anderen Worten: Die heutigen jungen
Frauen wollen berufstätig und ökonomisch unabhängig
sein. Wie weit diese Frauen letztlich springen können,
hängt eindeutig von uns ab - von unserer konkreten
Gleichstellungspolitik, von den Rahmenbedingungen,
die wir setzen.
Wir haben das Ziel, Frauen einen olympiareifen Weitsprung zu ermöglichen. Haben wir die Frauen genug dafür trainiert, Frau von der Leyen? Ja, ansatzweise schon.
Denn mit unserem Elterngeld und den Partnermonaten
haben wir die Chancen der jungen Frauen auf Erwerbstätigkeit erhöht. Keine Frage.
Mit unserem Ganztagsschulprogramm und unserem
Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter
Dreijährige ab 2013 machen wir einen weiten Sprung
nach vorne. Darauf können wir alle sehr stolz sein.
({3})
- Nein, auf das Betreuungsgeld nicht, Herr Singhammer. Dafür bekommen wir auch vom Gleichstellungsausschuss sehr viel Lob; das darf man nicht vergessen. Aber
für eine Olympiamedaille reicht es noch nicht. Denn die
genannte Studie von 2008 stellt auch fest - ich zitiere -:
… aber die Zufriedenheit mit dem Beruf ist enorm
niedrig. … Die Frauen sehen ganz klar, dass Männer bevorzugt werden, dass sie schlechtere Aufstiegschancen haben, die nicht auf Leistung, sondern auf Geschlecht beruhen.
({4})
Diese individuellen Erfahrungen von Frauen werden
vom Frauenrechtsausschuss der Vereinten Nationen bestätigt. Er beklagt nach wie vor die bestehenden Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt. Der Abschlussbericht, Frau Riemann-Hanewinckel, liegt leider erst seit
gestern vor. Er ist sehr dick. Insofern kann ich verstehen,
dass Sie ihn sicherlich noch nicht haben lesen können.
Er ist auch noch nicht im Verteiler. Aber er liegt seit gestern vor.
({5})
Der Frauenrechtsausschuss der Vereinten Nationen
gibt uns in diesem Abschlussbericht einen Auftrag, und
zwar hinsichtlich der Gleichstellung am Arbeitsmarkt
aktiver zu werden. Was ist zu tun?
Auf alle Fälle dürfen wir uns nicht täuschen lassen.
Die Erwerbstätigenquote der Frauen von 64 Prozent
gaukelt uns vor, wir hätten das Lissabon-Ziel von
60 Prozent erreicht, ja vielleicht sogar schon übererfüllt.
Richtig ist: Die Beschäftigungsquote von Frauen allein
sagt nichts darüber aus, welche Position sie auf dem Arbeitsmarkt haben. Tatsache ist: Ganz oben, in den Führungspositionen, sind Frauen mit der Lupe zu suchen.
Ganz unten, im Niedriglohnsektor, stellen Frauen die
Mehrheit. Wenn es um die Bezahlung geht, ziehen
Frauen trotz gleicher Arbeit den Kürzeren. Das wollen
und müssen wir dringend ändern. Beim Geld hört die
Gleichberechtigung auf. Deutschland steht an siebter
Stelle der 25 europäischen Staaten. Bei uns verdienen
Frauen - wir haben es gerade gehört - 23 Prozent weniger als Männer. Was besonders betroffen macht: Die
Lohnlücke wird größer statt kleiner. Das ist für Deutschland ein Skandal.
({6})
Der Gleichstellungsausschuss der Vereinten Nationen fordert von uns klare Regelungen, um in der Gleichstellung den entscheidenden Sprung nach vorne zu tun.
Das ist auch unsere, die sozialdemokratische Auffassung. Wir brauchen Quotenregelungen für Frauen in der
Wissenschaft, für Frauen in Aufsichtsräten. Norwegen
hat das vorgemacht.
({7})
Wir brauchen ein Steuersystem, das Frauen nicht benachteiligt, wenn sie berufstätig werden. Wir brauchen
verbindliche gesetzliche Regelungen für gleichen Lohn
bei gleichwertiger Arbeit. Tarifverträge müssen einem
Diskriminierungscheck unterzogen werden. Der gesetzliche Mindestlohn für alle muss endlich eingeführt werden.
({8})
Wir müssen tradierte Rollenbilder aufbrechen. Dafür
brauchen wir eine noch bessere partnerschaftliche Aufteilung von Familie und Beruf. Zurzeit können Mütter
und Väter gleichzeitig sieben Monate Teilzeit arbeiten.
Warum sollte das nicht für die gesamte Elternzeit möglich sein? Das wäre eine echte partnerschaftliche Aufteilung von Familie und Beruf.
Ich habe wegen der Kürze der Zeit nur vier Vorschläge herausgegriffen, die wir unterstützen und die
deutlich machen, dass die freiwilligen Vereinbarungen
zu mehr Chancengleichheit im Beruf, die 2001 zwischen
der Regierung und der Wirtschaft getroffen wurden, in
puncto Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt nicht weitergeholfen haben.
({9})
Nach acht Jahren müssen wir uns das endlich eingestehen.
30 Jahre gibt es den CEDAW-Ausschuss. Vor 24 Jahren haben wir das Übereinkommen der UNO zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau ratifiziert. Damit haben wir in Deutschland die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von Frauen als
unveräußerliches Menschenrecht anerkannt. Deshalb ist
spätestens seit diesem Zeitpunkt die Zeit der Freiwilligkeit vorbei; denn Freiwilligkeit ist Stillstand. Meine
Fraktion hat am Dienstag einen eindeutigen Beschluss
gefasst: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten setzen auf klare gesetzliche Regelungen, damit wir
gleichstellungspolitisch einen guten Sprung nach vorne
tun.
Danke schön.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Lenke.
Frau Humme, der Abschlussbericht liegt uns nicht
vor. Es ist schon merkwürdig, dass die Ministerin davon
spricht, dass die Große Koalition ihn hat. Aber Sie haben
eine Kollegin gehört, die ihn auch noch nicht hat. Es ist
einen Monat her. In dieser Zeit hätte etwas passieren
können.
Aber nun zu Ihnen, Frau Humme. Sie wissen genau,
dass die FDP bei anderthalb Stunden Debattenzeit eine
Redezeit von 10 Prozent hat. Das sind sechs Minuten.
Jetzt fragen Sie mich nach den Anträgen der FDP. Ihre
Mitarbeiterin scheint die Rede geschrieben zu haben;
denn wenn Sie die Tagesordnung gesehen hätten, dann
wüssten Sie, dass im Zusammenhang mit der Behandlung des CEDAW-Berichts auch der FDP-Antrag aufgeführt ist, der schon im letzten Jahr zu diesem Thema eingebracht worden ist. Ich würde Ihnen, Frau Humme,
zum Schluss gerne mit auf den Weg geben: Die SPD regiert so lange, wie ich im Bundestag bin, seit 1998. Das
sind zehn Jahre. Jetzt stellen Sie sich hin und beklagen
das Fehlen von Equal Pay, also die ungleiche Bezahlung
von Männern und Frauen.
({0})
Frau Kollegin Lenke, die FDP hat zehn Minuten Redezeit. Das möchte ich klarstellen.
Bitte, Frau Kollegin Humme.
Schönen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Lenke, ich
bin sehr stolz darauf, dass wir zehn Jahre an der Regierung beteiligt waren;
({0})
denn vor allen Dingen in der ersten Legislaturperiode
haben wir gerade in der Gleichstellungspolitik sehr viel
auf den Weg gebracht.
({1})
Das Programm „Frau und Beruf“ im Rahmen des
Gleichstellungsgesetzes für die Bundesverwaltung
({2})
hat eine ganze Menge gebracht. Ich bin sehr stolz, daran
beteiligt gewesen zu sein. Dass wir heute vielleicht noch
mehr brauchen, weil wir erkennen müssen, dass freiwillige Vereinbarungen nicht gereicht haben, habe ich in
sechs Minuten deutlich machen können. Ich verstehe
nicht, warum Ihnen sechs Minuten nicht reichen, um die
Vorstellungen der FDP deutlich zu machen. Das verschlägt mir die Sprache.
Danke schön.
({3})
Ich gebe der Kollegin Dr. Barbara Höll, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erinnern Sie sich noch, wie Exkanzler Schröder Frauenpolitik als „Gedöns“ bezeichnet hat?
({0})
In einem schönen Ritual diskutieren wir Jahr für Jahr die
Gleichberechtigung der Frauen zum 8. März. Frau Ministerin stellte viele Fragen, aber gab keine Antworten.
Frau Humme, auch Sie haben Fragen gestellt. Aber Sie
sind in der Regierung. Jetzt, kurz vor Ende der Regierungszeit, zu sagen, das und das und das müsste man
machen, aber nichts Konkretes vorzulegen, ist ein Armutszeugnis für Sie als sozialdemokratische Frauen.
({1})
Vielleicht liegt es daran, dass im Gegensatz zu Ihnen
Frau Ministerin eben klipp und klar erklärt hat,
({2})
die Entgeltungleichheit in Deutschland interessiere sie
nur in Worten, mehr nicht. Frau Ministerin hat hier gesagt, das sei ausschließlich Sache der Tarifparteien. Genau das ist der Konfliktpunkt. Wir müssen uns als Abgeordnete entscheiden, ob wir das einfach so stehen lassen
oder ob wir uns einschalten, ob wir Bedingungen dafür
schaffen, dass die Tarifparteien tatsächlich zu GleichbeDr. Barbara Höll
rechtigung und Entgeltgleichheit finden. Dazu haben wir
als Linke Ihnen einen Antrag vorgelegt. Sie brauchen
hier nur zuzustimmen, dann haben wir einen Weg.
({3})
Wir bemühen uns, hier gemeinsam ein Gesetz zu verabschieden, welches für Unternehmen und Beschäftigte,
Betriebsräte und Tarifvertragsparteien den Rahmen dafür
setzt, dass eigene, auf die verschiedenen Berufszweige
zugeschnittene, differenzierte Vorgaben gemacht werden, wie die Entgeltgleichheit erreicht werden kann.
Dem müssen wir uns stellen. Wir müssen konkret werden. Wir müssen gesetzgeberisch aktiv werden, ohne in
die Tarifautonomie einzugreifen. Das möchte ich hier
klipp und klar zum Ausdruck bringen.
({4})
Frau Humme, unabhängig davon, ob sich alle Frauen
einen Mann wünschen,
({5})
was ich sehr bezweifle - vielleicht wünscht sich eine
Frau mehrere Männer, eine andere Frau wünscht sich
eine Frau als Partnerin, oder eine Frau möchte bewusst
alleine bleiben -: Frauen wollen schlicht und ergreifend,
dass das Grundgesetz nach 60 Jahren tatsächlich vollständig umgesetzt wird. Die 4 Mütter und 57 Väter des
Grundgesetzes haben sich mit der Formulierung von
Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes etwas gedacht. Sie haben allen weiteren Generationen den Auftrag erteilt:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und
wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile
hin.
Tun wir dies hier gemeinsam, indem wir gesetzgeberische Initiativen ergreifen!
({6})
Wenn Frau von der Leyen vorhin erklärt hat, dass wir
das europäische Ziel erreicht haben und 67 Prozent der
Frauen berufstätig sind, so ist das noch nicht einmal die
halbe Wahrheit.
({7})
Fakt ist: Das Arbeitsvolumen, welches durch Frauen abgedeckt wird, hat sich nicht geändert.
({8})
Die Realität ist, dass zwar mehr Frauen arbeiten, aber in
Teilzeit bzw. geringfügiger Beschäftigung. Das ist eine
Katastrophe, und sie wird hier noch als Sieg und Erfolg
verkauft.
({9})
Ich möchte einmal einen Manager zitieren: Bloß weil
sich ein paar Frauen um die Balance sorgen, werden wir
doch nicht die Regeln ändern. Wenn sie sich für Karriere
entscheiden, werden sie dafür in Stunden bezahlen müssen. - Das ist die Realität. Teilzeitarbeit ist oftmals
niedrig bezahlt und ist karrierehemmend. Aus einer Teilzeitarbeit kann man sich beruflich kaum weiterentwickeln.
Frauen werden zusätzlich auch noch mit der Hausarbeit belastet; das ist in der Realität leider so. Frauen werden auf diese Art und Weise eigentlich doppelt ausgebeutet. Dagegen muss man etwas tun, wenn man
tatsächlich Erfolge erzielen will.
({10})
Damit die Gleichstellung der Geschlechter in der Privatwirtschaft gefördert wird, schlagen wir Ihnen vor,
dass wir uns hier gemeinsam darauf verständigen, dass
Betriebe verpflichtet werden, einen Maßnahmeplan zur
Förderung der Gleichstellung vorzulegen, dass Betriebe
und Betriebsräte zu aktiver Gleichstellungspolitik verpflichtet werden, dass Frauen bei Feststellung von Diskriminierung einen Rechtsanspruch auf Einstellung oder
Beförderung haben. Wir brauchen ein Verbandsklagerecht für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.
Wir brauchen hier also eine Reihe von Maßnahmen.
Erst wenn diese umgesetzt werden, wird es so sein, dass
Frauen genauso berufstätig wie Männer sein können,
wenn sie wollen, und dass sie das gleiche Entgelt erhalten wie Männer. Dazu müssen wir auch einmal darüber
nachdenken, warum eine Krippenerzieherin, die einen
Großteil der Verantwortung für unsere Kinder übernimmt, im Vergleich zu einem Arbeiter in der Metallbranche so gering eingestuft wird. Das ist doch eigentlich nicht mehr erklärbar.
({11})
Ich sage Ihnen: Hier müssen wir gemeinsam endlich
etwas tun und nicht nur Fragen stellen. Wir als Linke
werden weiter darauf dringen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam etwas zustande bringen.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, das, was Sie gerade abgeliefert haben,
ist schon ein starkes Stück gewesen. Sie haben eine Analyse vorgenommen und dargestellt, wo Probleme bestehen. Als zuständige Ministerin haben Sie dennoch kein
Wort darüber verloren, wie Sie das ändern wollen.
({0})
Ich möchte einmal einen Satz zitieren:
In bedeutsamen Lebensbereichen hat sich die Situation von Frauen
- in Deutschland verschlechtert. Deutliche Mängel gibt es bei der
Antidiskriminierungspolitik. Trotz aller positiven
Maßnahmen kämpfen Frauen auf dem Arbeitsmarkt
mit erheblichen Benachteiligungen.
Dieses vernichtende Urteil über Ihre Frauenpolitik,
meine Damen und Herren der Regierungskoalition,
stammt nicht von der bösartigen Opposition, sondern ist
das Fazit des sechsten UN-Berichts zur Beseitigung der
Diskriminierung von Frauen in Deutschland.
({1})
Die UN gehen mit Ihnen hart ins Gericht. Sie kritisieren, dass Sie nicht aktiv werden, um die Diskriminierung
von Frauen zu beseitigen, dass Sie stattdessen sogar das
Prinzip des Gender-Mainstreamings abgeschafft, die entsprechende Abteilung im Ministerium aufgelöst und diesen Begriff aus dem offiziellen Vokabular gestrichen haben.
({2})
Englisch ist ja wirklich eine schwierige Sprache, Herr
Singhammer. Frau Ministerin, so geht man nicht mit ratifizierten internationalen Verpflichtungen um.
({3})
Was lesen wir in Ihrer Pressemitteilung dazu? Ich zitiere: Der CEDAW-Ausschuss habe sich mit den Fortschritten der deutschen Gleichstellungspolitik zufrieden
gezeigt. - Frau Ministerin, das nenne ich versuchte
Volksverdummung oder auch Etikettenschwindel.
({4})
Im UN-Bericht finden sich 25 Beanstandungen, die
meisten zur Situation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt,
zur Lohndiskriminierung, zur Unterrepräsentanz in Führungspositionen. Ich finde schon, dass es eine Unverfrorenheit ist, diesen Bericht heute hier auf die Tagesordnung zu setzen, ohne eine einzige Maßnahme der
Regierung dazu vorzulegen.
({5})
Vier Jahre Große Koalition waren frauenpolitisch
eine verlorene Zeit. Kein einziges Gesetz zu Frauenrechten haben Sie eingebracht. Woche für Woche legen Ihnen die Oppositionsfraktionen dazu Anträge vor, die Sie
ablehnen, ohne eigene Initiativen zu ergreifen. Sie reagieren nur, wenn Sie das Bundesverfassungsgericht dazu
zwingt. Das betrifft in letzter Zeit - das steht auch in den
Berichten - die transsexuellen und intersexuellen Menschen. Dazu findet sich kein Wort von Ihnen im Länderreport. Die Rüge der Vereinten Nationen kam postwendend.
({6})
Letzten Montag hat es uns EU-Kommissar Spidla gerade wieder einmal schwarz auf weiß vorgelegt: Der
Durchschnittsverdienst von Frauen in Deutschland
liegt fast ein Viertel unter dem der Männer. Damit ist das
Lohngefälle zwischen Männern und Frauen bei uns so
groß wie in kaum einem anderen EU-Land. Ich finde,
dieser Zustand ist beschämend, und es ist überfällig, dass
hier etwas passiert. Zu Recht erwägt Kommissar Spidla
gesetzliche Regelungen. Solche Regelungen scheuen Sie
ja wie der Teufel das Weihwasser.
({7})
Auf Initiative der Grünen fand im Januar im Frauenausschuss eine Anhörung dazu statt. Unsere Forderungen wurden mehrheitlich bestätigt. Darüber werden wir
in der nächsten Sitzungswoche diskutieren; vielleicht haben auch Sie dann einen Antrag dazu.
Frau Ministerin, ich verkenne nicht, dass die von Ihnen umgesetzten Verbesserungen bei der Kinderbetreuung und das Elternzeitgesetz wichtige Maßnahmen sind.
Aber Sie verwechseln konsequent Frauenpolitik mit Familienpolitik;
({8})
manchmal möchte ich sogar sagen: mit Bevölkerungspolitik. Nicht alle Frauen sind Mütter, und sie verdienen
trotzdem weniger.
({9})
Darum muss endlich ein gesetzlicher Mindestlohn her.
Davon würde jede vierte Frau in Deutschland profitieren.
Wir brauchen endlich auch ein Gleichstellungsgesetz
für die Privatwirtschaft; da hat die Linke recht. Wir haben das schon vor zwei Jahren gefordert - das ist natürlich abgelehnt worden -; darum unterstützen wir jetzt
den Antrag der Linken.
({10})
Es wurde schon gesagt: Die freiwillige Vereinbarung
zwischen der Bundesregierung und den Arbeitgeberverbänden ist gescheitert. Alles bleibt beim Alten. Die Verantwortung wird hin und her geschoben: von der Wirtschaft zu den Gewerkschaften zur Regierung - und es
passiert überhaupt nichts.
Jetzt naht der Wahlkampf. Da erfährt der erstaunte
Leser bzw. die erstaunte Leserin, dass die SPD, namentlich Franz Müntefering, nach vier Jahren Untätigkeit die
Frauenpolitik zum zentralen Bestandteil des SPD-Wahlkampfs machen möchte.
({11})
„Zentraler Bestandteil des Wahlkampfs“, das hört sich
zunächst gut an; bei näherer Betrachtung erkennt frau alIrmingard Schewe-Gerigk
lerdings, dass es sich dabei um eine Wundertüte handelt,
in der nichts als heiße Luft ist.
({12})
- Ich kann Ihnen das nicht ersparen; es tut mir leid.
({13})
Für eine Regierungspartei ist es unseriös, Politik via
Pressemitteilungen zu machen.
({14})
Ihrem Kollegen Müntefering, der leider nicht da ist, können Sie sagen: „Regieren“ heißt handeln; „regieren“
heißt nicht Pressemitteilungen schreiben.
({15})
Sie können heute unter Beweis stellen, wie ernst es Ihnen damit ist.
Ich komme damit zu dem Antrag der Grünen zur
Quotierung in Aufsichtsräten. Eine solche Quotierung
befürworten Sie. Das haben Sie auch in der Fraktion verabschiedet.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen: Die Führungspositionen in der deutschen Wirtschaft sind fest in
Männerhand. In den Vorständen der 30 DAX-Unternehmen findet sich immer noch nur gerade mal eine Frau. In
den Aufsichtsräten liegt der Frauenanteil so gerade bei
10 Prozent. Ohne die Entsendung von Frauen in die Aufsichtsräte durch die Gewerkschaften - das liegt an der
Quotierung nach dem Betriebsverfassungsgesetz - wäre
sie nur halb so hoch.
Den Unternehmen - das müssten Sie eigentlich wissen - geht durch diese Männerwirtschaft kreatives Potenzial verloren.
({17})
Die Reservate des Patriarchats, wie es ein Kollege von
uns einmal ausdrückte, sind nicht zukunftsfähig. Gerade
Zukunftsfähigkeit wird in der jetzigen Wirtschaftskrise
gebraucht. Ursache der Krise ist nicht nur ein Versagen
des Marktes; Ursache ist auch ein Versagen der Manager. - Da nickt auch der Herr Kollege Röttgen.
({18})
Wenn wir diese Krise als Chance begreifen wollen, müssen wir endlich Strukturen ändern, nicht nur in den Banken, nicht nur in der Automobilindustrie, sondern gerade
auch in den Aufsichtsräten.
Unser Vorbild ist Norwegen. Seit 2006 müssen gesetzlich mindestens 40 Prozent der Sitze in Aufsichtsräten von Frauen besetzt sein. Das Gesetz wurde nicht
etwa von der Gleichstellungsministerin initiiert, sondern
von dem konservativen norwegischen Wirtschaftsminister Gabrielsen, der in der Bundestagsanhörung alle
Zweifel der anwesenden Wirtschaftsvertreter eindeutig
zerstreute. Sein Ergebnis: Das Gesetz funktioniert zum
Wohle der norwegischen Wirtschaft; kein Unternehmen
hat das Land verlassen - bei uns wird ja immer mit der
Abwanderungstendenz argumentiert -; es gibt tatsächlich genügend qualifizierte Frauen für die Aufsichtsräte.
({19})
Es spricht also überhaupt nichts dagegen, diese Erfolgsgeschichte als Best Practice - schon wieder ein englisches Wort - für Deutschland zu übernehmen, und
zwar in einem zweistufigen Verfahren, wie wir es Ihnen
jetzt vorschlagen: Zunächst sollte eine Regelung in den
Corporate-Governance-Kodex aufgenommen werden,
nach der die Aufsichtsräte deutscher Aktiengesellschaften bis 2012 mindestens zu 40 Prozent mit Frauen zu besetzen sind. Falls dieses Ziel bis dahin nicht freiwillig
umgesetzt wird, erfolgt eine gesetzliche Regelung im
Aktiengesetz, nach der dies bis 2015 zu erreichen ist.
Danach greifen Sanktionen. So hat es uns Norwegen
vorgemacht, so können wir es machen.
({20})
Mit der Beschränkung der Aufsichtsratsmandate auf
fünf schaffen wir mehr Beteiligungsmöglichkeiten für
Frauen und durchlöchern ein wenig die Old Boys Networks. Schon die Finanz- und Korruptionsskandale der
vergangenen Jahre haben deutlich gemacht, dass die
Aufsichtsräte häufig nicht im Sinne einer effektiven Unternehmenskontrolle funktionieren.
Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund der
Wirtschaftskrise stellt sich erneut die Frage nach dem
Stellenwert von Gleichstellungspolitik. Ist das nur ein
Thema für wirtschaftlich gute Zeiten? Ich sage: Nein.
Gerade in der Krise ergibt sich die Möglichkeit, überkommene Strukturen und Rollen zu überwinden. Lassen
Sie uns doch endlich diese Chance nutzen!
({21})
Eine gestern veröffentliche Umfrage ergab: 50 Prozent
der deutschen Bevölkerung trauen den Frauen, aber nur
17 Prozent der deutschen Bevölkerung trauen den Männern eher zu, diese Krise zu meistern. Sie sehen, es ist
Zeit für Veränderungen.
({22})
Diskriminierung wegen des Geschlechts ist für eine
moderne Gesellschaft beschämend und inakzeptabel.
Die Aufgabe einer Regierung ist es nicht, zu lamentieren; ihre Aufgabe ist, zu handeln.
Dabei haben sowohl die Kanzlerin als auch Ministerin von der Leyen offensichtlich Wahrnehmungsprobleme. Während die Kanzlerin behauptet, der CDUBundesvorstand sei zur Hälfte mit Frauen besetzt - quasi
die Speerspitze der Quotierung -, ergibt ein Nachrechnen, dass es gerade mal ein Viertel ist. Wenn Ministerin
von der Leyen als Beleg für ihre gute Arbeit damit
prahlt, im Jahr 2008 seien 3 400 Kinder mehr geboren
als im Jahr 2007, während einen Tag später das Statistische Bundesamt belegt, von Januar bis Oktober 2008
seien sogar 4 000 Kinder weniger auf die Welt gekommen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, dann fragt
man sich schon
Frau Kollegin!
- ich komme zum Schluss
Ich bitte darum.
- ob es nur eine Wahrnehmungsstörung ist oder ob es
sich um eine gezielte Desinformation handelt. Eine
Schelmin, die Böses dabei denkt.
({0})
Jetzt kommt der letzte Satz, Frau Präsidentin: Meine
Damen und Herren, wir haben in der Frauenpolitik vier
Jahre verloren. Es ist an der Zeit, dass dieser Stillstand,
diese Blockade überwunden wird. Wir brauchen einen
neuen Gesellschaftsvertrag auch zwischen den Geschlechtern.
Frau Kollegin!
Wir brauchen eine Politik, die Frauen ernst nimmt.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.
Sie können nicht die Redezeit der Grünen dadurch verlängern, dass Sie meine Mahnungen ignorieren.
- Ich bin schon beim allerletzten Satz. ({0})
Wir brauchen wieder eine Frauen- und Gleichstellungspolitik.
Recht herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist nicht nur
eine Angelegenheit für Frauen; es gibt hier auch eine
große Verantwortung für Männer. Ich freue mich, dass
bei dieser Debatte von unserer Fraktion die Kollegen fast
hälftig vertreten sind, was nicht bei allen Fraktionen im
gleichen Umfang der Fall ist.
({0})
Wir wollen die Ungleichheit bei der Entlohnung zwischen Frauen und Männern einebnen. Hier fangen wir
aber nicht bei null an, wie immer wieder mithilfe eines
Zerrbildes behauptet wird.
Es ist richtig - Sie haben darauf hingewiesen, Frau
Ministerin -: Die Frauenerwerbstätigkeitsquote in
Deutschland liegt mit 64 Prozent weit über dem, was als
Ziel von der Europäischen Union angestrebt wird. Das
hat natürlich auch seinen Grund darin, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als eines der zentralen
Anliegen in den vergangenen Jahren entscheidend vorangebracht worden ist:
({1})
mit dem Elterngeld und mit dem Ausbau der Kinderbetreuung. Das sind Fakten, die nicht geleugnet werden
können. Vielen Dank, Frau Ministerin.
({2})
Ich sage aber auch: Das reicht noch nicht. Natürlich
ist Lohndiskriminierung nach nationalem und europäischem Recht ausgeschlossen. Es ist eindeutig unzulässig.
({3})
Die Problematik liegt aber im versteckten Bereich. Die
versteckten Ursachen sind das, was wir gemeinsam beklagen. Selbstverständlich müssen wir diese Ursachen
benennen. Das ist kein Ausweichen. Wir haben auch Lösungen. Lassen Sie mich drei benennen.
({4})
- Sofort, Frau Lenke. Ich komme gleich darauf zu sprechen.
Zum einen haben Frauen nach wie vor oft ein bestimmtes Berufsbild,
({5})
einen sogenannten typischen Frauenberuf im sozialen
Bereich, der schlechter bezahlt wird, obwohl es sich um
sehr wichtige und hochqualifizierte Tätigkeiten handelt.
Wir müssen erreichen, dass diese Tätigkeiten besser bezahlt und höher angesehen werden. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
({6})
Zum Zweiten geht es um die hier schon oft beschworene Teilzeitquote. Ja, sie gibt es, aber eine höhere TeilJohannes Singhammer
zeitquote ist doch als solche nichts Schlechtes. Viele
Frauen wollen ja maßgeschneiderte Teilzeitangebote.
({7})
Wir haben das im Zusammenhang mit der Familienpolitik des Öfteren diskutiert. Der EU-Kommissar Spidla,
der von Ihnen, Frau Schewe-Gerigk, zitiert worden ist,
hat gerade erst seine Kritik, die er in Bezug auf die Teilzeitquote in Deutschland geäußert hat, zurückgenommen. In einem Teil der Medien war beispielsweise gestern zu lesen:
… Vladimir Spidla hat seine Aussagen über eine
Vertiefung des Lohngefälles zwischen Männern
und Frauen in Deutschland zurückgenommen.
({8})
Wir wollen, dass es die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit
gibt. Die meisten Frauen wollen das auch.
({9})
Wir wollen aber nicht, dass sich Teilzeitarbeit als Hindernis herausstellt, um in Führungspositionen zu gelangen. Das ist das Entscheidende.
({10})
Deshalb müssen wir uns um ein wesentlich besseres Verhältnis von Führungspositionen zur Teilzeit kümmern.
({11})
Zum Dritten freue mich ich allerdings auch, dass die
Bundesregierung in Bezug auf die Gleichstellung mit
gutem Beispiel vorangeht. Wir haben eine Bundeskanzlerin
({12})
- nicht in Teilzeit -,
({13})
und 6 von 14 Ministern sind Ministerinnen. Ich sage
aber auch, dass bezüglich der Führungspositionen im
öffentlichen Dienst noch nicht alles zum Besten steht
bzw. es nicht so ist, wie wir es uns vorstellen.
({14})
Wir wollen, dass der Frauenanteil in Führungspositionen
im öffentlichen Dienst, weil ihm in vielen Bereichen
eine Pilotfunktion zukommt, eindeutig verbessert wird.
Herr Kollege Singhammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dückert?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Singhammer, Sie haben gerade darauf
hingewiesen, dass die Regierung bei der Frage „Frauen
in Führungspositionen“ vorbildlich vorangehe. Ich
möchte Sie fragen, wie Sie vor dem Hintergrund dieser
Einschätzung die Entscheidung vom gestrigen Tag bewerten, dass die Regierung einen Lenkungsrat zur Beurteilung des 100-Milliarden-Euro-Rettungspaketes für
die Wirtschaft eingesetzt hat, der aus acht älteren Herren
besteht. Diese haben sich in der Wirtschaft sicherlich in
der Vergangenheit hervorgetan, aber sie gehören zugleich auch zu dem Herrenklub, der dazu beigetragen
hat, dass wir im Bereich „Finanzen und Wirtschaft“ in
allerlei Turbulenzen geraten sind. Es handelt sich unter
anderem um folgende Herren: den früheren BDI-Präsidenten Michael Rogowski,
({0})
den Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,
Energie, Hubertus Schmoldt, den früheren Wirtschaftsstaatssekretär Alfred Tacke, den Bonner Ökonomen
Martin Hellwig. Man merke auf: Ein Wissenschaftler ist
dabei, der sich mit der Bewertung beschäftigt.
Alles zusammengenommen und insbesondere an den
Entscheidungen aus jüngster Zeit wird also, wie ich
finde, deutlich, dass Sie uns nicht helfen, Frauen in
wichtige, leitende Positionen zu bringen, wodurch die
Wirtschaft vorangebracht werden könnte.
({1})
Frau Kollegin Dückert, Sie können davon ausgehen,
dass letztendlich die Bundesregierung die entscheidenden Weichenstellungen vornimmt, auch und gerade in
den von Ihnen genannten Fragen der Kredit- und Bürgschaftsvergabe. Die Bundesregierung selber ist, wie ich
schon gesagt habe, vorbildlich besetzt; der Frauenanteil
beträgt fast 50 Prozent. Sie können davon ausgehen,
dass im Gremium Bundesregierung auch die entsprechenden guten Entscheidungen mit hälftiger Beteiligung
von Frauen getroffen werden.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Die Union hat einen Beschluss gefasst, der zehn wichtige Schritte dazu
enthält, was noch zu tun ist.
({0})
Diese werden wir auch umsetzen. Wir bleiben nicht stehen, sondern gehen Stück für Stück voran.
({1})
Ich sage aber auch: Wenn man vorangeht, muss man in
die richtige Richtung gehen.
({2})
Weil Sie von den Linken sich hier immer als Wortführer des richtigen Wegs darstellen, möchte ich zu Ihrem
Antrag Folgendes sagen: Sie haben in Ihrem Antrag die
Forderung formuliert, es müssten in allen Lohngruppen
hälftig Frauen und Männer vertreten sein.
({3})
Das heißt also, Sie müssten eine Quote für alle Berufszweige, vom Facharbeiter bis hin zur Hebamme, einführen. Wenn das dann auch noch per Gesetz überwacht
werden soll, erfordert das ein neues Höchstmaß an Bürokratie, eine Monsterbürokratie.
({4})
Nun mögen einige von Ihnen durchaus einen großen Gefallen daran finden. Ich sage Ihnen: Eine solche Monsterbürokratie führt Frauen überhaupt nicht weiter. Wir
wollen sie nicht.
({5})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Kerstin Griese.
Herr Kollege Singhammer, Sie haben mir keine Gelegenheit zu einer Zwischenfrage gegeben, sonst hätte ich
gefragt, wann Sie über das CEDAW-Abkommen, das
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung von Frauen, sprechen wollen, das hier Thema
ist.
Ich will oder muss diese Kurzintervention allerdings
nutzen, um etwas klarzustellen, weil geschäftsordnungstechnisch eine Kurzintervention auf die Antwort zu einer
Kurzintervention nicht möglich ist. Die Frau Ministerin
hat vorhin in ihrer Antwort den Eindruck erweckt, als sei
die deutsche Übersetzung der abschließenden Bemerkungen des Ausschusses zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau dem Ausschuss zugegangen, indem sie
gesagt hat, die Übersetzung liege auf meinem Schreibtisch. Das ist nicht so.
({0})
Diese Bemerkungen sind zwar in der vorläufigen Fassung der Koalitionskoordinierung zugegangen. Das ist
schön; trotzdem bestehe ich als Ausschussvorsitzende
darauf, dass sie auch dem Parlament zugehen. Ich glaube
nicht, dass etwas Geheimes darin enthalten ist. Im Gegenteil, sie könnten uns in unserer Frauen- und Gleichstellungspolitik weiterhelfen. Ich bitte also ausdrücklich
um die Weiterleitung, und ich bitte Sie als Sprecher der
CDU/CSU-Fraktion, ebenfalls darauf zu achten, dass das
weitergegeben wird.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Singhammer.
({0})
Das ist nicht unangenehm. Wir geben alles weiter,
was notwendig und wichtig ist. Hier den Eindruck zu erwecken, es würden irgendwelche Unterlagen zurückgehalten, ist von vornherein falsch.
({0})
- Nein, das ist nicht so.
Was Ihr Unwohlsein - nicht das Ihre, Frau Kollegin
Griese, aber das der Grünen - hervorgerufen hat, war,
dass die Ministerin die englische Bezeichnung GenderMainstreaming nicht mehr verwendet.
({1})
Da kann ich nur sagen: Das ist völlig richtig; denn mit
Ausnahme der politischen Klasse, die sich damit beschäftigt, verstehen nur relativ wenige, was sich hinter
dieser Begrifflichkeit verbirgt.
({2})
Deshalb bin ich der Meinung, dass das richtig ist und
dass es keinen Anlass zur Kritik gibt.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon interessant, zu beobachten, wie die Koalitionsfraktionen sich hier in die Wolle bekommen.
({0})
Der Wahlkampf beginnt offensichtlich. Ich denke aber,
dass Frauenpolitik, Gleichstellung von Frauen und der
CEDAW-Bericht ein zu ernstes Thema sind, als dass wir
uns nur in den Niederungen der Parteipolitik bewegen
sollten. Wichtiger wäre, die Sachfragen zu klären.
({1})
Eine Tatsache, die ich hier anmerken möchte, ist, dass
es unter den 24 beamteten Staatssekretären der Bundesregierung nur eine einzige Frau gibt, und das auch erst
seit Ende 2008. Immerhin; vielleicht ist das ja ein Anfang.
Aufgrund des Berichts, den uns die Frau Ministerin
hier vorgelegt hat, haben wir feststellen können, dass
noch viel zu tun bleibt. Mit der Forderung nach der Besetzung von 40 Prozent der Aufsichtsratsmandate
durch Frauen wird sicherlich nichts zu bewegen sein.
Wir wollen keine Eingriffe in die Wirtschaft. Aber wir
haben durchaus den Wunsch, dass die Wirtschaft dieses
Manko beseitigt und mehr Frauen Wirtschaftsverantwortung überträgt. Meiner Ansicht nach werden sich dann
solche Fiaskos wie die Wirtschaftskrise, die wir derzeit
erleben, nicht so krass entwickeln, da nach meinem Dafürhalten durch den Sachverstand der Frauen die Risiken
eher erkannt würden.
({2})
Auch die Forderung nach einem Feiertag ausschließlich für Frauen scheint mir wenig zielführend zu sein.
Dies würde eine weitere finanzielle Belastung bedeuten,
wodurch möglicherweise Arbeitsplätze gefährdet wären.
Das ist also ein völlig falscher Ansatz.
({3})
Im CEDAW-Bericht sind interessanterweise zwei Abschnitte enthalten, die nach meinem Dafürhalten hier
bisher zu wenig Beachtung gefunden haben, nämlich das
Thema „Gewalt gegen Frauen“ und das Stichwort „verletzbare Frauengruppen“. Frau Ministerin, hierzu habe
ich von Ihnen nichts gehört.
({4})
Ich bin der Meinung, dass Sie bei diesen ganz spezifischen Frauenfragen Ihre Aufgabe nicht erfüllen. Sie
müssen nicht nur in Fragen des Elterngeldes, bei denen
Sie sich zweifellos profiliert haben, sondern auch in diesen Fragen sensibel sein. Dazu gehört die Frage: Wie
sieht es aus mit häuslicher Gewalt gegen Frauen?
Frauen sind nach wie vor von häuslicher Gewalt betroffen, und zwar in einem Ausmaß, das in der Öffentlichkeit immer noch nicht ausreichend bekannt ist. Wenn
Sie, Frau Humme, der Meinung sind, die FDP habe
keine Vorschläge gemacht, wie das Thema „häusliche
Gewalt“ zu behandeln sei,
({5})
dann muss ich Ihnen schon sagen, dass Sie die Debatte
nicht kennen. Es ist möglich, dass Sie nach Ihrem Ausscheiden aus dem Familienausschuss dieses Feld nicht
mehr überblicken.
({6})
Wir haben einen Antrag gestellt, in dem wir die Bundesregierung auffordern, über die Finanzierung von
Frauenhäusern Auskunft zu geben. Wir haben sehr dezidiert die Punkte aufgelistet, über die wir etwas erfahren wollen. Die Bundesregierung hatte bis Ende 2008
Zeit, zu reagieren; sie hat aber einen solchen Bericht bisher nicht vorgelegt. Die im CEDAW-Bericht angesprochene Problematik haben wir schon in unserem Antrag,
den wir lange vor der Veröffentlichung des CEDAW-Berichts gestellt haben, behandelt. Wir verlangen, dass die
Bundesregierung Schritte zur Veränderung dieser Situation einleitet.
Die Bundesregierung muss sich mit der Finanzierung
von Frauenhäusern, von Schutzräumen befassen und
hier klare Signale an die Länder senden, damit dieses
Thema auf Bundes-, auf Landes- und auf kommunaler
Ebene breit diskutiert wird; das fordert auch die UN. Wir
dürfen uns nicht in der Fragestellung verlieren, ob dieses
Thema verfassungsrechtlich in der Kompetenz des Bundes liegt; denn das Thema geht die gesamte Gesellschaft
dieses Landes an. Es ist auch ein Thema für die Bundesregierung, die sich ihm bislang zu wenig gewidmet hat.
Die FDP hat hier klare Forderungen gestellt, die wir weiter verfolgen werden.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren
und Damen! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Alle
Jahre wieder im März steht die Gleichstellungspolitik im
Parlament im Mittelpunkt. Der Internationale Frauentag
steht vor der Tür. Aus diesem Anlass bedanke ich mich
zunächst einmal ganz herzlich bei allen, die sich für eine
bessere Gleichstellungspolitik starkmachen. Danke,
liebe Mitstreiterinnen vom DGB, vom Deutschen Juristinnenbund, vom Frauenrat und vielen anderen Organisationen.
In diesem Jahr debattieren wir hier und heute über
den Sechsten Bericht der Bundesrepublik Deutschland
zu CEDAW, das wichtigste internationale Menschenrechtsinstrument für Frauen. Auf den ersten Blick sieht
alles prächtig aus. Wer sich nur über das Ministerium informiert, erfährt:
CEDAW-Ausschuss der Vereinten Nationen zufrieden mit den Fortschritten der deutschen Gleichstellungspolitik
Die heutige Debatte hat aber gezeigt, dass das deutlich
zu kurz gesprungen ist.
({0})
Gleichstellungspolitik ist weit mehr als Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, Herr Singhammer; denn Frauen
sind nicht nur Mütter.
({1})
Das sieht im Übrigen auch der CEDAW-Ausschuss so
und mahnt unter anderem Verbesserungen bei der Entgeltgleichheit an. Die SPD nimmt diese Kritik ernst.
Deshalb wollen wir gleichen Lohn für gleiche und
gleichwertige Arbeit. Lohnunterschiede von 23 Prozent
zwischen Männern und Frauen sind in der Tat ein Skandal. Es ist an der Zeit, dass wir die rote Laterne, die wir
damit innerhalb der EU haben, endlich abgeben. Frauen
verdienen mehr!
({2})
Wir wollen eine gerechte Bezahlung von Frauen. Es
muss endlich Schluss damit sein, dass der männliche Lagerarbeiter mehr verdient als die Kassiererin in einem
Supermarkt. Weil die Appelle für freiwillige Lösungen
kein Gehör finden, setzen wir von der SPD jetzt auf gesetzliche Regelungen.
({3})
Wir wollen mehr Frauen in Führungspositionen;
denn schließlich haben Männer in den Chefetagen der
Banken diese Finanz- und Wirtschaftskrise zu verantworten. Mehr Frauen in Chefsessel! - Das ist eine der
wichtigsten Lehren, die aus dieser Krise gezogen werden
müssen.
({4})
Dabei denke ich nicht nur an die weiblichen Spitzenkräfte. Frauen in Führungspositionen verbessern die
Chancen für alle anderen Frauen im Betrieb. Davon profitieren alle Frauen. Davon profitiert aber auch die gesamte Wirtschaft. Der norwegische Wirtschaftsminister
Andersen sagt, dass die Wirtschaft viel versäume, wenn
sie die Ressourcen der weiblichen Leitungen und Vorstandsmitglieder nicht ausschöpft. Unsere CSU-Wirtschaftsminister sagen dazu - nichts. Wir sagen dazu:
Quote tut gut.
({5})
Unsere Familienministerin hat Norwegen ebenfalls
als großes Vorbild entdeckt, allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich beim Access-Blocking.
Ich wundere mich schon ein wenig darüber, wie locker
Ihnen, Frau Ministerin, dieses Wort über die Lippen
kommt; denn beim Begriff Gender-Mainstreaming ist
das völlig anders.
({6})
Das wird, so die Ministerin, angeblich nicht verstanden.
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verstehe
wer will.
Der CEDAW-Ausschuss kritisiert zu Recht, dass das
deutsche Frauenministerium die internationale GenderMainstreaming-Strategie nicht umsetzt. Hier geht es
nicht um den Begriff; hier geht es um eine Strategie,
Frau Ministerin.
({7})
Nehmen Sie diese Kritik an und ernst! Sorgen Sie für
eine Politik, von der Frauen und Männer gleichermaßen
profitieren! Sorgen Sie endlich wieder für Gender-Mainstreaming!
Wofür steht die SPD in der Gleichstellungspolitik?
Wir wollen gute Arbeit für Frauen, das heißt: gleiche Arbeitsbedingungen für Frauen und Männer, faire Mindestlöhne und Wege raus aus der Falle ungeschützter und geringfügiger Beschäftigung. Wir wollen eine anständige
Absicherung von Frauen in der Sozialversicherung, die
Beachtung der Bedürfnisse von Mädchen und Frauen im
Gesundheitssektor und eine wirksame und umfassende
Strategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.
Wir wollen keine Diskriminierungen von lesbischen
Frauen oder inter- und transsexuellen Menschen.
Gegen erhebliche Widerstände haben wir das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz durchgesetzt. Mittlerweile wissen alle: Gefahr für die Wirtschaft droht nicht
vom AGG, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
der Union, sondern vielmehr von den überwiegend
männlichen Chefetagen der Banken. Der CEDAW-Ausschuss lobt das AGG. Es wirkt. Das zeigen uns auch erfreuliche Gerichtsurteile aus jüngster Zeit. Die Durchschlagskraft der Antidiskriminierungsstelle lässt aber zu
wünschen übrig. Hier müssen wir nacharbeiten. Darum
wollen wir von der SPD das AGG zu einem präziseren
und schärferen Schwert gegen Diskriminierung weiterentwickeln.
({8})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, mit dem Beschluss des 10-Punkte-Plans „Jetzt sind Frauen dran“ hat
die SPD-Bundestagsfraktion vorgelegt. Er enthält im
Gegensatz zum Beschlüsschen der Union wirklich konkrete und zielführende Verbesserungen für Frauen im Erwerbsleben. Unser Koalitionspartner setzt auf freiwillige
Vereinbarungen, Empfehlungen und besseres Berichtswesen.
({9})
Wir von der SPD dagegen wollen rechtlich verbindliche
Regelungen und damit eine Gleichstellungspolitik, die
diesen Namen verdient.
({10})
Lassen Sie uns gemeinsam Nägel mit Köpfen machen, damit Frauen endlich das bekommen, was sie verdienen: mehr Lohn, mehr Rechte, mehr Verantwortung,
eine bessere Gleichstellungspolitik.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
insbesondere liebe Kollegen! Liebe Gäste! Es ist hier
schon mehrfach gesagt worden: Der CEDAW-Ausschuss
zeigt sich zufrieden mit den Fortschritten der deutschen
Gleichstellungspolitik. Nein, das ist nicht meine Einschätzung; das stand in der schon zitierten Presseerklärung aus dem Hause von der Leyen. Sie bezog sich auf
den Sechsten Staatenbericht zum Übereinkommen der
Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, kurz CEDAW genannt, den die
Bundesregierung kürzlich im Vertragsausschuss der Vereinten Nationen in Genf vorgestellt hat.
Die Presseerklärung hat nicht nur mich erstaunt. Teilnehmerinnen der 20-köpfigen Frauendelegation berichteten, dass in Genf sehr deutlich Kritik am Regierungsbericht geübt wurde, und zwar nicht nur von den
deutschen Nichtregierungsorganisationen, sondern auch
vom CEDAW-Ausschuss selbst. Der Deutsche Juristinnenbund berichtete zum Beispiel Folgendes: Im Ausschuss wurde gefragt, ob durch die deutsche Rechtspolitik ungewollt falsche Anreize gesetzt werden, die
Rollenstereotype verfestigen und damit zur Diskriminierung von Frauen führen. Als Beispiele wurden auch genannt: erstens die Bedarfsgemeinschaftsregelung bei
Hartz IV, zweitens die Anhebung des Rentenalters und
drittens das Ehegattensplitting. - Was im CEDAW-Ausschuss freundlich als Frage formuliert wurde, kann ich
ganz klar beantworten: Ja, die Große Koalition setzt falsche Anreize, und zwar gewollt, und ja, sie verfestigt
Rollenstereotype, die zur Diskriminierung von Frauen
führen.
({0})
Außerdem wurden Anträge meiner Fraktion abgelehnt, die genau diese drei im CEDAW-Ausschuss kritisierten Anreize korrigiert hätten. Wir haben erstens die
Aufhebung der Bedarfsgemeinschaft bei Hartz IV gefordert, weil jede und jeder einen eigenen Anspruch auf
einen Regelsatz haben soll.
({1})
Zweitens haben wir die Rücknahme der Rente ab 67 gefordert, weil diese Regelung gerade Frauen besonders
hart trifft.
({2})
Drittens haben wir die Streichung des Ehegattensplittings und stattdessen Individualbesteuerung gefordert. Alles wurde abgelehnt,
({3})
und zwar in Kenntnis der gleichstellungspolitischen Folgen.
Noch viel mehr Kritik steht im Alternativbericht zur
UN-Frauenkonvention CEDAW, den uns Abgeordneten
im vergangenen Dezember 28 Frauenorganisationen
vorgelegt haben, gemeinsam mit einem alarmierenden
Bericht zur Situation inter- sowie transsexueller Menschen in unserem Land. Dieser engagierten Arbeit ist es
zu verdanken, dass die real existierenden Mängel der
bundesdeutschen Gleichstellungspolitik und Frauenpolitik deutlich benannt wurden. Alle diese Berichte widersprechen dem allzu selbstgefälligen Bericht der Bundesregierung in ganz wesentlichen Punkten. Aber Kritik
nutzt nur, wenn sie gehört wird. Deshalb sehe ich diese
Alternativberichte als Hausaufgaben für das Parlament
und uns Abgeordnete. Wir müssen erzwingen, dass die
Bundesregierung die UN-Frauenkonvention endlich erlebbar durchsetzt.
({4})
Wir müssen quasi einen gleichstellungspolitischen roten
oder lila Faden in das Regierungshandeln einweben. Die
Linke hat und wird ihren Beitrag dazu leisten. Gerade
haben wir zum Beispiel die Forderungen aus dem Schattenbericht der Bundesregierung als Kleine Anfragen vorgelegt. Wir fragen, ob, wann und in welcher Form sie
diese umsetzen will. Ich denke, auf die Antworten warten nicht nur wir.
Ich gehe davon aus, dass es einen fraktionsübergreifenden Willen gibt, endlich konkrete Beiträge zu einem
frauenpolitischen Aufbruch zu leisten. Damit können
wir heute beginnen. Wir können heute von dieser Bundestagssitzung aus ein klar erkennbares Zeichen senden:
Lassen Sie uns den Internationalen Frauentag am
8. März zum gesetzlichen Feiertag machen.
({5})
Stimmen Sie unserem Antrag in diesem Hohen Hause
heute zu.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich gebe das Wort der Kollegin Michaela Noll, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hatte jetzt ungefähr eine Dreiviertelstunde
lang die Gelegenheit, zuzuhören. Ich muss sagen: Ich
finde es schade. In einer Stunde haben wir die Möglichkeit, einen Festakt zu begehen: 60 Jahre Art. 3 Grundgesetz. Ich meine, das ist ein Festakt, den wir wirklich begehen und feiern sollten, genauso wie den Festakt
„90 Jahre Frauenwahlrecht“. Diese beiden Ereignisse
sind Meilensteine für die politische und gesellschaftliche
Partizipation von Frauen gewesen. Deswegen bin ich der
Meinung, dass diese Debatte in falsche Bahnen läuft.
({0})
Mittlerweile gibt es CEDAW seit fast 30 Jahren.
Würde ich Sie fragen, was genau CEDAW ist, könnten
mir aber bedauerlicherweise viele von Ihnen keine Antwort geben, natürlich mit Ausnahme unserer Fachpolitiker.
({1})
CEDAW ist ein Übereinkommen der Vereinten Nationen
zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung von
Frauen. Was das Gezeter, warum CEDAW in der Öffentlichkeit nicht so präsent ist, betrifft, muss ich ganz ehrlich sagen: Sowohl Sie als auch wir waren oder sind an
der Regierung. Wir alle müssen dieses Thema mehr als
bisher in die Öffentlichkeit transportieren.
({2})
- Die Ministerin äußert sich auf der Homepage des Bundesfamilienministeriums zu diesem Thema, und weitere
Informationen sind auf der Homepage des Auswärtigen
Amtes zu finden. Außerdem gibt es entsprechende Broschüren.
({3})
Dennoch gibt es Informationslücken. Wenn wir wirklich
wollen, dass CEDAW ein Meilenstein wird, müssen wir
alle dieses Thema mehr als bisher in die Öffentlichkeit
tragen. Hier sind alle Politiker gefordert.
({4})
- Das gilt auch für Frau Kollegin Marks. Wie ich sehe,
sind Sie gerade sehr damit beschäftigt, sich mit Ihrer
Kollegin zu unterhalten.
({5})
Frau Kollegin Riemann-Hanewinckel, Sie haben in
Ihrer Kurzintervention unsere Ministerin angegriffen
und behauptet, sie habe ein Problem mit dem Begriff
„Gender-Mainstreaming“. Ich sage Ihnen: Sie hat damit
kein Problem. Weil die ehemalige Bundesfamilienministerin Frau Renate Schmidt noch im Saal ist, bitte ich sie,
zu bestätigen, dass sie in der ersten Sitzung der letzten
Legislaturperiode an den gesamten Familienausschuss
appelliert hat, einen praktikableren Begriff zu finden.
({6})
Sie hat in dieser Sitzung auch angekündigt, dieses Bemühen mit einem Geschenk zu verbinden.
({7})
- Das war keine Einzelmeinung. Dieser Appell hat die
Zustimmung des gesamten Ausschusses gefunden. Malen Sie die Dinge bitte nicht schwärzer, als sie in Wirklichkeit sind!
({8})
Frau Kollegin Noll, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Riemann-Hanewinckel?
Ja.
({0})
Frau Kollegin Noll, ich habe zwei Fragen an Sie.
Meine erste Frage: Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass der Staatenbericht, der in der letzten Legislaturperiode, vor knapp fünf Jahren, an den CEDAW-Ausschuss nach New York geschickt worden ist - ich war
damals dafür verantwortlich -, erstmalig an dieses Hohe
Haus überwiesen worden ist, damit er hierzulande nicht
nur bekannt, sondern auch debattiert wird?
Meine zweite Frage: Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass der CEDAW-Ausschuss kritisiert hat - es geht
nicht um die Begrifflichkeiten -, dass die Strategie des
Gender-Mainstreaming und des Gender-Budgeting aufgrund der Formulierung abhanden gekommen ist?
({0})
Haben Sie diesen Hauptkritikpunkt zur Kenntnis genommen? Das kommt im Bericht, in den abschließenden Bemerkungen des Ausschusses, ziemlich deutlich zum
Ausdruck. Man kann das im Zweifel auch im Protokoll
der Ausschusssitzung nachlesen.
Ich habe das zur Kenntnis genommen. Nehmen Sie
bitte zur Kenntnis, dass CEDAW vielen Bürgern nach
wie vor nicht präsent ist. Sie können mit diesem Begriff
und mit dem Übereinkommen nichts anfangen.
({0})
- Das hat nichts mit dem Regierungshandeln zu tun. Um
tatsächliche Gleichstellung zu gewährleisten, müssen
wir für einen Wandel in den Köpfen sorgen.
({1})
Mit festen Begriffen werden wir nichts erreichen. Wir werden auch nichts erreichen, wenn wir in unserer Gesellschaft eine Diskussion nach dem Motto „Mann gegen
Frau“ starten. Wir können nur gemeinsam erfolgreich sein.
({2})
Ich bin froh, dass meine Fraktion in dieser Debatte zumindest einen männlichen Redner gestellt hat. Bei Ihnen
ist das nämlich nicht der Fall.
({3})
Frau Kollegin Noll, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Haßelmann?
Wenn sie nicht so lange dauert, ja. Um 13 Uhr findet
bei uns nämlich ein Festakt statt. - Bitte.
Liebe Kollegin Michaela Noll, Sie haben in Ihrem
Redebeitrag gerade den Eindruck erweckt, dass wir uns
im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zu Beginn dieser Legislaturperiode einvernehmlich verständigt haben, von Gender-Mainstreaming Abstand zu
nehmen.
Nein.
({0})
Ich möchte Sie bitten, uns zu sagen, auf welche Ausschusssitzung Sie sich beziehen. Ich bin in diesem Ausschuss die Obfrau der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Meiner Erinnerung nach habe ich während der gesamten
Legislaturperiode an nur zwei Sitzungen nicht teilgenommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich dieser
Ausschuss im Einvernehmen mit dem Bündnis 90/Die
Grünen von der Strategie des Gender-Mainstreaming
distanziert hat. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass
es dort ein Einvernehmen gegeben hätte, die Ministerin
zu beauftragen, eine neue Begrifflichkeit für das, was
mit Gender-Mainstreaming gemeint ist, zu suchen.
Sehr geehrte Kollegin, ich muss Ihnen leider sagen:
Sie haben mir anscheinend nicht richtig zugehört. Ich
habe nicht von dieser Legislaturperiode gesprochen,
sondern von der letzten;
({0})
da waren Sie noch nicht dabei.
Es wäre eigentlich nett, wenn die ehemalige Bundesfamilienministerin - sie ist ja zugegen - bestätigen
würde, dass sie diesen Appell in der ersten Sitzung gestartet hat.
({1})
Frau Kollegin, jetzt würde gerne die frühere Familienministerin eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie
das zu?
Natürlich.
Bitte schön.
Kollegin Noll, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
dass ich ein Preisgeld - das ich niemals zahlen musste dafür ausgesetzt habe, einen Begriff zu finden, den auch
eine Verkäuferin bei Karstadt versteht?
({0})
Würden Sie aber auch zur Kenntnis nehmen, dass ich
niemals gesagt habe, dass wir uns von dieser Strategie
verabschieden sollten? Es ging lediglich darum, einen
anderen Begriff für denselben Inhalt zu finden. Zu diesem Inhalt stehe ich noch heute uneingeschränkt.
({1})
Sehr geehrte Kollegin Schmidt, ich habe nur in den
Raum gestellt, dass Sie in der letzten Legislaturperiode
diesen Preis ausgelobt haben; das war das, was ich gesagt habe, und das haben Sie mir mit Ihrer Bemerkung
bestätigt.
({0})
- Ich würde jetzt gerne weitermachen; ich habe nur noch
zwei Minuten.
Es wäre nett, wenn in der Diskussion, die wir hier
führen, einmal anerkannt würde, wie viel in Deutschland bereits für Frauen gemacht wurde. So sind viel
mehr Frauen am politischen und öffentlichen Leben beteiligt. Es ist übrigens die Union, die zum ersten Mal
eine Frau an die Spitze der Regierung gestellt hat. Es ist
die Regierung, die sechs Ministerinnen Bundespolitik
gestalten lässt. Dieser Umstand - auch wenn es manchen
schwerfällt, das anzuerkennen - ist in dem CEDAW-Bericht ausdrücklich gewürdigt worden. Und nicht nur auf
Bundesebene, auch auf kommunaler Ebene beteiligen
sich immer mehr Frauen. Ich kann das nur bestätigen.
({1})
- Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist. Ich jedenfalls
stelle fest: In Nordrhein-Westfalen, wo es auf die Kommunalwahl zugeht, gehen immer mehr Frauen in die
erste Reihe und kandidieren für das Amt der Bürgermeisterin.
({2})
Was erreichen wir damit? Frauen werden sichtbarer, auf
allen politischen Ebenen. Die Ministerin unterstützt das
mit ihrer Kampagne „FRAUEN MACHT KOMMUNE“; sie macht Frauen Mut, sich in der Kommunalpolitik zu engagieren.
({3})
Ich hätte gerne noch etwas zu Frau Laurischk gesagt.
Frau Laurischk, Gewalt gegen Frauen ist in der Tat ein
Thema. Übrigens ist im CEDAW-Bericht auch der
zweite Aktionsplan der Bundesregierung, mit dem wir
mehr als 130 Maßnahmen bündeln und auch etwas gegen häusliche Gewalt gegen Frauen mit Migrationshintergrund tun, ausdrücklich gelobt worden. Ich bin ganz
Ihrer Meinung, wenn es darum geht, zu einer langfristigen Finanzierung der Frauenhäuser zu kommen.
({4})
Übrigens waren wir diejenigen, die zum ersten Mal im
Deutschen Bundestag eine Anhörung zur Situation der
Frauenhäuser durchgeführt haben. Ich weiß: Wenn wir
diese Anhörung ausgewertet haben, werden wir eine Lösung finden.
Eine ganz kleine Anmerkung zu den Linken. Was
bringt es, den Internationalen Frauentag, wie Sie es
mit Ihrem Antrag fordern, zu einem gesetzlichen Feiertag zu machen?
({5})
- Frau Tackmann, Sie waren gestern nicht dabei. Wenn
ich Revue passieren lasse, wie der Familienausschuss
auf diesen Vorschlag reagiert hat, muss ich sagen: Es gab
allgemeine Erheiterung.
({6})
- Herr Kollege Wunderlich kann es mir wahrscheinlich
bestätigen. - Ein solcher Feiertag bringt Frauen nichts.
Was Sie damit erreichen wollen, ist wahrscheinlich, an
die alten Tage in der DDR anzuschließen; da gab es einen sogenannten Haushaltstag für verheiratete Frauen.
({7})
Sie versuchen jetzt, diesen Tag wieder gesellschaftsfähig
zu machen, diesmal in einer modernen Verpackung.
Einen gesetzlichen Feiertag einzurichten, ist Ländersache. Warum führen Sie diesen Feiertag nicht in Berlin
ein, wo Sie doch mitregieren?
({8})
Auf Symbolpolitik können die Frauen in Deutschland
verzichten.
({9})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin
Angelika Graf.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was die Diskussion darüber angeht, wie Frauen repräsentiert sind, können wir durchaus auf die Fraktionen
des Deutschen Bundestages schauen und feststellen, wie
viele Frauen in den Reihen der Fraktionen sitzen. Auch
dies macht deutlich, wie Fraueninteressen in den einzelnen Parteien wahrgenommen werden.
({0})
Lohn und Brot sind im Leben von großer Wichtigkeit,
auch im Leben von Frauen. Genauso wichtig ist es aber,
ohne Gewalt und Diskriminierung leben zu können.
Deshalb ist sehr zu begrüßen, dass wir heute über den
letzten CEDAW-Staatenbericht Deutschlands sprechen.
Dies stellt auch eine Gelegenheit dar, der Öffentlichkeit
deutlich zu machen, was CEDAW überhaupt ist. Wir haben sehr darüber geklagt, dass dies niemand weiß. Diese
Debatte bietet die Möglichkeit, darüber zu sprechen, was
CEDAW bedeutet. CEDAW ist die UN-Konvention, die
seit 1979 weltweit gegen Gewalt an Frauen und Diskriminierung von Frauen kämpft. Sie setzt Maßstäbe, die
für viele Frauen eine Hoffnung bedeuten, und fasst den
Begriff „Gewalt und Diskriminierung“ absichtlich relativ weit. Viele Staaten - auch wir - haben diese Konvention unterzeichnet und haben sich vorgenommen, sie
umzusetzen. Allerdings stellt sich die Frage nach der
Umsetzung fast überall; auch dies zeigt der Bericht. Die
„Schattenberichte“ der NGOs, aber auch die Stellungnahme der UN-Experten bei der Anhörung machen deutlich, dass es auch bei uns an der Umsetzung fehlt.
Als grundlegendes Defizit von CEDAW gilt - auch
dies ist angesprochen worden -, dass diese Konvention
bei uns viel zu wenig bekannt ist. Wir müssen also in Zukunft daran arbeiten, dass die Privatwirtschaft, die Justiz
und wir alle, der normale Mann und die normale Frau
auf der Straße, wissen, was diese Konvention bedeutet.
Was hat die Anhörung in Genf ergeben? Die Ergebnisse waren recht gemischt, um es freundlich zu formulieren. Insbesondere wurde die Arbeit des BMZ gewürdigt, da dort das Gender-Mainstreaming-Prinzip in allen
Bereichen gut durchgesetzt wird. In unserer auf Geschlechtergerechtigkeit orientierten Menschenrechtsund Entwicklungspolitik sehen wir also recht gut aus.
({1})
In anderen Bereichen ist es wirklich beschämend, und
dies betrifft grundlegende Belange über längere Zeit.
Wir haben es in den letzten Jahren offensichtlich nicht
geschafft, für die Frauen Verbesserungen bei der Lohndifferenz, der relativ hohen Teilzeitrate und der geringen
Präsenz von Frauen in wirtschaftlichen Führungspositionen durchzusetzen.
Wenn ich mir die Berichte über die Anhörung vor
dem CEDAW-Ausschuss ansehe und mir insbesondere
anhöre, was die Kollegin Riemann-Hanewinckel hier angesprochen hat, dann stellt sich mir die Frage, die Frau
Tackmann angesprochen hat: Wie schaffen wir es, dass
Angelika Graf ({2})
Politik nicht falsche Anreize setzt, die zu einer Verstetigung von Stereotypen führen? Vorhin ist mir bei Ihnen,
Herr Singhammer, eine Formulierung aufgefallen. Sie
haben im Zusammenhang mit dem Elterngeld von den
Vätermonaten gesprochen. Genau dies ist eine Verfestigung von Stereotypen. Welcher Zacken wäre Ihnen aus
der Krone gebrochen, wenn Sie über Partnermonate gesprochen hätten?
({3})
Aber auch die Problematik der von Gewalt betroffenen Frauen und hier insbesondere die oft schlechte Situation der Migrantinnen sind trotz des Gewaltschutzgesetzes immer noch brennend heiße Themen. Die
gesundheitliche Versorgung der Frauen ist zum Teil - zum
Beispiel bei illegal hier Lebenden - eine wirkliche
Schande. Daran müssen wir weiterhin arbeiten.
({4})
Auch das Thema Frauenhäuser nehme ich auf. Wir
müssen dringend daran arbeiten, dass die Frauenhäuser
besser finanziert werden, und hierfür eine Lösung zwischen Bund, Ländern und Kommunen finden.
({5})
Was Zwangsverheiratungen angeht, spreche ich das
EU-Richtlinien-Umsetzungsgesetz an, das bislang keine
Rückkehr von Frauen vorsieht, die zwangsverheiratet
werden. Weil aber viele Frauen aus dem Land, in das sie
verbracht werden, zurückkehren wollen, müssen wir uns
dieses Themas dringend annehmen.
Auch sind in dem CEDAW-Bericht die Themen
Frauenhandel und Zwangsprostitution angesprochen
worden. Auch daran müssen wir weiterarbeiten, und ich
bedaure sehr, dass wir hier noch nicht weitergekommen
sind.
Ich komme noch zu einem weiteren Punkt aus der
Kritik der UN am deutschen CEDAW-Bericht, der heute
schon mehrfach angesprochen worden ist. Ich bedaure es
sehr, dass sich unser Ministerium offensichtlich vom
Prinzip Gender-Mainstreaming verabschiedet. Es geht
nicht um die Übersetzung des Begriffes, sondern um die
Strategie, die dahintersteckt.
Man kann sicher über diesen eventuell etwas sperrigen Begriff streiten, aber er ist nun einmal international
üblich, und Gender-Mainstreaming wurde auch von uns
mit der Unterzeichnung von CEDAW als Prinzip anerkannt. Wenn wir uns nun von diesem Prinzip verabschieden, dann verhalten wir uns vertragswidrig. Wir sollten
dringend wieder dahin zurückkommen, das Prinzip Gender-Mainstreaming zur Leitlinie unserer Politik zu machen.
({6})
Der VN-Ausschuss hat die Umsetzung von GenderMainstreaming und Gender-Budgeting angemahnt. Gender-Budgeting gibt es übrigens inzwischen in Österreich, also gar nicht so weit von uns entfernt, Herr
Singhammer.
({7})
- Das ist ein schönes Land, und die Menschen dort leben
noch, obwohl sie Gender-Budgeting eingeführt haben.
({8})
Deswegen denke ich, dass wir uns überlegen müssen,
wie wir dieses gute Prinzip künftig besser implementieren können, statt über Gender-Mainstreaming zu klagen
und den Begriff zu verändern.
({9})
Vielleicht ist es möglich, dass wir die 2005 aufgelöste
Gender-Arbeitsgruppe im Ministerium wieder einsetzen.
Das würde uns vielleicht schon wieder einen kleinen
Schritt nach vorne bringen.
({10})
Eigentlich ist es abstrus: International werden wir für
das gelobt, was wir im Rahmen von Gender-Mainstreaming im Bereich der Menschenrechts- und Entwicklungspolitik voranbringen, während wir uns national von
diesen Themen verabschieden. Das ist ein großer Fehler.
Ich glaube, wir sollten die internationalen Erfolge betrachten und zusehen, dass wir das, was wir dort angewandt haben und anwenden, künftig auch national besser anwenden. Das wäre ein großer Schritt für alle
Frauen in unserem Land.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das CEDAW-Abkommen
von 1979 und die alljährlichen Berichtspflichten dazu
sind für uns noch einmal ein willkommener Anlass zur
kritischen Selbstreflexion.
({0})
- Das ist der sechste Bericht nach 30 Jahren. Gut, das
sind alle fünf Jahre. Der nächste Bericht erscheint 2014,
also in fünf Jahren. In diesem Rahmen spielt sich das ab.
Wir sind heute sicher einen großen Schritt weiter als
zu dem Zeitpunkt, den auch Michaela Noll ansprach, an
dem das Grundgesetz hier beschlossen wurde. Damals
musste noch um den Satz „Männer und Frauen sind
gleichberechtigt“ in unserer Verfassung gekämpft werden. Die Mütter des Grundgesetzes haben den Kampf
auf sich genommen und das auch durchgesetzt. Ich
glaube, dass sich nicht alle, die das damals mitgetragen
und dem zugestimmt haben, bewusst waren, welche
Tragweite dieser Satz haben würde, durch den in der
Folge wesentliche Entscheidungen des Bundesverfas22436
sungsgerichts und wesentliche Änderungen in der Gesetzeslage hervorgerufen wurden, mit denen die Vorrechte
der Männer beseitigt wurden.
({1})
Heute geht es mir um die De-facto-Gleichstellung.
Dieses Thema hat eine große Bandbreite. Ich brauche
hier nur auf die Vorredner und -rednerinnen zu verweisen, die hier viele Themen angesprochen haben, die zu
diesem Bereich gehören.
Vielleicht noch kurz zu dem, was wir getan haben. Ich
glaube, wir haben in der Zeit der Großen Koalition
durchaus einiges erreicht, was sich auch international
vorweisen lässt: das einkommensabhängige Elterngeld
mit den Partnermonaten, die U3-Betreuung, die Wiedereinstiegshilfen nach einer Familienphase und Initiativen
wie den Girls’ Day oder die MINT-Initiative der Bundesministerin für Bildung und Forschung.
({2})
Durch die Anhörung zur Entgeltgleichheit wurde gezeigt, dass diese Themen, die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf im Lebenslauf und die Stereotypen bei der
Berufswahl, die entscheidenden Stellschrauben sind, um
an dieser Stelle für die Frauen etwas zu verbessern.
({3})
- Ich habe damit überhaupt kein Problem.
Man muss bedenken, welche Schritte wir von vor
60 Jahren bis heute gemacht haben.
({4})
Viele Parteien und Regierungskoalitionen waren dafür
verantwortlich.
({5})
Ich denke, wir können vieles auch als gemeinsamen Erfolg ansehen.
Aber wir müssen uns vor allem damit befassen, was
wir in Zukunft zusammen anpacken wollen. Dabei ist,
denke ich, auch zu dem Thema Entgeltgleichheit, zu
dem es die große Anhörung gegeben hat, einiges klar geworden. Es gibt etliche Analysen, die wir gemeinsam
tragen. Aber wir streiten an dieser Stelle noch, mit welchem Maß an Zwang oder freiwilligen Anreizen wir zu
Änderungen beitragen wollen. Das werden wir sicherlich noch weiter diskutieren müssen.
Wir dürfen uns auf der einen Seite über das ausdrückliche Lob des CEDAW-Ausschusses über die Einführung des Elterngeldes, den Ausbau der Kinderbetreuung
und einige andere positive Anmerkungen freuen. Aber
wir müssen auf der anderen Seite auch die Kritik ernst
nehmen. Ich glaube, dass wir uns nicht davor scheuen
müssen. Es liegt auch eine Chance darin. Diese Kritik ist
auch dem Respekt gegenüber den Vereinten Nationen,
dem Ausschuss und seinen Anmerkungen geschuldet.
Die Distanz, mit der die Vereinten Nationen auf unsere bundesdeutsche Politik schauen, ist sowohl eine
Stärke als auch eine Schwäche der Kritik. Sie ist einerseits eine Stärke, weil aus der Distanz unsere parteipolitischen Reflexe, die unsere Diskussionen manchmal
überlagern, keine Rolle spielen und man sich auch im internationalen Vergleich einen offeneren, unbefangeneren
Blick auf andere Ideen und Maßstäbe gönnen kann.
Wenn man andererseits aber in die Details geht, dann
zeigt die Kritik auch, dass man innerhalb der Vereinten
Nationen die typisch deutschen Besonderheiten nicht
ganz im Blick hat.
Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass das deutsche
Unterhaltsrecht mit der Begründung kritisiert wurde, es
könne nicht angehen, dass nach dem dritten Geburtstag
eines Kindes der Unterhaltsanspruch entfalle und es außerdem auch keine angemessenen Rechtsbehelfe für die
betroffenen Frauen gebe. Das geht an der Rechtslage
völlig vorbei.
({6})
Darauf muss ich an dieser Stelle nicht näher eingehen.
Es zeigt, dass wir nicht alles eins zu eins umsetzen müssen. Wir müssen aber die Kritik ernst nehmen und sehr
genau prüfen, welche Anregungen für unsere deutsche
Politik infrage kommen und was wir davon übernehmen
wollen.
({7})
Das Thema Entgeltgleichheit, das dem CEDAW-Ausschuss große Sorgen macht,
({8})
steht bei uns auf der Prioritätenliste; dort gehört es auch
hin. Einzelne Punkte - zum Beispiel, das CEDAW-Abkommen bekannt zu machen - können wir sicherlich in
Angriff nehmen. Wir müssen prüfen, ob die Antidiskriminierungsstelle gerade auch im Hinblick auf die Rechte
von Frauen effizient arbeitet. Wir müssen solche deutschen Sonderprobleme in Angriff nehmen wie die Frage,
wie wir die Länder stärker in einen verbindlichen Prozess mit einbeziehen können.
Wir müssen die Bedenken kritisch prüfen und entweder klarmachen, warum wir anderer Meinung sind, oder
Lösungsansätze entwickeln, bis wir in fünf Jahren den
nächsten Bericht vorlegen müssen.
({9})
Dass dazu auch die Aufwertung des Internationalen
Frauentages zu einem gesetzlichen Feiertag gehört, ist
allerdings auch dem CEDAW-Ausschuss nicht in den
Sinn gekommen.
({10})
Mehr Beteiligung und Einfluss von Frauen in allen
Positionen - auch in führenden Positionen - in Politik,
Gesellschaft und Wirtschaft werden zu einer Win-winSituation für die Frauen führen, die dann mehr erreichen
und sich besser einbringen können, aber auch für die
Männer, die sich auch einmal um etwas anderes kümmern können, und für die Unternehmen, die eine breitere
Fachkräftebasis brauchen.
Frau Kollegin, ich darf Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum Schluss. - Das ist hier schon verschiedentlich angeklungen: Wir müssen auch darüber
nachdenken, ob es eine weltweite Finanzkrise in diesen
Dimensionen gegeben hätte, wenn es in der Finanzbranche mehr Frauen in führenden Positionen gäbe. Darüber
sollten wir alle nachdenken.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Elke Ferner, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Man könnte fast sagen: „The same procedure as every
year.“ Wir analysieren jedes Jahr vor, unmittelbar am
oder direkt nach dem 8. März relativ einvernehmlich
das, was in unserer Gesellschaft nicht stimmt. Wenn es
aber darum geht, wie das Ganze verbessert und verändert werden kann, ohne dass vielleicht noch die Kinder
unserer Enkeltöchter darauf warten und die gleichen Debatten in diesem Haus führen müssen, dann kommt nicht
viel.
Ich habe mich während der Debatte gefragt, was denn
Marie Juchacz, die am 19. Februar 1919 als erste Frau
im Reichstag das Wort ergreifen konnte, nachdem das
Frauenwahlrecht eingeführt worden war, bei der heutigen Debatte gedacht hätte. Wie hat sich Art. 3 des
Grundgesetzes, den Elisabeth Selbert zusammen mit drei
anderen Frauen in der Verfassunggebenden Versammlung durchgesetzt hat und den wir 1994 parteiübergreifend erweitert haben, ausgewirkt? Wo stehen wir heute?
Natürlich sind wir weiter als vor 90 oder 60 Jahren. Aber
wir sind noch lange nicht dort, wo wir schon sein müssten.
({0})
Das Problem ist, dass wir uns noch nicht einmal im oberen Drittel befinden oder vielleicht sogar an zweiter oder
dritter Stelle in der westlichen Welt liegen, wenn es um
Gleichstellung geht. Nein, wir sind weit hinten.
Frau von der Leyen, ich bin ziemlich enttäuscht, dass
Sie hier Fragen über Fragen stellen, aber keine einzige
Antwort geben. Heute ist in den Tickermeldungen zu lesen, dass Sie an die Wirtschaft appellieren. Wir appellieren schon seit über 60 Jahren an die Wirtschaft. Aber es
passiert nichts.
({1})
Der letzte Bericht der Bundesregierung macht deutlich,
dass der Anteil der Frauen in den Topführungspositionen
in dieser Republik sogar zurückgegangen ist. Natürlich
kann man darüber reden, ob das Allgemeine Gleichstellungsgesetz die Wirkung entfaltet hat, die wir uns, als
wir es damals verabschiedet haben, gewünscht haben.
Auch hier könnten wir weiter sein, keine Frage. Aber es
hat auf alle Fälle mehr Wirkung gezeigt als freiwillige
Vereinbarungen.
({2})
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich gebe unumwunden
zu, dass es ein Fehler gewesen ist, dass wir, die Frauen in
der SPD-Fraktion, aber auch Sie, die Frauen in der Fraktion der Grünen, während der Regierungszeit der rotgrünen Koalition nicht auf Einhaltung des entsprechenden Teils der Koalitionsvereinbarung bestanden haben.
Ich gebe gerne zu, dass das ein Fehler gewesen ist. Aber
es ist nicht nur unser Fehler gewesen. Ihr seid mit im
Boot gewesen. Euch ist es nicht so wichtig gewesen,
dass ihr es zum Dollpunkt gemacht und auf Umsetzung
gedrängt habt.
Wir sind aber lernfähig und haben deshalb sowohl in
unserem Hamburger Programm als auch am Dienstag
qua Fraktionsbeschluss deutlich gemacht, dass wir ein
Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft wollen,
({3})
damit Lohngleichheit endlich Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland wird und damit sich mehr als
nur eine Frau in den Vorständen der DAX-Unternehmen
wiederfindet und der Anteil der Frauen in den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften in Deutschland über 12,
13 oder 19 Prozent liegt. Es gibt genügend qualifizierte
Frauen. Die Gewerkschaften achten mehr darauf, dass
auch Frauen in den Aufsichtsgremien der deutschen Aktiengesellschaften vertreten sind. Von der Anteilseignerseite kommt hier viel zu wenig. Wenn das in Norwegen
geht: Warum soll das dann nicht in der Bundesrepublik
Deutschland gehen?
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
fordere Sie auf, noch in dieser Wahlperiode mit der Erarbeitung eines Gleichstellungsgesetzes für die Privatwirtschaft zu beginnen, und biete Ihnen dabei unsere Unterstützung an. Aber Sie wollen das nicht. Wir haben mit
Mühe und Not eine Überprüfungsklausel im Koalitionsvertrag verankert, nach dem Motto: Schauen wir einmal,
was der neue Bericht besagt - er liegt nun vor - und ob
dann Maßnahmen notwendig sind! Wer angesichts der
Bilanz sagt: „Wir haben keinen Handlungsbedarf“, der
ist nicht von dieser Welt und vertröstet Generationen von
Frauen bei dem, was ihnen zusteht und was sie auch
wollen, nämlich gleiche Teilhabe nicht nur im Erwerbsleben, sondern auch in den Führungspositionen der deutschen Wirtschaft. Ich kann nur an Sie appellieren, die
Ergebnisse Ihrer teilweise richtigen Analysen auch umzusetzen und Nägel mit Köpfen zu machen, damit wir
hier endlich weiterkommen und nicht noch die nächsten
Frauengenerationen auf ihren gerechten Anteil an der
Gesellschaft warten müssen.
({5})
Frau Kollegin Noll, Sie haben eben gesagt, die Union
sei führend, wenn es um den Frauenanteil gehe. Ich habe
eben nachgerechnet und festgestellt: Der Frauenanteil in
Ihrer Fraktion liegt bei 20 Prozent. Das ist wahrscheinlich besser als in der letzten Legislaturperiode. Aber der
Anteil könnte sicherlich noch höher sein. Wenn ich lese,
dass Frau Kollegin Eymer Herrn Carstensen vorwirft, er
habe ein Frauenbild, das der Sendung Bauer sucht Frau
entspreche,
({6})
dann frage ich mich, wie es um die Stellung der Frauen
in der Unionsfraktion bestellt ist.
Vielleicht zum Abschluss noch: Solange solche Bilder - fünf Herren im Nadelstreifen - sozusagen das repräsentieren, was heutzutage stellvertretend in den Vorständen der deutschen Unternehmen vorzufinden ist,
nämlich keine einzige Frau, so lange ist auch der Text
richtig: Die Herren brauchen Unterstützung. Sie finden
die Fehler im Bild nicht alleine. - In diesem Sinne hoffe
ich, dass wir im nächsten Jahr vielleicht über ein paar
Fortschritte mehr diskutieren können, statt uns ständig
nur in Analysen zu ergehen und in der Sache keinen
Schritt weitergekommen zu sein. - Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP zu dem Sechsten Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9368, in
Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung
auf Drucksache 16/5807 den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8416 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke und bei Gegenstimmen der FDP angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Internationaler Frauentag muss gesetzlicher
Feiertag werden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12139, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8373 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9486 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12108
mit dem Titel „Quote für Aufsichtsratsgremien börsennotierter Unternehmen einführen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU,
FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmigung zum Vollzug eines gerichtlichen Durchsuchungsund Beschlagnahmungsbeschlusses erweitert werden.
Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 10 auf:
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0})
Antrag auf Genehmigung zum Vollzug eines
gerichtlichen Durchsuchungs- und Beschlag-
nahmungsbeschlusses
- Drucksache 16/12131 -
Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist bei zwei Enthaltungen und
einer Gegenstimme mit dem Rest der Stimmen des Hau-
ses angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 g
sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf:
25 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 8. Oktober 2008 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Indien über Sozialversicherung
- Drucksache 16/12065 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli 2008 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung von Jersey über den Auskunftsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 16/12066 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 4. Juli 2008 zwischen der Regie-
rung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung von Jersey über die Zusam-
menarbeit in Steuersachen und die Vermei-
dung der Doppelbesteuerung bei bestimmten
Einkünften
- Drucksache 16/12067 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Frank Schäffler, Hartfrid Wolff ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Attraktivität von Au-pair-Beschäftigungen
steigern
- Drucksache 16/9481 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ökologische Konsumentenverantwortung statt
Produktlenkung durch den Staat - Europäische Ökodesign-Richtlinie grundsätzlich überarbeiten
- Drucksache 16/11912 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Statut der Europäischen Privatgesellschaft für
deutschen Mittelstand auf europäischer Ebene
praxisnah regeln
- Drucksache 16/11913 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die deutsche Personalpräsenz in internationalen Organisationen
- Drucksache 16/10963 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Innenausschuss
Sportausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-
nisierung von Verfahren im patentanwaltli-
chen Berufsrecht
- Drucksache 16/12061 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des notariellen Disziplinarrechts
- Drucksache 16/12062 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetzes
- Drucksache 16/12063 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Republik Montenegro andererseits
- Drucksache 16/12064 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Haager Übereinkommen vom 19. Oktober
1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung
und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen
zum Schutz von Kindern
- Drucksache 16/12068 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Pri22440
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
vatrechts an die Verordnung ({11}) Nr. 593/
- Drucksache 16/12104 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({12})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Mechthild
Dyckmans, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Professionalität und Effizienz der Aufsichtsräte deutscher Unternehmen verbessern
- Drucksache 16/10885 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 c
und 26 e bis 26 k. Es handelt sich um die Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 26 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung truppenzollrechtlicher Vorschriften und anderer Vorschriften ({14})
- Drucksache 16/11566 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({15})
- Drucksache 16/12142 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Reinhard Schultz ({16})
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit dem
Rest der Stimmen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung ebenfalls bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 b:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 15. Oktober 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Libysch-Arabischen Volks-Dschamahirija über die Förderung und den
gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/11567 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 13. November 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Haschemitischen Königreich Jordanien über die
Förderung und den gegenseitigen Schutz
von Kapitalanlagen
- Drucksache 16/11568 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17})
- Drucksache 16/11988 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11988, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/11567 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/11988, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/11568 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist ebenfalls mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 16/10298 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({18})
- Drucksache 16/12111 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({19})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12111, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/10298 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit auch in dritter Beratung mit den Stimmen der Ko-
alition bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Gegen-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 e:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun-
desregierung
- Drucksache 16/12015 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen des
Hauses angenommen.1)
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 26 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 530 zu Petitionen
- Drucksache 16/11888 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 530 ist mit allen Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 531 zu Petitionen
- Drucksache 16/11889 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Sammelübersicht 531 ist bei Gegenstimmen
von FDP mit dem Rest der Stimmen des Hauses ange-
nommen.
1) Anlage 2
Tagesordnungspunkt 26 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 532 zu Petitionen
- Drucksache 16/11890 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 532 ist mit
den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 533 zu Petitionen
- Drucksache 16/11891 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 533 ist mit den Stimmen der
Fraktion Die Linke, der SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 534 zu Petitionen
- Drucksache 16/11892 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 534 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU, FDP bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 535 zu Petitionen
- Drucksache 16/11893 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 535 ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 3: Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses.
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({26}) zu dem Gesetz zur Neuordnung
der Entschädigung von Telekommunikationsunternehmen für die Heranziehung im Rahmen der Strafverfolgung ({27})
- Drucksachen 16/7103, 16/11348, 16/12016,
16/12120 22442
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist
nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag
über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies
gilt auch für die noch folgenden Beschlussempfehlungen
des Vermittlungsausschusses zu den Zusatzpunkten 3 b
und 3 c.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 16/12120? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen und FDP angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({28}) zu dem Gesetz über das
Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises ({29})
- Drucksachen 16/10492, 16/11666, 16/12017,
16/12121 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
Das Wort wird weder zu einer Berichterstattung noch
zu einer Erklärung gewünscht. Wir kommen dann zur
Abstimmung.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 16/12121? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der
Opposition angenommen.
Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({30}) zu dem Gesetz zur Neuregelung der Kraftfahrzeugsteuer und Änderung anderer Gesetze
- Drucksachen 16/11742, 16/11900, 16/11902,
16/11931, 16/12033, 16/12122 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann
Es wird nicht das Wort zur Berichterstattung und auch
nicht zu Erklärungen gewünscht.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 16/12122? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion Die Linke, der SPD, der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Mechthild Dyckmans, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
der Zivilprozessordnung ({31})
- Drucksache 16/11457 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion.
({32})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte Sie heute um Unterstützung für eine Gesetzesänderung, die unser Rechtsschutzsystem gerechter
und damit besser machen wird. Als ich zum ersten Mal
die Forderung hörte, der Gesetzgeber solle die Möglichkeit abschaffen, dass ein Berufungsgericht durch einstimmigen Beschluss die Berufung gegen ein Zivilurteil
zurückweise, fragte ich mich: Wo liegt hier eigentlich
das Problem? Als Richterin beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof hatte ich jahrelang mit einer entsprechenden Vorschrift gearbeitet. Seit dem 1. Januar 1991
kann das Oberverwaltungsgericht eine Berufung nach
§ 130 a VwGO durch Beschluss zurückweisen, wenn es
einstimmig der Auffassung ist, dass diese Berufung unbegründet ist, und wenn es eine mündliche Verhandlung
nicht für erforderlich hält. Durch eine Gesetzesänderung
vom November 1996 wurde diese Vorschrift sogar noch
erweitert: Seither kann über die Berufung auch dann
durch Beschluss entschieden werden, wenn der Senat sie
einstimmig für begründet hält. Ich habe an vielen solchen Beschlüssen mitgewirkt; es hat keine Kritik gegeben. Warum sollte dies im Zivilprozess nicht möglich
sein?
Warum gab und gibt es hier so massive Kritik an der
entsprechenden Regelung in der ZPO?
({0})
- Nein, Herr Kollege. - Es gibt einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen den Regelungen in
der VwGO und der ZPO. Nach der VwGO steht dem Beteiligten nämlich das Rechtsmittel zu, das zulässig wäre,
wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Nach
der ZPO ist der entsprechende Beschluss gemäß
§ 522 Abs. 3 unanfechtbar. Im Verwaltungsprozess verliert der Rechtsuchende zwar eine mündliche Verhandlung, er behält aber sein Rechtsmittel. Im Zivilprozess
verliert er beides: die mündliche Verhandlung und das
Rechtsmittel.
Betrachten wir doch noch einmal die Entstehungsgeschichte des § 522 Abs. 2 ZPO - einige der hier heute
sitzenden Kolleginnen und Kollegen werden sich sicher
noch daran erinnern -: Es war die Zeit der großen Zivilprozessreform, 2000, 2001. Wie ich den Protokollen entnommen habe, schlugen die Wogen damals hoch. Das
gesamte Rechtsmittelsystem der ZPO stand auf dem
Prüfstand und es sollte umgekrempelt werden.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist keineswegs meine Absicht, diese alten Grabenkämpfe wieder aufzunehmen. Inzwischen sind acht Jahre ins Land
gegangen, und sowohl die Gerichte als auch Rechtsanwälte und Rechtsuchende haben mit dieser Vorschrift
ihre Erfahrungen gemacht. Es gibt heute nach wie vor,
besonders aus der Anwaltschaft, Stimmen, die die gänzliche Streichung des § 522 Abs. 2 ZPO fordern. Eine Berufungszurückweisung ohne mündliche Verhandlung ist
für manche nach wie vor nur schwer hinnehmbar. Aber
- auch da spreche ich aus meiner Erfahrung als Richterin
einer Berufungsinstanz - eine mündliche Verhandlung
ist durchaus nicht immer zwingend erforderlich. Das
vereinfachte Erledigungsverfahren durch Zurückweisungsbeschluss, das - so die damalige Gesetzesbegründung - zu einer schnelleren Befriedung der Rechtsuchenden führen sollte, ist durchaus sinnvoll und
durchaus manchmal im Interesse der Beteiligten. Daher
sieht unser Gesetzentwurf nicht die vollständige Abschaffung des § 522 Abs. 2 ZPO vor.
Allerdings sind wir schon der Ansicht, dass es nicht bei
der Unanfechtbarkeit einer solchen Entscheidung bleiben
kann. Dies ist zwar keine Frage von Verfassungswidrigkeit - das Bundesverfassungsgericht hat nämlich wiederholt entschieden, dass die Unanfechtbarkeit nicht gegen
das Grundgesetz verstößt -, es ist aber eine Frage der Gerechtigkeit. Es ist doch äußerst erstaunlich, wie unterschiedlich von dem Instrument des Zurückweisungsbeschlusses Gebrauch gemacht wird. So lag die Quote von
Zurückweisungen nach § 522 Abs. 2 ZPO im Jahre 2006
- ich beziehe mich jetzt nur auf die Entscheidungen der
Oberlandesgerichte - im Bundesdurchschnitt bei 14 Prozent. In den einzelnen Bundesländern variiert die Quote
von unter 10 Prozent bis über 25 Prozent.
Diese unterschiedliche Handhabung in den einzelnen
Bundesländern provoziert doch geradezu die Frage, ob
der Zugang zum Recht für alle Bundesbürger in der gleichen Weise eröffnet ist. Da den Gerichten bei der Frage,
ob sie durch Beschluss oder durch Urteil entscheiden,
kein Auswahlermessen zukommt - das hat der BGH
noch einmal ausdrücklich klargestellt -, sind diese Unterschiede schlicht nicht nachvollziehbar.
Auch der Hinweis des Bundesjustizministeriums, die
Schwankungsbreite sei durch die unterschiedlichen Arbeitsgebiete der Senate und der Berufungskammern begründet, überzeugt mich nicht. Zum einen sind die Sachgebiete im Zivilrecht nicht bestimmten Bundesländern
zugewiesen - nur das könnte rechtfertigen, dass in einem
Bundesland erheblich öfter Entscheidungen nach § 522
Abs. 2 ZPO getroffen werden -; zum anderen zeigt die
Praxis, dass die unterschiedliche Handhabung gerade
nicht durch Besonderheiten der jeweiligen Spruchkörper
zu erklären ist. So hat der Deutsche Anwaltverein mitgeteilt, dass manche Senate bei allgemeiner Zuständigkeit
bis zu 70 Prozent der Berufungen durch Beschluss zurückweisen, während andere, die ebenfalls keine Spezialzuständigkeit haben, eine Zurückweisungsquote von
unter 10 Prozent haben.
Die Annahme des Bundesjustizministeriums, in komplexen Rechtsstreitigkeiten werde von § 522 Abs. 2 ZPO
weniger Gebrauch gemacht, wird von der Anwaltschaft
nicht bestätigt. Uns haben zahlreiche Schreiben von Anwaltskanzleien erreicht, die gerade die undifferenzierte
Handhabung der Zurückweisung durch Beschluss bei
hochkomplexen Verfahren - sei es im Arzthaftungsrecht,
bei Streitigkeiten mit insolvenzrechtlichem Hintergrund
oder in Verfahren aus dem Bereich des Kapitalanlagerechts - rügen. Auch in Familiensachen wird häufig
durch Beschluss zurückgewiesen. Gerade heute hat mein
Büro eine Mail von einer Klägerin bekommen, die dies
gerügt hat.
Die unterschiedliche Handhabung wollen wir ändern,
indem wir mit der Rechtsbeschwerde die Möglichkeit
schaffen, dass der BGH die gleiche Anwendung der Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO in Zukunft sicherstellt. Derzeit kann allein das Bundesverfassungsgericht
korrigierend eingreifen, wenn ein Berufungsgericht eine
Berufung zu Unrecht einstimmig durch Beschluss zurückgewiesen hat. Dies ist aber nicht seine Aufgabe; es
kann eine einheitlich richtige Handhabung des § 522
Abs. 2 ZPO auch nicht gewährleisten.
Lassen Sie mich noch ganz kurz ein weiteres Argument anführen. Gegen die Verwerfung der Berufung als
unstatthaft nach § 522 Abs. 1 ZPO ist die Rechtsbeschwerde ausdrücklich zulässig.
({1})
Ich meine, da ist es nur konsequent, wenn wir dies auch
für die Berufungszurückweisung nach § 522 Abs. 2 ZPO
ermöglichen.
Nur am Rande sei erwähnt, dass wir auch Zuschriften
von Arbeitsrechtlern erhalten haben. Sie erachten es als
wünschenswert, dass nach der von uns vorgeschlagenen
Änderung des § 522 Abs. 2 ZPO diese Regelung auch
im Arbeitsgerichtsgesetz Anwendung findet.
Unser Vorschlag würde zweifelsohne dem Rechtsfrieden dienen; er beließe den Gerichten aber auch die Möglichkeit, zu ihrer Entlastung im vereinfachten Verfahren
von der Zurückweisung durch Beschluss Gebrauch zu
machen. Ich würde mich freuen, wenn wir im Rechtsausschuss zu einer einvernehmlichen Lösung kommen
könnten, und hoffe, so wie es immer ist, auf konstruktive
Beratungen im Rechtsausschuss.
Schönen Dank.
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wem es morgens früh schon einmal passiert ist, dass er,
vor dem Spiegel stehend, aufgeregt, weil er hier eine
Rede vorlesen muss, den ersten Knopf seines Hemdes in
das zweite Loch gesteckt hat, der wird festgestellt haben,
dass er diesen Fehler nicht mehr heilen kann, sei die
Knopfleiste auch noch so lang. Genauso ist es bei dem
Gesetzentwurf der FDP: Schon im Ansatz verfehlt!
Ich will Ihnen einmal vorlesen, wie bei der FDP der
Problemaufriss formuliert ist:
Gemäß § 522 Abs. 2 der Zivilprozessordnung...
kann das Berufungsgericht eine Berufung durch
einstimmigen Beschluss zurückweisen, wenn die
Berufung nach Auffassung des Gerichts keine Aussicht auf Erfolg hat
- man lausche! oder die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat.
Doppelt gefehlt! Gemäß § 522 Abs. 2 ZPO ist es nicht
so, dass das Gericht durch Beschluss zurückweisen
kann, sondern: Es weist durch Beschluss zurück, wenn
- kumulativ, im Problemaufriss steht aber „oder“ - erstens keine Aussicht auf Erfolg besteht, zweitens keine
grundsätzliche Bedeutung vorliegt
({0})
- genau -, drittens
({1})
die Fortbildung des Rechts und - und! ({2})
die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine
Entscheidung nicht erfordert. Also, bitte schön, genau
umgehen, nicht „oder“, sondern „und“. Alle drei Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Das ist das
Erste.
Weiter heißt es in Ihrem Problemaufriss:
Entscheidet das Gericht durch Urteil, ist gegen die
Zurückweisung der Berufung die Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 544 ZPO statthaft.
Auch das ist falsch. Gegen die Zurückweisung der
Berufung ist nur dann die Nichtzulassungsbeschwerde
zu erheben, wenn in dem Urteil die Revision ausgeschlossen wird. Es gibt auch Urteile, in denen das ausdrücklich steht. Dann gibt es die Revision. Man sieht
also, es ist falsch, einfach zu sagen, gegen die Zurückweisung der Revision gebe es die Nichtzulassungsbeschwerde.
Ich habe schon oft von dieser Stelle aus gesagt: Nur
wer die Begrifflichkeit beherrscht, kann auch eine Diskussion beherrschen.
Verehrte Kollegin Dyckmans, liebe Mechthild, wir
waren beide Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof. Ich bin sehr froh, dass die Vorschrift des
§ 130 a VwGO hier angesprochen worden ist. Sie zeigt
nämlich den wesentlichen Unterschied zwischen dem
Berufungsrecht nach der Verwaltungsgerichtsordnung
und dem nach der Zivilprozessordnung. Das richtige
Vergleichspäckchen wäre nicht § 130 a VwGO und
§ 522 Abs. 2 ZPO, sondern § 522 ZPO und § 124 a
Abs. 5 Satz 4 VwGO; denn anders als im Zivilprozess
- es sei denn, wir haben die summa graviminis, die Beschwersumme von 600 Euro nicht überschritten - ist
kraft Gesetzes immer die Berufung zulässig. Im Verwaltungsstreitverfahren muss die Berufung zugelassen werden, und zwar ausnahmslos.
Das heißt, nur wenn das Verwaltungsgericht die Berufung nicht zulässt, kann der Berufungswillige den Antrag beim OVG oder VGH stellen. Passen Sie einmal
auf, wie dann entschieden werden kann. Wenn das Berufungsgericht, also der judex ad quem, an den dieses Petitum gestellt worden ist, diesen Antrag ablehnt, dann ist
die Entscheidung erster Instanz unanfechtbar und rechtskräftig. Dieser Beschluss soll möglichst knapp begründet werden.
Das heißt, es gibt ohne mündliche Verhandlung und
ohne Prüfung in der Sache eine Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils. Aber warum? Das will ich Ihnen
auch gleich erklären. Die Zulassung der Berufung ist
nämlich von der Erfüllung folgender zwei Voraussetzungen abhängig, nämlich von der grundsätzlichen Bedeutung der Sache und Rechtsfortbildung bzw. Divergenz,
also Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung.
Diese Voraussetzungen begegnen uns selbstverständlich auch im Revisionsrecht. Auch im Revisionsrecht ist
die Revision nur beim Vorliegen dieser Voraussetzungen
zuzulassen.
Was lehrt uns das? Ich habe vorhin gesagt, die ganze
Sache ist im Ansatz verfehlt. An dieser Stelle greife ich
die schöne Metapher mit dem Hemdknopf wieder auf.
In der Begründung Ihres Entwurfs heißt es:
Die Kritik an § 522 Abs. 2 ZPO entzündet sich weniger an dem Instrument des Zurückweisungsbeschlusses an sich, sondern vielmehr gegen seine
grundsätzliche Unanfechtbarkeit.
Wenn man wenigstens intellektuell redlich wäre und
diesem Problem, das Sie ansatzweise aufgezeigt haben,
auf den Leib rücken würde, dann müsste man konsequenterweise § 522 Abs. 2 ZPO, der die Möglichkeit zulässt, ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu
entscheiden, gänzlich und ersatzlos aufheben. Das wäre
wenigstens redlich.
({3})
Kollegin Dyckmans, was wollen Sie denn mit Ihrer
Rechtsbeschwerde erreichen, oder was können Sie damit
erreichen? Sie haben nicht ausgeführt, mit welchem Petitum diese Rechtsbeschwerde erhoben wird.
Nach der Entscheidung der 1. Kammer des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichts vom 4. November
vergangenen Jahres ist § 522 Abs. 2 ZPO per se nicht für
verfassungswidrig gehalten worden, sondern nur seine
Anwendung im Einzelfall, weil die Voraussetzungen,
nämlich grundsätzliche Bedeutung und die anderen Voraussetzungen, fehlerhaft und in einer den Justizgewährungsanspruch verletzenden Art und Weise angewendet
worden sind.
In der Konsequenz wurde die Entscheidung des Oberlandesgerichtes, die dem zugrunde liegt, aufgehoben.
Dem Oberlandesgericht wird jetzt die Möglichkeit eingeräumt, durch andere Entscheidungsformen - namentlich durch Urteil - die Revision zuzulassen.
Mehr können Sie mit der von Ihnen angestrebten
Rechtsbeschwerde auch nicht erreichen. Man könnte
also mit der Rechtsbeschwerde den Bundesgerichtshof
anrufen. Dieser stellt dann fest, dass die Voraussetzungen, durch Beschluss zu entscheiden, gar nicht vorliegen. Dann wird die Entscheidung des Oberlandesgerichts aufgehoben, und ihm wird aufgegeben, erneut und
dieses Mal durch Urteil zu entscheiden.
Wenn jetzt durch Urteil entschieden und die Revision
wieder nicht zugelassen wird, weil die Voraussetzungen
nicht vorliegen, muss der revisionswillige Kläger Nichtzulassungsbeschwerde einlegen. Herzlichen Glückwunsch! Hier gibt es keinen Beschleunigungseffekt, sondern eine Verdopplung des Rechtsmittelverfahrens,
indem man einmal über die Rechtsbeschwerde bis zum
BGH wieselt, dort gesagt bekommt: „So nicht!“ und zurückverwiesen wird, dann aber über eine Nichtzulassungsbeschwerde wieder dorthin geht. Dieses Prozedere
- das muss ich Ihnen ehrlich sagen - hat mit Prozessökonomie so viel zu tun wie der Kilimandscharo mit dem
Brandenburger Tor.
Es wäre noch eine andere Version denkbar, nämlich
dass Sie sagen: Das wollen wir nicht, lieber Kollege
Gehb, sondern wir wollen mit der Rechtsbeschwerde sofort die Möglichkeit zur Revision und auch eine Begründetheit verbinden. Dazu muss ich Ihnen sagen: So geht
es auf gar keinen Fall. Denn so bekämen Sie bei einem
durch mindere Entscheidungsformen, nämlich durch einen Zurückweisungsbeschluss, auf den Weg gebrachten
Verfahren die volle Rechtskontrolle, die Sie sich sonst,
wenn eine Berufung durch Urteil abgewiesen und die
Revision nicht zugelassen wird, über den dornenreichen
Weg der Nichtzulassungsbeschwerde erstens erstreiten
und zweitens begründen müssten.
Also kann ich nur sagen: Dieser Gesetzentwurf ist unter allen Gesichtspunkten, unter intellektuellen Gesichtspunkten, unter handwerklichen Gesichtspunkten, unter
verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, auf jeden Fall
zurückzuweisen. Wir versprechen Ihnen, liebe Kollegin
Mechthild Dyckmans, zwar, konstruktiv im Verfahren
mitzuarbeiten, aber stattgeben können wir dem Gesetzentwurf wirklich nicht.
({4})
- Ja, Herr Fricke, dass Sie Schwierigkeiten haben, mir
zu folgen, liegt weniger an meinem Beitrag als vielmehr
an Ihnen.
({5})
- Das ist ein tragisches Schicksal vieler.
Dann wurde angesprochen, dass man zwar gegen eine
Beschlussentscheidung, bei der es um die Statthaftigkeit
geht, eine Beschwerde einlegen kann, aber nicht gegen
eine Sachentscheidung. Warum das so ist, ist ganz einfach damit zu erklären, dass bei einer Sachentscheidung
mit voller Prüfungstiefe geprüft wird. Ich will Ihnen einmal sagen, wie so etwas überhaupt vor sich geht, damit
in diesem Hohen Hause und auch bei den Zuhörern kein
falscher Eindruck entsteht: Wenn eine Berufung bei einem Oberlandesgericht oder der Berufungskammer eines Landgerichts eingeht, wird nicht nach Gutdünken
gesagt: Heute beschließen wir einmal einstimmig. Nein,
es ist viel komplizierter. In einem kollektiven Spruchkörper werden die Rechtseingänge nach einem bestimmten Verteilerschlüssel verteilt. Der Berichterstatter fertigt
ein Votum an, in dem Folgendes steht: In dem Streitverfahren Müller gegen Meier schlage ich vor - Komma,
Absatz eingerückt -, entweder der Berufung stattzugeben, der Berufung teilweise stattzugeben, die Berufung
durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, mündliche Behandlung anzuberaumen oder Beweisbeschluss zu
erheben. - Das geschieht in einem langwierigen Prozess,
dessen Intensität der Prüfung einem sonstigen Verfahren
in nichts nachsteht.
Es ist auch nicht so wie bei einem Verfahren nach
§ 130 a Verwaltungsgerichtsordnung, bei dem nichts begründet, sondern nur ein Dreizeiler verfasst werden
muss - ich hatte damit auch immer zu tun -, in dem
steht: Die Berufung wird aus den zutreffenden Gründen
der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen. Absatz. Kosten hat zu tragen …
Den Beschluss, um den es in § 522 ZPO geht, müssen
Sie begründen. Besser ist natürlich, wenn das Hinweisschreiben begründet wird. Im Hinweisschreiben müssen
Sie ganz dezidiert die Erwägungen aufführen, die den
Senat dazu bewegen, zu einem einstimmigen Beschluss
zu kommen. Dagegen ist den Beteiligten natürlich rechtliches Gehör zu gewähren. Das heißt, hier wird nicht einfach willkürlich und aus Zeitersparnisgründen ein Beschluss hingeklatscht.
Nun könnte man sich natürlich treffend fragen, warum man das eigentlich macht. Es stellt sich in der Tat
die Frage: Worin ist denn eigentlich der ökonomische
Zeitgewinn zu sehen, wenn man fast so viel machen
muss wie bei einem Urteil?
({6})
Gut, man spart sich die mündliche Verhandlung; man
spart sich eine Reihe anderer Koordinationsarbeiten.
Aus diesem Grunde will ich nicht ein für alle Mal ausschließen, dass man den § 522 vielleicht dann, wenn er
sich als signifikant ungeeignet erweist - vorher müsste
man das ein wenig evaluieren -, aufhebt. Das geht aber
auf keinen Fall, indem man die Möglichkeit zu einer
Rechtsbeschwerde anhängt, die gar nichts bringt.
Ich möchte noch auf die Zahlen eingehen, die Sie genannt haben. Abgesehen davon, dass man diese Zahlen
an dieser Stelle weder verifizieren noch falsifizieren
kann, sie vielmehr axiomatischen Charakter haben, ist zu
sagen: Selbst die Richtigkeit des Zahlenwerkes unterstellt, halte ich es für bedenklich, aus einer Statistik verfassungsrechtliche oder prozedurale Schlüsse ziehen zu
wollen. Das kann man nicht machen.
Wenn dieser Gesetzentwurf jetzt an den Rechtsausschuss überwiesen wird, haben wir alle Zeit der Welt,
um alles genau zu prüfen.
({7})
- Haben wir nicht mehr? Am Ende geht dieser brillante
Gesetzentwurf also womöglich aus Gründen der Diskontinuität unter? - Frau Präsidentin, das macht mich so
traurig, dass ich meinen Redebeitrag an dieser Stelle beende.
({8})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das bringt mich zu dem Schluss, dass wir im Präsidium auf jeden Fall immer Taschentücher bereithalten
sollten. Das werden wir jetzt einführen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang
Nešković für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Glanzer! Der
FDP-Gesetzentwurf verdient zwar Zustimmung. Er
greift jedoch erkennbar zu kurz. Das liegt daran, dass in
ihm die Veränderungen des Berufungsrechts, die zum
1. Januar 2002 in Kraft traten, grundsätzlich akzeptiert
werden. Das damalige Gesetz der rot-grünen Koalition
nannte sich Reformgesetz. Man hat mit diesem Reformgesetz jedoch das Recht der Berufung nicht reformiert,
sondern deformiert.
Eine Reform erkennen Sie daran, dass sie den Menschen nützt.
({0})
Dieses Gesetz nützt den Menschen nicht, weil es die
Möglichkeiten der Überprüfung der erstinstanzlichen
Entscheidung drastisch einschränkt. Ursprünglich hat
die Zivilprozessordnung den Zweck verfolgt, mit der
Berufung die Erneuerung und Wiederholung des Rechtsstreits vor einem neuen Richter zu ermöglichen, frei
nach dem Motto: Neues Spiel, neues Glück. Das konnte
man sogar als Nichtjurist verstehen. Diese Regelung galt
für mehr als 100 Jahre. Dann hat die rot-grüne Koalition
einen Änderungsbedarf entdeckt, von dem der Richterkollege Egon Schneider meinte:
Wir haben eine Reform des Zivilprozessrechts bekommen, die niemand brauchte und niemand
wollte …
In einem Fachbuch über die Berufung heißt es hierzu
wörtlich:
Die von der juristischen Praxis und großen Teilen
der Lehre als überflüssig und rechtsschutzverkürzend abgelehnte Neukonzeption der Berufung hat
keine entscheidenden Verbesserungen, dafür aber
viele Schwierigkeiten gebracht.
Diese Kritik ist vernichtend. Ich wiederhole: Die
Neukonzeption der Berufung ist überflüssig, rechtsschutzverkürzend, bringt keine Verbesserungen, aber
viele Schwierigkeiten.
({1})
Man hatte sich 2001 Bürgernähe, Effizienz und
Transparenz auf die Fahnen geschrieben. So wurde Gesetz, dass eine Berufung ohne mündliche Verhandlung
durch Beschluss zurückgewiesen werden kann und dieser Beschluss dann nicht einmal anfechtbar ist. Das ist
nicht effizient für den Rechtsstaat. Es ist auch nicht
transparent für den Bürger. Deswegen ist es erst recht
nicht bürgernah.
Seien Sie alle hier doch einmal bürgernah - aber nicht
so wie Sie eben, Herr Gehb; wir sind nicht in einem juristischen Seminar. Stellen Sie sich einmal eine Bürgerin
vor, zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, die wegen Schimmel in ihrer Wohnung die Miete mindert. Das
Amtsgericht verpflichtet sie auf Zahlung der vollen
Miete mit der Begründung, sie habe nicht richtig gelüftet. Das hat sie aber; sie hat regelmäßig gelüftet.
({2})
Diese Frau hat das erste Mal einen Gerichtssaal von innen gesehen. Sie ist davon überzeugt, dass man ihr mit
dem Urteil Unrecht zugefügt hat. Sie möchte um ihr
Recht kämpfen und geht in die Berufung. Das Landgericht teilt ihr nach einiger Zeit schriftlich mit, man halte
die Berufung für aussichtslos.
({3})
Die Sache sei auch nicht für die Fortbildung des Rechts
interessant, grundsätzliche Bedeutung habe sie nicht,
und sie diene auch nicht dem Bedürfnis nach einer einheitlichen Rechtsprechung. Ihr Anwalt erklärt ihr,
Rechtsmittel gegen einen entsprechenden Beschluss
gebe es nicht.
Wenn dieser Beschluss ergeht, sind alle Akten für immer zu. Diese Frau hat einen Haufen Papier von ihrem
Anwalt erhalten. Sie hat sich jedoch nie mit leibhaftigen
Berufungsrichtern auseinandergesetzt und auch nie mit
ihnen gesprochen. Dabei heißt es doch Rechtsprechung.
Die Richter sollen mit den Parteien sprechen
({4})
und ihnen nicht nur schreiben. Erklären Sie das einmal
dieser Frau.
Beantworten Sie ihr doch bitte die folgenden Fragen
- aber nicht in der Art, wie Herr Gehb hier geredet hat,
sondern so, dass sie es versteht -:
({5})
Warum hat sie die Richter nicht sprechen dürfen, die die
Entscheidung des Amtsgerichtes nicht korrigieren wollten? Warum kann sie gegen diese Weigerung kein
Rechtsmittel einlegen? Und weiter: Warum könnte sie
ein Rechtsmittel einlegen - das ist schon gesagt worden -,
wenn das Gericht statt durch Beschluss ihre Berufung
durch Urteil zurückgewiesen hätte?
Ich will die Antworten geben: Weil der Deutsche
Bundestag und die Landtage bei der Bewilligung der
Mittel für die Haushalte der ärmlich ausgestatteten Justiz
nur kleckern und nicht klotzen.
({6})
Sie tun dies, obwohl die Justizhaushalte die mit Abstand
kleinsten Haushalte sind. Sie liegen bei durchschnittlich
3 Prozent der Gesamthaushalte. Beim Bund liegt der Anteil noch deutlich darunter. Deswegen klotzt der Deutsche Bundestag ganz groß, wenn es darum geht, sogenannte Entlastungen für die ärmlich gehaltene Justiz zu
beschließen. In einem der reichsten Staaten der Welt kürzen und verkomplizieren wir die Rechtsmittel, betreiben
Rechtsfindung auf Minimalniveau und nennen das noch
Entlastungen.
({7})
Diese Entlastungen sind Belastungen für die Menschen.
({8})
Sie belasten das Vertrauen in den Rechtsstaat. Sie belasten auch das Gewissen der Richterinnen und Richter.
Denn diese stehen unter riesigem Arbeitsdruck und unterliegen immer häufiger der Verlockung, Rechtssachen
mit dünner Begründung zurückzuweisen.
Bei dieser Sachlage ist es bedenklich, den Richtern
die Entscheidung über den Umfang ihrer eigenen Arbeitslast selbst zu überlassen. Es besteht eine Missbrauchsgefahr, wenn Richter durch die Findung der Entscheidungsform - Beschluss oder Urteil - zugleich
Rechtsmittel ausschließen oder zulassen.
({9})
- Sie müssten einmal die Kulturtechnik des Lesens anwenden. Dann hätten Sie die Möglichkeit, das alles zu
verstehen.
({10})
- Ich lese jetzt auch vor. Ich habe Ihnen das Fachbuch
über Berufungsrecht, aus dem ich zitieren möchte, mitgebracht, damit Sie einmal die Möglichkeit bekommen,
darin zu lesen.
({11})
Ich zitiere: Einige Oberlandesgerichte
neigen … zu einer radikalen Umsetzung der Reform, die nur von dem Gedanken der Arbeitsentlastung beherrscht wird.
Das sage nicht ich, sondern der Autor dieses Buches.
Das sind die Belastungen unseres Rechtsstaates, die der
Bundestag beseitigen sollte.
({12})
Wenn Sie also zur Abwechslung einmal eine echte
Entlastung für die Menschen wollen, dann stimmen Sie
dem Gesetzentwurf der FDP zu. Meine Fraktion wird
dies tun.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun die Bundesministerin Brigitte
Zypries.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es kommt nicht sonderlich häufig vor, dass
eine Ministerin anlässlich der ersten Lesung eines Gesetzentwurfes der Opposition redet. Warum ich dies dennoch tue, will ich gerne erklären. Einer der Gründe, weshalb ich hier stehe, ist die Tatsache, dass mein
Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Hartenbach
heute Geburtstag hat.
({0})
Alfred Hartenbach ist einer derjenigen, die ganz maßgeblich daran beteiligt waren, dass die Reform der
Zivilprozessordnung - sie ist im Jahre 2002 in Kraft
getreten - überhaupt zustande kam. Das heißt, er hat im
Vorfeld in erheblichem Umfang mitgearbeitet und hat
deshalb ein großes Interesse daran, dass die guten Ergebnisse der Reform der Zivilprozessordnung erhalten bleiben.
({1})
Zu den guten Ergebnissen gehört auch § 522 ZPO.
({2})
Daher will ich Ihnen an dieser Stelle sagen, dass der Gesetzentwurf der FDP mit dem Bundesministerium der
Justiz nicht zu machen ist.
Mit der ZPO-Reform - das ist eben schon einmal angedeutet worden - haben wir die Zivilprozessordnung
grundlegend modernisiert und auch dafür gesorgt, dass
es einen raschen und effektiven Rechtsschutz durch die
Gerichte gibt. Denn auch schnelles Recht ist gutes
Recht.
({3})
Es war damals das Dilemma, dass es nicht so war.
Mit dem Zurückweisungsbeschluss, den wir seinerzeit eingeführt haben, können aussichtslose Berufungen
Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
durch einstimmigen Beschluss des Gerichts zurückgewiesen werden. Die dafür notwendigen Voraussetzungen
könnte ich nicht so gut beschreiben, wie dies der Kollege
Gehb getan hat. Außerdem bedarf es keiner Wiederholung. Ich möchte stattdessen darauf hinweisen, dass die
Praxis gezeigt hat, dass sich dieses Verfahren bewährt
hat. Wir haben seitdem schnellere Berufungsverfahren,
und zwar ohne dabei rechtstaatliche Grundsätze preiszugeben. Diesen Erfolg würden wir zunichtemachen, wenn
wir jetzt eine Beschwerdemöglichkeit im Sinne der FDP
einführen würden.
Deshalb lehne ich den Vorstoß der FDP ab. Frau
Dyckmans, wenn ich das richtig sehe, wird er auch von
den Mitgliedern Ihrer Fraktion nicht sonderlich unterstützt. Frau Dyckmans, Sie sind das einzige Mitglied des
Rechtsausschusses, das hier anwesend ist, oder sehe ich
da etwas falsch?
({4})
- Wieso?
({5})
- Lieber Herr Hoyer, wenn das ein Gesetzentwurf ist,
der von den Rechtspolitikern der FDP-Fraktion mit
Verve unterstützt wird, dann dokumentiert man das doch
auch durch Präsenz im Plenum, oder?
({6})
- Okay. Dann nehme ich das hiermit zurück. Tut mir
leid.
Nichtsdestotrotz würde ich gerne darauf hinweisen,
dass der Gesetzentwurf der FDP-Fraktion, der von allen
FDP-Mitgliedern des Rechtsausschusses getragen wird,
von falschen Voraussetzungen ausgeht, und das sowohl
faktisch als auch rechtlich. In dem Gesetzentwurf wird
die Länderumfrage, die das Bundesministerium der Justiz durchgeführt hat, falsch dargestellt - aus welchen
Gründen auch immer; das mag jetzt einmal dahingestellt
bleiben. Sie ist auf jeden Fall falsch. Sie gehen davon
aus, dass es eine Zurückweisungsquote von 32 Prozent
im Bundesdurchschnitt gibt. Sie sagen, in einzelnen Ländern, zum Beispiel in Bayern oder Mecklenburg-Vorpommern, gebe es eine Zurückweisungsquote von über
50 Prozent. Diese Zahlen sind schlicht falsch. Wir sollten uns diese Umfrage vielleicht einmal gemeinsam anschauen und eine Exegese vornehmen. Nach unserer
Auslegung dieser Umfrage beträgt der Anteil der Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO bei den Landgerichten
13,9 Prozent und bei den Oberlandesgerichten 14,8 Prozent.
({7})
Nun ist zwar richtig - lassen Sie mich das noch sagen;
dann erübrigt sich Ihre Zwischenfrage vielleicht, Herr
Montag -, dass manche Parteien ihre Berufung infolge
einer Hinweisschleife - sie bekommen also einen Hinweis darauf, dass ihre Berufung unzulässig sein kann
und zurückgewiesen wird - zurücknehmen oder eine solche gar nicht erst einlegen. Diese Fälle kann man aber
nicht hinzuzählen; denn es wäre ja auch möglich gewesen, dass man bei der Begründung nachlegt und das Gericht zu einer anderen Auffassung kommt, doch mündlich verhandelt und die Berufung nicht zurückweist.
Wenn man diese Fälle hinzuzählt, kommt man, glaube
ich, zu falschen Ergebnissen. So sehe ich das jedenfalls.
Frau Ministerin, würden Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Frau Ministerin, aufgrund der heutigen Debatte habe
ich mich mit den Zahlen beschäftigt. Ich möchte Sie
herzlich bitten, uns zu sagen, ob Sie bereit sind, zur
Kenntnis zu nehmen, dass es einen Unterschied zwischen dem Prozentsatz derjenigen Fälle, die nach § 522
ZPO zurückgewiesen werden, im Verhältnis zu allen
Eingängen bei Gericht und dem Prozentsatz derjenigen
Fälle gibt, die streitig entschieden werden. Fakt ist, dass
im Bundesdurchschnitt 14 Prozent aller Eingänge und
33 Prozent aller streitig entschiedenen Fälle nach § 522
ZPO beendet werden.
Dann kommen wir trotzdem nicht auf 50 Prozent in
einzelnen Bundesländern.
({0})
- Nun gut. Ich kann das jetzt weder bestätigen noch dementieren, weil ich die Zahlen jetzt schlicht und ergreifend nicht vorliegen habe. Wir werden uns das aber noch
einmal anschauen. Wenn wir uns geirrt haben sollten,
werden wir das gerne nacharbeiten. Ich glaube das aber
nicht; denn die Länder sind mit uns der Auffassung, dass
sich dieses Rechtsinstitut bewährt hat. Es wird gut angenommen.
Dieses Rechtsinstitut ist - auf diesen Punkt möchte
ich jetzt zu sprechen kommen - keine Rechtsschutzverkürzung. Es stimmt zwar, dass die Zurückweisungsbeschlüsse unanfechtbar sind. Die Entlastung, die wir dadurch erzielt haben - ich habe vorhin gesagt, dass auch
schnelles Recht gutes Recht ist -, ist aber positiv zu werten: Die Verfahrensdauer in der Berufungsinstanz beträgt
fünfeinhalb Monate bei den Landgerichten und siebenBundesministerin Brigitte Zypries
einhalb Monate bei den Oberlandesgerichten. Das soll so
bleiben.
Bei einem Zurückweisungsbeschluss nach § 522 ZPO
haben sich in einer Rechtssache vier Richterinnen oder
Richter einstimmig auf eine Meinung verständigt. Was
will man eigentlich noch mehr in einem Rechtsstaat, als
dass vier Richterinnen und Richter übereinstimmend sagen: „Das wollen wir so nicht“ oder „Das wollen wir
so“.
({1})
Dafür, dass der Bundesgerichtshof bei einer Überprüfung der Zurückweisungsbeschlüsse zu einer anderen
Bewertung kommen würde - das behauptet die FDP -,
kann ich keine Anhaltspunkte erkennen. Die Erfolgsquote der Zulassungsrevision beim Bundesgerichtshof
können Sie dafür nicht heranziehen. Diese Quote umfasst nämlich auch die Fälle, in denen nach Ansicht des
BGH der Berufung zu Unrecht stattgegeben wurde.
({2})
Darum geht es ja bei den Fällen nach § 522 Zivilprozessordnung gerade nicht. Es sind also auch jene Fälle erfasst, in denen zwei Instanzen unterschiedlich entschieden haben.
Unzutreffend ist auch die Behauptung, dass dieses
Beschlussverfahren eine vorweggenommene Beweiswürdigung sei; das ist falsch. Denn in dem Moment, in
dem es darum geht, Beweise zu würdigen, ist völlig evident, dass nach § 522 Zivilprozessordnung gerade nicht
entschieden werden darf. Deswegen ist Ihr Beispiel mit
dem Schimmelbefall völlig daneben.
({3})
Wenn der Richter in der ersten Instanz sagt, der Schimmelbefall sei darauf zurückzuführen, dass die Mieterin
nicht richtig gelüftet habe, ist das eine Frage der Beweisführung.
({4})
- Nein, Sie verstehen sie nicht.
({5})
Sie haben den Fall gebildet und gesagt, es gehe um eine
amtsgerichtliche Entscheidung.
({6})
- Kann ich jetzt ausreden oder nicht? - Frau Präsidentin,
können Sie ihm einmal sagen, er solle ruhig sein?
({7})
Sie haben folgenden Fall gebildet: Das Amtsgericht
entscheidet, dass eine Person, die wegen Schimmel in ihrer Wohnung die Miete gemindert hat, die volle Miete zu
zahlen hat, weil der Schimmelbefall in der Wohnung
darauf zurückzuführen ist, dass sie nicht hinreichend gelüftet hat. Sie aber sagt, dass sie hinreichend gelüftet
habe. Es ist also eine Frage des Beweises. In diesem Fall
kann gar keine Entscheidung nach § 522 Zivilprozessordnung ergehen.
({8})
- Das hat auch nichts mit Rechtzeitigkeit oder sonst etwas zu tun. Die vier Voraussetzungen des § 522 - ich
sage es noch einmal - hat Kollege Gehb gerade hinreichend und anschaulich vorgetragen.
({9})
Ich teile auch die Meinung, dass sich ein Rechtsmittel
gegen Zurückweisungsbeschlüsse nicht dadurch rechtfertigen lässt, dass man die unzutreffende Parallele zu
den Verwerfungsbeschlüssen nach Abs. 1 des § 522
zieht. Denn bei diesen Verwerfungsbeschlüssen nach
Abs. 1 findet keine inhaltliche Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils statt,
({10})
während bei Zurückweisungen nach Abs. 2 eine inhaltliche Überprüfung stattfindet und nicht nur gesagt wird:
Die zweite Instanz teilt die Auffassung der ersten Instanz.
Alles zusammengefasst meine ich: Der damaligen
Bundesregierung und dem damaligen Parlament ist eine
recht ordentliche Reform gelungen, die - nach allen anfänglichen Anfeindungen - inzwischen auch in anderen
Bereichen voll akzeptiert wird. Ich kann deshalb nur
dazu raten, es bei der jetzigen Fassung des § 522 Abs. 2
Zivilprozessordnung zu belassen.
({11})
Jerzy Montag spricht jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum
1. Januar 2002 - Frau Kollegin Dyckmans, der einzige
Fehler in Ihrem Gesetzentwurf ist, dass Sie schreiben,
die Reform sei zum 1. Januar 2001 in Kraft getreten - ist
eine große Strukturreform der Zivilprozessordnung in
Kraft getreten,
({0})
die Qualitätssteigerungen, konsensuale Elemente, eine
Entlastung der Gerichte und auch eine Entlastung durch
Rechtswegverkürzung zum Inhalt hatte. Aber, Frau Ministerin Zypries, eine Entlastung der Justiz und schnellere Urteile sind keine Werte an sich, sondern Werte, die
nur zu rechtfertigen sind, wenn die Gerechtigkeit nicht
auf der Strecke bleibt,
({1})
wenn wir ein Rechtswegesystem behalten, wenn also die
Rechtsstaatlichkeit nicht darunter leidet.
({2})
Deswegen würde ich Sie herzlich bitten, dass Sie
schnelle Urteile und die Entlastung der Justiz nicht einfach als Werte an sich in der Debatte darstellen.
Es gibt seit Ende der 90er-Jahre tatsächlich einen
Rückgang der Zahl der Zivilsachen bei Landgerichten
und Oberlandesgerichten. Nach 2002 ist dieser Rückgang sogar sprunghaft größer geworden. Das hat mit vielen Elementen dieser Reform zu tun, auch mit der Förderung konsensualer Elemente. Herr Kollege Gehb, Zahlen
sind, wenn sie valide sind, ein wichtiges Indiz für unsere
Argumente. Die Zahlen, die ich verwende, stammen ausschließlich aus statistischen Unterlagen der Bundesregierung selbst.
({3})
Nach einem Hinweis des Gerichts an die Parteien
nach § 522 ZPO wurde jede zweite Berufung zurückgenommen. Das rügen wir nicht. Wir finden, das ist eine
vernünftige Regelung. Deswegen wollen wir § 522 ZPO
nicht abschaffen. Allerdings ist im Jahre 2005 im Bundesdurchschnitt ein Drittel der streitigen Verfahren durch
einen Beschluss nach § 522 ZPO erledigt worden. Das
allein sagt natürlich nichts aus. Es bedeutet nur, dass es
sich dabei nicht um eine periphere Entscheidungsmöglichkeit des Gerichts handelt. Ich wiederhole: Die Oberlandesgerichte in Deutschland entscheiden in einem
Drittel aller streitigen Fälle nach § 522 Abs. 2 ZPO. Das
ist eine beachtliche Größe.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist so, wie die FDP in
ihrem Gesetzentwurf völlig zu Recht geschrieben hat,
übrigens im Gegensatz zu Ihrem falschen Zitat, Herr
Gehb.
({5})
- Ja, Sie haben etwas vorgelesen. Ich weiß aber nicht,
woraus Sie vorgelesen haben.
({6})
In der Begründung heißt es, dass das Berufungsgericht nur dann nach § 522 Abs. 2 ZPO entscheiden kann,
wenn die Berufung nach Auffassung des Gerichts keine
Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts
oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert.
({7})
Die Gerichte haben übrigens nicht erst seit der letzten
Entscheidung des BGH, sondern schon seit dem
Jahre 2002 keinen Ermessensspielraum mehr.
Ich sage Ihnen - ich bin übrigens nicht der Einzige,
der diese Ansicht vertritt -: Wenn die Oberlandesgerichte in Deutschland bei dieser Entscheidung keinen Ermessensspielraum haben, sondern bei Erfüllung der drei
Kriterien so entscheiden müssen, dann darf es, was die
Zahl der Entscheidungen angeht, keine große Spreizung
zwischen den Bundesländern geben.
Tatsächlich gibt es aber eine solche Spreizung. Von
den streitigen Entscheidungen der Oberlandesgerichte
werden in Baden-Württemberg 22,4 Prozent aller Fälle
nach § 522 ZPO entschieden, im Nachbarland Bayern
51 Prozent. Für diese Spreizung kann man weder regionale Unterschiede noch die besonders guten Richter oder
die besonders schlechten Rechtsanwälte in Bayern haftbar
machen. Dass bei einem Vergleich der Nachbarländer Baden-Württemberg und Bayern bei einer Nichtermessensentscheidung eine Spreizung zwischen 22,4 Prozent und
51 Prozent zu verzeichnen ist, ist nur dann verständlich,
wenn man davon ausgeht, dass die Gerichte nach einem
inneren Ermessen entscheiden.
({8})
Eine solche Spreizung ist ein Angriff auf die Gerechtigkeit in Deutschland. Denn sie hat zur Folge, dass sich
jeder einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin ausrechnen kann: Beginne ich meinen Prozess in BadenWürttemberg, besteht eine Wahrscheinlichkeit von
22 Prozent, dass ich nach § 522 ZPO abgefertigt werde.
Beginne ich meinen Prozess in Bayern, liegt die Wahrscheinlichkeit sogar bei über 50 Prozent. - Eine solche
Ungleichheit im Rechtsmittelrecht ist nicht erträglich.
({9})
Hinzu kommt ein Aspekt, der von Frau Bundesjustizministerin Zypries schon angesprochen worden ist. Die
Zahlen, die nicht bestritten werden, sind ein Indiz für etwas anderes. Die Oberlandesgerichte lassen bestimmte
Revisionen nicht zu. Es werden Nichtzulassungsbeschwerden erhoben. 20 Prozent dieser Nichtzulassungsbeschwerden sind erfolgreich. Das bedeutet nach Auffassung des Bundesgerichtshofes, dass jede fünfte nicht
zugelassene Revision zu Unrecht nicht zugelassen worden ist. 80 Prozent der Revisionen, die gegen ein Urteil
eines Oberlandesgerichts eingelegt werden, haben Erfolg. Der Bundesgerichtshof sagt also: 80 Prozent aller
Entscheidungen der Oberlandesgerichte, gegen die beim
BGH Revision eingelegt wurde, waren falsch. Wenn der
BGH der Auffassung ist, dass die Zahl der falschen Entscheidungen von Oberlandesgerichten so hoch ist,
spricht vieles dafür, dass auch ein erheblicher Teil der
Entscheidungen nach § 522 ZPO nicht der Rechtslage
entspricht.
({10})
Das ist die logische Konsequenz, die man aus dem Zahlenmaterial ziehen muss. Sie können dem folgen, oder
Sie müssen die Logik ausschalten. In zu vielen Fällen ist
die Gerechtigkeit verletzt.
Der 65. Juristentag im Jahre 2005 - ein erlauchtes
Gremium, Herr Kollege Gehb - hat sich mit diesem Problem ebenfalls beschäftigt und explizit vorgeschlagen,
bei § 522 ZPO wieder eine Rechtsbeschwerde einzuführen. Wir sollten die Rechtsbeschwerde wieder einführen.
§ 522 ZPO sollte bleiben; aber dass er nicht angreifbar,
nicht überprüfbar ist, kann nicht in Ordnung sein. Deswegen werden wir Grünen den Gesetzentwurf der FDP
unterstützen.
Danke schön.
({11})
Der Kollege Michael Grosse-Brömer spricht jetzt für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren
Kollegen! Ich habe das Gefühl, wir müssten bei den Zuhörern einmal nachfragen, wer diese Debatte verstehen
konnte.
({0})
- Ich natürlich nicht; ich bin nur Anwalt. Ich habe allerdings das Gefühl, dass es Zeit wird, dass hier ein Anwalt
spricht und nicht nur Richter. Ich bin weit davon entfernt, etwas gegen Richter zu sagen; aber manchmal erklären Anwälte Sachverhalte etwas einfacher. Deswegen
ist es manchmal schmerzlich, Herr Kollege Nešković,
Ihnen zuzuhören: Ihre Rede war wie immer zu lang, und
ihre Argumentation griff wie immer zu kurz.
({1})
- Nein, Sie müssen auch wissen, worüber Sie reden:
Wenn Sie von Rechtsfindung auf niedrigem Niveau in
Deutschland sprechen,
({2})
dann ist das eine Beleidigung aller Kollegen Ihres Berufsstandes, aller Richter.
({3})
Zweitens glaube ich nicht, dass das Beispiel mit dem
Schimmel in der Wohnung - auch wenn es nicht völlig
abwegig ist; bei dem einen oder anderen Amtsgericht
soll so etwas ja anhängig gewesen sein - geeignet ist, zu
zeigen, dass solche Fälle im Berufungsverfahren exorbitant ungerecht entschieden werden. So etwas ist bei der
Beweiserhebung zu klären; ein solcher Fall muss nicht
besonders kompliziert sein.
Es gibt den berühmten Spruch: Richter sind der Kopf
der Rechtspflege, die Anwälte sind das Herz. - Jetzt
habe ich Herrn Kollegen Montag zum Strahlen gebracht;
schon das ist es fast wert, diese Rede zu halten. - Gerade
weil wir Anwälte das Herz sind, können wir gegen ein
zusätzliches Rechtsmittel eigentlich nichts haben, vom
Gebührenrecht einmal ganz abgesehen.
({4})
- Es geht um die Rechtsuchenden; aber die werden ja
meistens von Anwälten vertreten.
({5})
- Manchmal müssen sie sogar.
Sie haben völlig recht, Frau Dyckmans: Es geht nicht
um die Interessen des Anwaltes - allenfalls in zweiter
Linie: wenn der Anwalt zusätzliche Gebühren bekommt,
wenn er ein weiteres Rechtsmittel einlegt -, es geht um
den Anspruch des einzelnen Bürgers, darum, dass man
in einem Rechtsstaat seine Beschwerde vortragen kann.
Der Staat muss dem Bürger die Gewähr dafür geben,
dass darüber entschieden wird.
Eckpfeiler unserer Rechtsordnung ist Art. 103 Grundgesetz; diesen Artikel muss ich hier wahrscheinlich keinem erklären. Aber vielleicht darf ich sagen, dass ich in
meiner Tätigkeit als Abgeordneter sowie in meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar nicht
den Eindruck gewonnen habe, dass Deutschland darunter leidet, zu wenige Rechtsmittelinstanzen und zu kurze
Verfahren zu haben.
({6})
Wenn man die Debatte der Sache angemessen umfänglich führt, ist die Debatte durchaus spannend. Ich freue
mich darauf, das einmal zu beleuchten mit all den Statistiken, auch wenn die jeder für sich selbst auslegt. Denn
bei Berufungsentscheidungen durch den BGH sind natürlich Entscheidungen dabei, die vom OLG aufgehoben
wurden.
({7})
Deswegen müsste man das aus meiner Sicht differenzierter sehen.
Es geht aber auch um Rechtsfrieden und Rechtssicherheit in Deutschland und um die Notwendigkeit, dass
bei einem streitigen Verfahren, auch wenn es um Schimmel in der Wohnung geht, irgendwann einmal ein
Schlussstrich gezogen werden muss.
({8})
- Natürlich nicht zu früh. Hier gilt es ein vernünftiges
Verhältnis zu schaffen. Die spannende Frage ist, inwiefern § 522 ZPO in dem Spannungsverhältnis zwischen
dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes auf der einen
Seite und einem effektiv und zügig arbeitenden Gericht
bzw. einer schnell arbeitenden Rechtspflege auf der anderen Seite eine Rolle spielt.
Ich will zu einem der wenigen Punkte kommen, die
hier noch nicht erwähnt worden sind. Wir sind nicht die
einzigen, die über § 522 ZPO diskutieren. Glücklicherweise gibt es hierüber auch sehr fundierte rechtswissenschaftliche Literatur - insofern muss man die Zuhörerinnen und Zuhörer auch nicht immer mit diesen sehr
speziellen Themen belästigen -, in der vereinzelt die
Auffassung vertreten wird, dies sei verfassungsrechtlich
bedenklich.
({9})
Aber solche Auffassungen gibt es - das muss man fairerweise sagen - auch nur sehr vereinzelt; dazu gehört dann
auch ein Richter am BGH. Aber das Bundesverfassungsgericht hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken,
ebenso wenig die überwiegende Mehrheit in der Literatur. Ich sage dies nur, damit klar ist, auf welchem Niveau
wir hier reden.
({10})
- Ich wundere mich über Ihre gefühlte Angegriffenheit.
({11})
- Ich schaue Sie zwischendurch freundlich und kollegial
an, aber ich meine Sie gar nicht. Ich erkläre Ihnen das
vorbeugend, damit wir uns endlose Debatten im Ausschuss sparen. Ich will hier auch nicht alles wiederholen,
was andere schon gesagt haben.
Die beiden Eigenschaften des Zurückweisungsbeschlusses, unanfechtbar zu sein und keiner dezidierten
Begründung zu bedürfen, sind manchmal ein bisschen
anstrengend, auch für die Anwälte, die sich unendlich
Mühe geben und über 14, 15 Seiten hinweg erklären,
warum die erstinstanzliche Entscheidung falsch ist, und
anschließend unter Umständen die karge Mitteilung bekommen: Aus den zutreffenden Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung wird die Berufung zurückgewiesen.
({12})
Das ist für den Anwalt manchmal etwas mühselig und
deprimierend und gelegentlich für den rechtsuchenden
Bürger vielleicht nicht so leicht zu akzeptieren, weil er
wahrscheinlich meint - übrigens ebenso wie sein Gegner
in dem Verfahren -, er habe grundsätzlich recht. Aber
wir müssen doch zumindest einmal hinterfragen, was
dem vorausgegangen ist. Ich habe auch gedacht: Wenn
es immer nur dieser Zweizeiler ist, dann ist das auf
Dauer möglicherweise nicht befriedigend. Deshalb habe
ich mir im Internet angesehen, wie die Gerichte im Regelfall entscheiden.
Auf der Internetseite des Landgerichtes Braunschweig habe ich gesehen, was solchen Entscheidungen
selbstverständlich vorausgeht. Das ist ein mehrseitiger
Hinweisbeschluss, in dem Punkt für Punkt aufgelistet
wird, wo das Gericht Bedenken in Bezug auf die bisherige Argumentation hat. Er ergeht im Übrigen unter Einklammerung der erstinstanzlichen Entscheidung, indem
gesagt wird: Dagegen haben wir eigentlich keine Bedenken; wir sind der Auffassung, das erstinstanzliche Gericht hat es richtig gesehen, und deswegen neigen wir
dazu, die Berufung zurückzuweisen. Man muss hinzufügen, dass man darauf noch ausführlich argumentativ eingehen kann, und erst dann hat man unter Umständen den
Nachteil, im Interesse einer zügig arbeitenden Gerichtsbarkeit mit einem solchen Beschluss versehen zu werden. Das ist manchmal nicht lustig.
Meines Erachtens muss auch der Appell an die Gerichte erlaubt sein, die große Verantwortung, die sie dadurch haben, auch wahrzunehmen und solche Beschlüsse nicht möglicherweise ein wenig zu leichtfertig
zu fassen. In diesem Punkt hat die Ministerin allerdings
völlig Recht: Das entscheidet nicht nur ein Richter, sondern es muss Einstimmigkeit mehrerer Richter hergestellt werden. Selbst dann, wenn man einem vielleicht
nicht traut, bin selbst ich als Anwalt noch nicht so weit,
vier Richtern in Deutschland zu unterstellen, dass sie
leichtfertig, locker und ohne nachzudenken arbeiten.
({13})
Meines Erachtens braucht man irgendwann einen
Schlussstrich unter Streitigkeiten. Der Zurückweisungsbeschluss ist eine gute Möglichkeit dazu. Wie viele von
Ihnen freue ich mich auf eine angeregte und wahrscheinlich intellektuell hochwertige Debatte im Rechtsausschuss.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({14})
Jetzt spricht Joachim Stünker für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor Ihnen
steht einer, der die damalige Reform federführend als
Berichterstatter meiner Fraktion mit vorangebracht hat.
Ich stehe auch heute noch voll hinter dieser Zivilprozessrechtsreform, über die wir in den Jahren 2000 und 2001
beraten und die wir dann zum Abschluss gebracht haben.
Entgegen dem, was teilweise heute Mittag hier geäußert
worden ist, sagen uns mittlerweile die Vertreter der Praxis in den Instanzgerichten, aber vor allen Dingen in den
Tatsacheninstanzen ganz überwiegend: Jawohl, es war
eine richtige, eine im Ergebnis gute Reform. Dies sage
ich all denjenigen, die auch hier zu Anfang sehr skeptisch gewesen sind.
Bei dieser Reform sind wir natürlich nicht von einem
Richterbild ausgegangen, Herr Kollege Nešković, bei
dem wir dem Richter von vornherein Willkür unterstellen.
({0})
- Doch, das haben Sie in Ihrer Rede hier getan. Das mag
vielleicht Ihre Erfahrung aus Ihrer Praxis als Amtsrichter
oder als Richter an einem Landgericht in Schleswig-Holstein sein. Wir hingegen sind von einem Richterbild ausgegangen, wie wir es in diesem Land kennen, wo man
sorgfältig und gründlich arbeitet, wo man nach Recht
und Gesetz entscheidet und wo die Bürgerinnen und
Bürger nicht willkürlich abgebürstet werden, um das
einmal ganz deutlich zu sagen.
({1})
Dann haben wir eine Strukturreform durchgeführt,
das heißt, wir haben nicht nur diese eine Vorschrift im
Berufungsrecht geändert.
({2})
Wir haben eine Strukturreform durchgeführt, durch die
wir zum Beispiel den Gerichten, die Tatsacheninstanz
sind, neue Hinweispflichten gegenüber den Parteien aufgegeben haben, wir haben eine Güteverhandlung vorgeschaltet, und wir haben versucht, durch das Gesetz ein
konsensuales Verfahren zu fördern, um in der Tatsacheninstanz die Möglichkeit zu schaffen, im Gespräch umfassend vorzutragen.
Auf dieser Grundlage haben wir die Rechtsmittel
nicht eingeschränkt, sondern der Umfang der Rechtsmittel ist erweitert worden. Die Streitwertgrenze bei Rechtsmitteln gegen Entscheidungen der Amtsgerichte ist abgesenkt worden. Man kommt heute mit dem
Rechtsmittel bis zum Bundesgerichtshof, zu dem man
früher nie hingekommen ist, was dazu führt, dass wir in
diesem Land sehr schnell zu einer Einheitlichkeit der
Rechtsprechung kommen. All das sind Schritte, die mittlerweile unisono begrüßt werden.
Dann haben wir - das ist richtig - das Rechtsmittel
der Berufung sozusagen ein Stück weit darauf beschränkt, dass die Berufung nicht die neue zweite Tatsacheninstanz sein soll - wohlgemerkt: die neue zweite
Tatsacheninstanz -, sondern im Wesentlichen der Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung dienen soll. Bis zu
der Entscheidung hier haben im Ergebnis in der Tat vier
Richterinnen und Richter in Deutschland auf diesen
Sachverhalt geschaut, um ihn zu beurteilen.
Wie läuft das Verfahren denn ab? Das Verfahren läuft
nicht so ab, dass eine Berufung eingeht und man einen
Beschluss nach Hause geschickt bekommt, in dem steht:
Tut uns leid, die Berufung ist unbegründet. Nein, das
Gericht hat die Verpflichtung, vorher schriftlich darzulegen, aus welchen Gründen es dieses Rechtsmittel, diese
Berufung für unbegründet hält.
({3})
Es muss also das tun, was man sonst erst in der Berufungshauptverhandlung getan hätte, in der man den Parteien mit zwei Anwälten - das alles kostet Geld - erklären muss: Tut uns leid, aber trotz allem, was Sie
geschrieben und vorgetragen haben, ist das Rechtsmittel
der Berufung nicht begründet.
Der Berufungsführer hat nach diesem Hinweis die
Möglichkeit, noch einmal vorzutragen. Wenn er dann
neue Tatsachen vorbringt, von denen Sie zum Beispiel in
Ihrem Beispielsfall des Schimmelpilzes gesprochen haben, Herr Kollege Nešković, und wenn diese neuen Tatsachen möglicherweise wirklich geeignet sind, das Beweisergebnis aus der ersten Instanz infrage zu stellen,
({4})
dann wird kein Gericht in Deutschland willkürlich sagen: Da schauen wir nicht mehr hin, das belassen wir
einmal bei dem, was dort gemacht worden ist.
({5})
Das ist Ihr sozialistisches Richterbild, das aber nicht der
Wirklichkeit in diesem Land entspricht. So sieht das
Ganze aus.
({6})
Wir haben diese Regelung auch deshalb so getroffen,
weil wir natürlich wissen - wer lange genug in diesem
Bereich gearbeitet hat, der weiß das; bei mir war es über
ein Vierteljahrhundert und auf allen Ebenen -, dass es
auch taktische Rechtsmittel gibt. Gerade das Rechtsmittel der Berufung kann ein taktisches Rechtsmittel sein:
Man ist verurteilt worden, soundso viel zu zahlen. Dann
wird erst einmal eine Berufung eingelegt, sodass das
Ganze ein bisschen verzögert wird, um zu schauen, wie
das in einem Jahr, wenn eine Entscheidung vorliegt,
möglicherweise aussieht. Die Aufschiebung des Zahlungstermins, also eine zinslose Stundung, hat man damit erst einmal auf den Weg gebracht. Auch diesen
Missbrauch gibt es in diesem Bereich. Das muss man dabei eben ganz deutlich sehen.
Durch diese Regelung haben wir natürlich auch
Druck ausüben und darauf hinwirken wollen, dass die
Parteien in der ersten Tatsacheninstanz umfassend vortragen und nicht taktisch bestimmte Beweismittel noch
zurückhalten, die man vielleicht erst in der nächsten In22454
stanz einbringen kann, um zu schauen, wie das taktische
Verfahren dann weiterläuft. In einem kontradiktorischen
Verfahren wie dem Zivilprozess weiß doch jeder kundige Thebaner, wie die Tricks aussehen, um das Verfahren in die Länge zu ziehen. Nein, das wollten wir nicht,
und die Möglichkeiten dafür wollten wir verringern. Darum gibt es diese Regelung, die hier heute so heftig angefochten wird.
Wenn erneut geprüft worden ist und diese Berufung
trotzdem keine Aussicht auf Erfolg hat und die übrigen
Voraussetzungen, die hier rauf und runter diskutiert worden sind, vorliegen, dann kann durch Beschluss zurückgewiesen werden, und zwar - nun gibt es dabei noch etwas Besonderes - ohne Begründung, wenn man nicht
eine neue Begründung zusätzlich zu der hat, die den Parteien bereits in den Hinweisen mitgeteilt wurde.
Was wollen Sie mit Ihrer Rechtsbeschwerde erreichen? Auf welcher Grundlage sollen dabei die nächste
Instanz und dann der Bundesgerichtshof überprüfen?
Was sollen die Gerichte eigentlich überprüfen? Die Aktenlage von Blatt 1 bis 1 000?
({7})
Sie müssen sich fragen, wie das in der Praxis funktionieren soll.
Es gibt also einen nicht begründeten Beschluss. Wenn
Sie allerdings mit der Rechtsbeschwerde auch eine Begründungspflicht einführen wollen, dann können wir uns
das Ganze schenken. Dann kehren wir zum alten Recht
zurück.
Alles, was hier vorgetragen worden ist, ist meines Erachtens nicht schlüssig. Bedenkenswert sind sicherlich
die unterschiedlichen Zahlen aus den Bundesländern.
Damit werden wir uns im Rechtsausschuss sehr gründlich befassen und nach den Zusammenhängen fragen.
Aber aus dem Zahlenmaterial eine Schlussfolgerung für
die materielle Handhabung zu ziehen, scheint mir im Ergebnis ein bisschen gewagt gewesen zu sein, Kollege
Montag.
({8})
Diese Schlussfolgerung vermag ich nicht zu ziehen.
Frau Kollegin Dyckmans, ich muss zugeben, dass ich
mich nicht eine Woche lang auf die Debatte am heutigen
Mittag vorbereiten konnte. Aber als ich gestern Abend
erfahren habe, dass das Thema heute Mittag - zur besten
Sendezeit der Übertragung aus dem Deutschen Bundestag, könnte man fast sagen - mit einer einstündigen Debatte auf die Tagesordnung gesetzt wurde, habe ich mich
gefragt, ob eine ganze Stunde nötig ist, um im Ergebnis
eine Art Kolloquium mit einer Vorlesung zu halten. Haben wir in Deutschland nicht gegenwärtig andere Probleme, um die wir uns zu kümmern haben und über die
wir hier diskutieren sollten, als die spezielle Frage des
§ 522 ZPO?
Dass die FDP in dieser Situation, in der wir es in
Deutschland mit riesigen finanzwirtschaftlichen und
weltwirtschaftlichen Problemen zu tun haben, dieses
kleine Problem des Rechtsmittels aufbringt, bei dem es
möglicherweise eine gewisse Ungerechtigkeit gibt, ist
zwar ihr Recht. Aber ich meine, die Diskussion im
Rechtsausschuss sollte genügen; es hätte keine erste Beratung im Hohen Hause geführt werden müssen.
Schönen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/11457 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 j auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Achter Bericht der Bundesregierung über ihre
Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen
- Drucksachen 16/10037, 16/10285 Nr. 14,
16/11982 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Volker Beck ({1})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({3}), Jerzy Montag, Wolfgang Wieland, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Völkerstrafgesetzbuch wirksam anwenden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine verbesserte Zusammenarbeit deutscher Behörden bei der Verfolgung von
Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch
- Drucksachen 16/7137, 16/7734, 16/10282 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({4})
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({5}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Volker Beck
({6}), Marieluise Beck ({7}), Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung
der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker
Beck ({8}), Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Lage der Menschenrechte von Lesben,
Schwulen, Bisexuellen und Transgender
- Drucksachen 16/2084, 16/2800, 16/9651,
16/11972 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Angelika Graf ({9})
Michael Leutert
Volker Beck ({10})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({11}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({12}), Winfried
Nachtwei, Marieluise Beck ({13}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für klare menschen- und völkerrechtliche
Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr
- Drucksachen 16/8402, 16/11979 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Volker Beck ({14})
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({15}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({16}), Marieluise
Beck ({17}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Eine kohärente und konsistente Menschenrechtspolitik gegenüber China entwickeln
- Drucksachen 16/9422, 16/11980 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({18})
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({19}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({20}), Marieluise
Beck ({21}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen
weltweit sicherstellen - Yogyakarta-Prinzipien
unterstützen
- Drucksachen 16/9603, 16/11981 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Angelika Graf ({22})
Michael Leutert
Volker Beck ({23})
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({24}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({25}),
Marieluise Beck ({26}), Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aufnahme von Gefangenen aus Guantánamo
Bay ermöglichen
- Drucksachen 16/11759, 16/12144 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({27})
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eigentumsfreiheit weltweit schützen
- Drucksache 16/10613 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({28})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Harald
Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Erweiterung des Rom-Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs - Verweigerung und
Behinderung von humanitärer Hilfe bestrafen
- Drucksache 16/11186 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({29})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({30}), Marieluise Beck ({31}), Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weitere Verschlechterung der Rechtssituation
von Homosexuellen in Nigeria verhindern
- Drucksache 16/12107 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({32})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Zu dem Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik liegt ein Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP vor.
Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen
Christoph Strässer das Wort für die SPD-Fraktion.
({33})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ende des vergangenen Jahres
wurde weltweit mit teilweise beeindruckenden Veranstaltungen des Geburtstages der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte gedacht. In diesem Jahr wird das
Grundgesetz, unsere Verfassung, ebenfalls 60 Jahre alt.
Ich meine, es ist eine Verfassung, auf die wir stolz sein
können, deren runder Geburtstag uns aber nicht nur
Grund für aufwendige Feierlichkeiten bieten sollte, sondern die uns nach innen wie nach außen die Verpflichtung aufgibt, permanent den Stand und die Umsetzung
der grundlegenden Werte - nämlich der Art. 1 bis 19 zu überprüfen. Dabei spielt auch der mittlerweile achte
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, den wir
heute debattieren, eine zentrale Rolle.
Der Bericht ist ein wichtiger Beitrag sowohl zur parlamentarischen als auch zur zivilgesellschaftlichen Debatte um die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung. Die vorliegenden Berichte sind - das sage ich
ausdrücklich - nicht nur für Parlamentarier lesenswerte
Kompendien moderner Menschenrechtspolitik. Sie gewähren Einblicke in bilaterale und multilaterale Strategien.
Für uns - für meine Fraktion und meine Arbeitsgruppe
- gilt an dieser Stelle ein ganz besonders herzlicher Dank
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beteiligten
Häuser - insbesondere des federführenden Auswärtigen
Amtes -, die an der Erstellung dieses Berichtes mitgewirkt haben.
({0})
Dieser Dank ist diesmal ganz besonders berechtigt, weil
der Bericht sehr zeitnah vorgelegt wurde. Einen Bericht
mit diesem Umfang, der im Jahr 2008 abschließt, bereits
im Jahr 2008 vorzulegen, verdient gerade im Hinblick
auf andere Berichte, über die wir debattieren, unsere Beachtung.
Der Bericht befasst sich wie immer mit verschiedenen
Bestandteilen der Menschenrechtspolitik nach innen wie
nach außen. Insbesondere im Bereich des internationalen
Rechtsschutzes wie auch der Umsetzung internationaler
Normen und Konventionen in nationales Recht hat es im
Berichtszeitraum einige bedeutsame Entwicklungen gegeben. So ist es außerordentlich zu begrüßen, dass Außenminister Steinmeier 2006 das Fakultativprotokoll zur
Antifolterkonvention unterzeichnet hat und wir im Deutschen Bundestag den entsprechenden Gesetzentwurf
verabschiedet haben. Ich sage dazu aber auch - etwas
zurückhaltend in der Bewertung -: Die Installierung des
nationalen Präventionsmechanismus zu diesem Gesetz
ist verbesserungswürdig. Das muss man der Wahrheit
halber an dieser Stelle sagen.
Auch die Ratifizierung der Konventionen zum Schutz
vor Verschwindenlassen und zu den Rechten von Menschen mit Behinderung stellt außerordentliche Fortschritte dar. Wir können stolz darauf sein, dass die Bundesrepublik insbesondere bei der Konvention zu den
Rechten von Menschen mit Behinderung eines der ersten
Länder gewesen ist, die diese Konvention mitgetragen
haben.
Noch immer klemmt es allerdings - das muss man der
Ehrlichkeit halber sagen - bei der Ratifizierung der Antikorruptionskonvention. Das ist ein mehr als ärgerlicher
Vorgang, der dem Ansehen der Bundesrepublik international schadet.
({1})
Das muss dringend beseitigt werden.
Lieber Kollege Haibach, ich werde nicht müde, darauf hinzuwirken - auch wenn das den einen oder anderen nervt -, dass endlich der noch existierende Vorbehalt
zur Kinderrechtskonvention zurückgenommen wird. Daran werden wir noch in dieser Legislaturperiode arbeiten.
({2})
Der Bericht geht sehr intensiv auf die Entwicklungen
internationaler Rechtsschutzsysteme ein. Ich spreche aus
aktuellem Anlass den Internationalen Strafgerichtshof
an. Wie Sie wissen, haben die Richter des ICC gestern in
Den Haag ihre positive Entscheidung über einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten al-Baschir
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
Kriegsverbrechen bekannt gegeben. Ich sage Ihnen aus
voller Überzeugung: Ich begrüße diese Entscheidung
nachhaltig.
({3})
Die Richter haben eine unmissverständliche Botschaft in
die Welt gesetzt: Immunität und staatliche Souveränität
schützen auch amtierende Staatsoberhäupter nicht, wenn
diese im Verdacht stehen, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen zu haben.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese Entscheidung zu diplomatischen Verwicklungen und Problemen
führen kann. Etliche Länder in der Region befürchten,
dass ein Haftbefehl gegen den Präsidenten die Haltung
des Sudans noch verhärtet und die Friedensverhandlungen im Zusammenhang mit Darfur weiter erschwert. Angeblich ziehen 37 Staaten, angeführt von Libyen, in Erwägung, das Römische Statut zu kündigen. Es gibt die
Befürchtung, dass ein solcher Schritt die sudanesische
Armee zu Vergeltungsschlägen gegen die Bevölkerung,
humanitäre Helfer oder Soldaten der Friedensmission
herausfordert. Deshalb sage ich: Die internationale Gemeinschaft muss gerade gegenüber den Menschen, die
dort ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, ihrer Verantwortung gerecht werden. Sie muss unter Beweis stellen, dass sie ihrer Schutzverantwortung für diese Menschen und die Flüchtlinge in den Lagern in Darfur
nachkommt.
({4})
Angesichts dieser schwierigen Lage warne ich nachdrücklich davor, eine Diskussion zu beginnen, in der
Recht und Frieden im Sudan gegeneinander ausgespielt
werden. Ziel muss sein, beides zu verbinden. In dieser
Situation richte ich den dringenden Appell an die Mitglieder des Sicherheitsrates, die letztendlich diesen Fall
nach Kapitel VII der Charta an den ICC abgegeben haben, nun ihrer daraus resultierenden Verantwortung gerecht zu werden. Das sage ich insbesondere an die
Adresse der Volksrepublik China, ohne deren Unterstützung das Regime im Sudan aus meiner Sicht nicht lange
überlebensfähig wäre.
Da mir die Redezeit etwas davonrennt, möchte ich
nur kurz zum Antrag der Grünen zu Guantánamo Stellung nehmen. Darüber werden wir sicherlich noch intensiv diskutieren. Nur so viel: Kollege Beck, wie Sie wissen, werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen,
obwohl ich der Meinung bin, dass die Lösung des Problems Guantánamo nicht bedeutet, dass wir ein Problem
der Vereinigten Staaten von Amerika lösen wollen. Vielmehr geht es uns um die Lösung eines menschenrechtlichen Problems und die Menschen, die dort seit Jahren
unschuldig inhaftiert sind und gefoltert wurden. Darum
geht es, und dem wollen wir nahetreten.
Aber wir wollen und können diesen Antrag auch deshalb nicht unterstützen, weil Sie von einer falschen Voraussetzung ausgehen. Sie sagen nämlich im Prinzip, die
Bundesregierung tue an dieser Stelle nichts. Genau das
ist verkehrt. Die Bundesregierung und insbesondere der
Außenminister haben sehr klar gesagt, dass sie an einer
entsprechenden Lösung mitwirken werden.
({5})
Die Bundesrepublik Deutschland wird ihrer menschenrechtlichen und humanitären Verpflichtung nachkommen, wenn die Anfrage kommt,
({6})
und dann werden wir einen solchen Antrag unterstützen
und klarmachen, dass wir dies wollen.
Lieber Kollege Beck, wenn Sie geschrieben hätten,
dass Sie die Bemühungen der Bundesregierung unterstützen würden, zu einer humanitären Lösung dieses
Problems zu kommen, dann würden wir diesem Antrag
zustimmen. Und wenn es an der Zeit ist, werden wir den
Antrag auf den Weg bringen.
Herzlichen Dank.
({7})
Der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen hat jetzt das
Wort für die FDP-Fraktion
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der „Achte Bericht der Bundesregierung über
ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen“ ist aus unserer
Sicht und der Sicht der Experten in der öffentlichen Anhörung im Oktober des letzten Jahres einhellig gewürdigt worden. Der Bericht beleuchtet auf eindrucksvolle
Weise die umfangreiche, vielschichtige und professionelle Arbeit der mit der Menschenrechtspolitik befassten
Personen und Institutionen. Dabei ist jedoch in weiten
Teilen eine Schwerpunktsetzung auf außenpolitische Aspekte erkennbar, die menschenrechtliche Herausforderungen im Inland zu sehr in den Hintergrund treten lässt.
Im Entschließungsantrag unserer Fraktion haben wir
die Forderungen für die künftige Berichterstattung zusammengefasst. Erstens. Es ist unverständlich, warum
die Kritik am Siebten Bericht nicht im vorliegenden
Menschenrechtsbericht eingearbeitet wurde. In der Beschlussempfehlung zum Siebten Menschenrechtsbericht
der Bundesregierung sprach der Deutschen Bundestag
zahlreiche Empfehlungen aus, um die Lesbarkeit des Berichts weiter zu erhöhen.
Leider sind noch nicht alle dieser Verbesserungsvorschläge berücksichtigt worden. So ist der Bericht beispielsweise aufgrund des überlangen Berichtszeitraums
von 36 Monaten weiterhin sehr umfänglich. Große Teile
sind deskriptive Hintergrundinformationen, die es dem
Leser erschweren, die eigentlichen Positionen und
Handlungen der Bundesregierung zu erkennen. Dabei
muss auch erkennbar werden, wo die Bundesregierung
durch den Einsatz finanzieller Mittel eigene Schwerpunkte setzt.
Zweitens. Eine transparente Abtrennung von eigenen
Aktivitäten der Bundesregierung und Beschreibungen ist
unklar. Oder sollen die eigenen Anteile sogar verschleiert, versteckt werden? Wir Liberale fordern, die be22458
schreibenden und erläuternden Teile des Berichts jeweils
in einen eigenständigen Handbuchteil aufzunehmen. Wir
fordern zur besseren Transparenz und Nachvollziehbarkeit Zielformulierungen der Bundesregierung anhand
klarer Kriterien und Maßnahmen der Bundesregierung
einschließlich Angaben über die aufgewandten Finanzmittel, sodass Schwerpunkte erkennbar werden. Wir fordern darüber hinaus ein Ergebnis, also eine Auswertung,
Erfolgskontrolle, Evaluation. Und letztlich fordern wir
natürlich einen Ausblick und Perspektiven. All das vermissen wir hier ganz klar.
({0})
Drittens. Die Menschrechte in Deutschland dürfen
keine Leerstelle sein. Deshalb sind die innenpolitischen
Vorgänge mit Menschenrechtsrelevanz ausführlicher
darzustellen. Wir erhöhen unsere eigene Glaubwürdigkeit - und natürlich die der Kollegen aus dem Ausschuss, die ins Ausland fahren -, wenn wir auch im Inland unsere Menschenrechtspolitik ständig überprüfen
und sagen: Wir kümmern uns auch um die Menschenrechtsverletzungen in Deutschland. Wir können nicht sagen, dass wir uns im Ausland - beispielsweise in Russland oder Weißrussland - um Menschenrechte kümmern,
wenn wir dies nicht gleichzeitig auch im eigenen Lande
tun.
Viertens. Der „Aktionsplan Menschenrechte der Bundesregierung“ sollte künftig nicht losgelöst angehängt
werden, sondern ein wichtiger Bestandteil des Berichts
werden. Dazu ist es unverzichtbar, dass die Umsetzung
des Aktionsplans detaillierter beschrieben wird, das
heißt bestehende Defizite aufgezeigt und geplante Maßnahmen angekündigt werden.
Fünftens. Wie in unserem Entschließungsantrag gefordert, muss eine strategische Analyse der durch die
Globalisierung veränderten Rahmenbedingungen vorgenommen werden. Dazu zählen eben auch Fragen des
Menschenrechtsschutzes beim Kampf gegen den Terror.
Um unsere Position klar zu sagen: Terrorbekämpfung
darf niemals und nie wieder auf Kosten der Menschenrechte gehen.
({1})
Aktuell müssen wir uns nun politisch mit den Folgen
der massiven Missachtung von Menschenrechten im
Kampf gegen Terrorismus beschäftigen. Darauf zielt der
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Aufnahme von Gefangenen aus Guantánamo Bay
ermöglichen“ ab. Die Forderung der Grünen nach einer
Aufnahmeverpflichtung auf bilateraler Ebene zwischen
den Vereinigten Staaten und Deutschland greift zu kurz
und stellt keine nachhaltige Außenpolitik dar. Der FDP
kann in der Debatte nicht vorgeworfen werden, sie
würde sich dieses Themas nicht annehmen, da unsere
Fraktion als eine der ersten die Schließung Guantánamos
verlangt hat. Die Debatte über die Aufnahme unschuldiger Häftlinge aus Guantánamo wurde durch die Ankündigung Obamas, das Gefängnis schließen zu wollen, losgetreten, obwohl bis zum heutigen Tage keine offizielle
Anfrage an Deutschland vorliegt. So jedenfalls lautete
die Aussage des Innenministers in Brüssel Ende Februar
dieses Jahres. Die Innenminister der EU haben sich bei
ihrem Treffen darauf geeinigt, dass jedes EU-Land selbst
entscheiden könne, die Entscheidungen jedoch in enger
Absprache fallen sollten. Schließlich haben wir im
Schengen-Raum offene Grenzen. Deswegen ist eine Absprache mit den Partnerländern der EU absolut notwendig.
Wenn die Bestimmung des Aufenthaltsortes konkret
ansteht, dann sind folgende Überlegungen vordergründig
zu beachten. Die sollten wir nennen, Herr Kollege
Strässer. Diese fehlen mir in Ihrer Argumentation, dem
Antrag nicht zuzustimmen. Die Perspektive muss klar
dargestellt sein. Zu den Bedingungen sagen wir: Erstens.
Die unschuldigen Häftlinge sollen zunächst vom Heimatland aufgenommen werden. Wenn dieses nicht möglich ist, zum Beispiel wegen drohender Folter, Todesstrafe etc., dann stehen - zweitens - zunächst die
Vereinigten Staaten in der Pflicht, das von ihnen geschaffene Unrecht selbst zu beseitigen. Das dürfen wir
hier im Deutschen Bundestag selbstverständlich sagen.
Wir dürfen vielleicht hoffnungsvoll gestimmt sein, dass
der neue Präsident diesem Wunsch eher nachkommt.
Das ist die zweite Priorität. Dazu gehört auch die Beantwortung der Frage der Entschädigung unschuldig einsitzender Häftlinge. Das müssen wir mit allem Respekt vor
den Vereinigten Staaten von hier aus sagen. Drittens.
Falls eine Aufnahme in den Vereinigten Staaten nicht
möglich oder nicht zumutbar ist, dann ist eine Absprache
in der EU unabdingbar, auch wegen der offenen Grenzen
im Schengen-Raum. Viertens. Im Rahmen einer europäischen Lösung kann Deutschland seiner Größe und Bedeutung entsprechend einen Beitrag leisten, wobei jeder
Fall einzeln geprüft werden soll. Das ist unsere Stellungnahme zu dem Grünen-Antrag.
({2})
Die Grünen haben sich in ihrer Regierungszeit dagegen ganz anders verhalten, als sie heute fordern. Von
März 2003 bis Oktober 2004 war Claudia Roth Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik
und humanitäre Hilfe,
({3})
genau in der Zeit, als Kurnaz auf Guantánamo im Gefängnis saß. Sie weist jegliche Verantwortung in diesem
Fall mit der Begründung von sich, sie habe nichts von
der Inhaftierung gewusst, obwohl in den Medien bereits
seit langem davon berichtet wurde. So eine Unkenntnis
ist schlicht eine untaugliche Schutzbehauptung und zeigt
in diesem Fall die Unglaubwürdigkeit der Grünen, die
damit eine Einreise von Kurnaz nach Deutschland selbst
verhindert haben.
({4})
Kommen wir nun zu einem leider gerade in Deutschland völlig unerwartet infrage gestellten Menschenrecht,
einem nach unserer Verfassung geschützten Grundrecht.
Das Grundrecht auf Eigentum ist nämlich eine der
Grundlagen der Menschenrechte. Freiheit und Menschenwürde sind von der Herrschaft über Wirtschaftsgüter nicht zu trennen. Liebe Große Koalition, das wusste
man schon im Mittelalter. Bereits in der Magna Charta
Libertatum, der großen Urkunde der Freiheiten, setzte
man im Jahre 1215 in England ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat durch, um Eigentum sogar vor Königen
und Lords zu schützen. Ohne eine solche Eigentumsgarantie gräbt sich jeder Rechtsstaat selbst ein politisches
Grab. Die Eigentumsgarantie bietet den Anreiz, ökonomische Grundlagen für individuelle Freiheiten zu erwerben - so der Experte Paul Kirchhof.
({5})
In diesem Geiste fordert die FDP-Bundestagsfraktion
mit dem Antrag „Eigentumsfreiheit weltweit schützen“
dieses Hohe Haus zu einem klaren Bekenntnis auf. Dass
das überhaupt nötig ist, zeigen uns die aktuellen Pläne
der Regierung in dieser Finanzkrise.
({6})
- Artikel 14, Herr Kollege. - Für uns Menschenrechtler
wäre es vor einem halben Jahr unvorstellbar gewesen,
dass gesellschaftspolitisch so zersetzende Gedanken wie
Enteignung als Punkt auf der aktuellen Tagesordnung
stehen. Man kann es gar nicht fassen, wie leichtfertig das
Grundvertrauen der Bürger in das Grundrecht auf Eigentum erschüttert wird. Ein Enteignungsgesetz ist nach
meiner Auffassung schlicht demokratiegefährdend. Ein
Enteignungsgesetz nimmt mehr Vertrauen aus dem
Staat, als es Vertrauen schafft.
({7})
Stellen Sie sich einmal mit diesem Gesetz einen Finanzminister Oskar Lafontaine vor, den es in diesem
Hause einmal gegeben hat und hoffentlich nie wieder
gibt. Mit einem so geschaffenen Dammbruch könnte
eine sozialistische Springflut ausgelöst werden.
({8})
Deswegen haben wir hierzu einen Antrag eingebracht.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Ich würde gerne noch zum
Entschließungsantrag zur Lage der Menschenrechte von
Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern Ausführungen machen.
Das werden Sie jetzt nicht mehr schaffen.
Wir unterstützen ihn.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Holger Haibach spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Müller-Sönksen, wir haben uns in den letzten Debatten zu Recht zur Wehr gesetzt, wenn vonseiten der
Linkspartei versucht wurde, die Frage des gesetzlichen
Mindestlohns zum Menschenrechtsthema zu machen.
Ich glaube, die gegenwärtige Finanzkrise und ihre Lösung ist genauso wenig geeignet, um als Thema in einer
Menschenrechtsdebatte aufgerufen zu werden. Damit
tun wir den Menschenrechten keinen Gefallen.
({0})
Man kann zu der Frage der Enteignung stehen, wie
man will. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das wirklich
eine Frage ist, die in einer Debatte über Menschenrechte
eine Rolle spielen sollte. Abgesehen davon wissen Sie
als Jurist, dass Enteignung auch in unserer Verfassung
vorgesehen ist, wenn es um höherwertige Rechte und
Ziele geht, nämlich den Schutz und Erhalt unseres Staates. Das heißt nicht, dass ich zwingend für Enteignung
bin, wenn es um die Bewältigung der Finanzkrise geht.
Aber ich finde, man muss die Politikbereiche sauber auseinanderhalten. Deswegen hat dieses Thema hier nichts
zu suchen.
({1})
Bevor ich zu dem komme, was ich mir aufgeschrieben habe: Lieber Kollege Christoph Strässer, ich weiß,
dass die Rücknahme der Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention ein gemeinsames Ziel von uns allen ist.
({2})
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Wir als Mitglieder der Menschenrechtsarbeitsgruppe und Familienarbeitsgruppe der Union haben das immer ganz klar unterstützt. Wahrscheinlich weiß auch der Kollege Strässer,
dass es heute Abend Verhandlungen zwischen den Ländervertretern und der Bundeskanzlerin zu diesem Thema
gibt und dass wir insgesamt auf einem guten Weg sind,
die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Lindauer Abkommen auszuräumen. Wenn wir das schaffen,
dann haben wir gerade bei diesem Thema einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht. Ich will hier keine Legenden in der Art aufkommen lassen, es läge an der
Union, dass es hier nicht zu Fortschritten kommt. Das
stimmt definitiv nicht.
({3})
Wir diskutieren heute neben dem Achten Menschenrechtsbericht der Bundesregierung sehr unterschiedliche
Themen. Es gibt Anträge zu China, zu den Rechten von
Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgendern,
Guantánamo, Bundeswehr, Völkerstrafgesetzbuch, RomStatut und Eigentumsrechten. Das zeigt, wie breit die
Bandbreite ist, wenn es um das Thema Menschenrechte
geht. Aber ein Punkt, über den wir alle nachdenken sollten, ist: Ich frage mich, ob es den Themen, die alle eine
einzelne Betrachtung wirklich verdient hätten, angemessen ist, wenn man versucht, diese elf Vorlagen inklusive
zweier Beschlussempfehlungen und eines großen Berichts der Bundesregierung tatsächlich in einer Stunde
abzuhandeln. Es ist nicht sinnvoll, das zu machen. Wir
sollten in Zukunft darauf achten, uns ein bisschen mehr
zu konzentrieren. Auf der anderen Seite sollten wir versuchen, für die anderen Themen vernünftige Debattenpunkte zu finden.
({4})
Ich will bei dieser Gelegenheit noch Folgendes sagen:
Wenn ich mir anschaue, wie viele Debattenpunkte zum
Thema Menschenrechte in der letzten Legislaturperiode
aufgerufen wurden und wie viele wir in dieser Legislaturperiode diskutiert haben, dann verdeutlicht das, dass
wir hier einen ordentlichen Schritt nach vorne gemacht
haben. Das zeigt, dass das Thema durchaus an Bedeutung gewonnen hat.
({5})
Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung
zeigt - der Kollege Strässer hat bereits darauf hingewiesen -, dass in den Häusern, in denen er erstellt worden
ist, große Sachkompetenz vorhanden ist. Ich kann mich
ausdrücklich dem Dank anschließen, besonders dem an
Günter Nooke und seine Mitarbeiter im Auswärtigen
Amt. Hier ist eine wichtige Arbeit geleistet worden,
nicht nur für uns als Parlamentarier, sondern auch für all
diejenigen, die sich insgesamt für Menschenrechte interessieren. Das soll an dieser Stelle ausdrücklich gewürdigt werden; denn diese Arbeit ist keine kleine. Das wissen wir alle.
({6})
Auch was das Abstimmungsverfahren innerhalb der
Bundesregierung angeht, ist es keine ganz einfache Sache, die unterschiedlichen Meinungen der unterschiedlichen Häuser zusammenzubringen.
Was den Antrag der FDP betrifft, der hier zur Debatte
steht - es gibt auch einen gemeinsamen Antrag von
CDU/CSU, SPD und Grünen zu diesem Thema -: Ich
kann den dort formulierten Zielen durchaus folgen. Das
Problem ist nur: Wenn wir sie zu erreichen versuchen,
dann machen wir keinen Menschenrechtsbericht mehr,
sondern ein Menschenrechtslexikon. Wir würden dann
eine Bandbreite an Themen abhandeln müssen, die weder in einem noch in zwei, sondern vermutlich in zehn
Bänden zu erledigen wäre. Außerdem würde der dafür
zur Verfügung stehende Zeitraum nicht ausreichen.
Dass dieser Zeitraum zuletzt 36 Monate umfasste,
geht auf eine Vereinbarung zwischen dem Auswärtigen
Amt und unserem Ausschuss zurück. Es ist nicht so,
dass wir das der Bundesregierung zur Last legen dürfen;
vielmehr haben wir uns damit aufgrund der Tatsache einverstanden erklärt, dass in diese Zeit die EU-Ratspräsidentschaft und die G-8-Präsidentschaft gefallen sind. Ich
finde, der Ehrlichkeit halber kann man einmal sagen:
Wir haben uns damit einverstanden erklärt, dass dieser
Zeitraum diesmal größer ist. Ich bin sicher, dass dieser
Bericht in Zukunft wieder im Zweijahresrhythmus vorgelegt wird.
({7})
Wenn wir uns die Handlungen der Bundesregierung
und die Handlungen Deutschlands anschauen, dann können wir feststellen, dass sich die Bundesregierung in den
letzten Jahren sehr stark bemüht hat, ihre Menschenrechtspolitik international auszurichten - und das ist
auch richtig so. Deutschland als bestenfalls mittelgroßer
Staat mit 82 Millionen Einwohnern muss sicherlich
- wenn Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und internationales Recht weiterentwickelt werden sollen - den
Weg über die internationale Gemeinschaft suchen.
Deutschland hat sich vor kurzem dem Universal Periodic
Review unterzogen. Eine Delegation des Ausschusses ist
in Genf gewesen und hat sich das Ganze angeschaut.
Man kann über das, was dort diskutiert worden ist,
unterschiedlicher Meinung sein. Diejenigen, die vor Ort
waren, und die Diplomaten sagen, dass Deutschland dort
insgesamt einen sehr guten Stand gehabt hat, auch wenn
die Kritik von Nichtregierungsorganisationen an dieser
Stelle massiv - ich sage: zum Teil zu massiv - gewesen
ist. Ich finde, man muss den Vergleich mit anderen Ländern im Blick behalten. Ich will an dieser Stelle noch
einmal in aller Deutlichkeit sagen: Es ist mehr als befremdlich, wenn ein Land wie Saudi-Arabien plötzlich
nach der Umsetzung der Frauenrechte in Deutschland
fragt.
({8})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Däubler-Gmelin zulassen?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Haibach, wir waren in Genf und haben
die, wie ich finde, hervorragende Präsentation des
Staatsministers und des Staatssekretärs gesehen. Stimmen Sie meiner Einschätzung zu, dass eine parlamentaDr. Herta Däubler-Gmelin
rische Weiterbehandlung der Empfehlungen und auch
der im Einzelnen sehr klug anmutenden Fragen, die zum
deutschen Bericht gestellt wurden, angesagt ist?
Ich teile auf jeden Fall Ihre Meinung. Wenn im Juni
der endgültige Bericht verabschiedet wird, sollten wir
die Empfehlungen noch einmal zum Thema unserer parlamentarischen Beratungen machen.
Unabhängig von der Situation der Fragesteller und
dem Recht, das man ihnen zubilligt, diese Fragen zu stellen, halte ich diese Fragen für durchaus berechtigt. Damit
kein falscher Zungenschlag in diese Diskussion hineinkommt: Ich glaube, dass es richtig ist, die Äußerungen,
die über Deutschland gemacht werden, in den internationalen Kontext zu stellen.
In der letzten Woche ist China auf dem Prüfstand gewesen. Wenn man vergleicht, wie kritisch die Fragen gegenüber China und wie kritisch die Fragen gegenüber
Deutschland gewesen sind, dann muss man sich fragen:
Wie objektiv und gerecht ist dieses System eigentlich?
Dann muss man sich auch fragen, ob es tatsächlich so
bleiben kann, wie es jetzt ist. Die Diskussion, ob es möglich ist, daran Verbesserungen durchzuführen, hat auch
bei unserem Besuch in Genf eine große Rolle gespielt.
Gerade das Beispiel China zeigt - auch heute steht ein
Antrag zum Thema „China und Tibet“ auf der Tagesordnung -, dass es Staaten immer wieder gelingt, sich international aus der Affäre zu ziehen, obwohl sie selber eine
sehr schlechte Bilanz hinsichtlich der Einhaltung der
Menschenrechte haben. Das muss uns wirklich Sorge
bereiten.
({0})
Ich verhehle nicht die Fortschritte, die auch in China
gemacht worden sind. Aber wenn ich mir die Situation
nach den Aufständen in Tibet im letzten Jahr anschaue,
dann kann ich nicht feststellen, dass da von einer größeren Rechtsstaatlichkeit, von einer größeren Offenheit gegenüber Minderheiten oder von einer größeren Sensibilität zu sprechen ist. Ich glaube, dass bei diesem
schwierigen Thema eher das Gegenteil der Fall ist.
Nichtsdestoweniger will ich nicht verhehlen, dass gerade ein Staat wie China bei anderen Fragen für uns sehr
wichtig ist. Wir haben China als Partner, als Gesprächspartner, wenn es darum geht: Wie kommen wir in Afrika
voran? Was die gegenwärtige Krise in Sri Lanka angeht
- darüber haben wir am Mittwoch sehr ausführlich gesprochen -, so wissen wir, dass ohne den Einfluss Chinas dort nichts vorankommt.
Christoph Strässer hat zu Recht - auch das will ich an
dieser Stelle ganz deutlich sagen - auf das sehr bemerkenswerte Eröffnen des Verfahrens gegen Herrn al-Baschir vor
dem Internationalen Strafgerichtshof hingewiesen. Ich
finde, das ist ein gutes Zeichen. Es ist deshalb ein gutes
Zeichen, weil es zeigt, dass internationales Recht immer
mehr an Bedeutung gewinnt und dass auch ein Staatsmachtinhaber nicht vor Strafverfolgung gefeit sein kann,
wenn er Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.
Wenn dann aber das Sicherheitsratsmitglied China sagt:
„Dieser Haftbefehl muss mindestens für ein Jahr ausgesetzt werden“ und wenn der Präsident, der mit Strafverfolgung bedroht wird, beschließt, sämtliche Hilfsorganisationen aus dem Land zu werfen, ist das etwas, das in
diese Debatte gehört und das uns alle sehr besorgt machen
muss.
({1})
Ich möchte gern noch etwas zu Ihrem Antrag zum
Thema Guantánamo sagen, Herr Kollege Beck, weil ich
mich auch an der Stelle nicht der Verantwortung entziehen will. Es ist bemerkenswert - da kann ich dem Kollegen Müller-Sönksen nur recht geben -, dass ausgerechnet von Ihnen dieser Antrag kommt. Das alles fällt in
Ihre Regierungszeit.
({2})
Der Antrag, so wie er heute vorliegt, sieht mir viel mehr
nach Wahlkampf als nach echtem Interesse an den Menschen dort aus.
({3})
Das Problem, Herr Kollege Beck, bleibt am Ende des
Tages. Natürlich hat der Kollege Müller-Sönksen recht:
Es gibt diese abgestuften Fragen, die wir uns stellen
müssen: Was ist mit den Ländern, die aufnehmen sollen?
Wenn das nicht geht: Was ist mit der Verantwortung der
USA? Wenn das nicht geht: Was ist mit unserer eigenen
Verantwortung? Sie können sicher sein, dass wir am
Ende des Tages unserer Verantwortung nicht aus dem
Weg gehen werden, dass wir unsere Verantwortung
wahrnehmen werden.
({4})
Aber das machen wir, wenn das ansteht, zeitlich gesehen. Dann werden wir auch entsprechende Verhandlungen führen. Ich glaube, wir werden in der Koalition zu
einer guten Lösung kommen. Ich habe, ehrlich gesagt,
relativ wenig Verständnis dafür, dass Sie die Menschenrechtsdiskussion quasi zur Eröffnung des Bundestagswahlkampfs nutzen. Das hat die Sache nicht verdient.
({5})
Abschließend würde ich gern noch Folgendes sagen:
Der Menschenrechtsbericht zeigt, dass innerhalb dieses
Parlaments und auch innerhalb der Bundesregierung
eine hohe Sensibilität für die Menschenrechtsfrage existiert. Das heißt nicht, dass es in Deutschland keine Probleme gäbe. Es existiert kein Land, in dem keine Probleme bestehen. Aber wir haben hier ein paar Vorteile,
die wir uns immer wieder bewusst machen sollten. Wir
haben ein demokratisch legitimiertes Parlament mit einem Menschenrechtsausschuss, der sich sehr intensiv
bemüht. Es gibt entsprechende Institutionen auf der
Bundesebene und auf der Länderebene; das geht bis in
die Kommunen hinein. Wir haben ein funktionierendes
Rechtssystem, und - das wissen wir spätestens seit dem
UPR; das wussten wir aber auch schon vorher - es gibt
eine wache Zivilgesellschaft. Alles das sollte uns ab und
zu ein bisschen stolz machen auf das, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben.
Danke sehr.
({6})
Die Kollegin Monika Knoche hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! In der
heutigen Debatte gilt es, das Engagement für Menschenrechte in den auswärtigen Beziehungen zu bewerten. Ich
frage: Ist das Engagement in diesen Beziehungen gerecht verteilt, und ist es richtig verteilt? Ich nenne Ihnen
einige meiner Zweifel.
Immer wieder kam es zu Belastungen im deutsch-polnischen Verhältnis, weil der Bund der Vertriebenen dem
bodengebundenen Menschenrecht auf Heimat nachhängt. Wir Linke legen ein aufgeklärtes Menschenrechtsverständnis zugrunde, und das ist in der Politik gegenüber Polen unverzichtbar.
In Europa müssen heutzutage Grundrechte vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeklagt werden, um zum Beispiel als Schwangere das
Recht auf einen medizinisch begründeten Schwangerschaftsabbruch zugesprochen zu bekommen. Der prägende Einfluss der katholischen Kirche auf Gesetze und
Gesellschaft entzieht noch immer Europäerinnen im
21. Jahrhundert das Grundrecht auf Selbstbestimmung.
So darf es nicht bleiben.
({0})
Das Gleiche gilt für die gleichgeschlechtliche Orientierung. Es passt nicht zu einem modernen Europa, wenn
Homosexuelle von der Polizei in Europa niedergeknüppelt werden.
({1})
Die Bundesregierung muss die von Amnesty International beklagte Situation in Gefängnissen in verschiedenen Ländern Europas deutlich zur Sprache bringen.
Auch bei Russland steht zwar allenthalben die Presseund Meinungsfreiheit in Rede, um die Lage von Soldaten, die Diskriminierung von Drogenabhängigen und
Prostituierten kümmert sich in Deutschland aber nur eine
Handvoll Abgeordnete.
({2})
Ich fordere von der OSZE, die die Einhaltung der
Menschenrechte zu ihrem Selbstverständnis erklärt, zur
Einschränkung der Pressefreiheit in Georgien unter
Saakaschwili genauso entschieden Stellung zu nehmen.
Ebenso wenig darf die Missachtung von Frauenrechten
bei Zwangsprostitution und Menschenhandel in Osteuropa vernachlässigt werden.
({3})
Frau Kollegin Knoche, möchten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Haibach zulassen?
Ja.
Herr Haibach, bitte sehr.
Frau Kollegin Knoche, sind Sie bitte bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass der Menschenrechtsausschuss
im vergangenen Jahr eine Delegationsreise nach Russland und Weißrussland unternommen hat und dort
selbstverständlich Gefängnisse besichtigt hat, dass aber
die Fraktion Die Linke nicht in der Lage war, einen Teilnehmer für diese Reise zu benennen?
({0})
Darf ich Ihnen entgegnen, dass ich als Mitglied des
Auswärtigen Ausschusses eine Delegationsreise unserer
Fraktion nach Polen und Russland gemacht und genau
diese Frauenrechtsfrage thematisiert habe. Im Übrigen
habe ich auch mit dem Gesundheitsausschuss ähnliche
Initiativen unternommen.
Allerdings spreche ich jetzt als Außenpolitikerin zu
dieser Frage. In diesem Zusammenhang kann ich mit der
offiziellen Außenpolitik nicht zufrieden sein.
({0})
Ich beklage als Außenpolitikerin auch, dass die Bundesregierung die Rolle des Kosovos in der Frauenhandelsfrage nicht ausdrücklich thematisiert. Gelten Menschenrechte universell, oder werden sie nur dann zur
Bedingung in den auswärtigen Beziehungen gemacht,
wenn sie eigenen Interessen nützen? Das ist meine
Frage. Das ist eine ernsthafte Frage; denn Menschenrechte dürfen nicht zum Instrument von Nützlichkeitserwägungen werden und bei befreundeten Staaten ein
Schattendasein einnehmen. Die Menschenrechtspolitik
darf auch nicht durch wirtschaftliche und strategische Interessen ausgehöhlt werden.
({1})
Ich betone, dass es aber auch Erfolge gibt. Bolivien
beispielsweise tritt in einem Maße positiv hervor, wie es
seinesgleichen in Lateinamerika sucht. Unter Präsident
Morales hat die Bevölkerung verfassungsverbriefte
Rechte bekommen, die sie vorher nicht kannte. Kulturelle und soziale Rechte sind Menschenrechte, die mit
demokratischen Mitteln erkämpft wurden.
({2})
- Ich komme gleich auf Herrn Chávez zu sprechen. Die indigene Sprache ist Amtssprache und damit Grundvoraussetzung aller Menschen, an der Demokratie in Lateinamerika teilzuhaben.
({3})
Die Linke sagt: Diese menschenrechtliche Leistung
muss Deutschland endlich anerkennen, seine politischen,
wirtschaftlichen und diplomatischen Kontakte intensivieren und diesen Staat aufwerten.
Auch in Ecuador gibt es eine neue Verfassung qua
Volksentscheid. Diese gibt der Mehrheit der Menschen
kulturelle Heimat im eigenen Land. Das Bemühen, die
Natur zu erhalten, die Kultur zu schützen und eine ökologische Neuausrichtung der Wirtschaft zu vollziehen,
ist von hohem umweltpolitischen Wert, und sie muss
deutliche Unterstützung erhalten.
({4})
Wenn dort wie auch in Venezuela das Recht auf Bildung, auf Gesundheitsversorgung und auf die Überwindung von Armut und Analphabetismus durch die Regierung Chávez zum Staatsziel erhoben wird, dann werden
auch damit elementare Menschenrechte verwirklicht.
({5})
Die Linke kann jedoch nicht akzeptieren, dass zur Regierung Uribe in Kolumbien beste Kontakte gepflegt
werden, wissend, wie immens die tagtägliche Gewalt
und das Morden der Paramilitärs und die Aufrechterhaltung der Kultur des Todes sind. Der militärische „Plan
Columbia“ fordert Tausende von Todesopfern, gerade
unter der bäuerlichen Bevölkerung. Entführungen sind
dort Alltag. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter
werden ermordet, wenn sie für soziale Rechte kämpfen.
Bitte sehr! Hier ist das Engagement der Bundesregierung
gefordert.
({6})
Die Amerikapolitik insgesamt ist neu zu justieren.
Präsident Obama hat gesagt, er will dem internationalen
Recht folgen. Folgerichtig muss demnach die USA den
Internationalen Strafgerichtshof anerkennen. Es ist unabdingbar, dass die einzig verbliebene politische und militärische Weltmacht und Mitglied des UN-Sicherheitsrates den Internationalen Strafgerichtshof anerkennt.
({7})
Es muss Schluss sein damit, dass US-Staatsbürgerinnen
und -bürger, dass US-Soldatinnen und -Soldaten nicht
der Gerichtsbarkeit dieses Gerichtshofes unterstellt werden können.
Wenn Kriegsverbrechen, wenn Folter und Foltergefängnisse existieren, gibt es dafür Verantwortliche. Dieser Täter muss man habhaft werden. Auch Amerika
muss sich endlich zur Einhaltung der internationalen
Menschenrechte verpflichten. Das gilt gerade auch für
die Gefängnisse, die die USA in Afghanistan unterhalten. In Bagram existiert ein riesiges Antiterrorgefängnis.
Laut Spiegel sitzen dort 650 Gefangene ein. Menschenrechtlerinnen und -rechtler sowie Journalisten werden
vom Militär ausgesperrt. Die CIA unterhält Geheimgefängnisse, schreibt der Spiegel im Januar 2009. Laut Tagesschau nimmt ein deutscher ISAF-Stabsoffizier Verbindungsaufgaben im Militärstützpunkt Bagram wahr.
All das ist Teil des Krieges gegen den Terror. Den will
Präsident Obama noch weiter intensivieren. Ist das die
radikale Wende, die wir von Obama erwartet haben?
Wenn Deutschland auf dem nächsten NATO-Gipfel dieser Kriegspolitik keine Absage erteilt, heißt das, dass
fortwährende Menschenrechtsverletzungen billigend in
Kauf genommen werden.
Schon 2006 und 2007 unter Bush hat die USA die generelle Anfrage gestellt, ob Deutschland bereit ist,
Guantánamo-Häftlinge aufzunehmen. Deutschland hat
das abgelehnt, obgleich Linke und Menschenrechtsorganisationen das vehement einfordern. Es darf nicht dazu
kommen, dass wegen Minister Schäubles Weigerung unschuldig Inhaftierte weiter einsitzen. Ansonsten würde
sich Deutschland mitschuldig machen. Deutschland ist
moralisch verpflichtet, diese unschuldigen Häftlinge
aufzunehmen.
({8})
Will Deutschland ein verlässlicher Anwalt für Menschenrechte sein, darf die Unterstützung von Kriegen
bzw. die Kriegsbeteiligung nicht fortgeführt werden.
Deutschland muss die Beteiligung am Afghanistankrieg
beenden; denn Menschenrechte sind bekanntlich nicht
verhandelbar.
({9})
Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur ein
Satz zu Ihnen, Frau Knoche: Ich glaube, ganz so einfach
und so holzschnittartig, wie Sie es gerade dargestellt haben, sind die Verhältnisse nicht.
({0})
Etwas mehr Differenzierung wäre wünschenswert, und
es würde vielleicht auch einmal guttun, wenn Ihr Kol22464
Volker Beck ({1})
lege aus unserem Ausschuss in dieser Debatte sprechen
könnte, der ja die Problematiken kennt.
({2})
Er hätte zum Beispiel gewusst, dass wir erst letztes Jahr
auf Ausschussreise in Kolumbien und Peru waren. Ich
glaube, es war kein Mitglied der Linksfraktion dabei.
Kritisieren Sie hier also nicht, dass bestimmte Themen
ausgeklammert werden, obwohl wir uns als Ausschuss
durchaus fachlich darum kümmern.
Etwas anderes ist die Frage, wie man die Situation in
Kolumbien beurteilt. Da gehe ich durchaus mit Ihnen
konform. Auch ich finde, dass es nicht gut ist, wie die
Regierung dort handelt, und dass der Krieg gegen die
Drogen, der zulasten der Bevölkerung geht, nicht die
richtige Strategie ist und wir diese deshalb auch nicht
unterstützen sollten.
({3})
Herr Kollege Beck, möchten Sie eine Zwischenfrage
zulassen?
Aber mit Vergnügen, wenn es der Redezeit dient.
Bitte schön.
Herr Kollege Beck, ich weiß ja, dass Sie sich gerne
gegen die Linke profilieren. Aber die Linksfraktion ist
annähernd gleich groß wie Ihre Fraktion, Herr Kollege.
({0})
Wir haben Außenpolitikerinnen und -politiker, wir haben
Entwicklungspolitikerinnen und -politiker, wir haben
Menschenrechtspolitikerinnen und -politiker, die sich
um die entsprechenden Themen kümmern.
Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass sowohl
ich als Außenpolitikerin als auch unser Entwicklungspolitiker und auch unser haushaltspolitischer Abgeordneter, Herr Michael Leutert, an all diesen Reisen teilnehmen, sofern es möglich ist.
Ich war im vergangenen Sommer mit der deutsch-lateinamerikanischen Parlamentariergruppe des Bundestages in Kolumbien. Also lassen Sie das! Wir sind mit aller
Kraft, auch in personeller Hinsicht, in der Menschenrechtsfrage in Lateinamerika engagiert.
({1})
Ihre Frage hat gezeigt, dass ich mit meiner Bemerkung ins Schwarze getroffen habe
({0})
und dass Sie in Ihrer Fraktion ein relevantes Problem in
der Menschenrechtspolitik haben. Diese Politik wird von
manchen nicht gewünscht, sodass manche Abgeordnete
nicht sprechen dürfen.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren über den
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung und einige
Anträge hierzu. Ich glaube, der Bericht ist in Ordnung.
Das Problem ist die Politik - oder besser: die Politiken der Bundesregierung. Es gibt nämlich in der Menschenrechtspolitik zwei Linien. Das konnten wir gestern im
Menschenrechtsausschuss sehen, wo Frau Steinbach
dem Auswärtigen Amt vorgeworfen hat, die Politik der
Bundesregierung werde von den deutschen Botschaften
im Ausland boykottiert,
({1})
während der Kollege Jung betont hat, dass es ganz wichtig sei, die Differenzen innerhalb der Koalition in der
Menschenrechtspolitik deutlich zu machen, und dass
man sehr dankbar für die Differenzen sei. Wer keine abgestimmte Menschenrechts- und Außenpolitik hat, hat
weder außenpolitisch noch menschenrechtspolitisch im
Ausland irgendeinen Einfluss. Das ist das Problem im
Hinblick auf China, auf Russland und auf die zentralasiatischen Staaten. Immer gibt es zwei politische Linien. Deutschland richtet mit seinem Gewicht nichts aus,
obwohl es in vielen Punkten hilfreich sein könnte.
({2})
In dem Bericht kommt vielleicht ein Aspekt zu kurz,
den wir in der Zukunft stärker diskutieren sollten, nämlich die Frage der exterritorialen Staatenpflichten, zu denen ich in meiner Rede noch einiges sagen will. Wir haben gesehen, dass gerade die Herrschaft des Rechts sehr
wichtig ist. Das zeigt der Haftbefehl, den Sie angesprochen haben, gegen Herrn al-Baschir, Staatspräsident des
Sudan. Daran erkennt man, wie wichtig der Internationale Strafgerichtshof ist. Ich hoffe und erwarte von der
neuen amerikanischen Administration, dass es nicht nur
ein „change“ in der Politik in Bezug auf den Kampf gegen den Terror und auf Guantánamo gibt, sondern dass
die US-amerikanische Regierung endlich auch das Statut
des Internationalen Strafgerichtshofes ratifiziert.
({3})
Nun zum Thema Guantánamo. Wir fordern in unserem Antrag, dass man sich grundsätzlich bereit erklärt,
auch unschuldige Gefangene aus Guantánamo aufzunehmen. So steht es in dem Text, über den Sie jetzt abstimmen und den Sie ablehnen wollen.
({4})
Gerade wenn wir von den Amerikanern mehr Multilateralität verlangen, müssen wir uns zu Herzen nehmen,
was Vizepräsident Joe Biden vor den Teilnehmern der
Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat: Unsere SiVolker Beck ({5})
cherheit teilen wir, so auch unsere Verantwortung, sie zu
verteidigen. - Das hat er zum Thema Guantánamo gesagt. Deshalb müssen wir, wenn es notwendig ist, bereit
sein, Gefangene aufzunehmen.
({6})
Wer sagt, wir würden das nur fordern, weil Wahlkampf sei, den kann ich nur darauf hinweisen: Bereits in
einem Antrag zur Menschenrechtslage der Uiguren von
2007 haben wir diese Forderung erhoben. Und wer sagt,
es gebe keine Anfragen aus den USA, dem lese ich aus
der Presse vor.
({7})
Die taz vom 3. Februar schreibt:
({8})
Schon 2006 und 2007 hat die US-Regierung angefragt, ob Guantánamo-Häftlinge aufgenommen
werden können, gibt das Auswärtige Amt zu. Diese
wurden aber abgelehnt.
Hört, hört! Es gibt also eine aktuelle Anfrage. Unter
Freunden schickt man natürlich nicht einen offiziellen
Brief des Präsidenten an die Bundeskanzlerin, sondern
fühlt mit der Botschaft beim Auswärtigen Amt vor, um
zu sehen, wie darauf reagiert wird.
Wer da jetzt keinen Beitrag leistet, dem muss ins
Stammbuch geschrieben werden: Dann sind das in
Guantánamo auch unsere Gefangenen, es ist auch unser Lager, weil wir dazu beitragen, dass nicht tatverdächtige Personen nicht in Freiheit gelangen. Das darf nicht
länger der Fall sein.
Wenn Sie uns einen Vorwurf machen, können Sie diesen auch Ihrer CSU-Fraktion im Münchner Stadtrat machen. Denn sie hat sich bereit erklärt, die Uiguren aus
Guantánamo in München aufzunehmen. Das Gleiche erwarten wir von Ihnen, damit wir hier einen Schritt vorankommen.
Nachhilfestunden, Herr Haibach, brauchen wir in
punkto Guantánamo und Menschenrechte von Ihnen gewiss nicht. Der Deutsche Bundestag hat auf Antrag der
rot-grünen Koalition 2004 beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, alles dafür zu tun, dass Guantánamo
geschlossen wird.
({9})
Wir haben im Februar 2002, eine Woche nachdem die
Eltern von Kurnaz dem Auswärtigen Amt geschrieben
haben, in Washington durch die Botschaft in Bezug auf
Kurnaz nachgefragt, und man hat uns beschieden, dass
wir keine Antwort bekommen, weil er nicht unser
Staatsbürger ist.
Die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte Claudia
Roth, die Sie vorhin erwähnt haben, hat im Jahr 2003 auf
der Konferenz des Internationalen Roten Kreuzes und
des Roten Halbmondes Guantánamo angesprochen. Sie
hat dort die Schließung des Lagers sowie die Beendigung der illegalen und menschenrechtswidrigen Praktiken verlangt. Wir haben uns da nichts vorzuwerfen.
({10})
Aber was ist Ihre Logik? Der Innenminister sagt,
wahrscheinlich sei jemand, der in Guantánamo war, gefährlicher als ohne diese Leidenszeit. Der bayerische Innenminister sagt, von einer gewissen Verbindung zum
Terrorismus müsse auch bei Unverdächtigen ausgegangen werden. Was heißt das denn? Ist Guantánamo richtig, und hat Herr Bush es richtig gemacht, als er diese
Leute weiter gefangen hielt, oder nicht? Was sollen diese
Aussagen? An dieser Stelle sollte man Wahrheit und
Klarheit in die Debatte bringen.
Zweiter Punkt: Anträge zum Völkerstrafgesetzbuch.
Wir haben es unter Rot-Grün eingeführt. Es ist eine ganz
wichtige Voraussetzung für die Herrschaft des Rechtes.
Aber es gab einige Fälle, wo es nicht richtig funktioniert
hat. Hier müssen wir mehr tun. Gegen den usbekischen
Innenminister, Herrn Almatow, der in Deutschland zur
ärztlichen Behandlung war, wurde nicht ermittelt, obwohl
eine Strafanzeige vorlag. Auch gegen Herrn Inojatow lag
eine Strafanzeige vor. Er war im letzten Jahr als Geheimdienstchef von Usbekistan auf Einladung der Bundesregierung in Deutschland. Das ist ein Skandal. Wir müssen
dafür sorgen, dass in der Strafprozessordnung die Mängel beseitigt werden und dass der Generalbundesanwältin endlich die personellen Ressourcen für die Ermittlung in diesen Fällen zur Verfügung stehen, damit sich
so etwas nicht wiederholt. Menschenrechtsverletzer
müssen, wenn sie unsere Grenzen überschreiten, in
Deutschland festgenommen, angeklagt und vor Gericht
gestellt werden.
({11})
Wir diskutieren gerade wieder über „Atalanta“ und
über die Frage, was eigentlich bei Bundeswehreinsätzen
im Ausland gilt. Ich denke, wir brauchen dringend ein
Gesetz, das regelt, wie die menschenrechtlichen Standards der EMRK bei solchen Auslandseinsätzen durch
die Soldaten und Bundespolizisten angewandt werden
müssen. Für mich ist ganz klar: Wenn man jemanden
festhält, bei dem dringender Tatverdacht der Piraterie
besteht, dann muss er vor Gericht gestellt oder freigelassen werden. Solange wir keine Möglichkeit haben, ihn in
ein Land zu überstellen, von dem wir wissen, dass dort
die EMRK beachtet wird, dass also rechtsstaatliche Verfahren eingehalten werden sowie keine Folter und keine
Todesstrafe drohen, so lange muss er vor deutsche Gerichte gestellt werden.
Herr Kollege Beck, Sie müssen zum Schluss kommen.
Eine letzte Bemerkung.
Volker Beck ({0})
Die Bundesregierung arbeitet gerade mit Kenia an einem Abkommen zur Überstellung. Ich erwarte, dass die
Bundesregierung den Mitgliedern des Menschenrechtsausschusses, des Auswärtigen Ausschusses und des
Rechtsausschusses Rede und Antwort steht, wie in diesem
Abkommen gewährleistet ist, dass die Menschenrechte,
die in der Europäischen Menschenrechtskonvention dokumentiert sind, ohne ein Jota Abzug gewährleistet sind.
Wenn sie gewährleistet sind, kann man überstellen; dann
ist das so korrekt. Aber wenn sie nicht gewährleistet
sind, dann geht es einfach nicht. In diesem Falle haben
wir das Problem selbst zu schultern.
({1})
Angelika Graf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Knoche, ich muss zunächst auf Ihren Redebeitrag
zurückkommen. Ich ärgere mich jedes Mal darüber, dass
die Linke Anträge zu Menschenrechtsfragen stellt, aber
dann, wenn diese Anträge in unserem Ausschuss bearbeitet werden, nicht anwesend ist. Wir unternehmen Reisen und besuchen Gefängnisse. Ihre Kollegen nehmen
daran aber nicht teil. Ich glaube, dass Sie hier kein Recht
haben, irgendetwas zum Thema Menschenrechtspolitik
bzw. zur Arbeit im Menschenrechtsausschuss zu sagen,
wenn sich Ihre Fraktionskollegen dieser Arbeit entziehen.
({0})
Der Kollege Haibach hat schon angesprochen, dass
wir im Zusammenhang mit dem Achten Bericht der
Bundesregierung über die Menschenrechtspolitik ein
breites Themenspektrum bearbeiten. Erlauben Sie mir,
dass ich nur ein paar Schlaglichter auf die Bereiche „Gewalt an Frauen“ und „Integration“ werfe.
Mir fällt sehr positiv auf, dass der Bericht anerkennt,
dass Frauen aufgrund ihrer innergesellschaftlichen geschlechtsspezifischen Diskriminierung von negativen
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und klimatischen
Entwicklungen ganz besonders betroffen sind. Wer sieht
denn nicht vor seinem geistigen Auge diese endlosen
Flüchtlingsströme von Frauen mit ihren Kindern in Afrika
und in anderen Krisenherden der Welt?
Wir wissen, dass die aktuelle Wirtschaftslage insbesondere für die Frauen in den Entwicklungs- und
Schwellenländern viel Elend mit sich bringen wird. In
dieser Woche haben die Ausschussvorsitzende und ich
ein Gespräch mit Vertretern von OCHA geführt. Wir machen uns zwar viele Gedanken über die Folge dieser
Krise für uns. Wir denken dabei aber viel zu wenig darüber nach, wie wir mit den Auswirkungen auf die Entwicklungs- und Schwellenländer umgehen wollen. Ich
denke, daran müssen wir wirklich arbeiten.
({1})
Im Achten Menschenrechtsbericht werden Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen insbesondere unter dem Aspekt „Gewalt gegen Frauen“ betrachtet. Das schließt die Themen ein, mit denen sich
unser Ausschuss und der Frauenausschuss in den letzten
vier Jahren mehrfach intensiv beschäftigt haben, zum
Beispiel den angesprochenen Frauenhandel zum Zwecke
der Zwangsprostitution, Zwangsverheiratungen oder Genitalverstümmelungen.
Lobenswert ist der Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Mögliche Mehrfachdiskriminierungen werden darin erkannt.
In diesem Zusammenhang wird auch erwähnt, dass
Frauen mit Migrationshintergrund und Frauen mit Behinderung oft in einer sehr schwierigen Lage und häufig
von Diskriminierung betroffen sind. Ich finde es positiv,
dass die seit Jahren bestehende Bund-Länder-Kooperation zu den Themen häusliche Gewalt und Frauenhandel
auch in den letzten Jahren fortgeführt wurde. Löblich ist
ebenso das internationale Engagement der Bundesregierung auf EU-Ebene mit Daphne III, auf VN-Ebene - insbesondere mit der Resolution zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen - und in der OECD.
Die Erwähnung von CEDAW, also der Konvention
gegen jegliche Form von Gewalt gegen Frauen, des von
der Bundesregierung vor dem VN-CEDAW-Ausschuss
vor vier Wochen in Genf abgegebenen sechsten Staatenberichts und der vielen kritischen Anmerkungen, die an
die Adresse des BMFSJ gerichtet wurden, darf an dieser
Stelle nicht fehlen. Das war heute früh, in der Frauendebatte, ein Thema. Ich wiederhole hier meine Forderung,
mehr für die Durchsetzung des Gender-MainstreamingPrinzips auf nationaler Ebene zu tun. Ich bedanke mich
ausdrücklich bei Heidemarie Wieczorek-Zeul dafür,
dass sie Gender-Mainstreaming für ihr Ministerium
zum Prinzip erklärt hat und sie das Thema GenderMainstreaming weiterhin mit Verve bearbeitet.
({2})
Ich habe einleitend das Thema „Integration unter
frauenspezifischen Aspekten“ gestreift. In manchen ausländerspezifischen Bereichen fehlen uns nach wie vor
Erkenntnisse und statistisches Material. Die Bundesregierung, insbesondere die Migrationsbeauftragte, Frau
Dr. Böhmer, hat sich zusammen mit Brigitte Zypries
darum bemüht, dass Frauenthemen sowohl beim Integrationsgipfel besprochen als auch in den Nationalen Integrationsplan aufgenommen wurden. Aufklärung, Beratung und Betreuung der potenziell Betroffenen und ihrer
Umgebung sind sehr wichtig. Hier sind die Bundesländer gefordert. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei den Hilfsorganisationen bedanken, die in
diesen Bereichen auf nationaler und internationaler
Ebene arbeiten.
({3})
Menschenrechtspolitik ist Querschnittspolitik und
Schnittstellenpolitik. Es besteht zum Beispiel eine
Schnittstelle zwischen der Innen- und der Außenpolitik.
Angelika Graf ({4})
Unter dem Vorzeichen „Frauen vor Gewalt schützen“
und dem Stichwort „Schutz für Flüchtlinge, die schon
lange bei uns leben“ haben wir insbesondere über die
Umsetzung der aufenthalts- und asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union kritisch und auch in der
Koalition manchmal sehr kontrovers diskutiert.
Wie komplex die Materie ist, möchte ich an einem
Beispiel verdeutlichen, an der Bleiberechtsregelung. Die
SPD hat sich sehr darüber gefreut, dass wir es geschafft
haben, die Einführung eines Aufenthaltsrechts auf Probe
für diejenigen Geduldeten durchzusetzen, die seit mindestens sechs Jahren in Deutschland sind. Davon sind
etwa 110 000 Menschen betroffen. Etwa 70 000 von ihnen haben inzwischen eine Aufenthaltserlaubnis beantragt. 40 000 Menschen bleiben übrig. Die Frist für die
Anmeldung zu diesem Verfahren läuft in wenigen Monaten aus. Die Frage ist, was wir dann tun werden. Was
passiert mit diesen Menschen? Ich denke, wir müssen
uns noch vor der Wahl Gedanken darüber machen, wie
wir mit dieser Frage umgehen.
({5})
Problematisch am EU-Richtlinienumsetzungsgesetz
ist die Frage des Rückkehrrechts, zum Beispiel bei durch
Zwangsverheiratung ins Ausland verschleppten Personen. Darüber haben wir hier mehrfach und sehr kontrovers diskutiert. Ich möchte diese Diskussion nicht wiederholen; ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen,
dass es unerträglich ist, dass Frauen nach sechs Monaten
Abwesenheit infolge einer Zwangsverheiratung, einer
sogenannten Ferienverheiratung, nicht mehr nach
Deutschland zurückkehren können.
({6})
Sie verlieren ohne eigene Schuld ihren Aufenthaltsstatus. So sind sie doppelt bestraft. Sie brauchen Hilfe. Ich
gebe die Hoffnung nicht auf, dass sich diese Einsicht
auch bei unserem Koalitionspartner noch vor der Wahl
durchsetzen könnte.
Bei den Fragen der Aufenthaltsmöglichkeit von nach
Deutschland verschleppten Personen, zum Beispiel bei
Opfern von Zwangsprostitution und Arbeitsausbeutung,
hat das oben erwähnte Gesetz ebenfalls keine Verbesserungen gebracht. Hier muss es, denke ich, insbesondere
für Personen, die bereit sind, in einem Strafprozess auszusagen, Verbesserungen geben.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte schnell zum Ende
kommen.
Ich komme gleich zum Ende. Ich möchte nur noch ein
kurzes Wort zu dem Antrag der Grünen, zur Lage der
Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und
Transgendern sagen. Lieber Kollege Beck, ich finde, es
ist ein guter Antrag. Meine persönliche Zustimmung haben Sie. Aber Sie wissen, wie es in einer Koalition ist:
Man ist an die Koalitionsdisziplin gebunden.
({0})
Deswegen werden wir diesem Antrag leider nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Hartwig Fischer hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich halte die Art und Weise,
in der Frau Knoche hier vorgetragen hat, für eine Zumutung und für selbstgerecht.
({0})
Wenn Sie durch den Ausgang Ost des Reichstages und
dann nach links gehen, sehen Sie zwischen dem PaulLöbe-Haus und dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus sieben Kreuze, und wenn Sie durch den Ausgang Ost und
dann nach rechts gehen, sehen Sie 13 Kreuze für Menschen, die an der innerdeutschen Grenze aufgrund des
Schießbefehls und des Todesstreifens gestorben sind.
({1})
Wenn Sie in dieser Zeit über die Begriffe Rechtsstaat
und Unrechtsstaat in Ihrer Fraktion diskutieren, dann
kann ich nur sagen: Sie haben nicht den Anspruch, mit
dem Sie hier angetreten sind, über Menschenrechtsfragen zu diskutieren.
({2})
Herr Beck, Sie haben eben die Verhandlungen mit
Kenia und die Frage der Piraterie angesprochen. Ich
glaube, Sie sind nicht richtig informiert. Es ist keine
deutsche, sondern eine europäische Frage, die von
Tschechien im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft
rechtlich zu klären ist und derzeit geklärt wird. Insoweit
können wir den Punkt verlassen.
({3})
Über den Menschenrechtsbericht mit der Drucksachennummer 16/10037 sollte nicht nur im Bundestag
diskutiert werden, sondern vielleicht auch einmal an unseren Schulen und in gesellschaftlichen Gruppen,
({4})
Hartwig Fischer ({5})
weil er in den vielen Kapiteln deutlich macht, welche
Menschenrechtsverletzungen an vielen Stellen auf dieser
Welt, aber auch noch in Europa, geschehen. Schwerpunkte deutscher Menschenrechtspolitik sind zusammen
mit Maßnahmen aufgelistet. In Kap. 1 steht zum Beispiel, wo es die Todesstrafe gibt, wo es Folter gibt, wo es
Diskriminierung gibt und wie wir das in Verhandlungen
des Entwicklungsministeriums einbeziehen.
In Kap. 2 geht es um Armutsbekämpfung und Menschenrechte. Ich wiederhole hier, was ich schon oft gesagt habe. Immer noch sterben täglich 30 000 Kinder an
mangelndem oder schlechtem Wasser, an mangelnder
Ernährung und Ähnlichem. 970 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze von 1 Dollar pro Tag.
In Kap. 4 „Menschenrechte von Kindern“ kann man
sich über die Situation informieren: über die nationalen
Maßnahmen, aber auch die internationalen Maßnahmen,
über Kinder in bewaffneten Konflikten, über Gewalt gegen Kinder, über Kinderhandel, Kinderprostitution und
Kinderpornografie, über Kinderarbeit, Kinderarmut und
darüber, was wir mit den Durchführungsorganisationen
wie UNICEF oder auch mit der EU gemeinsam tun.
Teil C befasst sich mit Menschenrechten weltweit und
dem Brennpunkt „Weibliche Genitalverstümmelung
weltweit“. Ich weise bewusst auf Folgendes hin, weil
diese Sitzung von Phönix übertragen wird: Wenn Sie
sich diesen Bericht von meiner Homepage oder der Homepage der Bundesregierung herunterladen, schauen Sie
sich einmal Seite 145 an. Weltweit sind 140 Millionen
Frauen und Mädchen Opfer von Genitalverstümmelung.
Jährlich gibt es 3 Millionen neue Opfer. Allen Ausprägungen der Praxis ist gemein, dass sie irreversibel sind
und die Frauen psychisch und physisch ihr Leben lang
darunter leiden. Über diese Fragen müssen wir in unserer Gesellschaft diskutieren. Schließlich werden wir immer wieder gefragt, wofür wir unsere Mittel einsetzen.
({6})
Herr Nooke, ich danke Ihnen und der Regierung insgesamt für die umfassenden Darstellungen im Menschenrechtsbericht. Ich bitte Sie ganz herzlich, dazu beizutragen, dass wir nach der nächsten Bundestagswahl
das nächste Kapitel beim Thema Menschenrechte aufschlagen können. Viele von Ihnen wissen, dass mir dies
ein besonderes Anliegen ist.
Zufällig habe ich von einem angeblich unschuldig
Verurteilten in Ruanda gehört. Ich habe mich dieses Falles angenommen und diesen Häftling, als ich in Ruanda
war, besucht. Ich konnte erreichen, dass drei Jahre später, im Jahr 2005, seine Unschuld festgestellt wurde, und
das, nachdem er fast zehn Jahre gesessen hatte, ohne
dass es überhaupt zur Anklage gekommen ist. Das hatte
mit dem Rechtssystem und mit Genozid in Ruanda zu
tun.
Damals besuchte ich zum ersten Mal ein Gefängnis.
Seitdem ist ein Gefängnisbesuch Bestandteil meiner Reisen in Entwicklungsländer. Ich bin dankbar, dass die
Mitglieder aller anderen Fraktionen das inzwischen genauso handhaben. Es ist unvorstellbar, was man in machen Ländern erlebt.
Meine Damen und Herren, ich stehe hier an einem
Rednerpult, das ungefähr 60 Zentimeter breit ist. Wir haben einmal ein Gefängnis besucht, in dem eine Zelle
nicht nur 60 Zentimeter breit, sondern auch nur
60 Zentimeter hoch war. In einer solchen Zelle kann man
nur liegen. Bis vor drei Jahren musste sich ein Häftling
eine solche Zelle zum Schlafen mit drei weiteren Personen teilen, heute noch mit zwei. Die Häftlinge dürfen
ihre Zelle verlassen. Wenn sie das tun, kommen sie in einen Raum, der etwa 200 Quadratmeter groß ist.
Wir haben Gefängnisse gesehen, in denen eine dreibis vierfache Überbelegung herrschte, wir haben gesehen, dass dieser Gefängnisbau im Jahre 1919 errichtet
war. Wir haben zum Tode verurteilte Frauen, die wegen
eines Gerichtsurteils in ihrem Land nicht mehr hingerichtet werden durften, in ihren Zellen besucht. Sie waren in Zellen untergebracht, die ihnen eine Breite von
60 Zentimetern zum Schlafen ließen. Vier Frauen mussten auf dem Betonfußboden liegen, drei nebeneinander
und eine quer. Ihre Zellen waren 1,80 Meter mal
2,40 Meter groß und hatten nur ein kleines Fenster. Die
Zellen durften zwischen 8 Uhr und 17 Uhr verlassen
werden. Danach wurden die Frauen dort eingeschlossen.
In den Ländern, von denen ich spreche, herrschen zum
Teil Temperaturen von 35 oder 40 Grad Celsius. Außerdem steht den Häftlingen zur Verrichtung ihrer Notdurft
nur ein einziger Topf zur Verfügung. Sie können sich sicherlich vorstellen, was in einer solchen Zelle los ist.
Ich bitte Sie ganz herzlich - diese Bitte richtet sich
auch an das Auswärtige Amt -, dafür zu sorgen, dass
solche Gefängnisse von Vertretern unserer Botschaften
nicht nur dann besucht werden, wenn dort einmal ein
Deutscher oder ein Europäer, den wir betreuen, inhaftiert
ist. Vielmehr muss es ständig zu unseren Aufgaben gehören, auf eine Verbesserung der Zustände in den Gefängnissen hinzuwirken. Ich glaube, dass man vom Blick
in ein Gefängnis auf den Zustand der Regierung im jeweiligen Land schließen kann.
({7})
Lassen Sie mich darauf hinweisen, dass einige Kollegen gemeinsam ein solches Gefängnis besucht haben.
Wir haben den Insassen versprochen, sie in Zukunft wieder zu besuchen. Bei unserem Besuch hatten wir die
Möglichkeit, zu 400 Gefangenen zu sprechen. Als wir
sie fragten, ob sie geschlagen werden bzw. was mit ihnen
geschieht, traten einige von ihnen vor und berichteten
uns. Wir haben zu ihnen gesagt: Geben Sie uns bitte Ihre
Namen und Ihre Nummern. Ein Kollege von uns wird
Sie bald wieder besuchen und sich nach Ihnen erkundigen. - Zuerst waren wir mit dem Ausschuss dort, ein
halbes Jahr später hat der Kollege Vaatz das Gefängnis
besucht, und einige Zeit später waren wir wieder dort.
Die Situation in diesem Gefängnis ist zwar noch nicht
optimal, hat sich aber verbessert. Die Häftlinge wissen,
dass sie auf der Welt ein Sprachrohr haben.
Hartwig Fischer ({8})
Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus einem anderen
Land nennen, nämlich aus Angola. Die Verhältnisse waren dort verheerend. Wir haben festgestellt, dass man in
Angola mit den Budgetmitteln anderer Länder ein nagelneues Gefängnis gebaut hat, das, wenn es auch nicht mit
unseren Gefängnissen zu vergleichen ist, über fast optimale Voraussetzungen verfügte. Zwar sind dort auch
heute noch 30 Häftlinge pro Schlafsaal untergebracht,
aber er verfügt über vernünftige Betten und ist klimatisiert. Außerdem gibt es dort Werkstätten, in denen die
Häftlinge arbeiten, mit dem Anspruch, sie nach erfolgreicher Rehabilitation wieder ins gesellschaftliche Leben
zu entlassen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie,
dieses Thema auch in Zukunft im Menschenrechtsbericht und in unseren Verhandlungen zu berücksichtigen.
Menschenrechte sind für uns nicht teilbar.
Lassen Sie mich zum Schluss auf Sie, Herr Beck, zurückkommen: Ich bin froh, dass wir eine Kanzlerin haben, die gegenüber Putin den Tschetschenien-Konflikt
angesprochen hat, die gegenüber Bush Guantánamo thematisiert hat und die in China das Thema Menschenrechtsverletzungen angesprochen hat. Damit hat sie
deutlich gemacht, dass manche Leute keine lupenreinen
Demokraten sind.
({9})
Johannes Jung spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir sind am Ende der Menschenrechtsdebatte.
Es ist gut, dass wir anlässlich des Achten Berichts der
Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik diese
Debatte führen. Es wurde weitgehend fraktionsübergreifend festgestellt, dass sich mit diesem Bericht gut arbeiten lässt und dass er kaum - wenn überhaupt: wenig Versäumnisse aufweist.
Auch ich möchte zunächst auf die Arbeit im Menschenrechtsausschuss zu sprechen kommen. Der geschätzte Kollege Volker Beck gibt uns immer wieder Gelegenheit zu qualitativ hochwertigem Disput. Von
diesem wechselseitigen Miteinander lebt die Arbeit im
Ausschuss, aber auch hier im Plenum. Lieber Kollege
Beck, ich habe mir in dieser Debatte, man muss es so sagen, ein Lob von Ihnen eingefangen; aber das war nur
vordergründig ein Lob. Die finstere Absicht war, mit
diesem Lob eine Spaltung der Koalition bzw. Widersprüche in der Arbeit der Koalition aufzuzeigen. Dieser Versuch schlägt natürlich fehl: So etwas wird hier entschieden zurückgewiesen.
({0})
Ich begründe kurz, warum. Selbstverständlich gibt es
zwischen CDU/CSU und SPD erhebliche Unterschiede
in den Auffassungen zu Außenpolitik und Menschenrechten. Das ist logisch. Es muss doch einen Grund haben, warum die einen Konservative und die anderen Sozialdemokraten sind. Es wäre schlimm, wenn die
Unterschiede nicht mehr erkennbar wären. Aus dem Vorhandensein von Unterschieden allerdings zu konstruieren, dass die Bundesregierung nicht handlungsfähig sei
oder dass es Versäumnisse in der Menschenrechts- und
Außenpolitik gebe, ist abwegig, lieber Kollege Beck.
({1})
Zweiter Punkt, Guantánamo. Wir sind alle sehr erfreut, dass Präsident Obama handelt, dass den Ankündigungen Taten folgen. Etliche von uns, auch ich, hatten
auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Gelegenheit,
zu hören, was Vizepräsident Joe Biden zu diesem Thema
zu sagen hatte. Er hat in München selbstverständlich, unverblümt und direkt angesprochen, worüber wir heute
auch diskutieren: Ist die Bundesrepublik Deutschland
bereit, Insassen aus Guantánamo aufzunehmen?
Ich habe an dieser Stelle oft genug betont: US-Gerichte haben - völlig im Einklang mit amerikanischen
Werten und mit dem, was wir die westlichen Werte nennen - beständig und zunehmend gegen die Praxis in
Guantánamo, gegen die menschenrechtswidrige Politik
der US-Administration unter George W. Bush geurteilt.
Genau deshalb ist Guantánamo exterritorial und nicht in
den USA errichtet worden.
Nun kommen wir zu dem Punkt, in dem wir uns vom
Koalitionspartner entscheidend abheben. Die Insassen
von Guantánamo, die, wie sich bei der Prüfung gezeigt
hat, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und so
fälschlicherweise unter Verdacht geraten und unschuldig
inhaftiert worden sind, sind nicht freiwillig dort, wollten
niemals in die USA. Es ist ihnen keineswegs zuzumuten,
ihre Zukunft in einem Land zu verbringen, dessen Regierung sie rechtswidrig irgendwo auf der Welt aufgeklaubt und verschleppt hat. Diesen Leuten muss geholfen werden.
({2})
Nach wie vor unzufrieden sind wir damit, dass auch
die neue US-Administration eine unklare Haltung zu den
Extraordinary Renditions hat. Es ist untragbar, dass hier
keine Klarheit geschaffen wird. Diese Praxis muss beendet werden. Es kann nicht sein, dass Gefängnisse irgendwo auf der Welt aufgefüllt werden mit Bürgerinnen
und Bürgern anderer Staaten und diesen möglicherweise
Ähnliches widerfährt wie den Menschen, um die wir uns
gerne kümmern wollen, wenn wir dazu aufgefordert
sind.
({3})
Joe Biden hat in München den schönen Satz gesagt:
Es wird keinen Konflikt zwischen unseren Werten und
unserer Politik geben. - Das ist etwas, worin sich die
neue Administration von ihrer Vorgängeradministration
fundamental unterscheidet. Das muss ernst genommen
werden.
Johannes Jung ({4})
Ich habe in Anbetracht der Zeit nur noch Gelegenheit,
zwei Themen kurz anzuschneiden. Das erste ist der Bereich der Menschenrechte und unserer Werte in der
Außenpolitik. - Herr Fischer, ich glaube nicht, dass es
einer Bundeskanzlerin Frau Merkel bedurft hat, um dieses Thema ernst zu nehmen, nirgendwo auf der Welt,
({5})
nicht im Umgang mit arabischen Staaten, nicht im Umgang mit ehemals sozialistischen Staaten und ihren Regierungen.
({6})
Ich bin davon überzeugt, dass die Sozialdemokratie sehr
genau weiß, worauf es dabei ankommt. Das sind auch
die Gründe, weswegen ich Sozialdemokrat geworden
bin. Dies sei in aller Deutlichkeit gesagt.
Das zweite Thema. In den letzten Jahren ist es im
Deutschen Bundestag Usus geworden, quer durch alle
Fraktionen klare Aussagen zum Thema Visaregime, Erleichterung der Visumerteilung und der Visumvergabe für
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aus europäischen Staaten zu treffen. Ich appelliere an dieser Stelle, zum Ende
dieser Debatte und meiner Redezeit, erneut an alle, die
hierfür im Deutschen Bundestag und in den Ministerien
Verantwortung tragen, auf diesem Gebiet den Worten
wirklich Taten folgen zu lassen, damit wir es in absehbarer Zeit schaffen, die dafür notwendigen Änderungen zu
erreichen.
({7})
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich recht
herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und glaube, dass wir
mit der Arbeit im Menschenrechtsausschuss auf einem
guten Weg sind. Auch dieser Achte Bericht beweist, dass
dieses Thema von der Bundesregierung ernst genommen
wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/11982 zu dem Achten Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen
Beziehungen und in anderen Politikbereichen. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung auf
Drucksache 16/10037, eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12136.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist gegen die Stimmen der Fraktionen der FDP und Die
Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 16/10282. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/7137 mit dem Titel „Völkerstrafgesetzbuch
wirksam anwenden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7734 mit dem Titel
„Für eine verbesserte Zusammenarbeit deutscher Behörden bei der Verfolgung von Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zu ihrer Großen Anfrage mit dem Titel „Zur Lage der
Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen
und Transgender“; das sind die Drucksachen 16/2084,
16/2800, 16/9651 und 16/11972. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
der FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke angenommen.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Für klare menschen- und völkerrechtliche Bindungen
bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11979, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/8402 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Eine
kohärente und konsistente Menschenrechtspolitik gegenüber China entwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11980, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9422 abzulehnen. Wer stimmt für die BeschlussVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
empfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Menschenrechte
von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und
Intersexuellen weltweit sicherstellen - Yogyakarta-Prinzipien unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11981, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/9603 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Aufnahme von
Gefangenen aus Guantánamo Bay ermöglichen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12144, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11759 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Die
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10613, 16/11186 und 16/12107 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden.
Dann werden wir so verfahren.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolf
Bauer, Dr. Christian Ruck, Ingrid Fischbach,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe,
Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Hunger und Armut in Entwicklungsländern
durch die Förderung von ländlicher Entwicklung nachhaltig bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Ulrike Höfken, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Ursachen des Hungers beseitigen - Die
ländliche Entwicklung fördern
- Drucksachen 16/11053, 16/11203, 16/11973 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf Bauer
Dr. Karl Addicks
Thilo Hoppe
Hierzu ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und rufe den Kollegen
Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion auf.
({1})
Frau Vorsitzende! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Frau Präsidentin! Ja. Ehre, wem Ehre gebührt. Dann
soll sie auch so genannt werden.
Wir behandeln heute ein wichtiges Thema und einen
wichtigen Antrag der Koalitionsfraktionen, über den wir
heute in zweiter Lesung diskutieren. Ich glaube, es geht
um das zurzeit vielleicht drängendste und wichtigste
Thema auf der Welt. Das sage ich mit vollem Bewusstsein so, auch wenn wir in Deutschland nur auf unsere
Probleme - Stichwort: Finanzmarktkrise - schauen. Wir
müssen aber sehen, dass es nach der Nahrungsmittelkrise in den Entwicklungsländern jetzt auch die Finanzund Wirtschaftskrise bei den ärmsten Menschen gibt.
Wir reden über die Bekämpfung von Hunger und Armut
in den ländlichen Räumen, über Regionen, in denen drei
Viertel der weltweit 1 Milliarde hungernden Menschen
leben. Hinzurechnen muss man noch diejenigen, die in
die Städte flüchten. Denn die, die aus Hunger vom Land
in die Stadt flüchten, vergrößern dort die Probleme in
den Slums, Favelas bzw. Armenvierteln.
Deswegen ist der Antrag von entscheidender Bedeutung im Zusammenhang mit dem Jahrtausendziel der Vereinten Nationen, den Anteil der Hungernden und Armen
bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Ich freue mich, dass wir
heute einen Antrag präsentieren können, mit dem wir die
ländliche Entwicklung stärken und fördern möchten und
in den auch die Ergebnisse einer kürzlich im Deutschen
Bundestag durchgeführten Anhörung einfließen. Die
Anhörung hat im Wesentlichen das bestätigt, was wir
schon im letzten Jahr zur ersten Beratung gesagt haben.
Wir müssen den etwa 400 Millionen kleinbäuerlichen
Betrieben mit weniger als 2 Hektar pro Betrieb bessere
Chancen geben. Deshalb ist es gut und richtig, dass die
Bundesregierung die Ausgaben für ländliche Entwicklung für 2008 auf 600 Millionen Euro erhöht hat, damit
sich durch die Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung die Chancen der Menschen verbessern.
Die ländliche Entwicklung stellt für uns einen breiten
Ansatz dar. Das wird auch in unserem Antrag deutlich.
({1})
Es geht eben nicht allein darum, einem armen Menschen
die berühmte Schaufel in die Hand zu drücken. Wir wollen
vielmehr, dass sich die Wertschöpfungskette insgesamt
verbessert und auch in anderen Sektoren Fortschritte erzielt werden. Denn eines ist auch klar: Wir werden auf die
Dauer nicht 9 Milliarden Menschen dadurch ernähren
können, dass jeder subsistenzorientiert Landwirtschaft
betreibt. Vielmehr werden wir dort auch mit wirtschaftlichen Betriebsgrößen Wertschöpfung erreichen müssen,
({2})
auch in der verarbeitenden Industrie, was dann zu einer
Dienstleistungsindustrie und zur Entwicklung des Mittelstands auch im ländlichen Raum führt. Dabei sind
viele Bereiche - zum Beispiel Bildung und Gesundheit wichtig.
Wir haben auch mit unserem Engagement für die sozialen Sicherungssysteme im ländlichen Raum etwas auf
den Weg gebracht. Denn ein Grund, warum Menschen
dort leiden und sterben, selbst wenn sie ein wenn auch
kleines Einkommen haben, ist, dass es zu lange dauert,
bis sie zum Beispiel bei einem Blinddarmdurchbruch den
nächsten Arzt oder das nächste Krankenhaus erreichen. Es
fehlen Transportwege. Es fehlt Infrastruktur. Es fehlen
Krankenhäuser. Insofern sind zum Beispiel Krankenversicherungssysteme auch für arme Menschen ein sehr wichtiger Punkt.
Die Redner der Opposition können sicherlich zu
Recht fragen, warum wir nicht schon vor fünf oder sechs
Jahren mehr Geld in den ländlichen Raum investiert haben, wenn das alles so wichtig ist.
({3})
Sicherlich haben die internationale Gebergemeinschaft
ebenso wie die Entwicklungsländer selbst den ländlichen
Raum in den letzten Jahren vernachlässigt. Man muss
aber auch nach den Gründen fragen. Was hätte es gebracht, wenn wir noch mehr Mittel in die Landwirtschaft
vor Ort gesteckt hätten?
Viele Entwicklungsländer haben sich früher selbst ernährt, indem sie Landwirtschaft betrieben und ihre lokalen
Märkte versorgt haben. Durch die Marktöffnungen, zu
denen sie zum Teil gezwungen waren, sind verstärkt
subventionierte Produkte zu Dumpingpreisen in diese
Länder eingeführt worden. Wenn die Menschen ihre
Milch oder Hühner nicht mehr auf den lokalen Märkten
verkaufen konnten, hat es aber für sie keinen Sinn mehr
gemacht, beispielsweise noch mehr auf Hühnerfarmen
und -zuchten oder Milchwirtschaft zu setzen.
Deswegen war es richtig, dass in der Entwicklungszusammenarbeit nach anderen Möglichkeiten der Hilfe und
Förderung gesucht wurde. Die Krise ist auch dadurch
entstanden, dass aus ehemals selbstversorgenden Ländern Nahrungsmittelimporteure geworden sind, die
durch die höheren Preise in Schwierigkeiten geraten
sind. Ich glaube deshalb, dass es sehr wichtig ist, die
Krise auch dahin gehend als Chance zu sehen, dass es
sich wieder lohnt, in den ländlichen Raum zu investieren, wenn für Agrarprodukte auf Dauer wieder höhere
Preise gezahlt werden. Deswegen ist, glaube ich, jetzt der
richtige Zeitpunkt, im Sinne unseres Antrags dort aktiv zu
werden und massiv in den ländlichen Raum zu investieren.
Dafür müssen aber die Rahmenbedingungen stimmen.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Wirtschaftsbedingungen innerhalb der Welthandelsorganisation davon
geprägt sind, dass Dumpingexporte die Märkte stören.
Deshalb müssen wir auch in der WTO zu einem entwicklungsorientierten Abkommen gelangen. Das bedeutet, dass die Exportsubventionen schnellstmöglich abgeschafft werden müssen. Daher passt es überhaupt nicht
ins Bild, dass die Europäische Union wieder Subventionen für Milchexporte - auch in Entwicklungsländer zahlen möchte. Meine Kollegin Frau Schieder wird
gleich darauf etwas ausführlicher eingehen. Nur so viel:
Es ist wirklich ein Skandal, dass wir mit unserem Milchpulver wieder Märkte kaputt machen. Es gibt den Slogan
„Die Milch macht’s“. Aber subventionierte Milch macht
einfach nur viel kaputt, nämlich die Existenz von Kleinbauern. Das müssen wir verhindern.
({4})
Es gibt neue Herausforderungen, denen wir uns im
Rahmen der ländlichen Entwicklung stellen müssen.
Ackerland steht auf der Welt nicht unbegrenzt zur Verfügung. Momentan sichern sich arabische Ölstaaten, aber
auch südkoreanische Autofirmen mit massivem Mitteleinsatz riesige Ländereien in Entwicklungsländern, reißen sie sich regelrecht unter den Nagel, um dort Nahrungsmittel anzubauen und diese dann in die eigenen
Länder zu exportieren oder sie für Biotreibstoffe zu verwenden. Das hat in Madagaskar zu einer kritischen Situation und - zu Recht - zu Unruhen geführt. Wir kommen
hier mit den bisherigen Mitteln nicht weiter. Mit ihnen
können wir das nicht verhindern. Es gibt dafür kein internationales Regelwerk. Deswegen unterstütze ich sehr
stark unsere Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, die
die Einrichtung eines UN-Sicherheitsrats für ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung fordert, der
solchen sittenwidrigen Geschäften Einhalt gebietet. Wir
werden zudem darauf achten müssen, wie China Politik
in Afrika betreibt; denn es kann nicht sein, dass wieder
ein Kolonialismus stattfindet, in dessen Rahmen sich
viele Länder Rohstoffe zulasten der ärmsten Bevölkerung in den Entwicklungsländern sichern.
Ein anderes Problem sind die Spekulationen mit Nahrungsmitteln und anderen Agrarprodukten an den Warenterminbörsen. Dafür müssen wir als Konsequenz der
internationalen Finanzmarktkrise neue Regeln schaffen.
Unsere Mütter haben uns als Kindern immer gesagt: Mit
Lebensmitteln spielt man nicht. Ich sage: Mit Lebensmitteln spekuliert man auch nicht; denn man spekuliert
nicht mit dem Leben der ärmsten Menschen dieser Erde.
({5})
Wir brauchen ein Investitionsprogramm für Entwicklungsländer, und zwar insbesondere für den ländlichen
Raum. Deshalb ist es richtig, dass wir der Weltbank für
den Infrastrukturfonds 100 Millionen Euro im Rahmen
des Konjunkturpakets II zur Verfügung gestellt haben.
Wir müssen noch mehr Geld zur Verfügung stellen, um
unseren Verpflichtungen nachzukommen und die sogenannte ODA-Quote einzuhalten; denn Entwicklungsländer haben nicht die Spielräume, die wir zum Teil haben,
um Konjunkturprogramme aufzulegen. Sie brauchen
jetzt unsere Hilfe. Wir sollten lieber Bauern in den Entwicklungsländern bei ihren Äckern helfen, als den
Ackermännern in Deutschland immer höhere Renditen
hinterherzuwerfen.
({6})
Ich bin der Meinung, dass wir mit dem Antrag der
Koalition einen wesentlichen Schritt nach vorne machen
können. Ich glaube, es gibt eine große Mehrheit im Ausschuss für die wesentlichen Teile unseres Antrags. Sicherlich wird mancher in der Debatte sagen, das hätte
man an der einen oder anderen Stelle schärfer formulieren können. Aber ich glaube, dass unser Antrag selbstkritisch und zugleich nach vorne gewandt ist. Wenn es
um die Bekämpfung des Hungers in der Welt geht, sollten wir parteiübergreifend zusammenstehen. Deshalb
bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Karl
Addicks das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heute vorgelegten Anträge werden wir leider ablehnen, obwohl Sie unsere Zustimmung erbeten haben.
Trotzdem begrüßen wir, dass die Koalition diese parlamentarische Initiative an den Tag legt, wenn auch spät.
Aber besser spät als nie!
Warum sage ich das? Weil wir von der FDP - das wissen alle Ausschussmitglieder und insbesondere der geschätzte Kollege Raabe - seit Jahren es für eine der
Grundaufgaben der Entwicklungspolitik halten, Basiswertschöpfungsketten und die ländliche Entwicklung in
Gang zu setzen. Denn letztlich hat sich jede Volkswirtschaft so entwickelt, und es gibt überhaupt keinen
Grund, zu glauben, dass das in den heutigen Entwicklungsländern anders ablaufen wird. Irgendwann ist jedes
Land einmal ein Entwicklungsland gewesen - auch wir
hier in Europa, auch in Amerika.
Die Geschichte zeigt - das ist völlig zweifelsfrei -,
dass diese Basiswertschöpfungsketten - Sie haben sie
auch angesprochen - da, wo Menschen mit eigener
Hände Arbeit Produkte hervorbringen, nun einmal am
Anfang jeder Volkswirtschaft stehen. An dieser Erkenntnis kommt niemand vorbei, und ich freue mich darüber,
Herr Kollege Raabe, dass Sie und hoffentlich auch viele
Ihrer Kollegen sich diese Auffassung zu eigen gemacht
haben. Super!
({0})
Diese Basiswertschöpfungsketten beginnen nun einmal im Kleinen, aber es wird nicht dabei bleiben. Sie
werden irgendwann einmal zu größeren Einheiten führen sei es in der Landwirtschaft, im Handel, im Handwerk,
im Gewerbe oder wo auch immer.
Damit komme ich auf den kleinbäuerlichen Betrieb
zu sprechen, den auch Sie angesprochen haben. Natürlich fängt es im ländlichen Raum an. Aber wenn die
Volkswirtschaften der Entwicklungsländer in Zukunft
wachsende urbane Räume - diese haben Sie ebenfalls
angesprochen - ernähren sollen - die Urbanisierung
kommt so sicher wie das Amen in der Kirche; das können wir schon heute an den Bevölkerungswachstumszahlen ablesen -, dann wird es bei der kleinbäuerlichen
1-Hektar-Wirtschaft mit Spaten, mit Hacke und Gießkanne nicht bleiben können.
({1})
- Davon hat der Kollege Raabe gerade auch
gesprochen. - Dabei wird es nicht bleiben können.
Wir sind davon überzeugt, dass es dann auch im ländlichen Raum zu Konzentrationen und zu Mechanisierungen wird kommen müssen, also zum Einsatz von Landmaschinen, zu ausgefeilten Bewässerungstechniken, zu
vernünftiger Gentechnik. Und auch Stickstoffdünger,
lieber Herr Kollege Hoppe, wird dazugehören. Dass
Stickstoff und CO2 in der Landwirtschaft die begrenzenden Faktoren sind, das hat schon der gute alte Justus von
Liebig gewusst, und den wollen wir doch nicht in Vergessenheit geraten lassen, wenn wir über Landwirtschaft
sprechen.
({2})
Manchmal habe ich den Eindruck, Sie schwelgen in
irgendwelchen Träumereien, wenn Sie glauben, dass Sie
mit Mist und Dung und mit Hacke und Schippe eine
wachsende Bevölkerung ernähren können. Wenn man
als Entwicklungsziel ein Ende des Hungers und schließlich auch Wohlstand für alle sieht - das sehen wir Liberalen so; das ist für uns das Ziel jeder Entwicklungspolitik -,
({3})
dann wird man um eine Mechanisierung in der Landwirtschaft nicht herumkommen. Dazu braucht man natürlich vernünftige Betriebsgrößen - das haben Sie auch
zutreffend angesprochen -, also Betriebsgrößen, die den
Einsatz dieser Mechanisierung lohnen. Diese größeren
Einheiten werden entstehen müssen. Das ist klar. Das
zeigt - wie gesagt - die historische Erfahrung, und da ist
auch gar kein Teufelswerk dabei.
Wir sind davon überzeugt: Wenn man das richtig und
entschlossen anstellt - das hat auch der kürzlich vorge22474
stellte Weltagrarbericht so aufgezeigt -, wenn man also
den Zugang zu Land und Krediten sichert, wenn man das
Privateigentum an Land herstellt, wenn man die Eigentumsrechte sichert, wenn man Know-how importiert und
wenn man auch private Investitionen ermöglicht - das ist
ein zartes Pflänzchen, das man an manchen Stellen zu
sehen glaubt -, dann werden auch in Afrika die entsprechenden Fortschritte sichtbar werden.
({4})
Wir meinen dabei durchaus nicht das, was Sie angesprochen haben, Kollege Raabe, nämlich diese „Megageschichten“ wie Daewoo. Daewoo hat schließlich
1,3 Millionen Hektar Land - das sind 4 Prozent der gesamten Landesfläche - in Madagaskar angepachtet, um
Nahrungsmittel zu erzeugen, die letztlich exportiert werden sollen. Davon spreche ich nicht. Das ist etwas ganz
anderes.
Wenn noch überregionale Kooperationen zwischen
den Ländern Afrikas hinzukommen, die dann in der
Lage sind, auf Verschiebungen der Regenzeiten und Regenmengen zu antworten - diese Möglichkeiten sind
heute absehbar, wenn nicht sogar schon vorhanden -,
dann werden die Hungersnöte irgendwann der Geschichte angehören. Davon sind wir überzeugt.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zu den eingebrachten Anträgen sagen. Die Anträge, über die wir heute hier
sprechen, sind an vielen Stellen gut und schön. Es steht
viel Wichtiges und auch viel Richtiges drin, und besonders der Antrag der Großen Koalition ist diesem Thema
ja in großer Breite gewidmet. Fast meint man, hier den
9-Punkte-Plan und den Bericht der Arbeitsgruppe aus
dem Bundeskanzleramt wiederzuerkennen. Das nenne
ich praktizierte Gewaltenteilung. Wir sind da anderer
Auffassung.
({5})
Wir sagen: Umgekehrt wird ein Schuh draus. Lassen
Sie uns als Parlament die Regierung mit unseren Ideen
antreiben. Das wäre der richtige Weg.
Den Kollegen von den Grünen können wir in einem
Punkt zustimmen, nämlich dass ländliche Entwicklung
ein Schlüssel zur Entwicklung ist.
({6})
Sehr richtig, aber damit sind wir leider mit den Gemeinsamkeiten auch schon am Ende. Die Grünen fordern den
Paradigmenwechsel. Den fordern auch wir schon seit
ewig und drei Tagen.
({7})
Aber immer nur mehr Geld zu fordern - mehr Geld ist
sicher nicht das Schlechteste -, ist das alte Paradigma.
Das wollen wir nicht, und das braucht auch keiner; denn
die Erfahrungen haben gezeigt - das wissen auch Sie -,
dass mehr Geld eben nicht mehr Entwicklung und vor allen Dingen nicht weniger Hunger bedeutet.
Ich komme zum Schluss. Wir wollen eine solide Entwicklungspolitik aus einem Guss,
({8})
eine Entwicklungszusammenarbeit, die Volkswirtschaften in Gang und die Menschen in Lohn und Arbeit
bringt. Das geht - auch das sage ich Ihnen immer wieder letztlich nur über eine vernünftige wirtschaftliche Entwicklung; denn das ist die einzige Politik, die in eine
selbsttragende Entwicklung mündet. Alles andere ist und
bleibt ein Herumkurieren an Symptomen. Das haben wir
lange genug gehabt. Lassen Sie uns das in Zukunft anders machen.
Vielen Dank.
({9})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Dr. Wolf Bauer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute zwei Anträge, einen Antrag der
Regierungsfraktionen und einen Antrag der Grünen. Ich
hätte mich riesig gefreut, wenn wir auch einen Antrag
der FDP dabeigehabt hätten. Das wäre ein Zeichen für
das gewesen, was Sie, lieber Kollege Addicks, eben gesagt haben.
({0})
- Ich bin noch nicht lange in diesem Ausschuss, aber
doch einige Jahre, allerdings kann ich mich nicht erinnern, dass Sie einmal initiativ geworden wären.
({1})
- Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie, Herr Kollege Addicks, lediglich 2007 einen Antrag eingebracht,
der in der Hauptsache Afrika zum Inhalt gehabt hat. Darin kam die ländliche Entwicklung nahezu gar nicht vor.
({2})
Das, was Sie uns vorwerfen, ist etwas, was Sie in der Regel vernachlässigt haben.
({3})
Wir wollen mit unseren Anträgen die ländliche Entwicklung wieder in den Fokus unserer Politik stellen.
Wir sind über jeden froh, der uns dabei unterstützt. Wir
haben einen allumfassenden Ansatz. Ich will mich auf
einige Punkte konzentrieren, nämlich auf die Infrastruktur, die bereits angesprochen worden ist, auf Umweltschutz, Energiepolitik usw.
({4})
Es gibt viele Beispiele. Für mich ist Folgendes ausschlaggebend: Wir haben mittlerweile sehr viele Analysen erstellt. Wir gehen auch mit dem Antrag der Fraktion
der Grünen konform. Die Analysen stimmen. Darüber
waren wir uns auch schon im Ausschuss einig.
({5})
- Auch die stimmen. Die unterstützen wir teilweise. Darauf komme ich gleich noch zurück. - Für mich ist wichtig, dass wir jetzt, nachdem wir die Analysen erstellt haben, endlich zur Praxis übergehen und die Erkenntnisse,
die wir gewonnen haben, endlich umsetzen. Dabei ist es
für mich auch wichtig, dass wir unseren Partnerländern
eine Art Katalog vorlegen, in dem steht, was wir alles
leisten können, welche Arbeit wir verrichten können und
welche finanziellen Möglichkeiten wir bieten können.
Dann müssen wir den einzelnen Ländern die Möglichkeit geben, mit uns zusammen Kataloge zu erstellen, anhand derer wir unsere Arbeit ausrichten können. Dabei
halte ich für sehr wichtig, dass wir nicht in erster Linie
unsere Vorstellungen einbringen, sondern dass wir gemeinsam Vorschläge erarbeiten, wie wir für die Bevölkerungen der einzelnen Länder etwas erreichen können.
Meine Aussage, dass wir nicht unbedingt unsere Vorstellungen einbringen sollten, führt mich zu dem Antrag
der Grünen. Wir sollten nicht von vorneherein durch einige Forderungen, die hier aufgestellt werden, eine Blockadepolitik betreiben. Es ist wichtig, dass wir zunächst
alle Möglichkeiten ausschöpfen. Dazu gehört meiner
Meinung nach auch die Grüne Gentechnologie. Wir wissen nicht, wie die Situation in 20 Jahren aussieht. Vielleicht sind wir in 20 Jahren froh, wenn wir die vielen
Hungernden mit Produkten, die auf einer vernünftigen
Grünen Gentechnik basieren, satt machen können.
({6})
Daher meine ich, dass diese absolute Ablehnung, die die
Grünen in dem Antrag formulieren, nicht die richtige
Politik wäre.
({7})
- Das ist Ideologie. Aber gut, wir wollen heute im Umgang miteinander nicht so hart sein. Wir haben ein gemeinsames Ziel. Insofern sollten wir entsprechend reagieren.
Ich bleibe dabei: Wir müssen die Grüne Gentechnik
möglicherweise einsetzen, um 9 Milliarden Menschen
ernähren zu können. Vor der Ideologie kommt die Verantwortung; das ist vollkommen richtig. Ideologie muss
vor dem Ziel, hungernden Menschen zu helfen, zurücktreten.
({8})
Frau Kollegin Pfeiffer, sind Sie jetzt zufrieden? - Das
finde ich ganz prima.
In der Anhörung sind diese Dinge ebenfalls benannt
worden. Ich erinnere daran, was Herr Brüntrup gesagt
hat, nämlich dass wir auf diese Technologie zurückgreifen müssen. In der Anhörung haben wir auch erfahren,
dass die Dinge problematischer sind, als wir gedacht haben. Ich komme auf die kleinbäuerlichen Betriebe und
die 2-Hektar-Scholle zurück. - Übrigens hat Kollege
Raabe nicht von 1-Hektar-Schollen, sondern von 2-Hektar-Schollen gesprochen; so habe jedenfalls ich es in Erinnerung. - Die Frage ist, ob dies so effektiv ist, um den
hungernden Menschen helfen zu können. Möglicherweise müssen wir andere Strukturen finden. Insofern
müssen wir all das, was damit zusammenhängt, zum
Beispiel die Menschenrechte und die Vertreibung vom
eigenen Land, auf eine vernünftige Schiene bringen und
entsprechend behandeln.
Ich lege Wert darauf, dass wir das Thema Landrechte
nicht vernachlässigen, weil auch dies ein grundlegendes
Problem ist. Es passiert, dass ausländische Investoren
viel Land aufkaufen - das ist schon angesprochen worden - und dadurch Kleinbauern in Schwierigkeiten bringen. Wir müssen den Fokus darauf richten, das zu verhindern.
({9})
In der Anhörung klang an, dass wir möglicherweise
von diesen 2-Hektar-Schollen im Sinne einer höheren
Effektivität wegkommen müssen. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass wir in Deutschland in den
50er-Jahren andere Verhältnisse hatten. Wenn wir diese
Verhältnisse noch heute hätten, hätten wir wahrscheinlich wesentlich größere Probleme, als sie sich jetzt darstellen.
Damit komme ich auf die soziale Frage zu sprechen.
Wir müssen aufpassen, dass bei diesen Umstrukturierungen Landarbeiter und Kleinbauern nicht noch weiter ins
soziale Elend abdriften. Vor allem die Frauen müssen
uns am Herzen liegen, Frau Kollegin Pfeiffer. Frauen
tragen in den Entwicklungsländern die Last schlechthin.
Sie haben für das Einkommen und die Landwirtschaft zu
sorgen. Damit müssen sie die größte Last tragen. Insofern sollten wir auf die Frauen unser besonderes Augenmerk richten und sie, soweit wir das können, unterstützen und ihnen helfen.
({10})
Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit brauchen wir
aber auch die Unterstützung und die Mitwirkung der nationalen Regierungen; das ist von großer Bedeutung.
Aber genau da hapert es in vielen Fällen. Gerade hier
müssen wir ansetzen. Beratung, Überzeugungsarbeit, gelegentlich auch etwas Druck - diese Mittel müssen wir
einsetzen. Auch an Appellen an die Verantwortlichen in
den einzelnen Ländern, dass es um die Ernährung und
das Wohlergehen ihrer eigenen Bevölkerung geht, mangelt es kräftig; das stellen wir auf unseren Reisen immer
wieder fest.
Das Ganze hängt natürlich auch mit Geld zusammen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf die
ODA-Quote eingehen; denn auch sie ist sehr wichtig.
Was mir Sorgen bereitet, ist, dass wir bisher immer nur
von einer Quote reden. Sollte das Bruttonationalprodukt
sinken - was wir nicht hoffen, aber das kann passieren -,
hätte dies aufgrund der Koppelung Auswirkungen auf
die Quote. Es ist hier schon angeklungen, dass die absoluten Zahlen wichtiger sein müssen.
({11})
Sie müssen wir in den Vordergrund stellen, um eine ausreichende Finanzierung für unsere entwicklungspolitischen Vorhaben bereitstellen zu können.
({12})
Man kann lange darüber streiten, wie sich die ODAQuote entwickelt hat. Ich halte das für müßig. Die Bilanz
der letzten Jahre unter dieser Bundesregierung in Bezug
auf die ODA-Quote und die Bereitstellung von Finanzmitteln in der Entwicklungspolitik kann sich sehen lassen. Wenn man diese Kurve über die Jahre betrachtet, so
wird klar, dass hier eine positive Entwicklung stattgefunden hat. Viel wichtiger, als sich über dieses Thema zu
streiten, ist, dass wir jetzt konkrete Programme auf den
Tisch legen, dass wir unsere Schwerpunkte herauskristallisieren und uns auf diese Schwerpunkte konzentrieren.
An dieser Stelle möchte ich auf das Thema Bildung
eingehen. Bei all den Reisen in Entwicklungsländer, die
wir gemacht haben, haben wir immer wieder gespürt,
dass der von uns angestrebte Ausbau des Bildungssektors hoch anerkannt wird. Insofern möchte ich appellieren, bei diesem Schwerpunkt zu bleiben, das duale System der beruflichen Ausbildung zu stärken und weiter in
den Vordergrund zu stellen. Man sollte sich klarmachen,
dass man damit - vielleicht kombiniert mit einer Mikrofinanzierung - wirklich einen Mittelstand herausbilden
kann. Das ist genau die Entwicklung, die wir brauchen.
Wir können so eine gute Entwicklungspolitik betreiben.
({13})
Wie ich sehe, läuft meine Redezeit langsam ab. Ich
möchte eine persönliche Bemerkung machen. Ich werde
nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidieren.
({14})
Ich möchte mich daher bei allen für das kollegiale Miteinander und für das, was wir erreicht haben, bedanken.
Es war eine angenehme Zusammenarbeit.
Zum Schluss möchte ich für noch mehr Kontakte mit
den Menschen in den Entwicklungsländern werben.
Auch wenn einige Journalisten darüber meckern, dass
das Parlament zu reisefreudig sei, sollten wir uns nicht
davon ablenken lassen. Nur wer in einem Land war, wer
dieses Land einmal gerochen hat, wer mit den Menschen
in einem Slum, in einem Gefängnis, in einem Krankenhaus oder wo auch immer gesprochen hat, der kann
nachher eine vernünftige Entwicklungspolitik betreiben.
Ich glaube, es ist unheimlich wichtig, dass wir uns da
nicht beeinflussen lassen. Ich wünsche, dass alle demnächst noch viel reisen und vor allem viele Ideen und
viel Engagement mitbringen, um in der Entwicklungspolitik weiterzukommen.
Vielen Dank.
({15})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Karl
Addicks das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Kollege
Bauer, ich möchte Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen,
dass wir anlässlich des G-8-Gipfels auf Hokkaido einen
Antrag in Bezug auf die Nahrungsmittelkrise eingebracht haben, der einen großen Teil der Forderungen enthält, die in Ihrem jetzt vorliegenden Antrag formuliert
werden. Außerdem haben wir eine Kleine Anfrage gestellt. Einen großen Teil der Antworten darauf haben Sie
ebenfalls in Ihren Antrag integriert.
Da wir uns als Antreiber in dieser Frage gesehen haben, haben wir es nicht für notwendig gehalten, einen
weiteren Antrag zu stellen. Ich bitte Sie alle, hier zur
Kenntnis zu nehmen, dass gerade die FDP in diesem Bereich absolut nicht untätig geblieben ist.
Vielen Dank.
Kollege Bauer, wollen Sie erwidern?
Ich erwidere gern. - Mein lieber Kollege Addicks,
nachdem Sie das so beschrieben haben, bin ich sicher,
dass Sie unserem Antrag zustimmen werden. Dafür bedanke ich mich sehr herzlich.
({0})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Hüseyin-Kenan Aydin.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir den Antrag der
Regierungskoalition zur ländlichen Entwicklung in den
Entwicklungsländern anschaue, darf ich zunächst erfreut
feststellen, dass die Argumente und die Initiativen, die
die Linke zu diesem Thema seit Jahren vorbringt, zumindest zum Teil endlich auch bei Ihnen angekommen
sind.
({0})
Bemerkenswert finde ich vor allem Ihre Erkenntnis, dass
die - ich zitiere aus dem Antrag - „vorschnelle Handelsliberalisierung ohne Schutzmöglichkeiten und angemesHüseyin-Kenan Aydin
sene Übergangsfristen für heimische Produzenten … zur
Verarmung breiter Bevölkerungsschichten“ beigetragen
hat. Guten Morgen! Auch Sie haben es endlich begriffen.
({1})
Wir müssen uns allerdings fragen: Warum fordern die
Abgeordneten von SPD und CDU dann die Bundesregierung nicht auf, die Überschwemmung der Märkte der armen Länder durch EU-Billigprodukte zu stoppen?
({2})
Die Vorsitzende des Haushaltsausschusses im ostafrikanischen Regionalparlament, Frau Kimura, hat uns gestern im Ausschussgespräch noch einmal nachdrücklich
darauf hingewiesen:
Die sogenannten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
zwischen der EU und den AKP-Staaten werden in ihrer
jetzigen Form zur Deindustrialisierung und zum Bankrott der Landwirtschaft führen, weil sie einseitig die
EU-Interessen bedienen.
({3})
Ihre Ratifizierung muss ausgesetzt werden. Das wäre
eine angemessene Konsequenz.
({4})
Kollege Aydin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Raabe?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Aydin, nachdem Sie - wie der Kollege
Addicks - festgestellt haben, dass der Antrag eigentlich
nur vernünftige Punkte enthält, die auch Sie - angeblich schon gefordert hatten, bekommen wir nachher eine
ganz tolle Abstimmung hin, bei der auch die Linkspartei
und die FDP uns zustimmen. Nur: Sie sagten, dass wir in
unserem Antrag die Bundesregierung nicht auffordern,
dafür zu sorgen, dass die Entwicklungsländer nicht mit
subventionierten Produkten überschwemmt werden. Ich
zitiere aus unserem Antrag:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … sich weiter für eine Abschaffung von
marktverzerrenden Agrarsubventionen in den Industrieländern einzusetzen, damit die Produzenten
in den Entwicklungsländern nicht weiter durch
Agrardumping geschädigt werden …
Jetzt sehen Sie: Auch diese Forderung ist in unserem
Antrag enthalten - Sie haben sie vielleicht überlesen -;
jetzt können Sie mit gutem Gewissen zustimmen.
({0})
Lieber Kollege Raabe, ich habe es im Antrag gelesen,
und ich habe mir auch Ihre Rede sehr aufmerksam angehört. Ich nehme erfreut zur Kenntnis: Viele der Positionen, die Sie heute vertreten, waren schon von Beginn an
die Position von Hüseyin Aydin und Heike Hänsel im
Ausschuss.
({0})
Deshalb freut es mich, dass auch Sie mittlerweile diese
Position vertreten.
Allerdings: Die EU-Exportsubventionen gelten nach
wie vor. Sie sind noch nicht gestoppt. Wir sind mittlerweile seit vier Jahren in diesem Parlament, und seit vier
Jahren setzen wir uns damit auseinander. Sie haben als
Regierungskoalition bis heute versagt, wenn es darum
geht, die Bundesregierung unter Druck zu setzen, damit
sie sich auf der EU-Ebene endlich für die Abschaffung
der Subventionen einsetzt.
({1})
Trotz einiger zutreffender Punkte können wir dem
Antrag der Koalition nicht zustimmen.
({2})
Mit keinem Wort wird der Anteil der Nahrungsmittelspekulation an den Preissteigerungen benannt. Auch die falschen Versprechungen der Gentechnik und der industriellen Landwirtschaft tauchen auf den zwölf Seiten nicht
auf. Zwar fordern Sie die Abschaffung der Agrarexportsubventionen - ich will noch einmal darauf eingehen -,
aber Mitte des vergangenen Jahres lehnten Sie einen Antrag der Grünen auf Verbot der Schweinefleischsubventionen ab. Wenn es ernst wird, dann kneifen Sie.
({3})
Der Antrag der Grünen hingegen enthält viele Forderungen, denen wir uns anschließen können. Seine Orientierung auf die Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft geht in die richtige Richtung. Die konsequente
Ablehnung der Gentechnik unterstützen wir. Enttäuschend ist allerdings, dass sich die Verfasser nicht auf ein
Verbot der Nahrungsmittelspekulation festlegen wollen.
Regulation ist hier zu wenig, Kollegen von den Grünen.
Wir fordern den sofortigen Stopp der Zockerei auf lebensnotwendige Rohstoffe. Dennoch werden wir dem
Antrag zustimmen.
Lassen Sie mich auf zwei Punkte eingehen, die mir
besonders wichtig sind: Erstens. Die Interessenvertretungen unter der Landbevölkerung müssen stärker gefördert werden. Wir wollen die Genossenschaften und Organisationen der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, der
Landlosen und der Farmarbeiter stärken. Nur so haben
sie eine Chance, bei der nationalen Entwicklungsplanung ihre Interessen durchzusetzen und Einfluss auf die
ländliche Entwicklung zu nehmen. Solche Vereinigungen könnten zweitens dazu beitragen, dringend notwendige Landreformen voranzutreiben. Die Ärmsten müssen Zugang zu Agrarflächen und Wasser erhalten. Ich
warne davor, Land zu einer handelbaren Ware zu ma22478
chen. Kollege Raabe, aber auch Kollege Bauer haben bereits darauf hingewiesen.
Mit Sorge nehmen wir die umfangreichen Landkäufe
oder auch Verpachtungen in Ländern wie dem Sudan,
Madagaskar, Uganda, Mali, Brasilien oder Indonesien
zur Kenntnis.
Vor allem die Erdöl produzierenden arabischen Staaten, aber auch europäische und asiatische Konzerne wollen auf den fruchtbaren Flächen Nahrungsmittel bzw.
Energiepflanzen anbauen, um ihren eigenen Bedarf abzudecken. Diese Landnahmen erinnern den Generaldirektor
der FAO, Herrn Diouf, an - ich zitiere ihn - „neokoloniale
Zustände“. Sie untergraben das Ziel der Ernährungssouveränität. Die Eigenversorgung mit Grundnahrungsmitteln durch eine sozial und ökologisch verträgliche Landwirtschaft muss aber zur entwicklungspolitischen
Priorität werden. Die jetzt wieder aufgenommenen Exportsubventionen durch die EU hingegen stehen für einen Handelskrieg. Dieser Handelskrieg kann von den
Bäuerinnen und Bauern in den Entwicklungsländern nur
verloren werden.
Wir fordern gerechte Handelsstrukturen und ein Ende
der Marktöffnung zugunsten der Konzerne in den Industriestaaten.
({4})
Wir fordern außerdem eine kräftige Erhöhung der Mittel
für die internationale Entwicklungszusammenarbeit. Es
ist höchste Zeit, für die Länder des Südens einen Schutzschirm aufzuspannen, der die Folgen der weltweiten
Wirtschaftskrise mildert; denn für die Menschen dort
geht es schließlich um Leben und Tod.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Zunächst möchte ich in meiner
Funktion als Ausschussvorsitzender von dieser Stelle
aus dem geschätzten Kollegen Dr. Bauer ganz herzlich
zu seinem 70. Geburtstag gratulieren.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir
zunächst einen Rückblick auf die vergangene entwicklungspolitische Debatte, die wir hier vor wenigen Wochen geführt haben. Sie erinnern sich vielleicht daran,
dass die Kollegin Ute Koczy und ich in unseren Redebeiträgen auf die Widersprüche hingewiesen haben, die
es in der Politik der Bundesregierung gegenüber den
Entwicklungsländern gibt. Das hatten wir an der Wiedereinführung der Agrarexportsubventionen für Milch und
Butter festgemacht. Bei beiden Reden hat Herr Staatssekretär Müller interveniert und gefragt, ob es richtig sei,
dass es Ausnahmen gibt und diese Exporte nicht in Entwicklungsländer gehen. Inzwischen haben wir es
schwarz auf weiß, dass diese Auskunft nicht richtig war,
dass zwar Länder wie Australien, die USA und Neuseeland aufgrund WTO-strategischer Überlegungen ausgenommen sind, aber kein einziges Entwicklungsland. Es
mag sein, dass sich die Bundesregierung das gewünscht
hat und diese Position auch vertreten hat, aber in den zuständigen Gremien konnte sich die Bundesregierung
nicht durchsetzen. Unsere Kritik war also leider Gottes
mehr als berechtigt.
({1})
Zum Zeitpunkt der Abstimmung - Deutschland hat mit
Ja gestimmt - war klar, dass es keine Ausnahmeregelungen für Entwicklungsländer gibt. Weiter und eklatanter
können Entwicklungs- und Agrarpolitik gar nicht auseinanderfallen.
In dem Antrag der Koalition, über den wir heute abstimmen, stehen sehr viele gute Beschreibungen, denen
wir zustimmen können. Deshalb lehnen wir den Antrag
nicht ab; wir werden uns der Stimme enthalten. Hinsichtlich des Beschreibungsteils besteht also große Übereinstimmung, auch aufgrund der in der Anhörung gewonnenen Erkenntnisse. Bei den konkreten Forderungen
wird es im Antrag der Koalitionsfraktionen dann aber
sehr schwammig. Man scheut Festlegungen. Es kommt
aber auf Fakten an.
Die Hunger-Taskforce der Vereinten Nationen hat alle
Gebernationen aufgefordert, mindestens 10 Prozent der
Etats der Entwicklungshaushalte für die Hungerbekämpfung und auch ganz gezielt zur Förderung der Kleinbauern in den Entwicklungsländern einzusetzen. Wir nennen
diese Zahlen in unserem Antrag. Deshalb ist unser Antrag die Schlussfolgerung aus den guten Erkenntnissen,
die im Antrag der Koalitionsfraktionen stehen. Ich
würde mich deshalb freuen, wenn Sie bei der Abstimmung bei beiden Anträgen mit Ja stimmen könnten.
({2})
Ich möchte noch einmal kurz auf die eklatanten Widersprüche zurückkommen. Was würde es nützen, wenn
man all diese guten Konzepte umsetzt, wenn man die
Milchwirtschaft im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit aufbaut, diese dann aber mit den Exportdumpingfluten wieder einreißt? Da baut doch die eine Hand
auf, was die andere Hand wieder einreißt. Ich erwarte
von der gesamten Koalition, insbesondere von den Kolleginnen und Kollegen der Union im Entwicklungsausschuss, die das wahrscheinlich ähnlich sehen, dass
sie noch härter kämpfen, damit diese unseligen Agrarexportsubventionen endlich auslaufen.
({3})
Es ist auch schade, dass die Agrarministerin, die zu Beginn der Debatte kurz hier war, jetzt nicht mehr da ist
und ich diese Kritik nicht direkt an sie richten kann.
({4})
Ich möchte der Bundesregierung aber auch ein Lob
aussprechen, und zwar dem Entwicklungsministerium:
Mit ziemlicher zeitlicher Verspätung - aber besser spät
als überhaupt nicht - wurde jetzt endlich der Weltagrarbericht vom IAASTD zur Kenntnis genommen und bei
einer Veranstaltung im BMZ auch diskutiert. In diesem
Weltagrarbericht, den ein Netzwerk von über 3 000 Wissenschaftlern und Agrarexperten geschrieben hat - Herr
Dr. Addicks, das ist jetzt auch an Ihre Adresse gerichtet -, wird ein Paradigmenwechsel hin zu einer wirklich
nachhaltigen Landwirtschaft gefordert. Das heißt nicht,
dass man weltweit nur Demeter-Ökolandbau betreibt. Es
heißt aber sehr wohl, dass man keine Methoden anwendet, die zu einer weiteren Klimaerwärmung und zu einer
Zerstörung der Böden führen. Wir brauchen hier wirklich einen intelligenten Ansatz. In diesem Weltagrarreport wird eben nicht eine zweite grüne Revolution mit
den Methoden der ersten gefordert, sondern es wird ein
sehr differenziertes Vorgehen gefordert, das auch Nachhaltigkeitsgesichtspunkte stark berücksichtigt.
Jetzt ist die spannende Frage: Was macht die Bundesregierung, nachdem sie nun diesen IAASTD-Bericht mit
einer Veranstaltung gewürdigt hat? Unterschreibt jetzt
die Entwicklungsministerin oder noch besser die gesamte Bundesregierung diesen Bericht? Werden gar die
Empfehlungen dieses Berichtes - das wäre das Beste jetzt tatsächlich umgesetzt? Das würden wir uns sehr
wünschen im Sinne einer wirklich nachhaltigen Förderung auch der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in den
Entwicklungsländern. Darauf zielt ja dieser Bericht. Das
wäre schön, aber das wird, wie ich glaube, nur gelingen,
wenn auch die Grünen wieder in der nächsten Bundesregierung vertreten sein werden.
({5})
Nun hat die Kollegin Marianne Schieder für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das wichtige und hoffnungsvolle Ziel der
Millenniumserklärung, die Halbierung der Armut in der
Welt bis zum Jahr 2015, scheint in der Tat in weite Ferne
gerückt zu sein. Nicht nur, dass die absolute Zahl der
hungernden Menschen in der Welt wieder angestiegen
ist und sehr wahrscheinlich weiter ansteigen wird; auch
angesichts der aktuellen politischen Herausforderungen
und der eigenen wirtschaftlichen Probleme, die es zu bewältigen gilt, droht bei den Menschen in unserem Land
das ehrgeizige und absolut notwendige Ziel der weltweiten Armutsbekämpfung als solches wieder in den Hintergrund gedrängt zu werden. Gott sei Dank lässt sich die
deutsche Entwicklungshilfe von einem solchen Denken
nicht einfangen, sondern tritt dafür bei internationalen
Geberkonferenzen ein und setzt sich auch bei der Bereitstellung von entsprechenden Haushaltsmitteln - Herr
Dr. Raabe hat schon darauf hingewiesen - erfolgreich
durch.
Wir als Sozialdemokraten meinen, dass bei allem,
was wir in die Wege leiten, um unsere Probleme zu lösen, im Sinne einer verantwortungsvollen Politik in einer
globalisierten Welt doch genau geprüft werden muss,
welche Auswirkungen unser Handeln gerade für die
Länder hat, in denen Hunger, Armut und Not das tägliche Leben der Menschen bestimmen. So können wir
nicht akzeptieren, dass die Europäische Union zur Bewältigung der Probleme auf dem Milchmarkt plötzlich
wieder zu Mitteln wie der Exportsubvention greift.
({0})
Man weiß doch genau, welche Verwerfungen damit gerade für die Märkte in den sogenannten Entwicklungsländern verbunden sein können und auch sein werden.
So wird die vorgesehene Exportsubvention für Milchprodukte die Situation unserer Milchviehhalter wohl
kaum spürbar verbessern. Aber es ist durchaus wahrscheinlich, dass andernorts die noch vorhandenen Milchmärkte empfindlich gestört werden, Einkommensmöglichkeiten für die Menschen wegfallen und dadurch
Armut und Hunger befördert werden. Selbst wenn auf
EU-Ebene beschlossen worden wäre - was ja nicht beschlossen worden ist -, dass keine subventionierten
Milchprodukte in Entwicklungsländer exportiert werden, so könnte dennoch nicht gewährleistet werden, dass
sie nicht über irgendwelche Umwege dorthin gelangen.
Dass so etwas möglich ist, wissen wir aus leidvoller Erfahrung.
({1})
Wir müssen, so meinen wir, nicht nur endlich einsehen, dass die eine Hälfte der Welt nicht ohne die andere
leben kann, sondern wir müssen auch unser Handeln und
unseren Handel daran ausrichten. Daher verweise ich
noch einmal mit Nachdruck auf die Forderung unseres
Antrags, dass der Weltagrarhandel zwischen Norden und
Süden fair ausgestaltet werden muss.
({2})
Ein wesentlicher Beitrag dazu ist der Abbau von Exportsubventionen und handelsverzerrenden internen Stützungen in den Industrieländern. Mit unserem Antrag wird
noch einmal deutlich, wohin aus deutscher Sicht bei den
Agrarverhandlungen die Reise gehen muss. In jedem
Fall muss es gelingen, in der EU die aus der Klamottenkiste geholten Instrumente der Ausfuhrhilfen und Stützungskäufe schleunigst wieder einzupacken.
({3})
Nehmen wir endlich die Kritik der Agrarminister afrikanischer Länder ernst! Sie forderten anlässlich des ersten
Berliner Agrarministergipfels im Januar dieses Jahres
von der EU den vollständigen Abbau aller handelsverzerrenden Exportsubventionen. Ansonsten bestehe die
Gefahr, dass weitere Hunderttausende von Bäuerinnen
und Bauern und deren Familien in den Schwellen- und
Entwicklungsländern in die Armut getrieben werden.
Wir brauchen - auch das ist ein zentraler Punkt unseres Antrags - endlich weltweit ein ernsthaftes Bemühen
um eine integrierte und nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume. Wir müssen die vorhandenen kleinbäuerlichen Strukturen stärken und Lagerhaltung, Verarbeitung
und Vermarktung verbessern, um nur einige Bereiche zu
nennen. Gerade auf dem Land ist es unerlässlich, ausreichend Einkommensmöglichkeiten außerhalb der Landwirtschaft zu schaffen. Selbstverständlich muss im Bereich der Bildung eine Verbesserung erreicht werden.
Dabei muss besonderer Wert auf die Bildung von Frauen
gelegt werden. Selbstverständlich müssen auch alle Bemühungen um Demokratisierung in den einzelnen Ländern und Staaten unterstützt werden.
Ernährung muss insgesamt wieder mehr regional, saisonal und kulturell gedacht werden. Soweit es die natürlichen Gegebenheiten erlauben, muss Nahrung in ausreichendem Maße dort produziert werden können, wo die
Menschen sie brauchen. Die weitgehende Sicherung der
Eigenversorgung muss unser Ziel sein.
Herr Dr. Bauer, es wird uns nicht helfen, wenn die alten Abhängigkeiten durch neue ersetzt werden, wie es
mit der Grünen Gentechnik zu befürchten ist.
({4})
Ebenso wird es uns nicht helfen, wenn wir den Menschen in unserem Land erzählen, dass wir mit unserer
Produktion die Welt ernähren könnten. Wir wissen doch
aus der Vergangenheit, dass das nicht funktionieren
wird.
Wir haben versucht, in unserem Antrag umfassend zu
beschreiben, was wir tun müssen, um Hunger und Armut
in den Entwicklungsländern zu bekämpfen. Ich bitte Sie
um Zustimmung zu unserem Antrag.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Johannes
Röring das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Weltgemeinschaft hat sich in der Vergangenheit schon
öfter das Ziel gesetzt - zuletzt in ihrer Millenniumserklärung im Jahr 2000 -, die Zahl der Hungernden zu halbieren. An dieser Stelle müssen wir allerdings feststellen,
dass dieses Ziel deutlich verfehlt wurde. Ich kann nur
betonen: Das ist nicht hinnehmbar. Weil ich diese Umstände, weil ich den Hunger in der Welt nicht akzeptieren kann, betrachte ich unseren Antrag als eminent wichtig und absolut richtig.
({0})
Wir mussten feststellen, dass es bereits im Jahr 2007
eine Warnung an die Weltgemeinschaft gab. Obwohl wir
in jenem Jahr die höchste jemals erzielte Ernte einbringen
konnten, hat es nicht gereicht. Das Thema „Nahrungsmittelversorgung und Ernährungssicherheit“ bekam große
Bedeutung in den Medien. Im darauffolgenden Jahr,
2008, haben wir nur 2,5 Prozent mehr geerntet. Wir hatten genug Ernte. Heute spricht kaum jemand davon.
Aber die Rahmenbedingungen haben sich nach wie vor
nicht verändert. Weltweit sind die Lagerbestände immer
noch auf einem sehr niedrigen Niveau. Ein schlechtes
Erntejahr würde genügen, um die Situation wieder dramatisch zu verschlechtern. Wir müssen der Herausforderung begegnen, demnächst 9 Milliarden Menschen ernähren zu können, und das auf immer weniger Fläche
pro Mensch: 0,2 Hektar pro Erdbewohner.
Diese und viele weitere Argumente zeigen uns deutlich den Weg in die Zukunft, der so aussieht, dass wir die
landwirtschaftliche Produktion steigern - ich würde sogar sagen: verdoppeln - müssen. Der Weltagrarrat hat
hierauf keine hinreichende Antwort gegeben. Deswegen
begrüße ich - Frau Aigner war vorhin anwesend -, dass
anlässlich der Grünen Woche ein Weltagrargipfel organisiert wurde. 20 Staaten waren sich einig, dass die landwirtschaftliche Produktion erhöht werden muss, um natürliche Ressourcen zu erhalten. Anlässlich dieses
Treffens herrschte auch Einigkeit darüber, dass man für
die Landwirte in vielen Teilen der Welt Rahmenbedingungen schaffen muss, damit sie zukunftsfähig und
nachhaltig wirtschaften können. Dazu gehört unter anderem - das wurde von vielen bereits betont -, dass es einen Zugang zu Boden und Kapital gibt und dass Betriebsmittel bereitgestellt werden.
Im Übrigen muss man sagen: Diese Situation hatten
wir vor vielen Generationen auch in Europa.
({1})
Dank der Idee Raiffeisens, die zur Entstehung der Volksbanken geführt hat, wurden schon damals sozusagen
Kleinkredite an Bauern vergeben. Dies ist also keine
neue Entwicklung. Dieses Vorgehen hat bei uns in
Deutschland und in Europa dazu geführt, dass wir gewaltige Fortschritte erzielen konnten. Wir können unsere
Bevölkerung selbst ernähren. Auf dieser Basis entstand
bei uns eine weltweit vorzeigbare arbeitsteilige Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft.
Aus meiner Sicht ist es daher sehr wichtig, dass in
den betroffenen Staaten erkannt wird, dass sie für die
Nahrungsmittelerzeugung selbst verantwortlich sind.
Die Nahrung muss - wenn möglich - im eigenen Land
erzeugt werden. Davon profitiert die Bevölkerung. Die
Weltgemeinschaft muss diesen Staaten - das ist die
Empfehlung unseres Antrags - Unterstützung zur Selbsthilfe anbieten. Wir werden alles dafür tun müssen, um
die lokalen Strukturen zu fördern.
Es ist für mich traurig, zu sehen, dass viele Regionen
der Welt ihre Möglichkeiten nicht nutzen können, weil
Staatszerfall und Kriege das Ausschöpfen vorhandener
Potenziale verhindern und damit die Grundlage für eine
nachhaltige Bewirtschaftung kaum gegeben ist. Angesichts dieser Situation müssen wir - das ist mir sehr
wichtig zu betonen - auch deutlich machen, dass wir in
keiner Weise auf die ertragsstarken Regionen der Erde,
also Europa und Nordamerika, verzichten können. Denn
wenn hier der Ertrag sinkt, entsteht Sog an einer anderen
Stelle.
An die Adresse derjenigen Redner, die vorhin die landwirtschaftlichen Exportsubventionen stark kritisiert haben, sage ich deutlich: Ein Abbau ist nicht der Schlüssel
für die armen Länder, sich zu entwickeln. Es bringt überhaupt keinen Vorteil, wenn wir in dieser dramatischen
Situation die Milchbauern in Deutschland und in Europa
allein lassen. Wir von der Union stehen zu unseren Bauern.
Es besteht die Gefahr, dass diese Wirtschaft zusammenbricht; denn gerade Russland und die Ukraine sind die
bevorzugten Exportmärkte. Eine kurzfristige Abschaffung
dieser Subventionen - sie sollen bis 2013 abgeschafft
werden - wird überhaupt nichts an der Situation der Entwicklungsländer ändern. Im Gegenteil: Eine Schwächung
unserer Bauern würde vermehrte Nachfrage in anderen
Regionen bedeuten.
Abschließend möchte ich mein Unverständnis zum
Ausdruck bringen, dass Sie von den Grünen sich unserem
Antrag nicht anschließen. Sie haben zwar die Ziele richtig
beschrieben. Aber angesichts der Tatsache, dass Sie bewusst auf den Ertrag verzichten wollen und moderne
Methoden ausschließen wollen, muss ich sagen, dass Ihr
Antrag an den Realitäten vorbeigeht. Ich kann nur feststellen, dass Sie das Problem nicht erkannt haben und Ihrer
Ideologie immer noch blind hinterherrennen. Deswegen
lehnen wir Ihren Antrag ab.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/11973. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD auf Drucksache 16/11053 mit dem Titel „Hunger
und Armut in Entwicklungsländern durch die Förderung
von ländlicher Entwicklung nachhaltig bekämpfen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/11203 mit dem Titel „Die Ursachen des
Hungers beseitigen - Die ländliche Entwicklung fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus
Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Arbeit familienfreundlich gestalten - Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und
Väter lebbar machen
- Drucksachen 16/7482, 16/10605 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Marlene Rupprecht ({1})
Miriam Gruß
Ekin Deligöz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Möllring für die Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist
für uns als Frauen in der Politik, gerade für uns als
Frauen in der Union, schon lange ein großes Thema.
Deswegen bin ich dankbar dafür, dass dieses Thema in
diesem Jahr zum Weltfrauentag wieder auf der Agenda
steht, und zwar zusammen mit der Entgeltungleichheit
zwischen Frauen und Männern, weil das die beiden großen
Themen sind, die sehr viele Frauen beschäftigen. Wir
dürfen die Mütter und inzwischen auch die Väter mit
diesem Thema nicht alleine lassen.
({0})
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ebenso wie
die Entgeltungleichheit kein privates, individuelles Problem, sondern ein Problem, für das die Gesellschaft die
Verantwortung trägt. Sie hat hier ein großes Handlungsfeld, auf dem noch einiges zu tun ist.
Bei der Reaktion auf die Forderung, eine familienfreundliche Arbeitswelt zu schaffen, erleben wir seit ein
paar Jahren einen Bewusstseinswandel in der Wirtschaft,
den wir viele Jahre lang gefordert und angemahnt haben.
Heute sind sich immerhin 71 Prozent der Unternehmen
darüber im Klaren, dass Familienfreundlichkeit ein wichtiges oder sogar sehr wichtiges Thema ist. 2003 waren
das nur 46 Prozent.
({1})
- Frau Humme, lassen Sie mir wenigstens genug Zeit,
damit ich es mir auf der Zunge zergehen lassen kann,
dass an dieser Stelle eine Verbesserung eingetreten ist. Die Unternehmen erkennen, dass das Bewusstsein für
die Bedürfnisse von Familien sowohl über den zukünftigen
Erfolg der Firma entscheidet als auch bei der Gewinnung
und Bindung qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine wichtige Rolle spielt. Daran, dass ein Unternehmen heute in einer einseitigen Werbeanzeige gesagt
hat: „Sie bekommen das Kind. Wir kümmern uns um alles
andere“, können wir einen gewaltigen Fortschritt erkennen.
Ich wünsche mir, dass solche Aussagen Schule machen und
viele andere bald ebenso denken. Wenn man sieht, wie
mühsam es für Mütter und Väter ist, sich durch den Alltag
zu schlagen, dann weiß man, dass noch sehr viel zu tun
ist. Frau Humme, wir sind noch lange nicht am Ende der
Fahnenstange angekommen.
Der Bundestag und die Bundesregierung haben in dieser Wahlperiode wichtige Akzente gesetzt, gerade bezüglich dieses Themas. Zu nennen sind zunächst einmal das
Elterngeld und insbesondere die Partnermonate. Die Partnermonate werden mittelfristig dazu führen, dass Väter
nicht nur zu ihren ganz kleinen Kindern eine Bindung aufbauen, sondern sie diese in der weiteren Beziehung ausbauen und deswegen ein Verständnis dafür haben werden,
dass es eine familienfreundliche Arbeitswelt geben muss
und sie selber mit dafür verantwortlich sind, diese zu
gestalten, weil sie erlebt haben, was Familie bedeutet.
({2})
Eine wichtige Aufgabe in der nächsten Wahlperiode
wird es sein, die Regelung zu den Partnermonaten auszubauen, damit sich Väter in ausreichendem Maße um
ihre Kinder kümmern können.
Die zweite wichtige Aufgabe wird der Ausbau der
Kinderbetreuung für unter Dreijährige sein, und die
dritte Aufgabe die finanzielle Förderung von Gesamtschulen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Für mich ist es im
Grunde genommen wichtiger, dass an den Grundschulen
mehr Randbetreuung angeboten wird; denn da sind die
kleineren Kinder, die sich nicht selbst versorgen können,
wenn die Schulzeit vorbei ist.
Insgesamt hat der Bund gewaltige finanzielle Leistungen
erbracht, die eigentlich von Kommunen und Ländern getragen werden müssten.
({3})
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch einmal sagen:
Wenn ich in eine Kommune komme, wo man mir sagt,
dass unsere 50 Prozent ganz okay seien, und dann fragt,
wo denn die anderen 50 Prozent seien, habe ich dafür
nicht viel Verständnis. In gewissen Feldern wird von
Bund und Land sogar 80 Prozent finanziert. Wenn dann
auch noch der Anteil von 20 Prozent für die Kommune zu
viel ist, ist das schlecht. Da müssen wir in der Kommunalpolitik den Finger draufhalten und sagen: Nein, diese
Leistung ist von den Kommunen zu erbringen.
Die Leistungen, die wir erbracht haben, werden ohne
Zweifel dafür sorgen, dass die sehr jungen Eltern künftig
neben der Betreuung ihrer Kinder mehr, sogar Vollzeit
arbeiten können. Aber das ist eine zukünftige Entwicklung, die auf dem aufbaut, was jetzt angeschoben worden
ist und umgesetzt wird. All diejenigen, die diese Möglichkeit noch nicht hatten, müssen zaubern - das ist nicht
zu hoch gegriffen -, um gleichzeitig Kinder zu erziehen
und im Beruf konkurrenzfähig zu sein.
Ich nenne drei Handlungsfelder, bei denen ich meine,
dass da ganz besonders etwas getan werden muss.
Erstens: die Chancen von Müttern und Vätern, die Teilzeit arbeiten. Es ist in Deutschland so, dass mindestens die
Hälfte der Mütter mit kleinen Kindern und immer mehr
Väter Teilzeit arbeiten und dies auch wollen.
({4})
So sehr ich es achte, wenn Eltern Vollzeit arbeiten, so finde
ich es genauso in Ordnung, wenn sie sowohl Familienarbeit
leisten als auch Teilzeit arbeiten.
({5})
Das ist wahrscheinlich der große Unterschied zwischen
uns von der Union und Ihnen von den Sozialdemokraten.
({6})
Seien wir doch einmal ehrlich und schauen wir uns
die tägliche Lebenswirklichkeit an, Frau Marks. Wenn
man Lehrerin ist, ein Kind hat, das bilderbuchmäßig begabt ist, einen Kitaplatz, eine private Randbetreuung und
eine Oma, die am Ort angesiedelt ist, und einen Ehemann hat, der in der Verwaltung arbeitet, dann kann man
das schaffen.
({7})
Dann kann man ziemlich schnell wieder Vollzeit arbeiten.
Aber was machen all die anderen? Was macht die Erzieherin im Heim - der Fall ist mir gerade heute
quergekommen -, die zwar nur ein Schulkind hat, aber
plötzlich im Dreischichtsystem arbeiten soll? Was macht
die Mutter von drei Kindern, die verschiedene Kitas und
Schulen besuchen, und deren Mann in der IT-Branche ist
und vielleicht bis in den Abend arbeitet? Wie viele
Frauen kommen abends nach Hause, machen den Großeinkauf und stürzen sich um 20 Uhr ins Waschen und
Bügeln? Sie arbeiten dann um 22 Uhr noch weiter, weil
sie sich Arbeit mit nach Hause gebracht haben.
Unbezahlte Hausarbeit ist der größte Sektor auf dem
Arbeitsmarkt. Wollen wir nicht auch, dass sich Eltern
Zeit für die Kinder nehmen? Kinder sind 16 Stunden am
Tag auf den Beinen und halten sich nicht an Öffnungszeiten. Das heißt, wir müssen es den Eltern ermöglichen,
dass sie ihre Berufs- und Familienzeiten so einrichten,
dass sie nicht zehn Jahre lang auf dem Zahnfleisch gehen
und keiner Aufgabe mehr gerecht werden. Deswegen
müssen wir dafür sorgen, dass Teilzeit eine anerkannte
Berufsform wird, dass man auch in Teilzeit alle Aufstiegsmöglichkeiten hat und nicht kurz-, mittel- und
langfristig abgehängt wird. Das haben wir neulich in der
Anhörung von allen Experten sehr deutlich gehört.
({8})
Das betrifft sowohl die Köpfe, in denen sich etwas bewegen muss, als auch die gesetzlichen Voraussetzungen.
Wir müssen uns das Teilzeitgesetz einmal genau ansehen
und überlegen, wie wir diese Schallmauer durchbrechen
können.
Zweitens. Wir müssen noch mehr flexible, individuelle
Arbeitszeitmodelle einführen. Viele Unternehmen haben
Vertrauensarbeit eingeführt. Nach den Erhebungen des
Ministeriums sind es 51 Prozent - das ist eine stolze
Zahl - und doppelt so viel wie 2003, als es noch
22 Prozent waren. Ich will mich jetzt mit meiner Kritik
zurückhalten - das Ministerium hat das sicherlich sehr
gründlich erforscht -, aber aus meiner Sicht könnten das
ruhig noch mehr Betriebe machen. Diese Vertrauensarbeit ist der Grund, warum es als Lehrerin möglich ist,
Familie und Beruf gut miteinander zu vereinbaren. Man
kann die Hefte sowohl um 16 Uhr als auch um 20 Uhr
korrigieren; Hauptsache sie werden korrigiert. Dieses
Erfolgsmodell muss auf andere Berufe übertragen werden.
Drittens: die Überbrückung von Elternzeit und der Wiedereinstieg in den Beruf. Auch da haben wir erhebliche
Steigerungen von Vertretungseinsätzen und Einarbeitungsprogrammen, die jedes fünfte Unternehmen anbietet.
Aber es ist nun einmal nur jedes fünfte Unternehmen. Es
müsste jedes sein. An dieser Stelle müssen wir noch sehr
viel tun. Das ist der Bereich, in dem sich künftig der
Wettbewerb um die qualifizierten Kräfte abspielen wird.
Kurz vor Ende meiner Redezeit möchte ich noch ein
Wort zur Kernforderung der Linken nach Einführung einer siebenjährigen Elternzeit sagen. Meine Damen und
Herren, diese Forderung steht unter der falschen Überschrift. Sie haben diese Forderung nämlich unter der
Überschrift „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ aufgeführt. Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet
aber nicht, dass man nur eins von beidem macht, sondern
dass man beides macht. Deswegen passt diese Forderung
nicht an diese Stelle.
Abgesehen davon ist diese Forderung realitätsfern.
Sie treiben die Frauen damit in eine Sackgasse. Nach
sieben Jahren können sie nämlich nicht mehr in ihren
Beruf zurückkehren. Das werden sie nicht schaffen.
({9})
Es macht keinen Sinn, ihnen etwas anderes vorzugaukeln.
Kollegin Möllring, achten Sie bitte auf das Zeichen
vor sich?
Ich bin bei meinem letzten Satz. - Noch viel schlimmer finde ich, dass Sie gerade Frauen, für die diese lange
Kündigungsfrist gilt, ein massives Einstellungshindernis ans Bein binden,
({0})
und zwar unabhängig davon, ob sie Kinder haben wollen
oder nicht. Hier sind Sie auf dem Holzweg.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Ina Lenke
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es
gleich vorwegzusagen: Wir führen keine allgemeine Debatte über die Familienfreundlichkeit von Unternehmen,
sondern uns liegt ein Antrag der Linken mit dem Titel
„Arbeit familienfreundlich gestalten - Vereinbarkeit von
Familie und Beruf für Mütter und Väter lebbar machen“
vor. Liebe Kollegen und Kolleginnen von den Linken,
das ist wahrlich ein Schauantrag, ein Schaufensterantrag.
Sicherlich hängt er ab morgen in allen Schaukästen der
Linken aus, ob in Thüringen, Sachsen oder Niedersachsen.
({0})
- Er hängt also schon aus; das kann ich mir vorstellen.
({1})
Ihre Strategie ist, den Eindruck zu erwecken: Die Linke
ist sozial,
({2})
die anderen Parteien sind unsozial.
({3})
Diese Strategie verfolgen Sie jedes Mal, wenn Sie unsere politischen Aussagen nicht teilen. Jedem, der sich
mit Ihrem Antrag inhaltlich auseinandersetzt, kann man
nur raten, ihn abzulehnen. Ich werde im Einzelnen begründen, warum.
({4})
Zum Inhalt. Sie wollen die Ausweitung des Kündigungsschutzes für Frauen und Männer. Heutzutage können sie drei Jahre lang zu Hause bleiben. In diesen drei
Jahren ist ihr Arbeitsplatz sicher. Nach diesen drei Jahren müssen sie, wenn sie ihren Arbeitsplatz behalten
wollen, zurückkehren. Frau Möllring hat schon darauf
hingewiesen, dass Sie den Kündigungsschutz von drei
Jahren auf sieben Jahre ausweiten wollen. Das heißt,
dass ein Handwerksbetrieb mit fünf oder zehn Mitarbeitern einen Arbeitsplatz bis zu sieben Jahre freihalten
soll.
({5})
- Natürlich steht das in Ihrem Antrag.
({6})
In Ihrem Antrag steht nicht, dass diese Forderung nur für
Betriebe, die mindestens 20, 25, 50 oder 100 Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen haben, gelten soll. Ich jedenfalls
habe nichts dergleichen gelesen, lasse mich von Ihnen
aber gerne eines Besseren belehren.
Wer jemals einen mittelständischen Betrieb geleitet
hat, der weiß, dass diese Regelung nicht vorteilhaft für
Frauen wäre, sondern einen Bumerangeffekt hätte.
({7})
Diese Regelung würde sich zum Nachteil der Frauen
auswirken.
Wenn ein Betrieb eine offene Stelle zu besetzen hat,
für die es zwei Bewerber, einen Mann und eine Frau,
gibt, wen wird der Betrieb wohl einstellen? Müsste der
Betrieb diesen Arbeitsplatz später eventuell sieben Jahre
freihalten, würde wahrscheinlich der Mann die Stelle bekommen. Die Betriebsleitung würde nämlich davon ausgehen, dass Männer in der heutigen Gesellschaft noch
nicht so häufig auf ihre Kinder aufpassen wie Frauen. Es
wäre aus Sicht des Betriebes also der sicherere Weg, den
Mann einzustellen.
({8})
Ihre Forderung hätte zur Folge, dass sich die Chancen
von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verringern.
Diese Regelung würde in der Praxis dazu führen, dass
der Arbeitsplatz nach sieben Jahren besetzt ist - was
soll der Betrieb auch machen? - und dass die Frau ihren
Arbeitsplatz nicht wieder bekommt. Denn nach sieben
Jahren kann man nicht die mittlerweile gut eingearbeitete Kraft, die diesen Arbeitsplatz nun hat, plötzlich an
eine andere Stelle versetzen.
Außerdem würde diese Regelung die Frauen in falsche
Sicherheit wiegen; das ist übrigens schon heute bei der
Dreijahresregelung der Fall. Auch ich bin der Meinung,
dass Familienarbeit äußerst wichtig ist. Es passt aber
nicht ins Konzept, dass der Staat sagt: Ihr könnt sieben
Jahre zu Hause bleiben und Familienarbeit machen. Deshalb lehnt die FDP diese arbeitnehmerinnenfeindliche Regelung ab. Wir wollen die Dreijahresregelung beibehalten.
({9})
In Ihrem Antrag findet sich die schöne Überschrift
„Berufsrückkehr fördern“. Sicherlich, Arbeitgeber und
Arbeitgeberinnen haben ein natürliches Interesse daran,
gut qualifizierte Mitarbeiterinnen nach der Elternzeit
wieder an ihrem ehemaligen Arbeitsplatz einzusetzen.
({10})
Wie wir wissen, hat die demografische Entwicklung zur
Folge, dass es immer weniger Personal gibt. Heutzutage
muss jeder Betrieb sein qualifiziertes Personal halten.
({11})
Der Arbeitsvertrag ruht während der Elternzeit; danach
wird die Frau wieder in den alten Stand eingesetzt. Ich
weiß gar nicht, was es da zu regeln geben soll. In der Regel spricht eine Arbeitnehmerin, bevor sie in Elternzeit
geht, mit ihrem Arbeitgeber darüber, ob sie die Möglichkeit hat, Urlaubsvertretung oder Krankheitsvertretung zu
machen. Eine solche aktive Rolle der Frau - oder des
Mannes -, die - oder der - in Elternzeit geht, ist in unserer Gesellschaft ausdrücklich erwünscht.
({12})
Die Forderungen der Linken im Hinblick auf die Gestaltung der Arbeitszeit sind ein Hammer. Ihre Klientel
arbeitet doch auch, kann doch auch nachdenken. Auch
bei Ihrer Klientel werden Sie mit diesen Forderungen
nur Kopfschütteln ernten. Sie wollen, dass Eltern bis
zum zwölften Lebensjahr des Kindes Beginn und Ende
der Arbeitszeit selbst gestalten können.
({13})
Zwölf Jahre lang das Recht auf Teilzeit, das Recht auf
Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, das Recht auf Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit, das Recht, Mehrarbeit nur zu erbringen, wenn die Arbeitgeberin die Betreuungskosten bezahlt. Man muss sich das einmal
vorstellen! Selbst eine Arbeitgeberin, die Frauen mit
Kindern einstellen will, wird sich das nicht mehr leisten
können, wird Männer einstellen müssen. Deshalb lehnt
die FDP Ihre Forderungen ab.
({14})
Gerade Existenzgründerinnen können sich so etwas
nicht leisten. Mit einer solchen Politik würde verhindert,
dass Frauen mit Kindern eingestellt werden. Wenn diese
Forderungen umgesetzt würden, würde das die Chancen
von Alleinerziehenden, einen Arbeitsplatz zu finden, zunichte machen.
Ich komme zum Schluss. Die FDP hält die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen für ausreichend. Alles
andere, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde dem
Wunsch, mehr Frauen in Beschäftigung zu haben, entgegenstehen.
({15})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dieter
Steinecke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich Frau
Möllring auf die Sprünge helfen. Was das Recht auf Teilzeit angeht, ist es meines Wissens so gewesen, dass die
SPD dieses Recht gegen den erbitterten Widerstand der
CDU/CSU durchsetzen musste.
({0})
- Dass die CDU/CSU im Nachhinein bekehrt ist, ist gut;
aber Sie sollten nicht Geschichtsklitterung betreiben.
Sie haben davon gesprochen, dass gerade in Grundschulen eine Randstundenbetreuung wichtig ist. Sie sollten einmal Ihre Kolleginnen und Kollegen in Niedersachsen ansprechen: In den niedersächsischen Grundschulen
werden bewährte Strukturen gerade massiv zerschlagen.
({1})
- Das ist kein Blödsinn, das ist so. Fragen Sie einmal
nach!
({2})
Meine Damen und Herren, der Antrag, den wir heute
beraten, ist nicht neu. Bereits in der 139. Sitzung am
24. Januar 2008 haben wir ihn in diesem Hause beraten.
Der Antrag ist - zu dieser Einschätzung sind wir vor gut
drei Monaten gekommen - falsch, und er ist seitdem
nicht richtiger geworden. Ich will die damalige Debatte
an dieser Stelle nicht wiedergeben; Sie können sie im
Protokoll nachlesen.
Auf einen zentralen Punkt möchte ich jedoch erneut
eingehen, auch wenn Herr Wunderlich sagt, wir hätten
das falsch verstanden. Herr Wunderlich, Sie haben
gleich Zeit, uns das in epischer Breite zu erklären.
({3})
Ich jedenfalls lese das, was in dem Antrag steht, so, dass
die antragstellende Fraktion allen Ernstes fordert, den
Kündigungsschutz für Eltern auszudehnen, bis das Kind
sieben Jahre alt ist. Das geht, wie meine Vorrednerinnen
schon gesagt haben, an der Lebenswirklichkeit vorbei.
Diese Forderung ist nichts anderes als hanebüchener Unfug. Ein solch umfassender Kündigungsschutz hätte nur
eines zur Folge: Die Beschäftigungschancen junger
Frauen würden sich massiv verschlechtern. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen - die nach wie vor das
Rückgrat unserer Wirtschaft und damit auch unseres Arbeitsmarktes darstellen - müssten sich zwei- bis siebenmal überlegen, ob sie eine junge Frau einstellen; denn
junge Frauen tragen nach wie vor den Hauptanteil an der
Kindererziehung. Im Zweifelsfall hätten gleich qualifizierte männliche Bewerber die Nase vorn. Das ist gleichstellungspolitisch kontraproduktiv, wenn nicht gar frauenfeindlich.
({4})
In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere
Frage: In welchen Berufen ist es überhaupt möglich,
nach siebenjähriger Abwesenheit wieder einzusteigen?
Dies dürfte doch umso schwieriger sein, je qualifizierter
die Tätigkeit ist, und ab einem bestimmten Niveau wäre
das praktisch unmöglich. Wer also eine siebenjährige Erziehungszeit fordert, propagiert faktisch ein Absinken in
Teilzeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder gar einen endgültigen Berufsausstieg.
({5})
Allein deswegen lehnen wir Sozialdemokraten den Antrag ab.
Meine Damen und Herren, neben seiner fundamental
falschen Hauptforderung enthält besagter Antrag auch
eine üble Unterstellung. Die Familienpolitik - damit
kann nur die der Bundesregierung gemeint sein - habe
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vernachlässigt,
ist da zu lesen. Ob diese Aussage aus Böswilligkeit oder
Ignoranz getätigt wurde, ist nicht von Interesse; in jedem
Falle ist sie durch und durch falsch.
({6})
Sie hat jedoch ihr Gutes, bietet sie mir doch eine willkommene Gelegenheit, die erfolgreiche sozialdemokratische Regierungspolitik der letzten mittlerweile mehr
als zehn Jahre erneut kurz darzustellen, denn es ist für
die Familien, für die Kinder und Eltern in unserem Land,
derzeit unerheblich, welches Parteibuch die jeweilige
Ministerin hat; derzeit ist es unerheblich. Entscheidend
ist, dass eine vernünftige Politik gemacht wird, und diese
ist - zumindest bei den vernünftigen Anteilen - auch unter der derzeitigen Ministerin eindeutig sozialdemokratisch.
({7})
Das freut mich als ehemaliges Mitglied des Niedersächsischen Landtages ganz besonders; ich kenne die Ministerin von früher ganz anders. Aber jeder hat natürlich das
Recht, Irrtümer zu erkennen und diese dann auch zu korrigieren.
({8})
- Bei Frau Möllring hoffen wir, dass dies auch noch geschieht. - Deshalb helfen wir der Ministerin nach Kräften, unsere erfolgreiche Familienpolitik fortzusetzen, gegen alle Widerstände innerhalb der Union.
Doch weg von den handelnden Personen - sprechen
wir über Inhalte. Aus Zeitgründen muss eine umfassende
Darstellung unterbleiben. Ich beschränke mich auf zwei
bis drei wesentliche Punkte.
Zunächst einmal ist der Ausbau der Tagesbetreuung
zu nennen. Wir haben schon vor Jahren für alle Kinder
ab drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geschaffen. In dieser Legislaturperiode haben
wir das Fundament dafür gelegt, dass es diesen Anspruch bald ab Vollendung des ersten Lebensjahres geben wird.
Das haben wir Sozialdemokraten durchgesetzt. Dafür
nimmt der Bund auch eine Menge Geld in die Hand.
Diese Bundesmittel in Milliardenhöhe - das betone ich
ausdrücklich - geben wir für eine Aufgabe aus, die eigentlich von den Ländern bewältigt werden müsste;
denn Familienpolitik ist eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe, bei der sich niemand ins Unterholz schlagen
darf. Das richte ich an die Adresse der Länder und der
Kommunen, aber ebenso nachdrücklich an die Verantwortungsträger in der freien Wirtschaft. Wir haben zwar
schon viel davon gehört, dass einige sich für bessere
Kinderbetreuung einsetzen, aber das reicht nicht aus.
Es genügt auch nicht, über einen vermeintlichen
Fachkräftemangel zu jaulen. Verschiedene Firmen zeigen bereits, wie sich vorhandene Potenziale mithilfe flexibler Arbeitszeitmodelle für Eltern weit besser ausschöpfen lassen; denn eine familiengerechte Arbeitswelt
ist nicht nur gut für Eltern und deren Kinder, sondern
nützt auch den Unternehmen.
({9})
Der Ausbau der Tagesbetreuung war und ist nicht weniger als ein Quantensprung. Noch in der Spätphase der
Ära Kohl wurden berufstätige Mütter - auch im Bundestag - je nach Lebenslage als bemitleidenswerte Opfer
dargestellt oder als karrieregeile Rabenmütter diffamiert.
Das ist Gott sei Dank vorbei.
Ein weiterer wichtiger Baustein unserer Familienpolitik ist das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz. Damit
haben wir nicht nur für mehr Partnerschaftlichkeit und
Geschlechtergerechtigkeit in der Kindererziehung gesorgt; zugleich wurden verlässliche Grundlagen für die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie für die Rückkehr in den Beruf geschaffen. Diese erfolgreiche Regelung wollen wir durch zwei zusätzliche Partnermonate
und die Abschaffung des doppelten Anspruchsverbrauchs bei gleichzeitiger Teilzeit weiterentwickeln. Dadurch wird das Gute noch besser werden.
Ich könnte jetzt noch über das Unternehmensnetzwerk
„Erfolgsfaktor Familie“ oder über lokale Bündnisse sprechen, auch dies von Sozialdemokraten initiierte Erfolge
auf dem Weg zu einer familienfreundlicheren Arbeitsund Lebenswelt; doch auch das würde den Zeitrahmen
leider sprengen. Interessierten empfehle ich an dieser
Stelle erneut die Lektüre des Protokolls der 139. Sitzung.
Darin ist dies alles bereits in epischer Breite ausgeführt
worden.
Ich fasse in einem Satz zusammen: Wir haben in den
letzten Jahren eine Menge erreicht. Natürlich haben wir
nicht das Paradies auf Erden geschaffen. Weitere Schritte
müssen folgen. Wir wollen die frühkindliche Betreuung
und Bildung verbessern; denn mit der Reduzierung der
Tagesbetreuung auf den Aspekt der Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf wird zu kurz gegriffen. Eine reine
Verwahrung und Beschäftigung wäre weder kindgerecht
noch nachhaltig. Nur gute Einrichtungen und qualifizierte Pflegepersonen können Kindern bessere und vor
allem gerechtere Bildungschancen verschaffen und sie
optimal fördern. Wir wollen für eine bessere Qualität,
Beitragsfreiheit und Ganztagsplätze in unseren Kitas sowie eine weitere Erhöhung der Anzahl echter Ganztagsschulen sorgen.
({10})
Eine gute Sozialpolitik ist immer auch eine gute Familienpolitik. Der gesetzliche Mindestlohn und eine bessere soziale Absicherung, wie wir Sozialdemokraten sie
anstreben, werden willkommene Hilfen für junge Familien sein. Ich schließe bewusst die Einelternfamilien ein.
({11})
Wir wollen auch den Ausbau von Eltern-Kind-Zentren
vorantreiben, um Dienstleistungen und flexible Angebote unter einem Dach anzubieten. Das wird den jungen
Familien in unserem Land nützen.
Die Belange von Kindern und ihren Eltern sind bei
uns Sozialdemokraten und natürlich auch Sozialdemokratinnen in guten Händen. Wir haben eine gute Politik
für Familien auf den Weg gebracht, wir haben große Erfolge erzielt, und wir werden unseren Weg in den kommenden Jahren in Regierungsverantwortung weiter beschreiten. Unsere Politik ist gut für die jungen Familien
in unserem Land. Auf absurde Anträge der sogenannten
linken Fraktion können sie hingegen getrost verzichten.
Schönen Dank.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Henry Nitzsche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Arbeit
und Familie sind die zwei Grundpfeiler, auf denen die
Zukunft unseres Landes, unserer Gesellschaft und letztlich auch unseres deutschen Volkes beruht. Ohne Arbeit
wird es keine Familien und ohne Familien keine Zukunft
geben. Insofern ist gegen das Grundanliegen der Linksfraktion prinzipiell nichts einzuwenden.
In Wahrheit geht es Ihnen aber doch nicht um die Familien, sondern alleine darum, Ihre Ideologie zu verbreiten und unsere Gesellschaft umzubauen.
({0})
Ich zitiere aus Ihrem Antrag: „Umverteilung des gesellschaftlich erbrachten Arbeitsvolumens“ und „Gleichverteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern“.
Kommen wir zu den Inhalten dieses Antrages: Verlängerung des Kündigungsschutzes bis zur Vollendung
des siebten Lebensjahres des Kindes, Mitspracherecht
bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeiten, Recht auf Ablehnung von Überstunden und weitere Wunschvorstellungen. Liebe Genossen von der Linkspartei, das ist Arbeiterparadies pur.
Erzählen Sie Ihre Forderungen doch bitte einmal einem Arbeiter von Opel, einem von Qimonda, der in
Dresden demonstriert, einem von Schaeffler, einem von
Rosenthal usw. Ich rate Ihnen, der Wirklichkeit im
Jahre 2009 einmal ins Auge zu schauen: Unternehmen
brechen reihenweise zusammen. Was steigt in Deutschland? - Es sind die Zahlen der Entlassungen und der
Kurzarbeiter. Sie glauben doch nicht wirklich, dass solche Forderungen unter diesen Umständen durchsetzbar
sind. Unter solchen Bedingungen würde kein Arbeitgeber einem Familienvater oder einer alleinerziehenden
Mutter eine Stelle anbieten. Auch junge Frauen würden
nicht eingestellt; denn sie könnten ja schwanger werden.
In meinem Wahlkreis hat zum Beispiel Hoyerswerda
eine Arbeitslosenquote von über 20 Prozent. Darunter
befinden sich noch viele junge Menschen, die nicht aus
ihrer Heimat wegziehen wollen. Sie glauben doch nicht,
dass diese nach Annahme Ihres Antrags überhaupt noch
eine Arbeit in der Region finden würden. Das würde das
Aus für solche Städte bedeuten. Erzählen Sie das doch
bitte einmal Ihrer Fraktion im Stadtrat. Die Einzigen, die
unter derartigen Bedingungen noch Arbeit finden würden, sind Kinderlose jenseits des gebärfähigen Alters.
Mit Ihrem Antrag verschlechtern Sie somit die Situation junger arbeitsloser Väter und Mütter massiv, was Ihnen aber offensichtlich egal ist. Sie wollen lieber die
Position der betrieblichen Interessenvertretungen und
der Gewerkschaften stärken, wohl wissend, dass sich
diese einen Dreck um die Arbeitslosen scheren.
Wenn es Ihnen wirklich um alle Familien in Deutschland ginge, dann müssten Sie sich auch um die Frauen
kümmern, die in den ersten Mutterjahren daheimbleiben
wollen. Auch sie verdienen unsere Unterstützung. Das
fängt schon damit an, dass man ihre Arbeit und ihre
Rolle als Mutter wertschätzt. Genau das tun Sie nicht.
Sie haben ganz andere Vorstellungen von Werten. Ich zitiere aus Ihrem Parteiprogramm:
Ein neues Familienbild muss auch die Lebensweisen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgendern einschließen.
So sieht also Ihre linke Familienförderung aus.
({1})
- Sie wissen genau, Frau Kipping, dass aus diesen Beziehungen alles Mögliche entsteht, bloß keine Kinder.
Kinder brauchen wir nun einmal in Deutschland.
In Ihrem Antrag geht es weder um die Familien noch
um arbeitslose Väter oder Mütter. Der Antrag der Linken
schafft keine Arbeit; er verhindert sie. Außerdem führt
er zu einem weiteren Geburtenrückgang.
Herr Nitzsche, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Aber genau das können
wir uns nicht leisten. Frau von der Leyen mag noch so
viele frisierte Statistiken hervorzaubern. Deutschland
braucht mehr Kinder. Dies muss der Kern eines jeden familienpolitischen Antrags sein.
Im Übrigen, Frau Präsidentin: Das Plenum ist nicht
beschlussfähig.
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Jörn Wunderlich.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch auf die Gefahr einer Verwarnung: Auf die braune
Soße meines Vorredners werde ich nicht eingehen.
({0})
Ich muss meine Rede ein bisschen stauchen. Das Intro
über die Kinderbetreuung lasse ich deshalb weg. Sie ist
- darin sind wir uns sicherlich alle einig - ein wichtiger
Schritt neben vielen anderen flankierenden Maßnahmen,
wie es heißt. Aber wie sieht es mit der Kinderbetreuung
aus?
Letzten Montag wurde in der Hannoverschen Neuen
Presse aus einem Arbeitspapier des Städte- und Gemeindebunds zitiert. Da heißt es, bislang sei es sehr schleppend. Um das Ziel der Bundesregierung umzusetzen,
müsse es mindestens mit doppelter Geschwindigkeit vorangehen. 40 000 bis 70 000 Alleinerziehende sind erwerbslos, weil ein Betreuungsplatz fehlt.
Ich frage mich, wo die flankierenden Maßnahmen
bzw. die anderen Schritte bleiben, die immer wieder angekündigt werden. Wir zeigen sie in unserem Antrag
auf.
Es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, mit
dem Ziel, Elternschaft lebbar zu machen und den Bedürfnissen junger Familien besser zu entsprechen. Es
hieß immer in epischer Breite, wir sollten das Protokoll
der ersten Beratung lesen; darin stehe das alles schon.
Aber man muss das immer wieder betonen und wiederholen, wenn es einfach nicht kapiert wird.
({1})
Es ist doch mein Antrag. Wo steht in diesem Antrag,
dass eine Mutter - erstaunlicherweise ist immer von
Müttern die Rede, dabei bestehen Eltern im Regelfall
aus zwei Personen; auch Väter sind Teil der Eltern ({2})
eine Auszeit von sieben Jahren nehmen kann? Das ist an
keiner Stelle zu lesen. Das ist eine bewusste politische
Fehlinterpretation, die ständig wiederholt wird.
({3})
Es geht um den Kündigungsschutz, nicht um Elternzeit.
({4})
Bei der Elternzeit mit den Partnermonaten wollten wir
eine wirklich partnerschaftliche Elternzeit mit jeweils
zwölf Monaten für den Vater und die Mutter, die nicht
übertragbar sind. Für Alleinerziehende sollte der doppelte Zeitraum gelten. Das war der Knackpunkt. Wir
wollten eine wirklich partnerschaftliche Regelung der
zwölf Monate. Die sieben Jahre sind abgelehnt worden.
Das will die Koalition nicht.
({5})
So eine Partnerschaft will die Koalition nicht. Die sieben
Jahre sind dem geschuldet, dass wir davon ausgegangen
sind, dass man das auch splitten kann.
({6})
- Frau Lenke, Sie kennen doch unsere Anträge auch.
({7})
Sie lehnen sie immer per se ab. Auf den Inhalt kommt es
Ihnen gar nicht an. Das zeigt sich auch heute.
Es ging darum, die Elternzeit so aufzusplitten, dass
man möglicherweise auch nach der Einschulung des
Kindes ein halbes Jahr nehmen kann. Weil im Regelfall
alle Kinder mit sieben Jahren eingeschult worden sind,
haben wir gefordert, den Kündigungsschutz entsprechend zu erweitern. Das ist der Kern unserer Aussage
zum Kündigungsschutz. Es ist nicht von einer siebenjährigen Auszeit - erst recht nicht nur von Müttern - die
Rede, Frau Lenke. Ich weiß nicht, woher Sie das haben.
Eine solche Interpretation ist schon irre.
({8})
Dass die Berufsrückkehr ein wesentlicher Punkt ist,
haben wir schon im Ausschuss festgestellt.
({9})
Dabei geht es um eine entsprechende Qualifizierung für
den Wiedereinstieg in den Beruf.
Kollege Wunderlich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Ich komme so schon kaum hin. Sie kann sich zu einer
Kurzintervention melden.
Die Förderung der Berufsrückkehr ist ein wesentlicher Punkt, der auch im Antrag gefordert wird. Es ist im
Ausschuss übereinstimmend festgestellt worden, dass
dies ein Knackpunkt ist, der geregelt werden muss.
Die Probleme mit dem Mehrschichtbetrieb, die Sie
angesprochen haben, Frau Möllring, greifen wir in unserem Antrag auf. Wir fordern einen Anspruch auf Teilzeit
bzw. auf Normalschichtbetrieb. Diesen Problemen ist
man aber noch nicht gerecht geworden. Man kann nicht
immer auf freiwillige Vereinbarungen zwischen Betriebsrat, Belegschaft und Unternehmer setzen. Man
muss Regelungen schaffen. Es gibt sicherlich etliche Betriebe, die sagen, wenn unser Antrag durchkommt - er
kommt nicht durch; ich weiß, wie hier abgestimmt
wird -: „Dies interessiert mich nicht; das mache ich sowieso schon; ich rede mit meiner Belegschaft.“ - Man
kann nicht immer so tun, als schikanierten die Arbeitnehmer die Arbeitgeber.
({0})
Ich spreche von den Unternehmen, die einen Mehrschichtbetrieb ohne Rücksicht auf Familien durchführen.
Das ist der Knackpunkt.
Wir zeigen in unserem Antrag die flankierenden Maßnahmen auf, die aus Sicht der Regierung eigentlich erforderlich sind, um eine familienfreundliche Politik in
diesem Land zu betreiben. Deshalb kann ich nur darum
ersuchen, unserem Antrag zuzustimmen. Sie sollten
nicht dauernd etwas hineininterpretieren, was nicht drinsteht. Das ist unmöglich.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Britta Haßelmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Staatssekretär!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, der
SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion, der FDP-Fraktion und meiner Fraktion! Es ist gut, dass wir heute mit
Ernsthaftigkeit darüber diskutieren, wie wir es schaffen
können, dass Familie und Beruf besser zu vereinbaren
sind; denn für immer mehr Menschen wird Zeit zu einem
wirklich knappen Gut. Das gilt insbesondere in der sogenannten Rushhour des Lebens. Am besten soll man im
Alter zwischen 20 und 35 Ausbildung, Beruf, Karriereleiter, Studienabschluss, vielleicht Familiengründung
und Kinder miteinander vereinbaren und schultern. Das
alles soll man mit einem Diplom unter dem Arm im Eiltempo hinbekommen. Das ist für immer mehr Frauen
wie für Männer ein wahnsinniges Problem; denn die eigene Lebenswirklichkeit deckt sich für immer mehr
Menschen immer seltener mit den eigenen Lebenswünschen. Deshalb ist es gut, darüber zu diskutieren, welche
Lösungswege es gibt, den vielfältigen Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern gerecht zu werden sowie jeder und jedem zu ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen sowie Familie und Beruf zu
vereinbaren.
Jörn Wunderlich, wir sollten uns einmal anschauen,
welche Auswirkungen Ihre Vorschläge voraussichtlich
auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Einstellungspraxis der Betriebe haben werden. Mit einer Elternzeit
von sieben Jahren und den anderen bereits angesprochenen Maßnahmen geben Sie in Ihrem Antrag definitiv
keine Antwort auf die anstehenden Herausforderungen
bei der Zeitsouveränität von Frauen und Männern.
({0})
Es geht um die Realität, in der wir leben, und die Realität der Erwerbstätigkeit von Frauen, ob jung oder alt.
Ihre Vorschläge werden negative Auswirkungen auf die
Einstellung von Frauen in der Praxis haben. Das kann
man nicht wegdiskutieren. Ich finde es wahnsinnig
wichtig, dass wir über Zeitpolitik, Rushhour des Lebens
sowie die Zeitsouveränität von Frauen und Männern diskutieren und darüber nachdenken, welche gesetzlichen
Rahmenbedingungen wir schaffen können und welchen
Raum wir in der Gesellschaft für bestimmte Fragestellungen bieten können. Eines der großen Probleme dabei
ist nämlich, dass es dafür eigentlich keine Akzeptanz
gibt.
Die Ansprüche von Frauen entsprechen in der Regel
- das belegen alle Umfragen, die wir kennen - nicht dem
Wunsch, weniger zu arbeiten, sondern mehr zu arbeiten.
Sehr vielen der befragten Frauen geht es um eine eigenständige Existenzsicherung und Erwerbstätigkeit. Wenn
man Männer fragt, was sie machen wollen, so bekommt
man als Antwort, dass sie Familienaufgaben mit Arbeit
verbinden wollen.
Die Lebensrealität sieht aber ganz anders aus: Die
Vollzeitquote von Vätern liegt bei der Erwerbstätigkeit bei
82 Prozent. Und diese Realität müssen wir anerkennen.
Insofern müssen wir überlegen, ob die Maßnahmen, die
Sie vorschlagen, nicht völlig kontraproduktiv sind und
dazu führen, dass es keine egalitäre Arbeitsteilung von
Frauen und Männern für Familie und Beruf geben kann,
obwohl diese das wünschen. Deshalb finde ich Ihre Vorschläge hierzu im Antrag so problematisch.
({1})
Da geht es jetzt nicht darum, zu sagen: Nur weil es die
Linken vorgeschlagen haben, muss man das alles ablehnen.
Vielmehr frage ich: Sind das wirklich geeignete Maßnahmen, um eine egalitäre Arbeitsteilung hinzubekommen,
wenn Frauen und Männer diese wollen? Das ist meiner
Meinung nach nicht der Fall.
Wir brauchen eine Debatte über das Thema Zeitsouveränität. Wir brauchen eine Debatte über die Vielfalt
der Lebensformen und der Lebensrealitäten, die Menschen leben wollen. Und wir brauchen eine Diskussion
darüber, welche Auswirkungen Maßnahmen, die wir
vorschlagen würden, auf die Geschlechtergerechtigkeit
hätten.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Arbeit familienfreundlich gestalten - Verein-
barkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter lebbar
machen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/10605, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7482 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tourismuspolitische Leitlinien der Bundesregierung
- Drucksache 16/11594 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße, Renate
Gradistanac, Clemens Bollen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Barrierefreien Tourismus weiter fördern
- Drucksache 16/12101 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Engagement für eine nachhaltige Tourismusentwicklung - Ausweisung der CO2-Bilanz bei Pauschalreisen
- Drucksachen 16/9346, 16/12075 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Brähmig
Dr. Reinhold Hemker
Dr. Ilja Seifert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ernst Hinsken.
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung für
Tourismus:
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Erstmals legt die Bundesregierung Leitlinien für die
Tourismuspolitik vor. Sie sind Ergebnis und Resultat
dessen, was wir in tourismuspolitischen Berichten in den
letzten Jahren immer wieder diskutiert und darüber hinaus auch beraten haben. Herr Kollege Burgbacher, ich
meine schon, sagen zu dürfen: Das ist die politische Botschaft. Zum Beispiel hat es unter einem FDP-Minister
noch nicht gegeben, dass tourismuspolitische Leitlinien
aufgelegt wurden.
({4})
Uns geht es vor allen Dingen darum, dass die Tourismuspolitik in das Bewusstsein der Bevölkerung gerückt
wird. Wir sagen gerade mit diesen Leitlinien, was wir
wollen und welche Felder unserer Meinung nach fortentwickelt werden sollen.
Wir können in Sachen Tourismus auf Boomjahre
aufbauen. Denn seit der Fußballweltmeisterschaft im
Jahre 2006 rollt auch der Tourismusball. Wir können
darauf verweisen, dass allein im vergangenen Jahr trotz
hoher Energiepreise ein Plus von 2 Prozent in Sachen
Tourismus erzielt wurde und wir eine Steigerung der
Übernachtungszahlen auf 370 Millionen vorweisen können.
Aber ich möchte gleichzeitig hinzufügen: 2009 ist die
Unsicherheit groß. Ich setze auf die Robustheit und auf
den Optimismus in der Tourismusbranche. Trotzdem
möchte ich nicht verhehlen, dass ich befürchte, dass es
gerade in diesem Jahr nicht nur zu einer Stagnation, sondern unter Umständen zu einem Minus von ungefähr
2 Prozent kommen wird. Gerade mit diesen Leitlinien
wollen wir aufrütteln. Wir wollen vernünftige Rahmenbedingungen setzen, damit sich die Tourismuswirtschaft
entfalten und sie noch mehr Gas geben kann, als das in
der Vergangenheit der Fall war.
Der Tourismus sollte nicht unterschätzt werden. Erfreulicherweise kann festgestellt werden, dass der Tourismus
nicht mehr nur durch die Brille des Urlaubs, der schönsten
Tage und Wochen des Jahres, gesehen oder in Verbindung
mit blauem Himmel, Strand und Meer gebracht wird,
sondern dass in der Zwischenzeit auch die ökonomische
Bedeutung des Tourismus erkannt wurde.
({5})
Ich darf bei dieser Gelegenheit darauf verweisen, dass
neben der Biotechnologie, dem IT-Sektor sowie der
Gesundheitswirtschaft gerade der Tourismus die Wachstumslokomotive Nummer eins in der Bundesrepublik
Deutschland in diesem 21. Jahrhundert, das gerade
begonnen hat, ist. Nur, die Rahmenbedingungen müssen
stimmen. Neben den Bereichen Arbeit und Soziales,
Steuern, Verkehr, Umwelt, Verbraucherschutz, Gesundheit, Bildung, Sport und Kultur und vielen anderen Dingen mehr gilt es, die Rahmenbedingungen zu schaffen,
damit sich der Tourismus entfalten kann. Wie hat kürzlich unser neuer Bundeswirtschaftsminister formuliert?
Er sagte: Wir brauchen Leitplanken, gerade bei schlechtem Wetter und trüber Sicht. - Wie recht hat er. Dem
wollen wir Rechnung tragen.
({6})
Auch müssen wir sehen, dass gerade die Tourismuswirtschaft unter dem Globalisierungs- und Wettbewerbsdruck steht; denn weltweit wird um den einzelnen
Touristen gebuhlt. Wir müssen alles tun, um ein Stück
von diesem Kuchen, der zur Verteilung ansteht, abzubekommen. Dabei können wir erfreut feststellen, dass
über 30 Prozent der Deutschen ihren Urlaub in der
Bundesrepublik Deutschland verbringen. In verschiedenen
Ländern sind es sogar noch etwas mehr. Ich möchte dem
Einzelnen die Urlaubsfreude nicht vermiesen. Man soll
sich informieren. Aber wenn man dreimal während des
Jahres in Urlaub geht und davon ein- oder zweimal den
Urlaub in der Bundesrepublik Deutschland verbringt,
dann tut man nichts Falsches, sondern man tut etwas für
unsere Tourismuswirtschaft und lernt Land und Leute
kennen.
({7})
Es gilt vor allen Dingen, die Qualität und die Stärken zu
stärken. Dasselbe gilt für die Qualifizierung. Wir müssen
neue Wege zum Beispiel in Sachen Städte- und Kulturtourismus gehen. Wir müssen versuchen, die ländlichen
Regionen aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken, die
seit dem Sommermärchen 2006 nichts abbekommen
haben. Wenn ich davon spreche, die Qualität zu stärken,
dann sage ich das deshalb, weil Qualität der Inbegriff
des positiven Tourismus in der Bundesrepublik Deutschland ist. Von Qualität kann man dann nicht sprechen,
wenn ein Brief nach dem Urlaubsaufenthalt eines Gastes
kommt, in dem sich dieser beschwert, was alles danebengegangen ist, sondern Qualität ist, wenn er sich im folgenden Jahr wiedersehen lässt. Deshalb muss besonders auf
die Qualität gesetzt werden.
({8})
Im Jahr 2010 ist die Metropole Ruhr Kulturhauptstadt
Europas. Kann eine Zeche schön sein? Diese Frage haben
die Menschen im Ruhrgebiet mit Ja beantwortet. Wir haben
das seitens der Bundesregierung gefördert. Wir sind mit
500 000 Euro dabei. Ich begrüße es, dass gerade die
Ruhrregion Partner bei der ITB-Eröffnung in der kommenden Woche ist. Das ist die Leistung der CDU, der CSU und
der SPD. Zusammen haben wir die notwendigen Maßnahmen ergriffen.
({9})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch das ansprechen,
was uns besonders unter den Nägeln brennt. Das ist zum
einen der Klimawandel und die Erderwärmung, zum anderen ist es der demografische Wandel. Wir dürfen nicht
übersehen, dass die Altersgruppe der 49- bis 74-Jährigen
29 Prozent der Bundesbevölkerung ausmacht. Im Tourismussektor aber sind es 48 Prozent. Da ist Musik drin.
An dieser Stelle müssen Programme aufgelegt werden,
Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
damit diese Leute mehr Möglichkeiten haben, Tourismus in der Bundesrepublik Deutschland zu machen.
Ich komme zu einer letzten Bemerkung: Werben tut
not. Wer nicht wirbt, der stirbt. Deshalb ist der Haushaltsausschuss gut beraten, wenn er der Deutschen Zentrale für
Tourismus mehr Mittel zuweist, damit man im Ausland
werben kann und Ausländern die Bundesrepublik
Deutschland so schmackhaft machen kann, wie wir sie
alle selbst empfinden.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Ernst
Burgbacher.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Ihrer Eingangsbemerkung, lieber Herr Hinsken: Ich
glaube, es ist unstrittig, dass es ohne die FDP und meinen
Vorgänger Olaf Feldmann keinen eigenständigen Tourismusausschuss gäbe.
({0})
Die FDP muss sich, was die Tourismuspolitik angeht,
nirgends verstecken; das ist auch klar.
({1})
Wir begrüßen durchaus, dass die Tourismuspolitischen Leitlinien heute diskutiert werden. Sie kommen
zwar zum Schluss der Legislaturperiode, aber immerhin:
Sie kommen noch.
({2})
Wenn man sie allerdings auf Inhalte abklopft, dann stellt
man fest, dass es ganz anders aussieht. Vieles ist völlig
unkonkret und nicht ausgereift. Handlungsanweisungen
sind aus diesen Leitlinien beim besten Willen nicht abzulesen.
({3})
Die FDP hat schon vor einiger Zeit ein Tourismuskonzept vorgelegt. Dieses enthält 31 sehr konkrete Forderungen, die man abarbeiten kann. Diese Forderungen
betreffen unter anderem Steuer- und Abgabeerleichterungen, verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten, die weitere Entzerrung der Ferienzeiten, die Gleichbehandlung
und Vernetzung der Verkehrsträger - dies ist ein ganz
wichtiges Thema - und die Verbesserung des touristischen Angebots für mobilitätseingeschränkte Menschen.
({4})
All dies kann man in ein Programm schreiben. Das ist
konkret, und dadurch weiß man dann, was man zu tun hat.
Eines ist mir ganz besonders wichtig: Wir sind der
Deutsche Bundestag. Daher müssen wir uns immer überlegen: Was macht die Politik im Bereich Tourismus, und
was machen andere? Das touristische Angebot, dessen
Qualität sowie die Werbung, das ist Sache der Tourismuswirtschaft. Unsere Aufgabe ist es, geeignete Rahmenbedingungen und die Vorraussetzungen dafür zu schaffen,
dass die an der Tourismuswirtschaft Beteiligten wirklich
arbeiten können.
Wenn man die Leitlinien auf diese Kriterien untersucht, stellt man fest, dass es ganz anders aussieht. Was
in den Leitlinien steht, unterscheidet sich fundamental
von dem, was die Große Koalition seit 2005 gemacht
hat. Ich möchte einige Beispiele dafür nennen. Ich zitiere
aus den Leitlinien:
Wettbewerbsverzerrungen in Deutschland, in Europa
und auf den internationalen Märkten sind nach
Möglichkeit zu vermeiden.
Wettbewerbsverzerrungen sind zu vermeiden. Sie aber
weigern sich, dafür zu sorgen, dass wir endlich vergleichbare Mehrwertsteuersätze in Europa bekommen.
({5})
Es ist eine eklatante Wettbewerbsverzerrung, wenn der
Hotelier in Kehl 19 Prozent Mehrwertsteuer vom Gast
nehmen muss und sein Kollege in Straßburg nur
5,5 Prozent.
({6})
Es ist ebenfalls eine eklatante Wettbewerbsverzerrung,
wenn der Gastwirt in Deutschland für die Boulette
19 Prozent nehmen muss und der Metzger nebenan nur
7 Prozent.
({7})
Das geht nicht, und deshalb brauchen wir einheitlich
diese reduzierten Mehrwertsteuersätze.
Zweites Zitat aus den Leitlinien:
Die Rahmenbedingungen für die Tourismuswirtschaft sollen weiter verbessert werden.
Sie, die Große Koalition, haben 20 Steuer- und Abgabenerhöhungen beschlossen. Die Menschen haben unterm
Strich erheblich weniger Netto vom Brutto. Das sind
keine besseren Rahmenbedingungen; vielmehr haben
Sie genau das Gegenteil bewirkt.
({8})
Drittes Zitat aus den Leitlinien:
Die Bundesregierung strebt eine kontinuierliche
Stärkung der Wirtschaftskraft der vielen kleinen,
mittelständischen und großen Unternehmen der
Tourismuswirtschaft an.
Was haben Sie mit dem Mittelstand denn gemacht? Ihre
Unternehmensteuerreform, verbunden mit einer Zinsschranke, mit der Besteuerung von Zins- und Leasingraten,
hat doch nichts mit „mittelstandsfreundlich“ zu tun. Außerdem haben Sie ein Erbschaftsteuerrecht geschaffen, das
gerade für den Mittelstand zu immensen Problemen
führt; ich verweise darauf, dass die Nachfolgeregelungen für die Tourismuswirtschaft äußerst problematisch
sind. Jetzt führen Sie noch Mindestlöhne ein. Ich wiederhole: Das hat mit „mittelstandsfreundlich“ überhaupt
nichts zu tun. Das Gegenteil ist der Fall.
({9})
Viertes Zitat aus den Leitlinien:
Die Unternehmen sind von überflüssiger Bürokratie
zu entlasten.
Schön wär’s! Was haben Sie eigentlich beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz gemacht? Wissen Sie, was
das an bürokratischen Belastungen bedeutet - gerade für
die mittelständische Wirtschaft?
({10})
Was wir heute brauchten, ist ein Konjunkturpaket III,
durch das der Abbau bürokratischer Regelungen vorangetrieben wird. Das kostet nichts; das würde der Wirtschaft und den Verbrauchern aber enorm helfen.
({11})
Letztes Zitat aus den Leitlinien:
Das hohe Ausbildungspotenzial in der Tourismuswirtschaft muss ausgeschöpft werden.
Stimmen Sie doch endlich unserer Initiative zur Liberalisierung des Jugendarbeitsschutzes zu!
({12})
Das wäre die beste Ausschöpfung des Potenzials, das es
in diesem Bereich gibt.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
Sie haben zwei Konjunkturpakete aufgelegt. Darin
kommt der Tourismus nicht vor, noch nicht einmal ansatzweise. Das zeigt übrigens, welchen Stellenwert Sie
der Tourismuswirtschaft wirklich zubilligen. Ich will
keine Unterstützungen für die Tourismuswirtschaft; das
will sie selbst auch nicht. Was ich will, ist ganz einfach:
Ich will, dass sie von unnötigen bürokratischen Lasten
befreit wird. Ich will, dass der Bund vernünftige Dinge
fördert. Ich will vor allem, dass die Verbraucher genug
Geld in der Tasche haben, um reisen zu können. Ein einfaches, niedriges und gerechtes Steuersystem wäre die
beste Tourismuspolitik, die wir überhaupt machen können. Dazu waren Sie in der Großen Koalition nicht in der
Lage. Ich verspreche Ihnen: Dies wird sich ab September/Oktober deutlich ändern.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette Faße für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es waren die Tourismuspolitikerinnen und Tourismuspolitiker der Koalition, die in Anträgen das Wirtschaftsministerium aufgefordert haben, sich mit der Zukunftsentwicklung des Tourismus auseinanderzusetzen.
({0})
Schwerpunkt sollte der Tourismus in Deutschland sein.
Das ist auf Anregung des DTV geschehen, und das sollten wir hier noch einmal klar und deutlich sagen.
({1})
Heute liegen die Leitlinien der Bundesregierung vor.
Es sind die ersten Leitlinien, die erscheinen, seitdem ich
dem Bundestag angehöre. Besser sie liegen erst jetzt vor
als gar nicht. Man muss sich mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Was bedeuten Leitlinien eigentlich? Was
sollen sie eigentlich initiieren? Nach welchen Grundsätzen soll die Tourismuspolitik in Zukunft ausgerichtet
sein? Woran soll sie sich festmachen? Was sind die übergeordneten Themen? Diese Fragen gilt es zu beantworten.
Leitlinien können keine Verbandspolitik widerspiegeln. Sie dürfen sich auch nicht in Details verlieren. Verbände, Gewerkschaften und Parteien sind jetzt gefordert,
sie für sich herunterzubrechen und zu sagen, in welchem
Fachbereich sie welche Handlungsperspektiven sehen.
Diese Leitlinien, lieber Kollege Burgbacher, sind und
werden nie FDP-Leitlinien sein - jetzt nicht und in Zukunft nicht. Die FDP wird die Tourismuspolitik in
Deutschland nicht zu bestimmen haben.
({2})
Dafür werden wir heute mit großer Mehrheit Sorge tragen.
({3})
Auch die SPD wird es sich natürlich zur Aufgabe machen, die Leitlinien zu beraten. Wir führen dazu eine
Ausschussanhörung durch. Die SPD wird dazu auch eine
Fachkonferenz veranstalten. Wir werden dann die Papiere nicht schnell in den Papierkorb werfen - ich hoffe,
alle anderen auch nicht -, sondern sie anwenden und
weiterentwickeln. Die Schwerpunkte, die gesetzt worden
sind, sind richtig.
Es ist hingewiesen worden auf die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus, auf seine Nachhaltigkeit, auf die
Themen: demografischer Wandel, Barrierefreiheit, Teilhabe, Qualität, Qualifizierung. Es geht um Produktentwicklung und um die Aus- und Weiterbildung. Wir in
Deutschland haben uns natürlich nach den Rahmenbedingungen der EU und der UNWTO zu richten. Wir
müssen uns eingebunden sehen. Wir sind hier an einer
Schnittstelle weltweit, aber auch an einer Schnittstelle zu
den Ländern und zu den Kommunen. Ich hoffe, dass unAnnette Faße
sere Leitlinien in den Ländern fortgeführt werden, dass
die Länder sich nicht nur mit einem Masterplan auseinandersetzen, sondern auch Leitlinien entwickeln, an denen sich alle orientieren können.
Ganz besonders wichtig ist für uns, dass das Thema
Barrierefreiheit bereits in der Einleitung sehr deutlich
hervorgehoben wird, aber auch in den weiteren Punkten
auftaucht.
({4})
Urlaub für alle, das muss unser Ziel sein. Um diesen Ansatz konsequent zu verfolgen, haben wir in den vergangenen Wahlperioden - dies ist jetzt meine fünfte Wahlperiode - immer einen Antrag vorgelegt, der sich mit
dem Thema Barrierefreiheit befasst.
Auf der einen Seite ist es ganz schön schlimm: Barrierefreiheit, Urlaub für alle, für Jung und Alt, für Menschen, die mobilitätseingeschränkt sind, das haben wir in
Deutschland noch nicht erreicht, auch in dieser für mich
fünften Wahlperiode nicht.
({5})
Auf der anderen Seite hat sich der Bundestag - das gilt
auch für die vorherigen Wahlperioden - immer mit dem
Thema Barrierefreiheit auseinandergesetzt. Die Tourismuspolitiker haben sehr früh erkannt, dass das für die
Tourismuswirtschaft wichtig ist, nicht nur aus sozialen
und ethischen Gründen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen. Barrierefreiheit wird ein Qualitätssiegel
sein, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Darum
ist es wichtig, dass wir uns auch in dieser Wahlperiode
damit befassen. Daher haben wir heute diesen Antrag
eingebracht.
Es muss Ziel sein, eine Transportkette zu bilden. Den
Begriff der Transportkette verwenden wir nicht nur deshalb, weil er sich so technisch anhört. Damit wollen wir
zum Ausdruck bringen: Von Haus zu Haus, von zu
Hause bis zum Urlaubsziel, muss Mobilität garantiert
sein. Auch am Urlaubsort muss man sich bewegen können. Zur Erreichung dieses Ziels besteht Handlungsbedarf in vielen Bereichen. Wir haben die Handlungsfelder
in unserem Antrag deutlich genannt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle darauf hinweisen,
dass es durch das Konjunkturprogramm II auch möglich
ist, im baulichen und verkehrlichen Bereich Barrierefreiheit zu erreichen. Das ist bei allen Diskussionen untergegangen. Aber wichtig ist: Auch dieses Segment ist in den
Möglichkeiten des Konjunkturprogramms II eingeschlossen.
({6})
Gesellschaftliche Teilhabe für alle, selbstbestimmt in
den Urlaub fahren zu können, das ist glücklicherweise
für viele eine Selbstverständlichkeit, aber leider noch
nicht für alle. Unsere Sorge ist natürlich, dass sich in Zukunft viele einen Urlaub nur noch sehr eingeschränkt
oder gar nicht mehr werden leisten können.
({7})
Die Prognosen, die wir heute auf Deutschland bezogen
und weltweit zur Kenntnis nehmen können, sind sehr
unterschiedlich. Auf jeden Fall heißt es: Die Zahl der
Buchungen geht zurück. Nach Befragungen des ForsaInstituts wollen in diesem Sommer noch 57 Prozent eine
Reise buchen. Nach dem ADAC-Reisemonitor planen
noch 64,5 Prozent einen Urlaub. Das wären 3 Prozent
weniger als im Vorjahr.
Wenn wir heute über Leitlinien diskutieren, dann können wir nicht sagen, dass wir hier eine heile Welt haben.
Das ist nicht so. Wir haben in diesem Jahr auf jeden Fall
mit einer Stagnation zu rechnen. Auch bezogen auf das
Jahr 2010 sehe ich das Ganze sehr kritisch; um es deutlich zu sagen.
Es werden sich Auswirkungen auf den Freizeit- und
Urlaubsbereich zeigen und damit auch auf Arbeitsplätze
und - dies ist meine große Sorge - auf Ausbildungsplätze. Auch wenn zurzeit noch viele sagen - sei es im
Reisebüro oder in der Gastronomie -, dass sie gute Fachkräfte haben und diese behalten wollen, so habe ich doch
die Sorge, dass die Situation schwieriger wird und man
sich dann von Arbeitskräften trennt.
Darum möchte ich klar und deutlich darauf hinweisen: Auch für diese Branche gilt die Kurzarbeiterregelung. Qualifizierung ist dringend geboten. Ich fordere
die Verbände auf, in ihren Gremien daran zu arbeiten,
das für den Fall der Fälle miteinander zu verbinden und
dies klar und deutlich zu machen.
({8})
Frau Kollegin, bitte denken Sie an die Redezeit.
Ja. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in der
nächsten Woche beginnt die ITB. Es werden fast so viele
Aussteller wie bisher da sein. Wir sind sehr gespannt auf
die Zeichen, die die ITB aussenden wird. Für Deutschland bedeutet dies: Tourismus ist mehr als ein Wirtschaftsfaktor. Touristische Angebote sind die Visitenkarte Deutschlands.
Danke schön.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ilja Seifert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Ernst Hinsken, am 27. April 2007 hielten Sie auf der
Tourismuskonferenz der Linksfraktion das Grußwort.
Auf dieser Konferenz diskutierten wir die Tourismuspolitischen Leitbilder der Linken. Ich meine, dass Ihre
Teilnahme für Sie und für uns gut war. Ich danke Ihnen
noch einmal ausdrücklich dafür.
({0})
Heute - fast zwei Jahre danach - diskutieren wir die
Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung,
die im Wesentlichen Ihre Handschrift tragen. Wenn man
beide Dokumente nebeneinanderlegt, wird man etliche
Übereinstimmungen feststellen. Insbesondere freut
mich, dass das Thema des barrierefreien Tourismus Ihre
Leitlinien von Anfang bis Ende durchzieht. Bedauerlicherweise sagten Sie jetzt kein Wort dazu. Immerhin hat
Frau Kollegin Faße das nachgeholt.
({1})
Erforderlich ist jedoch aus meiner Sicht, die Herausforderungen der Tourismuspolitik nicht aus den Wünschen der Tourismuswirtschaft abzuleiten, sondern in
erster Linie die Bedürfnisse der Menschen nach Erholung, Bildung und Gesundheit zu befriedigen. Darin liegt
der entscheidende Unterschied zwischen der Tourismuspolitik der Bundesregierung und der Tourismuspolitik
der Linken. Sie machen das Mittel zum Zweck. Die
Linke tritt für einen Tourismus für alle ein; in den Worten stimmen wir durchaus überein.
({2})
Wir wollen, dass alle Menschen reisen können. Dies
sage ich auch deshalb, weil ich aus der DDR komme und
damals das Reisen aufgrund politisch-ideologischer Verbohrtheit nur sehr eingeschränkt möglich war.
({3})
- Das ist die offizielle Position unserer Partei.
({4})
Wir wollen, dass alle reisen können, um sich zu erholen, sich zu bilden und etwas für ihre Gesundheit zu tun.
Wir wollen, dass man sich die Welt anschaut, um seine
Weltanschauung auszuprägen.
Insofern ist es inakzeptabel, wenn zunehmend mehr
Menschen - vor allem auch Familien mit Kindern nicht mehr reisen können,
({5})
weil ihnen das Geld dafür fehlt oder weil sie ihren Jahresurlaub weder planen noch nehmen können. Wir wollen, dass auch Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger und deren Kinder real Urlaub machen können.
({6})
Die Linke - das will ich ausdrücklich sagen - tritt für
die stärkere Förderung des Kinder- und Jugendtourismus
ein.
Wir brauchen auch die alljährliche Schulfahrt für alle,
und zwar als Bildungsauftrag.
({7})
Die Linke tritt für durchgängig barrierefreien Tourismus ein. Wir haben dazu bereits im September 2008 einen Antrag in den Bundestag eingebracht. Ich freue
mich, dass viele unserer Vorschläge und Forderungen
nun auch im Antrag der Koalitionsfraktionen wiederzufinden sind.
Die Linke tritt für ökologisch verantwortbaren Tourismus ein. Auch wenn wir wissen, dass Reisen die Umwelt
beansprucht, wollen wir Reisen für alle ermöglichen.
Umwelt und Tourismus dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Hier sind intelligente Lösungen nötig.
Darauf müssen wir alle noch ein bisschen Gehirnschmalz verwenden.
Die Linke tritt für eine stärkere Entwicklung des Tourismus in ländlichen Räumen ein. Ich lade Sie herzlich
ein: Kommen Sie in die Oberlausitz, ins neu entstehende
Seenland, ins Zittauer Gebirge oder ins sorbische Siedlungsgebiet.
Die Linke tritt auch für eine sich gut entwickelnde
Tourismuswirtschaft ein. Wir wollen gute Ausbildungsplätze und gute Arbeitsplätze mit guten Löhnen für gute
Arbeit.
({8})
Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse
lehnen wir ab.
Deswegen, lieber Ernst Hinsken und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Stellen Sie Ihre
Tourismuspolitischen Leitlinien vom Kopf auf die Füße.
Dann kommen wir zu einer sozial gerechten, barrierefreien und ökologisch verantwortbaren Tourismuspolitik. Das dient den Menschen und fördert die Tourismuswirtschaft.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns gut zusammenarbeiten! Wir werden einiges erreichen.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Herlitzius
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Seit einigen Wochen steht ein Thema im
Hauptfokus der öffentlichen Medien: die Weltwirtschaftskrise und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Viele Arbeitsplätze, auch in Deutschland, sind
gefährdet: 20 000 akut bei Opel. 16 000 Leiharbeiter bei
VW sind schon entlassen worden. Gestern haben wir auf
dem Parlamentarischen Abend des Bundesverbandes der
Deutschen Fluggesellschaften erfahren, dass auch von
den 150 000 Arbeitsplätzen im Flugverkehr einige gefährdet seien, wenn wir nicht schleunigst Landebahnen
ausbauten, weitere Lärmschutzgesetze verhinderten und
ansonsten möglichst weitermachten wie bisher.
Meine Frage lautet: Ist das richtig? Ist es der richtige
Weg, dass wir für mögliche Arbeitsplätze sorgen, indem
wir zugleich unsere Natur, unsere Umwelt und unser soziales Leben weiter zerstören? Ist das der richtige Weg?
Diese Frage stellt sich vor allem auch vor dem Hintergrund eines Konjunkturprogramms, das solche Entwicklungen noch verstärkt bzw. weiter unterstützt. In Ihrem
Konjunkturprogramm gibt es nämlich einen ganz kritischen Baustein. Es handelt sich um die Gelder zur Industrieförderung in Höhe von 100 Milliarden Euro. Diese
100 Milliarden Euro werden industrielle Umbauten, die
dringend notwendig sind, verhindern und die normalen
Selbstreinigungskräfte der Wirtschaft behindern; denn
viele Firmen sind gelähmt, warten ab und halten die
Hand auf. So werden in den nächsten Wochen weitere
Firmen um Hilfe bitten.
Aber kommen wir zum Tourismus: Reden wir über
einen Bereich, der wirklich viele Arbeitsplätze umfasst.
Es gibt 3 Millionen Arbeitsplätze im touristischen Bereich. Damit steht der Tourismus bei den arbeitskraftintensiven Bereichen an dritter Stelle, und zwar nach dem
Handwerk und dem Gesundheitswesen. Das sollten wir
uns einmal vor Augen führen. Das heißt, wir müssen den
Fokus auch auf diesen Bereich legen. Es geht hier nämlich um Arbeitsplätze, die sich über ganz Deutschland
verteilen, um Arbeitsplätze in der Provinz, um Arbeitsplätze von Frauen, um Arbeitsplätze vom Bayerischen
Wald bis nach Helgoland. Um diese Arbeitsplätze müssen wir uns kümmern, weil sie regionale Stabilität bewirken. Insofern ist es an dieser Stelle wichtig, zu fragen: Was sind die Probleme des Tourismus?
Ein Problem des Tourismus ist das Kirchturmdenken
der Tourismusfachleute, deren Welt an der Gemeindegrenze aufhört.
({0})
Weitere Probleme sind der anstehende Generationswechsel in den Unternehmen, die marode Infrastruktur
und die geringe Investitionsbereitschaft vieler Unternehmen. Ein besonders schwerwiegendes Problem ist der
Qualitätsstandard in den Hotels und der Gastronomie in
Deutschland. Gehen wir einmal ein Stück von der
Hauptstadt weg in den ländlichen Raum, dann stoßen
wir dort in Hotels und Gaststätten auf den Charme der
50er- und 60er-Jahre.
({1})
An dieser Stelle müssen wir die Unternehmen unterstützen. Wir müssen ihnen helfen, sich zukunftssicher aufzubauen.
Das ist der Grund, warum wir Leitlinien brauchen.
({2})
Nur: Können die Leitlinien, die uns heute vorgelegt worden sind, dem wirklich gerecht werden? Stecken sie einen Rahmen ab? Geben sie Ziele vor? Vor allen Dingen:
Beinhalten sie klare Zielvorgaben? Nein, sie sind im
Moment nichts weiter als Prosa.
Insofern bin ich froh, dass wir zu diesem Thema eine
Anhörung mit vielen Fachleuten durchführen. Ich hoffe,
dass die geballte Fachlichkeit diese Leitlinien weiter unterfüttern kann, damit sie zu Leitlinien werden können,
die unserer touristischen Infrastruktur in Deutschland
wirklich helfen können,
({3})
die uns zu Spitzenreitern machen werden.
Lassen Sie uns einen Blick auf die Schweiz werfen.
Gestern ist der dritte Tourismusbericht des Weltwirtschaftsforums veröffentlicht worden. Die Schweiz ist im
Vergleich von 133 Ländern Top-Urlaubsdestination. Warum? Sie hat einen attraktiven flächendeckenden Nahverkehr.
({4})
Sie hat Naturräume, die sie richtig schützt, und eine Gastronomie mit einem hohen Qualitätsstandard. Da können
wir uns noch einiges abschauen.
Wir müssen uns den Herausforderungen stellen. Dazu
gehören die Themen Klimawandel und Tourismus, nachhaltige Mobilität und vor allen Dingen demografischer
Wandel, die dringend Beachtung finden müssen. Ich
glaube, da ist noch einiges zu tun.
({5})
Wir brauchen einen sozialen Rahmen, Mindestlöhne,
aber auch Jugendschutz. - Herr Burgbacher, Ihre Forderung dazu ist fatal. - Ebenso brauchen wir klare steuerliche Regeln und eine nachhaltige Förderung statt einer
Förderung von Schneekanonen.
({6})
Außerdem sind flächendeckende Qualitätsstandards und
Unterstützungsprogramme für Hotels notwendig, damit
diese auf Dämmbau und erneuerbare Energien umstellen
können.
Danke schön.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Klaus Brähmig das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist eine gute Tradition, am Vorabend der ITB eine
tourismuspolitische Debatte mit Analysen und einem
Ausblick zur Situation der Branche zu führen. Ich
möchte dies mit einem Dank an Michael Glos für seine
Arbeit verbinden. In seiner Amtszeit sind für den Touris22496
musstandort Deutschland und die Branche wegweisende
Entscheidungen getroffen worden,
({0})
so - als Vorläufer eines Staatssekretärs - die Einrichtung
des Tourismusbeauftragten als direkter Ansprechpartner
in der Bundesregierung für die Branche und die beständige Erhöhung der Mittel für die Deutsche Zentrale für
Tourismus. Ich sage ausdrücklich, dass wir weiterhin
eine Bündelung der Aktivitäten zwischen Bund, Ländern
und der Wirtschaft brauchen nach der Devise: nicht kleckern, sondern klotzen. Es wäre natürlich absolut wünschenswert, dass unter der Leitung der DZT eine konzertierte Aktion zur Bewerbung Deutschlands stattfindet.
Außerdem sind zum ersten Mal tourismuspolitische
Leitlinien der Bundesregierung verabschiedet worden;
Ernst Hinsken hat sie vorgestellt.
Gleichzeitig will ich die Gelegenheit nutzen, unserem
neuen Tourismus- und Wirtschaftsminister Karl-Theodor
zu Guttenberg Glückwünsche zur Amtsübernahme auszusprechen. Bei ihm ist die Branche in guten Händen.
Sein Wahlkreis ist zutiefst touristisch geprägt. Er kennt
aus eigener Erfahrung die Vielfalt des Tourismusstandortes Deutschland, zum Beispiel die exzellente Gastronomie in Franken. Burgen, Schlösser, Klöster, Kirchen,
Bäder wie zum Beispiel das in Staffelstein und eine zauberhafte Landschaft sind Markenzeichen für das touristische Angebot im Maintal und der Fränkischen Schweiz.
({1})
Meine Damen und Herren, das Jahr 2008 war ein Rekordjahr für den Deutschlandtourismus: 370 Millionen
Gästeübernachtungen, ein Plus von über 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr, bei ausländischen Gästen sogar
ein Plus von 3 Prozent. Das sollte der Maßstab für das
Jahr 2009 sein.
Was sind nun die aktuellen Herausforderungen für die
Tourismusbranche? Der Investitionsstau in der Tourismuswirtschaft muss in den nächsten Jahren aufgelöst
werden, vor allem in den ländlichen Räumen. Hier gilt
es, antizyklisch zu arbeiten und jetzt mithilfe der vielfältigen Bundesprogramme zu investieren. Ich gehe ausdrücklich davon aus, dass gerade die ortsansässigen
Sparkassen und Kreditinstitute sowie die Volksbanken
hier Gewehr bei Fuß stehen.
Wir brauchen eine Wettbewerbsgleichheit zum Beispiel auf dem Gebiet der Breitbandversorgung, um eine
Gleichheit zwischen den Ballungsräumen und dem ländlichen Raum herzustellen. Ich sage ausdrücklich: Es darf
nicht sein, dass man mit dem Flugzeug schneller am
Mittelmeer ist als in einem deutschen Mittelgebirge. Die
verkehrliche Erreichbarkeit deutscher Tourismusregionen via Pkw, Bahn und Bus muss unbedingt verbessert
werden.
Stichwort: Umweltzonen in deutschen Städten. Wir
müssen aufpassen, dass wir nicht den Ast absägen, auf
dem wir sitzen.
({2})
Die Reisebusse sind das umweltfreundlichste und nachhaltigste Verkehrsmittel, das es im Tourismus gibt. Es
wird in Zukunft vor allem wegen der demografischen
Entwicklung an Bedeutung gewinnen. Wir müssen aufpassen, dass wir die Busbranche nicht weiter drangsalieren.
({3})
Die Zeit ist längst reif, um unnötige Vorschriften und
Bürokratie über Bord zu werfen, die eine touristische
Entwicklung in Deutschland hemmen.
Wir brauchen des Weiteren sportlich-kulturelle und
touristische Großereignisse. Diese sind in unsere Überlegungen einzubeziehen. Auch meine Vorredner haben
schon darauf hingewiesen: Die Kulturhauptstadt Essen
2010, die Frauenfußballweltmeisterschaft 2011 und das
Luther-Jahr 2017 sind Projekte, die wir als große Chance
für Deutschland nutzen müssen, um uns als weltoffenes,
tolerantes und gastfreundliches Land zu präsentieren.
Auch mir ist klar: Der Tourismus wird über kurz oder
lang nicht die Insel der Glückseligen bleiben. Er hängt
natürlich wie alle anderen Branchen von der nationalen
und internationalen Wirtschaft ab. Bisher steht die Tourismuswirtschaft deutlich besser als andere Branchen da.
Mittelfristig können aber auch hier die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise durchaus spürbar werden.
Keine Finanz- und Wirtschaftskrise der Welt darf
dazu führen, dass wir die Rolle des Tourismus, wie seit
zehn Jahren im Globalen Ethikkodex festgeschrieben,
vergessen. Tourismus soll weltweit zur wirtschaftlichen
Entwicklung, zur internationalen Verständigung sowie
zum Wohlstand und zur Einhaltung menschlicher
Grundfreiheiten beitragen. Die Einhaltung dieser ethischen Standards des Tourismus sollte daher durch freiwillige Angaben in Reisekatalogen aufgezeigt werden.
Dann könnten Reiseentscheidungen auch danach getroffen werden, inwieweit die Zielländer mit Fragen wie
Menschenrechten, Religions- und Pressefreiheit, Gleichstellung von Frauen, Schutz von Minderheiten und Maßnahmen gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern umgehen.
Meine Empfehlung an die Reisebranche und an die
Reiseveranstalter ist auch, das Produkt Deutschland mit
seinen attraktiven Städten und Regionen noch stärker in
die Vertriebs- und Marketingplanung einzubeziehen.
Unsere Verbraucher können durch ihr Reiseverhalten
wichtige Impulse für den Deutschlandtourismus setzen,
um das Außenhandelsbilanzdefizit von circa
35 Milliarden Euro zu minimieren und Arbeitsplätze in
Deutschland zu sichern und neue zu schaffen. Urlaub in
Deutschland ist das beste Konjunkturprogramm für die
deutsche Wirtschaft.
Viele deutsche Ferienregionen bieten bereits innovative Angebote mit einem wettbewerbsfähigen PreisLeistungs-Verhältnis und hoher Qualität an. Diese Anstrengungen müssen weiter verstärkt werden. Dies gilt
vor allem für die Qualifikation der Mitarbeiter in den
touristischen Einrichtungen. Hier sehe ich genauso wie
meine Vorredner große Chancen.
Ein ganz wichtiger Aspekt für die Tourismusentwicklung ist die Barrierefreiheit. Wir haben heute einen entsprechenden Antrag eingebracht. Ich glaube, die Fraktionen liegen hier gar nicht so weit auseinander. Wir
werden uns unter der Leitung unserer Ausschussvorsitzenden Marlene Mortler Anfang Juni in Sachsen vor Ort
diese Dinge anschauen. „Barrierefreies Reisen in Sachsen“ ist ein guter Einstieg in dieses Thema.
Die Barrierefreiheit muss ein Qualitätsmerkmal für
den deutschen Tourismus werden. Barrierefreiheit
kommt nicht nur Menschen mit Behinderungen zugute,
sondern auch Familien mit kleinen Kindern sowie mobilitätseingeschränkten und älteren Menschen.
Zusammen bilden sie eine meist unterschätzte, kaufkraftstarke Kundengruppe, um die national und international geworben werden muss. Es gilt, auf diesem Gebiet
seitens der DZT weitere Anstrengungen zu unternehmen
und dieses Segment bei der Auslandswerbung viel stärker in den Fokus zu nehmen.
({4})
Die ITB zeigt erneut, dass die Messe und die Branche
auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nichts von ihrer Vitalität eingebüßt haben. Die langfristigen Perspektiven für die Branche sind gut, wenn die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzt.
Lassen Sie mich zum Abschluss - ich weiß nicht, ob
es eine weitere Gelegenheit dafür geben wird - ein Dankeschön an zwei Kolleginnen aussprechen, an Annette
Faße und Bruni Irber. Ich mache das bewusst an dieser
Stelle, weil sie im Herbst nicht mehr dabei sein werden.
Ein herzliches Dankeschön für die kollegiale und
freundschaftliche Zusammenarbeit! Ihr seid ja nicht aus
der Welt. Auch wenn ihr nicht mehr im Hause seid, wird
es noch eine Vielzahl von Kontakten geben. Ihr werdet
eure Erfahrungen insbesondere im Tourismusbereich
auch dann noch einbringen können.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Nun hat die Kollegin Brunhilde Irber von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute unter anderem einen Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Sie fordert in ihrem Antrag, dass Verkehrsträger wie Flugzeuge und
Bahnen gesetzlich verpflichtet werden, die CO2-Belastung, die sie verursachen, auszuweisen, damit umweltbewusste Verbraucher eventuell auf Fernreisen verzichten.
({0})
Wie stellen Sie sich das vor? Das wäre ein bürokratisches Monster.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion hält die Einbeziehung des
Luftverkehrs in den Emissionshandel für ein wesentlich
besseres Modell. Dieses Modell wollen wir weiter ausbauen. Deshalb ist Ihr Antrag abzulehnen.
({2})
Ich möchte nun auf die Leitlinien der Bundesregierung für die Tourismuspolitik zu sprechen kommen. In
den letzten 14 Jahren habe ich im Bundestag dafür gekämpft, dass der Tourismus vom Kabinett und den Fraktionen als die große Wachstumsbranche wahrgenommen
und ihm ein höherer Stellenwert eingeräumt wird. Heute
wird mein Traum wahr. Dafür möchte ich mich unter anderem auch beim Tourismusbeauftragten Ernst Hinsken
bedanken, auch wenn einige Wünsche offen geblieben
sind.
Der Lackmustest für unsere Tourismuswirtschaft ist
die aktuelle Wirtschaftskrise. Gerade in Krisenzeiten
braucht die Branche gute politische Rahmenbedingungen, um sich den Herausforderungen stellen, um wettbewerbsfähig bleiben und notwendige Anpassungen vornehmen zu können. Die Wirtschaftskrise birgt aber auch
Chancen für den Inlandstourismus. Bereits 2008 boomte
der Inlandstourismus mit einem Anteil von 38 Prozent.
Der Trend zum Urlaub in heimischen Gefilden wird weiter zunehmen. Das stimmt mich zuversichtlich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Tourismus ist
Qualität der Schlüssel zum Erfolg. Seit Jahren sage ich,
dass wir im Wettbewerb mit anderen Anbietern nur bestehen können, wenn unsere touristischen Angebote und
Leistungen von hervorragender Qualität sind. Dazu gehört nicht nur eine erstklassige Infrastruktur, sondern
dazu gehören vor allem auch qualifizierte Mitarbeiter.
Ich bin froh, dass die Bundesregierung der Qualifizierung in ihren tourismuspolitischen Leitlinien einen angemessenen Platz einräumt. Mehrfach habe ich auf die
Aufnahme wichtiger Lehrinhalte - zum Beispiel des Geschäftsreisemanagements oder von Fremdsprachen - in
die Ausbildungspläne der Berufs-, Fach- und Hochschulen gedrängt. Ich erwarte, dass die Bundesregierung die
Länder nun mit Nachdruck zum Handeln bewegt.
({3})
Von den Leitlinien sollte auch ein Impuls gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse in der Tourismuswirtschaft ausgehen, gerade angesichts ihrer Verantwortung
für über 2,8 Millionen Beschäftigte. Die Flexibilisierung
des Arbeitsmarktes darf nicht zu sittenwidrigen Löhnen
führen.
Ich begrüße ausdrücklich das Vorhaben, auch benachteiligten Bevölkerungsschichten in Deutschland Ferienunterkünfte zu günstigen Preisen zu ermöglichen. Urlaub definiert als Teilhabe und nicht als Luxus ist sozial.
Dafür stehen wir.
({4})
An dieser Stelle möchte ich an unsere weltweite Vorbildfunktion im Tourismus erinnern. Wir sind nicht nur
sozial und ökologisch in der Verantwortung, sondern
auch ethisch, zum Beispiel wenn es um den Schutz von
Kindern vor sexueller Ausbeutung geht. Ich bin stolz,
dass wir uns auf internationaler Ebene erfolgreich für einen Verhaltenskodex für touristische Unternehmen starkmachen. Ich wünsche mir, dass diese Unternehmen diesen Kodex umsetzen.
({5})
Besonders auf EU-Ebene müssen sich unsere tourismuspolitischen Leitlinien in die von der Kommission
2006 verfassten Eckpunkte über eine gemeinsame EUTourismuspolitik einbetten. Hierzu gehören eine bessere
Nutzung europäischer Finanzierungsinstrumente und der
Abbau von bürokratischen Hemmnissen und Wettbewerbsverzerrungen.
Die tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung bieten eine gute Orientierung für die Branche. Sie
bleiben aber hehre Visionen, wenn die Politik nicht gemeinsam mit den touristischen Organisationen und Unternehmen die Umsetzung vorantreibt. Hier möchte ich
eindringlich an die Länder appellieren, die Leitlinien mit
Leben zu füllen. Dazu gehört eine entsprechende finanzielle Ausstattung. Die Bundesregierung fordere ich auf,
die im Haushalt eingestellten Mittel für die Deutsche
Zentrale für Tourismus und die Förderung der Leistungssteigerung im Tourismusgewerbe weiter zu erhöhen.
Wenn der Tourismus die Leitökonomie des 21. Jahrhunderts ist, wie Sie es oft zitieren, dann muss sich das auch
in der finanziellen Förderung widerspiegeln.
Wir wollen, dass vom aktuellen Trend zu Inlandsreisen nicht nur unsere Magic Cities profitieren, sondern
auch unsere ländlichen Räume. Ich weiß um die Probleme der ländlichen Tourismusanbieter in strukturschwachen Regionen aus erster Hand aus meinem Wahlkreis im Bayerischen Wald. Ich weiß also, wovon ich
rede. Deshalb appelliere ich eindringlich an die Bundesregierung, die Förderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der Agrarstruktur und
des Küstenschutzes“ und „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ beizubehalten und zu erhöhen. Ich
denke zum Beispiel an die Aufnahme eines Fördertatbestandes Barrierefreiheit.
({6})
Das wäre ein wichtiger wirtschaftlicher Impuls.
({7})
Wir können nicht einerseits fortlaufend von unseren Hotels und Gaststätten Produktverbesserungen verlangen
und andererseits für die notwendigen Modernisierungsmaßnahmen kein Geld zur Verfügung stellen.
Dies ist wahrscheinlich meine letzte Rede als Tourismuspolitikerin an diesem Platz. Ich bedanke mich bei allen Verbänden, den Gewerkschaften, dem Ausschusssekretariat, den Ministerien und nicht zuletzt bei Ihnen,
meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, für die überaus konstruktive und gute Zusammenarbeit.
({8})
Mein Abschiedswunsch ist, dass die Tourismuspolitischen Leitlinien nicht nur Lippenbekenntnis bleiben.
Ihre Umsetzung würde bedeuten, dass die Tourismusbranche endlich den Stellenwert erhält, den sie verdient,
und auf Augenhöhe mit der Automobilbranche rangiert.
Dafür wünsche ich der Tourismuswirtschaft Glück auf.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Bezüglich der Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b wird
interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/11594 und 16/12101 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 c. Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Mehr Engagement für eine nachhaltige Tourismusentwicklung - Ausweisung der CO2-Bilanz bei
Pauschalreisen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12075, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9346 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Monika Lazar, Jerzy Montag, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 16/11885 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Demokratie haben allein der Wähler und die Wählerin
das Wort. Der Deutsche Bundestag soll so zusammengesetzt sein, wie es der Wählerwille, der Wille des deutschen Volkes, bestimmt. Der Wille des Wählers darf sich
nicht plötzlich aufgrund rechnerischer Zaubertricks in
ein verkehrtes, vielleicht sogar umgekehrtes Ergebnis
verwandeln.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. Juli letzten
Jahres festgestellt: Das jetzige Bundeswahlgesetz ist verfassungswidrig, weil es ein Paradoxon enthält, das sogenannte negative Stimmgewicht. Das Wahlgesetz ist insofern verfassungswidrig, als hierdurch ermöglicht wird,
dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an
Sitzen der Landesliste führt oder dass ein Verlust an
Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landesliste führt. Das versteht niemand. Da wird der Hund in
der Pfanne verrückt. Die Wählerinnen und Wähler werden angehalten, taktisch zu wählen. Sie geben ihre
Stimme nicht der Partei, die sie bevorzugen, oder dem
Kandidaten, den sie gewählt sehen wollen, sondern verhalten sich taktisch, um mithilfe dieses Zählverfahrens
ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen.
Die gesetzliche Regelung, die dazu führt, muss beseitigt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat uns dafür
Zeit gegeben. Wir sollten uns aber nicht so viel Zeit lassen. In acht Wochen können wir es durchaus schaffen,
zwei Paragrafen zu ändern.
({0})
Es handelt sich nämlich um eine übersichtliche und
überschaubare Gesetzesmaterie, die es zu regeln gilt. Ein
Parlament, das es geschafft hat, in nur drei Tagen ein
Finanzmarktstabilisierungsgesetz mit einem Bürgschaftsvolumen von 400 Milliarden Euro, von denen 70 Milliarden Euro haushaltsrelevant sind, durch den Deutschen Bundestag zu bekommen,
({1})
wird wohl, wenn man ihm acht Wochen Zeit lässt, die
Kraft haben, einen Paragrafen im Bundeswahlgesetz so
zu korrigieren, dass er verfassungsgemäß ist.
({2})
Wie wollen wir das machen? Wir wollen das machen,
indem wir das negative Stimmgewicht beseitigen, und
zwar durch Anrechnung der Direktmandate auf das Listenergebnis einer Partei bereits auf Bundesebene und
nicht, wie heute, erst auf der Landesebene. Dadurch werden alle Direktmandate, die eine Partei erzielt hat und
die zu Überhangmandaten geführt haben, mit dem Gesamtergebnis der Partei, das darüber entscheidet, wie
viele Sitze sie im Bundestag bekommt, verrechnet. Dadurch können wir Überhangmandate voraussichtlich fast
vollständig oder sogar vollständig beseitigen.
Richtig ist - zu diesem Ergebnis kam auch Professor
Meyer, den wir bei der Erarbeitung unseres Gesetzentwurfes konsultiert haben -: Es könnte sein, dass bei der
nächsten Bundestagswahl, wenn die CSU schwächelt, in
Bayern erstmals Überhangmandate entstehen. Diese
kann man nicht verrechnen, weil die CSU eine selbstständige Partei ist; daher haben wir darauf verzichtet, für
diesen Fall eine Regelung zu treffen.
({3})
- Wie ich sehe, klatscht Herr Mayer, wenn ich vom Niedergang der CSU spreche; das finde ich gut.
({4})
Dieses Problem gab es in den vergangenen Wahlperioden nicht. Wir müssen es allerdings nicht jetzt lösen,
sondern können uns darauf konzentrieren, die Überhangmandate und das negative Stimmgewicht - daran ändert
eine gesetzliche Regelung im Hinblick auf die CSU
nämlich nichts - zu beseitigen. Dann können wir sagen:
Das Wahlergebnis ist verfassungskonform zustande gekommen.
Ich glaube, wir sind es den Wählerinnen und Wählern
schuldig - gerade angesichts der Politikmüdigkeit im
Land -, das Wahlrecht so auszugestalten, dass ihr Wille
unmittelbar zur Geltung kommt. Das Wahlrecht darf
nicht so kompliziert sein, dass die Wählerinnen und
Wähler sagen: Was die da oben machen, versteht man
sowieso nicht; bleiben wir lieber gleich zu Hause und
wählen nicht! Wir sollten daran, dass die nächste Bundesregierung nicht nur die Unterstützung des Parlaments
hat, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung hinter
sich weiß, nicht den leisesten Zweifel lassen. Lassen Sie
uns das negative Stimmgewicht deshalb beseitigen!
Ich bin froh, dass der Bundestagspräsident in sehr
deutlichen Stellungnahmen immer wieder darauf hingewiesen hat, dass wir die Reform des Bundeswahlgesetzes noch vor der nächsten Bundestagswahl schaffen können. Er hat gegenüber Zeit Online erklärt:
Es ist unbedingt erwünscht und bei gutem Willen
auch möglich, die Regelung des Wahlrechts noch so
rechtzeitig zu korrigieren, dass sie schon bei der
nächsten Bundestagswahl Anwendung finden
könnte.
({5})
Und weiter: Für ihn wäre es
mehr als ein Schönheitsfehler, wenn auch nach der
nächsten Bundestagswahl einzelne Überhangmandate unter genau den beanstandeten Bedingungen
erneut zustande kämen.
Ich fordere Sie auf, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Nehmen Sie unseren Gesetzentwurf an! Ich hänge gar
nicht an den einzelnen Formulierungen. Das Bundeswahlgesetz würde durch die Änderungen klarer; § 6 und
Volker Beck ({6})
§ 7 sind nämlich sehr unübersichtlich und leserunfreundlich. Lassen Sie uns darüber reden! Der Mechanismus,
den wir vorschlagen, ist der schlaueste und entspricht am
ehesten dem Willen der Wählerinnen und Wähler.
Eine Alternative dazu wäre, die Überhangmandate
durch Ausgleichsmandate auszugleichen. Das würde jedoch das Parlament vergrößern. Wir haben aber gesagt:
Das ist ein Weg, den wir nicht gehen wollen.
Wir sind bereit, über alles zu reden. Aber die Neuregelung muss bis April im Bundesgesetzblatt stehen,
wenn wir im September ein Bundeswahlgesetz, das über
jeden Zweifel erhaben ist, haben wollen. Lassen Sie uns
diese Aufgabe gemeinsam als Demokratinnen und Demokraten bewältigen!
({7})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Dr. Günter Krings.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Das Wahlrecht ist eine Materie, die für
die Legitimation und Funktionsfähigkeit einer Demokratie grundlegend ist. Wahlrechtsänderungen sind aber
auch deshalb so sensibel, weil das Parlament zwangsläufig über die Regelung seiner eigenen Zusammensetzung
entscheidet. Dieser unvermeidlichen Entscheidung in eigener Sache müssen Ernsthaftigkeit der Diskussion und
Gründlichkeit in der Abwägung unterschiedlicher Lösungsansätze entsprechen.
Sensibilität und Sorgfalt sind bei der heute zu debattierenden Änderung des Bundeswahlgesetzes in besonderer Weise geboten. Seit der Einführung des Systems
der sogenannten personalisierten Verhältniswahl mit
dem Bundeswahlgesetz von 1956 hat das Bundesverfassungsgericht nie so deutlich die Systemfrage gestellt wie
in seinem Urteil zum negativen Stimmgewicht.
Der Respekt vor dem Wahlrecht als Grundlage unserer Demokratie und vor dem Bundesverfassungsgericht
als Institution gebietet es, die Systemfrage wohlüberlegt
und überzeugend und eben nicht Hals über Kopf zu beantworten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem
Urteil eine Vielzahl alternativer Lösungen für das Problem des negativen Stimmgewichts für zulässig gehalten
und angesprochen.
Mit einem isolierten, gleichsam mikroinvasiven Eingriff in das Bundeswahlgesetz werden wir dem komplexen Problem des negativen Stimmgewichts nicht gerecht
werden. Falls Sie mir persönlich das nicht glauben, darf
ich aus dem Urteil des Zweiten Senats vom 3. Juli letzten Jahres wörtlich zitieren:
Der Effekt des negativen Stimmgewichts lässt sich
daher nicht isoliert beheben, sondern erfordert
grundlegende Vorarbeiten, die die verschiedenen
Vor- und Nachteile in den Blick nehmen. Der Gesetzgeber hat mehrere Möglichkeiten der Neuregelung, die jeweils deutliche Auswirkungen auf die
geltenden Regelungen der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag haben.
Ich habe daher sehr gut nachvollziehen können, dass
das Bundesverfassungsgericht bereits im letzten
Sommer davon ausging, dass diese schwierige Aufgabe
in der aktuellen Wahlperiode nur noch schwerlich verantwortlich zu lösen ist. Die Vorgabe einer Regelung
noch in dieser Wahlperiode hat das Bundesverfassungsgericht selbst explizit als „unangemessen“ bezeichnet.
Über die Chancen einer Änderung noch in dieser Wahlperiode hat es konkret Folgendes ausgeführt - ich darf
das Gericht und das Urteil noch einmal zitieren -:
Das reguläre Gesetzgebungsverfahren müsste in
diesem Fall spätestens im April 2009 abgeschlossen
sein, damit das neue Recht bei den Vorbereitungen
zur Wahl zum 17. Deutschen Bundestag berücksichtigt werden könnte.
Diese Frist ist wohl auch nicht aus der Luft gegriffen, da
schon die bloße Einführung neuer Berechnungsverfahren umfangreiche neue Software und die erforderlichen
Testläufe mit Vorlaufzeiten erforderlich macht. Mit diesen Vorlaufzeiten ist eine Änderung des Wahlrechts noch
in der aktuellen Wahlperiode sicherlich nicht ausgeschlossen, aber wir setzten uns zweifellos einem hohen
Zeitdruck aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns eine
schnelle Regelung den vom Verfassungsgericht ausdrücklich geforderten Raum für die Diskussion der verschiedenen Regelungsalternativen und für eine gründliche Auswertung einer Expertenanhörung ließe, tendiert
aus meiner Sicht klar gegen null.
Vor diesem Hintergrund mutet der Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs der Grünen nun wirklich
etwas merkwürdig an.
({0})
Noch bis Ende letzten Jahres war ein Konsens zwischen
den Fraktionen dieses Hauses erkennbar, auf schlecht
gezielte Schnellschüsse bei diesem Thema verzichten zu
wollen. Ich darf stellvertretend für andere nur den fachlich zuständigen innenpolitischen Sprecher der SPDFraktion, Herrn Dieter Wiefelspütz, mit dem folgenden
Satz aus dem Focus vom 20. Dezember letzten Jahres zitieren:
Es gibt nichts zu gewinnen, wenn wir es vorzeitig
neu regeln.
Schade, dass der Kollege heute nicht da ist,
({1})
aber er wird sicherlich bei seiner Meinung geblieben
sein.
Die grünen Antragsteller müssen sich schon die Frage
stellen, warum sie nicht bereits im letzten Herbst mit ihrem Vorschlag herausgekommen sind.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Aber sehr gerne.
Bitte sehr.
Wir hatten zwar schon einen alten Vorschlag zu diesem Thema, haben ihn aber unter Nutzung der Erkenntnis aus dem Gerichtsurteil und in Diskussion mit Professor Pukelsheim und Professor Meyer - Kollege Benneter
war bei unserer Anhörung ebenfalls zugegen; das war ja
eine Möglichkeit, sich insgesamt schlau zu machen ({0})
noch einmal überarbeitet und überdacht. Frau Stokar hat
schon lange die Auffassung vertreten, dass es mit dem
negativen Stimmgewicht so nicht geht. Aufgrund dieser
Vorarbeiten sind wir dann zu einem Abschluss gekommen. Sie hätten mit Ihrer Regierung und mit Ihren Kapazitäten natürlich viel früher und viel leichter als eine
kleine Oppositionsfraktion mit so geringen Möglichkeiten zu einem Ergebnis kommen können.
Aber wenn Sie hier schon abwesende Politiker zitieren, wüsste ich gern, wie Sie es denn dann mit dem abwesenden Bundesinnenminister halten, der laut BildZeitung vom 5. Januar 2009 angeblich mit der Weigerung der Koalition hadere - besser wohl: mit seiner
Fraktion -, das verfassungswidrige Wahlrecht noch vor
der Bundestagswahl zu ändern. Als Verfassungsminister
stehe er bereit, den Parteien bei der Korrektur des Wahlgesetzes zu helfen. Offensichtlich ist das federführende
Ressort, das in dieser Debatte zum Schweigen verdonnert wurde, hierzu anderer Auffassung als Ihre Fraktion.
Ich habe auch die Stimmen von Herrn Müntefering und
anderen Kollegen aus der SPD-Fraktion gehört.
Herr Kollege, ich bitte Sie darum, Ihre Frage prägnant
und kurz zu fassen.
Können Sie mir bestätigen, dass der Bundesinnenminister mit Ihrer Position hadert, und trauen Sie dem Bundesinnenminister und seinem Haus zu, dass er uns bei
der Wahlrechtsreform so weit hilft, dass wir auf Grundlage unserer Entwürfe bis April zu einem verfassungskonformen Wahlrecht kommen?
Frau Präsidentin, ich versuche gern, die Antwort auf
diese Frage kürzer zu fassen, als die Frage selber war,
auch im Interesse der anderen Kollegen dieses Hauses.
({0})
Es ist richtig - das halte ich auch für sehr gut -, dass
der Innenminister bereitsteht, zu helfen. Das gilt übrigens in dieser wie in der nächsten Wahlperiode. Es wird
derselbe Innenminister sein; jedenfalls wird die Führung
des Hauses bei der gleichen Partei bleiben.
({1})
Ich bin der Auffassung, dass er das nicht nur aus gutem
Willen tut, sondern weil das Innenministerium auch dazu
da ist, uns an dieser Stelle zu helfen. Ich habe es eben
ausdrücklich gesagt, wiederhole für Sie aber gern, falls
Sie eben abgelenkt waren, dass eine Neuregelung noch
in dieser Wahlperiode nicht ausgeschlossen ist. Allerdings weise ich auch darauf hin, welche Nachteile wir
dafür in Kauf nehmen müssen.
Vielleicht bleiben Sie noch einen Augenblick stehen,
weil ich Ihre Frage noch beantworte.
({2})
- Sie wissen gar nicht, wie lange Sie geredet haben. Zumindest das sollte man selbst noch spüren. Alte Indianerweisheit: Rede nie länger, als du auf einem Bein stehen
kannst.
({3})
Das sollte auch für Zwischenfragen gelten, Herr Kollege.
Wir werden es mit der Hilfe des Ministeriums hinbekommen. Ich habe auf die Probleme hingewiesen, es
noch in dieser Wahlperiode zu machen.
Ich darf dann fortfahren und betone: Der Gesetzentwurf der Grünen ist in der Tat in weiten Teilen identisch
mit dem, was Sie in der 13. Wahlperiode vorgeschlagen
haben. Komisch nur, dass Sie damals in der Opposition
waren und Sie jetzt in der Opposition sind. Sieben Jahre
rot-grüner Bundesregierung haben Sie nicht genutzt, um
Ihren Vorschlag aufzufrischen.
({4})
Es scheint ein klares Oppositionsinteresse zu sein, obwohl Sie zu Recht sagen, dass auf dieses Thema schon
lange hingewiesen worden sei.
Meine Damen und Herren, die entscheidenden beiden
Fragen, auf die ich in meiner Rede wirklich sehr sachlich
und sehr klar zu sprechen kommen möchte, lauten doch:
Welche elementaren Anforderungen muss eine Wahlrechtsreform erfüllen, die den Vorgaben des Verfassungsgerichts entspricht? - Jetzt wäre es meines Erach22502
tens ganz sinnvoll, dass Sie mir zuhören, damit Sie erst
einmal die Problematik erfassen, Herr Beck. Ich glaube,
Sie haben all diese Verästelungen und das, worum es dabei geht, noch gar nicht so richtig begriffen.
Die zweite Frage lautet: Erfüllen Sie mit Ihrem Vorschlag diese Anforderungen?
Ich will das an drei zentralen Anforderungen kurz
exemplifizieren. Machen wir hier einfach ganz kurz den
Praxistest anhand dieser Anforderungen.
Zum Ersten. Aus der Sicht des Wählers - darin sind
wir uns, so glaube ich, einig - muss ein Wahlsystem von
der Stimmabgabe bis zur Zuteilung der Parlamentssitze
durchschaubar und nachvollziehbar sein. Das gilt für die
Gesetzessprache und für die Rechenoperationen. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seiner erst vor wenigen
Tagen ergangenen Entscheidung zu den Wahlcomputern
zu Recht die Transparenz des Wahlvorgangs eingefordert. Es wäre wenig gewonnen, wenn nach der Stimmabgabe ein intransparenter und kaum mehr zu durchschauender Berechnungsvorgang folgen würde.
({5})
Da wir uns heute ja in der ersten Lesung Ihres Gesetzentwurfs befinden, gestatte ich mir, Ihnen in diesem Zusammenhang einmal § 7 a Abs. 7 Ihres Gesetzentwurfs
vorzulesen. Ich zitiere:
Ergibt sich bei der Berechnung gemäß Absatz 5
eine negative Zahl, so muss der Parteidivisor so heraufgesetzt werden, dass die Zahl der dieser Partei
zustehenden Sitze unter Berücksichtigung der zu
ihren Gunsten errungenen Direktmandate der für
diese Partei ermittelten Gesamtsitzzahl ... entspricht. Absatz 6 gilt entsprechend.
({6})
Da Sie von den Grünen auf Seite 4 Ihrer Drucksache
selbst das Ziel ausgeben - ich zitiere noch einmal -, „das
Wahlrecht ... normenklarer und verständlicher zu machen“, kann ich nur sagen: Klassenziel verfehlt, bitte
noch einmal üben!
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Ich glaube, es reicht jetzt.
Es reicht, jawohl.
Ich glaube, er hat nicht mehr viel Neues beizutragen.
({0})
Zum Zweiten. Eine Wahlrechtsreform muss zu einer
fairen und dem Wählerwillen entsprechenden Verteilung
der Bundestagssitze auf die kandidierenden Parteien führen. Das ist in 60 Jahren Bundesrepublik praktisch immer
gelungen. So weit der Effekt eines negativen Stimmengewichts dem entgegensteht, müssen wir diesen beseitigen.
Ich denke, auch darüber herrscht in diesem Hause Konsens.
Zu dieser Gerechtigkeit des Wahlrechts zwischen den
Parteien gehört aber auch, dass einzelnen Wählern nicht
ohne Not ein doppelter Erfolgswert bei ihrer Stimmabgabe zugebilligt werden darf. Rein taktisches Wählen
- darin stimme ich Ihnen wiederum zu - muss auch insoweit verhindert werden. Genau das fordert im Übrigen
das Bundesverfassungsgericht in einem weiteren, gerade
einmal sechs Wochen alten Beschluss. Es gab in den
letzten Wochen also eine Reihe von Entscheidungen
zum Wahlrecht. Vielleicht sollten Sie sich einmal alle zu
Gemüte führen oder aufbereiten lassen.
In diesem Beschluss wurde noch einmal festgehalten,
dass neben dem Problem des negativen Stimmengewichts auch das Problem des doppelten Erfolgswertes
gelöst werden muss. Der darin liegende eklatante Gleichheitsverstoß ist ja bekanntlich zuletzt 2002 im Land Berlin aufgetreten, als bei den von der PDS gewonnenen
Direktmandaten dennoch auch die Zweitstimmen der
PDS-Wähler gleichheitswidrig berücksichtigt wurden.
Sucht man im Entwurf der Grünen nach einer Lösung
dieses Problems, dann stellt man fest, dass Fehlanzeige
herrscht. Ich weiß nicht, ob das eine kleine Unterlassungssünde ist oder ob Sie vielleicht hoffen, selbst einmal davon profitieren zu können. Dieses zentrale Thema
fehlt jedenfalls in Ihrem Entwurf. Ich sage ganz deutlich:
Für die Union wird es eine Wahlrechtsreform ohne die
Schließung dieser Gesetzeslücke nicht geben.
({1})
Zum Dritten und Letzten. Das Bundesverfassungsgericht betont ebenfalls, dass bei einer Wahlrechtsreform
auch die Gerechtigkeit und Fairness zwischen den Ländern gewahrt werden müssen. Es geht sozusagen um die
föderale Fairness. Kern des Gesetzentwurfs der Grünen
ist aber, dass die Überhangmandate für eine Partei im
Bundesland A durch Abzüge bei der Landesliste derselben Partei im Bundesland B ausgeglichen werden. Die
Partei im Land B muss also nicht nur auf den Genuss eigener Überhangmandate verzichten, sondern sie muss
dafür zusätzlich noch die Zeche des anderen Bundeslandes bezahlen. Das ist zweifellos das exakte Gegenteil
von Fairness im Bundesstaat und führt zu einer einseitigen Bevorzugung des Wahlvolkes bestimmter Bundesländer.
({2})
Mögliche und naheliegende Alternativen, wie die
rechnerisch getrennte Behandlung aller Landeslisten, die
auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich für zulässig hält, werden in Ihrem Gesetzentwurf erst gar nicht
erwähnt. Sie können noch so lange nachschauen, dazu
steht darin nichts. So einfach kann man es sich in einem
Bundesstaat aber eben nicht machen.
Wir sehen also - damit komme ich zum Schluss -:
Alle drei zentralen Anforderungen an eine Wahlrechtsreform - Durchschaubarkeit für den Wähler, Gerechtigkeit
unter den Parteien und föderale Fairness - werden in wesentlichen Punkten des Gesetzentwurfs der Grünen leider verfehlt. Das Wahlrecht ist mithin komplizierter, als
manche meinen. Für die Lösung des schwerwiegenden
Problems eines negativen Stimmgewichts ist mehr Gehirnschmalz erforderlich, als im Gesetzentwurf der Grünen steckt.
({3})
Für uns als CDU/CSU-Fraktion folgt daraus: Wir sind
offen für eine sachliche Beratung des Gesetzentwurfs.
Wir sind aber nicht bereit, Qualität und Gründlichkeit in
einer so sensiblen Materie auf dem Altar der Geschwindigkeit zu opfern.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor acht Monaten - das wurde bereits angesprochen hat das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit
des geltenden Wahlrechts mit den Wahlrechtsgrundsätzen in Art. 38 des Grundgesetzes festgestellt. In diesen
zurückliegenden Monaten hat die sogenannte Große Koalition nichts, aber auch gar nichts unternommen, um
diesen Mangel zu beseitigen.
Auch wenn zu erwarten war, dass bei der gestrigen
Runde im Kanzleramt nicht viel herauskommen würde,
zeigt es doch, dass Sie auch in diesem Punkt aus Ihrer
Lethargie nicht ganz herauskommen. Deshalb ist es aus
meiner Sicht wie auch aus der Sicht meiner Fraktion gut,
wenn in 206 Tagen dieses Spektakel vorbei ist.
({0})
Nach achtmonatigem Nichtstun wirkt es auf mich
umso befremdlicher, dass gerade die Kollegen von der
SPD immer wieder das Szenario einer verfassungswidrigen
Regierungsbildung im Herbst an die Wand malen. Sie
müssen das richtig verstehen: Nur weil Sie nicht dabei
sind, muss sie nicht verfassungswidrig sein.
({1})
Wenn das Thema für Sie so wichtig ist, dann verstehe
ich ehrlich gesagt nicht, warum Sie heute in einer so
überschaubaren Anzahl an dieser Debatte teilnehmen.
Warum die Grünen das Thema heute - acht Monate
nach dem Urteil - auf die Tagesordnung gesetzt haben,
habe ich immer noch nicht richtig verstanden. Selbst mit
der Verlängerung Ihrer Redezeit wurde es nicht besser,
Herr Beck. Denn wenn es so einfach wäre, wie Sie es beschrieben haben, dann weiß ich nicht, warum Sie selber
acht Monate gebraucht haben, um diesen Gesetzentwurf
zu verfassen. Sie sind heute die Antwort schuldig geblieben, warum Sie so lange gebraucht haben.
({2})
Warum die SPD jetzt Fahrt aufnimmt, kann aus meiner Sicht nur einen Grund haben: In Zeiten sinkender
Umfragewerte muss man eben am Wahlrecht schrauben.
Das ist zwar verfassungsrechtlich bedenklich, aber
menschlich verständlich.
Dass Sie Ihr verfassungsrechtliches Gewissen entdeckt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, glaube ich nicht wirklich. Denn wie Sie mit der
Rechtsprechung hoher Gerichte und höchster Bundesgerichte umgehen, haben wir heute wieder im BND-Untersuchungsausschuss sehen können.
({3})
Ich glaube, Ihre Glaubwürdigkeit hat sich, auch was dieses Thema angeht, erledigt.
({4})
Ich möchte aber bei diesem Thema an eines erinnern:
Es ist in diesem Haus gute Tradition, Änderungen im
Wahlrecht interfraktionell abzustimmen und zu besprechen. Ich müsste aber eigentlich feststellen: Das war
gute Tradition. Denn schon die Änderung der Einteilung
der Wahlkreise haben Sie ohne den Rest des Hauses
beschlossen und damit eine gute Tradition gebrochen.
Ich hoffe, dass wir bei einer Neuregelung der betreffenden Punkte anders verfahren. Denn das Problem ist
Ihnen, wie gesagt, schon lange bekannt. Wir als FDP
sind relativ offen, welche Regelung die beste ist. Ich persönlich finde es nicht uninteressant, auch über Ausgleichsmandate zu sprechen.
({5})
Das gibt es in vielen Landtagen. Warum sollten wir nicht
darüber sprechen. Ich kann nicht ganz nachvollziehen,
warum das Thema hier unbeliebt ist. Aber wir werden es
in Ruhe besprechen.
Die Große Koalition kann zwar eine Entscheidung
über die Köpfe der anderen hinweg treffen - sie hat die
notwendige Mehrheit -, aber ich bin Herrn Krings sehr
dankbar dafür, dass er klargemacht hat, dass es in dieser
Legislaturperiode nicht dazu kommen wird. Ihre Ausführungen waren juristisch eins a, Herr Krings. Das ist
gar keine Frage. Ich bin Ihnen sehr dankbar und kann
mich Ihnen vollumfänglich anschließen, wie es, glaube
ich, in der juristischen Fachsprache heißt. Aber warum
Sie einem Enteignungsgesetz zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, kann
ich nicht verstehen.
({6})
Nach unserem Verständnis ist Wahlrecht vor allen
Dingen Parlamentsrecht. Deshalb sind alle im Parlament
vertretenen Fraktionen zu beteiligen. Eine solche
Reform ist nicht im Alleingang anzugehen, sondern
gemeinsam. Unsere Zielsetzung muss sein, dass unterm
Strich eine Reform herauskommt, die die Bürgerinnen
und Bürger verstehen und die ihnen zugutekommt.
Der jetzige unbefriedigende Zustand muss in der Tat
bereinigt werden. Er hätte aus unserer Sicht schon lange
bereinigt werden können. Aber die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ist aus unserer Sicht viel zu weitreichend, als nun von Ihnen als Wahlkampfthema auf die
Agenda gesetzt zu werden. Damit düpieren Sie nicht nur
den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Sie
machen damit nur allzu deutlich, dass es Ihnen nicht um
die Sache geht. Dass Sie nun noch in einer Hauruckaktion die Änderungen im Hinblick auf die Wahlen zum
17. Deutschen Bundestag vornehmen wollen, ist sicherlich sehr kritisch; denn alle Parteien befinden sich mitten
im Verfahren für die Aufstellung der Kandidaten. Viele
sind schon gewählt worden. Sie ändern sozusagen im
laufenden Verfahren die Spielregeln. Das provoziert
wieder neue Klagen und hat mit dem, was Sie eigentlich
wollen, überhaupt nichts zu tun.
({7})
Vor diesem Hintergrund werbe ich für eine überfraktionelle Konsensfindung. Wir werden uns einem konstruktiven Verfahren nicht widersetzen, aber bitte nicht
mehr in dieser Legislaturperiode. Dafür ist die Materie
zu wichtig.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Uwe Benneter
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Krings und Frau Piltz, freuen Sie sich nicht zu
früh; denn Sie könnten im Herbst gemeinsam eine Regierung auf verfassungswidriger Basis bilden. Um nichts
anderes geht es hier.
({0})
Uns jedenfalls geht es darum, ein demokratisches Wahlrecht zu gewährleisten. Ein demokratisches Wahlrecht
muss gewährleisten, dass meine Stimme der Partei zugutekommt, für die ich sie abgegeben habe; so lautet der
Grundsatz. Wir wissen, dass es Ausnahmen von diesem
Grundsatz gibt. Diejenigen Stimmen, die für eine Partei
abgegeben werden, die an der 5-Prozent-Hürde scheitert,
sind verloren. Unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Parlaments ist das durchaus hinnehmbar
und für die Bürger verständlich. Es geht allerdings nicht,
dass die Zweitstimme eines Wählers für seine Partei
dazu führt, dass die von ihm gewählte Partei einen Sitz
verliert. Das Bundesverfassungsgericht hat uns klipp
und klar ins Stammbuch geschrieben: Meine Stimme für
meine Partei darf meiner Partei nicht schaden.
Genau das hätte bei der Nachwahl zur Bundestagswahl in Dresden passieren können. Hätte die CDU bei
dieser Nachwahl zu viele Zweitstimmen bekommen,
dann hätte sie in Nordrhein-Westfalen einen Sitz verloren
und einen Abgeordneten weniger im Deutschen Bundestag gehabt. Frau Piltz, das ist doch das glatte Gegenteil
einer demokratischen Wahl. Das sollte man schon bei
der nächsten Bundestagswahl berücksichtigen. Bei einem
solchen Wahlsystem müsste die CDU doch ihre Wähler
auffordern, ihr bloß keine Stimmen zu geben.
({1})
Entsprechende Wahlplakate führten wirklich zur Verwirrung. Das wäre eine schöne Situation.
({2})
Jedenfalls hat die Nachwahl in Dresden diesen Irrwitz
deutlich gemacht. Wir wissen, dass dieser Effekt nicht
immer so gut feststellbar ist wie bei der Nachwahl in
Dresden. Dann ist es noch viel bedenklicher, weil zum
Beispiel der CDU-Wähler gar nicht merkt, dass er der
CDU schadet, wenn er ihr seine Stimme gibt.
({3})
Die CDU darf es noch nicht einmal sagen, dass er ihr
schadet, wenn er ihr seine Stimme gibt.
({4})
Man sieht, dass das wirklich zu völlig meschuggen
Ergebnissen führte. So dürfen wir unser Wahlrecht nicht
lassen. Wir müssen es rasch, schon bis zur nächsten Bundestagswahl, ändern, obwohl uns das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit gegeben hat, diese Änderung bis
zur übernächsten Bundestagswahl aufzuschieben.
({5})
Wir können im Vorhinein nicht wissen, wer davon betroffen wäre. Aber wir können nicht sehenden Auges
auch nur eine Abgeordnete oder einen Abgeordneten
hier vier Jahre verfassungswidrig sitzen lassen. Deshalb
haben die Bündnisgrünen recht, wenn sie dieses Thema
forcieren. Frau Piltz, hier verstehe ich Sie wirklich nicht,
die Sie sonst immer die Bürgerrechte und das Recht der
Menschen, möglichst direkt auf uns einzuwirken, im
Auge haben.
({6})
Wir alle wissen inzwischen - wir von der SPD wissen
das schon viel länger -, dass es relativ unkompliziert ist,
Herr Krings, im Rahmen des jetzigen Wahlrechts ohne
große umstürzlerische Neuerungen ein besseres Berechnungsverfahren einzuführen, das dieses sogenannte negative Stimmgewicht vermeidet.
({7})
Wie viele Sitze eine Partei im Bundestag bekommt,
muss nach dem neuen Berechnungsverfahren davon abhängen, wie viele Zweitstimmen sie bundesweit bekommen hat. Das ist das Entscheidende, und darauf stellt der
Vorschlag der Grünen ab.
Bisher kann eine Partei die Überhangmandate, die sie
in einem Bundesland bekommen hat, einfach so behalten.
Die werden in keiner Weise ausgeglichen. Das muss
künftig anders werden. Eine Partei, die in einem Land
Überhangmandate erzielt hat, also quasi über den Durst
Direktmandate geholt hat, muss diesen Überhang mit
weniger Listenplätzen in anderen Bundesländern bezahlen oder ausgleichen. Das muss das Prinzip sein.
Aus Wählersicht hat dies auch Nachteile; ich darf daran erinnern. Ich sehe immer, wie diejenigen mit stolzgeschwellter Brust auftreten, die in ihrem Bundesland
Überhangmandate geholt haben.
({8})
Was heißt eigentlich Überhangmandate? - Das heißt,
dass die Partei, für die sie stehen, weniger Stimmen in
diesem Land geholt hat. Es ist also kein Grund, mit Stolz
geschwellter Brust durch die Gegend zu gehen, wenn
man Überhangmandate geholt hat.
({9})
Nach dem hier vorgeschlagenen Verfahren wäre es so,
dass für diese Überhangmandate die Wähler dieser Partei in anderen Bundesländern, die diese Partei viel stärker gewählt haben, bezahlen müssten.
({10})
Sie bekommen dann zum Dank weniger Abgeordnete
aus ihrem Land und damit weniger regionale Vertretung.
({11})
- Ich sage ja nicht, dass es gut ist, aber es ist besser und
vermeidet das negative Stimmgewicht. Das werden wir
wohl hinnehmen müssen. Schließlich ist es auch so, dass
wir einen Bundestag wählen und nicht einzelne Länderregionen in den Bundestag schicken. Es ist kein Ländergremium, und deswegen ist auch dieser bundesweite
Ausgleich, denke ich, hinnehmbar.
Allerdings gefällt mir eines nicht, Herr Beck. Nach
Ihrem Gesetzentwurf wäre die bayerische CSU die einzige Partei, die überhaupt noch bei einem schlechten
Zweitstimmenergebnis ein Überhangmandat erhalten
könnte. Bisher hat sie das noch nie bekommen. Früher war
sie auch besser, aber jetzt kommt sie in diese Regionen.
({12})
Ich meine, das kann nicht richtig sein. Regionalparteien
können und dürfen bei der Bundestagswahl nicht wahlrechtlich privilegiert sein.
({13})
Wir sollten solche Überhangmandate wahlrechtlich vermeiden. Eventuell müssen wir darüber nachdenken,
CSU und CDU eine Art Listenverbindung zu gestatten
oder notfalls sogar vorzuschreiben.
({14})
Aber abgesehen von dieser Spezialfrage meine ich:
Zu dem Berechnungsverfahren, wie es hier im Grundsatz von den Grünen vorgeschlagen ist, gibt es keine vernünftige Alternative.
({15})
Die Schaffung von Ausgleichsmandaten nützt nichts.
Wenn man bestimmte Berechnungen zugrunde legt,
würde dies dieses Parlament auf 900 Mandate ausweiten.
({16})
Ein reines Mehrheitswahlrecht wollen wir nicht, damit
wir auch noch die FDP hier sitzen haben.
({17})
Und auch die Umstellung auf ein reines Verhältniswahlrecht ohne direkt gewählte Wahlkreisabgeordnete
wäre zwar möglich, aber keine schöne Vorstellung. Denn
das würde sicher den Wahlkämpfen die Spannung nehmen
und auch die Verankerung der Abgeordneten vor Ort
maßgeblich verschlechtern.
({18})
Was auch noch möglich wäre und was CDU/CSU
vielleicht direkt mittragen würden, wäre das sogenannte
Grabensystem.
({19})
Das wollen wir auch nicht. Denn bei diesem System würde
die eine Hälfte der Mandate über die Mehrheitswahl
({20})
und die andere Hälfte der Mandate nach dem Verhältniswahlrecht vergeben werden. Die kleineren Parteien würden
dabei auf die Hälfte ihrer Sitze verzichten müssen.
({21})
Das ist so nicht akzeptabel und ungerecht, und deshalb
werden wir auch das nicht machen.
({22})
Der Weg, den die Grünen hier in ihrem Gesetzentwurf
gehen, ist vom Grundsatz her richtig. Wir halten die rasche
Korrektur des Wahlrechts für dringend notwendig.
({23})
Ich habe immer noch die Hoffnung, dass auch Herr
Krings und mit ihm Herr Mayer und die ganze Union
diesem wichtigen Anliegen bei den weiteren Beratungen
noch nähertreten können.
Es ist nämlich nicht sicher, dass der nächste Innenminister so heißt wie der jetzige. Dann könnten wir, wie es
guter Brauch ist, Frau Piltz, parteiübergreifend und möglichst einvernehmlich ein verfassungsgemäßes Wahlrecht ohne die Möglichkeit negativer Stimmgewichte
verabschieden und im Herbst nach diesem System wählen. Dann könnten wir guten Gewissens sagen: Das
nächste Parlament und die nächste Regierung stehen auf
einer soliden verfassungsrechtlichen Basis.
({24})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dr. Dagmar Enkelmann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Superwahljahr wirft seine wahlrechtlichen Schatten voraus.
Inzwischen ist der Einsatz einer bestimmten Marke von
Wahlcomputern für verfassungswidrig erklärt worden.
Das betrifft auch die Regelung zu den Überhangmandaten. Allerdings ist das bereits im Juli 2008 passiert. Das
Bundesverfassungsgericht hat das negative Stimmgewicht oder - um es für alle im Klartext zu sagen - die
Verletzung der Gleichheit der Wahl kritisiert. Das steckt
nämlich dahinter. Das darf nicht länger hingenommen
werden.
Überhangmandate sind seit längerem in der Kritik. Es
gibt seit längerem dazu Wahleinsprüche. Bis jetzt gibt es
keine Änderung im Wahlrecht. Die Nachwahl in Dresden - das ist hier schon gesagt worden - hat besonders
deutlich gemacht, was das in der Konsequenz bedeutet.
Das ist letzten Endes ein Schwachsinn im Wahlrecht.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber zum
Handeln aufgefordert.
({0})
Dass nun einige Zeit ins Land gegangen ist, ohne
die Änderungen vorzubereiten, ist nicht zu bestreiten.
Das sagte Kollege Lammert in der Kölnischen Rundschau vom Februar dieses Jahres. Nun ist uns unser Bundestagspräsident mit der von ihm gepflegten hohen
Kunst der diplomatischen Rede inzwischen hinlänglich
bekannt.
({1})
Aber es wäre an der Zeit gewesen, Ross und Reiter zu
nennen.
({2})
Ganz offenkundig wird vor allem von der CDU verhindert, dass es zu einer Änderung des Wahlrechts kommt.
({3})
Das ist immerhin seine eigene Partei. Daran möchte ich
an dieser Stelle erinnern. Könnte es nämlich bei der
nächsten Wahl knapp werden, dann könnten in der Tat
Überhangmandate über die Regierungsbildung entscheiden. Von wegen komplexes Problem! Das ist genau das
Problem, das dahintersteckt.
Nun ist es bei der SPD gegenwärtig etwas anders. Sie
fürchtet vor allem den Verlust von vielen Direktmandaten. Wir werden unseren Teil dazu beitragen.
({4})
Deswegen macht die SPD gegenwärtig auf Torschlusspanik. Jetzt habe ich gelesen, dass selbst Müntefering
fordert, man müsse die Überhangmandate ganz abschaffen. Herr Benneter hat hier die eingesprungene Sitzpirouette probiert: Im Prinzip sind wir dafür, aber eigentlich nicht so richtig. - Sie können sich nämlich nicht
gegen Ihren Koalitionspartner durchsetzen. Gestern sind
Sie im Koalitionsausschuss mit einem solchen Vorstoß
gescheitert. Liebe Genossinnen und Genossen der SPD,
ich habe den Eindruck, man könnte eine Mehrheit in diesem Haus bekommen. Wir jedenfalls würden unseren
Teil dazu beitragen.
({5})
Die Linke fordert: Der neue Bundestag darf nicht auf
verfassungswidriger Grundlage entstehen. Es ist noch
Zeit für eine einvernehmliche Lösung. Wir könnten uns
beispielsweise - Kollege Beck hat das angesprochen so etwas wie landesweite Ausgleichsmandate vorstellen.
900 Sitze im Bundestag werden es nicht, die Zahl wäre
wesentlich überschaubarer. Das wäre als eine Option
denkbar. Wir könnten uns auch andere Lösungen vorstellen. Wir jedenfalls sind bereit dazu, uns in einem schnelleren Verfahren darüber zu verständigen, damit wir mit
einem verfassungsgemäßen Wahlrecht in die nächste
Bundestagswahl gehen.
({6})
Was für uns, die Linke, wichtig ist: Jede Stimme muss
das gleiche Gewicht haben. Das sollte insbesondere für
die Bundestagswahl 2009 gelten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/11885 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 9:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Haushaltsgrundsätzegesetzes
({0})
- Drucksachen 16/12060, 16/12105 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es
handelt sich dabei um die Reden folgender Kollegen:
Jochen-Konrad Fromme, Bernhard Brinkmann, Otto
Fricke, Roland Claus und Alexander Bonde.1)
Auch hier wird interfraktionell die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/12060 und 16/12105
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Sibylle
Laurischk, Horst Friedrich ({3}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Integrierte Planung für Schiene und Straße im
Rheingraben - Gesamtverkehrskonzept Süd-
baden
- Drucksachen 16/6638, 16/8029 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Georg Brunnhuber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Wie ich
sehe, sind Sie auch damit einverstanden. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion
das Wort.
1) Anlage 4
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute einen Antrag der FDP über
das Gesamtverkehrskonzept Südbaden. Da die Sache außerordentlich wichtig ist, möchte ich als Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion dazu Stellung nehmen und ein
paar Worte sagen. Ich habe folgende Fragen: Was ist das
Motiv Ihres Handelns und Ihrer Antragstellung? Was beabsichtigen Sie mit diesem Antrag heute hier im Bundestag?
Wir haben uns im Verkehrsausschuss und auch hier
im Bundestag mit den Vorhaben allgemeiner Art zu Neuund Ausbaustrecken der Deutschen Bahn beschäftigt
und uns wiederholt klar und unmissverständlich dafür
ausgesprochen - das sage ich insbesondere für die sozialdemokratische Seite der Großen Koalition, aber auch für
unseren Koalitionspartner -, Lärmschutzmaßnahmen
durchzuführen, um die Akzeptanz des Verkehrsausbaus
und insbesondere des Verkehrs auf der Schiene zu erhöhen. Bei allem, was wir tun, müssen wir uns fragen: Wie
gehen wir mit Neubaustrecken um? Diesem Aspekt müssen wir eine besondere Sorgfalt angedeihen lassen.
Die Menschen, die an Eisenbahnstrecken oder an
Straßen wohnen, haben ein Recht darauf, dass die Politik
ihnen hilft, die damit verbundenen Probleme zu lösen.
Akzeptanz baut sich dann auf, wenn die Bürger das Gefühl haben: Die Politik kümmert sich, auch bei solchen
Themen.
Nun haben wir es aber mit einer Spezialität zu tun. Es
handelt sich um ein Bauvorhaben in Baden-Württemberg. In letzter Zeit haben wir häufiger Gelegenheit gehabt, uns um Verkehrsvorhaben in Baden-Württemberg
zu kümmern. Meine Frage richtet sich also insbesondere
an diejenigen, die in Baden-Württemberg die Regierung
stellen, namentlich Sie als Mitantragsteller und Mitkoalitionär in Baden-Württemberg: Was machen eigentlich Ihre einschlägigen Damen und Herren in der dortigen Landesregierung bezüglich dieser Angelegenheit?
({0})
- Herr Fricke, Sie sind einer, der bei Ausgaben immer
auf die Bremse drückt. Vielleicht erinnern Sie Ihre Kollegen im Landtag einmal daran - schließlich beteiligen
sie sich an Stuttgart 21 -, bei dieser Angelegenheit ein
wenig mehr Bereitschaft zu zeigen, um so auch das Landesinteresse zum Ausdruck zu bringen. Es ist Ihre Aufgabe als FDP, in dieser Angelegenheit tätig zu werden.
({1})
Wir haben allen Grund, darauf aufmerksam zu machen, dass die Ausbaustrecke Karlsruhe-Basel - zumindest was den Bund betrifft - durch entsprechende Planungsmittel auskömmlich gefördert worden ist, dass die
entsprechenden Untersuchungen stattfinden und dass ein
Planfeststellungsverfahren läuft.
Ich darf an dieser Stelle auch sagen, dass der Bundesverkehrsminister heute bei einem Spitzengespräch mit
sozialdemokratischen Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, die vor Ort Verantwortung tragen, aus22508
drücklich seine Bereitschaft erklärt hat, an einem runden
Tisch auch mit den Vertretern der Landesregierung in
Baden-Württemberg Varianten des Ausbaus der Rheintalbahn zu besprechen. Allerdings muss auch auf ihrer
Seite die Bereitschaft vorhanden sein, diese Varianten zu
diskutieren. Sie dürfen nicht so tun, als wäre das die alleinige Angelegenheit des Bundes. Insofern sollten Sie
in dieser Angelegenheit dazu beitragen, dass die badenwürttembergische Landesregierung hier ein wenig mehr
Flexibilität zeigt,
({2})
und zwar bei den Fragen: Wie geht man eigentlich mit
den Interessen der Bürger um? Wie stellt man sich darauf ein? Wie kommt man mit all den Schienenwegeinvestitionen zurecht?
Der Bund selbst hat bewiesen, dass er ad 1 an der
Schaffung eines zügigen Baurechtes interessiert ist, aber
ad 2 auch daran, dass umwelt- und menschengerecht gehandelt wird. Ich darf in diesem Zusammenhang darauf
hinweisen, dass gerade diese Bereitschaftserklärung des
Bundesverkehrsministers in dieser Angelegenheit sehr
wichtig ist.
({3})
Wir haben im Zusammenhang mit der Trasse Karlsruhe-Basel immer deutlich gemacht - auch gegenüber
den Nachbarländern -, dass das ein ganz wichtiger Verkehrskorridor in Richtung Italien, in Richtung Schweiz,
aber natürlich auch gen Norden, in Richtung Niederlande,
ist. Wir haben bei der Ausrüstung dieses Schienenkorridors darauf geachtet, dass dort insbesondere europäische
Kontrollsysteme der letzten Generation berücksichtigt
werden. Ich glaube, das ist wichtig, um europäische Güterverkehrsströme auf dieser wichtigen Nord-Süd-Strecke ordentlich zu bewältigen.
Ich darf an dieser Stelle für die Sozialdemokraten
noch einmal ausdrücklich festhalten:
Der Ausbau der Rheintrasse muss umwelt- und menschengerecht geschehen; denn Lärm erzeugt Stress,
Lärm macht krank. Viele Menschen entwickeln nur dann
eine Akzeptanz für solche Ausbaumaßnahmen, wenn sie
merken: Die Politik nimmt die Akzeptanzfrage sehr
ernst. Es ist für die Entwicklung dieses Verkehrsträgers
von hoher Wichtigkeit, dass wir diese Akzeptanz herstellen. Insofern sind verschiedene Alternativen auch innerhalb dieses Planfeststellungsverfahrens zu erörtern.
Ich hoffe, dass sich die baden-württembergische Landesregierung, namentlich deren FDP-Mitglieder, bereitfinden, sich einem solchen Spitzengespräch zu stellen
und darüber nachzudenken, wie man solche Ausbauvarianten finanzieren kann.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden heute über ein zentrales Stück der zentralen
Nord-Süd-Verbindung, die Nordeuropa und Italien verbindet: Es geht vor allem um den drei- und viergleisigen
Ausbau der Strecke zwischen Offenburg und Basel; das
ist die Zulaufstrecke zur NEAT. Es gibt Verträge mit der
Schweiz. Dieses Bauwerk ist weit mehr als ein Jahrhundertbauwerk. Die Trasse, deren Bau jetzt beschlossen
wird, wird mit Sicherheit in den nächsten 150 oder
200 Jahren bestehen.
Herr Beckmeyer, es ist ein Bundesprojekt. Es ist eine
Zumutung, das Land Baden-Württemberg hier so anzusprechen. Der Bund muss endlich einmal sagen, was er
will. Darauf kommt es an.
({0})
Nachdem Sie hier bestimmte Dinge in die Welt gesetzt haben, zitiere ich aus einer Zeitung von heute:
Rheintalbahn - Bund will Kosten nicht übernehmen.
Das sagen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort allerdings prinzipiell nicht. Sie wollen die Übernahme der
Kosten heute auf das Land abschieben. Das Land hat immer gesagt: Wir sind bereit, bei einem runden Tisch mitzumachen. Aber der Bund hält sich hier total bedeckt.
({1})
Um es einmal klarzustellen: Die ganze Region - das
gilt auch für uns - will das dritte und vierte Gleis. Das ist
unstrittig.
Ich möchte an dieser Stelle den vielen Menschen in
den Bürgerinitiativen ausdrücklich ein großes Kompliment machen. Es geht hier nicht darum, etwas zu verhindern. Gerade von den Bürgerinitiativen kommen hervorragende Vorschläge. Sie haben die Bürgertrasse
weitgehend erarbeitet. Wir haben das sehr positiv begleitet. Das ist das, was wir heute fordern.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Caspers-Merk?
Aber gern.
Herr Kollege Burgbacher, da ich mit Ihnen völlig
übereinstimme, dass es darum gehen muss, gemeinsam
eine menschen- und umweltverträgliche Trassierung
hinzubekommen, frage ich: Sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass nach der Bundeshaushaltsordnung der
Bund das baut, was gesetzlich notwendig ist, und nur
dann Ausnahmen machen darf - wie beim Projekt
Stuttgart 21 -, wenn sich auch das Land beteiligt, dass es
an anderen Stellen der Strecke Präzedenzfälle gibt, dass
es deswegen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger
notwendig ist, nicht Parteipolitik zu betreiben, sondern
eine Lösung zu erarbeiten, für die sich Bund, Bahn und
Land an einen Tisch setzen müssen?
Frau Kollegin Caspers-Merk, das, was Sie die ganze
Zeit machen, ist Parteipolitik. Sie gehen vor Ort herum,
versprechen den Leuten etwas, und hier im Bundestag
sind Sie nicht einmal bereit, mitzuarbeiten und gemeinsam etwas zu machen.
({0})
Wir hatten versucht, ein gemeinsames Gespräch zustande zu bringen. Selbst das haben Sie damals abgelehnt.
Zu der Geschichte Bund/Land: Wir sind in einer Art
Teufelskreis. Jeder schiebt es auf den anderen. Eines ist
aber klar - das haben meine Erkundigungen klipp und
klar ergeben -: Jetzt muss der Bund klar sagen, ob er bereit ist, die derzeitige Planung zu stoppen und andere
Vorgaben zu machen. Das ist der entscheidende Punkt.
Da ist nicht das Land, sondern der Bund gefragt.
({1})
Es geht im Wesentlichen um fünf Abschnitte. Es geht
um die Tunnellösung für Offenburg. Es geht um die parallele Trasse zur Autobahn südlich von Offenburg. Es
geht um die Trassenabsenkung westlich von Freiburg bis
zum Nordportal des Mengener Tunnels. Es geht um die
Trassenabsenkung mit Teildeckelung vom Südportal des
Mengener Tunnels bis südlich von Buggingen. Es geht
ausdrücklich auch um die gedeckelte Trassentieferlegung im Ortsteil Haltingen der Stadt Weil am Rhein. Das
war damals noch nicht auf dem Schirm, aber das gehört
natürlich dazu.
Die aktuelle Situation ist nun die: Innenminister Rech
hat diese Bürgertrasse als technisch und betrieblich
machbar sowie für Mensch und Umwelt als weit vorteilhafter und damit grundsätzlich genehmigungsfähig bezeichnet. Das hat die Deutsche Bahn - das hat Herr Rech
gesagt - in einer Sitzung am 2. Februar in Freiburg ausdrücklich bestätigt. Heute lese ich, dass der Bund sagt:
Wir übernehmen keine Kosten.
Die Genehmigungsbehörde treibt die Planfeststellung weiter voran und versucht, vollendete Tatsachen zu
schaffen. Deshalb ist jetzt der Bund gefordert, einzuschreiten. Der Bund muss die laufenden Planfeststellungsverfahren stoppen, weil es nie möglich sein wird,
dafür Akzeptanz zu bekommen. Ich sage Ihnen sehr
deutlich: Wir wollen den Güterverkehr auf die Schiene
verlagern. Aber nur dann, wenn wir entsprechenden
Lärmschutz machen, wenn wir eine Trasse finden, die
den Anforderungen der Umwelt und der Menschen gerecht wird, werden wir dafür Akzeptanz bekommen.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Schwarzelühr-Sutter?
Aber gern.
Herr Kollege Burgbacher, hat das Land BadenWürttemberg, Ihr Wirtschaftsminister oder der Innenminister, in der Zwischenzeit einen Planungsstopp gefordert?
({0})
Ist Ihnen etwas in der Richtung bekannt?
Frau Kollegin, weder der Landeswirtschaftsminister
noch der Landesinnenminister ist dafür zuständig.
({0})
Sie waren selbst, glaube ich, bei der Sitzung am
2. Februar - ich bin mir nicht ganz sicher, aber Ihre
Fraktion war auf jeden Fall vertreten -, in der klipp und
klar gesagt wurde: Es ist alles technisch machbar und
auch ausführbar. - Das Land hat übrigens signalisiert,
dass es das unterstützt. Aber am Zuge ist jetzt der Bund
und nicht das Land.
Sie sollten aufhören, hier Dinge in die Welt zu setzen,
die nicht zutreffen, oder anderen den Schwarzen Peter
zuzuschieben. Das tun Sie nur, weil Sie nicht in der Lage
sind, in Ihrer Fraktion Mehrheiten zu organisieren und
den Verkehrsminister dazu zu bringen
({1})
- das Ministerium ist jetzt anwesend; das ist ja toll -,
endlich einen Schritt zu tun. Das ist Ihr Problem.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin?
Aber sehr gern.
Herr Kollege Burgbacher, Sie wissen auch, dass Sie
außer der Ankündigung eines Bahngipfels 2006 oder
Lippenbekenntnissen noch nie einen konkreten Vorschlag zur Finanzierung der Mehrkosten dieses Projekts
gemacht haben, obwohl Sie wissen, wie die Haushaltsordnung des Bundes aussieht.
({0})
Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter, ich sage es noch
einmal: Das Land hat klare Vorgaben gemacht. Das Land
hat klar die Bereitschaft zur Unterstützung angedeutet.
({0})
Das Land ist aber nicht am Zug, sondern der Bund ist am
Zug.
Sie können nicht einfach - ich halte das für ein übles
Spiel, auch für die betroffenen Menschen - den Schwarzen Peter an das Land weiterreichen, weil Sie den Verkehrsminister nicht von der Richtigkeit des Projekts
überzeugen können. So kann man nicht verantwortliche
Politik machen.
({1})
Den Ablauf finde ich äußerst interessant. Wir haben
am 18. Oktober 2007 unseren Antrag eingebracht. Dieser wurde im Verkehrsausschuss am 8. November 2007
behandelt und von der Mehrheit, bestehend aus Union
und SPD, abgelehnt.
Wir haben dann immer wieder versucht, das weiterzuspinnen und Gespräche zu führen. Ich erinnere daran,
dass die Kollegin von den Grünen, meine Kollegin
Laurischk und ich ein Gespräch angeregt haben. Darauf
kam keine Reaktion. Dies ist uns erst nach einer Vermittlung des Regierungspräsidenten gelungen.
Das zieht sich bis in diese Woche hinein. Ich habe am
Montag noch einmal angeboten, diese Debatte heute zu
verschieben oder den Antrag an den Verkehrsausschuss
zurückzuüberweisen unter der Voraussetzung, dass uns
deutlich signalisiert wird, dass eine konstruktive Bereitschaft besteht, zusammenzuarbeiten und zu einem Antrag zu kommen.
Aus der Arbeitsgruppe wurde uns signalisiert, dass
weder die Bereitschaft zur Verschiebung noch zur Rücküberweisung besteht. Deshalb haben wir uns dafür eingesetzt, dass der Antrag heute auf der Tagesordnung
bleibt.
Jetzt müssen wir über das richtige Vorgehen beraten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das duldet langsam
keinen Aufschub mehr. Die Pläne liegen auf dem Tisch.
Jeder vor Ort weiß, dass die derzeitige Trasse nicht
durchsetzbar ist. Dann macht es keinen Sinn, daran festzuhalten, weiter zu planen und Genehmigungsverfahren
weiter voranzutreiben. Jetzt muss ein Stopp verfügt werden. Das müsste dieses Parlament beschließen.
Wenn diejenigen, die vor Ort immer für eine bürgerund umweltgerechte Trasse werben, heute mit Nein
stimmen, dann wird dies kein Mensch vor Ort verstehen.
({2})
Politik fängt auch damit an, dass wir den Menschen
die Wahrheit sagen und dass wir das, was wir vor Ort
tun, hier umsetzen und umgekehrt. Deshalb appelliere
ich an Sie: Stimmen Sie heute diesem Antrag zu, damit
die Regierung weiß, dass sie jetzt am Zug ist.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren Kollegen! Die Bahnstrecke durch das Rheintal ist
in der Tat einer der Hauptleistungsträger des Bahnverkehrs in Deutschland. Schon heute haben wir auf dieser
Strecke auf einigen Streckenabschnitten Überlastungen
von über 100 Prozent. Bis zum Jahre 2025 wird gegenüber heute eine Verdoppelung des Verkehrs auf dieser
Strecke prognostiziert.
Deshalb sollte man zuallererst einmal festhalten: Es
ist hoch prioritär, dass diese Strecke für einen leistungsfähigen Bahnverkehr in Deutschland ausgebaut wird.
({0})
Die zusätzlichen Güterverkehre, die wir auf der NordSüd-Achse in Deutschland erwarten, sollten allerdings
nicht fast ausschließlich auf die Rheintalstrecke konzentriert werden. Deswegen gibt es auch in der CDU/CSUBundestagsfraktion Überlegungen, weitere Strecken für
den Nord-Süd-Verkehr zu ertüchtigen, damit sie die zukünftigen Kapazitätszuwächse im Güterverkehr aufnehmen können.
Nun haben die betroffenen Bürgerinnen und Bürger,
die Städte und Gemeinden entlang der Bahnstrecke in
der Oberrhein-Region zusammen mit den Bürgerinitiativen, die sich übrigens sehr fachkundig an der Diskussion
beteiligen,
({1})
eine Reihe von durchaus berechtigten Forderungen aufgestellt, nämlich dass der Bahnbau so erfolgen muss,
dass die Entwicklungschancen der betroffenen Städte
und Gemeinden nicht behindert werden, dass die Menschen vor Lärm und Erschütterungen besser geschützt
werden und dass die Kultur- und Erholungslandschaft
am Oberrhein - wir sagen ja immer: Wir leben dort, wo
andere Menschen Urlaub machen - auch für künftige
Generationen erhalten bleibt.
Sie haben übrigens hohe Summen eigenen Geldes in
die Hand genommen, haben Alternativpläne erarbeitet
und Gutachten eingeholt. In dem derzeit laufenden Planrechtsverfahren haben 90 000 Bürgerinnen und Bürger
ihre Einwendungen schriftlich geltend gemacht.
({2})
Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger nutzen unser
deutsches Planungsrecht.
Peter Weiß ({3})
Für mich als Abgeordneten der Region folgt daraus:
Der weitere Ausbau der Rheintalbahn kann nur erfolgen,
wenn auf die berechtigten Forderungen der Region eingegangen wird. Deswegen danke ich der Landesregierung von Baden-Württemberg, dass sie es übernommen
hat, die Forderungen der Städte und Gemeinde zu bündeln, und unter Vorsitz des für die Verkehrspolitik zuständigen Innenministers Heribert Rech eine Arbeitsgruppe eingerichtet hat, die am 2. Februar dieses Jahres
ihre Ergebnisse vorgelegt hat. Zusammengefasst ergibt
sich folgendes Bild: Diese Arbeitsgruppe befürwortet
Tunnellösungen für Offenburg und Weil am Rhein, Trassenvarianten an der Autobahn, Tieferlagen und verbesserten Lärmschutz.
Unter dem Aspekt der Rücksichtnahme auf Mensch
und Umwelt bezeichnet die Arbeitsgruppe die von der
Bahn eingereichte Planung als völlig ungenügend und
nachbesserungsbedürftig. Ich denke, es macht auch aus
Sicht der Bahn keinen Sinn, auf Biegen und Brechen
eine unzureichende Planung gegen den erklärten Willen
einer gesamten Raumschaft durchzusetzen. Das hohe
Ansehen des umweltfreundlichen Verkehrsträgers Bahn
würde beschädigt, wenn es nicht zu Veränderungen im
Planungsprozess kommt. Von daher will das Land Baden-Württemberg noch im Frühjahr dieses Jahres Gespräche mit dem Bund und der Bahn auf Spitzenebene
führen, um eine Lösung für die aufgezeigten Konfliktpunkte zu finden.
Der noch vom Oktober 2007 stammende FDP-Antrag
ist unterdessen in mehrfacher Hinsicht schlichtweg überholt, Herr Kollege Burgbacher.
({4})
Um es kurz zu sagen: Er ist schlichtweg ein Ladenhüter.
({5})
So wurden im vergangenen Jahr 2008 zum einen die regionalen Forderungen konkretisiert und weiterentwickelt.
({6})
Zum anderen ist angesichts des avisierten Spitzengesprächs der von der Bundesregierung erbetene schriftliche Bericht entbehrlich geworden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Laurischk?
Gerne.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Kollege Weiß, nachdem Sie diesen Antrag als
Ladenhüter bezeichnet haben, wundere ich mich, dass
Ihrerseits kein aktueller Antrag vorgelegt wird. Dagegen
hätte ich gar nichts. Ich glaube, die Region Südbaden
wartet förmlich darauf, dass sich auch die Regierungsparteien auf Bundesebene bewegen. Warum tun sie es
nicht? Warum loben Sie jetzt diese Arbeitsgruppe so
stark, obwohl sie bislang noch nicht einmal einen Termin für einen angeblich in Südbaden abzuhaltenden
Bahngipfel vorgeschlagen hat? Bislang ist laut der Antwort auf meine Rückfrage bei der Bundesregierung noch
keiner bekannt.
Verehrte Frau Kollegin Laurischk, dass der Antrag ein
Ladenhüter ist, zeigt sich schon daran, dass im Antrag
nicht gefordert wird, dass etwas anderes gebaut werden
soll, sondern nur, dass geprüft werden soll. Genau diese
Prüfung ist im vergangenen Jahr erfolgt. Nun liegen die
Prüfungsergebnisse vor.
({0})
Das heißt, Frau Kollegin Laurischk, jetzt geht es nicht
mehr um das Prüfen, sondern jetzt sind Entscheidungen
zu treffen.
({1})
Allein diese sprachliche Formulierung des Antrags zeigt,
dass er ein Ladenhüter ist.
Zweitens. Mit Ihrer Frage suggerieren Sie etwas, was
auch in der Rede des Kollegen Burgbacher suggeriert
worden ist. Ich finde, wir sollten den Bürgerinnen und
Bürgern und gerade den betroffenen Gemeinden gegenüber eine ehrliche Sprache führen. Der Deutsche Bundestag entscheidet nicht, wo eine Bahntrasse durchgeht.
({2})
In einem laufenden Planungsverfahren - auf dem gesamten Abschnitt zwischen Offenburg und Basel sind die
Planrechtsverfahren eingeleitet; zum Teil sind sie in der
Phase der Offenlage, zum Teil haben bereits die Erörterungstermine, also die öffentlichen Anhörungen, stattgefunden - dürfte gar keine politische Intervention erfolgen, um das Verfahren nicht rechtlich zu Fall zu bringen.
({3})
Deswegen, verehrte Frau Kollegin Laurischk, ist der
Antrag der FDP nicht nur ein Ladenhüter. Vielmehr suggeriert er den Bürgerinnen und Bürgern eine vollkommen falsche Vorstellung von dem, was jetzt notwendig
ist. Notwendig ist nicht eine Entschließung des Bundestages, sondern notwendig ist, dass sich Bundesverkehrsministerium, Landesregierung von Baden-Württemberg
und Bahn AG an einen Tisch setzen und darüber verhandeln, ob sie, die Zuständigen, an der Planung etwas verändern.
({4})
Peter Weiß ({5})
Genau das ist der Zweck des Berichts der Arbeitsgruppe
des baden-württembergischen Innenministers. Ich hätte
von einer Partei, die zwar hier in der Opposition, aber in
Stuttgart in der Regierung ist, erwartet, dass sie das Regierungshandeln in Stuttgart unterstützt und nicht durch
einen Antrag konterkariert.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Laurischk?
Bitte schön.
Herr Kollege Weiß, ich verstehe Ihre Antwort so, dass
Sie eine Änderung der derzeitigen Bahnplanung überhaupt nicht mehr für möglich halten.
({0})
Insofern würde ich gerne Ihre Einschätzung dazu hören,
dass Herr Mehdorn mir gegenüber erklärt hat, dass eine
Änderung der Bahnplanung bei entsprechender Finanzierung durchaus denkbar ist.
Frau Kollegin Laurischk, natürlich kann man eine solche Debatte auch dazu nutzen, durch Zwischenfragen in
alle Details einzusteigen, wobei ich nicht weiß, ob das
nicht unter Umständen für mehr Verwirrung sorgt. Richtig ist, dass die Deutsche Bahn AG für die Strecke zwischen Offenburg und Basel eine Planung eingeleitet hat
und dass sie natürlich nur dann bereit ist, diese Planung
in den Papierkorb zu werfen und eine neue zu beginnen,
wenn sie dazu auch eine Finanzierung erhält. Das ist
vollkommen richtig.
({0})
Deswegen ist auch vom Kollegen Beckmeyer schon darauf hingewiesen worden: Zu einem Spitzengespräch
zwischen Bundesverkehrsminister Tiefensee, Ministerpräsident Oettinger und Bahnchef Mehdorn gehört nicht
nur eine Verständigung über die Sache, also ob und wo
man eine Planänderung vornimmt, sondern selbstverständlich auch eine Verständigung über die Finanzierung. Aber, Frau Kollegin Laurischk, dann lassen Sie
doch die drei Herren sich endlich einmal treffen,
({1})
bevor Sie Anträge stellen, in denen Sie suggerieren, wir,
der Bundestag, würden das entscheiden! Dann verweisen Sie auf die drei Entscheider, die zusammentreffen
müssen, und nicht auf andere! Das wäre meine herzliche
Bitte.
({2})
- Weil der Vorsitzende des Haushaltsausschusses einen
Zwischenruf macht: In der Tat, Herr Fricke, am Schluss
müssen wir, das Parlament, durch unsere Haushaltsbeschlüsse die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen
({3})
und die Grundlagen für eine Finanzierungsvereinbarung
schaffen. Aber das wäre doch der Schlusspunkt, Herr
Fricke,
({4})
und an diesem Schlusspunkt sind wir noch nicht angelangt.
({5})
- Nein, das sind wir nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe eigentlich schon in der Antwort auf die Zwischenfrage der
Kollegin Laurischk auf den wesentlichen Punkt hingewiesen: Ein wirklicher Fortschritt in der Sache, um die
es nun gehen soll, kann nur erzielt werden, wenn sich
Bund, Land und Bahn gemeinsam an einen Tisch setzen
und versuchen, die Anliegen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger sowie der betroffenen Städte und Gemeinden in Südbaden in konstruktiver Diskussion einer
sachgerechten Lösung zuzuführen. Das ist übrigens auch
der einzig erfolgversprechende Weg. Denn ich habe
schon vorhin ausgeführt: Für alle Planabschnitte sind die
Planrechtsverfahren eingeleitet, und die Offenlegung der
Pläne findet statt. Zum Teil haben die Erörterungstermine schon stattgefunden. In dem derzeitigen Verfahrensstadium kann deswegen nur der Maßnahmeträger
und Antragsteller Deutsche Bahn selbst mit entsprechender Rückendeckung des Bundesverkehrsministeriums
eine Planänderung vornehmen. Das ist der entscheidende Punkt, Herr Burgbacher.
({6})
- So ist es.
Meine Erwartung ist, dass sich auf dem avisierten
Bahngipfel, zu dem Ministerpräsident Oettinger einladen wird, auch Bundesverkehrsminister Tiefensee in der
Sache bewegen wird. Nach der Ankündigung des Kollegen Beckmeyer in seiner Rede gehe ich davon aus, dass
eine entsprechende Gesprächs- und Kompromissbereitschaft vorhanden ist.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bonde?
Gerne.
Herr Kollege Weiß, da Sie gerade eben wieder verkündet haben, dass der Verkehrsminister der Bundesrepublik
Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung über alternative Trassenplanungen und damit über
einen menschen- und umweltfreundlichen Ausbau der
Bahn zu spielen hat, frage ich Sie: Warum verweigern Sie
und Ihre Fraktion sowohl im Haushaltsausschuss als
auch hier den Anträgen meiner Fraktion und der FDPFraktion, die darauf abzielen, dass das Parlament seine
Kontrollfunktion gegenüber der Regierung wahrnimmt
und sich entsprechend positioniert, häufig Ihre Zustimmung? Warum beschränken Sie sich als Bundestagsabgeordneter auf Interviews in Lokalzeitungen und verweigern hier, sich dafür einzusetzen, dass der Bundestag
seine Möglichkeiten, Einfluss auf den Bundesverkehrsminister zu nehmen, tatsächlich nutzt?
({0})
Herr Kollege Bonde, ich sehe das ganz anders. Es hat
in der Vergangenheit eine Reihe von Gesprächen stattgefunden, an denen Sie teilweise teilgenommen und in denen wir Abgeordnete aus der Region am südlichen
Oberrhein versucht haben, auf diese Entscheidungen
Einfluss zu nehmen. Wir haben versucht, die Gemeinden, die Städte, die Bürgerinnen und Bürger und auch
die Bürgerinitiativen für eine gemeinsame Konzeption,
was die Trassenführung in Südbaden anbelangt, zu gewinnen.
Ich selbst habe als Abgeordneter des Wahlkreises Emmendingen-Lahr, der einer der hauptbetroffenen Wahlkreise ist, unzählige Konferenzen mit den Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen durchgeführt. Wir haben
dafür Sorge getragen, dass die Bürgerinitiativen, die
Bürgermeister und die Landräte in Berlin persönlich die
Situation in den Planungsabschnitten vortragen konnten.
Die Aufgabe von Abgeordneten, zur Meinungsbildung
beizutragen, haben wir bisher in einer mustergültigen
Art und Weise erfüllt. Der entscheidende Punkt ist nur
der:
({0})
Eine Veränderung der Planung kann im derzeitigen Stadium nur die Bahn selber - mit entsprechender politischer Rückendeckung - einleiten.
Es gab auch eine Zeit vor Einleitung der Planrechtsverfahren. Zu dieser Zeit stand die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen in der Regierungsverantwortung, Herr Bonde.
Da hätte man politisch einen anderen Planungsauftrag erteilen können. Dazu haben Sie damals aber nicht den Mut
und die Kraft gehabt.
({1})
Herr Kollege Bonde möchte eine Nachfrage stellen.
Bitte.
Da Sie das Jahr 1998 angesprochen haben, möchte ich
Sie fragen: Ist es richtig, dass die damals für die Planungsverfahren und für die Raumordnung zuständige
Landesregierung von Ihrer Partei, wie das auch heute
noch der Fall ist, geführt wurde? Sie schieben nun - das
ist Ihrem Namen und Ihrem Parteibuch angemessen den Schwarzen Peter anderen zu. Stimmen Sie mir zu,
dass uns das nicht weiterbringt und dass Sie und Ihre
Parteifreunde in Baden-Württemberg 1998 ganz erheblich zu dem heutigen Planungsstand beigetragen haben?
Verehrter Herr Kollege Bonde, dieses SchwarzePeter-Spiel - jetzt heiße ich auch noch mit Vornamen
Peter -, also das Verschieben der Verantwortung, hilft in
der Sache nicht weiter. Dass dieses Spiel gespielt wird,
ist übrigens den Betroffenen, die auf eine Veränderung
hoffen, überhaupt nicht verständlich zu machen. Fakt ist
- um es noch einmal klarzustellen -: Die Planung beantragt der Maßnahmeträger Deutsche Bahn - Punkt -,
nicht die Landesregierung von Baden-Württemberg,
nicht die Bundesregierung, nicht der Deutsche Bundestag.
({0})
Ein Raumordnungsverfahren wird eingeleitet, wenn der
Maßnahmeträger für diese Region ein Raumordnungsverfahren beantragt. Dieses Hin und Her, der Heckmeck,
den Sie hier betreiben, dient nur dazu, Verwirrung zu
stiften.
({1})
Sie werfen Nebelkerzen, um die einfach zu beschreibenden Fakten zu vernebeln. Ich finde, das führt uns in der
Sache nicht weiter.
({2})
Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, dann sollten gerade die hier anwesenden Kolleginnen und Kollegen, die aus der Region am Oberrhein kommen, die dort
ihre politische Heimat haben, an einem Strang ziehen,
um echte Verbesserungen für die betroffenen Menschen,
für die Städte und Gemeinden in dieser Region zu erreichen.
({3})
- Herr Kollege Burgbacher, wenn es der FDP wirklich
um die gemeinsame Sache ginge, dann hätte sie diesen
Antrag nicht jetzt, vor dem von der Landesregierung geplanten Bahngipfel - der Landesregierung gehört die
FDP an -, auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages setzen dürfen.
({4})
Peter Weiß ({5})
- Entschuldigung, das Aufsetzungsrecht liegt bei den
Fraktionen. Es bestand kein Zwang für Sie, diesen Antrag heute auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen.
({6})
Auch die von Ihnen vorgeschlagene Rücküberweisung an die Ausschüsse würde nicht weiterhelfen. Dann
würde der Ladenhüter ja zu einem noch älteren Ladenhüter werden.
({7})
Deswegen haben die Bürgerinitiativen vom Oberrhein
in dieser Woche einen Brief an uns Abgeordnete geschrieben, aus dem ich jetzt zitiere:
Wir bitten Sie eindringlich, diesen Punkt von der
Tagesordnung abzusetzen.
({8})
Weiter heißt es:
Die Aufgabe des Bundestages lautet vielmehr, dem
politischen Prozess zwischen der Bundesregierung
und dem Land Baden-Württemberg Raum zu geben und das heißt: Der Punkt Rheintalbahn muss vertagt
werden.
Ende des Zitats.
Wenn die FDP der Region am Oberrhein wirklich einen Dienst erweisen wollte, würde sie hier keinen politischen Schauantrag stellen, sondern dem dringenden Rat
der Bürgerinitiativen folgen und ihren Antrag von der
Tagesordnung nehmen.
({9})
- Herr Burgbacher, auch wenn Sie sich aufregen, der
Punkt ist der: Mir geht es um die Sache.
({10})
Und für die Sache sind nicht Schauanträge, sondern Taten wichtig.
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothée Menzner
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bedeutung dieses Projektes und die emotionale Aufgeladenheit dieses Themas sind hier schon deutlich geworden. In der Tat haben wir es mit einem ziemlich singulären Vorgang zu tun. Zumindest ich erlebe so etwas
zum ersten Mal. Wir haben gestern alle einen Brief der
Bürgerinitiativen erhalten, in dem sie darum bitten, den
Antrag, der aus dem Jahr 2007 stammt und in Teilen
überholt ist, aber die Anliegen der Bürgerinitiativen aufgreift, hier und heute nicht zu behandeln.
Es verwundert einen schon, wenn Bürgerinitiativen
darum bitten, einen Antrag, der ihrer Intention folgt,
nicht zu behandeln. Wir haben die erste Lesung bereits
durchgeführt. Die Bürgerinitiativen fürchten, dass die
zweite und dritte Lesung ähnlich wie die erste Lesung
verlaufen werden und das ihrem Anliegen nicht guttut.
({0})
Was sind ihre Ängste? Was sind die Gründe? In den
rund anderthalb Jahren seit der Antragsformulierung ist
eine Menge passiert; das ist schon angesprochen worden. Die Planung und die Entwicklung sind weitergegangen. Unter Mitwirkung der Bürgerinitiativen ist eine
Alternativplanung entstanden, in der die Belange der
Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt werden. Daran
wird deutlich, dass sie die Bahnstrecke zwar wollen,
aber nicht so, wie sie bisher geplant war. Sie fordern
Lärmschutz, und das ist angesichts der geplanten Frequenz - alle drei Minuten ein Güterzug in der Nacht sehr verständlich.
({1})
Sie sagen nicht, dass sie keine Bahn wollen. Vielmehr
wollen sie einen Ausbau, der ihren Interessen Rechnung
trägt.
Die Bürgerinitiative hat ein Gespür für parlamentarische Zwänge. Herr Weiß, Sie haben aus einem Schreiben
zitiert. Es wäre nett gewesen, wenn Sie auch ein bisschen weiter oben gelesen hätten. Ich zitiere aus demselben Brief einige Absätze weiter oben:
Es wäre für die kompetente und wachsame Bevölkerung am Oberrhein völlig unverständlich, wenn
sich die üblichen politischen Rituale - Oppositionsanträge werden grundsätzlich abgelehnt - beim derzeitigen Planungsstand wieder einmal durchsetzen
könnten.
({2})
Das ist das Problem. Sie haben Angst, dass der Konsens - auch mit einer Landesregierung und mit dem
Bundesverkehrsministerium -, der in Hunderten von
Versammlungen gefunden werden soll - er ist bereits in
greifbarer Nähe -, erschwert werden könnte. Sie fürchten sich davor, dass die Koalition den Antrag ablehnt,
wodurch die Konsensfindung schwieriger würde. In dem
Punkt, fürchte ich, könnten Sie recht haben.
Festzuhalten bleibt: Die steigenden Gütermengen,
von denen wir alle wissen, sind am besten auf der
Schiene aufgehoben. Fest steht auch, dass Schienengüterverkehr zu starken Belastungen für Anwohner führt.
Nachts alle drei Minuten ein Güterzug - das ist ein Problem und eine Zumutung. Wir alle wissen inzwischen:
Lärm kann krank machen.
({3})
Wenn wir Akzeptanz für das Verkehrssystem Schiene
wollen, gilt es, diesen Ängsten, aber auch diesen Belastungen Rechnung zu tragen. Von daher glaube ich, dass
der sich jetzt in der Debatte befindliche Plan Baden 21
eine gute Möglichkeit ist und diesem Problem Rechnung
trägt. Natürlich ist er mit Kosten verbunden, aber er ist
angesichts der voraussichtlichen Trassenentgelte und im
Vergleich zu anderen unnötigen Prestigeobjekten wie
Stuttgart 21 durchaus finanzierbar.
({4})
Von daher möchte ich an die Koalition appellieren,
sich ihr Stimmverhalten sehr genau zu überlegen und
den eingeleiteten Möglichkeiten der Konsensfindung in
der Region nicht im Wege zu stehen.
Danke.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines
vorweg: Der Ausbau der Rheintalbahn, des dritten und
vierten Gleises für den Schienengüterverkehr, ist zweifellos eines der größten und wichtigsten Projekte in
Deutschland und auch in Europa. Das ist die zentrale
Nord-Süd-Achse.
({0})
Es ist ein Riesenproblem, dass wir mit diesem Ausbau aus
verschiedenen Gründen nicht gut vorankommen. Es ist
ein Problem, dass wir lange Zeit geglaubt haben - auch
manche von uns -, dass man möglichst nichts mehr an
der Planung ändern sollte, damit das Projekt möglichst
schnell vorankommt. Das war, glaube ich, ein Irrtum.
({1})
Jetzt zeichnet sich ab, dass die Plantrasse, die die
Bahn eingereicht hat, nicht den neuesten Erkenntnissen
entspricht, sondern - mit Verlaub - aus den Zeiten des
Kalten Krieges stammt. Damit will ich deutlich machen,
wie alt die Planung ist. Damals glaubte man, den Menschen noch einiges zumuten zu können. Aber die Zeiten
sind anders. Die Kommunen haben sich anders entschieden. Manche waren damals noch im Hinblick darauf zerstritten, welche Trasse sie wollen. Heute gibt es eine
klare Botschaft entlang der ganzen Trasse: Sie wollen
eine gebündelte Trasse, und zwar möglichst autobahnnah. Ganze Kommunen haben sich mehrheitlich gegen
die Plantrasse der Bahn entschieden. Das muss man,
denke ich, endlich zur Kenntnis nehmen.
({2})
Es hat keinen Sinn - da gebe ich Herrn Burgbacher
vollkommen recht -, an einer offenkundig breit abgelehnten Trasse bis zum bitteren Ende im Planfeststellungsverfahren festzuhalten,
({3})
zahllose Einwendungen abzuarbeiten und anschließend
zahllose Gerichtsverfahren durchzuziehen. Das ist ein
reines Beschäftigungsprogramm für Bürokratie und für
Juristen und sonst nichts. Es ist grober Unfug.
({4})
Sie werden dadurch auch keine Zeit gewinnen. Wir werden Zeit verlieren.
({5})
Wir haben jetzt wirklich genug Zeit, einen Neuanfang
zu machen und eine bessere Trasse entwickeln zu lassen;
denn es zeichnet sich ein Konsens ab, übrigens parteiübergreifend. Das Verrückte ist: Normalerweise gibt es
klare Fronten zwischen den verschiedenen Parteien. In
diesem Fall ist es aber so, dass vor Ort alle flächendeckend und parteiübergreifend sagen: Die ursprüngliche
Planung ist völlig falsch. Wir wollen eine andere. - Deswegen verstehe ich, dass der eine oder andere Kollege,
der im Bundestag sitzt und seine Position vor Ort vertreten will, in ziemlich große Schwierigkeiten kommt. Kollege Weiß, wahrscheinlich haben Sie auch aufgrund dieser Konflikte so wortreich das Nichtstun umschrieben,
und zwar Ihres, nicht das der anderen.
({6})
Sie werfen der FDP vor, ihr Antrag sei überholt. Er ist
aber nicht überholt. Überholt ist vielmehr die Ablehnung
durch die Große Koalition von vor anderthalb Jahren.
({7})
Inzwischen ist sogar die von Ihnen geführte Landesregierung in Baden-Württemberg dafür. Offenbar sind
auch Sie dafür. Als es damals um den „vagen“ Antrag
der FDP ging, haben Sie einen Fehler gemacht. Die FDP
wollte übrigens nicht das Parlament um eine Entscheidung bitten. Wenn Sie den Antrag lesen, stellen Sie fest,
dass es darin heißt:
Wir fordern die Bundesregierung auf, mit der Landesregierung und der DB in Verhandlungen einzutreten, um zu prüfen …
- Das ist immer noch nicht geschehen. Deswegen ist der
Antrag nicht überholt.
({8})
Wir unterstützen ihn;
({9})
denn er enthält den Kern der Forderungen der Bürgerinitiativen.
({10})
Die Bürgerinitiativen haben Bedenken, dass die anderen Trassen, wenn heute abgestimmt wird, endgültig
kein Thema mehr sind. In diesem Punkt haben Sie recht,
Herr Weiß: Diese Entscheidung wird heute nicht gefällt.
({11})
Deswegen brauchen die Bürgerinitiativen auch keine
Angst zu haben, wenn heute abgestimmt wird. Wenn wir
diesem Antrag zustimmen, geben wir der Bundesregierung den klaren Impuls,
({12})
als Eigentümer der Bahn zu fordern, dass diese unsinnige Planung zurückgezogen wird. Dann kann das Verfahren verkürzt werden. So kommen wir aus dem Dilemma heraus. Dadurch können wir den Weg für eine
sinnvolle, neue, bürgernahe, umweltfreundliche und klimafreundliche Trasse frei machen. Das ist das eigentliche Ziel. Deswegen stimmen wir diesem Antrag zu. Ich
bitte alle, die sich bei diesem Thema engagieren, nicht
folgende Arbeitsteilung zu praktizieren: vor Ort der
neuen Bürgertrasse das Wort zu reden, sich aber hier als
Bedenkenträger zu präsentieren und immer nur zu fragen: Wie soll das alles bloß finanziert werden?
Ich komme zum Schluss. Eines ist klar: Die Bundesregierung kann sich nicht hinter den Kosten verschanzen. Denn die alte Trasse würde, wenn man sie bürgerfreundlich umgestalten müsste, so teuer, dass sie in
dieser Hinsicht ohne Weiteres mit jeder neuen Trasse
konkurrieren könnte.
Noch ein Wort an die CDU und die Landesregierung
in Baden-Württemberg. Wer die Bürger von Stuttgart
vom Schienenlärm befreit und ohne Not 1 Milliarde
Euro dafür ausgibt, dass dort alle nötigen und unnötigen
Gleise unter die Erde verlegt werden, der darf sich aus
dem, was im Rheintal geschieht, nicht völlig heraushalten, sondern muss auch den Menschen, die dort leben,
etwas bieten. Hier sind Sie am Zug.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Integrierte Planung für Schiene und
Straße im Rheingraben - Gesamtverkehrskonzept Südbaden“. Zu dieser Abstimmung liegen mir Erklärungen
nach § 31 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung vor,
({0})
und zwar von Marion Caspers-Merk, Elvira Drobinski-
Weiß, Gernot Erler und Rita Schwarzelühr-Sutter.1)
({1})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8029, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/6638 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen
der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Norbert Barthle, Antje Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
sowie der Abgeordneten Dagmar Freitag,
Dr. Peter Danckert, Martin Gerster, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Duale Karrieren im Spitzensport fördern und
den Hochschulsport strategisch weiterentwickeln
- Drucksache 16/10882 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Eberhard Gienger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Spitzensport
erfährt auf der einen Seite eine hohe Anerkennung durch
die Gesellschaft, stellt auf der anderen Seite aber in vie-
len Punkten des Studiums auch eine Störgröße dar. Ich
will das in den nächsten Minuten begründen.
Wenn man Höchstleistungen im Spitzensport erbrin-
gen möchte, muss man ein gewisses Zeitmaß investie-
ren. Für Training zusammen mit Prophylaxe, Regenera-
tion und Wegstrecken muss mit 25 bis 30 Stunden pro
Woche gerechnet werden. Zudem fällt die Zeit des Leis-
tungssports in einen Lebensabschnitt, in dem die berufli-
che Grundlage für die Zukunft gelegt wird. Bei einer
Kombination von Studium und Spitzensport treten
Schwierigkeiten auf, die aus den umfassenden akademi-
schen und sportlichen Anforderungen resultieren.
Studierende sind eine große Stütze des deutschen
Sports. Die Erfolge der studierenden Spitzensportler bei
den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr in Pe-
1) Anlage 3
king waren unverkennbar: 37 Prozent der Olympiamannschaft waren Studierende, 15 von den 41 Medaillen
wurden von Studentinnen und Studenten gewonnen. Seit
den Olympischen Spielen 1992 ist hier ein linearer Anstieg zu verzeichnen.
Die Erleichterung der Vereinbarkeit von sportlicher
und beruflicher Karriere ist einer der am häufigsten genannten Punkte, wenn gefragt wird, wie der Spitzensport
gefördert werden kann. Es ist ein großes Problem, dass
die hochbegabten Sporttalente beim Übergang vom Junioren- in den Seniorenbereich an einen Punkt kommen, an
dem sie entscheiden müssen: Betreiben wir unseren
Leistungssport weiter, oder müssen wir Studium, Ausbildung, Beruf forcieren? Manchmal ist es auch so, dass die
Sportler nach dem Studium in der Weltspitze etabliert
und noch in einem Hochleistungsalter sind, aber am Arbeitsmarkt keine Perspektive dafür sehen, Sport und Beruf parallel zu realisieren. Hier vergeben wir uns zweifellos Möglichkeiten, Medaillen zu gewinnen.
Ich habe Kontakt mit Mitgliedern des Beirats der Aktiven im DOSB aufgenommen. Sie haben mir genau dies
bestätigt und es durch ein Beispiel ergänzt: Angenommen, ein Sportler beendet sein Studium im Jahre 2009
und hat Aussichten, im Jahre 2012 olympische Medaillen zu gewinnen. Seine Möglichkeiten sind wie folgt:
Entweder, er hört mit dem Leistungssport auf und steigt
ins Erwerbsleben ein, oder er führt den Leistungssport
weiter und begibt sich damit in die Gefahr, dass sein Abschluss drei Jahre später am Arbeitsmarkt weniger wert
ist.
Eine duale Karriere stößt hier gewissermaßen an ihre
Grenzen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: die
hohe Trainingsbelastung, viele nationale und internationale Meisterschaften sowie weitere Verpflichtungen.
Deswegen haben wir hier dringenden Handlungsbedarf.
Wir müssen unsere Sportler unterstützen, sodass sie eine
duale Karriere aufbauen können.
({0})
Nur ein geringer Prozentsatz der Sportler ist in der Lage,
sich mit dem Sport den Lebensunterhalt zu verdienen
bzw. durch die sportliche Karriere eine wirtschaftliche
Absicherung für das ganze Leben zu erreichen. Viele haben gar nicht das Interesse, den Lebensunterhalt durch
Sport zu verdienen, und wollen einfach einen anderen
Beruf erlernen.
Der Deutsche Olympische Sportbund, die Kultusministerkonferenz, die Sportministerkonferenz und die
Hochschulrektorenkonferenz haben bereits am 25. Juli
2006 konstatiert, dass erfolgreiche Nachwuchssportlerinnen und -sportler immer häufiger wegen schwieriger
äußerer Rahmenbedingungen ihre sportliche Karriere
beenden müssen.
Wie können wir die Drop-out-Quote minimieren? Es
bietet sich der Allgemeine Deutsche Hochschulsportverband an. Dieser Verband hat 168 Mitgliedshochschulen.
Er organisiert Hochschulsport nicht nur als Spitzensport,
sondern auch als Breitensport. Aktuell gibt es deutschlandweit immerhin 85 Hochschulen, die eine vertragliche Vereinbarung zur Förderung von Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern unterzeichnet haben und damit
vom adh zur Partnerhochschule des Spitzensports erklärt
worden sind. An diesen Hochschulen studiert ein Großteil der etwa 1 200 studierenden Kaderathleten. Sie nutzen die an diesen Einrichtungen möglichen Sonderregelungen. Dazu gehören unter anderem Erleichterung der
Aufnahme eines Studiums, individuelle Betreuung durch
Mentoren und Fachberater, Flexibilisierung von Studienleistungen und Anwesenheitszeiten und schließlich Synchronisation von Studien- und Wettkampfplänen. Eine
durchgängige Anwesenheit während des Semesters ist
für Sportler leider nicht immer möglich. Deswegen sind
auch kreative Lösungen zur Erbringung von Prüfungsleistungen erforderlich. Hierbei denke ich beispielsweise
an das E-Learning oder das Blended Learning. Dies
muss genutzt und optimiert werden. Da heute so vieles
möglich ist, hätten wir auch die Chance, die Übertragung
von Vorlesungen im Internet durchzuführen, virtuelle
Arbeitsplätze zu schaffen, Videokonferenzen für Lerngruppen einzuberufen und die Möglichkeit zu bieten,
Dozenten und Kommilitonen direkt via Webcams zu
kontaktieren.
Es muss gelingen, die verantwortlichen Akteure des
universitären Bildungssystems für die duale Karriere der
Sportler zu sensibilisieren. Aus eigener Erfahrung kann
ich sagen: Wenn man sich mit den Athletinnen und Athleten unterhält, ist es wichtig, auf das zu hören, was sie
sagen. Sie wollen Sicherheit, und zwar auch für die Zeit
nach ihrer sportlichen Laufbahn. Das ist zum Teil bei der
Bundespolizei, beim Zoll und bei den Landespolizeien
möglich. Es gibt genügend Beispiele, dass die Athletinnen
und Athleten während ihrer sportlichen Laufbahn eine
Ausbildung erhalten und sicher sein können, im Anschluss
daran auch in den jeweiligen Dienst übernommen zu
werden. Auch bei der Bundeswehr kann man trainieren
und hat im Anschluss daran die Möglichkeit, eine Ausbildung zu absolvieren, mit der die Grundlage für ein
späteres Berufsleben geschaffen werden kann.
In gleicher Weise sollte dies bei den Universitäten
möglich sein. Deswegen fordert die Koalition die Umsetzung der Maßnahmen, die in der gemeinsamen Erklärung
von Sportministerkonferenz, Kultusministerkonferenz und
Hochschulrektorenkonferenz sowie dem DOSB fixiert
wurden. Wir sollten darauf hinwirken, dass die Beschlüsse der Sportministerkonferenz aus dem Jahre 2005
umgesetzt werden. Sie beziehen sich vor allem darauf,
verlässlichen Regelungen und Rahmenbedingungen zu
schaffen, durch die verlängerte Regelstudienzeiten für
aktive Bundeskader ermöglicht werden, sodass die
Hochschulen die Nachteile für die Spitzensportler ausgleichen können. Nebenbei stehen damit auch Hochschulen im Wettbewerb um Spitzensportler; genießen sie
doch durch diese ein höheres Ansehen.
({1})
Spitzensportler wollen nichts geschenkt. Sie wollen
sich aber die Möglichkeit erhalten, beides zu schaffen,
also den Beruf, die Ausbildung oder das Studium auf
praktikable Art und Weise mit dem zu verbinden, was
sie am liebsten machen, nämlich Sport auf hohem
Niveau zu treiben. Der Weg ist also vorgegeben, und
diesen Weg sollten wir gemeinsam beschreiten. Lassen
Sie uns daran arbeiten, dass wir den Athletinnen und
Athleten eine gute Zukunft bieten können.
Vielen Dank.
({2})
Für die FDP-Fraktion gebe ich dem Kollegen Detlef
Parr das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bereits seit Jahren zeichnet sich ein Bedeutungszuwachs
des nationalen und des internationalen Hochschulsports
ab. Nach einer Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages nutzen in der Welt führende Sportnationen
den Hochschulsport als wichtiges Element der Förderung von Talenten und zum Aufbau sportlicher Eliten. In
China, Russland, Korea, Polen und Italien, um nur einige
Beispiele zu nennen, wachsen die Mannschaften bei
internationalen Wettkämpfen beträchtlich. Sie werden
mit zusätzlichen Fördermitteln ausgestattet und nehmen,
wie in Polen, einen wichtigen Platz in den nationalen
Spitzensportförderungskonzepten ein.
Auch hierzulande erkennen wir einen Trend zu steigenden Teilnehmerzahlen. Besonders erfreulich sind die kontinuierlich verbesserten Leistungen unserer Athletinnen
und Athleten. In Deutschland ist der Allgemeine Deutsche
Hochschulsportverband, der adh, als Dachverband der
Hochschulsporteinrichtungen für die Organisation des
studentischen Breiten- und Spitzensports mit den dazugehörigen nationalen und internationalen Veranstaltungen
verantwortlich. Eine Kernaufgabe des adh ist die Unterstützung und Förderung von studentischen Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern. 33,5 Prozent der Olympiamannschaft von Athen 2004 waren Studierende. Bei den
Olympischen Spielen in Peking steigerte sich der Anteil
auf 37 Prozent. Wir sind also auf einem guten Weg.
Umso überraschender ist es, dass die Hochschulen als
Träger des bundesdeutschen Spitzensportes in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor noch immer weniger
Beachtung finden als andere wichtige Förderer wie Bundeswehr, Zoll und Bundespolizei. Hier sollte die Bundesregierung dafür sorgen, dass Maßnahmen ergriffen werden,
um die wachsende Bedeutung des Hochschulsports gebührend anzuerkennen und öffentlich herauszustellen. Das
ist die eine Seite der Medaille.
({0})
Die andere Seite ist die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der parallel zu nutzenden Trainings-, Wettkampf- und Studienbedingungen. Bereits zu Schulzeiten
haben studieninteressierte Spitzensportler erhebliche
Schwierigkeiten bei der zeitlichen Koordination von
Schul- und Sportausbildung. Der bereits in jungen Jahren
sehr hohe Zeitaufwand für den Leistungssport führt unter Umständen zu Leistungsbeeinträchtigungen und
schlechteren Schulnoten, durch die die Aufnahme des
Wunschstudiums bei NC-Fächern später erschwert oder
sogar verhindert werden kann.
Im Verlauf des Studiums treten erneut organisatorische Koordinationsprobleme zwischen akademischen
und sportlichen Verpflichtungen auf, müssen versäumte
Lehrinhalte nachgearbeitet und Prüfungsleistungen
durch alternative Lernaktivitäten erbracht werden. Zugeständnisse - das hat Eberhard Gienger noch einmal sehr
deutlich gemacht - bei den zu erbringenden Leistungen
sind weder vonseiten der Hochschulen möglich noch
vonseiten der Athleten erwünscht.
Somit müssen Hochleistungssportler zum einen zwei
unterschiedliche Karrieren parallel verfolgen, zum anderen
haben sie in der Regel mit verlängerten Studienzeiten zu
kämpfen. Das hat in Ländern mit Studienbeiträgen bzw.
Studiengebühren auch zunehmend unmittelbare finanzielle Auswirkungen.
({1})
Es gibt das Projekt „Partnerhochschule des Spitzensports“, durch das Regelungen geboten werden, mit denen
die hochschulseitigen Unterstützungsmaßnahmen während
der Studienzeit festgeschrieben werden. Daran müssen
noch mehr Hochschulen teilnehmen, als dies bislang
geschieht. Ein Handlungsbedarf besteht insbesondere
hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten von Spitzensportlern zum Studium, beim Problemfeld Studienbeiträge und beim Übergang aus dem Studium in den Beruf.
Die Bundesregierung muss sich für eine Verbesserung
der Zugangsmöglichkeiten einsetzen und ein umfassendes
Support- und Stipendiensystem aus öffentlichen Mitteln,
Mitteln der Wirtschaft und durch Stiftungen fördern.
Ich komme zum Schluss. Deutschland hat sich letztes
Jahr mit der gescheiterten Universiade-Bewerbung auf der
internationalen Sportbühne bis auf die Knochen blamiert.
({2})
Das Bewerbungskonzept des adh war erstklassig. Es geriet
in der Hamburger Bürgerschaft leider unter die Räder
machtpolitischer Ränkespielchen zwischen CDU und SPD,
({3})
mit erheblichen Folgen nicht nur für die Reputation des
adh, sondern auch für Deutschland als potenziellen Gastgeber anderer Sportgroßveranstaltungen.
Man mag von China als Ausrichter sportlicher Großveranstaltungen halten, was man will, nur eines muss
man den Chinesen lassen: 2001 mit der Ausrichtung der
Sommeruniversiade und gerade eben in Harbin mit einer
exzellenten Winteruniversiade haben die Chinesen die
Chancen genutzt, Lehren für andere Großereignisse zu
ziehen. Erste Überlegungen, sich nun um Olympische
Winterspiele zu bewerben, laufen bereits.
Wir müssen auch in Deutschland weiter den Blick auf
die Universiade als hochattraktive Sportgroßveranstaltung gerichtet halten.
({4})
Auch Welt- und Europameisterschaften der Studierenden
sind eine Werbung für den Sport- und Bildungsstandort
Deutschland. Deswegen sollten sie in die Vergabekriterien für Sportfördermittel stärker als bisher einbezogen
werden.
Im Übrigen freue ich mich jetzt auf die Beratungen
im Ausschuss unter Einbeziehung unseres Antrages, den
wir ein Jahr früher eingebracht haben, als dies die Koalitionsfraktionen mit ihrem Antrag getan haben.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Freitag, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Detlef Parr, es überrascht mich, dass Anträge durch langes Liegenlassen besser werden sollen.
({0})
Wir lassen uns überraschen. Euer Antrag hat lange genug
gelegen.
Ich komme einmal zurück auf folgenden Gedanken:
Wir wollten die Bewerbung Hamburgs um die Universiade
gemeinsam unterstützen. Der Kollege Parr hat gerade
schon darauf hingewiesen: So, wie es gelaufen ist, war
es eine Peinlichkeit. Man hat in Hamburg mit der Universiade-Bewerbung Wahlkampf gemacht, und nach der
Wahl hat Schwarz-Grün diese Bewerbung sang- und
klanglos in der Versenkung verschwinden lassen. Das
war keine gute Werbung, weder für Hamburg noch für
Deutschland.
({1})
Die Universiade ist - das weiß jeder, der sich damit beschäftigt - die herausragende internationale Sportveranstaltung für studierende Spitzensportler. Selbstverständlich
wäre die Austragung in Deutschland ein Highlight gewesen, und selbstverständlich hätte die Universiade - Detlef
Parr hat darauf hingewiesen - zu einer stärkeren Wahrnehmung der Leistungen unserer Spitzensportler - auch
an ihren eigenen Hochschulen - geführt. Auch da liegt
noch einiges im Argen.
Es ist bei aller Würdigung der Verdienste des Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverbandes um bessere
Studienbedingungen für die Sportler dringend geboten,
vieles zu verbessern. Dabei unterscheide ich mich in der
Wahrnehmung durchaus von meinen Kollegen Gienger
und Parr. So rosig, wie die beiden die ausgehandelten
Bedingungen des adh dargestellt haben, sehe ich das
nicht. Ich werde später ein Beispiel geben.
Ich denke, dass die Papiere, die unterschrieben werden,
von den handelnden Akteuren auch mit Leben erfüllt
werden müssen. Wir müssen uns auch selber hinterfragen
- das gilt für uns alle: Medien, Spitzenverbände, Dachorganisationen und auch die Politik -: Wir alle verlangen
verdammt viel von unseren Sportlerinnen und Sportlern.
Sie sollen sich regelgerecht über ADAMS bei der AntiDoping-Agentur abmelden. Sie sollen Medaillen sammeln, um schon langsam die Zielvereinbarungen für
2012 zu erfüllen.
Wir verlangen viel, aber verschaffen wir den Athletinnen und Athleten auch das nötige Umfeld, um diese
Höchstleistungen erbringen zu können? Ich denke, das ist
nicht unbedingt der Fall. Ich will kein Missverständnis
aufkommen lassen. Es geht nicht darum, ein „Studium
light“ zu ermöglichen und den berühmten roten Teppich
auszurollen.
({2})
Es geht nur um bessere Rahmenbedingungen - nicht
mehr und nicht weniger.
({3})
Jetzt nenne ich ein Beispiel dafür, Herr Gienger, wie
groß die Defizite sind. Eine Athletin - immerhin WM-Teilnehmerin im Jahr 2007 - wollte Humanmedizin studieren
und hat sich für Köln beworben, weil ihr Lebens- und Trainingsmittelpunkt in Leverkusen lag. Sie ist nach Münster
geschickt worden. Trotz vielfältiger Bemühungen des
Verbandes, des Olympiastützpunktes und des Ministeriums
war es nicht möglich, dieser jungen Athletin zu ermöglichen, den Studienort zu wechseln. Sie ist zwei Jahre lang
140 Kilometer von Leverkusen nach Münster und zurück gependelt. So wunderbar läuft das alles also nicht.
({4})
Ich zitiere jetzt aus der Antwort, die ich von den Bundesländern bekommen habe. Ich hatte dem Vorsitzenden
der Sportministerkonferenz das Problem geschildert. Er
hat mir im Jahr 2008 - das ist also noch relativ aktuell zu diesem Fall Folgendes geschrieben:
In dem geschilderten konkreten Einzelfall handelt
es sich wahrscheinlich um einen Athleten, der unter
leistungssportlichen Gesichtspunkten den falschen
Studienort gewählt hat. Entweder wurde er diesbezüglich falsch beraten oder hat die Konsequenzen
des leistungssportlichen Trainings im Zusammenhang mit dem Studium falsch eingeschätzt.
Was ist das für ein Signal an einen jungen Menschen,
der alles richtig gemacht hat? Ich glaube, dann dürfen
wir uns nicht wundern, wenn sich Athleten mit Anfang
20 an einem Scheideweg sehen und sich im Zweifel für
den Beruf und gegen den Sport entscheiden. Doch eines
ist klar - das haben auch meine beiden Vorredner festgestellt -: Der Sport und auch unsere Gesellschaft, denke
ich, können sich diesen Aderlass nicht leisten.
Deshalb müssen wir in unserem Land zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens und Klima pro sauberen
Spitzensport kommen.
({5})
Das gilt im Übrigen nicht nur für die Universitäten. Es
muss Ausbildungs- und Arbeitsplätze geben, die den Bedürfnissen von Spitzensportlern entgegenkommen. Das
heißt, wir müssen ihnen die Ausbildung erleichtern und
den Einstieg in den Beruf ermöglichen. Das muss die
Devise sein.
Für eine erfolgreiche duale Karriere müssen Politik,
Hochschulen und Unternehmen die passenden Rahmenbedingungen entwickeln. Wir müssen uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen, und zwar ziemlich schnell.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Kunert,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Koalition will die Situation der studierenden
Spitzensportlerinnen und Spitzensportler verbessern.
Der umfassende Trainings- und Wettkampfbetrieb soll
mit einem erfolgreichen Studium unter einen Hut gebracht werden. Aus sportpolitischer Sicht ist das völlig
in Ordnung. Aber Ihr Antrag taugt nicht dazu, dieses
Problem zu lösen. Es wird nur an den Symptomen herumgedoktert. Die wirklichen Ursachen werden ausgeblendet.
Fakten zur Situation an den Hochschulen: Erstens.
Studierende werden mit hochschuleigenen Zugangsbeschränkungen und Studiengebühren konfrontiert. Hochschulen und Universitäten hängen am Tropf des jeweiligen Landes und sind chronisch unterfinanziert. Das führt
dazu, dass immer weniger Studierende ihr Studium beenden bzw. es in der Regelzeit abschließen können.
Zweitens. Studieren bedeutet eine enorme Belastung.
Der Prüfungsdruck nimmt zu. Es gibt weniger Wahlbereiche. Wettbewerb und Exzellenzinitiative sind Herausforderungen, denen sich die Hochschulen zu stellen haben.
Drittens. Prekäre Arbeitssituationen im akademischen
Mittelbau und schlechte Betreuungsrelationen sind zur
Normalität geworden. Die Studienreform ging Hand in
Hand mit einem Prozess der Entdemokratisierung an den
Hochschulen.
({0})
Viertens. Frauen stellen zwar 50 Prozent der Studierenden. Aber nur jede siebte oder achte Frau hat die
Möglichkeit, eine Professur zu erhalten. Zudem verschärft sich die soziale Situation der Studierenden, weil
unter anderem das BAföG sein ursprüngliches Ziel verfehlt. Das BAföG deckt nicht den Bedarf und hinkt quasi
der realen Studiumsdauer weit hinterher.
({1})
Heute müssen 60 Prozent der Studierenden nebenbei
jobben. Nur 29 Prozent der Studierenden bekommen
BAföG. Das ist nicht hinnehmbar.
({2})
Diese Bedingungen an den Hochschulen führen dazu,
dass es immer schwieriger ist, ein Studium zu absolvieren. Die Verkürzung und die Konzentration des Studiums bringen Probleme mit sich. Nun soll es für Spitzensportler eine Ausnahme geben.
({3})
Sie übersehen aber, dass nicht nur Spitzensportlerinnen
und Spitzensportler, sondern gleichermaßen auch Studierende mit Kind, Studierende aus einkommensschwachen Familien, Studierende mit Behinderung, ausländische Studierende oder Studierende, die einen
Familienangehörigen pflegen, mit erschwerten Bedingungen in einem Studium zu kämpfen haben. Wir wollen, dass allen Studierenden gute Studienbedingungen
garantiert werden. Sonderkonditionen für Einzelpersonen sind daher wenig hilfreich. Für alle muss der Zugang
gleichermaßen gesichert werden.
({4})
Wir fordern erstens die Verbesserung der sozialen Situation der Studierenden, also ein durchgängiges Studiengebührenverbot und ein umfassendes BAföG,
({5})
ein BAföG als elternunabhängige, repressionsfreie und
soziale Studienförderung.
({6})
Die Linke wird demnächst einen Antrag einbringen, der
darauf abzielt, die Studienzugangsvoraussetzungen zu
verbessern.
Wir fordern zweitens: Studium darf keine Fortsetzung
von Schule sein. Es muss also weniger verschulte Studienordnungen geben. Studierende brauchen mehr Freiräume, geringere Präsenzzeiten und den Ausbau der
Möglichkeit eines Teilzeitstudiums. Das trifft für Sportlerinnen und Sportler in gleichem Maße zu, Herr
Gienger. Es geht generell darum, die Bedingungen zu
verbessern.
({7})
Es geht nicht um ein Studium light, sondern um ein Studium à la carte.
({8})
Um dies umsetzen zu können, müssen wir über die
Zuständigkeiten der Hochschulen reden. Es reicht nicht
aus, bereits gefasste Beschlüsse von Kultusministeroder Sportministerkonferenzen aufzufrischen. Appelle
haben sich bisher immer als wirkungslos erwiesen. Was
hat sich durch den Beschluss der Kultusministerkonferenz zum Schulsport verbessert? Nichts!
({9})
In diesem Punkt liegen die Zuständigkeiten bei den Ländern.
Ein Problemfeld ist die Sportförderung des Bundes.
Das Thema Hochschulsport nimmt nur wenige Zeilen in
der Berichterstattung der Bundesregierung ein. Die Vereinbarkeit sportlicher und beruflicher Karriere muss
mehr Raum einnehmen, im Sinne von Bestandsaufnahme und Ableiten konkreter Maßnahmen. Es fehlt zudem ein Sportförderungsgesetz des Bundes, welches ein
Konzept beinhalten muss, das Sportlerinnen und Sportlern die Vereinbarkeit von Sport, Berufsausbildung, Studium und Beruf tatsächlich ermöglicht. Sportlerinnen
und Sportler müssen finanziell unabhängig sein. Sie
müssen eine berufliche Perspektive haben. Hier ist die
Gesellschaft gefordert.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Hochschulsport ist lange
Zeit nicht ins Blickfeld der Sportpolitik und auch nicht
in das der Bundespolitik geraten. Das müssen wir heute
mit dieser Debatte und mit diesem Antrag nüchtern feststellen. Ich sage das jetzt nicht mit Häme nach dem
Motto „Die Große Koalition kriegt nichts hin“,
({0})
sondern ich habe einen Blick in den Sportbericht der
Bundesregierung geworfen. In diesem Sportbericht findet sich in unserer Zeit - man schämt sich fast dafür nicht einmal eine halbe Seite zum Thema Hochschulsport. Damit bestätigt sich, dass wir dieses Themenfeld
nicht in den Blick genommen haben. Ich glaube, das war
ein Fehler.
({1})
Insofern begrüße ich den Antrag der Großen Koalition, darüber nachzudenken, wie wir die Bedingungen
für Sportler an der Hochschule verbessern können.
({2})
Deswegen unterstützen wir auch die Debatte darüber.
Natürlich haben Sie mit Ihrem Antrag nicht alle Probleme der Hochschulen und auch nicht alle sozialen Fragen angesprochen, Kollegin Kunert.
({3})
Ich glaube auch, die Hochschulpolitik wäre überfordert,
wenn sie in dieser Debatte gleich noch alle sozialen Probleme und sozialen Fragen der Hochschule auf einmal
lösen sollte. Nein, das ist es nicht. Wichtig ist allerdings,
dass aufgrund der zunehmenden Wichtigkeit der Qualifikation und Hochschulausbildung junger Menschen natürlich auch die Hochschule als Ort der dualen Karriere
an Bedeutung gewinnt. Diesbezüglich sind die Bedingungen für Spitzensportler, die gleichzeitig studieren,
sehr viel ungünstiger als die, die die Bundeswehr bietet,
wobei die Bundeswehr nur wenige Berufsfelder anbietet.
Wir halten es deswegen durchaus für sinnvoll, dass Spitzensportler an Universitäten bessere Bedingungen vorfinden.
({4})
Sie haben selbst darauf hingewiesen, dass es einige
Probleme gibt. Wir können als Bund nur begrenzt auf die
Länder Einfluss nehmen. Wenn die Länder allerdings einen KMK-Beschluss fassen und eine Profilquote für
Spitzensportler fordern, dann müssen sie auch die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen, damit das möglich
ist.
({5})
Bisher ist dies nur in NRW möglich, sonst nirgends. Das
ist zwingend; das müsste geschehen.
Die Hochschulen müssen selber aktiv werden. Hier
gebe ich allerdings Frau Kunert recht: Die Hochschulen
waren in den letzten Jahren mit so vielen anderen Problemen befasst - mit Finanzierungsfragen und sozialen
Fragen -, dass der Spitzensport sozusagen an den Rand
gedrängt wurde. Deswegen ist es auch unsere Aufgabe,
den Hochschulen zu helfen, bestimmte Aufgaben im Bereich des Sports und der Sportorganisation anzugehen.
Manche Hochschullehrer haben nämlich überhaupt
keine Ahnung vom Sport; sie wissen nicht, unter welchen Bedingungen heutzutage Spitzensport betrieben
wird.
Es wäre auch gut, wenn wir als Bund vorangingen
und die Bundeswehrhochschulen zu Beispielen eines
modellhaften Zusammenwirkens zwischen der Ausbildung an der Hochschule auf der einen Seite und dem
Spitzensport auf der anderen Seite machen würden. Hier
gibt es noch viel zu tun. Das könnte der Bund machen.
Das kann die Bundeswehr anstoßen.
Wir können auch den adh stärker in die Pflicht nehmen und ihn bitten, Koordinationsaufgaben dort zu übernehmen, wo es beispielsweise Reibungspunkte zwischen
Olympia-Stützpunkten, Universitäten, Studienabläufen
usw. gibt. Da könnte man etwas tun. Da könnten wir den
Sport unterstützen. Wir brauchen allerdings auch den
Sport, damit er die Universitäten unterstützt, die das
nicht als ihre eigene Aufgabe ansehen.
({6})
Wir sollten jedoch nicht nur über Spitzensport an
Hochschulen sprechen. Der allgemeine Hochschulsport
spielt seit den früheren Jahren bis zum heutigen Tage
eine große Rolle, was die Identität mit der Hochschule
anbelangt, was übrigens auch die Gesundheits- und Präventionsarbeit für die vielen Studierenden anbelangt.
Des Weiteren sind im Hochschulsport über viele Jahre
innovative Konzepte in der Methodik entwickelt worden. Neue Sportarten sind über den Hochschulsport
überhaupt erst in die Gesellschaft gelangt. Volleyball
und Basketball sind Sportarten, die in den 70er-Jahren
über den Hochschulsport zum Breitensport entwickelt
worden sind. Auch in diesem Bereich ist der Hochschulsport förderungswürdig, und auch hier sollten wir ihn
unterstützen.
Dieser Antrag ist eine Vorlage für eine Debatte im
Ausschuss. Eine Reihe von Problemen ist angesprochen
worden. Wir haben in vielen Punkten noch keine wirklich überzeugenden Antworten. Im Ausschuss sind wir
jedoch in der Pflicht, darüber differenziert nachzudenken.
Vielen Dank.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Swen
Schulz, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Athletinnen und Athleten Spitzenleistungen erbringen, Titel
und Medaillen gewinnen, dann jubeln wir mit ihnen.
Doch wer macht sich Gedanken darüber, wie es mit ihnen beruflich steht,
({0})
wie sie ausgebildet sind, was nach der Sportkarriere geschieht? Ich meine nicht die Schumachers, Ballacks oder
Beckers dieser Welt. Die haben mit dem Sport Geld gemacht, und zwar nicht zu knapp. Nein, es geht hier um
die vielen Athletinnen und Athleten, die in Sportarten
aktiv sind, in denen eben keine Reichtümer zu gewinnen
sind. Diese Leute müssen für den Sport einen ungeheuer
hohen Zeitaufwand betreiben, und viele können Ausbildung und Sport nicht miteinander vereinbaren, weil die
Ausbildung zu unflexibel ist.
Jetzt mag man vielleicht einwenden: Na und? Das ist
doch deren Privatvergnügen. - Wir sagen: Nein. Es ist
eben nicht ausschließlich deren Privatvergnügen. Wir
glauben, dass wir gut beraten sind, Sportlerinnen und
Sportler auf dem Weg in die Spitze zu unterstützen; denn
wir wissen um die Bedeutung des Sports, und wir wissen
auch, dass die Menschen, insbesondere die Kinder und
Jugendlichen, Vorbilder, Leitfiguren benötigen, die sie
zum Sporttreiben anregen. Wir wollen also duale Karrieren fördern, sprich: die Karriere im Sport unterstützen
und gleichzeitig eine solide berufliche Ausbildung ermöglichen. Die Athletinnen und Athleten sollen sich
nicht entweder für den Beruf oder für den Sport entscheiden müssen. Wir wollen nicht etwa eine Bevorzugung von Sportlerinnen und Sportlern, aber sie sollen
auch nicht unzumutbare Nachteile hinnehmen müssen.
Es geht etwa um die Möglichkeiten, zu anderen Zeiten
oder an anderen Orten lernen zu dürfen und Prüfungen
abzulegen.
Nun ist das Thema nicht neu. Es ist diverse Male in
der Debatte angesprochen worden. Wir sprechen in unserem Antrag von verschiedenen Aktivitäten der Sportministerkonferenz, der Kultusministerkonferenz, der
Hochschulrektorenkonferenz, des Deutschen Olympischen Sportbunds und des Bundesministeriums des Innern. Es gibt Vereinbarungen, Beschlüsse, Ergebnisse
von Workshops usw. usf. Doch all diese Aktivitäten und
all diese Beratungen scheinen in der Praxis nicht wirklich einen durchschlagenden Erfolg gehabt zu haben;
({1})
sonst müssten wir uns nicht in unserem Antrag damit
auseinandersetzen und daran erinnern, dass sie in die Puschen kommen sollen. Es ist gut, dass wir diesen Antrag
beschließen und darauf hinweisen, dass etwas getan werden muss. Wir sollten aber nicht nur auf die anderen
schauen, sondern uns überlegen, was wir konkret tun
können.
Mir fällt als Erstes das Thema Hochschulzulassung
ein. Da herrscht nämlich heilloses Chaos. Das real existierende Länderkuddelmuddel bei der Studienplatzvergabe führt jedes Semester dazu, dass Tausende von Studienplätzen frei bleiben, während Tausende von
Studierwilligen keinen Studienplatz erhalten.
({2})
Gleichzeitig stecken wir Millionen in den Ausbau der
Studienplatzkapazitäten. Das ist doch purer Irrsinn.
({3})
Aber Bundesbildungsministerin Schavan weigert sich,
schlichtweg auch nur einen Gedanken darauf zu verwenden, dass wir in Deutschland eine bundesgesetzliche Regelung benötigen,
({4})
damit die Studieninteressierten in einem vernünftigen
Verfahren schnell an einen Studienplatz kommen.
Swen Schulz ({5})
Die SPD will ein Bundesgesetz zur Hochschulzulassung. Damit könnten wir dann auch Regelungen im Interesse von Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern treffen, etwa was die Auswahl des Studienortes anbetrifft,
um Studium und Sport besser zu vereinbaren.
({6})
Das wäre nicht etwa nur eine nette Bitte an andere, dass
sie etwas Sinnvolles tun mögen, sondern ein eigener,
selbstständiger, kraftvoller Beitrag aus eigenem Recht.
Deshalb meine Aufforderung an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion: Machen Sie nicht nur bei diesem Antrag mit, sondern gehen
Sie zu Ihren Parteifreunden im Ausschuss für Bildung
und Forschung!
({7})
Gehen Sie zu Ihrer Parteifreundin Ministerin Schavan,
und setzen Sie sich bei ihr konkret für den Sport ein!
Dann kriegen wir auch wirklich etwas hin.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10882 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Den Prozess von Annapolis durch eigenständige Initiativen unterstützen
- Drucksachen 16/9483, 16/10391 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Kerstin Müller ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Konfliktherde im Nahen Osten haben sich ineinander verkeilt. Es sind drei ganz zentrale Konflikte, deren
innewohnende Dynamik die Gefahrenmomente wechselseitig vorantreibt. Der erste Konflikt ist die atomare Bedrohung, die vom Iran ausgeht, der zweite sind die Spannungen zwischen Israel und Syrien, und der dritte ist die
Wunde, die zwischen Israel und Palästina immer wieder
neu aufbricht.
Vielleicht liegt der Schlüssel, mit dessen Hilfe der Zugang zu allen drei Gefahrenmomenten geöffnet werden
kann, in Damaskus. Bundesaußenminister Frank-Walter
Steinmeier hat klar genug erkannt, dass in dieser Vermutung eine Chance liegt, und hat das Eis gebrochen. Es ist
noch gar nicht lange her, dass er für seinen Mut, nach
Damaskus zu reisen, kritisiert wurde.
({0})
- Nein, aber von anderen. - Heute ist wahrscheinlich
vieles möglich, was früher undenkbar schien. Dies liegt
unter anderem daran, dass das Eis gegenüber Damaskus
zumindest ein Stück weit gebrochen ist. Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle auch die Wahl von Barack
Obama. Es handelt sich um einen Wandel, der neue
Chancen eröffnet. Es kommt jetzt darauf an, diese Chancen wirklich zu nutzen.
({1})
Man kann erkennen, dass der Nahe Osten in Bewegung geraten ist. So paradox es klingen mag - wir haben
am Wahlergebnis in Israel keine besonders große Freude
gehabt -: Vielleicht liegt in diesem israelischen Wahlergebnis eine neue Chance. Erinnern wir uns daran: Der
Oslo-Friedensprozess wurde eher von den Konservativen Israels in Gang gesetzt, alle anderen Verständigungsversuche ebenso. Warum soll diese Chance - falls
Netanjahu Ministerpräsident wird - nicht genutzt werden?
Außerdem hat Netanjahu es - wie nie zuvor - mit einem anderen amerikanischen Verbündeten zu tun. Auch
in diesem Punkt hat es einen Wandel gegeben. Barack
Obama hat seine Präsidentschaft damit begonnen, dieses
schwierige Thema in den Mittelpunkt seiner Bemühungen zu stellen. Anders war es bei Bill Clinton, anders
war es bei George W. Bush. Die beiden haben erst am
Ende ihrer Präsidentschaft versucht, das Eis zu brechen
und einen neuen Prozess in Gang zu setzen. Barack
Obama sagt: Ich will das zu Beginn meiner Präsidentschaft in die Hand nehmen. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen, darin steckt ein großes Risiko. Daran erkennt
man auch den Mut von Barack Obama und seiner Administration. Sie gehen dieses schwierige Problem jetzt, zu
Beginn der neuen Administration, an.
Das ist auch eine Chance für uns; denn wir, die Europäische Union, sind ein Teil des Quartetts. Die Europäische Union hat die Roadmap - ich erinnere mich;
Joschka Fischer war Außenminister - hier in Berlin erfunden. Sie hat dafür gesorgt, dass zumindest der Versuch gemacht werden konnte, die Roadmap zu entwickeln, an deren Ende - das wissen wir alle - die ZweiStaaten-Lösung stehen muss. Das ist der entscheidende
Punkt. Der Impuls beginnt jetzt, mit einer neuen Admi22524
Gert Weisskirchen ({2})
nistration. Wir, die Europäische Union, insbesondere wir
Deutschen, sollten alles daransetzen, dass diese Chance
diesmal wirklich genutzt wird.
({3})
Die ersten Entscheidungen Barack Obamas können
wir nur begrüßen. Mitchell, der Sondergesandte für den
Nahen Osten, hatte schon vor längerer Zeit einen Plan
vorgeschlagen, der genau diesen Aspekt berücksichtigt
und den er vorantreiben will. Das gilt auch für die Besuche von John Kerry und Hillary Clinton. Beide waren
vor kurzem in Israel, in der Region; John Kerry war
übrigens auch im Gazastreifen. Das war seit 2000 der
erste Besuch eines hochrangigen amerikanischen Vertreters im Gazastreifen. Ich finde, das ist ebenfalls ein deutliches Zeichen dafür, dass sich die Dinge weiterentwickeln.
Natürlich kann man den Prozess von Annapolis kritisch bewerten. Wenn wir uns aber anschauen, was vor
wenigen Tagen, am 2. März, in Scharm al-Scheich geschehen ist, dann müssen wir sagen: Scharm al-Scheich
war ein großer Erfolg, insbesondere für den ägyptischen
Präsidenten, für Mubarak; denn er hat etwas in die Wege
geleitet und verstärkt, worauf es jetzt ankommt, nämlich
nach den fürchterlichen, blutigen Ereignissen im Gazastreifen dafür zu sorgen, dass Finanzmittel in die Hand genommen werden, um dafür zu sorgen, dass das, was im
Gazastreifen kaputtgemacht worden ist, repariert, also neu
aufgebaut werden kann. Immerhin 4,48 Milliarden Dollar wurden von der internationalen Staatengemeinschaft
versprochen. Das ist ein gewaltiges Zeichen. Viel Geld
wird in die Hand genommen; allein von den USA
900 Millionen Dollar, von der Europäischen Union
440 Millionen Euro. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind der größte Finanzgeber mit immerhin
150 Millionen Euro. Das ist das, was allein bilateral aufgebracht wird. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen.
Jetzt kommt es darauf an, dass die beteiligten Partner
in der Region daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Israel muss nun zeigen, dass dem, was in Scharm alScheich debattiert worden ist, ganz konkrete Schritte folgen. Beispielsweise müssen die Übergänge zum Gazastreifen geöffnet werden; das ist ganz wesentlich. Ich
verweise auf die 500 zur Verfügung stehenden Lastwagen. Sie werden von der UNO, insbesondere von der
UNWRA - einer für diese Region zuständigen Agentur -,
bereitgestellt, um Lebensmittel in den Gazastreifen zu
bringen. Ich wiederhole: Diese Übergänge müssen gesichert geöffnet sein.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache mir
in diesem Punkt keine Illusionen - das muss man deutlich sagen -: Die Hamas und all diejenigen, die an militärischen Auseinandersetzungen - leider - ein Interesse
haben, müssen davon Abstand nehmen. Sie müssen jetzt
lernen: Mit Barack Obama besteht eine neue Chance.
Meiner Meinung nach muss sich die Hamas darüber klar
werden, ob sie ein verlässlicher Partner in der internationalen Staatengemeinschaft werden will, ob sie Verantwortung übernehmen will, ob Palästina am Ende ein
echter Staat mit staatlichen Funktionen werden soll oder
ob der Gazastreifen das bleiben soll, was er bisher ist,
quasi ein Failing State, bevor überhaupt ein Staat entstanden ist. Die staatlichen Funktionen, die im Blickfeld
der palästinensischen Autorität sind, müssen also im
Vorfeld auf der Verlässlichkeit der handelnden Akteure
aufgebaut werden. Wenn das nicht gelingt, dann, fürchte
ich, werden wir erneut Geld - 4,48 Milliarden Dollar in ein Fass ohne Boden werfen. Das kann doch nicht das
Ergebnis dieser intensiven Bemühungen sein, die wir,
die internationale Staatengemeinschaft, jetzt gemeinsam
unternehmen. Bitte, lassen Sie uns allen Partnern in der
gesamten Region deutlich machen: Jetzt kommt es darauf an, Verantwortung zu übernehmen.
Ich komme zum Schluss. Vor wenigen Tagen hat
Chamenei in Teheran zu einem Extremistentreffen eingeladen. Der stellvertretende Vorsitzende des Politbüros
der Hamas hat dort nichts anderes gemacht, als den kriegerischen Kurs fortzuführen, also dafür einzutreten, militärisch zu operieren und den Freiheitskampf von Palästina militärisch zu definieren. Das darf nicht das letzte
Wort sein. Die Chance ist gegeben. Jetzt lasst uns alle
gemeinsam die Chance nutzen!
({4})
Die beiden Kollegen Dr. Werner Hoyer, FDP, und
Ruprecht Polenz, CDU/CSU, haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.1)
({0})
Ich rufe deshalb jetzt den Kollegen Wolfgang
Gehrcke, Fraktion Die Linke, auf.
({1})
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin; herzlichen Dank
auch, liebe Kolleginnen und Kollegen. - Das ist die erste
Debatte, die wir nach dem Gaza-Krieg im Plenum des
Bundestages über dieses Thema führen. Es ist mir sehr
wichtig, dass wir darüber reden. Noch wichtiger ist, dass
wir darüber nachdenken.
Lieber Kollege Weisskirchen, ich hatte streckenweise
den Eindruck, dass Sie eine Für-Rede zu unserem An-
trag gehalten haben. Ich will mich gar nicht dagegen ver-
wahren. Ich würde mich freuen, wenn das der Fall wäre.
Das spräche dafür, dass Nachdenken über eine missliche
Situation, über Schwierigkeiten zu neuen Erkenntnissen
führt.
Sie haben über die Chancen gesprochen. Das sehe ich
ähnlich; da haben wir gar nicht viele Differenzen. Ich
will über meine Furcht reden; das Thema haben Sie
ebenfalls angesprochen. Meine Furcht ist: Wenn es nicht
zu einer politischen Wende kommt, wenn es nicht zu
Vernunft und Einsicht kommt, dann trägt dieser Krieg in
Gaza bereits den Keim neuer Kriege in sich.
1) Anlage 5
({0})
Dem muss man begegnen. Man muss versuchen, eine
andere politische Richtung durchzusetzen. Im Moment
muss man sehr viel Kraft darauf konzentrieren, denke
ich, dass aus der Waffenruhe ein Waffenstillstand wird.
Der Krieg in Gaza war inhuman und völkerrechtswidrig; darüber kann es keine Differenzen geben. Mich stößt
das öffentliche Getöse von allen Seiten darüber, wer den
Krieg gewonnen hat, nur ab. Dieser Krieg hat keine Gewinner; dieser Krieg hat nur Verlierer.
({1})
Über tausend Menschen haben ihr Leben verloren, Tausende ihre Gesundheit. Die Infrastruktur ist zerstört. Es
mangelt an allem. Verloren hat das politische und moralische Ansehen Israels. Verloren hat das Ansehen des
Palästinenserpräsidenten Abbas. Verloren hat das Ansehen der UNO. Die Missachtung der Appelle des Generalsekretärs ebenso wie der Resolution 1860 des Weltsicherheitsrats hat der Welt erneut die Hilflosigkeit der
UNO vor Augen geführt. Wir brauchen aber keine hilflose UNO, sondern wir brauchen eine UNO, die wirklich
stark agieren und solche Konflikte zu Ende bringen
kann; das ist mir sehr wichtig.
({2})
Vordringlich ist aus meiner Sicht jetzt, dass Israel die
Zugänge zum Gazastreifen öffnet; sonst bleiben die Ergebnisse der Geberkonferenz wirkungslos. Vordringlich
ist, dass es zu einer palästinensischen Einheitsregierung
kommt, die handlungsfähig ist. Aus meiner Sicht ist weiter vordringlich, ernsthaft über einen Gefangenenaustausch zu reden. Man muss begreifen, wie bedeutsam die
Freilassung des israelischen Soldaten Schalit für Israel
ist. Das muss man einfach emotional verstehen. Man
muss auch verstehen, wie wichtig es wäre, dass solche
Palästinenser wie Marwan Barghuthi endlich das Gefängnis verlassen könnten. Vordringlich ist - ich bitte
den Bundestag hier um ein klares Signal -: Der israelische Siedlungsbau in den besetzten Gebieten muss sofort
gestoppt werden.
({3})
Wenn das nicht passiert, werden die Türen nicht aufgemacht.
Ich denke, dass die Hamas in den Friedensprozess
einbezogen werden sollte. Darüber gibt es hier im Hause
- bis auf die CDU/CSU - eigentlich keine Meinungsverschiedenheiten mehr. Das heißt aber auch: Man muss der
Hamas klar und deutlich sagen: Mit Gewalt wird ein eigenständiger palästinensischer Staat nicht zu erreichen
sein. Wir müssen - das ist die Politik der Linken - kategorisch auf Gewaltverzicht setzen.
({4})
Der Krieg in Gaza hat innenpolitische Fronten aufgerissen. Ich will zu drei Dingen ganz kurz etwas sagen.
Ich bitte meine Freunde in der Linken, zu verstehen, dass
angesichts der deutschen Geschichte Aufforderungen
zum Boykott israelischer Waren sich verbieten, auch als
Reaktion auf das Vorgehen der israelischen Politik; das
muss man einfach begreifen.
({5})
Ich bitte aber auch, zu begreifen, dass wir nicht akzeptieren können, dass jede Kritik an der Politik Israels in die
Schublade „Antisemitismus“ gepackt wird. Auch was
ich persönlich mir dazu habe anhören müssen, erreicht
eine Grenze. Ich sage ferner, dass die einseitige Positionierung der Bundesregierung, namentlich der Bundeskanzlerin, nicht hilfreich war.
({6})
Notwendig ist jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen,
massiv auf die Zwei-Staaten-Lösung zu setzen und massiv Druck zu entwickeln.
Wir haben eine rechte Regierung in Israel. Ich persönlich baue nicht auf diese Regierung. Mein Appell geht an
das israelische Friedenslager, wieder zu sich zu finden
und in Israel so viel Einfluss auszuüben, dass auch das
Verhältnis zur arabischen Bevölkerung in Israel ein besseres wird.
Wir brauchen eine politische Kurswende. Daran muss
Deutschland aktiv mitwirken. Das heißt auch, dass man
Freunden klar sagt, was geht und was nicht geht. Der
Deutsche Bundestag muss den israelischen Freunden
klipp und klar sagen, dass keine weiteren Siedlungen illegal im Westjordanland gebaut werden dürfen.
Herzlichen Dank.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
gerade nachgeschaut: Herr Hartenbach, Sie haben heute
Geburtstag. Glückwunsch!
({0})
Ich will an dieser Stelle folgende Bemerkung machen:
Der Annapolis-Prozess - das hat mich bei Ihrem Antrag
ein bisschen gewundert, obwohl Sie viel Richtiges gesagt haben, Herr Kollege Gehrcke - beruhte auf der
Überlegung, dass man vermittelt, damit sich Israelis und
Palästinenser zusammensetzen und dann eine Lösung
finden werden. Ich glaube, dass diese Verfahrensweise
am Ende darauf hinausläuft: Wir warten auf Godot. Deswegen glaube ich, dass wir einen neuen Anfang für eine
Strategie brauchen. Dieser neue Anfang muss natürlich
an den Erfahrungen anknüpfen, man kann aber auch sagen: an den Fehlern, die beim Annapolis-Prozess gemacht worden sind.
Ich will nicht alles Richtige wiederholen, was hier gesagt und zu Protokoll gegeben worden ist, was die Notwendigkeit des Gewaltverzichts, des Austauschs von
Gefangenen, der Beendigung des Schmuggels und ähnlicher Dinge angeht.
Ich glaube, der Annapolis-Prozess hat an zwei Dingen
gekrankt. Das eine war die Überlegung einer Strategie
„Westbank first“: Wir reden nur mit der einen Seite der
Palästinenser und überlassen Gaza ein Stück sich selbst.
Das hat mit zu der Eskalation beigetragen. Das Ergebnis
ist aber auch in anderer Hinsicht nicht befriedigend: Derjenige, den wir immer für unseren Ansprechpartner gehalten haben und nach wie vor halten, nämlich Mahmud
Abbas, ist infolge dieses Prozesses nicht stärker, sondern
schwächer geworden.
Das andere wird anhand der Geberkonferenz in
Scharm al-Scheich sehr schön deutlich. Wir geben jetzt
Zusagen für fast 5 Milliarden US-Dollar. Wir haben aber
bis heute keinen vernünftigen Weg gefunden, wie man
dieses Geld implementiert. Die Art und Weise, wie das
Ganze bisher über einen improvisorischen Finanzierungsmechanismus gelaufen ist, hat eigentlich eher dazu
geführt, dass die palästinensische Seite in die Abhängigkeit einer Hilfsökonomie geraten ist; der eigentliche Geber ist dann eben UNRA. Das hat natürlich den Schmuggel und die Schattenwirtschaft befördert. Das wiederum
hat erneut nicht die Fatah, sondern die Hamas gestärkt.
Wenn man über die Frage spricht, wie man mit dieser
Situation umgeht, dann müssen bestimmte Voraussetzungen beachtet werden. Will man den Schmuggel beenden,
muss man - natürlich unter der Bedingung des Gewaltverzichts - die Grenzen öffnen; denn sonst kann man die
Tunnel nicht „austrocknen“.
Wenn man beim Wiederaufbau helfen will, dann bedarf es einer handlungsfähigen palästinensischen Regierung. Diese gibt es zurzeit aber nicht. Es gibt ein Putschregime in Gaza und ein wenig demokratisch legitimiertes
in der Westbank. Also muss sich Europa dafür einsetzen,
dass es zu einer Einheitsregierung kommt. Wenn man
eine Friedenslösung haben will, dann muss man eine Regierung haben, die legitimiert ist und die ihrer eigenen
Bevölkerung die aus ihrer Sicht bitteren, aber notwendigen Kompromisse erklärt.
Das heißt, es muss Neuwahlen in Palästina geben. Die
Ergebnisse dieser Neuwahlen müssen dann auch anerkannt werden. Wir müssen wieder dahin zurückkehren,
was wir auch sonst machen. Wenn wir mit Staaten reden,
gibt es die eine oder andere Regierung, die uns nicht
passt. Trotzdem behandeln wir diese Staaten als Staaten
und gehen nicht nach der Kolorierung der jeweiligen Minister.
Schließlich: Wenn man eine Zweistaatenlösung will,
dann bedarf es des Drückens, des Schiebens, des Überzeugens aller Seiten, damit sie die genannten Kompromisse eingehen, sei es im Bereich Siedlungsbau, sei es
aber auch in der Frage der Ausübung von Stellvertretergewalt bei Fraktionskämpfen. Nichts anderes sind ja
diese Raketenangriffe auf Israel aus Palästina heraus, die
unbedingt unterbunden werden müssen. Dafür müssen
sich, wie ich finde, die Europäer jetzt einsetzen. Sie
müssen diese Politik „Warten auf Godot“ beenden und
selber aktiv werden.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Den Prozess von Annapolis durch eigenständige Initiativen unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10391,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/9483 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich
der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren ({0})
- Drucksache 16/12098 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese
Aussprache 30 Minuten dauern. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das
Wort, verbunden mit herzlichen Glückwünschen zu seinem Geburtstag.
({2})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in der Tat schlechtere Orte, wo man seinen
Geburtstag begehen kann, als dieses Hohe Haus hier, in
dem zu sprechen ich nun die Ehre habe. Deswegen bedanke ich mich sehr herzlich für die Glückwünsche und
bemühe mich, in der Zeit zu bleiben.
Die Koalitionsfraktionen haben heute parallel zum
Entwurf der Regierung den Entwurf eines 2. Opferrechtsreformgesetzes vorgelegt. Damit helfen wir Opfern und Zeugen von Straftaten, die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen besser zu bewältigen.
Ich denke, dieses Gesetz macht deutlich, dass uns allen,
der Regierung wie den Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, der Opferschutz ein wichtiges Anliegen
ist. Unser Rechtsstaat ist verpflichtet, den Opfern von
Straftaten auch während des Strafverfahrens wirksam zu
helfen.
Das Gesetz baut auf den Verbesserungen des Opferrechtsreformgesetzes von 2004 auf. Mit diesem 2. Opferrechtsreformgesetz bündeln wir verschiedene Initiativen
zur Verbesserung des Opferschutzes im Strafverfahren in
einem in sich stimmigen Gesamtkonzept: Wir haben die
Praxis befragt, zahlreiche Vorschläge von Opferschutzverbänden ausgewertet und auch zwei Bundesratsinitiativen zur Stärkung des Opferschutzes im Strafverfahren
aufgegriffen, die schon in erster Lesung im Bundestag
beraten wurden. Diese Bundesratsinitiativen zielen zwar
bereits in die richtige Richtung, aber sie reichen für sich
genommen für einen wirksamen Opferschutz nicht aus,
da sie nur sehr punktuell auf ganz spezifische Fälle Bezug nehmen. Ich denke, es ist gut, dass wir das alles nun
zusammenfassen.
Der heute eingebrachte Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, der mit dem der Bundesregierung identisch
ist, verfolgt einen weit umfassenderen Ansatz: Wir nehmen neben den Opfern von Straftaten auch die Zeugen in
den Blick und richten unser Augenmerk besonders auch
auf die jugendlichen Opfer und Zeugen. Unser Entwurf
verbessert das Strafverfahren insbesondere in folgenden
Punkten:
Zum Schutz der Verletzten regeln wir die Vorschriften
zur Nebenklagebefugnis und zur Beiordnung eines Opferanwalts insgesamt neu und richten beide konsequenter als bisher am Schutzbedürfnis der Opfer von Straftaten aus. Wir wollen erreichen, dass hauptsächlich Opfer,
die schwer unter den Folgen der Tat zu leiden haben,
diese Möglichkeiten in Anspruch nehmen können. Die
erwähnten Initiativen des Bundesrates haben wir dabei
in unser Gesamtkonzept integriert. Daneben haben wir
zahlreiche Verfahrensvorschriften überarbeitet, damit
Verletzte ihre Rechte in der Praxis zukünftig einfacher
und effizienter wahrnehmen können.
Im Bereich des Zeugenschutzes regeln wir erstmalig
im Gesetz die Möglichkeit, einen Zeugenbeistand in Anspruch zu nehmen. Das ist verfassungsrechtlich schon
lange anerkannt und sollte daher auch endlich auf eine
tragfähige gesetzliche Grundlage gestellt werden. Daneben wollen wir auch die Daten von Zeugen im Strafverfahren besser schützen. Wir wissen, Herr van Essen, was
das manchmal für Probleme gegeben hat. Wir haben deshalb Vorschriften erarbeitet, die sicherstellen, dass die
Wohnanschriften von gefährdeten Zeugen erst gar nicht
in die Akte gelangen und damit auch nicht in die Anklageschrift oder, soweit dies später erforderlich ist, aus
diese Akte wieder entfernt werden können.
Zudem wollen wir einen besseren Schutz für jugendliche Opfer und Zeugen, indem wir die Schutzaltersgrenze in verschiedenen jugendschützenden Normen der
Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes von bisher 16 auf nunmehr 18 Jahre anheben. Es
geht hier etwa um den Ausschluss der Öffentlichkeit, die
Vernehmung des Zeugen oder der Zeugin nur durch den
Vorsitzenden und manches mehr. Wir wollen, dass auch
die 16- und 17-Jährigen diesen Schutz in Anspruch nehmen können; denn ihr Belastungserleben unterscheidet
sich nach Berichten und Erkenntnissen aus der Praxis
wenig von dem der 15-Jährigen.
({0})
Der Deutsche Bundestag zeigt mit diesem Gesetzentwurf, dass den Belangen von Zeugen und Opfern im
Strafverfahren der ihnen gebührende hohe Stellenwert
zuerkannt wird. Dadurch, dass das Gesetz noch in dieser
Legislaturperiode verabschiedet wird, wollen wir dafür
sorgen, dass Opfer und Zeugen baldmöglichst von den
im Gesetzentwurf vorgesehenen Verbesserungen profitieren können.
Ich hoffe auf Ihre Unterstützung und bin mir ziemlich
sicher, dass wir eine nahezu einheitliche Lösung finden
werden. Natürlich weiß ich auch - damit komme ich
zum Schluss -, dass man mehr machen kann. Aber wir
machen das, was durchsetzbar und vernünftig ist.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Hartenbach, wenn das Zeitmanagement
auch in den nächsten zehn Jahren so perfekt funktioniert,
ist das ein starkes Indiz für eine außerordentliche Präsenz.
Nun hat der Kollege van Essen für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch von meiner Seite einen herzlichen Glückwunsch
an den Staatssekretär Hartenbach, der heute Geburtstag
hat und trotz seines Geburtstages ganz selbstverständlich
der Arbeit nachgeht. Wenn man so etwas Erfreuliches
wie den heutigen Gesetzentwurf vorzustellen hat, dann
macht man sich selbst ein Geburtstagsgeschenk. Das ist,
glaube ich, auch der Grund, warum Sie heute als Redner
hier antreten.
Wenn Politik in der Öffentlichkeit dargestellt wird,
dann wird in der Regel über Zwist, Streit und Ähnliches
berichtet. Ich bin ganz außerordentlich dankbar, dass ich
schon seit einiger Zeit beobachten kann, dass wir bei der
Frage der Stärkung von Opferrechten in diesem Hause
eine breite Koalition haben. Dieser Gesetzentwurf ist ein
gutes Beispiel dafür.
({0})
Die Opfer sind immer die Vergessenen. In den Zeitungen wird nur über die Täter berichtet. Auch wir, die wir
- als Richter, als Staatsanwälte wie in meinem Fall, aber
auch als Verteidiger - professionell mit Strafrecht zu tun
haben, sind sehr stark auf den jeweiligen Angeklagten,
also den Täter, fixiert, und das Opfer wird häufig nur als
notwendiger Zeuge wahrgenommen, aber nicht als Opfer
mit eigenen Rechten, wie sie der Zeuge selbstverständlich hat.
Deshalb freue ich mich sehr darüber, dass sich ein
weiterer Fortschritt sowohl bei den Rechten der Zeugen
als auch beim Opferschutz abzeichnet. Das ist eine gute
Botschaft. Heute ist erst die erste Lesung des Gesetzentwurfes. Aber ich habe die Erwartung - ich glaube, dass
das unser aller Erwartung ist -, dass es uns noch vor Abschluss dieser Legislaturperiode gelingen wird, die Novellierung durchzusetzen und die Strafprozessordnung
sowie andere Bestimmungen entsprechend zu ändern.
({1})
Ich bin wie Sie, Herr Staatssekretär, der Auffassung,
dass es gut ist, dass wir den Opferanwalt stärken. Ich bin
wie Sie der Auffassung, dass es gut ist, dass wir die Situation von jugendlichen Opfern stärken. Es macht auch
Sinn, die Nebenklage neu zu justieren. Da gibt es den einen oder anderen Punkt, über den man ergänzend noch
sprechen kann. Ich könnte mir vorstellen, dass wir auch
da zu einer Einigung kommen.
Ganz besonders freut mich, dass wir endlich eine
Rechtsgrundlage für den Zeugenbeistand haben. Denn
man erlebt immer wieder, dass Zeugen von vielen auseinandergenommen werden, was auch naheliegend ist,
weil ein Richter Gewissheit hinsichtlich der Schuld des
Täters erlangen muss und deshalb natürlich beim Zeugen
oder bei der Zeugin kritisch nachfragt. Aber man erlebt,
insbesondere bei Sexualdelikten, dass das kritische
Nachfragen, das Nachhaken dazu führt, dass das Opfer
eines Sexualdelikts noch einmal traumatisiert wird und
das Gefühl hat, wieder Opfer zu sein; denn es kann auch
der Eindruck entstehen, dass man als Opfer nicht ernst
genommen wird. Es ist also gut, dass es zukünftig einen
Beistand gibt. Ich freue mich ganz außerordentlich darüber, dass wir hierfür eine rechtliche Regelung schaffen.
({2})
Wir senden deshalb ein klares Signal der Unterstützung
für den Ansatz des Justizministeriums und der Koalition.
Ich hoffe, dass wir uns schnellstmöglich zusammensetzen
und dass wir, wie gesagt, noch vor Ende der Legislaturperiode zu einer Lösung kommen.
Vielen Dank.
({3})
Siegfried Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine Damen und Herren! Immer dann, wenn wir eine
Verbesserung des Opferschutzes beraten, stehen sie auf
der Matte: die Strafverteidiger. Dies war schon 1986 so,
als das Opferschutzgesetz verabschiedet worden ist. Federführend war damals der Kollege Schünemann, der den
Strafprozess in Gefahr sah. „Störungsevident“ nannte er
die Nebenkläger. Die Stunde der Opfer schlage. So hat
sich dies fortgesetzt, als im Jahre 1998 das Zeugenschutzgesetz einen Opferanwalt auf Staatskosten brachte.
So war es im Jahr 2004, als das Adhäsionsverfahren verbessert wurde. So war es im Jahre 2006, als durch das
2. JuMoG die Nebenklage in das Jugendstrafverfahren
eingeführt wurde.
Beschuldigte haben in den Strafverteidigern eine gute
Lobby. Das muss man respektieren; das ist auch gut so.
Ebenso ist es gut, wenn Opfer von Kriminalstraftaten ihrerseits auch eine gute Lobby haben, wie beispielsweise in
der Opferschutzeinrichtung des Weißen Ringes mit fast
60 000 Mitgliedern.
({0})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir gehen im Opferschutz mit diesem Gesetzentwurf einen weiteren Schritt
voran. Dieses Mal waren die Initiatoren die Länder, die
zugegebenermaßen nur Teilsegmente herausgegriffen
haben, wie beispielsweise die Aufnahme der Zwangsheirat
und des schweren Stalkings in die nebenklagefähigen
Delikte. Das ist insoweit auch eine Einführung des Opferanwaltes auf Staatskosten.
Dieser Gesetzentwurf geht weiter. Er greift berechtigte
Forderungen auf, die die Opferschutzorganisationen seit
vielen Jahren verfolgen, und verbessert den Schutz der
Opfer in Strafverfahren in wesentlichen Punkten. Es war
eine gute Einrichtung, dass man den Opferanwalt auf
Staatskosten eingeführt hat. So wie der Angeklagte einen
Pflichtverteidiger auf Staatskosten bekommt, soll auch
das Opfer vom Staat in seiner Verteidigung gefördert
werden.
Wir waren mit den Opferschutzorganisationen der
Meinung, dass sämtliche Straftaten, die mit Gewalt verbunden sind, in die Nebenklage und in die Regelungen
für den Opferanwalt auf Staatskosten aufgenommen
werden sollen. Dem folgt dieser Gesetzentwurf.
Aber nicht nur dort, wo Gewalt gegen Personen angewendet wird, sind Straftaten für das Opfer einschneidende Erlebnisse. Der Wohnungseinbruch ist nicht nur
ein Einbruch in Räume, die bewohnt werden, sondern er
ist auch ein Einbruch in die Privat- und Intimsphäre desjenigen, der diese Wohnung bewohnt. Der Weiße Ring
hat schon vor vielen Jahren eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die belegt, wie schwer die psychischen
Folgen bei einem Wohnungseinbruch sind. Denn derjenige, der davon betroffen ist, kann und will manchmal in
der eigenen Wohnung nicht mehr leben. Opferschutzorganisationen zahlen in solchen Fällen die Kosten für
den Umzug. Deswegen ist es gut, dass die Vorschrift
auch diese nebenklagefähigen Delikte umfasst. Auch das
ist eine weitere Verbesserung für die Opfer von Straftaten.
Es ist auch gut, dass die Schutzrechte von Jugendlichen
und Heranwachsenden, die als Zeugen vor Gericht stehen müssen, verbessert werden. Das gilt insbesondere
für die Videovernehmung von Opferzeugen.
Aber, meine Damen und Herren, ein Gesetz zu erlassen,
ist die eine Seite, und sicherzustellen, dass diese Vorschriften auch angewendet werden, ist die andere Seite.
Derjenige, der Nebenklagen vertritt, erlebt immer wieder,
dass Opferschutzrechte nicht beachtet werden. Das passiert
deshalb oftmals, weil Verletzungen dieser Rechte nicht
reversibel sind. Sie sind nicht mit einer Rechtsmittelmöglichkeit für das Opfer ausgestattet.
Siegfried Kauder ({1})
Deswegen gehen wir mit diesem Gesetzentwurf den
richtigen Weg. Es geht darum, die Rechte der Opfer zu
verbessern, indem Sollvorschriften in Mussvorschriften
umgewandelt werden: Der Nebenklagevertreter ist von
der Hauptverhandlung zu informieren, und ihm ist die
Anklageschrift zuzustellen. Auf diesem Weg sollten wir
weiter vorangehen. Was die Videovernehmung des Opfers
anbelangt, gibt es noch einiges zu tun; denn das ist eine
reine Sollvorschrift. Man müsste sich Gedanken darüber
machen, ob man die Gerichte nicht mehr zwingen sollte,
Videovernehmungen durchzuführen.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist gut. Es
ist in sich geschlossen und stimmt die Möglichkeiten, einen Opferanwalt auf Staatskosten in Anspruch zu nehmen, sehr genau aufeinander ab. In einigen Bereichen
gibt es hierzu Mussvorschriften und in anderen Bereichen Kannvorschriften. Ein 18-jähriger oder ein unter
18-jähriger Betroffener hat mehr Rechte als ein Erwachsener.
Was den Opferschutz anbelangt, sind wir damit aber
noch lange nicht am Ende. Auch eine Verfahrensvorschrift wird mit diesem Gesetzentwurf verbessert: Wenn
jugendliche oder heranwachsende Zeugen bei Gericht
vernommen werden, kann die Öffentlichkeit nach den
jetzt bestehenden gesetzlichen Vorschriften ausgeschlossen
werden. Diese Schutzvorschrift, die bisher beim 16. Lebensjahr endet, wird bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt.
Aber wie weit reicht dieser Schutz für den jugendlichen
Zeugen? Während seiner Vernehmung wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Ist er vernommen, wird das,
was er in nichtöffentlicher Sitzung vorgetragen hat, in
den Schlussvorträgen vorgetragen oder bei der Erörterung des Sachverhalts in Öffentlichkeit diskutiert. Auch
darüber sollten wir uns Gedanken machen. Es gibt noch
einiges zu verbessern, was den Opferschutz, insbesondere jugendlicher Zeugen, anbelangt.
Insgesamt gesehen ist festzustellen, dass wir auf dem
richtigen Weg sind. Ich freue mich, dass wir uns im
Deutschen Bundestag über diesen Weg erkennbar einig
sind. Ich bin mir sicher, dass es in einigen Teilbereichen
Nachjustierungsbedarf gibt. Das können wir in den Ausschüssen besprechen. Ich danke Ihnen, dass Sie die Anliegen von Opfern unterstützen, und freue mich auf die
Diskussion im Rechtsausschuss.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Jörn Wunderlich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
bezweckt die Koalition die Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren. Sie knüpft mit
dem Entwurf an eine ganze Reihe von Gesetzgebungsinitiativen an - Herr Kollege Kauder hat sie gerade aufgeführt -, die 1986 ihren Anfang nahm.
Schön ist, dass die Stellung des Zeugen im Strafprozess
verbessert werden soll. Das Anheben der Altersgrenze
ist schon erwähnt worden. Hervorzuheben ist das Recht
des Zeugen, sich jederzeit von einem Rechtsbeistand begleiten zu lassen. Die diesbezügliche Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ist schon erwähnt worden. In
dieser Entscheidung wird nicht zwischen gerichtlicher,
staatsanwaltschaftlicher und polizeilicher Vernehmung
unterschieden. Die Erfahrung im Gerichtsalltag hat gezeigt - das muss man sagen -, dass insbesondere der
Beistand für Opferzeugen von Gewalt- und Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung eine wichtige psychologische Stütze ist.
Auch wenn meine Fraktion die Ziele des Entwurfs
unterstützt, muss grundsätzlich angemerkt werden: Ob
der Opferschutz als solcher seinen Platz im Strafprozessrecht haben sollte, ist in der Rechtswissenschaft umstritten. Ich denke, damit werden wir uns in der zu diesem
Gesetzentwurf geplanten Anhörung im Einzelnen
beschäftigen müssen. So nachvollziehbar die Forderungen der Opfer- und Interessenverbände sind, mit dem
Strafrecht wird allein der Sanktionsanspruch des Staates
normiert. Ziel des Strafprozessrechts ist die Wahrheitsfindung. Ein objektiver Ausspruch über Schuld und
Strafe soll ermöglicht und der Rechtsfrieden wiederhergestellt werden. Objektivität, Unvoreingenommenheit
der Beteiligten und des Gerichts sind elementare Voraussetzungen dafür. Sie gewähren letztlich ein rechtsstaatliches Verfahren, das der Unschuldsvermutung Rechnung
trägt und frei von Rache und Vergeltungsstreben ist.
Dass das Opfer früher kein Verfahrensbeteiligter mit
eigenen Rechten im Prozess war, wurde historisch als
eine Errungenschaft des Rechtsstaates gefeiert. Die
Beteiligung des Opfers durch die Nebenklage stärkt den
Opferschutz letztlich nicht. Sie führt nicht zu einer verbesserten Wahrheitsfindung, birgt aber die Gefahr, dass
Emotionen und möglicherweise sogar Vergeltungsgedanken zurück in den Gerichtssaal getragen werden.
Die Einräumung und stetige Ausweitung formeller
Rechte im Strafprozess sind für die Stärkung des Opferschutzes nicht ausreichend. Opferschutz ist mehr. Wer
Opferschutz ernst nimmt, wer das Opfer als Subjekt in
den Mittelpunkt des Handelns stellen will, der sorgt
dafür, dass die Justiz mit den entsprechenden sachlichen
und personellen Mitteln ausgestattet wird, um eine
effektive Strafverfolgung zu gewährleisten. Wer Opferschutz ernst nimmt, der sorgt dafür, dass das Opfer individuelle psychologische Betreuung erfährt. Herr Kauder,
ich glaube nicht, dass der von einem Wohnungseinbruch
betroffene Zeuge in der eigenen Wohnung besser lebt,
wenn er im Rahmen der Nebenklage im Gerichtsverfahren
auftritt. Ich denke, da ist eine andere Hilfe erforderlich.
Wer Opferschutz ernst nimmt, der fördert nicht
Vergeltung und Rache, sondern die Aufklärung und den
Dialog, wie beispielsweise den Täter-Opfer-Ausgleich.
Wer Opferschutz ernst nimmt, der fördert beispielsweise
die angemessene Finanzierung der Frauenhäuser oder
der Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt.
({0})
Obwohl wir dem grundsätzlichen Ansinnen des Opferschutzes nur beipflichten können, ist dieser Gesetzentwurf entgegen dem Titel kein großer Wurf. Er ist
nicht von rechtspolitischer Inspiration getragen, sondern
beschränkt sich im Wesentlichen auf redaktionelle Feinheiten, Umformulierungen und Umjustierungen. Dieser
Entwurf muss sich in Zeiten des Wahlkampfes den Vorwurf entgegenhalten lassen, Opferschutz mit populistischen Mitteln zu instrumentalisieren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Die Kollegen Jerzy Montag und Dr. Matthias Miersch
geben ihre Reden zu Protokoll.1)
Damit kann ich die Aussprache schließen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 16/12098 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zwei Jahre Europa-Vereinbarung - Bundesregierung muss ihre Verpflichtungen unverzüglich vollständig erfüllen
- Drucksache 16/12109 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Auch hier soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die Aussprache 30 Minuten dauern, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich setze Ihr Einverständnis voraus.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Rainder Steenblock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
vor zwei Jahren diese Vereinbarung zur Zusammenarbeit
zwischen der Bundesregierung und dem Parlament
verabschiedet wurde, haben wir hier im Deutschen Bun-
destag völlig zu Recht Reden gehalten, die dies als histo-
rischen Moment der Kooperation zwischen Parlamenta-
riern aller Fraktionen gewürdigt haben und auch als ein
Dokument des Selbstbewusstseins des Parlamentes
gegenüber der Exekutive. Wir wissen genau - egal ob
1) Anlage 6
wir in Regierungsfraktionen oder Oppositionsfraktionen
sind -, wie schwer es ist, sich als Parlament gegenüber
der Exekutive zu behaupten und durchzusetzen. Diese
Zusammenarbeitserklärung ist ein ganz wichtiger Meilenstein auf diesem Wege gewesen.
Wir sind ein ganzes Stück vorangekommen. Auch das
machen wir in unserem Antrag heute deutlich. Wir
haben seit dieser Vereinbarung durchaus Leben in die
europapolitischen Voraussetzungen gebracht. Wir haben
mehr Dynamik erzeugt. Die Bundesregierung hat den
Deutschen Bundestag und die Abgeordneten - das will
ich gerne zugestehen - aufgrund dieser Vereinbarung
sehr viel besser informiert als in der Zeit davor. Das hat
sich in der Arbeit des Bundestages positiv bemerkbar
gemacht. Wir haben den Beschluss durchgesetzt, dass
wir einen Parlamentsvorbehalt bei europarechtlichen
Fragen einlegen können. Das ist ein ganz wichtiger, entscheidender Fortschritt für die Rechte des Parlamentes.
Wir haben unsere eigenen Strukturen durch das Büro in
Brüssel und durch die Schaffung von neuen Strukturen in
der Bundestagsverwaltung hier gestärkt. Ich möchte die
Gelegenheit nutzen, um mich bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern von PA 1, also dieser neuen Struktur in
der Bundestagsverwaltung, und im Büro in Brüssel zu
bedanken. Durch das Engagement dieser Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter ist die Arbeit des Deutschen Bundestages
europatauglicher geworden. Das ist ein großer Fortschritt.
({0})
Aber es gibt natürlich auch eine Reihe von Kritikpunkten. Als wir vor einem Jahr diese Debatte geführt
haben, ist uns von den Regierungsfraktionen gesagt worden, dass eigentlich alles auf einem guten Weg ist und
dass das, was die Grünen und die Liberalen kritisieren,
schon in den nächsten Tagen geregelt sein wird. Das ist
leider nicht so. Was die noch offenen Fragen betrifft, haben wir in den letzten zwei Jahren, insbesondere im letzten Jahr, nur geringe Fortschritte gemacht. Wir erhalten
immer noch keine Berichte aus den Arbeitsgruppen des
Rates. Somit steht uns ein wichtiges Element der Information nicht zur Verfügung. Der Parlamentsvorbehalt ist
das schärfste Schwert des Parlaments, das wir in diesen
Auseinandersetzungen haben. Auch in der Debatte über
den Emissionshandel hat sich das Parlament stark gemacht. Die Bundesregierung hat die Vorschläge des Parlaments aber leider nicht so wie vom Parlament gewünscht berücksichtigt.
Außerdem erhalten wir vom Auswärtigen Amt leider
immer noch keine ausreichenden Unterlagen über die
Europäische Außen- und Sicherheitspolitik; auch darauf
muss man hinweisen. Das sind Defizite, die behoben
werden müssen. Vor zwei Tagen haben wir vom Außenministerium zum ersten Mal eine Übersicht über die anstehenden Rechtsakte bekommen, und das, nachdem wir
zwei Jahre lang versucht haben, an diese Unterlagen zu
kommen. Ich konzediere gerne, dass das ein Schritt nach
vorn ist. Von den 20 Rechtsakten, die uns zugeleitet wurden, waren 18 allerdings schon abgeschlossen.
({1})
Das ist nicht die Frühzeitigkeit der Information, die wir
in der Zusammenarbeitserklärung vereinbart haben.
({2})
Lieber Herr Staatsminister Gloser, wenn die nächste
Übersicht über anstehende Rechtsakte vorliegt, wäre es
gut, wenn wir sie in Anbetracht des Vorlaufs der Entscheidung innerhalb von drei Wochen bekommen könnten. Der Deutsche Bundestag hat nämlich das Selbstbewusstsein, mitentscheiden zu wollen. Er will nicht nur
nachträglich informiert werden.
({3})
Ich glaube, wir Parlamentarier sind gemeinsam der Ansicht, dass wir an diesen Stellen nachbessern müssen.
Ausgesprochen positiv in all diesen Debatten war,
dass wir Parlamentarier über die Fraktionsgrenzen hinweg immer auf unsere Rechte bestanden und für unsere
Rechte gekämpft haben. Ich hoffe, dass unser Antrag
eine Grundlage und ein Anstoß ist, um die noch offenen
Fragen zu beantworten. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Einvernehmensregelung. Es ist wichtig,
dass auch wir, die Oppositionsfraktionen, in die Lage
versetzt werden, die Einhaltung der Einvernehmensregelung zu kontrollieren. Ich würde mich sehr freuen, wenn
es uns gelingen würde, in diesen Fragen Einvernehmen
zwischen den Fraktionen herzustellen und im Rahmen
des Arbeitsprozesses, der jetzt anfängt, zu gemeinsamen
Positionen zu kommen und die Rechte des Parlaments
weiter auszubauen und zu stärken.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Stübgen,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich eingangs betonen, dass ich dem Kollegen Rainder Steenblock dankbar bin, dass er gemeinsam
mit seiner Fraktion einen Antrag zur Umsetzung der Vereinbarung von Bundestag und Bundesregierung über die
Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen
Union eingebracht und zu Recht angemahnt hat, bestehende Defizite zu beheben.
Heute ist nicht das erste Mal, dass wir über dieses
Thema sprechen. Wir haben das schon vor zwei Jahren
und auch im vorigen Jahr getan. Es ist richtig, darauf
hinzuweisen, dass einzelne Aspekte nach wie vor noch
nicht in ausreichendem Maße umgesetzt worden sind;
teilweise kann man gar nicht erklären, warum das noch
nicht geschehen ist.
({0})
- Ich hoffe, dass meine Fraktion auch einmal klatscht.
({1})
Ich finde es allerdings bedauerlich, dass sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen entschieden hat, diesen Antrag allein einzubringen, und dass sie nicht versucht hat,
mit uns in Gesprächen eine gemeinsame Position zu finden, damit wir einen gemeinsamen Antrag hätten einbringen können, wie es sich in den letzten zwei Jahren
bewährt hat. Ich glaube, das wäre der bessere Weg gewesen.
({2})
Auch in einem Wahljahr wie 2009 sollten wir versuchen,
die gemeinsame Basis beizubehalten, die wir in europapolitischen Angelegenheiten haben, insbesondere unsere
Überzeugung von der Notwendigkeit der demokratischen Kontrolle des europäischen Handelns. Im Ausschussverfahren haben wir sicherlich noch die Chance,
eine gemeinsame Position zu finden. Schließlich hat das
auch in der Vergangenheit immer geklappt.
({3})
Tatsache ist - das wird wohl niemand bestreiten -:
Was die Umsetzung der Zusammenarbeitsvereinbarung
betrifft, muss eine Reihe von Punkten verbessert werden.
Ich will mich jetzt bei der ersten Lesung auf vier Bereiche konzentrieren.
Erstens. Wir haben nach wie vor die Situation - der
Kollege Steenblock hat das angesprochen, und das steht
auch in dem Antrag -, dass die Bundesregierung den
Deutschen Bundestag über die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik, die GASP, und über die Europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik unzureichend, ja
nahezu nicht unterrichtet. Auch die sogenannten Nonpapers gelangen in den seltensten Fällen zum Deutschen
Bundestag. Ich weiß, dass das bei diesen Papieren im
Hinblick auf die Geheimhaltungsstufe gelegentlich problematisch ist. In der Europa-Vereinbarung zwischen
Bundesregierung und Bundestag ist aber eindeutig geregelt, dass auch dies Vorhaben im Sinne dieser Vereinbarung sind und der Bundestag umfassend beteiligt werden
muss.
Zweitens. Es ist inakzeptabel - wir sprechen das jetzt
das dritte Mal in Folge an -, dass die Bundesregierung
über Arbeitssitzungen und Gruppensitzungen des Rates
nach wie vor überhaupt nicht berichtet, wenn diese im
sogenannten Hauptstadtformat stattfinden und nicht von
der Ständigen Vertretung begleitet und nicht die gängi22532
gen Drahtberichte geschrieben werden. Das Ergebnis ist,
dass wir gar keine Informationen bekommen. Bei diesen
Sitzungen - das scheint in der Praxis der Arbeit der
Europäischen Union zuzunehmen - werden jedoch
wichtige Entscheidungen getroffen. Wie sollen wir ein
Verfahren für eine europäische Rechtsetzung bewerten,
wenn uns keinerlei Berichte zur Verfügung stehen? Hier
muss Abhilfe geschaffen werden. Wir werden das im
Ausschuss der Bundesregierung gegenüber ansprechen
und deutlich machen, dass wir erwarten, dass dies umgehend geklärt wird.
({4})
Drittens - da waren wir schon einmal fast fertig; deswegen habe ich die Hoffnung, dass wir das diesmal klären - sollten wir einen echten Restanten aus der Welt
schaffen: Wir sollten inhaltlich und verfahrenstechnisch
klären, wie die Bundesregierung Einvernehmen mit dem
Bundestag herstellen muss, bevor Verhandlungen oder
Regierungskonferenzen zur Änderung der vertraglichen
Grundlagen der Europäischen Union und bevor Beitrittsverhandlungen begonnen werden. Es gab einen Fall, bei
dem das nicht ganz klar war; wir können das unter
„Missverständnisse“ fassen. Ich glaube, wir können ein
Verfahren finden, bei dem die Abläufe klar sind. Auch
dieses Verfahren soll Thema der Beratungen sein.
Lassen Sie mich noch Folgendes ansprechen: Die
Bundesregierung hat den Bundestag überwiegend rechtzeitig und ausreichend informiert. 2008 hat sich der
Bundestag bereit erklärt, die Berichtspflicht der Bundesregierung zu reduzieren, sie nur noch bei Dokumenten,
die der Bundestag als beratungsrelevant einstuft, zu
zwingen, Berichtsbögen auszufüllen. Das Europareferat
der Bundestagsverwaltung hat festgestellt, dass die Bundesregierung dem Bundestag 2008 nur noch zu 48 Prozent der Vorlagen zu europäischen Rechtsetzungsvorhaben umfassende Bewertungen erstellt hat. Das ist
eindeutig zu wenig. Ich kenne das selber von einzelnen
dieser Vorlagen.
Die Bewertung der Subsidiarität im Zusammenhang
mit Rechtsetzungsvorhaben wird mit Lissabon noch bedeutender werden. Auch wenn es vom Ressort und von
der Vorlage abhängt, ist zu sagen, dass die Bundesregierung die Subsidiaritätsprüfung bei solchen Rechtsetzungsvorhaben sehr lapidar durchgeführt hat. Das kann
nicht ausreichen; denn die Subsidiarität ist ein wichtiges
Thema, mit dem wir uns gerade nach dem Inkrafttreten
des Vertrages von Lissabon befassen müssen. Hier muss
eine deutliche Verbesserung erfolgen.
Schon in der zweiten Jahreshälfte 2008 hat sich gezeigt, dass die Art und Weise der Bewertung durch die
Einführung eines Mahnverfahrens verbessert worden ist.
Wir werden in dieser Sache dranbleiben. Es ist nichts,
was wir grundsätzlich ändern können, es ist keine Strukturfrage; aber es ist wichtig, dass die Bewertung in Zukunft ordentlich durchgeführt wird.
Was ich hier vorgetragen habe, habe ich nicht gesagt,
weil ich Lust gehabt hätte, herumzukritisieren oder mir
etwas zu wünschen. Die Punkte, die ich angesprochen
habe und die für eine Umsetzung wichtig sind, gründen
sich auf die Europa-Vereinbarung, die die Bundesregierung mit dem Bundestag geschlossen hat. Die Bundesregierung hat die Verpflichtung, diese Vereinbarung umzusetzen. Wir haben in den letzten beiden Jahren
gezeigt, dass wir bei auftretenden Schwierigkeiten gerne
bereit sind, darüber zu verhandeln, wie man es besser regeln kann, ohne auf Punkt und Komma der Vereinbarung
zu bestehen. Wir haben gezeigt, dass wir kooperativ
sind. Aber jetzt müssen wir auch darauf achten, zumindest vorläufig einen Strich zu ziehen und die offensichtlich problematischen Bereiche zu klären.
Ich könnte jetzt noch sehr viel erzählen und hätte dafür auch noch anderthalb Minuten Zeit, aber mit Blick
auf die fortgeschrittene Zeit und auf die Tatsache, dass
wir im Ausschuss gemeinsam darüber diskutieren werden - dies haben die Kollegen Staatsminister Gloser und
Staatssekretär Hintze, die die Vereinbarung mit uns ausgehandelt haben, bereits zugesagt -, ist es jetzt nicht nötig, noch weiter ins Detail zu gehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Markus Löning für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ganz ohne Zweifel hat der
Bundestag im Laufe dieser Legislaturperiode Fortschritte hinsichtlich der besseren und frühzeitigeren Befassung mit EU-Rechtsetzung gemacht. Dies hat ganz
ohne Zweifel zentral mit der Europa-Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung zu tun.
Wir sind besser informiert, es gibt ein höheres Level
an Aufmerksamkeit für das, was auf der europäischen
Ebene passiert, und zwar vor allem - das halte ich an
dieser Stelle für besonders wichtig - in den Fachausschüssen. Der Europaausschuss, der sich sowieso immer
mit Europa beschäftigt, war in Bezug auf europäische
Rechtsetzung immer ein Stück voraus, aber die Fachausschüsse hatten manchmal nicht rechtzeitig und richtig
auf dem Schirm, dass da etwas aus Brüssel kommt. Die
eigentliche Arbeit besteht aber gerade darin, dass sich
die Fachkollegen rechtzeitig mit den Grünbüchern oder
mit den Richtlinienentwürfen auseinandersetzen, um
politisch Einfluss nehmen zu können.
Wir haben in unserer Fraktion eine eigene Arbeitsgruppe eingesetzt, in der die Kollegen aus dem Europäischen Parlament mit den Fachkollegen aus der Fraktion
zusammensitzen und in der wir regelmäßig beraten:
Welche Themen stehen an? Was sind die politisch wichtigen Themen? Wie können wir sie angehen? Wie brinMarkus Löning
gen wir sie auf die Tagesordnungen der Ausschüsse im
Europäischen Parlament oder im Deutschen Bundestag?
Ich halte es für wichtig, sich rechtzeitig mit den Dingen zu beschäftigen und dafür auch die erforderlichen
Strukturen zu schaffen. Dazu reicht es nicht, dass wir als
Bundestag das Büro in Brüssel haben, dazu reicht es
auch nicht, dass wir zusätzliche Verwaltungen haben;
vielmehr muss dies auch politisch in den Fraktionen umgesetzt werden. Dabei muss jede Fraktion entscheiden,
was für sie selbst besonders wichtig ist und welche Themen sie in den Vordergrund rücken will.
Im Laufe der Legislaturperiode hat es verschiedene
Stellungnahmen nach Art. 23 des Grundgesetzes gegeben. Es gab aber nicht nur Stellungnahmen des gesamten
Hauses, sondern auch von einzelnen Fraktionen und von
Ausschüssen. Unsere Fraktion hat öfter davon Gebrauch
gemacht, und ich halte es für wichtig, dass wir auch als
einzelne Fraktionen Stellungnahmen abgeben, beispielsweise nach Art. 23. Wenn sie keine Mehrheit finden,
dann bringen sie uns nicht weit. Aber wenn wir der
Kommission unsere Stellungnahmen frühzeitig im Beratungsverfahren übermitteln, ist das auch eine wichtige
Beteiligung. Es sind also auch die Fraktionen gefragt,
sich zu beteiligen, statt sich nur auf die Verwaltung zurückzuziehen.
({0})
Wir stehen mit der BBV und auch mit Art. 23 des
Grundgesetzes besser da als eine ganze Reihe von anderen nationalen Parlamenten. Wenn man mit Kollegen aus
der Assemblée Nationale spricht und sich von ihnen anhört, wie groß deren Einfluss auf ihre Regierung ist,
dann stellt man sich durchaus Fragen nach dem Selbstwertgefühl der dortigen Parlamentarier.
Wir waren im Dezember in London und haben mit
den Kollegen im Unterhaus und im Oberhaus darüber
gesprochen, die sich auch sehr intensiv und frühzeitig
mit den europäischen Themen beschäftigen, die aber
rechtlich weit weniger Möglichkeiten haben als der Bundestag. Im Gegensatz dazu haben die Dänen und die
Schweden rechtlich gar nicht so viele Möglichkeiten,
machen aber faktisch ihren Regierungen sehr klare und
sehr enge Vorgaben. Dies zeigt, dass der rechtliche Rahmen zwar wichtig ist, man aber auch den politischen
Willen braucht, diesen Rahmen auszuschöpfen.
({1})
Anerkanntermaßen, lieber Michael Stübgen, wurde
das von der Regierungsfraktion CDU/CSU hier bereits
ausgesprochen. Das ist im Laufe dieser Legislaturperiode aber eben an verschiedenen Stellen nicht passiert. Es gab verschiedene Stellen, an denen der Bundestag sein Selbstbewusstsein gegenüber der Regierung
hätte zeigen können. Leider haben SPD und CDU/CSU
dies nicht so getan, wie wir als Opposition es uns gewünscht hätten und wie vor allen Dingen ich als Parlamentarier es mir gewünscht hätte.
({2})
- Ich will einmal ein Beispiel nennen und mich hier auf
den Kollegen Gauweiler beziehen
({3})
- er gehört zur Regierungskoalition, lieber Kollege -,
der sich immer darüber beschwert hat, auch vor dem
Bundesverfassungsgericht, dass der Bundestag nichts
getan und sich nicht beteiligt hat. Seine eigene Fraktion
hat er, als er es gekonnt hätte, aber eben auch nicht getrieben, und im Vorfeld der Beratungen zum Vertrag von
Lissabon hat er nicht dafür gesorgt, dass hier Einvernehmen mit dem Bundestag hergestellt wird. Das gilt im
Übrigen auch für andere Kollegen, die sich gerne beschweren.
Das ist etwas - darin stimme ich mit allen überein -,
was unbedingt ganz klargemacht werden muss: Im Vorfeld von Beitrittsverhandlungen brauchen wir ein Mandat und Einvernehmen zwischen dem Bundestag und der
Bundesregierung. Im Vorfeld von Vertragsänderungen
brauchen wir das ebenfalls. Als Bundestag müssen wir
- ich denke, das Bundesverfassungsgericht wird uns das
auch aufgeben - die Möglichkeiten, die wir haben, endlich ordentlich ausschöpfen.
Vielen Dank.
({4})
Für die Bundesregierung hat nun der Staatsminister
Günter Gloser das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Warum haben wir damals diese Vereinbarung
geschlossen? Ich denke, wir wollten damit auch einen
Beitrag dazu leisten, dass nicht immer gesagt wird, was
einige ja vielleicht gerne tun, dass Brüssel weit weg ist
und dass wir über ein fernes, nie fassbares Gebilde diskutieren. Wenn wir aufdröseln wollen, welche Einflussmöglichkeiten wir haben, dann müssen wir das eben
auch mit dem Ziel einer Vereinbarung tun, durch die die
Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente sichergestellt werden können.
({0})
Um das vielleicht auch einmal den Zuhörern und Zuschauern zu sagen: Ich denke, wir haben bei den Verhandlungen zum Reformvertrag von Lissabon im Sinne
des Parlaments deutlich gemacht, dass dafür eine Legitimation nötig ist. Wir haben ausdrücklich auch gesagt,
dass die Parlamente - auch die nationalen Parlamente bei diesem ganzen europäischen Entscheidungsprozess
eine ganz wichtige Rolle spielen werden. Infolgedessen
hat sich diese Koalition in der Koalitionsvereinbarung
dann vor allem auch darauf verständigt, die Ausweitung
der Rechte des Bundestages parlamentsfreundlich zu gestalten und eine Vereinbarung zu schließen.
Ich komme gleich noch einmal auf einige Punkte zu
sprechen, weil ich nicht glaube, dass wir beide, wie der
Kollege Friedrich meinte, in fahrlässiger Weise schon
eine Zusage gemacht haben. Nein, es ist auch nach unserem Verständnis erforderlich, dass wir uns in einem Ausschuss dann auch den Themen stellen.
({1})
Ich kann aber nicht auf alles eingehen.
Ich sage in dieser Zeit, zwei Jahre nach der Vereinbarung, aber auch: Die Gesamtbilanz kann sich doch sehen
lassen.
({2})
Das sage ich auch als jemand, der gemeinsam mit Peter
Hintze bis 2005 als Abgeordneter im Parlament gewesen
ist. Wir haben dann nicht die Seiten gewechselt, aber
auch nicht einfach unser Mäntelchen nach dem Wind gedreht, sondern gesagt: Ja, wir nehmen die Rechte des
Parlamentes ernst, und wir versuchen aber auch, eine
Lösung entsprechend unserem Verständnis der Exekutive zu finden.
Um das einmal deutlich zu machen: Das ist ja kein
Bericht, den jetzt die Regierung erstellt hat, sondern das
war die Arbeitsgruppe Europa im Bereich der Bundestagsverwaltung. In dem Monitoringbericht wird festgestellt, dass in dem Berichtszeitraum insgesamt 16 400
EU-Dokumente über Bundesregierung, Europäisches
Parlament und EU-Kommission zugeleitet wurden und
dass dem Deutschen Bundestag insgesamt 1 000 EUDokumente - 837 davon seitens der Bundesregierung förmlich zugeleitet worden sind. Weil das vorhin etwas
beklagt wurde: Zusätzlich wurden dem Deutschen Bundestag über 5 000 Berichte der Ständigen Vertretung bei
der EU in Brüssel übermittelt.
Ich glaube, das zeigt auch schon den Grad der Steigerung, wobei ich gerne zugebe, dass es nicht nur um die
Quantität, sondern letztendlich auch um die Qualität
geht. Ich räume auch ein, lieber Kollege Steenblock,
dass es zu Beginn natürlich auch Anlaufschwierigkeiten
gegeben hat. Wir haben den entsprechenden Dialog ja
auch geführt. Es gibt halt manchmal auch komplexe Situationen, bei denen nicht gleich am nächsten Tag die
entsprechende Lösung vorhanden ist.
({3})
Wir haben aber immer deutlich gemacht - auch in einem kontinuierlichen Dialog mit den Kolleginnen und
Kollegen des Bundestages -, dass wir hier zu einem entsprechenden Ergebnis kommen wollen. Ich glaube, gerade für das von Ihnen kritisch angesprochene Feld der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik haben wir
jetzt eine kreative Lösung gefunden. Wie der Kollege
aus dem Auswärtigen Amt mir gerade sagte: Hier werden viele Dinge, die Sie vorhin kritisch angesprochen
haben, in einer entsprechenden Weise umgesetzt, damit
man den Wünschen des Bundestages auch im Bereich
der Außenpolitik entsprechend nachkommen wird.
Was die angeblichen Unzulänglichkeiten angeht, von
denen in Ihrem Antrag die Rede ist, sind wir stetig dabei,
Lösungen zu finden. Es muss aber eine Balance gefunden werden, auch vor dem Hintergrund - das ist im Parlament ebenfalls ein Thema -, keine unnötige Bürokratie
aufzubauen. Ich glaube, das gehört dazu, wenn wir versuchen wollen, die Unterrichtung des Bundestages sicherzustellen. Es muss aber auch - das sage ich ganz bewusst - eine Balance zwischen der Rolle der Legislative
und der Rolle der Exekutive gefunden werden.
Ich greife auf, was der Kollege Löning am Schluss
seiner Rede deutlich gesagt hat.
({4})
- Das wissen wir doch, Herr Kollege Friedrich. - Auch
bei uns erkundigen sich Delegationen nach der Vereinbarung von Bundestag und Bundesregierung und möchten
dieses Modell übernehmen. Wenn unsere Botschafter
von Besuchen von Delegationen wie kürzlich in der Slowakei berichten, bei denen deutlich gemacht wird, wie gut
unser Modell ist, dann stelle ich mit einem gewissen
Selbstbewusstsein fest, dass die Vereinbarung so schlecht
nicht sein kann. Dort, wo sie noch Defizite aufweist,
werden wir nachjustieren.
Vielen Dank.
({5})
Alexander Ulrich hat nun für die Fraktion Die Linke
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Beschluss zu der Europa-Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung war von allen fünf Fraktionen eingebracht worden. Das war ein seltenes Stück parlamentarischer Normalität in dieser Legislaturperiode.
Manches ist seit dem Abschluss der Vereinbarung auf
den Weg gebracht worden. Meine Vorredner sind darauf
eingegangen. Es mag zwar sein, dass diese Vereinbarung
gut ist und dass man sie in Europa vorzeigen kann. Aber
zwischen Theorie und Praxis gibt es leider einen Unterschied. Das haben wir in der Debatte gehört. Wenn das
auch die CDU/CSU-Fraktion so deutlich zum Ausdruck
bringt, dann sollte sich die Bundesregierung ebenfalls
dieser Sache annehmen.
Die Bundesregierung hat entgegen den eingegangenen Verpflichtungen weder die Informations- noch die
Mitwirkungsrechte des Bundestags auch nur annähernd
erfüllt. Der Antrag umschreibt die Mängel umfassend
und zutreffend, auch wenn manches noch ergänzt werden könnte, zum Beispiel die mangelnden Informationen
im Bereich von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen.
Den Koalitionsfraktionen, die immer wieder ihren guten Willen betonten, fehlten offenbar politische Überzeugungskraft und Stärke, um die Rechte des Parlaments
gegenüber der von ihr getragenen Regierung umzusetAlexander Ulrich
zen. Insofern hat sich die Durchsetzungsfähigkeit der
Großen Koalition als ziemlich klein erwiesen.
Bei der heute zu übenden Kritik geht es aber nicht nur
um die mangelnde Einhaltung einer Vereinbarung zwischen zwei Verfassungsorganen; es geht vor allem um die
demokratische Kontrolle und Legitimation des europäischen Handelns der Bundesregierung. Zu Recht hat das
Bundesverfassungsgericht 1993 in seinem MaastrichtUrteil im dritten Leitsatz ausgeführt:
Nimmt ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der
Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren haben.
Daran muss sich auch die heutige europapolitische Praxis messen lassen.
Zusammen mit der Kritik, die im vorliegenden Antrag
formuliert ist, müssen wir zugleich feststellen, dass es
nicht ausreicht, die demokratisch-parlamentarische Legitimation bzw. die erforderlichen Informations- und
Mitwirkungsrechte allein in einer schlichten Vereinbarung zu regeln. Auch eine gesetzliche Regelung in einem
wie auch immer erweiterten Begleitgesetz zu den europäischen Verträgen reicht nicht aus. Wir brauchen eine
grundlegende und umfassende grundgesetzliche Regelung, die auch den Notwendigkeiten der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes entspricht. Nur
so können die Rechte des Bundestags und das Demokratieprinzip wirksam gesichert werden.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf unser
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Herr
Löning, ich freue mich, dass auch Sie darauf aufmerksam gemacht haben. Insoweit muss auch die FDP anerkennen, dass das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vielleicht gar nicht so schlecht ist, wenn es um
das Parlament geht. In dem Verfahren geht es neben der
wirtschaftlichen Neutralität und der Erhaltung der Parlamentsarmee vor allem um die fehlende demokratische
Kontrolle auf EU-Ebene und die Schwächung des Bundestags.
Nach den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung sind wir guten Mutes, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang Nachbesserungen verlangen wird, möglicherweise am Lissabonner Vertrag
und seinen Protokollen selbst, in jedem Fall aber durch
die flankierende Einführung von unabdingbaren Parlamentsvorbehalten.
Der heutige Antrag der Grünen ist auch deshalb nützlich, damit dem Bundesverfassungsgericht die Mängel
im demokratischen Verfahren des Bundestags praktisch
und plastisch vor Augen geführt werden. Noch überzeugender wäre es allerdings gewesen, lieber Kollege
Steenblock, wenn auch Ihre Fraktion vor das Bundesverfassungsgericht gezogen wäre.
Ich komme zum Schluss. Es ist gut, dass der Antrag
hier und heute vorliegt. Wir werden ihm zustimmen. Die
notwendigen Schritte zur Gewährleistung der demokratischen Legitimation europäischen Handelns werden wir
aber nicht allein durch eine bessere Einhaltung und
durch eine Weiterentwicklung der Vereinbarung erreichen können. Hierzu bedarf es ergänzender Vorschriften
von Verfassungsrang. Diese wird es aber erst nach und
auf der Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und erst in der neuen Wahlperiode geben,
in der wir als Linke auch wegen unserer konsequenten
Europapolitik stärker vertreten sein werden.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Michael Roth für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Europa der Parlamente ist das Europa der Demokratie.
Dem fühlen wir uns alle hier im Deutschen Bundestag
verpflichtet. Wir sollten aber keine Zerrbilder malen, die
mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, Herr Kollege
Ulrich.
({0})
Denn es ist geradezu ein Treppenwitz der Geschichte,
dass diejenigen, die sich hier vorne hinstellen und einen
flammenden Appell zugunsten der Demokratie halten,
das Dokument massiv bekämpfen, das sowohl das Europäische Parlament als auch die nationalen Parlamente
stärkt. Das muss man in solchen Debatten leider immer
wieder erklären, weil Sie es offensichtlich noch immer
nicht verstanden haben. Sie sollten sich dafür schämen,
dass Sie mit zum Teil abstrusen Theorien und Behauptungen vor das Bundesverfassungsgericht gezogen sind.
Es ist den konstruktiven, kenntnisreichen und kundigen
Kolleginnen und Kollegen in der Verhandlung vor dem
Bundesverfassungsgericht zu verdanken, dass wir uns
exzellent dargestellt haben. Dafür war zweifellos die
Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung
eine große Hilfe.
({1})
An den zum Teil besorgten Gesichtern der Repräsentanten der Bundesregierung hat man gesehen, dass es mitunter hilfreich und nützlich war, dass wir in den Gesprächen mit der Bundesregierung sehr offensiv für den
parlamentarischen Standpunkt eingetreten sind und deutlich gemacht haben, dass es auch im Interesse der Bundesregierung liegt und der Verbesserung der Handlungsfähigkeit der EU-Institutionen dient, wenn wir den
Deutschen Bundestag in EU-Angelegenheiten stärken.
({2})
Da es sich um ein Projekt handelt, das wir gemeinsam
vorangebracht haben, bitte ich alle, die Vereinbarung
Michael Roth ({3})
nicht schlechter zu machen, als sie tatsächlich ist. Die
Kolleginnen und Kollegen haben dankenswerterweise
schon darauf hingewiesen: Egal wohin wir in der Europäischen Union kommen, die BBV genießt einen hervorragenden Ruf. Wir werden gefragt. Viele Kolleginnen
und Kollegen in anderen nationalen Parlamenten wären
dankbar, wenn sie eine ähnliche Regelung hätten. Lieber
Kollege Rainder Steenblock, natürlich haben wir nach
zwei Jahren noch nicht alles erreicht. Manches muss sich
in der politisch-parlamentarischen Praxis erst noch bewähren. Ich sehe das aber nicht als ein Zeichen von
Schwäche; denn es ist sowohl für die Bundesregierung
als auch für den Bundestag und insbesondere für die vielen Fachausschüsse ein Lernprozess. Es ist eine Reihe
von Instrumenten eingeführt worden. Wir haben die Verwaltung - auch mithilfe des Bundestagspräsidenten - in
diesen Fragen gestärkt. Wir sind in Brüssel präsent. Aber
das alles muss sich erst bewähren.
Natürlich gibt es den einen oder anderen Punkt, in
dem wir einen Verbesserungsbedarf sehen. Diese Punkte
sind in Ihrem Antrag zum Teil deutlich und klar beschrieben. Einiges hat sich aber schon verändert. Die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wurde
schon angesprochen. Die Bundesregierung hat durch das
Auswärtige Amt vorgeschlagen, dass wir quartalsweise
unterrichtet werden. Ich kann mich nur den Aussagen
des Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion anschließen.
Wir müssen bei den Ratsformationen noch einmal qualitativ zulegen. Es ist uns völlig gleich, um welche Ratsformation es sich handelt. Wir müssen über alle Ratsformationen und die Ergebnisse der Beratungen unterrichtet
werden. Ich sehe hier die ausgestreckte Hand der Bundesregierung.
({4})
Wie werden da so weit vorankommen, dass es unseren
Erwartungen entspricht.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss doch noch einmal auf
das Bundesverfassungsgericht und die dortigen Beratungen zu sprechen kommen. Ich gehe nicht davon aus, dass
das Bundesverfassungsgericht diesem Meilenstein für
mehr Parlamentarismus und für mehr Demokratie in der
Europäischen Union Steine in den Weg legt. Aber ich
gehe fest davon aus - das hat man in den Gesprächen
und in der Verhandlung ein bisschen herausgehört -,
dass es präzise Vorgaben zugunsten des Deutschen Bundestages und zugunsten des Parlamentarismus geben
wird.
Deswegen wäre mein Vorschlag - da sind wir durchaus wieder einer Meinung -: Wir sollten das Urteil sehr
selbstbewusst abwarten und uns dann in die Phase der
Evaluation begeben. Möglicherweise muss im Lichte
dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes die
Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung
abermals geändert werden. Ich lade dann alle zum konstruktiven Miteinander ein. Dass wir das schaffen, haben
wir gezeigt. Und wenn dann unsere Verhandlungspartner
wieder die Kollegen Gloser und Hintze sind, dann wird
das auch klappen.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache, verbunden mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass es für die Ernsthaftigkeit des
Umgangs von Parlament und Regierung mit dem Thema
„europäische Willensbildungsprozesse“ spricht, dass wir
schon zwei Jahre nach der Vereinbarung darüber nachdenken, ob und in welcher Weise sie weiterentwickelt
werden kann. Ich füge hinzu, dass ich aus jüngsten Gesprächen mit Kollegen Parlamentspräsidenten bei den
jährlichen Treffen weiß, dass unsere Vereinbarung einschließlich unserer inzwischen geschaffenen eigenen
Vertretung in Brüssel in vielen anderen Ländern längst
als Modell für eigene Überlegungen gilt, die dort erst beginnen, während wir hier jetzt über Optimierungen reden.
({0})
Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind, dass
die Vorlage auf der Drucksache 16/12109 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
wird. - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Dann rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Fortführung der Gesetzeslage
2006 bei der Entfernungspauschale
- Drucksache 16/12099 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle-
gen Olav Gutting, Florian Pronold, Dr. Volker Wissing,
Dr. Barbara Höll und Christine Scheel.1) - Darüber be-
steht offensichtlich Einvernehmen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf der Drucksache 16/12099 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - An-
derweitige Vorschläge höre ich nicht. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst
Meierhofer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
1) Anlage 7
Präsident Dr. Norbert Lammert
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den
Vorrang Erneuerbarer Energien
- Drucksache 16/12094 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auch hier sollen die vorgesehenen Reden nach einer
interfraktionellen Vereinbarung zu Protokoll gegeben
werden. Es handelt sich um die Reden von Frau
Dr. Maria Flachsbarth, Dirk Becker, Michael Kauch,
Eva Bulling-Schröter und Hans-Josef Fell.1)
Interfraktionell gibt es den Vorschlag auf Überweisung des Gesetzentwurfes auf der Drucksache 16/12094
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse. Andere Vorschläge liegen nicht vor. Dann darf ich Ihr
Einvernehmen zu dieser Überweisung feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. September 2008 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark über eine Feste Fehmarnbeltquerung
- Drucksache 16/12069 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll diese
Aussprache eine halbe Stunde dauern. - Ich höre keinen
Widerspruch und erteile das Wort dem Kollegen Achim
Großmann, der für die Bundesregierung dazu Stellung
nimmt.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Ich versuche es noch einmal. Das Mikrofon ist nicht
an.
Das ist der durchsichtige Versuch der Verwaltung, das
vorzeitige Ende der Debatte herbeizuführen.
({0})
Der kann nicht wirklich gelingen. Im Übrigen: Wenn Sie
laut und deutlich sprechen, stellen Sie sicher, dass ers-
1) Anlage 8
tens die anwesenden Kollegen Sie verstehen und zweitens alles im Protokoll erscheint.
- Okay. Mir bleiben nur noch 4:40 Minuten. Aber ich
kürze die Rede und dringe nicht auf die Einhaltung der
ursprünglich vorgesehenen Zeit.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll der
Staatsvertrag über die feste Fehmarnbelt-Querung ratifiziert werden, den die Bundesregierung - hier Herr Minister Tiefensee - im September 2008 mit der damaligen
dänischen Verkehrsministerin Christensen in Kopenhagen unterzeichnet hat. Wir haben harte Verhandlungen
geführt. Letztlich haben die Vertragsparteien eine akzeptable Verteilung der Verantwortlichkeiten gefunden.
Dänemark wird die Verantwortung für die Planung,
den Bau, den Betrieb und - das ist mir besonders wichtig - die Finanzierung für das Querungsbauwerk übernehmen, wobei noch nicht klar ist, ob es eine Brücke
oder ein Tunnel werden soll. Die Fehmarnbelt-Querung
soll über Nutzergebühren finanziert werden. Deutschland
ist im Gegenzug bereit, die Hinterlandanbindung auf deutscher Seite sicherzustellen. Bis zur Eröffnung der festen
Fehmarnbelt-Querung - Sie wissen, dass wir für das Jahr
2018 damit rechnen - soll der vierstreifige Ausbau der
Bundesstraße B 207 zwischen Heiligenhafen - das ist die
Abfahrt Ost - und Puttgarden realisiert werden. Die Fehmarnsundbrücke soll zweispurig bleiben. Weiterhin soll
die Elektrifizierung der eingleisigen Schienenstrecke
zwischen Lübeck und Puttgarden erfolgen. Darüber hinaus soll sieben Jahre nach Eröffnung der FehmarnbeltQuerung der Ausbau der Schienenstrecke zwischen Lübeck und Puttgarden zu einer zweigleisigen Strecke abgeschlossen sein. Die Fehmarnsundbrücke soll eingleisig bleiben. Schleswig-Holstein wird sich mit 60 Millionen Euro an der Hinterlandanbindung beteiligen.
Auch das ist vertraglich festgelegt.
Das Projekt - das wissen Sie - ist ein wesentliches
Element zur Vollendung der zentralen Nord-Süd-Achse
zwischen Skandinavien und Mitteleuropa auf der kürzesten Verbindung über die Vogelfluglinie. Die feste Fehmarnbelt-Querung ist von großem europäischem Interesse und einschließlich der Schienenhinterlandanbindungen ein vorrangig zu realisierendes Vorhaben für den
Aufbau eines transeuropäischen Verkehrsnetzes. Sie ist
also Teil der TEN-Bestrebungen in Europa.
Die Europäische Kommission hat diesen Vertrag honoriert und für die laufende Finanzperiode 339 Millionen Euro für die feste Fehmarnbelt-Querung und knapp
13 Millionen Euro für Studien zur Schienenhinterlandanbindung in Deutschland zur Verfügung gestellt.
({1})
Die feste Fehmarnbelt-Querung wird die Reisezeiten
zwischen den Metropolregionen Hamburg und Kopenhagen/Malmö um circa eine Stunde verkürzen und ganz
wesentlich zur Stärkung des Schienenverkehrs beitragen.
Wir rechnen damit, dass die Fehmarnbelt-Querung durch
die verminderten Transportzeiten auch zur Verbesserung
der Hinterlandanbindung der Häfen Lübeck und Hamburg beitragen wird.
Sie wissen - das werden wir noch ausgiebig diskutieren können -, dass die Bewältigung möglicher Umweltauswirkungen bei uns sehr zentral diskutiert worden ist.
Schon im Vorlauf sind ausführliche Untersuchungen
durchgeführt worden. Es muss aber natürlich zusätzlich
eine Umweltverträglichkeitsprüfung stattfinden, die auf
deutschem Hoheitsgebiet nach deutschem Recht erfolgt.
Das ist für uns ganz wichtig. Das bestimmt Art. 13 des
Staatsvertrags. Es sind bereits unmittelbar nach Unterzeichnung des Vertrags eine Reihe von Umweltuntersuchungen von der dänischen Projektgesellschaft in Auftrag gegeben worden. Die Einhaltung aller
maßgeblichen gemeinschaftsrechtlichen und innerstaatlichen Bestimmungen und Vorgaben für Planung, Bau
und Betrieb der festen Fehmarnbelt-Querung wird eine
wirksame und nachhaltige Umweltvorsorge sicherstellen.
Ein weiterer Aspekt sind die Sicherheits- und Schifffahrtsbedingungen am Fehmarnbelt. Hierzu wird zurzeit
ein umfangreiches Arbeitsprogramm durchgeführt. Erste
Arbeitsschritte wurden abgeschlossen. Die Gesamtbewertung erfolgt im Rahmen eines Formal Safety Assessment nach den Vorgaben der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation. Dort wird auch eine Risikoanalyse
erstellt. Auf deutscher Seite werden diese Arbeiten
durch ein nationales Expertenteam unter dem Vorsitz der
Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nord begleitet.
Wir haben also alles in die Wege geleitet, um wirkliche Vorsorge in Bezug auf die Umweltfragen und die Sicherheitsfragen zu treffen. Ich denke, wir haben auch die
Teilung der finanziellen Lasten gut ausgehandelt. Deshalb hoffe ich, dass das Ratifizierungsverfahren - wir
planen den Abschluss für Ostern 2009 - dadurch unterstützt wird, dass der Bundestag und der Bundesrat noch
vor dem Sommer ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf geben können.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Jürgen Koppelin, FDP-Fraktion, gibt
seine Rede zu Protokoll.1)
Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist ein schöner Tag. Bereits seit 1991, mit
dem Beschluss zum Bau einer Brücke über den Öresund
zwischen Dänemark und Schweden, beraten wir über
1) Anlage 9
eine feste Fehmarnbelt-Querung. Die Planungen haben
bereits begonnen. Ich erinnere mich noch an die Projektplanungen, an denen ich als Landtagsabgeordneter mitgewirkt habe und in denen wir das Für und Wider erörtert haben.
Dänemark und Deutschland haben früh erkannt, dass
ein solches Projekt große Chancen beinhaltet. Heute ist
dieses Projekt, das sich in vielen Untersuchungen, Studien und Modellrechnungen bewähren musste und auch
bewährt hat, im Deutschen Bundestag angekommen. Ich
kann nur sagen: Was lange währt, wird endlich gut.
({0})
Der Bau einer festen Querung über den 19 Kilometer
langen Fehmarnbelt ist das Kernstück des Staatsvertrags
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark vom September letzten Jahres. Eine
Brückenkonstruktion ist am wahrscheinlichsten. Es ist
aber auch möglich, das Projekt durch eine Tunnellösung
zu verwirklichen. Das wird im Jahre 2012 beschlossen
werden.
Entscheidend ist, dass diese feste Beltquerung das
größte europäische Verkehrsinfrastrukturprojekt der letzten Jahrzehnte ist. Sie schließt die bisher fehlende Verbindung zwischen Mittel- und Nordeuropa. Die Metropolregion Hamburg und die erfolgreiche ÖresundRegion können zusammenwachsen, und zwar in bewusst
doppelter Bedeutung: Sie kommen sich näher, und sie
entwickeln sich gemeinsam noch besser.
In Deutschland wird gelegentlich übersehen, dass in
der Öresund-Region ein Viertel des dänischen und
schwedischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet
wird. Im Bereich Wissenschaft und Forschung gehört
diese Region sogar zu den führenden Zentren Europas.
Allein durch einen Blick auf das Potenzial, das durch die
Vernetzung der leistungsstarken Öresund-Region mit der
ebenso starken Metropolregion Hamburg entsteht, müssten alle Bedenken hinweggefegt werden. Menschen mit
ihren Ideen, aber auch Güter, Dienstleistungen und
Know-how bekommen gewissermaßen eine Standleitung.
({1})
Davon profitiert nicht nur Schleswig-Holstein als Bindeglied, sondern auch Deutschland als Exportnation und
letztendlich auch ganz Nordeuropa.
Die feste Fehmarnbelt-Querung macht den Weg frei
für neues Wachstum und mehr Beschäftigung. Es entstehen auch neue Arbeitsplätze. Das ist allerdings nicht genau zu beziffern; denn da stellt sich die Frage, wie weit
wir in die Zukunft schauen. Es wird auch Arbeitsplatzabbau geben. Folgendes ist aber klar: Durch den Betrieb
der Brücke werden 200 Arbeitsplätze entstehen. Die
IHK Schleswig-Holstein rechnet allein für ihre Region
mit 1 800 zusätzlichen Arbeitsplätzen.
Das haben die Dänen schon lange erkannt. Ihr Interesse an dem Projekt ist sogar so groß, dass sie nicht nur
die Kosten der Hinterlandanbindungen auf dänischem
Gebiet tragen, sondern auch die Baukosten der Brücke
selbst; der Herr Staatssekretär hat das soeben ausgeführt.
Die EU wiederum fördert den Bau als wichtiges Verkehrsinfrastrukturprojekt. Das hat sie getan, ohne dass
ein Staatsvertrag vorlag. Sie ist insofern in Vorleistung
getreten. Das war eine besondere politische Entscheidung der Europäischen Kommission.
Insgesamt fallen in Deutschland durch den Bau keine
Kosten an, weder beim Bund noch bei den Ländern oder
den Kommunen. Das heißt, wir bekommen einen exklusiven Zugang zu den am meisten prosperierenden Regionen Skandinaviens. Deutschland trägt lediglich die
Kosten der Hinterlandanbindung, die wir sowieso irgendwann hätten aufbringen müssen. Denn auch in
Schleswig-Holstein legen wir Wert darauf, dass wir
Schienenverbindungen haben und Autobahnnetze optimiert werden. Der Bau der Fehmarnbelt-Querung wird
jetzt in einem Staatsvertrag festgeschrieben, und das finden wir als Schleswig-Holsteiner besonders schön. Gerade in Grenzregionen müssen wir für vernünftige Verkehrsverbindungen sorgen. Ich glaube, da habe ich die
FDP mit in meinem Boot.
Für die Straßenanbindungen sind etwa 90 Millionen
Euro veranschlagt. Es ist klar, dass die feste Fehmarnbelt-Querung an das überregionale Fernstraßennetz angebunden werden muss.
Von noch größerer Bedeutung ist für mich die Schienenanbindung; für die Europäische Kommission ist sie
entscheidend. Eine feste Querung sorgt hier für einen besonders großen Zeitvorteil; aber es werden auch Barrieren weggerissen. Die Kosten für die Passage werden mit
der Zahlung des Fahrpreises entrichtet. Das wird die
Attraktivität der Bahn beträchtlich erhöhen - ein dickes
Plus auch für den Umweltschutz. Mit den jetzigen Fährverbindungen überqueren nur wenige Personenzüge pro
Tag den Fehmarnbelt - und kein einziger Güterzug. Alle
Güterabfertigungsanlagen auf dänischer Seite sind abgebaut worden.
({2})
Wenn die Brücke fertig ist, werden pro Tag
40 Personenzüge und zwischen 40 und 60 Güterzüge
über den Fehmarnbelt fahren. Ebenso wie bei den Straßen muss darum auch die Schienenanbindung in ein Gesamtkonzept eingebunden werden. Dies betrifft etwa
Investitionen in die weitere Elektrifizierung der Bahnstrecke Lübeck-Puttgarden.
Allen Unkenrufen zum Trotz ist eine direkte Verbindung über den Fehmarnbelt letztlich auch im Sinne des
Umwelt- und Naturschutzes. Wir haben Gespräche in
Dänemark geführt. Die Grünen in Dänemark befürworten selbstverständlich ein Brückenprojekt dieser Art.
Eine Brücke führt, verglichen mit der Fortsetzung des
Fährbetriebes, zu einer Abnahme aller Arten von verkehrsbedingten Schadstoffemissionen.
Es ist unredlich, wenn gelegentlich einerseits die Brücke als gefährliches Hindernis und andererseits der Fährbetrieb als völlig risikofrei dargestellt werden. Bei klarer
Kennzeichnung geht von einem statischen Brückenpfeiler ein weit geringeres Gefahrenpotenzial aus als von einem Objekt wie einer Fähre, das sich bewegt. Ich erlaube mir den Hinweis: Der Nord-Ostsee-Kanal, die
meistbefahrene Wasserstrecke der Welt, hat eine Breite
von - gar nicht einmal vollständig beschiffbaren 160 Metern.
({3})
Zwischen zwei Brückenpfeilern werden 700 Meter liegen. Ich traue unseren Kapitänen zu, dieses Hindernis
wunderbar zu umschiffen. Dieses Argument lasse ich
also nicht gelten.
({4})
Im Übrigen sind die Erfahrungen mit den Umweltauswirkungen bei anderen Brücken insgesamt sehr positiv.
Gerade die Brücke über den Großen Belt und die
Öresund-Brücke, die sich quasi in der Nachbarschaft befinden und sich hervorragend als Referenzmodelle eignen, gelten als vorbildlich für den Umgang mit der
Natur. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: langfristige Vorteile, so weit das Auge reicht.
Eine einzige mahnende Anmerkung haben wir allerdings: Wenn man schon - quasi zum Nulltarif - eine
feste Querung mit all ihren Vorteilen bekommt, dann
muss sichergestellt werden, dass auch wir alles tun, um
die Potenziale voll auszuschöpfen. Das bedeutet: Wir
brauchen in der Region, aber auch darüber hinaus, eine
leistungsfähige Weiterführung des Straßen- und Schienennetzes. Die Hinterlandanbindungen müssen kommen. Da wissen wir uns alle im gleichen Boot: Alle Kollegen arbeiten daran, dass sie kurzfristig zustande
kommen können.
Die Idee eines zusammenwachsenden Europas, von
fallenden Grenzen, einem gemeinsamen Binnenmarkt
und freiem Verkehr von Personen, Gütern und Dienstleistungen nimmt mit dem Bau einer festen Querung
über den Fehmarnbelt konkrete Gestalt an. Die Chancen
sind da. Das Know-how ist da. Das Geld ist da. Der
Wille ist da. Jetzt fehlt nur noch der Startschuss - und
den geben wir heute.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Lutz Heilmann für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Vor einiger Zeit flatterte nicht nur uns Bundestagsabgeordneten, sondern auch einer Menge Bürgerinnen und Bürgern in Ostholstein eine tolle Broschüre
der Femern Baelt A/S ins Haus. Ich bin beeindruckt,
welche Mühe sich die vermeintlich künftigen Bauherren
einer festen Fehmarnbelt-Querung gemacht haben, um
uns das Vorhaben schmackhaft zu machen. Auf 35 mit
tollen Bildern gespickten Seiten wird dargestellt, welch
ein Segen nicht nur über die Bürgerinnen und Bürger
von Fehmarn mit Baubeginn kommen soll. Alles sei
weitestgehend in trockenen Tüchern. So mancher hat
mich schon nach dem Fortgang des Brückenbaus gefragt. Wie der Kollege Storjohann von der CDU gerade
angesprochen hat, sollen beispielsweise die CO2-Emissionen gesenkt werden. Wie das bei steigendem LkwVerkehr funktionieren soll, verschweigen allerdings die
Verfasser und auch Sie, Herr Kollege, geflissentlich.
Voraussichtlich nach 30 Jahren soll mit der Maut
Schluss sein. Das hört sich erst einmal gut an, nämlich
für den Fall, dass die Brücke 100 Jahre stehen soll. Ich
habe da allerdings ganz andere Zahlen im Ohr. Kollege
Storjohann, auch Sie waren letztes Jahr mit in Dänemark. Da war von 22 Jahren die Rede.
Von Entwicklungsmöglichkeiten der Regionen ist darin zu lesen. Verschwiegen wird, dass Ostholstein und
Lolland vorwiegend ländlich geprägt sind und große
Wirtschaftseinheiten nicht vorhanden sind. Mit Verlaub:
Es wird wohl kaum jemand wollen, dass auf Fehmarn
eine neue Produktionslinie von VW errichtet wird. Das
wäre das Aus für die Urlaubs- und Sonneninsel Deutschlands.
Von einer starken Förderung durch die EU haben auch
Sie gesprochen, Kollege Storjohann.
({0})
Richtig ist, dass 335 Millionen Euro TEN-Mittel fließen
sollen. In der Broschüre werden darüber hinausgehende
Erwartungen geäußert. Äußerst fraglich ist aber, ob ab
2014 tatsächlich rund 1,2 Milliarden Euro fließen; Sie
gehen davon aus, dass von der EU 1,5 Milliarden Euro
kommen. Fest steht allerdings, dass die Fördersumme
bei möglichen Kostensteigerungen nicht proportional erhöht wird. Das sollten Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Anders als es uns die schöne Broschüre weismachen
will,
({1})
gibt es für eine feste Fehmarnbelt-Querung keinen Bedarf, wäre deren Errichtung sozial unverantwortlich,
({2})
wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen und ökologisch katastrophal; darüber hinaus würde die Schifffahrt gefährdet. Kollege Storjohann, es ist wirklich etwas anderes,
ob man einen 300 oder 400 Meter langen Tanker durch
eine Rinne von 700 Meter Breite oder durch eine solche
von 10 Kilometer Breite führen soll.
({3})
Das sollten Sie sich einmal durch den Kopf gehen lassen.
Nach den Berechnungen würden gerade einmal
9 000 Autos pro Tag über die Brücke rollen und weit
über 600 Arbeitsplätze allein bei den Fähren auf dem
Spiel stehen; weitere Arbeitsplätze wären gefährdet.
Sie können sich einfach einmal auf den Weg nach
Fehmarn machen. Wenn Sie sich vorstellen, dass dort
eine vierspurige Autobahn mit einer Anfahrtsrampe zur
Brücke und daneben noch zwei Gleise gebaut werden,
({4})
und sich dann die Größe der Insel Fehmarn vergegenwärtigen, werden Sie erkennen, dass diese Insel völlig
zerstört würde, dass sie in zwei Teile zerschnitten würde.
({5})
- Sie müssen sich das einmal überlegen! Die Brücke
wird mindestens 65 Meter hoch sein. Sie können ausrechnen, wie lang die Anfahrtsrampe sein muss und was
das für diese Insel bedeutet.
({6})
- Ich war häufig auf Fehmarn.
({7})
- Bei Tag und bei Nacht. Ich habe zum Beispiel einmal
ein Praktikum beim NABU-Wasservogelreservat Wallnau gemacht. Das könnten Sie auch gebrauchen. Dann
würden Sie sehen, welchen Naturwert diese Insel hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt heute der
Gesetzentwurf zur Ratifizierung des Staatsvertrages für
die Errichtung einer festen Fehmarnbelt-Querung vor.
Mit der Ratifizierung des Staatsvertrages würde das
Hohe Haus den politischen Willen für den Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung kundtun. Danach gäbe es keinerlei Möglichkeit mehr, politisch Einfluss zu nehmen.
Das ist an sich nicht schlecht. Wenn aber nicht alle Fragen geklärt sind, gibt es Probleme.
Aber Sie wollen die doch jetzt hoffentlich nicht noch
erläutern, Herr Kollege?
Vieles ist völlig ungeklärt. Sie sind nonchalant darüber hinweggegangen, Herr Kollege Storjohann.
({0})
Die Frage der Gefährdung des Schiffsverkehrs ist in
keiner Weise abschließend geklärt. Wären Sie am
4. Februar mit den Fähren von Scandlines mit hin- und
hergefahren, hätten Sie sich vom nautischen Verein ein
bisschen mehr Hintergrundwissen holen können.
Leider wird angezeigt, dass ich zum Ende kommen
muss.
({1})
Dass Sie zum Ende hätten kommen müssen!
Ich möchte Sie aber noch darauf hinweisen, dass
selbst der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in
der Verwaltung erhebliche Bedenken gegen das Projekt
geäußert hat.
({0})
Ich hoffe, dass im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens
bei Ihnen ein Umdenken einsetzt und Sie begreifen, dass
die feste Fehmarnbelt-Querung keine Zukunft hat - nicht
für Fehmarn, nicht für Schleswig-Holstein und auch
nicht für Deutschland.
({1})
Nun hat der Kollege Rainder Steenblock das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben es hier mit einem Verkehrsprojekt von gewaltigen
Dimensionen zu tun.
({0})
Es ist, wie Gero Storjohann richtig gesagt hat, das größte
Verkehrsprojekt der Europäischen Union, vor allen Dingen das größte in ganz Nordeuropa.
Es hat noch eine andere exorbitante Dimension: Es ist
das Verkehrsprojekt mit dem schlechtesten Kosten-Nutzen-Verhältnis, das wir je gehabt haben.
({1})
Nach einer Untersuchung der Universität Rostock hat
dieses Projekt ein Kosten-Nutzen-Verhältnis von
1 : 0,65. Das muss man sich einmal vorstellen. Beim Betrieb dieser Brücke wird jeder investierte Euro nicht nur
mit 35 Cent subventioniert; wir machen sogar ein Minus.
Alle, die sich ein bisschen mit Verkehrsplanung auskennen, wissen, Herr Großmann, dass wir im Bundesverkehrswegeplan nur Projekte mit einem Kosten-NutzenVerhältnis von 1 : 4 und höher finanzieren. Es gibt aber
auch Ausnahmen. In diesem Fall jedoch ergeben selbst
die besten Berechnungen nur ein Verhältnis von 1 : 1.
Es ist also ein unwirtschaftliches Projekt, ein Prestigeprojekt der Dänen -; man muss sich das einmal vorstellen, nach Schätzungen geht es um eine Summe zwischen 6 und 9 Milliarden Euro, also nicht um Peanuts;
wir finanzieren einen geringeren Teil davon - für ein
Verkehrsaufkommen, das auch nach Spitzenberechnungen nicht mehr als 8 000 Fahrzeuge pro Tag umfasst.
Dafür baut man normalerweise gerade einmal eine
Kreisstraße. Auch das macht das Kosten-Nutzen-Verhältnis so schlecht.
Herr Kollege Storjohann sagt, das Geld sei da. Lieber
Herr Kollege Storjohann, von diesem Geld ist überhaupt
nichts da. Jeder Cent, der in dieses Projekt investiert
werden muss, wird über Schulden finanziert. Das muss
in vielen Jahren über Mauteinnahmen wieder hereinkommen.
({2})
Herr Kollege Storjohann, wer darüber hinaus sagt, wir
müssten nichts davon bezahlen, hat den Staatsvertrag
nicht gelesen; denn in diesem Staatsvertrag steht, dass
bei einer veränderten wirtschaftlichen Grundlage ganz
neu über die Verteilung des Geldes geredet wird.
Das Risiko auch für den deutschen Steuerzahler besteht nicht nur in den Hinterlandanbindungen, deren
Finanzierung bisher niemand geklärt hat und die nicht
im Bundesverkehrswegeplan enthalten sind. Bisher gab
es überhaupt keinen Cent öffentliche Mittel dafür. Das
ist ein Heißluftballon, den Sie hier aufpusten, und zwar
mit Schulden, die Sie zusätzlich aufnehmen wollen. Niemand kann aber sagen, ob mit diesem Projekt eine Rendite nicht nur für die Unternehmer, sondern auch für den
Steuerzahler erzielt wird. Das ist eine Verkehrspolitik,
die auch ökonomisch völlig verfehlt ist.
({3})
Sie möchten offenkundig eine Zwischenfrage des
Kollegen Storjohann beantworten?
Das können wir den ganzen Abend so machen.
Nein, das machen wir sicher nicht.
Herr Steenblock, können Sie mir zustimmen, dass in
erster Linie auf Ihr Betreiben hin die Bahnstrecke Bad
Oldesloe-Neumünster mit einem Volumen von 330 Millionen Euro in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen wurde und dass im Zuge des Baus der FehmarnbeltQuerung das Projekt wegfällt, weil es sich dann erübrigt?
Ich bin mir nicht sicher, ob es sich erübrigen würde. Es
gibt aber natürlich die Vereinbahrung mit der Bahn AG,
dass eine von diesen beiden Strecken zur Anbindung an
das dänische Güterverkehrsnetz gebaut wird. Das hat
aber nichts mit unserer Kritik an der Fehmarnbelt-Querung zu tun.
Ich habe gerade deutlich gemacht: Die ökonomischen
Voraussetzungen sind extrem schlecht und unverant22542
wortlich. Das können wir keiner Bürgerin und keinem
Bürger erklären.
Die ökologischen Risiken dieses Projektes sind ebenfalls gewaltig. 20 Millionen Zugvögel fliegen auf dieser
Route. Diese Tatsache ist bei den Planungen überhaupt
nicht vernünftig berücksichtigt worden. Diese Brücke
würde mitten in einem Schweinswalschutzgebiet stehen.
Unter dieser Brücke würden sich Schiffsbewegungen
vollziehen, insbesondere von Öltankern. Es geht nicht wie
beim Nord-Ostsee-Kanal darum, dass ein paar Schiffe unterwegs sind. Im Beltbereich sind 66 000 Schiffe unterwegs. Diese müssen zukünftig durch drei Flaschenhälse
hindurch, die zwar jeweils 750 Meter breit sind. Das
sind aber 66 000 Schiffe. Dieses Risiko ist völlig unbeherrschbar.
Schauen wir uns die weiteren ökologischen Konsequenzen an: Bei der Öresund-Querung, die Sie ja berücksichtigt haben, gibt es ein System, das den Wasseraustausch in diesem Bereich realisiert und das garantiert
vernünftig ist. Das ist bei der Fehmarnbelt-Querung aus
Kostengründen aber nicht geplant worden. Das wird
- insbesondere im Hinblick auf den Wasseraustausch in
der Region zwischen Nord- und Ostsee bis hinunter in
die Beltregion - eine ökologische Katastrophe für die
Ostsee zur Folge haben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein letzter Aspekt.
Der Vergleich zwischen der Öresund-Region und der innerstädtischen Verbindung zwischen Kopenhagen und
Malmö zum einen und diesem Projekt zum anderen ist
absurd. Der Vergleich mit dem Tunnel, der unter dem
Ärmelkanal gebaut wurde, ist der richtige, weil auch damit Regionen durch ein extrem teures Verkehrsprojekt
miteinander verbunden wurden. Die Betreiber dieses
Tunnels sind pleitegegangen. Da sind Milliarden von
Steuergeldern vernichtet worden. Wir, die grüne Bundestagsfraktion, wollen unsere Steuerzahlerinnen und Steuerzahler davor bewahren, dass hier wieder Milliarden an
Steuergeldern für eine Verkehrspolitik verschleudert
werden, die nichts mit Nachhaltigkeit zu tun hat.
Vielen Dank.
({1})
Zum Abschluss dieses Tagesordnungspunktes hat der
Kollege Hans-Joachim Hacker für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach langwierigen Verhandlungen ist am
3. September 2008 der Staatsvertrag zum Bau einer festen Fehmarnbelt-Querung zwischen dem Königreich
Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet worden. Die Gespräche darüber reichen bis
zum Beginn der 90er-Jahre zurück. Die Bundesregierung
hat diesem Hohen Hause nun den dazugehörigen Gesetzentwurf vorgelegt.
Ich möchte eingangs dem Bundesverkehrsminister
ein Kompliment machen: Herr Minister Tiefensee hat
mit dem Vertragspartner fair verhandelt und dabei die
deutschen Interessen gut vertreten.
Der Inhalt des Vertrages sieht den Bau einer 19 Kilometer langen festen Querung des Fehmarnbelts vor. Darin festgelegt ist die Kostenträgerschaft. Darüber ist an
dieser Stelle schon gesprochen worden. Dänemark übernimmt die Kosten für den Bau der Brücke und die Hinterlandanbindung in Dänemark. Deutschland wird die
Hinterlandanbindung auf deutschem Hoheitsgebiet übernehmen. Das Land Schleswig-Holstein beteiligt sich mit
Infrastrukturmaßnahmen in Höhe von 60 Millionen Euro
am Gesamtvorhaben.
Ich möchte noch einmal unterstreichen: Dieser Staatsvertrag gründet auf Entscheidungen der Europäischen
Union, in denen es um TEN-Vorhaben geht. Die entsprechenden Beschlüsse sind im Jahr 2004 gefasst worden.
Daran war auch Deutschland beteiligt.
Ich weiß, das Projekt ist nicht unumstritten. Es gibt
begeisterte Befürworter, die vergleichbare Brückenprojekte als Argument heranziehen.
({0})
Es gibt aber genauso Skeptiker, zu denen zum Beispiel
Sie, Herr Steenblock, gehören. Die Argumente, die sachlich vorgetragen werden, kann man gut prüfen. Ich finde
nur, dass Sie das Bild in etwas zu düsteren Farben gemalt haben.
({1})
- Herr Steenblock, wir müssen die Fragen diskutieren,
die bislang nicht abschließend geprüft worden sind.
Hierbei geht es insbesondere - das ist angesprochen
worden - um die Sicherheit des Schiffsverkehrs, um den
Wasseraustausch zwischen der Nord- und der Ostsee, um
die Meeresfauna und um weitere Umweltaspekte. Das ist
völlig klar.
Das 2006 vom Bundesministerium für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung initiierte Umweltkonsultationsverfahren kam zu dem Ergebnis, dass das Vorhaben zwar
in vielen Bereichen Auswirkungen habe, aber dass die
Probleme, die sich abzeichnen, am Ende beherrschbar
seien. Das sind die Aussagen aus dem Umweltkonsultationsverfahren.
Bereits in diesem Umweltkonsultationsverfahren
wurde angekündigt, dass weitere Untersuchungen erfolgen, sobald eine Grundsatzentscheidung über die Realisierung einer festen Querung getroffen worden ist. An
diesem Punkt stehen wir heute. Das schließt auch eine
offene Prüfung der Frage ein, ob ein Brückenprojekt
oder eine Tunnelvariante verfolgt werden soll. Das sind
Fragen, die heute nicht beantwortet werden können und
- ich füge an - auch nicht beantwortet werden müssen,
weil zur Beantwortung dieser Fragen weitere Untersuchungen notwendig sind.
Die feste Fehmarnbelt-Querung ist nicht losgelöst
von der Entwicklung des Ostseeraumes zu betrachten.
Der Ostseeraum ist ein dynamischer Wirtschaftsraum
mit einem enormen Wachstumspotenzial. Potenziale sehen wir insbesondere im Ausbau von Wirtschaftskooperationen und der Entwicklung von Verkehren in dieser
Region. Eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur ist
eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich diese
Potenziale effektiv entwickeln können und der Ostseeraum im Wettbewerb mit anderen Wachstumsregionen
bestehen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe meinen
Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern und kenne die
kritische Position meiner Landesregierung zum Bau der
festen Fehmarnbelt-Querung.
({2})
Ich sehe die Chancen, die mit der festen Verbindung
zwischen Dänemark und Deutschland verbunden sind.
Ich sehe Chancen für den norddeutschen Raum insgesamt. Ich sehe aber auch Chancen für Mecklenburg-Vorpommern.
({3})
Im Gegensatz zu den Skeptikern, zu denen auch die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern gehört und
die hinhaltend Widerstand aufrechterhält, sehe ich keine
Gefährdung für den Hafenstandort Rostock. Rostock ist
und wird eine Drehscheibe des Verkehrs im Ostseeraum
bleiben, zum Baltikum, nach Skandinavien, Gedser,
Schweden. Das sind Perspektiven, um die wir uns allerdings kümmern müssen, das Land Mecklenburg-Vorpommern gemeinsam mit der Bahn und dem Bund.
Die Botschaft ist: Wir müssen die Hinterlandverkehre
stärken, das heißt die Bahnverbindung zwischen
Rostock und Berlin fertigstellen und die A 14 fertigstellen, damit die Hafenstandorte an der mecklenburgischen
Ostseeküste aufgewertet werden. Das ist eine Aufgabe,
die sich dem Bundestag stellt und die wir im Rahmen
der Gesetzgebung und der Beratung zum Bereich der Infrastrukturplanung längst angenommen haben.
Herr Kollege, wenn Sie freundlicherweise einmal
einen Blick auf die Uhr werfen, könnten Sie die außergewöhnliche Großzügigkeit des Präsidiums noch mit
einem Schlusssatz würdigen.
Herr Präsident, ich habe den Blick schon geworfen
und war mir darüber im Klaren, dass Ihre Ermahnung
gleich folgen wird.
({0})
Gestatten Sie mir einen abschließenden Satz. Wir
werden Gelegenheit haben, im Rahmen der Beratungen
zum Gesetzentwurf Expertengespräche zu führen. Dafür
setze ich mich ein. Ich vertraue darauf, dass die Fragen,
die im Raume stehen, im Rahmen der Umweltverträglichkeitsprüfung und des Planfeststellungsverfahrens
ernsthaft untersucht werden.
Herzlichen Dank. - Vielen Dank, Herr Präsident, für
Ihr Verständnis.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Ich vermute, dass trotz der erkennbar unterschiedlichen Beurteilung des Projekts Einvernehmen besteht,
den Gesetzentwurf auf der Drucksache 16/12069 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Das ist doch schon einmal etwas. Dann haben
wir das hiermit einvernehmlich so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 unserer Tagesordnung
auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Katja Kipping, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Anrechnung der Abwrackprämie bei
ALG II und Eingliederungshilfe
- Drucksache 16/12114 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Haushaltsausschuss
Die vorgesehenen Reden der Kollegen Karl
Schiewerling, Andrea Nahles, Heinz-Peter Haustein,
Katrin Kunert und Markus Kurth werden zu Protokoll
gegeben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12114 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch hierzu gibt
es offenkundig Einvernehmen. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Staffelt, Krista Sager, Silke Stokar von Neuforn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Privatsphäre in sozialen Netzwerken schützen
- Anbieter in die Pflicht nehmen
- Drucksache 16/11920 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Federführung strittig
1) Anlage 10
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Beatrix
Philipp, Rita Pawelski, Dr. Michael Bürsch, Manfred
Zöllmer, Gisela Piltz, Dr. Lothar Bisky und Grietje
Staffelt.
Die Vorteile von sozialen Netzwerken im Internet sind
anziehend: neue und alte Freunde finden, Kontakte knüpfen, Partner für Sport, Lernen und Freizeit entdecken
oder schneller und effizienter Karriere machen. Wer will
da nicht bei „StudiVZ“, „Xing“ oder „Facebook“ mitmachen und die Chancen der neuen Kommunikationsmöglichkeiten nutzen? In Deutschland sind rund zehn
Millionen, in Europa über 40 Millionen und weltweit
mehrere Hundert Millionen Menschen Mitglied in einem
Onlinenetzwerk - und täglich werden es mehr, die sich in
ihren Bann ziehen lassen.
Besonders aktiv sind dabei Junge: 68 Prozent der 14bis 19-Jährigen und 57 Prozent der 20- bis 29-Jährigen
nutzen die sozialen Onlinenetzwerke. Zwei von drei der
unter 29-Jährigen veröffentlichen Informationen über
sich im Web. Sie wollen kommunizieren, sie wollen Wissen und Informationen austauschen, sie wollen möglichst
viele Beziehungen aufbauen und pflegen. Und sie wollen
sich oft selbst so darstellen, wie sie sein möchten. Diese
Entwicklung begrüße ich, da Jugendliche heute mit den
neuen Möglichkeiten zu aktiven Gestaltern des Internets
werden und Massenmedien nicht mehr bloß konsumieren.
Trotz des oft besseren Wissens machen sie sich dabei
nicht immer bewusst, dass im Internet nichts privat ist,
nichts vergessen wird. Wenn sie sich ihre Profile basteln
und freiwillig Auskunft über ihre Hobbys erteilen, ihre
Kontaktdaten preisgeben oder eigene Filme und - zum
Teil sehr private - Fotos hinterlegen, wird nicht immer an
potenzielle Gefahren gedacht. Dass diese Informationen
missbraucht werden und in ungünstigen Situationen wieder auftauchen könnten, wird ausgeblendet. Das Magazin
„Der Spiegel“ stellt dazu in seiner aktuellen Ausgabe kritisch fest: „Begeistert, arglos und kaum gehemmt entblößen sie ihr Privatleben in der globalen Öffentlichkeit. Risiken und Nebenwirkungen sind beträchtlich - auch für
den Wert der menschlichen Bindung.“ Kurzum: Die jungen Nutzer kennen und schätzen die Vorteile von sozialen
Netzwerken, ihrer Risiken sind sie sich aber nicht ausreichend bewusst. Sie suchen über den Klick den Kick. Dabei vergessen sie, welche Folgen ihr Handeln haben
kann. Der beste Schutz der Privatsphäre besteht daher
darin, die jungen Netzwerknutzer zu sensibilisieren, sie
aufzuklären, ihnen klar zu machen, was bestimmte Bilder
oder Daten im Internet für ihr Leben, für ihre Karriere
bedeuten könnten.
Es ist deshalb richtig und wichtig, dass die Bundesregierung vielfältige Projekte fördert, die die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen im Onlinebereich
stärken und ihr Bewusstsein schärfen. Ich erinnere an das
medienpädagogische Projekt „Jugend Online“ und dessen aktuelle Kampagne „Zur Sensibilisierung von Jugendlichen im Umgang mit persönlichen Daten im Internet“. In Zusammenarbeit mit der Internetwirtschaft, dem
Jugendschutz und dem Datenschutz wird Jugendlichen im
Rahmen dieser Kampagne ein verantwortungsvoller Umgang mit persönlichen Daten in den sozialen Netzwerken
vermittelt. Im April wird dazu eine Fachtagung stattfinden. Ich erinnere an die Initiativen „Schulen ans Netz“
und „Schau hin! Was Deine Kinder machen.“ sowie die
Suchmaschine „Blinde Kuh“. Diese sind sehr gut nachgefragt - und erfolgreich. Ich erinnere auch an die Initiative „Ein Netz für Kinder“, die der Bundesbeauftragte
für Kultur und Medien zusammen mit der Bundesfamilienministerin 2008 gestartet hat. Diese Initiative fördert
gezielt qualitativ herausragende Internetangebote für
Kinder und bietet ihnen zudem mit „FragFINN.de“ einen
sicheren Surfraum. Das ist einzigartig, das ist vielversprechend! Vielen Dank dafür an Bernd Neumann und
Ursula von der Leyen.
Neben der Politik ist es aber hauptsächlich Aufgabe
von Eltern und Bildungseinrichtungen, Kindern und Jugendlichen einen kompetenten und kritischen Umgang
mit Onlinemedien und sozialen Netzwerken zu vermitteln
und sie für mögliche Probleme zu sensibilisieren. Aber
ehrlich: Viele Eltern sind bei diesen Themen doch oft
überfordert. Sie kennen die modernen Kommunikationsplattformen sowie spezifische Bezeichnungen und Begriffe nicht. Ihre Möglichkeiten, helfend oder steuernd
einzugreifen, sind - um es vorsichtig zu sagen - oft ziemlich begrenzt. Um mit dem Onlinetrend zu gehen, müssten
auch sie sich über neue Entwicklungen informieren und
dürfen keine Angst vor technischen Herausforderungen
zeigen - ansonsten werden sie von den jungen Internetnutzern abgehängt.
Medienkompetenz kann nicht verordnet werden - Medienkompetenz muss erlernt werden. Unterstützung erhalten Eltern und Lehrer dabei von denen, die soziale
Netzwerke betreiben. So stellt der Anbieter „StudiVZ“
eine Arbeitsmappe „mehr wissen. mehr schuelerVZ.net“
auf seiner Internetseite zur Verfügung. Damit soll Schülern durch verschiedene Übungen ein sicherer und überlegter Umgang mit dem „SchuelerVZ“ sowie mit anderen
vergleichbaren Onlinemedien nahegebracht werden.
Dies ist eine sehr kluge und weitsichtige Maßnahme des
Unternehmens.
Problembewusstsein haben die 17 führenden Website-Anbieter wie Facebook, Google/YouTube, MySpace,
studiVZ oder Microsoft Europe auch im Februar in Luxemburg bewiesen: Dort haben sie erstmalig eine europäische Vereinbarung zur Sicherheit für Minderjährige
bei der Nutzung von sozialen Netzwerken unterzeichnet.
Diese sieht unter anderem vor: Erstens: Der Zugang zu
privaten Profilen junger Nutzer wird über Suchseiten erschwert. Zweitens: Es wird „Alarmknöpfe“ beim Kontakt
mit mutmaßlichen Pädophilen geben. Drittens: Die Minderjährigen werden stets im Blick haben können, wer ihre
Einträge in Netzwerken einsehen kann. Ich bin mir sicher: Diese Vereinbarung wird zu mehr Sicherheit und
Vertrauen beitragen.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen: Politik und größtenteils auch die Anbieter haben
den Handlungsbedarf erkannt und ergreifen Maßnahmen
zum Schutz der Privatsphäre. Vor diesem Hintergrund
sind die Forderungen der Grünen überflüssig - zumal gerade auch die Novellierung des Datenschutzgesetzes ansteht. Es gehört aber auch hier zur Ehrlichkeit: Schärfere
Vorschriften werden aus dem Dschungel Internet keinen
friedvollen Kulturwald machen. Die Nutzung des Internets und seiner Möglichkeiten wird ein ständiger, eigenverantwortlicher Balanceakt zwischen der Faszination
des Möglichen und dem Beherrschen der Risiken bleiben.
Wenn man die letzten Wochen zurückverfolgt, könnte
man den Eindruck gewinnen, als ob es sich beim Thema
Datenschutz um ein völlig neues Thema handele: Neue
Ideen würden geboren, ein neues Rechtsgebiet würde entdeckt usw., so intensiv und auch umfangreich wie wir uns
derzeit mit den unterschiedlichen Facetten dieses - zugegebenermaßen nicht ganz einfachen - Themas beschäftigen.
Datenschutz ist kein neues Thema für uns, auch wenn
die sich häufenden Anträge der Opposition zu Themen,
die - wie man so schön sagt - gerade „in der Pipeline“
sind, sicherlich darauf abzielen, diesen Eindruck beim
Verbraucher zu erwecken. Fachbegriffe finden Eingang
in die Umgangssprache mit unabsehbaren Folgen, weil
der Manipulation Tür und Tor geöffnet und Angst verbreitet werden: „Scoring“, ein Verfahren aus dem Bereich
der Wahrscheinlichkeitsrechnung - nicht mehr und nicht
weniger -, hat angeblich den „gläsernen Menschen“ zur
Folge; „Datenschutzaudit“ vermittelt den - falschen Eindruck, Datensicherheit zu gewährleisten; „Listenprivileg“ könnte bei Unkundigen den Eindruck erwecken,
schon allein wegen des „Privilegs“ abgeschafft werden
zu müssen; „Arbeitnehmerdatenschutz“ bzw. die Notwendigkeit, in diesem Bereich zunächst einmal für Klarstellungen zu sorgen, könnte glauben machen, es gäbe ihn
nicht usw. usf.
Allein diese wenigen Themen diskutieren wir aktuell in
unterschiedlichen Kontexten, und wenn ich mir den uns
heute vorliegenden Antrag der Kolleginnen und Kollegen
des Bündnisses 90/Die Grünen ansehe, dann frage ich
mich ernsthaft: Glauben Sie tatsächlich, Kundige würden
nicht bemerken, dass Sie auf diese Art und Weise versuchen, die derzeit in der Debatte befindlichen, zum Teil
noch strittigen Grundsatzfragen in einem wichtigen, aber
zweifellos nicht „marktbeherrschenden“ Gebiet „ganz
schnell“ und „ganz einfach“ zu regeln?
Ich weiß, dass alle diese Aspekte und weitere sich in
unserem Gesetzentwurf zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung datenschutzrechtlicher Vorschriften wiederfinden, und Sie wissen das auch! Und dann
sage ich Ihnen ganz ehrlich: Wo bleiben denn Effizienz
und lösungsorientiertes Handeln, wenn wir alles doppelt
und dreifach beantragen, diskutieren, debattieren?
Die Bundesregierung hat die Vorkommnisse der vergangenen Monate zum Anlass genommen, das Bundesdatenschutzgesetz im Hinblick auf die technologischen Entwicklungen im Zeitalter von Computer, Internet, E-Mail
etc. unter die Lupe zu nehmen und den mit diesen technischen Möglichkeiten automatisch einhergehenden Risiken anzupassen. Es geht uns beim Datenschutz um den
sachgerechten und transparenten Umgang mit Daten und
den Versuch, die Menschen vor „anderem“ Umgang mit
ihren Daten zu schützen. Das einmal zum Grundsätzlichen!
Speziell im Bereich der sozialen Netzwerke haben wir
es mit personenbezogenen Daten zu tun, die die betroffenen Personen selbst und bewusst veröffentlichen, oft aber,
ohne die Konsequenzen zu bedenken. Und genau das
macht deutlich, dass der Gesetzgeber sich gegebenenfalls
in eine Zwickmühle wird begeben müssen: Die im vorliegenden Antrag im Fokus befindlichen sozialen Netzwerke
sind ein Bereich, der wegen der Sensibilität der hier veröffentlichten persönlichen Daten besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Und da es sich bei den Nutzern bzw. den
Betroffenen in vielen Fällen um junge Menschen, aber
auch Senioren handelt, die sich oftmals fast ahnungslos in
den hier angesprochenen Netzwerken bewegen, ist ein
sensibles Auswählen von geeigneten Maßnahmen mehr
als geboten.
Es kommt hinzu, dass festgestellt wurde, dass gerade
jüngere Leute sehr viel sorgloser mit der Veröffentlichung
von Einzelheiten aus ihrem persönlichen Umfeld umgehen, als dies ältere Menschen tun. Es wäre sicherlich interessant, sich auch mal intensiv mit gerade diesem Phänomen auseinanderzusetzen, denn ich vermute, dass es
Ergebnisse geben wird, die uns beunruhigen werden, weil
das im weiteren Sinne den Begriff „Tabu“ betrifft und den
Umgang damit; aber das will ich an dieser Stelle nicht
vertiefen. Nur eins: Wenn wir schon im Bereich des allgemeinen Datenschutzrechts feststellen müssen, dass wir
aufgrund des technologischen Fortschritts unsere rechtlichen Rahmenbedingungen optimieren müssen, dann
muss dies auf jeden Fall auch für den hier speziell angesprochenen Bereich der sozialen Netzwerke gelten.
Wie gesagt: Die sozialen Netzwerke sind vor allem ein
Charakteristikum der jüngeren Generationen, und gerade das muss uns zu denken geben. Auch ich sehe Handlungsbedarf. Ich würde ihn vor allem dann sehen, wenn
ich meinen Blick nur und ausschließlich auf den Status
quo des Datenschutzes richten würde. Wir sind jedoch im
„status nascendi“, was die Datenschutznovelle II und
alle damit verbundenen Überlegungen rund im Listenprivileg, Koppelungsverbot, Opt-in/Opt-out, Audit usw. betrifft. Und hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen,
das heißt, das Ergebnis bleibt abzuwarten, und erst danach können und wollen wir uns den einzelnen bereichsspezifischen Themen wie den sozialen Netzwerken oder
auch dem Arbeitnehmerdatenschutz en detail widmen.
Erst wenn wir uns bei den allgemeinen Regelungen auf
eine Lösung, die für alle Beteiligten angemessen und
tragbar ist, einigen können, dann können wir uns den
Sonderbereichen widmen. Wir müssen uns doch zunächst
über eine grundsätzliche Bewertung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung einigen, um dann ein Datenschutzrecht aus einem Guss umsetzen zu können.
Der Teufel steckt, wie immer, im Detail: Eine Opt-inRegelung nur für den Bereich der sozialen Netzwerke: Da
würden mich schon mal die Umsetzungsmöglichkeiten interessieren, die Praxis! Deutlicher wird es noch bei der
Zu Protokoll gegebene Reden
Problematik des Koppelungsverbots: Ich denke, hier sind
wir uns im Allgemeinen sehr einig, dass ein solches Sinn
macht. Aber in diesem speziellen Fall, bei sozialen Netzwerken, die die kostenfreie Nutzung ihrer Dienste eben
maßgeblich finanzieren, indem die persönlichen Daten
der Benutzer für gezielte Werbemaßnahmen eingesetzt
werden, frage ich Sie: Inwieweit hat die Politik das Recht,
in die Privatautonomie potenzieller Vertragspartner einzugreifen? Ich habe das schon einmal an anderer Stelle
gesagt: Es geht um die Freiheit des Einzelnen, den wir
zwar auf die Risiken aufmerksam machen müssen, dem
wir in schonungsloser Offenheit die Konsequenzen seines
Handelns aufzeigen müssen, kurz: den wir kompetent machen müssen aber ob es Sache des Gesetzgebers ist, darüber hinaus zu wissen, was für den Einzelnen „gut“ ist …
Da habe ich doch das Gefühl, dass wir uns auf ein Gebiet
begeben, das sehr genau umschrieben werden muss.
Dass der Jugendschutz dabei eine besondere Rolle
wird spielen müssen, erwähne ich nur der Vollständigkeit
halber; das setze ich einfach als selbstverständlich voraus. Identitätsklau, Datenmissbrauch, Mobbing - Themen, die wir nicht unter den Teppich kehren dürfen, die
die betroffenen Personen in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzen, ihre Würde und ihren
Platz im gesellschaftlichen Leben manchmal dauerhaft
zerstören, dem gilt es entgegenzuwirken; auch das ist
selbstverständlich. Wir sind am Anfang einer Debatte, die
- in der Folge der Diskussion um die Datenschutznovelle - zweifellos einen Teilbereich betrifft, der unserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Aber er bedarf auch eines sensiblen Umgangs, nicht nur in Bezug auf die Daten.
Das werden wir im Rahmen der Ausschussberatung nachweisen müssen.
Bereits vor über 45 Jahren sprach der kanadische Medienkritiker Marshall McLuhan vom „Global Village“,
dem „globalen Dorf“, zu dem die Welt im Zeitalter der
elektronischen Medien zusammenwachsen würde. Was in
den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts noch Zukunftsmusik war, ist heute Wirklichkeit geworden: Heute können
Menschen, die Zugang zu Computertechnik und globalen
Telefonnetzen haben, sich unabhängig von ihrem Standort in Sekundenbruchteilen miteinander in Verbindung
setzen, via E-Mail, Skype, SMS oder Twitter. Kommunikation ist grenzen- und schrankenlos geworden.
Diese Entwicklung hat viele positive Seiten. Durch die
weltweite Vernetzung von Kommunikationssystemen im
World Wide Web hat die wirtschaftliche Entwicklung an
Fahrt aufgenommen, und der grenzüberschreitende Austausch von Menschen erzeugt kulturelle Vielfalt und hilft
auf dem Weg in eine pluralistische Gesellschaft.
Doch birgt die Globalisierung der Kommunikation
auch Risiken. Das „globale Dorf“ bedeutet nicht nur
Freiheitsgewinn, sondern eröffnet auch neue Gefahren
für die private Autonomie von Bürgerinnen und Bürgern.
Wenn Menschen mit anderen Menschen via Internet kommunizieren, hinterlassen sie dabei zahlreiche persönliche
Daten. Damit entstehen und wachsen Möglichkeiten des
Missbrauchs. Die neuen Medien bringen Gefahren mit
sich, die erst langsam in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken und damit auch Gegenstand politischen Handelns werden müssen.
Eine wichtige Rolle spielen die in letzter Zeit sprunghaft angestiegenen Nutzerzahlen in sogenannten Sozialen
Netzwerken: Über 175 Millionen Nutzerinnen und Nutzer
bei „Facebook“, über 13 Millionen Mitglieder bei „StudiVZ/MeinVZ“ und Millionen von meist jungen Menschen auf anderen Plattformen ({0}) pflegen ihre sozialen
Kontakte über das Internet, indem sie umfassende Persönlichkeitsprofile erstellen und der globalen Öffentlichkeit präsentieren. Wenn die Nutzerinnen und Nutzer dieser Plattformen auch freiwillig im virtuellen Raum
agieren, so sind die damit verbundenen Risiken dennoch
sehr real. In Sozialen Netzwerken, die die Illusion eines
ausgelagerten Bereichs der Privatsphäre im Virtuellen
erschaffen, offenbaren sich Nutzerinnen und Nutzer
durch umfangreiche Profile und nehmen neuartige Risiken bedenkenlos und oft fahrlässig in Kauf. Denn allen
Diskussionen um Datenschutz zum Trotz, ist es das Interesse der Betreiber von Portalen wie „Facebook“, die
von den Beteiligten zur Verfügung gestellten Daten für
kommerzielle Zwecke zu nutzen. Die Betreiberfirmen halten fast uneingeschränkte Rechte für die Verwendung, Bearbeitung und Weitergabe der Inhalte und Daten ihrer
Kunden.
Die mit der Nutzung der Internetplattformen verbundenen neuartigen Datenschutzrisiken sind bislang noch
kaum erkannt, geschweige denn angemessen durch gesetzliche Regeln erfasst. 30 Jahre nach Einführung des
Datenschutzrechtes in Deutschland zeigt sich heute klar,
dass die derzeitige Fassung des Bundesdatenschutzgesetzes ({1}) den technischen und gesellschaftlichen Anforderungen an den Datenschutz in vielerlei Hinsicht
nicht mehr gerecht wird. Daher brauchen wir eine grundlegende Modernisierung, die den Datenschutz ins
21. Jahrhundert transportiert und Antworten auf sehr
grundsätzliche Fragen gibt: Wie verändert sich unsere
Gesellschaft durch das Internet? Wie weit kann oder muss
der Schutz der Privatheit für den Einzelnen gehen? Müssen Bürgerinnen und Bürger vor den Gefahren ihrer freiwilligen Aufgabe der Privatsphäre geschützt werden?
Als Gesetzgeber haben wir die Aufgabe, rechtliche
Rahmenbedingungen für einen effektiven Datenschutz in
Deutschland zu schaffen. Wir brauchen einen wirkungsvollen Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Der Einzelne muss das Recht haben, selbst
über Verwendung persönlicher Daten zu bestimmen und
selbstbestimmt, so die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, „zu entscheiden, wann und innerhalb welcher
Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“. Ziel der angestrebten Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes muss es daher sein, den Bürgerinnen
und Bürgern mehr Souveränität über ihre persönlichen
Daten zu geben. Die Weitergabe personenbezogener Daten muss in Zukunft von der vorherigen Zustimmung der
Betroffenen abhängig sein, da die bisher geltende Widerspruchslösung eine effektive Souveränität der Verbraucher nicht bewirken kann. Auch ein Koppelungsverbot,
das verhindern soll, dass Unternehmen VertragsabZu Protokoll gegebene Reden
schlüsse von der Einwilligung der Kunden in die Weitergabe ihrer Daten abhängig machen, ist aus Sicht der SPD
ein wichtiger Schritt.
Diese Forderungen, die von den Grünen in dem vorliegenden Antrag gestellt werden, haben wir in den aktuellen Beratungen zum anstehenden Gesetzgebungsverfahren zur Modernisierung des Bundesdatenschutzgesetzes
bereits diskutiert und berücksichtigt. Insofern mag der
vorliegende Antrag der Grünen zwar eine gute Diskussionsgrundlage sein. Die meisten darin geforderten Regelungen sind jedoch bereits Gegenstand des laufenden
Gesetzgebungsverfahrens. So wichtig eine Debatte über
Begriff der Privatsphäre im Zeitalter der Sozialen Netzwerke und des Internets auch sein mag: Der vorliegende
Antrag enthält eine lesenswerte Auflistung all dessen,
was heutzutage so im Internet alles passiert, bringt aber
bezüglich der Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes keine neuen Erkenntnisse.
Wenn wir vor nicht allzu langer Zeit davon sprachen,
dass es eine reale und eine digitale Welt gibt, so müssen
wir nunmehr feststellen, dass dies eine künstliche Betrachtungsweise ist. Die neuen Kommunikationsmedien
- etwa das Internet oder der Mobilfunk - sind längst integraler Bestandteil des Alltags der meisten Bürgerinnen
und Bürger geworden. Es wird gesimst, gegoogelt und
neuerdings getwittert, wenn man die entsprechenden
Dienste nutzt, um etwa seinen Freunden eine Kurznachricht darüber zukommen zu lassen, was man gerade so
macht. Soziale Beziehungen von Menschen in Freundeskreisen, Bezugsgruppen oder aufgrund beruflicher Kontakte gab es schon immer. Neu ist nur, dass dies über das
Internet grenzenlos angelegt wird, Kommunikation viel
schneller erfolgt und Informationen weltweit in Echtzeit
verbreitet werden. Private Äußerungen und Darstellungen finden vermeintlich intim am PC und in einer Gruppe
statt; tatsächlich erfolgen sie auf einem digitalen Marktplatz mit unzähligen Beobachtern. Dies birgt Gefahren gerade auch im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Wenn ich mir den Antrag der Grünen anschaue und
auch die momentan aktuellen Artikel zu diesem Thema, so
wird eine medial angefeuerte Debatte geführt, in der häufig die Angst vor Neuem zu dominieren scheint. Immer
wieder taucht - in unterschiedlichen Varianten - der sich
bewerbende Arbeitnehmer auf, der in irgendeinem
Onlinenetzwerk ein peinliches Partybild eingestellt hat
und deshalb den neuen Job nicht bekommt. Einmal
ehrlich: Wie realistisch ist es, dass ein Arbeitgeber seine
70 Bewerber googelt, bei jedem Bewerber auf mindestens
zehn Seiten geht und sich schließlich durch Abertausende
Privatfotos klickt und seine Bewerberentscheidung nicht
an harten Qualifikationskriterien, sondern an einem blöden Partyfoto orientiert? Das scheint zwar ein zeitungsgerechtes, aber wohl eher virtuelles Problem zu sein. Und
ist es wirklich eine neue Erkenntnis, die uns „StudiVZ“
gebracht hat, dass Studenten gerne feiern und sich dabei
womöglich fotografieren? In dieser Debatte wären ein
bisschen weniger Aufgeregtheit, Untergangsstimmung
und vermeintliche Horrorszenarien hilfreich.
Wenn wir den Datenschutz den aktuellen gesellschaftlichen und technischen Erfordernissen anpassen wollen,
müssen wir auch die sozialen Onlinenetzwerke einbeziehen. Hier sind aus meiner Sicht drei Adressaten zu benennen: der Staat und Gesetzgeber, die Diensteanbieter und
die Verbraucherinnen und Verbraucher selbst.
In drei aktuellen Gesetzesvorhaben beschäftigten wir
uns als Gesetzgeber derzeit mit Fragen der Modernisierung des Datenschutzes. Die 1. Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes sieht mehr Transparenz bei ScoringVerfahren vor, in denen eine auch für soziale Netzwerke
geltende Verwirklichung des Prinzips der Datensparsamkeit zu beachten ist. Die weiteren beabsichtigten Änderungen des Bundesdatenschutzgesetzes sind Ergebnis des
Datenschutzgipfels. Hier geht es insbesondere um die
Frage der Einwilligung zu Werbung oder die Weitergabe
persönlicher Daten. Wir haben die Interessen der Bürgerinnen und Bürger, deren Daten häufig zum Handelsobjekt werden, zu beachten. Wir brauchen dringend ein
Datenaudit. Mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Telefonwerbung werden wir aktuell die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher verbessern, damit der unerlaubte
Eingriff in die Privatsphäre der Verbraucherinnen und
Verbraucher ein Ende findet.
Ich bin dafür, einige Spezifika der Onlinenetzwerke mit
einzubeziehen, weil niemand zu Schaden kommen soll,
nur weil er Dinge über sich veröffentlicht hat, die er später bereut. Deshalb brauchen wir ein digitales Verfallsdatum für Daten. Profile müssen rückhaltlos löschbar sein.
Das Internet muss auch vergessen können. Es ist notwendig, den Nutzern die Möglichkeit einzuräumen, in verschiedenen Stufen den Zugang zu persönlichen Daten zu
sichern, damit allzu Privates nur für einen ausgesuchten
Personenkreis einsehbar ist. Das Prinzip der Datensparsamkeit muss grundsätzlich gelten. All dies müssen die
Anbieter gewährleisten.
Aber auch die Verbraucherinnen und Verbraucher
müssen ihr Verhalten überprüfen und ihre Kompetenz im
Umgang mit Daten schärfen. Unterschiedliche E-MailAdressen, Nicknames zur Wahrung einer Anonymität und
die Vergegenwärtigung, dass online auch breite Veröffentlichung bedeutet, muss in das Bewusstsein der Nutzer
dringen. Auch die digitale Welt ist real.
Soziale Netzwerke sind eine neue Erscheinung im
Netz, und sie bergen auch Gefahren. Wir haben diese im
Blick - auch bei den aktuellen und anstehenden Gesetzesnovellierungen. Der Antrag der Grünen ist in vielen
Punkten widersprüchlich und wenig praxisrelevant. Wir
werden ihn deshalb ablehnen.
Es ist gerade mal einen Monat her, dass „Facebook“,
eines der größten Social Networks, versuchte, klammheimlich seine Nutzungsbedingungen zu ändern. Es gab
einen Sturm der Entrüstung und „Facebook“ ruderte zurück. Es ist ein Jahr her, dass „StudiVZ“ die Daten seiner
Nutzer an die Werbewirtschaft verkaufen wollte. Es gab
einen Aufschrei der Entrüstung und „StudiVZ“ ruderte
zurück. Die Nutzer sind aufmerksamer geworden, wenn
es um ihre Daten geht. Soziale Netzwerke können nur
Zu Protokoll gegebene Reden
dann erfolgreich sein, wenn sie von vielen Menschen vertrauensvoll genutzt werden. Wer den Datenschutz mit Füßen tritt, bekommt die Quittung. Es ist ein ermutigendes
Zeichen, dass sich funktionierender und praktizierter Datenschutz wirtschaftlich lohnt.
Lange schon überfällig ist in diesem Zusammenhang
auch ein Datenschutzaudit-Gesetz - ein Gesetz übrigens,
das die Antragsteller des Antrags, über den wir hier diskutieren, nämlich die Grünen, sieben Jahre lang nicht auf
die Reihe bekommen haben. Sie tun jetzt auf einmal so,
als wäre ein Gütesiegel eine ganz tolle neue Idee. Datenschutzgütesiegel sind eine ganz tolle Idee. Aber sie ist
nicht neu. Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, hatten sieben Jahre lang Zeit, als Sie
hier regiert haben, das umzusetzen. Und jetzt tun Sie so,
als wäre Ihnen das auf einmal eingefallen. Datenschutzaudit und Datenschutzgütesiegel sind notwendig,
damit die Nutzer sich orientieren können. Die Gütesiegel
sind ein echter Marktvorteil, denn mit steigendem Augenmerk auf Datenschutz gewinnt ein solches Siegel auch
wirtschaftlich erheblich an Bedeutung.
Das „Web 2.0“, das interaktive Internet, ist gerade für
Jugendliche längst Realität und Bestandteil ihres Alltags.
Das „Web 2.0“, das sind social networks wie „StudiVZ“,
„Facebook“, „MySpace“, Plattformen wie „YouTube“,
„Flickr“ und andere. Der enorme Erfolg solcher Plattformen zeigt, dass das Internet für viele Menschen inzwischen ganz selbstverständlich zum sozialen Raum gehört - und dass es eben nicht mehr ein anonymes Angebot
zum Durchsurfen und Anklicken ist, was die meisten Menschen heute suchen. Vielmehr wollen sie ihre sozialen
Kontakte nicht nur in der Realität, sondern auch virtuell
pflegen.
Es ist ja im Grunde eine Binsenweisheit, aber aus gegebenem Anlass möchte ich das hier an dieser Stelle
nochmals ganz deutlich betonen, weil die Bundesregierung das nämlich offensichtlich noch nicht wirklich mitbekommen hat: Das Internet gehört zum Alltag. Und es
wird für immer mehr Menschen immer selbstverständlicher zum Alltag gehören, und zwar für ganz normale
Menschen. Es ist schon eine Frechheit, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage zum
„Gemeinsamen Internetzentrum“ behauptet, dass gerade
soziale Netzwerke wahre Brutstätten des Terrorismus
seien. Gegen derartige Behauptungen muss man sich hier
einmal ganz deutlich verwahren. Wir reden heute nämlich
nicht über Datenschutz in Terrornetzwerken, sondern
über Datenschutz für Sie, für Ihre Kinder, für Ihre Nachbarn, kurz, für die ganz normalen Menschen in diesem
Land, die im Gegensatz zur Bundesregierung schon im
Informationszeitalter angekommen sind.
Ebenso ist es eine Binsenweisheit, dass das Internet
kein rechtsfreier Raum ist. Im Internet ist es strafbar, jemanden zu beleidigen. Im Internet ist es strafbar, jemanden sexuell zu belästigen. Im Internet ist es strafbar,
Volksverhetzung zu betreiben. Man darf hier nicht so tun,
als gälte im Internet kein Recht und Gesetz, weshalb es
für den virtuellen Raum erst erfunden werden müsste.
Auch das Datenschutzrecht gilt im Internet. Wer im Internet illegal Daten verbreitet, verstößt ebenso gegen das
Gesetz wie jemand, der das auf Papier tut. Natürlich ist es
viel leichter, mit digitalen Daten Schindluder zu treiben.
Deshalb fordert die FDP-Fraktion schon seit vielen Jahren endlich eine grundsätzliche Modernisierung des Datenschutzrechts. Ein Datenschutzgesetz, das noch aus
einer Zeit stammt, als Telefone Wählscheiben hatten,
kann im Informationszeitalter nicht mehr in allen Bereichen seinen Zweck erfüllen. Die FDP-Bundestagsfraktion ist daher sehr klar der Ansicht, dass das Datenschutzrecht novelliert und verbessert werden muss, um
auf die Herausforderungen der neuen Medien reagieren
zu können. Die FDP-Bundestagsfraktion ist aber ebenso
klar der Ansicht, dass es nicht sinnvoll ist, eine Lex
„StudiVZ“ zu machen. Wir brauchen generelle Regeln,
die natürlich auch in sozialen Netzwerken gelten.
Ich kann das hier nur nochmals betonen: Die Grünen,
über deren Antrag wir heute hier beraten, haben sieben
Jahre Regierungsverantwortung getragen, in denen sie
nichts von dem umgesetzt haben, was sie heute hier fordern. Und dass sie dann noch so tun, als wären das spezielle Probleme von sozialen Netzwerken, ist besonders
unredlich. Entweder die Grünen haben in den letzten zehn
Jahren die technologische Entwicklung verschlafen oder
sie stürzen sich jetzt auf ein Einzelproblem, weil Sie nicht
das ganze Datenschutzrecht im Blick haben, sondern nur
im Klein-Klein herumwursteln, hier mal eine Regelung
für „StudiVZ“, dort mal eine Regelung für „Facebook“.
Notwendig ist eine grundsätzliche Reform des Datenschutzrechts, um dieses technikfest zu machen! Notwendig ist, generelle Regelungen für das Informationszeitalter zu finden, in dem Daten digital vorliegen. Doch
gerade das leistet dieser Antrag nicht. Dieser Antrag beschränkt sich auf einen winzigen Ausschnitt. Damit kommen wir nicht weiter. Datenschutzreformen ja, aber dann
bitte endlich richtig!
Bei einer grundsätzlichen Reform des Datenschutzes
muss insbesondere im Vordergrund stehen, dass jeder
Nutzer unmissverständlich weiß, was mit seinen Daten
passiert. Ein deutlicher und klar verständlicher Hinweis
vor Abschluss des Beitritts zu einem social network auf
die Datennutzung und -verarbeitung ist erforderlich. Im
Änderungsgesetz zum Telemediengesetz, zu dem gerade
diese Woche eine Anhörung im Kulturausschuss stattgefunden hat, haben wir gefordert, dass die Anbieter verpflichtet sein sollen, die Nutzer über den Umgang mit ihren Daten zu informieren. Das gilt selbstverständlich
auch für soziale Netzwerke.
In dem Antrag der Grünen sind dankenswerterweise
auch zwei sehr wichtige Aspekte angesprochen, die aus
Sicht der FDP-Fraktion zentrale Bedeutung für den Datenschutz haben: die Eigenverantwortung der Nutzer und
die Selbstverpflichtung der Anbieter. Jeder Nutzer ist für
seine Daten verantwortlich! Wer auf „YouTube“ Videos
einstellt, auf denen er sich, verzeihen Sie den Ausdruck,
stockbesoffen auf einer Party daneben benimmt, wer bei
„StudiVZ“ sein gesamtes Liebesleben preisgibt, der muss
wissen, dass das Internet kein geschlossener Freundeskreis ist. Der sorglose Umgang mit persönlichsten Daten
gibt Anlass zu größter Sorge. Denn die besten Regeln zum
Datenschutz nützen niemandem, der freiwillig seine PriZu Protokoll gegebene Reden
vatheit aufgibt. Hier muss mit Bildung und Aufklärung
gegensteuert werden. Der Wert der Privatheit, die
Einhaltung einer gewissen „Schamzone“ muss als gesellschaftlicher, ja zivilisatorischer Wert im Bewusstsein
verankert bleiben. Dieses Bewusstsein und die Eigenverantwortung der Menschen kann aber kein Gesetz vorschreiben. Zu Recht beklagen wir immer wieder, dass der
Staat die Privatheit des Einzelnen nicht ausreichend achtet, dass er die Menschen ausspähen, abhören und überwachen will. Doch eine freie Gesellschaft darf den Wert
der Privatsphäre nicht allein auf den Staat beziehen, sondern muss die Menschenwürde, aus der dieser Wert folgt,
auch insgesamt als höchstes Gut achten.
Daher ist es auch richtig, dass die Anbieter von sozialen Netzwerken ihrerseits datenschutzfreundliche Angebote machen. Die Transparenz, die ihnen schon gesetzlich
auferlegt ist, und der Grundsatz der Datensparsamkeit
müssen die Grundlage bilden. Es darf nicht von vornherein angenommen werden, dass jeder, der sich in einem
sozialen Netzwerk anmeldet, mit der größtmöglichen
Öffentlichkeit einverstanden ist, sondern umgekehrt, dass
er zunächst nur mit der für die Teilnahme notwendigen
Öffentlichkeit einverstanden ist. Die Grundeinstellungen
so zu wählen, dass alles offengelegt wird, ist damit nicht
zu vereinbaren. Hier ist es ein richtiger Schritt, dass sich
die großen Anbieter am 10. Februar 2009 - einen Tag
übrigens vor Einbringung dieses Antrags - gegenüber
der EU verpflichtet haben, bestimmte Mindeststandards
einzuhalten und diese bis zum April zu implementieren.
Insoweit hat sich einiges aus dem Antrag, über den wir
heute hier beraten, bereits erledigt.
Das Problem des Datenhandels und der Verwendung
der Daten durch die Anbieter selbst zur Erstellung umfassender Nutzerprofile kann und muss mit den allgemeinen
Regeln des Datenschutzrechts gelöst werden. Hier ist allerdings zu beachten, dass viele der in Rede stehenden
Angebote aus dem außereuropäischen Ausland stammen.
Für deutsche Anbieter gilt selbstverständlich das Bundesdatenschutzgesetz - welches hoffentlich in naher Zukunft endlich in der Informationsgesellschaft ankommt.
Das Internet vergisst nicht: weder, welche Webseiten
man besucht hat, welche Flüge, Bücher oder sonstigen
Waren man gekauft hat, noch Informationen, die man irgendwann einmal eingestellt hat. Besonders brisant ist
das bei privaten oder gar intimen Nachrichten, Videos,
Fotos, Kommentaren usw. auf Webseiten, Blogs oder
Hilfe-Foren. In besonderem Maße gilt das auch für soziale Netzwerke wie „MySpace“, „StudiVZ“, „Facebook“,
„StayFriends“ und Ähnliche. Die Verbreitung und Verwendung von solchen sensiblen persönlichen Daten sollte
vor Missbrauch geschützt werden. Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Wir brauchen rechtliche Regelungen, denn
eines ist doch klar: Das althergebrachte Bundesdatenschutzgesetz ist nicht mehr in der Lage, auf die digitalen
Entwicklungen und den technischen Fortschritt angemessene Antworten zu geben. Es ist nicht nur verstaubt, es ist
völlig antiquiert!
Im vorliegenden Antrag der Bündnisgrünen werden
viele sehr wichtige und drängende Fragen angesprochen.
Die Linke unterstützt diesen Antrag! Die meisten der von
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, vorgeschlagenen
Veränderungen halten wir für notwendig, darum fordern
wir sie seit vielen Jahren! Um es nochmals deutlich zu
machen: Es geht hier nicht um parteipolitische Spielchen,
sondern darum, die Userinnen und User effektiv vor dem
Missbrauch ihrer Daten zu schützen! Nur wer sich sicher
sein kann, dass seine oder ihre persönlichen Daten nicht
für kommerzielle Zwecke verwendet oder verkauft werden, wird weiterhin am digitalen Fortschritt durch soziale
Netzwerke aktiv teilhaben wollen.
Für die Linke ist deswegen besonders wichtig, dass
den Nutzerinnen und Nutzern zu jeder Zeit die Entscheidung obliegt, wann und unter welchen Umständen ihre
Daten für welche Zwecke genutzt werden können und sollen. Dazu müssen sie vorab ausdrücklich zustimmen und
nicht etwa nur im Nachhinein die Möglichkeit haben, dies
zu untersagen. Transparenz, Anonymität, Entscheidungshoheit und Selbstbestimmung sind da die entscheidenden
Schlagworte für die digitale Generation!
Die aktuelle Debatte um die Veränderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen von „Facebook“ zeigt,
dass die Nutzerinnen und Nutzer bei einer Verschlechterung ihres Spielraums schon in hohem Maß sensibel reagieren. Hier muss dennoch weiterhin viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Nur wer seine Rechte kennt, kann
sie auch wahrnehmen! Nur durch Selbstverpflichtungserklärungen der Anbieter oder durch bessere Aufklärung
der Nutzerinnen und Nutzer werden wir keinen besseren
digitalen Datenschutz bekommen. Verstöße durch kommerzielle Weitergabe oder Verwendung, durch Datendiebstahl und Datenmissbrauch müssen effektiv sanktioniert werden. Denn es gibt sie, die neue digitale Identität!
Diese müssen wir unter allen Umständen schützen!
Lassen Sie uns einen vorbildlichen Datenschutzstandard für die digitale Welt schaffen, einen Datenschutzstandard, der die Herausforderungen des Netzes und insbesondere der sozialen Netzwerke effektiv meistern und
international seinesgleichen suchen wird.
Vielleicht haben die Redakteurinnen und Redakteure
des Magazins „Der Spiegel“ unseren Antrag gelesen, der
heute hier in erster Lesung debattiert wird. Das Magazin
beschäftigt sich in seiner aktuellen Titelgeschichte mit
dem Phänomen sozialer Netzwerke im Internet. Gleichzeitig findet in diesen Tagen die IT-Messe CeBIT statt, die
sich in diesem Jahr dem Motto „Webciety“ verschrieben
hat. Das Thema soziale Netzwerke ist jedenfalls endlich
in der öffentlichen Debatte angekommen. Und ich freue
mich, dass sich heute auch der Deutsche Bundestag damit
auseinandersetzt.
Für uns ist klar: Soziale Netzwerke sind eine neue
Form der Massenkommunikation. Millionen von Menschen
haben sich ein persönliches Profil bei StudiVZ, Facebook,
MySpace oder anderen Plattformen eingerichtet. Hier
verlinken sie sich mit Bekannten und Freunden, tauschen
Bilder oder sogar Videos und bleiben in täglichem Kontakt
Zu Protokoll gegebene Reden
oder nehmen Kontakt mit Menschen auf, die sie im Internet
wiedergefunden haben. Viele nutzen diese Plattformen
sogar, ganz neue Leute kennenzulernen. Das alles, kann
man sagen, ist eine großartige Erfolgsgeschichte im Internet. Der Wunsch der Menschen nach Kommunikation hat
hier einen neuen Kanal gefunden. Es ist daher wenig
verwunderlich, dass soziale Netzwerke in Deutschland
regelmäßig die Klickstatistiken anführen.
Aber warum beschäftigt sich der Deutsche Bundestag
hiermit? Die Antwort ist eindeutig: weil in der schönen
Welt sozialer Netzwerke auch Gefahren lauern, für die
wir eine politische Verantwortung tragen. Diese sehen
wir vor allem im Bereich des Datenschutzes und der Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer. Soziale Netzwerke
sind, das muss man auch einmal in aller Deutlichkeit sagen, ein ökonomisches Geschäftsfeld im Internet. Hinter
allen großen Plattformen stehen große Unternehmen, die
letztlich mit diesen Plattformen Geld verdienen wollen.
„StudiVZ“ und „SchülerVZ“ gehören zum HoltzbrinckVerlag, „wer-kennt-wen“ zu RTL, die „Lokalisten“ zu
ProSiebenSat.1, „MySpace“ zum Medienimperium von
Rupert Murdoch, Microsoft hält Anteile von „Facebook“
usw. usf.
Ihr Ziel ist es, die Nutzerdaten in ökonomische Gewinne
umzumünzen - und zwar mittels personalisierter Werbung.
Warum, um bei den Klischees zu bleiben, einem männlichen
Nutzer nicht Autowerbung präsentieren, bei einer weiblichen Nutzerin wiederum für Make-up werben? Das verhindert Streuverluste und erhöht die Werbeeinnahmen,
weil die Werbenden zielgenauer ihre Klientel erreichen.
Das Problem daran ist, dass dazu zum Teil äußerst persönliche Informationen über die Nutzerinnen und Nutzer
gesammelt und verwendet werden müssen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, wir wollen personalisierte Werbung nicht verbieten. Aber wir wollen Transparenz und bewusste Entscheidungen der Nutzerinnen und
Nutzer. Deshalb plädieren wir in unserem Antrag ganz
klar für eine Opt-in-Regelung. Die Anbieter sozialer
Netzwerke sollen persönliche Daten nur verwenden oder
mit ihnen handeln können, wenn die Nutzerinnen und
Nutzer dem vorher ausdrücklich zugestimmt haben. Bisher
ist es genau anders herum: Sie müssen personalisierter
Werbung erst widersprechen, wenn sie keine wollen.
Nach Ansicht unserer Fraktion darf jedenfalls die Erwirtschaftung ökonomischer Gewinne nicht auf Kosten der
Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer gehen.
Zu Transparenz gehört für uns im Übrigen auch, dass
die Anbieter jede Datenverwendung und -weitergabe
protokollieren. Nutzerinnen und Nutzer sollen das Recht
erhalten, auf Wunsch nachvollziehen zu können, was mit
ihren persönlichen Daten geschehen ist, welchen Weg sie
gegangen sind. Ich bin mir ganz sicher: Das erhöht den
Druck auf die Anbieter, wirklich sorgsam mit Nutzerdaten
umzugehen.
Darüber hinaus sehen wir die absolute Notwendigkeit,
dass die sozialen Netzwerke in Deutschland einen einheitlichen Mindeststandard in Datenschutzfragen gewährleisten. Denn was nutzt es Nutzerinnen und Nutzern, auf ein
soziales Netzwerk umzusteigen, das hohe Datenschutzstandards gewährleistet, alle Freunde und Bekannte sich
aber in einem anderen Netzwerk bewegen? Diese Art von
Gruppendruck darf man keineswegs außer Acht lassen.
Wir begrüßen daher ausdrücklich die europäische
Selbstverpflichtung, die einige Anbieter im Februar im
Rahmen des „Safer Internet Day“ eingegangen sind. Die
sozialen Netzwerke auf dem deutschen Markt sollten jetzt
nachziehen und sich zu Grundregeln verpflichten. Das
schützt nicht nur die Privatsphäre der Nutzerinnen und
Nutzer, es schafft vor allem Vertrauen auf Kundenseite.
Dass dies notwendig ist, haben ja die vehementen und
massenweisen Reaktionen auf die Änderungen der Geschäftsbedingungen von „Facebook“ vor wenigen Wochen gezeigt. Der Anbieter musste inzwischen zurückrudern und lässt jetzt sogar die Grundsätze des Netzwerks
von den Userinnen und Usern mitbestimmen.
Neben allen Datenschutzfragen haben soziale Netzwerke im Internet ein ganz anderes Problem verschärft:
das des Identitätsdiebstahls und -missbrauchs. Nichts ist
leichter, als sich im Netz als jemand anderes auszugeben
und Schindluder in fremdem Namen zu treiben. Die Anonymität des WWW lässt Hemmschwellen sinken. Mobbing
im Internet ist heute leider keine Seltenheit mehr. Auch
diesem Problem müssen sich die Anbieter stellen. Sie
müssen auf Missbrauchsfälle zügig reagieren. Dazu gehört
nicht nur eine gewissenhafte Prüfung, sondern vor allem
auch eine Weitermeldung schwerster Verstöße an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden. Nur weil Mobbing
im virtuellen Raum stattfindet, ist es dennoch Realität!
Unser Antrag enthält noch zahlreiche weitere Forderungen. Dass auch die Nutzerinnen und Nutzer selbst eine
Verantwortung für den Umgang mit ihren persönlichen
Daten tragen, möchte ich hier ganz klar herausstellen.
Nicht jede private Information gehört ins Netz! Deshalb
müssen wir die Menschen, allen voran die Jüngsten in
unseren Schulen, dafür sensibilisieren, was Privatheit im
weltweiten Netz bedeutet. Was hier einmal online gestellt
wurde, ist im schlimmsten Fall für alle Zukunft digital
archiviert. Im Klartext heißt das: Die Vermittlung von
Medienkompetenz muss weiter ausgebaut werden. Wer im
Internet navigiert, braucht entsprechende Kenntnisse und
Fähigkeiten.
Ich bin mir sicher, dass der Siegeszug sozialer Netzwerke durch mehr Datenschutz nicht gefährdet ist und
auch die Nutzerinnen und Nutzer in ihren Gewohnheiten
nicht eingeschränkt werden. Es wäre doch schön, wenn
soziale Netzwerke Spaß machen und dabei sicher sind!
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/11920 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung ist
strittig. Darüber müssen wir also befinden. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung
beim Innenausschuss, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Kultur
und Medien.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Kultur und Medien.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? ({0})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Ihre Prognose, Frau Schewe-Gerigk, bestätigt sich nach
Eindruck des Präsidiums nicht. Dieser Überweisungsvorschlag hat keine Mehrheit gefunden.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, also
dem Innenausschuss die Federführung zu übertragen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der
Überweisungsvorschlag mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Volker Beck ({1}), Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsklarheit und Transparenz schaffen Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen
kommunaler Gesellschaften bundesrechtlich
eindeutig normieren
- Drucksache 16/11826 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier sollen, wie in der Tagesordnung ausgewiesen, die Reden zu Protokoll genommen werden. Es geht
um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Günter
Krings, Klaus Uwe Benneter, Dr. Max Stadler, Katrin
Kunert und Britta Haßelmann.
Ein „Sondergesellschaftsrecht“ für private Unternehmen, die von der öffentlichen Hand geführt werden, dieser Virus hat nun auch die Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen befallen, nachdem es Mitte letzten Jahres noch
die FDP war, die mit ihrem Antrag „Mehr Transparenz für
kommunale Unternehmen“ anscheinend der Infektionsherd war. Ich hatte damals Behandlungsvorschläge gemacht, wie der Patient gesunden kann. Liest man den Antrag der Grünen, sind diese anscheinend nicht ernst
genommen worden, und nun ist der nächste Patient auf
der Krankenstation angekommen.
Wenn die Grundsatzentscheidung einmal gefallen ist,
dass Kommunen bestimmte Tätigkeitsfelder in einer privatrechtlichen Gesellschaft organisieren dürfen, dann ist
diese Entscheidung zu respektieren. Daher kann ich es
nicht nachvollziehen, dass immer wieder versucht wird,
daran etwas zu ändern und Ausnahmen zu schaffen, die
sich explizit auf kommunal geführte private Gesellschaften beziehen; selbst wenn es sich um so ein vernünftiges
und richtiges Anliegen handelt wie die Transparenz einer
Gesellschaft. Wer unbedingt eine privatrechtliche Gesellschaft gründen will, muss eben auch deren Rechtsregime
akzeptieren. Unser Gesellschaftsrecht ist kein kaltes Büffet, von dem man nach Belieben auswählen kann.
Die Antragsteller zeichnen in ihrem Antrag ein arges
Zerrbild der kommunalpolitischen Wirklichkeit und
scheuen sich nicht, dies auch noch explizit herauszustreichen. Sie beklagen sich darüber, dass „kleinere Gemeinderatsfraktionen in den Aufsichtsratsgremien dieser Gesellschaft oftmals nicht vertreten sind“.
Dank dieser Passage wissen wir nun, dass dieser Grünen-Antrag jedenfalls nicht uneigennützig gestellt wurde.
Wenn eine kleine Fraktion in einem Aufsichtsrat allerdings keinen Sitz abbekommt, dann hat das eben nichts
mit mangelnder Transparenz, sondern etwas mit ihren Ergebnissen bei den Kommunalwahlen zu tun. Demokratische Entscheidungen müssen aber auch dann akzeptiert
werden, wenn sie einem selbst wehtun - auch die Fraktion
der Grünen sollte das nach über drei Jahren Opposition
langsam wieder verinnerlichen.
Wenn Sie es schon selbst in den gerade einmal zwei
Seiten Ihres Antrags nicht tun, will ich zumindest versuchen, inhaltlich auf Ihr vermeintliches Anliegen einzugehen.
Ihr Vorschlag ist zunächst schlicht verfassungswidrig.
Im Gegensatz zum damaligen FDP-Antrag wollen Sie die
Verschwiegenheitspflicht ja nicht nur für die Aufsichtsratsmitglieder von Gesellschaften aufheben, bei denen
die Städte und Gemeinden Alleingesellschafter sind, sondern Sie wollen sie auch noch ausdehnen auf solche Gesellschaften, in denen die Kommune mehrheitsbeteiligt
ist. Dieser Vorschlag verletzt ohne zwingenden Grund die
Eigentumsrechte der privaten Aktionäre und ist mit
Art. 14 GG unvereinbar. Sie greifen durch diese Forderung in Rechte Privater ein, die nicht nur durch das Gesellschaftsrecht geschützt sind, sondern auch durch die
Verfassung.
Mit Ihrer zweiten Forderung schießen Sie jedoch den
Vogel ab. So ganz geheuer scheint es Ihnen mit der Einbeziehung der kommunalen Mehrheitsgesellschaften in
die Aufhebung der Verschwiegenheitspflicht dann doch
nicht zu sein, denn der Grundsatz der Öffentlichkeit kann
auf Gemeinderatsmitglieder und Medienvertreter beschränkt werden.
Um diesen bizarren Vorschlag einmal in einem Szenario zu veranschaulichen: Wenn das Gemeinderatsmitglied etwas aus der Aufsichtsratssitzung zu einem Journalisten sagt, dann gibt es am nächsten Tag einen Bericht
in der Zeitung. Wenn das Aufsichtsratsmitglied eines privaten Gesellschafters etwas in der Öffentlichkeit ausplaudert, gibt es am nächsten Tag Besuch vom Staatsanwalt. Das ist an Naivität wirklich nicht zu überbieten.
Und vielleicht hat diese naive Herangehensweise an die
schwierigen Probleme der Steuerung kommunaler Unternehmen ja auch etwas mit Ihren kommunalen Wahlergebnissen und fehlenden Aufsichtsratssitzen zu tun.
Da es an Konstruktivität in Ihrem Antrag fehlt, will ich
konstruktiv Kritik üben und Ihnen einen Weg aufzeigen,
wie man das Anliegen, Transparenz in kommunale Unternehmen zu bringen, schon jetzt ohne gesetzliche Eingriffe
und sehr wirkungsvoll erfüllen kann.
Das öffentliche Recht kennt längst Gesellschaftsformen, die den im Antrag beschriebenen Transparenzanforderungen gerecht werden: Vor allen Dingen ist dies die
Anstalt des öffentlichen Rechts. Dafür müssen keine Vorschriften geändert werden, sondern es kann schon heute
umgesetzt werden, wenn sich Kommunen für diese Gesellschaftsform entscheiden.
Und jetzt kommt das Beste: Hier kann der Landesgesetzgeber sogar in noch viel höherem Maße, als den Grünen das offenbar vorschwebt, Transparenz und Informationspflichten anordnen.
Nun mag es ja sein, dass Ihnen als Antragsteller die
weitergehenden Optionen, die auch das GmbH-Recht für
die Eingrenzung der Verschwiegenheitspflichten des Aufsichtsrats vorsieht, nicht ausreichen. Wer mehr will, wird
den Kommunen diese Transparenz wohl schon vorschreiben müssen. Solche Informationspflichten und Transparenzgebote für kommunale Gesellschaften wären aber
keine gesellschaftsrechtliche Regelung mehr, sondern
hätten einen dezidiert kommunalverfassungsrechtlichen
Regelungszweck. Das Kommunalverfassungsrecht ist
aber Sache des Landesgesetzgebers. In dieser Frage sind
also die Landtage gefordert und nicht der Bundestag.
Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, haben Vertrauen in das verantwortungsbewusste Handeln der
Kreistage sowie der Stadt- und Gemeinderäte in unserem
Land. Und wir verwahren uns gegen Unterstellungen,
dass unsere Kommunalpolitiker in den Aufsichtsräten
„geräuschlos und konsensual ihre politischen Ziele …
verfolgen, ohne sich im Vorfeld einer Entscheidung der
Auseinandersetzung mit anderen politischen Kräften und
einer kritischen Öffentlichkeit stellen zu müssen“. Das ist
eine inakzeptable Unterstellung und unterstreicht noch
einmal, dass der Antrag mehr von Populismus getrieben
ist, als dass Sie wirklich an einer Diskussion in der Sache
interessiert sind.
Gute Kommunalpolitiker sehen Transparenzregeln
nicht als Bedrohung an, sondern als Ausdruck einer bürgernahen Kommunalpolitik. Und was die anderen Kommunalpolitiker angeht, so habe ich Vertrauen in die Wählerinnen und Wähler, die in acht Bundesländern in diesem
Jahr Gelegenheit haben, intransparent arbeitende Gemeinderäte abzuwählen. Wir wollen uns nicht anmaßen,
besser zu wissen als die Bürger und Entscheidungsträger
vor Ort, wie Transparenz und Offenheit zu sichern sind.
Wir wollen eine Zersplitterung des Gesellschaftsrechts
verhindern. Wir wollen kein apokryphes Sondergesellschaftsrecht für kommunale Unternehmen. Stattdessen
wollen wir, dass die kommunalen Verantwortungsträger
die vielfältigen Möglichkeiten nutzen, mit den vorhandenen Mitteln des GmbH- und des Landesrechts für ausreichende Transparenz zu sorgen. Ich glaube nicht, dass
dem Anliegen nach einem hohen Maß an Transparenz in
kommunalen Unternehmen geholfen wird, wenn man, wie
die Antragsteller, den Gemeinderatsmitgliedern und
Stadträten, die hier - und ich betone dies - viel ehrenamtliches Engagement zum Gemeinwohl aufbringen, auf einmal unlautere Absichten unterstellt. Es ist an der Zeit,
dass die Grünen ihre Einstellung zur kommunalen und
bürgerschaftlichen Selbstverwaltung gründlich überdenken. Wir jedenfalls lassen uns nicht von Misstrauen, sondern von Vertrauen in die Kreise, Städte und Gemeinden
in unserem Land leiten.
Was wollen die Grünen mit diesem Antrag? Aktiengesellschaften und GmbHs mit vollständiger oder mehrheitlicher kommunaler Beteiligung sollen satzungsrechtlich
regeln dürfen, dass Aufsichtsräte grundsätzlich öffentlich
tagen müssen. Damit soll angeblich verhindert werden,
dass sich - wie es in dem Antrag heißt - „Stadtwerke in
vollständiger Eigentümerschaft einer Kommune am Bau
eines Kohlekraftwerkes im Nachbarkreis beteiligen, ohne
dass die Öffentlichkeit von der bevorstehenden Entscheidung informiert wird“. Weiter heißt es in dem Antrag,
dass kleinere Gemeinderatsfraktionen in den Aufsichtsgremien dieser Gesellschaften oftmals nicht vertreten
seien. Die bestehenden Regelungen gäben also den großen Fraktionen die Möglichkeit, „geräuschlos und konsensual ihre politischen Ziele zu verfolgen, ohne sich im
Vorfeld … einer kritischen Öffentlichkeit stellen zu müssen“. Das klingt ganz schön konstruiert! Ich bezweifle,
dass das ein realer Fall ist, und würde mich bei diesem
Thema gerne mit einem konkreten und nicht mit einem
konstruierten Sachverhalt auseinandersetzen.
Ich habe ohnehin den Eindruck, dass die Mär von der
gesetzlich bedingten Intransparenz der kommunalen Gesellschaften unberechtigt durch das Parlament geistert.
Wir haben uns in dieser Legislaturperiode bereits mit einem Antrag der FDP auseinandergesetzt, die meinte, man
müsse Aufsichtsratsmitglieder in kommunalen Gesellschaften von Verschwiegenheitspflichten befreien. Im Ergebnis konnten wir feststellen, dass diese angeblichen
Verschwiegenheitspflichten gar nicht bestehen und die
entsandten Aufsichtsratsmitglieder ihrer Gebietskörperschaft alles - auch Vertrauliches und Geheimes - berichten dürfen. Das ist heute schon längst im Aktiengesetz
ausdrücklich so geregelt.
Kommen wir zu dem Fall der heimlichen Beteiligung
am Kohlekraftwerk der Nachbarkommune zurück. Hierzu
möchte ich zunächst Folgendes feststellen: Erstens. In
der Praxis handelt es sich bei den Gesellschaften mit
kommunaler Beteiligung um GmbHs. Das GmbH-Gesetz
verweist bei den Regelungen zum Aufsichtsrat eben nicht
auf die Vorschrift des Aktiengesetzes, die die Nichtöffentlichkeit des Aufsichtsrates vorsieht. Öffentlichkeit kann
also satzungsrechtlich geregelt werden. Darauf weist der
vorliegende Antrag selbst hin. Die Antragsteller schreiben, es gebe auch andere Meinungen unter Juristen. Das
ist bekanntlich unter Juristen oft der Fall und noch kein
Anlass, gesetzgeberisch tätig zu werden. Deshalb schlage
ich vor: Wenn eine Kommune dies wünscht, möge sie die
Öffentlichkeit der Aufsichtsratssitzungen in ihrer GmbHSatzung so vorsehen. Wo ist die Kommune, die das versucht hat und daran gehindert wurde?
Zweitens. Stimmt es überhaupt, dass kleinere Parteien
oder die kommunale Opposition in Aufsichtsräten kommunaler Gesellschaften nicht vertreten sind? Bei großen
kommunalen Gesellschaften wie zum Beispiel Stadtwerken stimmt das regelmäßig nicht. Falls mehrere Vertreter
in diese Gremien zu entsenden sind und in der Gemeindevertretung keine einvernehmliche Lösung gefunden wird,
sehen - soweit mir bekannt ist - die Kommunalverfassungen der Länder eine am Kommunalwahlergebnis orientierte Besetzung vor. Sprich: Nicht nur die großen FrakZu Protokoll gegebene Reden
tionen sind vertreten, sondern die Mehrheitsverhältnisse
müssen sich auch bei der Besetzung der Aufsichtsratsfunktionen verhältnismäßig widerspiegeln. Das ist doch
auch die Praxis in unseren Kommunen. Jedenfalls könnte
das aber jede Kommune in der Satzung der jeweiligen
GmbH so festlegen.
Drittens. In einigen Kommunalverfassungen der Bundesländer - ob das bei allen der Fall ist, weiß ich nicht ist außerdem Folgendes festgelegt: Die Übernahme
neuer Aufgaben und größere Beteiligungen an anderen
Unternehmen bedürfen eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung - nicht des Aufsichtsrates. Selbst
wenn dies nicht in der betreffenden Kommunalverfassung
so zwingend festgelegt ist, kann dies auf jeden Fall satzungsrechtlich, sprich gesellschaftsvertraglich für die jeweilige Gesellschaft bestimmt werden. In der Satzung
muss auch geregelt werden, wer die Kommune in der Gesellschafterversammlung vertritt und dass dieser Vertreter an die Weisungen der Gemeindevertretung oder des
sonst dafür bestimmten Gremiums ({0}) gebunden ist. Dann ist ausgeschlossen, dass
heimliche Beteiligungen an anderen Unternehmen erfolgen, ohne dass darüber öffentlich beraten und beschlossen wird.
Mein Fazit: Die Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen von Aktiengesellschaften ist der falsche Weg und ein
Fremdkörper im Aktienrecht. Der Aufsichtsrat überwacht
den Vorstand; deshalb ist es zum Beispiel aktienrechtlich
nicht zulässig, in der Satzung ein uneingeschränktes Teilnahmerecht des Vorstands an Aufsichtsratssitzungen zu
verankern. Dem Aufsichtsrat muss es möglich sein, den
Vorstand von einer Teilnahme auszuschließen. Auch regelmäßige Klausursitzungen des Aufsichtsrates werden
unter dem Gesichtspunkt guter Corporate Governance
empfohlen. Das alles passt nicht zu einer satzungsrechtlich unbedingt vorgeschriebenen Öffentlichkeit der Sitzungen.
Der richtige Weg zu kommunaler und öffentlicher Einflusssicherung ist der Gesellschaftsvertrag. Dort kann bei
kommunalen GmbHs die Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen bereits heute vorgesehen werden, wenn dies
wirklich gewollt ist. Dort kann auch eine repräsentative
Besetzung des Aufsichtsrates sichergestellt werden. Vor
allem kann dort geregelt werden, dass alle Angelegenheiten von wesentlicher Bedeutung der Zustimmung der Gesellschafterversammlung bedürfen und dass die in die
Gesellschafterversammlung entsandten Vertreter an das
Votum der Gemeindevertretung oder eines beschließenden Ausschusses gebunden sind. Schließlich sollten die
Berichtspflichten der Aufsichtsratsmitglieder ernst genommen werden, von beiden Seiten, auch von den Berichtsempfängern. Über diese Berichte kann auch öffentlich diskutiert werden, soweit keine Verschwiegenheitspflichten bestehen. In unserem Beispielfall der Beteiligung an fremden Kraftwerken ist jedenfalls keine Verschwiegenheitspflicht erkennbar.
Ergebnis: Die von den Grünen vorgeschlagenen Gesetzesänderungen sind unnötig.
Dieser Antrag der Grünen betrifft ein berechtigtes Anliegen und verdient daher Unterstützung. Allerdings ist das
Thema keineswegs neu. Vielmehr hatte die FDP-Bundestagsfraktion mit ihrem Antrag „Gegen Geheimniskrämerei Entscheidungen kommunaler Gesellschaften transparent
gestalten“ ({0}) längst dem
Hohen Haus und der Bundesregierung Gelegenheit gegeben, eine Lösung im Sinne von mehr Transparenz bei den
Beratungen und Entscheidungen der Aufsichtsgremien
kommunaler Unternehmen herbeizuführen.
CDU/CSU und SPD waren leider seinerzeit nicht
bereit, sich dem Thema ernsthaft zu stellen, und auch die
heutigen Antragsteller, die Grünen, ließen es an echter
Unterstützung mangeln; sie enthielten sich beim FDPAntrag der Stimme.
Es sei den Grünen aber nachgesehen, dass sie im Wege
des Antragsrecyclings das von der FDP eingebrachte
Anliegen erneut aufgreifen; schließlich geht es ja um eine
gute Sache. Wenn die Koalitionsfraktionen aber so wenig
Interesse an dem Thema zeigen wie bei den damaligen
Debatten, befürchte ich, dass wieder kein Fortschritt
erreicht werden wird.
Ich musste mir ja seinerzeit entgegenhalten lassen, es
handle sich um ein Passauer Sonderproblem, und es bestehe keinerlei Handlungsbedarf. Der Antrag der Grünen
zeigt, dass zumindest diese Fraktion Handlungsbedarf
sieht.
Zu Recht! Auf der kommunalen Ebene bewegt es viele
Bürgerinnen und Bürger sehr, dass sie über Beratungen
und Entscheidungen der Aufsichtsgremien kommunaler
GmbHs oder AGen in gleicher Weise informiert werden
möchten wie über die Sitzungen der „normalen“ kommunalen Gremien. Es muss möglich sein, dass es in der Aufsichtsratssitzung einer kommunalen GmbH einen öffentlichen
Teil gibt wie in jeder Stadtratssitzung auch, und einen
nichtöffentlichen Teil bezüglich derjenigen Punkte, bei
denen ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse besteht.
Das Kommunalrecht sieht die grundsätzliche Öffentlichkeit von Sitzungen vor, das Gesellschaftsrecht dagegen
die Nichtöffentlichkeit. Wenn es so ist, dass als Bundesrecht das Gesellschaftsrecht vorgeht, fehlt ein Stück
Transparenz, es fehlt ein Stück demokratischer Diskussionskultur und demokratischer Kontrolle. Die Vorschriften,
die für private Gesellschaften gedacht sind, passen eben
auf die kommunalen Gesellschaften nicht vollständig.
Ob man sich mit allgemeinen Grundsätzen über das
Nichtöffentlichkeitsgebot des Gesellschaftsrechts hinwegsetzen darf, ist juristisch umstritten. Den Akteuren in
den Kommunen sollten wir eine solche Rechtsunsicherheit
nicht länger zumuten.
Ohne großen Aufwand könnte der Deutsche Bundestag
Rechtsklarheit im Sinne von mehr Transparenz schaffen.
Ich fordere CDU/CSU und SPD auf, dieses Thema nicht
länger zu ignorieren. Zeigen Sie, dass Sie nicht abgehoben sind, sondern auch hier in Berlin Probleme aus den
Kommunen wahrnehmen und lösen! Die FDP tritt klar
für die Interessen der Bürgerinnen und Bürger ein und
Zu Protokoll gegebene Reden
kämpft weiter für den Vorrang des Öffentlichkeitsgrundsatzes.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns mit der Frage
der Transparenz von kommunalen Unternehmen in privatrechtlicher Gesellschaftsform, der Kollision von Gesellschaftsrecht und Kommunalrecht bzw. dem Verhältnis
von Gemeinwohlinteressen und den Geschäftsinteressen
dieser Unternehmen befassen. In den bisher geführten
Debatten wurde zwar fast einvernehmlich Handlungsbedarf konstatiert, geändert hat sich aber letztendlich
nichts.
Seitdem haben sich allerdings die Rahmenbedingungen gravierend verändert. Vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise erhalten Transparenz und der
Widerspruch zwischen Gemeinwohlinteressen und den
Geschäftsinteressen des jeweiligen kommunalen Unternehmens eine neue Dynamik. Denn spätestens jetzt bekommen öffentliche Kontrollen über öffentliche Unternehmen einen anderen Stellenwert, müssen erhöhte
Anforderungen an die Transparenz, Steuerung und Kontrolle dieser Unternehmen gestellt und umgesetzt werden.
Letztendlich geht es hier um die Neubestimmung des
Verhältnisses von Politik und Ökonomie entsprechend
den neuen Bedingungen. Diese Notwendigkeit stellt sich
nicht nur auf staatlicher Ebene, auf der zurzeit sehr intensiv die Möglichkeit der Verstaatlichung von nicht mehr
konkurrenzfähigen Unternehmen von einigen als eine Variante der Rettung der Volkswirtschaft vor einem umfassenden Kollaps und der Gesellschaft vor politischer
Instabilität betrachtet und propagiert wird. Die Notwendigkeit der Neubestimmung des Verhältnisses von Politik
und Ökonomie stellt sich auf kommunaler Ebene ebenso,
nur dass Kommunen hier an Grenzen stoßen, da ihr Agieren von den bundespolitischen Rahmenbedingungen abhängt. Das betrifft sowohl Absichten der Rekommunalisierung zum Beispiel im Bereich der Energieversorgung
und der Rückabwicklung von Verträgen wie CrossBorder-Leasing als auch die Herstellung von Transparenz unternehmerischer Entscheidungen von kommunalen Gesellschaften und Gesellschaften mit kommunaler
Mehrheitsbeteiligung.
Hier bedarf es neuer bzw. veränderter gesetzlicher Regelungen. Die eindeutige Normierung der Öffentlichkeit
von Aufsichtsratssitzungen ist sicher eine wichtige Bedingung - daher werden wir auch den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unterstützen -, aber ich meine,
dass dies keine hinreichende Voraussetzung ist, um öffentlichen Einfluss und öffentliche Kontrolle zu ermöglichen. So sind wir der Auffassung, dass das GmbH-Gesetz
auch dahingehend geändert werden müsste, dass bei Unternehmen in privater Rechtsform, die öffentliche Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllen, Gemeinwohlinteressen
über Geschäftsinteressen stehen müssen. Diese Unternehmen erfüllen einen öffentlichen Zweck, der letztendlich durch demokratisch legitimierte öffentliche Vertretungen bestimmt wurde. Zur Kontrolle über die
Realisierung dieses öffentlichen Zwecks bedarf es zwingend auch gesetzlicher Rahmenbedingungen, da die bisherigen Regelungen dem entweder entgegenstehen oder
vollkommen unzureichend sind.
Wir sind der Auffassung, dass es auf drei Ebenen dringender Änderungen bedarf, die letztendlich eine Demokratisierung von kommunalen Entscheidungen im Bereich der wirtschaftlichen Betätigung von Kommunen
zum Ziel haben. Ich werde im Weiteren auf einige Aspekte
eingehen, die die Fraktion Die Linke in die weitere Diskussion einbringen wird.
Zur ersten Ebene: Bürgerinnen und Bürger müssen die
Möglichkeit der Einflussnahme und Kontrolle erhalten.
Die Kommunen haben zwar das ihnen durch die verfassungsrechtlich verankerte Organisationshoheit eingeräumte Recht, sich bei der Aufgabenerfüllung auch der
privaten Rechtsform zu bedienen. Aber sie bleiben als
originäre Aufgabenträger in der Verantwortung, weil
auch die Erfüllung öffentlicher Aufgaben in privater
Rechtsform der demokratischen Legitimation bedarf. Für
die Kommunen bedeutet das, dass sie bei den privatrechtlich geführten Unternehmen, mit deren Hilfe sie hoheitliche Aufgaben mit Entscheidungscharakter erfüllen,
geeignete Einflussnahmemöglichkeiten sicherstellen
müssen. Das setzt voraus, dass das Prinzip der Öffentlichkeit gestärkt wird. Eine Möglichkeit wäre, einen Verhaltsenskodex - Public Corporate Kodex - für alle öffentlichen Unternehmen egal in welcher Rechtsform zu
verabschieden, der öffentlich bekannt gemacht und über
dessen Erfüllung öffentlich Rechenschaft abgelegt wird.
Die Bundesregierung arbeitet seit längerem an einem solchen Kodex, der allerdings bisher nur auf Unternehmen
des Bundes angewendet werden soll. Wir meinen, ein solcher Kodex sollte für alle öffentliche Unternehmen gelten. Und die Bundesregierung sollte die Erfahrungen der
Kommunen einbeziehen. Hier gibt es eine Reihe positiver
Erfahrungen. Ich möchte an dieser Stelle die Stadt Stuttgart anführen, die einen Public Corporate Governance
verabschiedet hat, der dazu dient, Standards für das Zusammenwirken aller Beteiligten ({0}) festzulegen und
zu definieren; eine effiziente Zusammenarbeit zwischen
dem Aufsichtsrat und der Geschäftsführung zu fördern
und zu unterstützen; den Informationsfluss zwischen Beteiligungsunternehmen und -verwaltung zu verbessern,
um die Aufgabenerfüllung im Sinne eines Beteiligungscontrollings zu erleichtern; das öffentliche Interesse und
die Ausrichtung der Unternehmen am Gemeinwohl durch
eine Steigerung der Transparenz und Kontrolle abzusichern; durch mehr Öffentlichkeit und Nachprüfbarkeit
das Vertrauen in Entscheidungen aus Verwaltung und
Politik zu erhöhen.
Interventionen der öffentlichen Hand würden sich erübrigen, wenn der Gesetzgeber Rahmenbedingungen
schaffen würde, die eine nachhaltige Transparenz und
öffentliche Kontrolle von öffentlichen Unternehmen ermöglichen würden. Dabei geht es nicht um das Hineinregieren in das Tagesgeschäft, sondern vor allem um Entscheidungen, die Auswirkungen auf das Gemeinwesen,
die Bürgerinnen und Bürger haben werden. Es geht zum
Beispiel um die Verhinderung von riskanten Finanzgeschäften, wie sie in der Vergangenheit durch öffentliche
Unternehmen getätigt wurden; wie die Würzburger VerZu Protokoll gegebene Reden
sorgungs- und Verkehrs-GmbH ({1}) oder die Wuppertaler Abfallwirtschaftsgesellschaft ({2}), die CrossBoarder-Leasing-Verträge abgeschlossen haben und
durch die jetzt die Leistungsfähigkeit der Städte ernsthaft
gefährdet wird, wie aus einem Schreiben an den Bundesfinanzminister hervorgeht.
Wenn wir eine Situation haben wollen, dass öffentliche
Unternehmen in privatrechtlicher Gesellschaftsform an
einen öffentlichen Zweck gebunden sind, ist es notwendig,
die hier zu treffenden Regelungen mit einer Erweiterung
der direkten Demokratie zu verbinden. Die Fraktion Die
Linke ist der Auffassung, dass alle Entscheidungen über
Rechtsformänderungen öffentlicher Unternehmen, deren
Veräußerung bzw. von Anteilen einem Bürgerentscheid
unterzogen werden müssen.
Eine weitere Möglichkeit, den Einfluss von Bürgerinnen und Bürgern zu stärken, ist auch die verbindliche
Einrichtung von Bürger-, Verbraucher- oder Kundenbeiräten, die allerdings über entsprechende Kompetenzen
verfügen müssen. Das heißt aber auch, dass ihnen Möglichkeiten der Selbstqualifizierung - einschließlich deren
Finanzierung aus dem öffentlichen Haushalt - eingeräumt werden müssen.
Ich komme nun zur zweiten Ebene: Gestärkt werden
müssen die Kontrollrechte der Kommune. Kommunale
Vertretungen müssen Einfluss auf grundsätzliche Unternehmensentscheidungen haben, so zum Beispiel bei der
Änderung des Unternehmenszwecks, bei Erwerb und Veräußerung von Unternehmensanteilen, bei der Bestellung
und Abberufung von Geschäftsführern.
Eine dritte Ebene betrifft die Demokratisierung der
Unternehmen selber. Hier bedarf es sowohl einer Demokratisierung der Vorstands- und Aufsichtsratsgremien
- ihrer Arbeitsweise - als auch einer stärkeren Mitbestimmung der Beschäftigten im Unternehmen selber.
Die Wirtschaftskrise hat eigentlich mit Deutlichkeit
gezeigt, dass die Frage der Stellung öffentlicher Unternehmen in allen Sektoren der Wirtschaft neu diskutiert
werden muss. Ihre Reduzierung auf das Füllen von Lücken, die von Privatunternehmen nicht ausgefüllt werden,
hat sich als Sackgasse erwiesen. Es geht dabei nicht um
die Wiederherstellung dieses Sektors, wie er in den 80erJahren bestanden hat, sondern um einen Richtungswechsel, wie er mit den hier dargelegten Herangehensweisen
einer Demokratisierung skizziert wurde. Diese Aufgabe
kann von Kommunen nicht allein gelöst werden. Es ist
eine bundesgesetzliche Schaffung von Rahmen nötig.
Wir verhandeln heute einen Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen, der das Ziel hat, die demokratische Willensbildung und die politische Steuerungsfähigkeit in den
Städten und Gemeinden zu stärken. Wir alle wissen: Ein
Grundpfeiler des demokratischen Systems ist die Öffentlichkeit und Transparenz von politischen Entscheidungen. Diese Transparenz ist vor dem Hintergrund, dass immer mehr kommunale Aufgaben - von der Wasser- und
Stromversorgung bis zur Wirtschaftsförderung - in Gesellschaften des Privatrechtes überführt wurden, kontinuierlich beschränkt worden. Für diese Ausgliederungen ist
das Gesellschaftsrecht anzuwenden, welches nach herrschender Rechtsauffassung zwingend vorschreibt, dass
Aufsichtsräte - in denen meist nur Vertreter der großen
Ratsfraktionen vertreten sind - nicht öffentlich tagen. Auf
diese Weise werden zentrale Entscheidungen für die Gemeinschaft vor Ort - wie zum Beispiel die Erhöhung von
Preisen für Strom, Wasser und den öffentlichen Nahverkehr - ohne Öffentlichkeit getroffen.
Für die ehrenamtlich tätigen Mandatsträger in den
Stadt- und Gemeinderäten heißt dies, dass sie als Mitglied kleiner Fraktionen oder Wählergemeinschaften
keine oder nicht ausreichende Informationen erhalten.
Sie erlangen oftmals erst dann über die Beschlüsse und
Diskussionen in den kommunalen Gesellschaften Kenntnis,
wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist und Fehlentscheidungen offen zutage getreten sind. Gleiches gilt für
die örtlichen Medien, die als weitere Stütze der örtlichen
Demokratie damit ebenfalls nicht ihre Kontrollfunktion
ausüben können. Mangelnde Transparenz führt zu Klüngel und leider auch zu Korruption, was wiederum die Politikverdrossenheit unter den Bürgerinnen und Bürgern
schürt.
Aber auch die Vertreter größerer Fraktionen in den Aufsichtsräten bewegen sich nicht selten auf rechtlich unsicherem Terrain, wenn sie ihren Fraktionen über Beschlüsse
und Vorgänge aus den Aufsichtsräten kommunaler Gesellschaften berichten. Denn es ist nicht immer ganz einwandfrei einzuschätzen, ob es sich möglicherweise um
Geschäftsgeheimnisse der kommunalen Gesellschaften
handelt.
Auch Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von Union
und SPD, sollten sich der Ernsthaftigkeit dieses Problems
bewusst werden. Sie sägen selbst an dem Ast, auf dem Sie
sitzen, wenn Sie sich weiterhin weigern, für eine rechtliche Klarstellung zugunsten der Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen in kommunalen Gesellschaften zu
sorgen. Denn Sie als Vertreter auch nicht mehr ganz so
großer Volksparteien scheint nur auf den ersten Blick das
Problem nicht zu treffen, da Sie aufgrund Ihrer Fraktionsstärke in den örtlichen Aufsichtsratsgremien vertreten
sind und Informationen an erster Stelle erhalten. Diese
kurzsichtige Perspektive wird sich über kurz oder lang
rächen. Denn die Politikverdrossenheit der Bürgerinnen
und Bürger trifft schließlich auch Sie, und so manch ein
Korruptionsverdacht fällt auch auf Ihre Mandatsträgerinnen und Mandatsträger zurück.
Sie kennen die Problematik bereits aus einer Initiative
der FDP, die wir im Juni letzten Jahres verhandelten.
Während die FDP in Wahrheit den „echten“ Privatisierungen den Vorrang gibt, also öffentliche Aufgaben völlig
intransparent durch Private erledigen lassen will, gehen
wir Grüne mit unserem Antrag weiter: Wir wollen, dass
auch Gesellschaften mit kommunaler Mehrheitsbeteiligung
öffentlich tagen dürfen. Im Gegensatz zur FDP wollen
wir die Bundesregierung auch nicht nur prüfen lassen.
Wir machen konkrete Vorschläge zur Ausgestaltung einer
gesetzlichen Lösung, die sowohl möglichen schützenswerten Geschäftsgeheimnissen der Gesellschaften als
auch dem öffentlichen Interesse Rechnung trägt.
Sehr verehrter Kollege Stadler von der FDP, erlauben
Sie mir zum Schluss noch einen Hinweis: Sie nutzen den
Zu Protokoll gegebene Reden
hier zur Debatte stehenden Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen, um ihn am 23. Februar 2009 als „Passauer
Antrag“ in der „Passauer Neuen Presse“ abzufeiern. Mir
fehlen zu einem solchen Vorgehen, das gegen jedwede
politische Fairness verstößt, schlicht und ergreifend die
Worte. Wenn Sie es jedoch nötig haben, sich mit grünen
Federn zu schmücken, dann fordere ich Sie auf, unserem
Antrag uneingeschränkt zuzustimmen und sich künftig in
Ihrer Fraktion gegen intransparente Vollprivatisierungen
öffentlicher Aufgaben auszusprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und
der SPD, nehmen Sie unsere lösungsorientierten Vorschläge auf und schützen auch Sie Ihre ehrenamtlichen
Mandatsträgerinnen und Mandatsträger vor Ort in den
Städten und Gemeinden und stellen Sie Rechtsklarheit für
die Öffentlichkeit von Aufsichtsgremien in kommunalen
Gesellschaften im Sinne unseres Antrags her.
Ich frage, ob Sie damit einverstanden sind, die Drucksache 16/11826 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. - Das ist offenkundig der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche Ihnen noch einen gemütlichen restlichen
Abend. Diejenigen, die überhaupt nichts mit diesem
Abend anfangen können, können gegebenenfalls hierbleiben; denn morgen früh 9 Uhr geht es weiter.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. März, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.